Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die
Tagesordnung eintreten, darf ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges
Mitglied Friedrich Zimmermann, der nach längerer
schwerer Krankheit am 16. September gestorben ist. Er
wurde 87 Jahre alt.
Friedrich Zimmermann wurde am 18. Juli 1925 in
München geboren. Er gehörte also der Generation an,
die die Schrecken nationalsozialistischer Diktatur und
den Zweiten Weltkrieg aktiv miterlebt hat.
Der CSU trat er schon 1948 bei und begann, unsere
noch junge Demokratie mitzugestalten. In Bayern setzte
er sich zunächst dafür ein, die damals „neubayerischen“
fränkischen und schwäbischen und überwiegend evangelischen Bevölkerungsteile zu integrieren und vor allem
die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aufzunehmen, die etwa ein Viertel der bayerischen Bevölkerung
umfassten.
In seiner Partei hat Friedrich Zimmermann schon bald
herausgehobene Ämter übernommen. Unter anderem
war er von 1956 bis 1963 Generalsekretär und von 1979
bis 1989 stellvertretender Vorsitzender seiner Partei.
1957, also vor 55 Jahren, wurde Friedrich
Zimmermann zum ersten Mal Mitglied des Deutschen
Bundestages, in den er stets direkt gewählt worden ist.
Er gehörte diesem Parlament nicht weniger als 33 Jahre
an.
Friedrich Zimmermann war unter anderem von 1965
bis 1972 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses.
Seit 1961 Vorstandsmitglied der CDU/CSU-Fraktion,
hatte er als CSU-Landesgruppenchef und stellvertretender Fraktionsvorsitzender von 1976 bis 1982 maßgeblichen Anteil an der Politik der damaligen Oppositionsfraktion.
Über die Parteigrenzen hinweg hat sich Friedrich
Zimmermann damals besonders mit seiner besonnenen
und klugen Mitwirkung im Großen Krisenstab, der anlässlich der Entführung von Hanns Martin Schleyer von
Bundeskanzler Helmut Schmidt eingerichtet worden
war, großen Respekt und Anerkennung erworben.
1982 berief ihn Bundeskanzler Helmut Kohl als Bundesinnenminister in sein Kabinett. Er war auch hier im
besten demokratischen Sinne streitfreudig und scheute
während seiner Amtszeit nicht vor harten Auseinandersetzungen zurück. Einmal von ihm als richtig und wichtig erkannte Positionen vertrat er mit Nachdruck. Breite
Anerkennung fand er für seine Pionierleistungen in der
Umweltpolitik, wo ihm in der Europäischen Gemeinschaft ein Durchbruch mit der Einführung des Katalysators und des bleifreien Benzins gelang. 1989 übernahm
er als Bundesminister das Verkehrsministerium.
Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl
1991 schied Friedrich Zimmermann aus der Regierung
und dem Bundestag aus. In seiner bemerkenswerten Abschiedsrede erklärte er nicht ohne ein Augenzwinkern:
Ich bitte alle um Vergebung, denen ich im Laufe
dieser Jahre auf die Füße getreten bin, aber ich habe
es immer so gemeint.
Friedrich Zimmermann hat über viele Jahre hinweg
die Geschicke unseres Landes mitgestaltet. Er hat sich
innerhalb und außerhalb des Bundestages mit seinem
politischen und parlamentarischen Engagement um unser Land verdient gemacht.
Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Seinen Angehörigen spreche ich im Namen des ganzen
Hauses unsere Anteilnahme aus.
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 18. September
hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang
Schäuble, seinen 70. Geburtstag gefeiert. Im Namen des
ganzen Hauses möchte ich ihm dazu herzlich gratulieren
und alles Gute wünschen.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Lieber Kollege Schäuble, es gibt kein Mitglied dieses
Parlaments, das dem Deutschen Bundestag so lange angehört wie Sie. Niemand hat über so viele Jahre in so
vielen, so unterschiedlichen und so herausragenden Ämtern seinen Dienst für unser Land geleistet. Die große
Wertschätzung, die Sie weit über die eigene Partei und
Fraktion hinaus genießen, kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Deutsche Bundestag gestern, nach einer
Vereinbarung aller Fraktionen, seine Ausschussberatungen vorzeitig beendet bzw. unterbrochen hat, um möglichst vielen Mitgliedern des Hauses die Teilnahme an
dem Festakt zu Ihren Ehren im Deutschen Theater zu ermöglichen.
Ich weise schon jetzt vorsichtshalber darauf hin, dass
sich aus dieser großzügigen Regelung kein Rechtsanspruch für die Gestaltung runder Geburtstage für alle
Mitglieder des Hauses ergibt.
({1})
Lieber Kollege Schäuble, ich freue mich, dass ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses noch einmal unsere
guten Wünsche in einem anderen, ähnlich bedeutenden
Theater in sehr viel knapperer, aber nicht weniger herzlicher Form übermitteln darf. Alle guten Wünsche für die
nächsten Jahre.
({2})
Ebenfalls am 18. September hat die Vorsitzende des
Haushaltsausschusses, unsere Kollegin Petra Merkel,
ihren 65. Geburtstag sowie am 24. September der Kollege Peter Götz seinen entsprechenden Geburtstag gefeiert. Auch Ihnen alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr.
({3})
Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung noch
eine Wahl durchführen. Für den aus dem Beirat der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen ausscheidenden
Kollegen Manfred Nink schlägt die Fraktion der SPD
vor, den Kollegen Ingo Egloff als stellvertretendes Mitglied zu berufen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der
Kollege hiermit in den Beirat gewählt.
({4})
- Sie wissen, dass die auf diese Weise, wie ernsthaft
auch immer geäußerten Bedenken im Protokoll des
Deutschen Bundestages erscheinen,
({5})
und klären das am besten bilateral mit dem gleichwohl
gewählten Kollegen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ratifizierung des Vertrages vom 2. Februar
2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
- Drucksache 17/10767 ({6})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:
Besorgnis über die Parlamentswahlen in
Weißrussland
({7})
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa
Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe
- Drucksache 17/10770 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 47
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens ({9})
für die Agentur der Europäischen Union für
Grundrechte
- Drucksache 17/10760 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken
- Drucksache 17/10787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staaten
- Drucksache 17/10791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Angelika Graf ({13}), Dr. Marlies
Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichheiten beseitigen - Versorgungslücken schließen
- Drucksache 17/9059 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({14})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der
CDU/CSU und FDP
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung ({15})
- Drucksache 17/10775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing,
Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Bankenunion - Subsidiaritätsgrundsatz be-
achten
- Drucksache 17/10781 -
ZP 8a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/8233 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförderungs- und mautrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/7046 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({17})
- Drucksache 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({18})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({19}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche
- Drucksachen 17/7487, 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({20})
ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der
Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts
- Drucksache 17/10774 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 10 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Konsequenzen aus dem Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 4 a, 45
und 47 h abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste
dargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesordnung.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 187. Sitzung überwiesene nachfolgende
Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss
({22}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes ({23})
- Drucksache 17/10039 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({24})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ich darf Sie fragen, ob Sie mit all diesen gerade vor-
getragenen Ergänzungen und Änderungen einverstanden
sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das hier-
mit so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
energetische Modernisierung von vermietetem
Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln ({25})
- Drucksache 17/10485 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({26})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Halina Wawzyniak, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wohnen muss bezahlbar bleiben
- Drucksache 17/10776 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({27})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mietrechtsnovelle nutzen - Klimafreundlich
und bezahlbar wohnen
- Drucksache 17/10120 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({28})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin für Justiz, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
({29})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende ist eine der zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer
Zeit. Ein großes Potenzial für Energieeffizienz liegt im
Gebäudebestand. Deshalb spielt die Wohnungswirtschaft
für das Umweltkonzept der Bundesregierung und für die
Energiewende eine wichtige Rolle.
Ein modernes, auf Klimaschutz ausgerichtetes Mietrecht kann einen eigenen Beitrag zur Energiewende leisten, ohne die soziale Ausgewogenheit aus den Augen zu
verlieren. Aber es ersetzt nicht das, was an Fördermaßnahmen und Verbesserungen der Rahmenbedingungen
für die Sanierung im Wohnungsbestand notwendig ist.
Die Vorschläge dazu liegen leider seit Monaten im Bundesrat. Ich kann nur sagen: Auch dieses Paket gehört
dazu.
({0})
Um höhere Energieeffizienz des Gebäudebestandes
tatsächlich zu bekommen, müssen Anreize geschaffen
werden, gerade auch für Vermieter von wenigen Wohnungen, damit auch sie diese Möglichkeiten nutzen und
tatsächlich die notwendigen energetischen Modernisierungen durchführen. Da setzt unser Gesetzentwurf an.
Wir wollen, und zwar in sehr ausgewogener Weise,
({1})
damit ermöglichen, dass Sanierungsmaßnahmen, die im
Durchschnitt - wenn es sich um Fassaden, um Fenster,
um anderes handelt - in einer Zeit von drei Monaten
durchgeführt werden, geduldet werden und dass für
diese Zeit, wenn es zumutbar ist, keine Forderungen
nach Mietminderungen erhoben werden.
({2})
Das ist ein behutsames Vorgehen mit dem Ziel, gerade
die privaten Vermieter dazu zu ermuntern, zu investieren, und zwar in einer Weise, dass es auch dem Mieter
zugutekommt.
({3})
Es kommt dem Mieter nämlich zugute, wenn es künftig
niedrigere Nebenkosten gibt, weil der Energieverbrauch
verringert wird. Genau dazu dienen die von uns zu befördernden energieeffizienzsteigernden Maßnahmen.
Damit schafft der Gesetzentwurf auch mehr Rechtssicherheit. Natürlich gehört es zu den legitimen und
selbstverständlichen Interessen des Mieters, zu wissen,
welche energiesparenden Maßnahmen er akzeptieren
muss und welche Konsequenzen sich für ihn daraus ableiten. Genau das gilt auch für den Vermieter, der investiert, der Geld in die Hand nimmt, der damit zu mehr
Energieeffizienz beiträgt, aber damit eben auch den Wert
seiner Mietwohnung erhöht.
Wir ändern nichts an der seit vielen Jahren bestehenden Regelung, dass von den Modernisierungskosten
- das gilt dann eben auch für Sanierungskosten - in keinem Fall mehr als 11 Prozent jährlich auf die Miete umgelegt werden dürfen. Wenn wir uns die Praxis anschauen, dann erkennen wir, dass diese Spanne von
11 Prozent von vielen Vermietern gar nicht ausgeschöpft
wird, obwohl sie es nach geltendem Recht tun könnten.
Angesichts der großen Herausforderung der Energiewende, der wir uns gegenübersehen, bedeutet dieser Gesetzentwurf eine wirklich ausgewogene Anpassung von
Leistung und Gegenleistung im Mietverhältnis.
({4})
Einen weiteren wichtigen Beitrag zu Energieeffizienz
und Klimaschutz kann das sogenannte Contracting leisten. Damit beschäftigt sich der Bundestag schon seit
mehreren Legislaturperioden, und nie ist es in all den
Jahren gelungen, endlich einmal einen Regelungsvorschlag zu unterbreiten. Wir wollen aber doch gerade,
dass, wenn ein Vermieter von größeren Wohnungseinheiten von der Wärmeversorgung in Eigenregie auf gewerbliche Wärmelieferung durch einen Dritten umstellt,
es zu mehr Energieeffizienz kommt, indem dann investiert wird, zum Beispiel in einen neuen Heizkessel. Eine
andere Möglichkeit ist, dass ein Haus mit Mietwohnungen im Zuge dessen mit Fernwärme versorgt wird. Das
wollen wir befördern, weil so Energie gespart und die
Umwelt geschont wird.
Der Vermieter kann sich darauf verlassen, dass die
Umstellung in einem geordneten Verfahren durchgeführt
wird, und der Mieter weiß, dass die Umstellung nicht nur
umweltfreundlich ist, sondern für ihn auch kostenneutral
bleibt. Genau das wollen wir mit den Regelungen gewährleisten, die wir jetzt im Mietrecht vorsehen.
In der Haushaltsdebatte wurde von einigen Rednern
darauf hingewiesen, dass die Vertreibung von Mietern
aus angestammten Vierteln das soziale Wohngefüge gefährde und dass dies insbesondere ein Problem in den
großen Städten sei. Dem kann ich nur zustimmen.
({5})
In München, in Hamburg, in Köln oder in Berlin - wer
regiert dort, teilweise seit Jahren?
({6})
Wer nutzt die rechtlichen Möglichkeiten zum Kiez- und
Milieuschutz, die gerade auf Länderebene bestehen? Ich
habe davon bisher wenig gehört. Aber wir machen jetzt
etwas mit diesem Gesetzentwurf!
({7})
- Wir schmeißen niemanden raus; im Gegenteil! Vielleicht haben Sie bei diesem Gesetzentwurf bemerkt, dass
wir an den Kündigungsfristen nichts ändern, sondern
dass es genau bei den Regelungen bleibt, wie wir sie derzeit haben.
Mit unserem Gesetzentwurf werden wir Mieter künftig sogar noch besser vor Eigenbedarfskündigungen
schützen.
({8})
Die Umgehung des Kündigungsschutzes bei der Umwandlung in Eigentumswohnungen nach dem sogenannten Münchener Modell wird es zukünftig nicht mehr geben. Der Schutz vor Eigenbedarfskündigungen für
mindestens drei Jahre - nach Landesrecht übrigens dann
für bis zu zehn Jahre - wird auch greifen, wenn eine Personengesellschaft ein Mietshaus erwirbt, um die Wohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Genau
das hat doch dem Vorschub geleistet, was wir in manchen Städten erleben, nämlich dass in einer Art und
Weise umgewandelt wird, bei der die derzeitigen rechtlichen Regelungen eben nicht greifen. Deshalb ist der Gesetzentwurf, den wir hier vorlegen, ausgewogen im Hinblick auf Rechte und Pflichten von Mietern und
Vermietern.
({9})
Das gilt auch - erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung -, wenn es um missbräuchliches Verhalten von
Mietern geht, und das gibt es; das kann man nicht leugnen. Um das festzustellen, braucht man nicht lange statistische Untersuchungen und tatsächliche Bewertungen;
({10})
da muss man sich nur einmal mit Vermietern unterhalten,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Vermieter stehen
teilweise hilflos da, wenn ihre Mietwohnungen beschädigt werden oder sich die Mieter den Zahlungsverpflichtungen entziehen. Da wissen die Vermieter nicht, wie sie
ihr Eigentum, ihre Mietwohnung, wiederherrichten sollen oder entsprechend durchgreifen können. Auf der
Grundlage des Berliner Räumungsmodells - das haben
wir etwas weiterentwickelt - verbessern wir die Möglichkeiten des Vermieters, hier angemessen vorzugehen.
({11})
Von daher bietet der Gesetzentwurf eine gute Grundlage für die kommenden, mit Sicherheit sehr engagiert
geführten Beratungen zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Egloff für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Normalerweise heißt es ja: Aller guten Dinge
sind drei. - In diesem Fall, was die Mietrechtsänderung
angeht, diskutieren wir, glaube ich, das vierte oder fünfte
Mal. Trotz der diversen Referentenentwürfe und der Diskussionen, die wir bisher hier im Plenum und auch im
Ausschuss geführt haben, kann man feststellen, dass das
Ding, was hier vorgelegt worden ist, leider nicht gut geworden ist.
({0})
Immerhin haben wir jetzt einen Gesetzentwurf, mit
dem wir arbeiten können. Und ich hatte bis zu Ihrer
Rede, Frau Ministerin, die stille Hoffnung, dass es gelingt, Dinge noch zu verbessern.
({1})
Aber nachdem Sie hier erklärt haben, dass wir eigentlich
gar keine soziale Schieflage in diesem Lande haben, was
die Mietensituation angeht, ist diese Hoffnung gestorben. Darauf zu verweisen, dass in Hamburg, in München
und in anderen Ballungszentren Sozialdemokraten regieren, wohl wissend, dass die Gesetzgebungskompetenz
für diese Sachen beim Bund liegt, das ist mehr als billig,
Frau Ministerin.
({2})
Der Gesetzentwurf, so wie er hier vorliegt, hat erhebliche Mängel:
Er blendet die Frage des sozialen Gleichgewichts völlig aus, sowohl bei der energetischen Gebäudesanierung
als auch bei der Frage der steigenden Mieten insgesamt.
Er will die Gebäudesanierung erleichtern - das ist
hier noch einmal gesagt worden -, indem er den Mietern
das Recht auf Mietminderung für drei Monate abschneidet. Aber damit wird das Ziel nicht erreicht, im Gegenteil: Der Gesetzentwurf führt an dieser Stelle zu neuen
Rechtsunsicherheiten, weil mit dieser Dreimonatsregelung doch nur neue Spielwiesen für Anwälte eröffnet
werden:
({3})
Ist es Instandsetzung, ist es normale Modernisierung, ist
es energetische Gebäudesanierung? Bei den ersten beiden Sachverhalten hat man Mietminderungsrecht, beim
letzten nicht. Das öffnet doch dem Rechtsstreit Tür und
Tor. Von daher, meine Damen und Herren, haben Sie
hiermit denjenigen, die energetisch sanieren wollen, einen Bärendienst erwiesen, nicht aber das Problem gelöst.
({4})
Der Gesetzentwurf gibt vor, Probleme zu lösen, wo
keine sind, so bei den Mietnomaden - darauf werde ich
noch zurückkommen -, und insgesamt benachteiligt er
alle Mieter, indem er ihnen Rechte abschneidet.
Mit anderen Worten: Der Entwurf, so wie er hier vorliegt, meine Damen und Herren, ist in meinen Augen ein
schlechter Entwurf.
Wenn eine Untersuchung des Pestel Instituts im Auftrag der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“
feststellt, dass der Anteil der Haushalte mit einem Einkommen unter 1 500 Euro im Monat von 2002 bis 2010
von knapp 39 Prozent auf 44 Prozent gestiegen ist, und
wir gleichzeitig wissen, dass es Haushalte gibt, die
40 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben müssen, dann sollte eigentlich klar sein, dass hier Handlungsbedarf auf der sozialen Seite besteht,
({5})
und zwar auf zwei Ebenen:
Angesichts dieser Zahlen kann man doch unschwer
feststellen, dass eine weitere Belastung dieser Haushalte
mit Kosten schwer möglich ist. Das gilt auch für die
energetische Gebäudesanierung. An dieser Stelle haben
wir ein gesellschaftliches Problem.
Angesichts der Mietenentwicklung in vielen Ballungszentren ist auch Handlungsbedarf angesagt, wenn
man die soziale Spaltung der Städte und die Verdrängungswettbewerbe in den Städten nicht weiter fortschreiten lassen will.
Die SPD-Fraktion hat hierzu Positionen vorgelegt.
Sie waren hier auch schon Gegenstand der Debatte;
trotzdem möchte ich noch einmal darauf zurückkommen:
Dazu zählen die Absenkung der Umlage bei der
Modernisierung von 11 auf 9 Prozent, aber auch, MietIngo Egloff
erhöhungen nach § 558 Abs. 3 BGB in Zukunft nur in
Höhe von 15 Prozent alle vier Jahre statt in Höhe von
20 Prozent alle drei Jahre zu gestatten.
Dazu gehört auch die Forderung - dies ist eine wichtige Forderung -, bei der Neuvermietung eine Kappungsgrenze bei einem Betrag von 10 Prozent über der
ortsüblichen Vergleichsmiete einzuführen; denn das ist
es doch: Wenn die Wohnungen frei werden, dann ist der
Vermieter nicht gehalten, irgendwelche Grenzen zu berücksichtigen, sondern kann die Miete nehmen, von der
er meint, dass er sie erzielen kann.
({6})
Das führt dazu, dass an dieser Stelle die Verdrängungswettbewerbe einsetzen. Deswegen kommt es auch darauf an, wie die ortsübliche Vergleichsmiete berechnet
wird. So, wie sie bisher berechnet wird, führt das eben
auch dazu, dass Mieterhöhungen nicht verhindert werden.
({7})
Ich freue mich, dass die Grünen in ihrem Antrag eine
ähnliche Überlegung angestellt haben, was diese Frage
angeht. Da gibt es im Detail Unterschiede, man kann
auch darüber streiten, ob man einen Referenzzeitraum
von sechs Jahren oder zehn Jahren nimmt, und darüber
diskutieren, welche Mieten da einfließen. Aber die Richtung ist in Ordnung. Auch Ihr Vorschlag, meine Damen
und Herren von den Grünen, den Landesregierungen
bzw. Kommunen das Recht einzuräumen, bestimmte
Mietobergrenzen in Gebieten einzuführen, finde ich gut
und zielführend. Das setzt an dem Vorschlag an, den das
Land Berlin im Bundesrat eingebracht hat, und das
würde den Kommunen helfen, in bestimmten Stadtbezirken Wildwuchs und schlechte Entwicklungen zu beseitigen.
({8})
- Ja, wer nun dafür sozusagen das Urheberrecht zu beanspruchen hat, das lasse ich jetzt einmal dahingestellt
sein. Auf jeden Fall ist die Richtung richtig.
Die Kollegen von den Linken legen wie üblich eine
Schippe drauf. Ich finde, es schießt deutlich über das
Ziel hinaus,
({9})
wenn festgeschrieben wird: Die Miete darf 30 Prozent
des Nettoeinkommens nicht überschreiten, eine Obergrenze von 30 Prozent des bundesdurchschnittlichen
Haushaltseinkommens darf nicht überschritten werden. Ich halte das für unpraktikabel, meine Damen und Herren, aber Sie mussten ja irgendetwas machen, was uns
toppt, und so sind Sie zu diesem Vorschlag gekommen.
({10})
Das wird in der Praxis nicht funktionieren, genauso wie
es nicht funktionieren wird, die Umlage auf 5 Prozent zu
begrenzen. Dann machte keiner mehr energetische Gebäudesanierung. Ebenso ist Ihre Vorstellung, die normale Mieterhöhung nur bei Wohnwertverbesserung greifen zu lassen, nicht zielführend; das funktioniert in dem
Markt nicht. Das führte letztendlich nur dazu, dass die
Wohnungsbestände dann nicht mehr in dem Zustand wären, in dem sie sein sollten.
Allerdings haben Sie wenigstens Vorstellungen, wenn
auch falsche, wohin die Entwicklung gehen soll. Solche
Vorstellungen hinsichtlich der sozialen Frage vermisse
ich, wie ich schon gesagt habe, bei der Regierung völlig.
Zwar hatte der Kollege Mayer in der Haushaltsdebatte
darauf hingewiesen, dass nun auch die Regierungsfraktionen das Problem erkannt hätten - vielleicht gilt das
auch nur für den christlichen Teil der Regierung -, aber
anscheinend ist ja nicht daran gedacht - da können sich
die Koalitionspartner wahrscheinlich wieder nicht einigen -, diese soziale Frage zu lösen.
({11})
Kommen wir zum Thema Mietminderung zurück.
Warum eröffnen Sie hier eine neue Spielwiese für Anwälte, die den Gerichten zusätzliche Arbeit verschafft?
Die dreimonatige Mietminderungssperre bei energetischer Gebäudesanierung wird nicht dazu führen, dass
sich irgendein Eigentümer dazu veranlasst sieht, eine Sanierung durchzuführen, die er sonst nicht gemacht hätte.
Das ist schlicht und ergreifend Unsinn.
({12})
Sie geben hier ohne Not das Äquivalenzprinzip auf.
Die eine Seite erbringt die Leistung nicht, nämlich die
Zurverfügungstellung einer ordnungsgemäßen störungsfreien Mietsache, aber die andere Seite soll dafür voll
zahlen. Das geht nicht, meine Damen und Herren.
({13})
Nun noch einmal zum Thema Mietnomaden. Ich habe
schon in der Haushaltsdebatte gesagt: Das ist wie bei
dem Scheinriesen bei Jim Knopf. Je näher man kommt,
desto kleiner wird er. Und genauso ist es hier. Je näher
man dem Thema kommt, desto kleiner wird es. Abgesehen von den Fällen, die die Boulevardpresse manchmal
hochjubelt, haben Sie überhaupt kein belastbares Zahlenmaterial.
({14})
Der Kollege von der Linken hat in der Haushaltsdebatte
danach gefragt. Vonseiten der Koalition wurde gesagt,
dass man keine Zahlen habe. Man wisse aber, dass dies
ein Problem sei und man irgendjemanden kennen würde,
der ein solches Problem schon einmal gehabt hat. Auf
dieser Basis wollen Sie ein Gesetz zulasten aller Mieter
ändern! Das ist eine Sauerei, meine Damen und Herren.
({15})
Wenn Sie es nicht verstanden haben, dann lesen Sie es
im Antrag der Grünen nach. Sie haben sich die Mühe gemacht, diese Frage genau zu klären. Sie können sich die
ganzen Positionen auf Seite 2, in der Mitte, noch einmal
durchlesen. Wichtig ist ein Satz, den Sie sich merken sollten: „Dieses ‚Phänomen‘ ist auf Einzelfälle beschränkt.“
Genau das ist es. Es gibt Einzelfälle, bei denen es passiert.
Aber es ist kein gesellschaftliches Problem, das durch
eine Änderung des gesamten Mietrechts gelöst werden
muss.
({16})
Ein weiter Punkt. Ein Räumungsverfahren, bei dem
das Gericht noch keine endgültige Entscheidung in der
Hauptsache getroffen hat, ist rechtsstaatlich meines Erachtens nicht in Ordnung.
({17})
Entscheidend ist der Primärrechtsschutz und nicht der
Verweis auf einen Schadenersatzanspruch, der dann hinterher eventuell gezahlt werden müsste. Wenn man draußen ist, ist man draußen. Da nützt auch kein Schadenersatzanspruch.
({18})
Darüber haben wir hier schon mehrfach diskutiert, genau
wie über die Frage, ob wegen der Nichtzahlung der Kaution ohne Abmahnung gekündigt werden darf. Es bleibt
die Möglichkeit nach § 543 Abs. 1 BGB. Das ist auch
ausreichend. Das, was Sie hier machen, schießt deutlich
über das Ziel hinaus und ist nicht erforderlich. Es schneidet die Rechte aller Mieter ab, und deshalb ist es nicht in
Ordnung.
Insgesamt hat dieser Gesetzentwurf viele Mängel. Positiv möchte ich vermerken, dass das Münchener Modell
verhindert werden soll. Das ist der einzige wirkliche Ansatz sozialer Mietpolitik, der in diesem Entwurf enthalten ist. Was die soziale Frage angeht, können Sie alles
andere vergessen.
({19})
Hoffen wir, dass wir zumindest nach der Anhörung
noch einmal in eine neue Debatte eintreten können, die
auf die tatsächlichen Sachverhalte ein Stück weit mehr
abstellt. Wir werden uns in diesem Zusammenhang auch
noch einmal darüber unterhalten müssen, wie der Bereich Contracting genau ausgestaltet werden soll. Ich
gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch Sie lernfähig
sind, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns gemeinsam im Interesse der Mieter daran arbeiten.
({20})
Aber mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben,
geht es nicht.
Vielen Dank
({21})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin
Andrea Voßhoff das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Egloff, ich habe Sie schon häufiger zu dem
Thema gehört. Viel Neues haben Sie heute nicht dazu
beigetragen. Vor allem fehlt mir Ihr Lösungsansatz, was
die Forcierung der energetischen Gebäudesanierung betrifft. Dazu haben Sie schlicht gar nichts gesagt.
({0})
Wie kaum ein anderer Bereich ist das Wohnraummietrecht durch das Sozialstaatsgebot und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums geprägt. Ja, Deutschland ist
ein Land der Mieter. Das soziale Mietrecht haben wir in
besonderer Weise zu schützen. Das ist völlig unstreitig.
Dort sehen wir auch keinen Nachholbedarf.
Wohnraum zur Miete stellt eine elementare Grundlage für die private Lebensgestaltung und Lebensentfaltung dar. Es gibt 40 Millionen Wohnungen; davon sind
deutlich mehr als die Hälfte, nämlich 24 Millionen,
Mietwohnungen. Die Bedeutung des Mietrechts können
wir daher nicht hoch genug einschätzen.
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, auf der
anderen Seite gilt ebenso: Deutschland ist auch ein Land
der Vermieter. Denn der überwiegende Teil des Mietwohnangebots - 61 Prozent oder rund 14,5 Millionen
Wohneinheiten - wird von privaten Kleinanbietern zur
Verfügung gestellt. Private Vermieter, Freiberufler,
Handwerker oder andere Gewerbetreibende bauen oder
erwerben nicht selten ein Mietshaus, das ihnen zur Vermögensbildung oder zur eigenen Altersvorsorge dient.
Zu nennen sind auch die Familien, die in ihrem kreditfinanzierten Wohnhaus vielleicht eine Einliegerwohnung unterhalten, um mit den Mieteinnahmen die monatlichen Zinszahlungen abzufedern. Zu nennen sind
ebenfalls verwitwete Rentner, die aus dem zu groß gewordenen Wohnhaus ausziehen und es vermieten.
Vergessen wir dabei nicht: Hauseigentum muss nichts
mit großem Reichtum zu tun haben; es wird auch vererbt
und dann von den Erben vielleicht nicht selbst genutzt,
sondern vermietet. Auch das gilt es zu berücksichtigen.
Deshalb hat das Mietrecht die Interessen der Mieter und
Vermieter immer in Einklang zu bringen. Das tun wir
mit unserem Gesetzentwurf.
({1})
Wir sehen in zwei Schwerpunktbereichen Reformbedarf; die Ministerin hat es bereits vorgetragen:
Erster Bereich. Der Schutz des Vermieters - Herr
Kollege Egloff, zu Ihren Ausführungen hierzu komme
ich gleich noch - vor Mietbetrügern ist schlicht unzureichend.
({2})
Zweiter Bereich. Wenn wir die Energiewende wollen
und die energetische Gebäudesanierung fordern, dann ist
das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wir kommen um die entsprechende Gestaltung im Mietrecht
nicht herum.
({3})
Kommen wir zunächst zum Problem des Mietbetruges. Sie sagen, es gebe nur eine verschwindend geringe
Zahl an Mietnomaden, und diese Zahl würde - das haben Sie noch einmal wiederholt - von der Boulevardpresse maßlos aufgebauscht. Ja, das ist Gott sei Dank
kein Massenphänomen. Sie kennen aber sicherlich die
Studie der Uni Bielefeld, die besagt, dass es sich aber
tatsächlich um ein Phänomen handelt.
({4})
Meine Damen und Herren, lieber Herr Kollege Egloff,
jeder Mietbetrug ist einer zu viel.
({5})
Schauen Sie sich an - auch das weist die Studie der Uni
Bielefeld aus -, in welcher Größenordnung den oft privaten Vermietern finanzielle Schäden entstehen.
Herr Kollege Egloff, Sie haben einmal in einer anderen Debatte gesagt: Wenn man mit Wohnungsbaugesellschaften redet, stellt man fest, dass diese das Phänomen
nicht groß beeinträchtigt. - Das ist nicht verwunderlich.
Große Wohnungsbaugesellschaften haben eine Vielzahl
von Mitarbeitern, gar Rechtsabteilungen, die sich mit der
Thematik befassen können. Ich frage mich, Herr Kollege
Egloff: Sehen das die privaten Vermieter auch so? Ich
hatte bereits gesagt, dass es sich beim überwiegenden
Teil der Vermieter um private Vermieter und Kleinvermieter handelt. Diese Vermieter, nicht die großen Wohnungsbaugesellschaften, sind unser Maßstab. Sie haben
einen Anspruch darauf, bei der Bekämpfung des Mietbetruges Unterstützung zu erhalten.
({6})
Die Ministerin hat die Instrumente, die wir in diesem
Zusammenhang anbieten, genannt. Ich halte sie für ausgewogen.
({7})
Wer die zum Schutz des Mieters eingefügten Normen im
Bereich des Räumungsschutzes in dieser Weise missbraucht, wie es Mietbetrüger tun, hat unseren Schutz
nicht verdient.
({8})
Wir haben Maßnahmen entwickelt, damit diese Schutzrechte nicht missbraucht werden können. Eine beschleunigte Zwangsräumung muss möglich sein, und zwar mit
verschiedenen Instrumenten, die heute bereits genannt
wurden. Das ist im Interesse eines ausgewogenen Mietverhältnisses sinnvoll und notwendig.
({9})
Kommen wir nun zum zweiten Schwerpunktbereich.
Die energetische Gebäudesanierung ist bereits angesprochen worden. Wer immer davon redet, dass er die energetische Gebäudesanierung will, der muss auch entsprechend handeln. Da kommen wir am Mietrecht nicht
vorbei. Ich finde, wir haben die Möglichkeiten, die wir
nutzen konnten, sehr sorgsam und schonend genutzt, und
zwar zugunsten des Mieters.
Natürlich beeinträchtigt der Mietminderungsausschluss für die ersten drei Monate einer Sanierung das
Äquivalenzprinzip; da haben Sie recht, Herr Egloff. Wir
wissen jedoch, auch von vielen Vermietern, dass gerade
die Mietminderungsansprüche der Mieter eine große
Barriere für die Entscheidung zur energetischen Gebäudesanierung darstellen.
Darum haben wir eine Begrenzung auf die energetische Sanierung vorgenommen, die bezogen auf die
Mietsache auch nachhaltige Einspareffekte erbringt; das
heißt, dass der Mieter im Umkehrschluss eine Entlastung
erfährt. Das alles darf man nicht außer Acht lassen. Die
Zahlen beweisen es: Der Gebäudebereich ist für 40 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs und für ein
Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Hier müssen
wir handeln; das gilt eben auch für das Mietrecht. Dabei
gilt es, durch behutsames Vorgehen die Interessen der
Mieter zu wahren.
Der Gesetzentwurf enthält hierzu viele gute Ansätze.
Ich denke daher, wir sollten die entsprechenden Beratungen im Rechtsausschuss unter diesem Gesichtspunkt
durchführen.
Sie haben die 11-Prozent-Umlage für die Modernisierungskosten kritisiert. Wir haben sie nicht verändert. Die
Umlage bleibt so, wie sie ist.
Es gibt viele private Vermieter, die wissen, dass sie diese
Modernisierungsumlage nicht auf die Miete schlagen
können, die aber froh wären, wenn einige Barrieren, die
im Mietrecht vorhanden sind, abgebaut würden, damit
sie überhaupt erst sanieren können. Es gibt Vermieter,
die bereit sind, die Modernisierungsumlage gar nicht zugrunde zu legen, weil sie wissen, dass Angebot und
Nachfrage die Höhe der Mieten steuern. Das sollten wir
durchaus von der Entwicklung am Markt abhängig machen; wir sollten uns das anschauen. Ich denke aber, es
ist ein guter Weg, den wir hier gehen, weil gerade private
Vermieter entsprechende Sanierungsmaßnahmen bisher
scheuen. Diese Bremse wollen wir lösen.
({10})
Das Thema Contracting ist erwähnt worden; auch darüber ist viel gesprochen worden. Da gibt es sicherlich
an der einen oder anderen Stelle Beratungsbedarf. Aber
es ist die christlich-liberale Koalition, die jetzt dem Contracting erstmals einen Rechtsrahmen gibt. Wir wollen
die Kostenneutralität für den Mieter erreichen. Da gibt
es im Einzelfall sicherlich noch Diskussionen. So gesehen wird die Anhörung, die wir dazu durchführen werden, sicherlich sehr zielführend und sinnvoll sein; vielleicht erhalten wir noch die eine oder andere Anregung.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, es
mit der energetischen Sanierung ernst meinen, dann sollten Sie sich dem Thema auch im Mietrecht nicht verschließen. Eine ausgewogene Reform ist in diesem Entwurf erkennbar. Alle weiteren Details können wir im
Beratungsverfahren sicherlich noch miteinander erörtern.
Ich darf mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Mietrechtsänderungsgesetz“ - das hört sich total
neutral an, ist es aber nicht. Der Titel des Gesetzentwurfs
heißt nämlich korrekt: „Entwurf eines Gesetzes über die
energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und“ - darauf kommt es an - „über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“. Damit ist
auch klar: Es handelt sich um ein Gesetz zum Abbau von
Mieterinnen- und Mieterrechten zugunsten der Vermieterinnen und Vermieter.
Die energetische Modernisierung ist wichtig und richtig. Nur leistet der Gesetzentwurf keinen Beitrag zur
nachhaltigen energetischen Modernisierung; er wendet
sich - der Kollege Egloff hat darauf hingewiesen - den
eigentlichen Problemen der Mieterinnen und Mieter
überhaupt nicht zu.
Was regeln Sie in diesem Gesetz eigentlich wirklich?
Es ist schon gesagt worden: Bei der energetischen Sanierung wird das Recht auf Mietminderung in den ersten
drei Monaten ausgeschlossen. Ein Einwand gegen die
Modernisierung, dass die zu erwartende Mieterhöhung
eine Härte darstellen würde, kann nicht mehr sofort geltend gemacht werden, sondern erst im Mieterhöhungsverfahren, und das dann auch nur noch einen Monat
lang. Das heißt, Mieterinnen und Mieter haben keine
Chance mehr, Einspruch zu erheben. Die Anforderungen
an die Begründung der Modernisierung und Sanierung
werden für den Vermieter gesenkt. Die Umlage von jährlich 11 Prozent der Kosten der Modernisierung wird beibehalten. So weit, so schlecht.
Dann kommen Sie noch mit der Sicherungsanordnung, die die Vermieter unangemessen gegenüber Mieterinnen und Mietern schützt, die die Mietzahlungen nicht
mehr leisten können. Sie schaffen Regelungen für ein
vereinfachtes Räumungsverfahren, das heißt, Sie erleichtern es, Mieterinnen und Mieter einfach auf die
Straße zu setzen.
({0})
Ich muss einmal sagen: Ich halte das für eine bodenlose
Frechheit.
({1})
Das ist ein gnadenloses Ausspielen der Macht des wirtschaftlich Stärkeren. Das bringt mich dermaßen auf die
Palme.
Ich will jetzt einmal versuchen, Ihnen zu erklären,
was Sie da eigentlich machen:
({2})
Erstens. Jemand befindet sich legal in einer Wohnung,
beispielsweise durch einen Untermietvertrag. Jetzt gibt
es einen Räumungstitel gegen den Hauptmieter. Und
was machen Sie? Sie stellen fest: Den Untermieter, der
sich legal in der Wohnung befindet, kann man leider
nicht herausklagen. Also ermöglichen Sie eine einstweilige Anordnung, um ihn rauszuschmeißen. Das ist absurd.
({3})
Zweitens. Eine Mieterin oder ein Mieter wird wegen
Zahlungsverzug verklagt. Es soll nunmehr auf Wunsch
des Vermieters möglich sein, dass der Mieter oder die
Mieterin, der oder die die Miete nicht zahlen kann, einen
Betrag hinterlegen muss, einen sogenannten Sicherungsbetrag. Wenn man keine Miete zahlen kann, hat man
möglicherweise ein existenzielles Problem, kann also
auch diesen Betrag nicht hinterlegen. Und wofür sorgen
Sie jetzt? Wenn man diesen Sicherungsbetrag nicht hinterlegen kann, dann droht Ordnungsgeld oder Ordnungshaft. Das heißt, Sie stecken die Leute in den Knast. Das
ist doch absurd.
({4})
Dazu fallen mir, ehrlich gesagt, nur noch unparlamentarische Begriffe ein.
Es geht aber noch weiter. Wenn jemand in einer existenziellen Not seine Miete nicht mehr zahlen kann und
der Sicherungsanordnung keine Folge leisten kann, dann
müsste man sich normalerweise Gedanken machen: Wie
kann man den Menschen helfen, die in einer existenziellen Not sind und ihre Miete nicht mehr zahlen können?
Stattdessen wollen Sie durch eine einstweilige Anordnung die Leute aus ihrer Wohnung rausschmeißen. Das
ist so unfassbar, da fehlen mir echt die Worte.
({5})
Letzter Punkt. Sie führen einen neuen Kündigungstatbestand ein, nämlich Zahlungsverzug bei der Mietkaution. Das heißt, eine fristlose Kündigung kann ohne vorherige Absprache oder Abmahnung erfolgen. Damit
stellen Sie die Mieterinnen und Mieter übrigens schlechter als Gewerbetreibende.
Ich will Ihnen einmal sagen, was der Bundesrat zu Ihrem ach so tollen Gesetz geäußert hat. Der Bundesrat hat
gesagt: Streichen Sie den Punkt mit der Mietminderung,
streichen Sie den Punkt mit dem neuen Kündigungstatbestand „Verzug von Mietkautionszahlung“, und streichen Sie diese wirklich unsinnige Sicherungsanordnung.
({6})
Der Mieterbund spricht von zahlreichen Mietrechtsverschlechterungen. Die mit dem Mietrechtsänderungsgesetz verfolgten Ziele werden im Übrigen nicht erreicht.
Ihr gesamter Gesetzentwurf hinterlässt bei mir den
Eindruck: Die Notwendigkeit der energetischen Modernisierung ist eigentlich nur ein Vorwand. Vielmehr geht
es doch darum, ein nur in geringem Umfang vorhandenes Problem, das sogenannte Mietnomadentum, auf
Kosten von Mieterinnen und Mietern zu lösen. Darüber
wurde heute schon viel gesprochen.
Was heißt Mietnomadentum eigentlich? Dabei handelt es sich um eine Konstellation, in der von Anfang an,
also mit Unterzeichnung des Mietvertrages, jemand die
Absicht hat, niemals seine Miete zu zahlen.
({7})
Das sind die Fälle, über die wir reden. Das ist Mietnomadentum.
Jetzt muss man feststellen, dass es das Problem in dieser Größenordnung überhaupt nicht gibt.
({8})
Die FDP hat in der 16. Legislaturperiode im Rahmen einer Kleinen Anfrage von den „drängendsten wohnungswirtschaftlichen und mietrechtlichen Problemen“ gesprochen.
({9})
Die Antwort der Bundesregierung, damals CDU/CSU
und SPD: „Die der Bundesregierung vorliegenden Zahlen bestätigen diesen Eindruck nicht“.
Der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und
Immobilienunternehmen hat 2008 festgestellt, die Ausstände der Mitgliedsunternehmen seien seit 2003 um ein
Viertel gesunken. Im Rahmen einer Studie zum Thema
Mietnomaden der Universität Bielefeld, von der hier
schon die Rede war, wurde Folgendes gemacht: Der
Hausbesitzerverband hat seine Mitglieder - das sind Besitzer von 24 Millionen Mietwohnungen - gebeten, sich
zu melden, wenn es mit dem Mietnomadentum ein Problem gibt. Rückmeldung: rund 1 400 Mitglieder, davon
gab es 400 Fälle von wirklichem Mietnomadentum. Damit liegt die Zahl im Promillebereich.
Der Abgeordnete Mayer - darauf wurde schon hingewiesen - hat auf eine Nachfrage meines Kollegen
Bockhahn, wie hoch der Anteil der sogenannten Mietnomaden in Deutschland wirklich sei, gesagt: „Ich bin der
festen Überzeugung, dass es hier kein verlässliches und
auch kein belastbares Zahlenmaterial gibt …“. Er sprach
von „Überzeugung“. Der Kollege Krings hat dazwischengerufen: „Darauf kommt es nicht an!“.
({10})
Hallo? Sie haben keine messbaren Zahlen, Sie sagen, es
komme darauf überhaupt nicht an: Aber Sie schränken
die Rechte von Mieterinnen und Mietern ein?
({11})
Das ist keine Politik, das ist verrückt. Sie jagen Phantome.
({12})
Reden wir über die tatsächlichen Probleme in Bezug
auf das Mietrecht, reden wir über die tatsächlichen Probleme von Mieterinnen und Mietern, reden wir einmal
über Mietsteigerungen. Der Mieterbund hat gesagt, dass
ein Drittel der Mieterinnen und Mieter mehr als ein Drittel ihres Haushaltseinkommens für Miete und Energie
bezahlen müssen. Mietsteigerungen bei Neuvermietungen in Großstädten betragen 20 bis 30 Prozent. Eine Anfrage meiner Kollegin Lay hat ergeben, dass 5,6 Millionen Sozialwohnungen benötigt werden, aber nur
1,6 Millionen vorhanden sind.
Die Regelungen zum sogenannten Mietwucher im
Wirtschaftsstrafgesetzbuch, wonach Mieterhöhung bei
Neuvermietung nicht mehr als 20 Prozent der Vergleichsmiete betragen dürfen, laufen leer. Die Regelungen finden nämlich nur Anwendung, wenn eine sogenannte angespannte Marktsituation vorliegt. Das sind die
Dinge, um die Sie sich wirklich kümmern müssten, tun
Sie aber nicht.
Wir als Linke haben das Problem gesehen und deshalb bereits im Februar 2011 einen Antrag eingebracht.
Nach der heutigen Rechtslage ist es so, dass die Miete
innerhalb von drei Jahren um bis zu 20 Prozent erhöht
werden kann. Das ist nicht nur eine nicht hinzunehmende Mietsteigerung für Mieterinnen und Mieter, es ist
auch ein Beitrag zur generellen Mietsteigerung. Der
Bundesrat hat hier einen konkreten Vorschlag gemacht.
Die SPD hat ihn aufgegriffen, nämlich: Mietsteigerungen in Höhe von 15 Prozent binnen vier Jahren. Wir sagen Ihnen: Auch das ist noch zu viel.
Wir finden, bei bestehenden Mietverhältnissen soll
ohne wohnwertverbessernde Maßnahmen eine Mietsteigerung nur im Rahmen des Inflationsausgleichs möglich
sein. Jetzt brüllen Sie wahrscheinlich gleich wieder: Investitionsanreize! Investitionsanreize! - Egal. Investitionen lohnen sich langfristig, weil das Geld durch die
Mieteinnahmen wieder reinkommt. Wir sagen Ihnen
- das ist der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und
uns -: Wohnungen sind ein Zuhause für Mieterinnen und
Mieter und kein Anlageobjekt, mit dem man Geld machen will.
({13})
Sie wollen die Umlage bei 11 Prozent belassen. Wir
wollen eine Umlage von 5 Prozent. Auch das rechnet
sich im Übrigen rein betriebswirtschaftlich; denn die
Modernisierungskosten sind im Rahmen der Abschreibungsfristen zu refinanzieren. Bisher sprachen wir übrigens noch nicht einmal darüber, dass der Mieter oder die
Mieterin, nachdem die Modernisierungskosten wieder
reingekommen sind, weiterhin die höhere Miete zahlen
muss.
Sie werden unserem Vorschlag vermutlich nicht folgen, und zwar aus absurden Gründen. Sie sollten an dieser Stelle aber zumindest dem Bundesrat folgen, der
9 Prozent vorschlägt.
({14})
- Herr Kauder, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann
melden Sie sich und krakeelen Sie nicht dazwischen.
Okay?
({15})
Wir Linke sagen: Mieterhaushalte, deren Einkünfte
unterhalb des jährlich festzustellenden bundesdurchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens liegen, dürfen
maximal 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für alle anfallenden Wohnkosten aufwenden. Das ergibt sich aus
unserer sozialen Verantwortung.
Darf ich einen Augenblick um Ruhe bitten? - Ich
glaube, wir können uns darauf verständigen, dass Zwischenrufe nach unserer Geschäftsordnung erstens zulässig und zweitens nachweislich nicht unüblich sind.
({0})
Es soll gelegentlich auch vorkommen, dass sie aus den
Reihen Ihrer eigenen Fraktion kommen, Frau Kollegin.
({1})
Ferner entspricht es einer guten parlamentarischen
Praxis, das Volumen der Zwischenrufe so zu dosieren,
dass überwiegend der Redner zu Wort kommt, der gerade das Wort erteilt bekommen hat. Können wir bitte so
verfahren? - Bitte schön.
({2})
Wir fordern Sie auf: Passen Sie das Wohngeld an die
tatsächliche Miet- und Einkommensentwicklung an. Ändern Sie das Gesetz so, dass Sanierungen nur dann duldungspflichtig sind, wenn sie keine unzumutbare Härte
bedeuten, und lassen Sie bitte die Finger von den vereinfachten Räumungen. Wenn Sie wirklich etwas tun wollen, dann stellen Sie gesetzlich sicher, dass eine ersatzlose Räumung von Wohnungen nach Kündigung
unzulässig ist.
({0})
Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung kann die
Linke unmöglich zustimmen. Wir fordern Sie auf: Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, und überarbeiten
Sie ihn grundlegend. Das wäre eine richtig gute Tat.
Dann können wir vielleicht auch miteinander reden, aber
nicht so.
({1})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Daniela
Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Frau Kollegin Wawzyniak, selbstverständlich darf man mit Mietwohnungen Geld verdienen,
aber es muss dabei fair zugehen.
Wir haben eines der besten und ausgewogensten
Mietrechte im europäischen Vergleich. Das sagt der Europäische Mieterbund. Das wollen Sie, Frau Ministerin,
nun ändern. Eine Ihrer wesentlichen Begründungen für
eine Mietrechtsnovelle war immer - das gilt auch heute
wieder - die Durchsetzung der Gebäudesanierung und
der Energiewende. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass die Energiewende nicht vorankommt, liegt an sehr
vielem, aber nicht am Mietrecht.
({0})
In diesem Zusammenhang ist, glaube ich, eher der Kollege Ramsauer gefordert als Frau Schnarrenberger;
({1})
denn hierbei geht es auch darum, die fehlende Planungssicherheit für Eigentümer zu beenden. Es geht darum,
dass die Eigentümer klare Optionen auf Fördermittel haben, um eine energetische Gebäudesanierung durchführen zu können.
Mit Ihrer Mietrechtsnovelle spielen Sie Mieterinnen
und Mieter unter dem Vorwand der Energiewende gegeneinander aus. Wenn Ihre Vorschläge umgesetzt werden, die eins zu eins den Wünschen der Wohnungswirtschaft entsprechen, dann verschärft sich dadurch
natürlich die schon heute teilweise dramatische Situation
auf den Wohnungsmärkten in Ballungsgebieten. Wenigstens 30 bis 40 Prozent des Nettoeinkommens für Miete,
das ist eindeutig zu viel.
({2})
Sie haben kein Gesamtkonzept für die energetische
Gebäudesanierung und die Energiewende, und Sie haben
Ihre bundespolitische Verantwortung für die steigenden
Mieten in Boomregionen immer noch nicht anerkannt.
Sie haben auch vorhin wieder auf andere verwiesen. So
geht es aber nicht.
Ein Schlüssel liegt natürlich im Mietrecht. Sozialer
Wohnungsbau genügt schon lange nicht mehr. Wir werden in absehbarer Zeit eine Situation haben, in der sich
bis weit in die Mitte der Gesellschaft Menschen ihre
Wohnungen nicht mehr leisten können. Das Mietrecht ist
ein zentrales Instrument, um die Lasten gerecht und fair
zwischen Mietern und Eigentümern zu verteilen, aber es
ist kein Instrument, um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen. Allerdings muss es in Planungssicherheit für die Akteure und in ein verlässliches Anreizsystem mit zielgruppengerechter Förderung eingebettet
sein. Ihr derzeitiges Förderchaos erzeugt nur Stillstand.
Wenn Sie die energetische Sanierung zum Beispiel
dadurch beschleunigen wollen, dass Sie die Duldungsbestimmungen erleichtern, dann müssen Sie gleichzeitig
die Mieterrechte stärken. Stattdessen bauen Sie Mieterrechte ab. Sie schränken zum Beispiel das Mietminderungsrecht ein, und Sie verändern die Regelung für Härtefallgründe zuungunsten der Mieterinnen und Mieter.
So erreichen Sie bei der Mieterschaft keine Akzeptanz
für die Energiewende, und Sie erreichen auch nicht, dass
Hausbesitzer auch nur einen Cent mehr investieren.
({3})
Der richtige Weg ist, das Mietminderungsrecht auf
nicht umgesetzte, allerdings gesetzlich vorgeschriebene
Maßnahmen auszuweiten. Bei den Mieterhöhungsmöglichkeiten müssen wir die Refinanzierungszeiträume
verlängern. Das heißt, wir müssen die Modernisierungsumlage von 11 auf 9 Prozent senken. Sie sagen ja selbst,
dass sie überhaupt nicht mehr durchsetzbar ist. Wenn uns
Hauseigentümer entgegenhalten, dass dann überhaupt
keine energetische Gebäudesanierung mehr geschehen
wird, dann frage ich mich - wenn das ein so bedeutender
Faktor ist -, wieso bei bestehender Modernisierungsumlage in Höhe von 11 Prozent nicht schon längst alle Gebäude energetisch saniert sind.
Die ortsübliche Vergleichsmiete ist ebenfalls eine entscheidende Schraube bei der Mietenentwicklung. Hier
fehlen uns begrenzende Mechanismen. Die Neuvertragsmieten von heute sind die Bestandsmieten von morgen.
Deswegen schlagen wir vor, in Kommunen oder in Teilgebieten von Kommunen, in denen nachgewiesener
Wohnraummangel herrscht, per Landesermächtigung
Obergrenzen mit dem Ziel einzuführen, dass die Neuvertragsmieten dort auf keinen Fall mehr als 10 Prozent
über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Sie
sehen: Es gibt tatsächlich auch ausgewogene Vorschläge,
um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen,
ohne dabei die Rechte der Mieterinnen und Mieter einzuschränken.
Die Energiewende im Gebäudebereich muss gelingen. Dazu müssen wir die Menschen mitnehmen. Das
leistet Ihr Gesetzentwurf bei weitem nicht. Man merkt
dem Gesetzentwurf auch an, dass Sie die verlorenen drei
Jahre - etwa so lange kündigen Sie die Novelle bereits
an - einholen müssen. Sie bauen im Hauruckverfahren
einfach nur Mieterrechte ab. Dieses einseitige Vorgehen
wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen, und das
wird auch die Energiewende in keiner Weise beflügeln.
Das sage ich Ihnen schon heute voraus.
Die Mietpreisspirale wird auf jeden Fall, auf die eine
oder andere Art und Weise, auszubremsen sein. Das
ganze Gerede von energetischer Gebäudesanierung erscheint uns in diesem Fall vor allen Dingen ein Vorwand, um die Wünsche aus bestimmten Vermieterkreisen zu erfüllen. Wir wollen, dass es so bleibt, wie es
bisher war. Wir wollen ein faires und ausgewogenes
Mietrecht, das sowohl die Interessen der Mieterinnen
und Mieter als auch der Hauseigentümer in den Blick
nimmt. Das leistet Ihr Gesetzentwurf nicht. Ich wünsche
mir daher noch sehr eingehende Beratungen im Rechtsausschuss und im Bauausschuss, und ich wünsche mir,
dass es bei den Anhörungen viele Beiträge gibt, die Ihren Entwurf des Mietrechtsänderungsgesetzes verbessern helfen.
Danke schön.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Jens
Koeppen, der neben seinen sonstigen parlamentarischen
Aufgaben auch die besonders dankbare Aufgabe der Koordination unserer Schriftführerinnen und Schriftführer
wahrnimmt, feiert heute seinen 50. Geburtstag. Er beginnt die Gestaltung dieses besonderen Tages, wie es
sich gehört, im Präsidium des Deutschen Bundestages.
Das ist ein besonders schöner Platz, um ihm die gesammelten Glückwünsche des Deutschen Bundestages zu
übermitteln, was ich hiermit gerne tue.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich nutze die eher seltene Gelegenheit, ihm stellvertretend für alle Schriftführerinnen und Schriftführer für
die unauffälligen, aber wichtigen Dienstleistungen zu
danken, die er regelmäßig für die Gestaltung unserer
Plenarsitzungen erbringt. Herzlichen Dank!
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae für
die FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wenn man die Reden der
Opposition hört, dann kann man nur froh sein, dass Sie
in diesem Land nicht regieren.
({0})
Die Vorschläge der Opposition sind einfach, grotesk und
schräg. Herr Kollege Egloff, Sie haben es in Ihrem letzten Satz durchblicken lassen. Da haben Sie gesagt: Lassen Sie uns an diesem Entwurf im Interesse der Mieter
arbeiten;
({1})
das waren Ihre Worte.
({2})
Aber da verwechseln Sie Mietrecht und Mieterrechte.
({3})
Das Mietrecht ist ein Recht, das die Rechtsverhältnisse
zwischen Mieter und Vermieter ausbalanciert regeln soll.
({4})
Genau das gelingt dem Regierungsentwurf.
Schauen wir uns schlaglichtartig ein paar Vorschläge
der Opposition an.
({5})
Führen wir uns Ihre Forderung zu Gemüte, dass die
Höhe der Wohnkosten für angemessenen Wohnraum
höchstens 30 Prozent des Nettoeinkommens eines
Mieterhaushalts betragen darf. Da fragt man sich: Können Sie das eigentlich ernst meinen?
({6})
Was ist denn in Ihren Augen „angemessener Wohnraum“? Die Antwort auf diese Frage ist doch höchst subjektiv. Der eine ist bereit, für seinen Wohnraum viel
Geld zu bezahlen, weil er sagt: Ich will einen schönen,
großen Garten haben. Dafür fahre ich weniger häufig in
Urlaub. - Der andere sagt: Ich verbringe in meiner Wohnung den großen Teil meiner Zeit, auch meiner Freizeit.
Sie ist für mich nicht nur eine Schlafstätte. - Noch ein
anderer sagt: Ich bin sowieso kaum zu Hause. In meiner
Freizeit treibe ich Sport und fahre lieber häufiger in Urlaub. - Man muss also feststellen: Es gibt völlig unterschiedliche Lebensentwürfe. Wir nennen das Freiheit der
Lebensentwürfe. Das hat für uns mit Eigenverantwortung zu tun.
({7})
Was jemand für angemessen hält, ist eine höchstpersönliche Angelegenheit. Sie wollen den Menschen ihren Lebensentwurf vorschreiben. Wir wollen Privatautonomie
und Vertragsfreiheit. Das ist der Unterschied.
({8})
Schauen wir uns einen anderen Vorschlag, den Sie
schon in aller Breite ausgeführt haben, an. Da heißt es,
dass die höchstmögliche Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete auf 5 Prozent begrenzt werden soll.
Das feiern Sie als sehr soziale Errungenschaft.
({9})
Aber was wäre die Folge eines solch abstrusen Vorschlags? Eine solche Regelung würde dazu führen, dass
die Eigentümer ihre Modernisierungsinvestitionen herunterfahren und sie auf das Nötigste beschränken würden.
({10})
Würde die höchstmögliche Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete auf 5 Prozent beschränkt,
müssten die Eigentümer nämlich bis zu 20 Jahre warten,
bis sich ihre Investition in eine fremdgenutzte Wohnung
refinanziert hat. Also werden Investitionen unterbleiben;
das ist doch völlig logisch.
({11})
Das heißt, das Handwerk hätte weniger Aufträge, Arbeitsplätze im Handwerk und im Baugewerbe gingen
verloren, und der Baubestand der Mietwohnungen
würde an Qualität verlieren, weil Investitionen unterblieben. Somit hätte Ihr Vorschlag zur Folge, dass die Wohnund damit die Lebensqualität der Mieter sinken würden.
({12})
Das kann nicht Ihr Ernst sein. Aber so würde die Zukunft des deutschen Wohnungsmarkts, des deutschen
Handwerks und des Arbeitsmarkts in Deutschland ausseStephan Thomae
hen, wenn die Linke eine Chance erhalten würde, ihre
Pläne zu verwirklichen. Das kann doch nicht wahr sein!
({13})
Aber: Man muss Ihnen dankbar dafür sein, dass Sie
diesen Antrag eingebracht haben. Denn jetzt können die
Menschen im Lande klar erkennen, was sie erwarten
würde, wenn Sie an der Regierung beteiligt wären. An
dieser Stelle wird der Unterschied zwischen den Vorstellungen der Linken und dem, was eine bürgerliche Regierung auf die Beine stellt, deutlich.
({14})
Genauso doll ist der Antrag der Grünen. Da steht zum
Beispiel, dass „die Ausweitung des Mietminderungsrechts auf nicht umgesetzte, jedoch gesetzlich vorgeschriebene Energieeffizienzstandards im Gebäudebereich“ festgeschrieben werden soll. Ganz unabhängig
von der Frage, welches Streitpotenzial darin liegt, ob die
Energieeffizienzstandards vom Vermieter eingehalten
werden, verbunden mit allen Fragen der Beweis- und
Darlegungslast und allem Pipapo, heißt das doch nicht
weniger, als dass der Eigentümer mittelbar gesetzlich zu
einer Investition gezwungen wird - ohne Rücksicht auf
seine wirtschaftlichen Möglichkeiten. Ob der Eigentümer genügend liquides Eigenkapital hat, das er einsetzen kann, ob er überhaupt Fremdkapital aufnehmen
kann, ob ihm die Bank ein Darlehen gibt: Alles egal,
sagen Sie von den Grünen. - Geld regnet ja vom Himmel. - Sie sagen: Der Eigentümer muss sanieren bzw.
renovieren, egal ob er es sich leisten kann oder nicht.
Dabei gibt es im Land übrigens eine ganze Menge
von Vermietern, die ganz schön aufs Geld achten müssen, und zwar deswegen, weil eine Immobilie auch eine
enorme Belastung darstellen kann.
Wie wohltuend ausgewogen ist dagegen der Entwurf
der Regierung,
({15})
der die Rechte der Mieter und der Vermieter wirklich in
ein gutes Verhältnis bringt. Kollege Egloff, ich kann nur
sagen: Wenn Sie einmal einen Einmietbetrüger in Ihrer
Wohnung haben, dann ist der Scheinriese Tur Tur, den
Sie so gerne zitieren, kein Scheinriese mehr, sondern
dann ist das Problem höchst real.
({16})
Frau Kollegin Wawzyniak, Sie sagen, das sei ein
minimales Problem, es gebe ja kaum solche Fälle.
({17})
Na ja, dann betrifft das auch nur ganz wenige Mieter.
Wir schützen den redlichen, den vertragstreuen Mieter,
während Sie sich zum Anwalt der Einmietbetrüger
machen. Das kann doch nicht wahr sein!
({18})
Meine Damen und Herren, man kann es nur immer
und immer wieder sagen: Wir denken an beide Parteien,
an Mieter und Vermieter. Unser Entwurf ist ausgewogen.
Wenn man das mit Ihren Vorschlägen vergleicht, dann
kann jeder vernünftige Mensch im Lande nur sagen: Wie
gut, dass in diesem Land Schwarz-Gelb regiert.
Vielen Dank.
({19})
Der Kollege Florian Pronold ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Menschen, die in Metropolregionen
leben, wie hier in Berlin, wie in München oder in Hamburg, müssen sich bei diesem kabarettistischen Auftritt,
den wir gerade erlebt haben, richtig verarscht vorgekommen sein.
({0})
Herr Kollege, so richtig parlamentarisch war die
letzte Formulierung nicht.
Ja, aber Sie wissen ja: Eine Beleidigung ist umso
schlimmer, je mehr sie der Wahrheit entspricht. Insofern
war die Beleidigung gegenüber dem Kollegen ziemlich
schlimm.
({0})
Wir haben folgende Situation: Immer mehr Menschen
in Metropolregionen haben Angst davor, dass sie ihre
Heimat nicht erhalten und in ihrer Wohnung nicht bleiben können. Die energetische Sanierung ist für uns alle,
die wir darüber reden, etwas Positives, weil wir wissen,
dass sie notwendig ist und dass wir das tun müssen, um
das Klima zu retten. Für viele Menschen ist dies aber
eine Bedrohung, weil sie Angst davor haben, dass sie
ihre Miete nicht mehr zahlen können. Das trifft die
Krankenschwester genauso wie den Polizeibeamten und
die Reinigungskraft, die alle ein sehr niedriges Einkommen haben, aber trotzdem in einer Wohnung in der
Innenstadt leben wollen.
Derzeit kommt es zu einer Verdrängung. Sie unternehmen mit Ihrem Gesetzentwurf nichts dagegen und
schaffen keinen fairen Ausgleich zwischen Vermietern
und Mietern.
({1})
Die Anzahl der Haushalte, die 40 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben müssen, hat sich in
den letzten zehn Jahren verdoppelt. Nicht wenige Menschen leben von 1 300 Euro netto. Sie geben 50 Prozent
ihrer Nettoeinnahmen für die Miete aus. Jetzt kommen
Sie, wischen das alles weg und sagen: Na ja, es gibt nur
wenige Fälle, in denen das umgelegt wird und man die
11 Prozent im Rahmen einer Mieterhöhung durchsetzen
kann. Genau in den Metropolregionen findet das aber
statt,
({2})
weil es dort, liebe FDP, eben kein freies Spiel der Kräfte
gibt, weil dort der Markt eben nicht funktioniert. Die
Mieterinnen und Mieter sind die Leidtragenden, und Sie
unternehmen nichts dagegen.
({3})
Ich will es einmal auf Deutsch sagen, sodass es jeder
versteht: Wenn eine Wohnung für 25 000 Euro energetisch saniert wird, dann bedeutet das, dass auf den Mieter
jedes Jahr Kosten von 2 750 Euro umgelegt werden können, im Monat 230 Euro. Wenn die Sanierungskosten
10 000 Euro ausmachen, sind es immer noch 1 100 Euro
im Jahr, also für viele Menschen oft ein Nettomonatsgehalt. Das sind fast 100 Euro im Monat. Dass Sie nicht
in diesen Kategorien denken, ist klar. Aber es gibt eine
ganze Menge Menschen - die Krankenschwester, den
Wachmann -, die von einem solchen Gehalt leben müssen. Wenn sie schon in der Stadt arbeiten sollen, dann
sollen sie auch in der Stadt wohnen können und nicht
50 Kilometer hinausgetrieben werden.
({4})
Das ist doch das, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
vorhaben. Hier versagen Sie, weil Sie nämlich versuchen, die energetische Sanierung nur über das Mietrecht
zu machen. Der Kollege hat darauf hingewiesen, welch
große Probleme und welche zusätzliche Rechtsunsicherheit dadurch entstehen. Das bekommen wir nicht über
das Mietrecht hin, sondern nur dann, wenn es einen vernünftigen Mix aus staatlicher Förderung - Sie haben die
KfW-Mittel für die energetische Sanierung gekürzt und Teilung der Lasten und Nutzen von energetischer
Sanierung zwischen Mietern und Vermietern gibt.
Sie begrenzen die Mieterhöhung auch nicht. Es ist
doch nicht so, dass die Mieterhöhung dann, wenn die
energetische Sanierung abbezahlt ist, wieder zurückgenommen wird. Nein, sie läuft unendlich weiter. Das ist
zutiefst ungerecht. Daran ändern Sie nichts.
({5})
Wir sind dafür, ein faires Modell zu finden, bei dem
Mieter und Vermieter vernünftig an Kosten und Nutzen
beteiligt werden. Wir sind dafür, dass man Mieterhöhungen begrenzt.
({6})
- Entschuldigen Sie, wir haben hier in diesem Hause
fünfmal über diese Frage debattiert.
({7})
Wir Sozialdemokraten haben vor der Sommerpause zum
Beispiel einen Antrag zur energetischen Sanierung vorgelegt, wo wir alles genau ausgeführt haben.
Wissen Sie, Frau Ministerin, was mich besonders ärgert? Wir haben im Sommer erlebt, um wen Sie sich Sorgen machen: um Steuerflüchtlinge, die in der Schweiz
ihr Geld anlegen.
({8})
Diese wollen Sie schützen. Aber für die Mieterinnen und
Mieter, für die Krankenschwester, für den Wachmann
haben Sie überhaupt keinen Cent übrig. Das ist der
Skandal Ihres Entwurfes.
({9})
Sie sind sozial ungerecht. Das ist typisch FDP. Es ist gut,
wenn Sie nicht mehr regieren.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir behandeln heute ein Thema mit wirklich
hoher gesellschaftsrechtlicher und gesellschaftspolitischer Relevanz.
Wir haben es gehört: Fast die Hälfte der Menschen in
unserem Land lebt in Mietwohnungen. Das, was uns die
Opposition hier darbietet und was in den Reden und
Anträge zu hören und zu lesen ist, ist schon bemerkenswert: Hier wird ein Mietrechtsentwurf pauschal als
schlecht abqualifiziert. Hier wird davon geredet, dass
Mieterrechte geschleift werden.
({0})
Hier wird sogar davon geredet, dass wir Mieter in den
Knast stecken wollen.
({1})
Ich muss wirklich sagen: Ich vermisse bei diesem Thema
den angemessenen Respekt und Ernst bei der Opposition.
({2})
Den Menschen in unserem Land, denen es darum
geht, sachgerechte und zielführende Lösungen zu finden,
um bei der energetischen Sanierung weiterzukommen
und beim Contracting voranzukommen,
({3})
und darum, dass den Vermietern gegenüber den Mietnomaden ein vernünftiger Schutz zuteilwird, werden Sie
mit Ihrer Schaufensterpolitik, mit Ihren Plattitüden und
mit Ihrem Populismus in keiner Weise gerecht, liebe
Opposition.
({4})
Ich will eines hinzufügen - mich ärgert das wirklich,
das merken Sie vielleicht auch -: Sie tun hier gerade so,
als ob Sie hier das soziale Gewissen wären.
({5})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir als
christlich-liberale Koalition haben sehr darauf geachtet,
dass dieser Gesetzentwurf ausgewogen ist, sowohl für
die Mieter als auch für die Vermieter.
({6})
Wir brauchen Sie nicht als soziales Gewissen. Das ist für
uns eine bare Selbstverständlichkeit.
({7})
Jetzt komme ich zu dem Punkt der energetischen
Sanierung. Das ist in der Tat ein wirklich wichtiger
Bereich. Deswegen sage ich: Hier müssen alle an einem
Strang ziehen. Das gilt für die Vermieter, das gilt für die
Mieter; aber das gilt selbstverständlich auch dann, wenn
es um staatliche Unterstützung geht. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich alle beteiligen
müssen.
Ich erinnere an den Bundesrat. Die Frau Ministerin
hat es schon angesprochen: Man muss darüber reden,
dass das Vorhaben schon seit Monaten im Bundesrat blockiert wird.
({8})
Wir wollen alle gemeinsam etwas für Vermieter, Mieter
und vor allen Dingen für den Klimaschutz tun.
({9})
Deswegen müssen die Länder endlich aufhören, sich
querzustellen, und ihre Blockade aufgeben, meine
Damen und Herren.
({10})
Wenn die Linken sagen: „Mit Vermietungen darf man
eigentlich kein Geld verdienen“,
({11})
frage ich Sie, liebe Frau Kollegin Wawzyniak: Bei den
Problemen, die wir in den Metropolen - in Berlin, Hamburg, München und anderswo - im Zusammenhang mit
Mietpreissteigerungen haben, geht es doch gerade
darum, dass wir auf den Wohnungsmärkten Knappheit
haben. Wie beseitigen wir die Knappheit? Wie wollen
wir das denn schaffen? Indem wir mehr Angebote schaffen. Aber man kann nicht immer nach dem Staat rufen,
wie es in Ihren Anträgen der Fall ist, mit denen Sie einen
Rechtsanspruch auf staatliche Förderung generieren
wollen. Es geht darum, dass wir für die privaten Vermieter, die an dieser Stelle investieren wollen, Anreize
schaffen. Das kann nicht alles der Staat machen.
({12})
Wenn wir schon von den privaten Kleinvermietern
reden - Sie beziehen sich in Ihrer ganzen Argumentation, angefangen bei den Mietnomaden bis zur energetischen Modernisierung, immer nur auf die großen Wohnungsgesellschaften -, dann muss man aber auch sagen:
Tatsächlich werden 60 Prozent der Wohnungen in unserem Land von privaten Kleinvermietern angeboten. Für
diese ist es in der Tat ein Problem, wenn eine energetische Sanierung durchgeführt werden soll und die Mieter
daraufhin ihre Miete kürzen wollen.
Deswegen haben wir uns das genau angeschaut. Wir
wollen in unserem Land mehr energetische Modernisierung. Deshalb wollen wir das fördern und gezielt Anreize setzen. Es gibt viele Vermieter in unserem Land,
die schon etwas älter und vielleicht schon im Ruhestand
sind. Sie können nicht einfach zur Bank gehen und einen
Kredit in der entsprechenden Größenordnung aufnehmen. Sie werden durch Mietminderungen durchaus wirtschaftlich belastet. Gerade diese Vermieter, die für
60 Prozent der Mietwohnungen in unserem Lande verantwortlich sind, müssen wir ermutigen, verstärkt in die
energetische Modernisierung zu investieren und auch
mehr Wohnungsbau zu betreiben. Deswegen wollen wir
sie fördern und ihnen Anreize bieten. Diese Vermieter
müssen wir stärken, und das machen wir mit unserem
Gesetzentwurf.
({13})
Wir stellen die Mieter aber in keiner Weise schutzlos.
Wir haben das sehr genau geprüft. Wir meinen, drei
Monate auf eine Mietminderung zu verzichten, das ist
ein vertretbarer und überschaubarer Zeitraum. Es ist
auch nicht so, dass die Mieter nicht von einer energetischen Sanierung profitieren würden. Es geht vielmehr
darum, die zweite Miete, wie man die Betriebskosten
heute nennt - es geht schließlich nicht nur um die Nettomieten; gerade die Betriebskosten sind in den vergangenen Jahren angestiegen -, zu senken.
({14})
Das schaffen wir nur über energetische Modernisierung.
({15})
Deswegen glaube ich, dass es ein vertretbarer und
zumutbarer Aufwand für die Mieter ist, für die ersten
drei Monate zu tolerieren, dass der Wohnwert etwas
beeinträchtigt wird, und auf das Minderungsrecht zu
verzichten.
Jetzt will ich noch darauf eingehen, was verschiedentlich angesprochen worden ist, nämlich dass wir Mieterrechte schleifen würden und wirtschaftliche Härtefallgründe nicht mehr angeführt werden könnten. Das
stimmt einfach nicht. Ich frage mich immer, ob Sie unsere Gesetzentwürfe nicht lesen oder ob Sie sie nicht
verstehen. Schauen Sie sich diese einmal genau an! Bei
den persönlichen Härtefallgründen wird überhaupt
nichts geändert; es bleibt bei der bestehenden Rechtslage.
Bei den wirtschaftlichen Härten haben wir allerdings
richtig gehandelt. Das ist im Übrigen der weit, weit überwiegende Teil, was eingewendet wird, die sagen: Wenn
du jetzt modernisierst, lieber Vermieter, dann können wir
aber hinterher die Miete nicht mehr zahlen. Bisher haben
die Mieter in solchen Fällen Einspruch eingelegt, und
dann ist unterm Strich im Wohnungsbestand gar nichts
passiert. Das wollen wir nicht. Es soll erst einmal modernisiert werden können. Deshalb soll hier eine Duldungspflicht eingeführt werden. Aber hinterher, wenn es um
die essenzielle Frage geht, ob die Miete erhöht werden
kann, dann kann ein Mieter selbstverständlich einen
wirtschaftlichen Härtegrund anführen.
Es werden also in keiner Weise irgendwelche Rechte
beschnitten, sondern diese werden lediglich nach hinten
verlagert. Denn wir wollen, dass die energetische
Modernisierung in unserem Land vorankommt, meine
Damen und Herren.
({16})
Jetzt komme ich zum Contracting. Das ist auch ein
wichtiger Baustein für die Energiewende, weil damit
sehr viel an Effizienzsteigerung erreicht werden kann.
Wir sehen sehr wohl, dass es ein Zugeständnis ist, das
wir den Mietern an dieser Stelle abverlangen, wenn wir
das Mietminderungsrecht für drei Monate ausschließen.
Ich finde, wie gesagt, es ist ein vertretbares und zumutbares Zugeständnis. Aber wir sehen natürlich, dass es
auch eine Belastung ist. Deswegen haben wir im Zusammenhang mit dem Contracting ganz klar gesagt: Es muss
eine kostenneutrale Regelung her. Es soll keine Gewinne
auf Kosten der Mieter geben.
({17})
Das ist der eine politische Punkt, der uns wichtig war.
Aber es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund, wieso
wir für die Kostenneutralität streiten. Wir wollen nämlich einen Anreiz setzen, dass möglichst effizient umgestellt wird, indem sich der Gewinn des Contractors aus
den beiden Punkten Kostenneutralität und Einsparung
von Brennkosten ergibt. Ein sehr kluger Bedingungszusammenhang ist: Je effizienter umgestellt wird und je
größer die Spanne der Kostenneutralität ist, desto mehr
Anreiz besteht, überhaupt umzustellen. Das ist gut für
unser Klima und für die Mieter.
({18})
Deswegen bin ich auch skeptisch - darauf möchte ich
als Letztes hinweisen -, wenn es darum geht, den Contractoren Gewinnzuschläge zuzubilligen. Richtig ist,
dass das Contracting auch in der Praxis funktionieren
muss. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wie man
die Kostenneutralität berechnet. Dazu soll jetzt drei
Jahre zurückgeschaut werden. Vielleicht muss man aber
auch die Einsparung von Brennkosten in der Zukunft berücksichtigen. Das diskutieren wir. Wir haben noch viele
Punkte, die wir in den Anhörungen klären müssen.
Die können aber nicht mehr vorgetragen werden.
Zu Mietnomaden kann ich nichts mehr sagen, weil
der Präsident mich unterbricht.
Zum Schluss: Ich bin Berliner Bundestagsabgeordneter. Ich habe, da ich die Probleme des Mietrechts hier in
Berlin kenne, wirklich sehr darauf geachtet, dass unsere
Vorlage ausgewogen ist. Wir haben hier einen sehr guten, ausgewogenen Entwurf. Sie sollten sich einen Ruck
geben, von Ihrem Populismus Abstand nehmen und diesen Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ingrid Hönlinger,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich mir den Gesetzentwurf dieser Regierung zum
Bereich Mietnomaden anschaue, dann drängt sich mir
der Verdacht auf, dass die damit befassten Regierungsmitglieder zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht
({0})
und sich dabei auch noch die falschen Sendungen angeschaut haben.
({1})
Meine Damen und Herren, nur weil in Spiegel TV
eine reißerische Sendung mit dem Titel „Mietnomaden:
Pöbeleien am Gartenzaun“ lief, müssen Sie noch lange
nicht das Prozessrecht ändern!
({2})
Als Mietnomaden werden Menschen bezeichnet, die
ein Mietverhältnis bereits in der betrügerischen Absicht
begründen, keine Miete zu zahlen. Sie ziehen von Wohnung zu Wohnung und hinterlassen diese in einem verwahrlosten Zustand; das ist ein Problem. Aber Mieterinnen und Mieter, die nach dem Eingehen eines
Mietverhältnisses zahlungsunfähig werden - sei es wegen
Arbeitslosigkeit oder Krankheit -, fallen nicht in diese
Kategorie.
({3})
Sehen wir uns die Fälle echter Mietnomaden an,
({4})
stellen wir fest, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt. Von einem Phänomen zu sprechen, ist der Versuch
der Eskalierung, um bestimmte Interessen durchzusetzen.
({5})
Sie nennen auch gar keine konkreten Zahlen. Das hat
auch seinen Grund: Das Gutachten, das von Bundesjustizministerium und Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegeben worden ist, hat in ganz Deutschland
426 Fälle von Mietnomadentum festgestellt. Frau Kollegin Voßhoff von der CDU sagt zu Recht: Deutschland ist
ein Land der Mieter. - Das bestätigt auch das Statistische
Bundesamt, das feststellt: Die Hälfte der Bevölkerung in
Deutschland lebt zur Miete.
({6})
Also stellen die Mietnomaden einen Anteil im Promillebereich dar. Und damit wollen Sie eine massive Gesetzesänderung rechtfertigen? Glaubwürdigkeit und argumentative Überzeugungskraft sehen anders aus.
({7})
Dabei sind die Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfs
äußerst weitreichend.
({8})
Sie schaffen nämlich Regelungen, die alle Mieterinnen
und Mieter treffen. Sie wollen ein neues Instrument in
die Zivilprozessordnung einführen, die sogenannte Sicherungsanordnung. Damit kann ein Gericht schon vor
dem Hauptsacheverfahren anordnen, dass der Mieter einen Geldbetrag hinterlegen muss, auf den der Vermieter
möglicherweise einen Anspruch hat. Hinterlegt der Mieter das Geld nicht, so kann der Vermieter die Wohnung
räumen lassen. Seinen Räumungsanspruch kann er durch
eine einstweilige Verfügung durchsetzen, mit der bloßen
Begründung, dass der Mieter das Geld nicht hinterlegt
hat. Auf ein Verschulden des Mieters kommt es dabei
gar nicht an.
({9})
So haben Sie zwei Verfahren, nämlich die Anordnung
der Sicherungsleistung und das Räumungsverfahren,
aber keine Beweiserhebung. Vollendete Tatsachen werden geschaffen, ohne dass jemals ein Hauptsacheverfahren durchgeführt wurde. Der Mieter sitzt auf der Straße.
({10})
Bisher kennt die Zivilprozessordnung nur Sicherheitsleistungen im Rahmen der Vollstreckung von Endurteilen. Wenn wir nun Zahlungspflichten für Mieter
schaffen, die auf nur kursorischer Prüfung und prognostizierten Erfolgsaussichten einer Klage basieren,
({11})
greifen wir tief in die Systematik des Zivilprozessrechts
ein. Das ist ein systematischer Bruch, den wir Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker nicht mittragen sollten.
({12})
Sie wollen das Gesetz aber noch weiter verschärfen.
Die Sicherungsanordnung soll nicht nur für Mieten gelten. Sie wollen auch andere Geldforderungen - das können zum Beispiel Werklohnforderungen oder Forderungen aus Versicherungsverträgen sein - einbeziehen. Da
drängt sich die Frage auf: Wieso müssen wir für Geldforderungen neue und systemwidrige Regelungen einführen,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition?
Sie bauen einen Buhmann auf - die Mietnomaden - und
benutzen diesen als Vorwand, um das Prozessrecht für
Schuldner inklusive aller Mieter zu verschlechtern und
für Gläubiger inklusive aller Vermieter zu verbessern.
Wir stellen fest: Diese schwarz-gelbe Koalition wird
getrieben von der Durchsetzung von Vorteilen für die eigene Klientel wie keine andere Regierung zuvor. Mal
sind es die Hotelbesitzer. Jetzt sind es die großen Immobilien- und Vermietungsfirmen, deren Profit gesichert
werden soll. Wir als grüne Parlamentarierinnen und Parlamentarier fühlen uns dem Wohl der gesamten Bevölkerung verpflichtet. Deswegen lehnen wir diesen Teil des
Gesetzes rundweg ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der
Kollege Dirk Fischer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zur sozialen Absicherung des Wohnens gehören sozialer Wohnungsbau, Wohngeld und soziales Mietrecht.
Das erklärte der Kanzler der deutschen Einheit,
Helmut Kohl, in seiner ersten Regierungserklärung nach
der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 30. Januar 1991. Das ist von ihm oft wiederholt worden. Für
uns ist das soziale Mietrecht seit Jahrzehnten ein wichtiger Aspekt des gesamten Wohnungswesens in Deutschland.
({0})
Es war immer unser politisches Bemühen, eine angemessene Balance zwischen Vermieter- und Mieterinteressen herzustellen. Der Vermieter muss in der Lage
sein, sein Eigentum ökonomisch angemessen zu nutzen.
Sonst wird in diesen Sektor kein privates Kapital investiert. Es hat keinen Sinn, heute die Voraussetzungen dafür zu zerstören und morgen zu beklagen, dass zu wenig
Geld in den Wohnungsbau investiert wird. Man muss
wissen, was man tut.
({1})
Für die Mieter gelten besondere Schutzvorschriften;
denn die Ware Wohnung ist nicht irgendeine Ware, sondern stellt eine existenzielle Voraussetzung für die Menschen dar, in Ruhe und Sicherheit zu leben.
Diese bewährte Zielsetzung muss also erhalten werden. Aber natürlich muss das Mietrecht von Zeit zu Zeit
überprüft werden. Wir müssen es an gesellschaftliche
Veränderungen anpassen. Der Kern der von der Bundesregierung vorgelegten Mietrechtsnovelle ist die Anpassung an die Herausforderungen der Energiewende. In
puncto Energieeffizienz und Klimaschutz kommt dem
Gebäudebereich eine Schlüsselrolle zu.
Herr Kollege Egloff, Ihre Rede hat bei mir den Eindruck erweckt, dass Sie sich von den ökologischen Zielsetzungen in Wahrheit völlig verabschiedet haben. Dann
müssen Sie das auch deutlich sagen.
({2})
Wie Sie aufgrund der Statistik wissen, bietet der Gebäudesektor mit Abstand das größte Einsparpotenzial. Wenn
wir das nicht nutzen,
({3})
können wir alle uns gesetzten Ziele aufgeben. Hier muss
also gehandelt werden.
({4})
Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund gerade für den Gebäudesektor ein ganzes Maßnahmenbündel im Energiekonzept verankert, immer streng an das
Wirtschaftlichkeitsgebot gekoppelt und ohne staatlichen
Sanierungszwang. Klar ist aber auch, dass die energetische Sanierung des Gebäudebestands nicht zum Nulltarif
zu haben ist, weder für die Vermieter noch für die Mieter
noch für den Staat auf allen Ebenen.
Hauseigentümer haben sukzessiv steigende Anforderungen zu erfüllen, wenn sie ein neues Haus errichten
wollen, und haben bereits sehr hohe Anforderungen zu
erfüllen, wenn sie den Bestand energetisch sanieren wollen. Derzeit befinden wir uns beim Gebäudebestand
schon an der Grenze des wirtschaftlich Verkraftbaren
und Vertretbaren; das müssen wir wissen. Bei noch höheren Anforderungen besteht die Gefahr, dass viele
Hauseigentümer ihre Sanierungspläne verschieben oder
ganz aufgeben. Das muss verhindert werden.
Ergänzend zu den Anforderungen bedarf es aber auch
der Förderung von Investitionen, nicht nur finanziell,
sondern eben auch durch die mietrechtlichen Rahmenbedingungen. Der größte Gewinner einer energetischen Sanierung eines Gebäudes ist der Nutzer, das heißt in
Deutschland vor allem der Mieter. Das hat die Vorrednerin gerade klargemacht.
({5})
Denn die Differenz zwischen den Heizkosten eines sanierten und eines unsanierten Gebäudes ist enorm. Ob
das am Ende zu einer finanziellen Einsparung führt, ist
neben dem Verbrauch leider auch von der allgemeinen
Preisentwicklung abhängig, und wir wissen, dass Energie teurer wird.
Ich sehe drei relevante Problemkreise, auf die sich die
Diskussion über den Änderungsbedarf beim Mietrecht in
Bezug auf die energetische Sanierung konzentriert. Dazu
kommt die Frage, wie wir mit vorsätzlichen Mietschuldnern umgehen wollen. Ich komme zunächst zum Mietminderungsrecht. Wie bereits ausgeführt, ist der Nutzer
einer Wohnung der Hauptgewinner einer energetischen
Sanierung. Es bedarf bei einem Mietverhältnis schon besonderer Anreize, damit sich ein Hauseigentümer für
eine derartige Sanierung entscheidet, vor allem, wenn
sich sein Haus nicht in den nicht sehr zahlreichen, also
eher überschaubaren Toplagen befindet. Wenn der Vermieter dann auch noch zusätzliche wirtschaftliche Verluste durch Mietminderungen befürchten muss, dann ist
das nicht gerade ein besonderer Anreiz. Es ist doch für
einen Mieter zumutbar, eine in drei Monaten zügig
durchgeführte energetische Sanierung zu ertragen. Dies
darf ihm nicht noch das Recht verschaffen, denjenigen,
der letztlich an ihm eine gute Tat begeht, auch noch
durch eine Mietminderung bestrafen zu können.
({6})
Diesen Widersinn können wir doch nicht gutheißen.
Liebe Kollegen von den Grünen, welche mietrechtlichen Anreize bieten Sie den Sanierungsträgern? Überhaupt keine. Ihr Antrag geht nämlich an den berechtigten
Interessen der Hauseigentümer vollständig vorbei. So ist
keine Steigerung der Investitionstätigkeit zu erwarten.
Wie können Sie es eigentlich mit Ihrem grünen Gewissen vereinbaren, so viele dringend notwendige Sanierungsprojekte zu behindern, ja in Wahrheit sogar masDirk Fischer ({7})
senhaft ganz zu verhindern? Das kann doch von Ihnen
überhaupt nicht akzeptiert werden.
({8})
So funktioniert die Energiewende nicht, schon gar nicht
mit Ihren Vorstellungen von Sanierungszwängen und
Energiepolizei.
({9})
Ich komme zur Umlage. Die Koalition hat sich entschieden, an der möglichen Höhe der Modernisierungsumlage nicht zu rütteln. Ich halte auch nichts davon, die
Modernisierungsumlage auf ausgewählte Modernisierungsformen zu begrenzen, nur weil jetzt die energetische Sanierung im Vordergrund steht. Wer weiß, vielleicht gerät in fünf Jahren der Wasserverbrauch in die
Schlagzeilen. Für die allgemeine Verbesserung von
Wohnverhältnissen sollte die Modernisierungsumlage
weiterhin möglich bleiben.
Zum Contracting. Der Regierungsvorschlag ist eine
gute Entscheidungsgrundlage. Ob dabei das Optimum
gefunden worden ist, werden wir nach der Anhörung im
Rahmen der Beratungen zu prüfen haben. Aber immerhin - das hat die Bundesjustizministerin ausgeführt -:
Diese Bundesregierung ist die erste, die überhaupt einmal einen vernünftigen und diskussionswürdigen Vorschlag gemacht hat. Daran muss weiter gearbeitet werden.
({10})
Zum Problem der Mietnomaden. Dabei geht es um
vorsätzliche Mietschuldner, also Menschen, die mit Absicht anderen Menschen wirtschaftlichen Schaden zufügen und oftmals vorsätzlich betrügerisch handeln. Mir
ist egal, wie viele Fälle das sind. Die große Masse der
Mietverhältnisse funktioniert reibungslos. Die sind von
den neuen Regelungen, zum Beispiel der Sicherungsanordnung, überhaupt nicht betroffen.
({11})
Der Gesetzgeber darf aber prinzipiell nicht akzeptieren,
dass einige die derzeit bestehenden Regelungslücken
und die oftmals viel zu langen Prozesse nutzen, um sich
einen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Große Wohnungsbaugesellschaften haben einen langen Atem und können das durchstehen, aber für
einen kleinen Vermieter mit ein oder zwei Wohnungen
ist dies oftmals mit dem wirtschaftlichen Ruin verbunden.
({12})
Ich will am Ende meiner Rede auf Folgendes hinweisen: Für uns alle ist die Energiewende auch im Gebäudesektor eine große Herausforderung. Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht: Förderung über
die mit Bundesmitteln finanzierten Programme der KfW,
Konzept zur Fortentwicklung der EnEV, Mietrechtsentwurf, Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung
der Gebäudesanierung. Der Beitrag, den die von der
SPD oder von den Grünen geführten Bundesländer
hierzu im Bundesrat liefern, ist alles andere als konstruktiv.
Ich frage wiederum: Wie können die Freunde von den
Grünen mit ihrem grünen Gewissen vereinbaren, dass so
jegliche energetische Sanierung vor allem im Eigenheimsektor, dem die normalen Häuslebauer, Normalverdiener, oft ältere Menschen angehören, die darauf angewiesen sind, steuerliche Förderungen zu empfangen,
konterkariert wird?
Lieber Kollege.
Ich sage Ihnen voraus: Ohne eine steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung werden wir
die anspruchsvollen Ziele nie erreichen. Sie müssen sich
in diesem Fall einen Ruck geben.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Michael Groß ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt ungefähr anderthalb Stunden viel über marktliberale Philosophien gehört. Deswegen ist es wichtig, hier einen Gegenpart zu setzen.
({0})
Ich will zu Beginn deutlich machen, dass die SPD
zum Thema Klimaschutz steht. Anders ausgedrückt: Wir
müssen das Ziel erreichen, genug CO2 einzusparen.
({1})
Wir müssen aber auch die Energieeffizienz in den Griff
bekommen. Die Wege sind allerdings unterschiedlich:
Sie wollen die Mieterinnen und Mieter belasten; wir
wollen sie in diesem Rahmen schützen.
({2})
Die Miete muss bezahlbar bleiben; das Wohnen muss
bezahlbar bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, vor kurzem hat der Bundesverband deutscher
Wohnungs- und Immobilienunternehmen veröffentlicht,
dass eine energetische Standardsanierung 3,50 Euro pro
Quadratmeter kostet. Einzusparen sind 38 Cent. Die
Frage an Sie ist: Wie wollen Sie diese Schere schließen?
Die Einkommensentwicklung in Deutschland ist gerade
schon beschrieben worden. Es gibt in Wachstumsregionen Menschen, die 50 Prozent ihres Einkommens für das
Wohnen und 15 Prozent für die Mobilität ausgeben müssen. Wovon sollen diese Menschen dann noch leben? Sie
haben darauf keine Antwort. Ganz im Gegenteil: Sie
sagen, wir müssten die Mieter noch mehr belasten.
Sie spielen auf dem falschen Spielfeld. Sie wollen die
Mietrechtsreform nutzen, um die soziale Funktion des
Mietrechts auszuhöhlen. Das sieht man an dem Titel
Ihres Gesetzentwurfs, in dem es sowohl „energetische
Modernisierung“ als auch „vereinfachte Durchsetzung
von Räumungstiteln“ heißt.
Sie haben gerade nach den Antworten der SPD gefragt. Ich kann Ihnen welche geben. Sie müssen energetische Sanierung als Bestandteil der Stadtentwicklung
begreifen und sich davon lösen, dass es nur um einzelne
Gebäude geht. Sie müssen verstehen, dass wir viele Fragen beantworten müssen. Unsere demografische Entwicklung stellt die Menschen, aber auch die Städte vor
große Probleme. Uns stellt sich die Frage des guten,
bezahlbaren Wohnens in den Städten. Die energetische
Sanierung kann ein Bestandteil dieser Stadtentwicklung
sein. Da man den Euro nur einmal ausgeben kann, müssen wir dafür sorgen, dass Quartierskonzepte entwickelt
werden, durch die die Städte in die Lage versetzt werden, vernünftig zu steuern, zu entscheiden, welche energetischen Maßnahmen richtig sind und welche wir umsetzen müssen und umsetzen können.
Neben der Gebäudesanierung spielen die Fragen eine
Rolle: Wie gewinnen wir Energie? Wie versorgen wir
die Wohnungen mit Energie? Wie speichern wir Energie? Die Antworten darauf müssen wir mit einem Gesamtkonzept geben.
Wir Sozialdemokraten haben die Vorstellung, dass
wir die Stadt als soziale Stadt wiederbeleben müssen.
({3})
Dazu gehören eben auch bezahlbare Energie, Energieeinsparungen und CO2-Reduktion.
({4})
Wir haben Angst, dass sich zahlreiche Menschen in
bestimmten Stadtteilen demnächst keine energetisch
sanierten Wohnungen mehr leisten können, mit der Konsequenz, dass sie vertrieben werden. Das ist dem ähnlich, was im Bereich „soziale Segregation“ festzustellen
ist: Es kommt zu einer Wanderungsbewegung von Menschen, die aus ihren Stadtteilen vertrieben werden, weil
das Wohnen dort zu teuer wird. Das müssen wir verhindern. 6 Millionen Menschen in Deutschland verdienen
weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Sie können sich vorstellen, was die Umlage der voraussichtlichen Investitionssummen auf die Mieter bedeutet.
In Deutschland gibt es zurzeit 1,5 Millionen gebundene Sozialwohnungen. Das ist ein wichtiges Thema,
das Sie überhaupt nicht angehen.
({5})
Zur Frage der sozialen Wohnraumförderung: Sie sagen nicht, dass Sie die 518 Millionen Euro bis 2019 verlängern wollen, sondern Sie halten das Thema völlig
offen. Wenn der Bund überhaupt noch eine Verantwortung in der Steuerung der Wohnungspolitik übernehmen
will, dann müssen Sie dort handeln.
({6})
Abschließend noch ein Satz zur Mietminderung: Ihr
Vorschlag ist ungefähr so, als würden Sie ein Auto kaufen und bekämen es ohne Windschutzscheibe und ohne
Heizung. Dann würde Ihnen aber versprochen werden,
in fünf Monaten bekämen Sie es eingebaut, weil man
gerade noch in der Entwicklung und in der Produktion
sei. 100 Prozent Leistung und 100 Prozent bezahlen, das
ist unser Thema, und so muss es auch sein. Dies gilt
auch für die Mietminderung.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, das Mietnomadentum wurde heute
schon mehrfach dargestellt. Wir haben 24 Millionen
Mieter. Nach Schätzungen des GdW gibt es vielleicht
15 000 Menschen, die bewusst, zielgerichtet betrügen
wollen; andere sprechen von 1 000. Sie diskriminieren
die 24 Millionen Mieter in diesem Land, wenn Sie
sagen, in Sachen Mietnomadentum müssten wir handeln.
Ich verstehe Sie da wirklich nicht.
Danke schön.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner
Norbert Geis.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Wagner hat vorhin bei ihrem Eingangsstatement zu ihrer Rede festgestellt, dass wir in Deutschland ein ausgewogenes Mietrecht und damit wohl auch
das beste Mietrecht in ganz Europa haben. Ich kann
Ihnen nur beipflichten. Es ist auch notwendig; denn das
Mietrecht spielt eine ganz bedeutende Rolle in unserer
Rechtsordnung überhaupt und hat eine wichtige Ordnungsfunktion in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben.
Wir haben es schon oft genug gehört: Es gibt in unserem Lande 24 Millionen Mieter. Von 40 Millionen Wohnungen sind 24 Millionen Wohnungen vermietet. Also
ist das ein ganz großer Anteil der Bevölkerung. Es ist
immer schwierig, einen Interessenausgleich zwischen
dem Vermieter und dem Mieter zu finden, weil die Interessen in bestimmten Situationen ganz weit auseinandergehen können.
Hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden, das ist
ebenfalls nicht einfach. Ich bin aber der Meinung, dass
dieser Gesetzentwurf einen guten Mittelweg darstellt.
Natürlich kann man da und dort noch eine Änderung
herbeiführen; aber alles in allem gesehen werden wir an
diesem Gesetzentwurf in seinen Grundlinien in jedem
Fall festhalten, weil wir der Meinung sind, dass er ganz
sicher besser nicht gestaltet werden kann, jedenfalls in
seinen Grundlinien nicht.
({0})
Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Ich sagte schon,
von den 40 Millionen Wohnungen seien 24 Millionen
Mietwohnungen. Diese 24 Millionen Mietwohnungen
werden nicht in erster Linie von den großen Wohnungsbaufirmen gestellt, auch nicht vom sozialen Mietwohnungsbau, sondern von den kleinen Anbietern. Die kleinen Anbieter wollen mit einem ganz großen Eifer, mit
einem starken Willen zur Selbstbeschränkung Eigentum
durch ein Haus erwerben, das sie bauen; da ist Urlaub
nicht angesagt. In diesem Haus haben sie dann zwei oder
drei Mietwohnungen. Diese Vermieter stellen nicht nur
einfach das Geld zur Verfügung - sie müssen auch zur
Bank; denn sie werden das alles nicht so aus eigener
Tasche finanzieren können -, sondern bringen auch in
höchstem Maße Eigenleistungen. Auch viele Nachbarn
werden helfen. Auf dem Dorf ist es üblich, dass man
sich hilft und eine Wohnung mit der Hilfe vieler anderer
baut. Das muss man bedenken.
Diese kleinen Vermieter bilden den größten Teil der
Vermieter, und all diese kleinen Vermieter haben ein
größtes Interesse daran, dass das, was sie sich abgespart
haben, was sie an Eigenleistung erbracht haben, in vernünftige Hände gerät und sie daraus auch einen Vorteil
haben. Sie wollen einen Vorteil nicht nur für den Augenblick, sondern vor allen Dingen für ihre Altersversorgung haben. Das ist vernünftig, und dieses Wollen müssen wir auch unterstützen,
({1})
weil sie damit einen großen Beitrag leisten, um der
Nachfrage nach Wohnungen gerecht werden zu können.
Deswegen halte ich es schon für richtig, dass wir uns
Gedanken darüber machen, wie wir dieses Mietnomadentum bekämpfen. Das ist keine Bagatelle. Wer ein
bisschen damit zu tun hat - als Anwalt hat man damit zu
tun -, der weiß, wie schwierig die Situation ist. Der Vermieter bekommt keine Miete, während der andere in der
Wohnung sitzt. Ich bin froh darüber, dass wir nicht so
viele Mietnomaden haben.
({2})
- Nein, wir müssen es aber gesetzlich regeln. Bei
15 000 Mietnomaden - eine Zahl, die hier genannt worden ist - müssen wir eine gesetzliche Regelung finden.
Wir können doch nicht einfach das Faustrecht gelten
lassen.
({3})
Was will denn ein Vermieter machen, wenn der Mieter partout nicht bezahlen will? Der Vermieter hat zwar
einen vollstreckbaren Titel, aber der Mieter geht zum
Amtsgericht und bringt irgendeine Härte vor, die der
Richter dann wahrscheinlich auch noch anerkennt. Dann
sitzt er über ein halbes Jahr oder ein dreiviertel Jahr in
der Wohnung, ohne einen Mietzins zu zahlen. Das können wir so nicht hinnehmen; damit verderben wir es uns
mit den Kleinanbietern. Aber das wollen wir nicht, weil
wir sie brauchen.
({4})
Wir alle zusammen wissen, dass die Energieeffizienz
ein wichtiger Bestandteil unserer Energiewende ist.
Ohne die Steigerung der Energieeffizienz werden wir die
Energiewende, so wie wir sie vorhaben, nicht schaffen.
Effizienzsteigerung heißt ja auch Einsparen, heißt, Maßnahmen zu treffen, damit man nicht so viel Energie verbrauchen muss. Das versuchen wir jetzt natürlich auch
im Mietrecht umzusetzen. Wie wollen wir denn den
Kleinanbieter dazu bringen, noch einmal Geld in die
Hand zu nehmen, um jetzt auch noch diese Maßnahmen
zur Effizienzsteigerung durchzuführen, ohne dass er die
Ausgaben umlegen kann? Das macht doch kein vernünftiger Mensch mehr, vor allen Dingen dann nicht, wenn er
kurz vor der Rente steht und eigentlich mit den Mieteinnahmen seine Rente aufbessern möchte. Also müssen
wir doch dafür Sorge tragen, dass es für ihn interessant
bleibt, diese Maßnahmen zur Effizienzsteigerung vorzunehmen und zu finanzieren.
({5})
Diese Möglichkeit wollen wir schaffen. Herr Fischer
hat es vorhin schon erklärt: Wenn wir dem Mieter nun
anbieten, dass während der Zeit, in der diese Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz durchgezogen
werden, Mietminderungen möglich sind, der Vermieter
also Minderungen hinnehmen muss, dann denkt der
nicht im Traum daran, überhaupt eine solche Maßnahme
durchzuführen.
Ich sehe durchaus ein: Der Mieter muss insoweit
zunächst einmal in Vorleistung treten. Er muss damit
zurechtkommen, wenn im Haus im Zuge dieser Maßnahmen umgebaut wird. Das stellt zunächst einmal eine Belastung des Mieters dar. Das sehen wir. Aber wie sollen
wir denn den Kleinanbieter dazu bringen, entsprechende
Maßnahmen zur Effizienzsteigerung durchzuführen,
wenn er dann auch noch eine Mietminderung hinnehmen
muss? Wir werden ihn nicht dazu zwingen können. Deswegen müssen wir auch innerhalb des Mietrechts eine
Möglichkeit des Ausgleichs schaffen. Das haben wir in
diesem Entwurf so vorgesehen. Ich meine, es ist auch insoweit ein gelungener Entwurf.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Contracting
sagen. Das ist natürlich eine Sache, die immer mehr
kommen wird. Im Moment haben wir in den großen
Wohnanlagen die Heizungsanlagen noch irgendwo im
Keller. Sie sind zum Teil sehr ineffizient. Es ist gut, dass
es dieses Contracting in Zukunft geben wird, bei dem
gewerbliche Wärmeanbieter in der Lage und bereit sind,
die Wärme in die verschiedenen Wohnhäuser zu bringen,
und zwar effektiver, als wenn die Wärme im eigenen
Haus hergestellt wird. Deswegen meine ich, dass wir
dies unterstützen sollten. Wir dürfen dies nicht bagatellisieren, sondern sollten Contracting insbesondere für
Kleinanbieter interessant machen, damit diese bereit
sind, das Geld hierfür in die Hand zu nehmen. Am Ende
hat der Mieter insofern Vorteile davon, als die eigenen
Aufwendungen geringer sein werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch kein
Gesetz ist so aus dem Bundestag herausgekommen, wie
es hineingekommen ist. Wir werden darüber beraten,
dazu Anhörungen machen und gute Argumente anhören
und sie umsetzen.
Danke schön.
({6})
Dr. Norbert Lammert:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte noch einmal auf die Dimensionen, insbesondere
die Herausforderungen, die wir uns mit dem Energiekonzept vorgenommen haben, eingehen. Wir wollen in
Deutschland bis zum Jahr 2050 den Primärenergiebedarf
um 80 Prozent vermindern. Das Zwischenziel ist, dass
wir bis 2020 20 Prozent gegenüber 2008 einsparen.
({0})
Über das Ziel sind wir uns einig. Alle in diesem Hause
haben diesem zugestimmt. Ich arbeite noch einmal die
Punkte ab, in denen wir uns einig und auch nicht einig
sind. Das Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir alle
Potenziale beim Energiesparen und bei der Energieeffizienz nutzen bzw. heben. Auch darüber sind wir uns einig. Hier spielt der Gebäudesektor - das ist vielfach angeklungen - eine zentrale Rolle. 40 Prozent des
Endenergieverbrauches - und damit der größte Sektor in Deutschland entfallen auf die Gebäude. Wenn wir dort
nicht ansetzen und nicht die richtigen Instrumente finden, dann wird das Energiekonzept - das weltweit ambitionierteste, das wir uns gemeinsam vorgenommen haben - so nicht umzusetzen sein.
Beim Thema Neubau sind die Probleme mehr oder
weniger gelöst. Es gibt heute Passivhäuser, Nullenergiehäuser, Plusenergiehäuser. Hier werden im Bereich moderne Haustechnik und Isolierung mit neuen Baustoffen
nahezu alle Möglichkeiten genutzt. Man verbraucht hier
nur noch wenig Energie. Das Problem ist, dass wir in
Deutschland nur 200 000 Neubauten im Jahr verzeichnen. Zum Teil sind es sogar weniger. Das heißt, bei den
bereits erwähnten 40 Millionen Wohnungen in Deutschland würden wir 200 Jahre benötigen, um die gesteckten
Ziele zu erreichen. Dies macht die Dimension der Herausforderung noch einmal deutlich.
Wir müssen uns um den Gebäudebestand kümmern
und dort die Potenziale nutzen. Hier gibt es vielfältige
Möglichkeiten. Einige Zahlen möchte ich nennen. Die
Haustechnik: 90 Prozent der Kessel in deutschen Kellern
sind veraltet. Wenn nur diese Kessel durch neue mit hohen Wirkungsgraden ersetzt würden, dann könnten beispielsweise 55 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Von den Heizkesseln werden im Moment
180 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr emittiert. Es geht
also um rund 30 Prozent.
Auch vermeintlich kleine Dinge können einen Beitrag
leisten. Ich nenne hier die Fenstereinheiten. Es gibt
580 Millionen Fenstereinheiten in Deutschland. Von diesen sind 30 Millionen einfachverglast. 250 Millionen
sind technisch und energetisch veraltet. Hier könnten wir
27 Millionen Tonnen CO2 einsparen oder - in Heizöl
ausgedrückt - 8,6 Milliarden Liter Heizöl pro Jahr. Auch
hier sind wir uns einig.
Wenn wir die Ziele erreichen wollen, dann müssen
wir alle Instrumente nutzen. Zwang führt nicht zu den
gewünschten Ergebnissen. In den Bereichen, in denen
man mit Zwang und Verpflichtung gearbeitet hat, ist das
Gegenteil erzielt worden. In der Großen Koalition forderte die SPD einen Zwang zur Nutzung erneuerbarer
Energien bei energetischen Sanierungen. Dieses wurde
auf Bundesebene nicht eingeführt, weil wir Technologievorgaben für Solarthermie machen wollten. In BadenWürttemberg wurde von der damaligen CDU-Regierung
zusammen mit der FDP die Integrationspflicht für erneuerbare Energien bei der energetischen Sanierung, technologieoffen, eingeführt. Hierfür gab es noch zusätzliche
Förderungen. Trotzdem zeigt die erste Bilanz nach zwei
Jahren, ob es einem gefällt oder nicht, dass die Menschen in die energetische Sanierung weniger investieren,
also Investitionsattentismus betreiben. Das heißt also,
Zwang führt nicht zum Erfolg.
Deshalb muss mit Anreizen gearbeitet werden. Es
gibt das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, was erfolgreich ist, aber nicht ausreichend. Dies betrifft vor allem
selbstgenutztes Eigentum. Die Marktanreizprogramme,
die damit verbunden sind, haben wir ebenfalls. Dann
gibt es die steuerliche Absetzbarkeit. Es ist ein Skandal,
dass dies seit über einem Jahr von den Ländern im Bundesrat blockiert wird. Dadurch kommt die energetische
Sanierung nicht so voran, wie es notwendig ist.
Der beste Mieterschutz ist, wenn wir Instrumente finden - das ist angeklungen -, um den Mieter von den
Energiepreissteigerungen abzukoppeln. Der Mieter muss
die Energiepreise selber zahlen, und zwar über die Nebenkosten. Es ist das bekannte Dilemma: Der Vermieter
hat kein Interesse daran, zu investieren, wenn er nichts
davon hat, außer vielleicht einer Wertsteigerung. Er wird
aber natürlich nicht investieren, wenn er damit rechnen
muss, dass auch noch eine Mietkürzung auf ihn zukommt. Deshalb muss es einen Ausgleich geben, sodass
beide Seiten etwas davon haben. Der Mieter muss mittel- und langfristig durch Energieeinsparungen bei den
Nebenkosten etwas davon haben, sodass er sich dort abkoppeln kann.
Dann werden die Mieter auch nicht aus der Innenstadt
vertrieben. Der Kollege Pronold hat es angesprochen:
Wenn in den Großstädten, in den Altstädten, in den Zentren keine energetisch sanierten Wohnungen und Gebäude vorhanden sind, dann wird nämlich genau das die
Folge sein, weil die Nebenkosten in astronomische Höhen steigen. Das werden sich die Mieter nicht mehr leisten können, und dann werden sie vertrieben. So wird ein
Schuh daraus.
({1})
Wir versuchen jetzt, dieses Dilemma aufzulösen. Auf
der einen Seite muss die Investition getätigt werden, auf
der anderen Seite müssen sowohl der Mieter als auch der
Vermieter etwas davon haben.
Ein entscheidender Punkt ist - das ist bereits angeklungen -, dass im Bereich des Contracting im weiteren
parlamentarischen Verfahren nachgebessert werden
muss. Hier kann ich nur den Gedanken des Kollegen
Geis unterstützen: Kein Gesetz hat den Bundestag so
verlassen, wie es hineingekommen ist.
Beim Contracting übernimmt der gewerbliche Energiedienstleister im Auftrag des Vermieters beispielsweise Wärmelieferungen und Investitionen in die Technik. Hier muss die Neutralität im Hinblick auf den
Zeitraum gewährleistet sein.
Herr Kollege.
Eine Investition, mit der eine Energieersparnis von
30 oder 40 Prozent erreicht werden soll, kann natürlich
nicht im Laufe eines Jahres erwirtschaftet werden. Hier
muss man sich Überlegungen im Hinblick auf eine intelligente Ausgestaltung machen, sodass sowohl der Mieter
etwas davon hat als auch derjenige, der für das Contracting zuständig ist.
Insofern freue ich mich auf gute Beratungen in den
Ausschüssen, auf dass wir den bisher schon guten Gesetzentwurf noch besser machen und die Ziele, die wir
uns vorgenommen haben, gemeinsam erreichen und
nicht bei der Umsetzung auf der Strecke bleiben.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10485, 17/10776 und 17/10120 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich hoffe, dass dies jedenfalls nicht streitig
ist. - Das ist offenkundig so. Dann sind die Überweisungen damit so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 sowie den Tagesordnungspunkt 4 b auf:
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa
Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe
- Drucksache 17/10770 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
4 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Reichtum umFAIRteilen - in Deutschland und
Europa
- Drucksache 17/10778 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer über
Armut spricht, darf über Reichtum nicht schweigen.
Deutschland ist ein reiches Land, aber Deutschland hat
enorme Schulden. Reden wir also über privaten Reichtum und öffentliche Armut.
In den letzten vier Jahren ist die gesamtstaatliche Verschuldung Deutschlands von 1,6 Billionen Euro auf über
2 Billionen Euro gestiegen. Das sind 81,2 Prozent des
Bruttosozialprodukts, also schlechter als in Spanien. Wir
verwenden heute 11 Prozent unseres Haushaltes für die
Begleichung von Zinsen. Man kann es auch anders sagen: 32,8 Milliarden Euro - der zweitgrößte Haushaltstitel - fließen cash an Vermögende, und das in Zeiten historisch niedriger Zinssätze.
Im gleichen Zeitraum, über den wir hier sprechen, ist
der private Wohlstand in Deutschland um 1 400 Milliarden Euro, also 1,4 Billionen Euro gestiegen. Nach den
Zahlen des neuen Armuts- und Reichtumsberichts der
Bundesregierung beträgt das Privatvermögen heute
10 Billionen Euro, und weit mehr als die Hälfte davon
gehören lediglich 10 Prozent dieser Gesellschaft.
Ziehen wir also eine Bilanz der Kanzlerschaft von
Frau Merkel: 500 Milliarden Euro neue Schulden für
den Staat, 1 400 Milliarden Euro neuer Reichtum für die
Vermögenden. Das ist die Bilanz der selbsternannten
„schwäbischen Hausfrau“. Man könnte auch sagen: Das
ist die Bilanz einer unverschämten schwarz-gelben
Klientelpolitik.
({0})
Sie vertreten nicht das bürgerliche Lager; die politische
Rechte in diesem Lande vertritt ausschließlich das besitzbürgerliche Lager.
Sie werden einwenden, das habe etwas mit der Finanzkrise zu tun. Richtig.
({1})
- Sie überschätzen mich, Herr Kollege. - Sie organisierten einen Bail-out von Bankschulden, um eine Wirtschaftskrise abzuwenden. Das war übrigens notwendig.
Dabei wurden aber die privaten Vermögen der Gläubiger
der Banken massenhaft mit gerettet. Die Folge davon
waren überall in Europa explodierende Staatsschulden.
Die große Mehrheit dieses Hauses hat sich gemeinsam dazu bekannt, dass man der Neuverschuldung einen
Riegel vorschieben muss. Deswegen haben wir den Fiskalpakt auf den Weg gebracht. Wir müssen aber feststellen: Neuverschuldung bedeutet nichtsdestotrotz mehr
Schulden; der Prozess wird nicht gestoppt. Was müssen
wir tun? Wir müssen Schulden abbauen, um die Souveränität der Demokratie wiederherzustellen.
({2})
Wir müssen Schulden abbauen, damit wir diese Lasten
nicht unseren Kindern und Enkeln aufhalsen. Das heißt,
es geht überhaupt nicht um die Frage, ob Schulden abgebaut werden, sondern darum, wer dafür bezahlt. Das ist
die Frage, um die wir streiten.
Nach Ihren Vorstellungen soll all dies über Einsparungen bei öffentlichen Leistungen erreicht werden, über
Kürzungen bei Sozialleistungen, bei Personal usw. Man
kann es auch anders ausdrücken: Sie wollen die Schulden durch eine Vergrößerung der öffentlichen Armut abbauen. Sie retten die Privatvermögen über staatliche Rettungspakete und lassen die Mehrheit der Bevölkerung
dafür bezahlen. Sie unternehmen nichts, um die Kosten
der Krise fair zu verteilen.
Aus diesem Grunde legt meine Fraktion heute eine
Alternative vor: die Einführung einer zweckgebundenen
Vermögensabgabe zum Schuldenabbau.
({3})
Wir ziehen das Vermögen der deutschen Millionäre heran, um die Schulden abzutragen, die durch die Kosten
der Bankenkrise entstanden sind. Diese Abgabe betrifft
1 Prozent der Bevölkerung. Es gibt einen Freibetrag von
1 Million Euro, 250 000 Euro für Kinder, einen Freibetrag für Betriebsvermögen von 5 Millionen Euro.
({4})
Wenn wir diese Abgabe zum Lastenausgleich zehn Jahre
lang erheben, dann kommen bei einem Abgabesatz von
jährlich 1,5 Prozent über 100 Milliarden Euro zusammen. Damit können wir die Schulden unter anderem des
Soffin gut bewältigen.
({5})
Manche glauben, man würde plötzlich dem Sozialismus
anheimfallen, wenn Millionäre pro Million pro Jahr
15 000 Euro in den Schuldenabbau investieren müssten.
Ich glaube, diese Argumentation ist absurd.
({6})
Ob man es nun durch Leistung, durch Erbschaft oder
durch einen Rentiersgewinn erreicht hat: Es steht doch
fest - das belegt Ihr Armuts- und Reichtumsbericht -,
dass sich das Leben in Deutschland zumindest für die
oberen 10 Prozent der Bevölkerung lohnt. Wir wollen
nur eine Minderheit davon, nämlich jene 1 Prozent der
Bevölkerung heranziehen, die allein über ein Vermögen
von 2,5 Billionen Euro verfügen.
Meine Damen und Herren, auch Reiche wissen, dass
Wohlstand etwas mit funktionierender staatlicher Infrastruktur zu tun hat. Es gibt einen oft zitierten Satz: „Nur
Reiche können sich einen armen Staat leisten.“ Ich will
ausdrücklich sagen: Dieser Satz ist falsch. Seit 2008 wissen wir: Auch Reiche können sich einen armen Staat
nicht leisten.
({7})
Auch Reiche brauchen einen handlungsfähigen Staat.
Dafür müssen wir Staatsschulden abbauen, und dazu
müssen die Vermögenden in unserem Lande einen fairen
Anteil aufbringen;
({8})
dem dient die grüne Vermögensabgabe.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält das Wort nun der
Kollege Christian von Stetten.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Durch die Progression in unserem Einkommensteuergesetz erreichen wir genau das, was wir wollen, nämlich
dass starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Bürger mit geringen Einkommen und Personen mit besonderen Lasten,
die überhaupt keine Einkommensteuer zahlen - sie sind
von dieser Steuerart befreit -, auf der anderen Seite gibt
es die Spitzenverdiener - also die kleine Gruppe der
10 Prozent an der Gesamtbevölkerung -, die über 50 Prozent der gesamten Einkommensteuerlast tragen. Das
muss hier erwähnt werden; denn es muss ihnen zugutegehalten werden. Unser Steuersystem ist so angelegt:
Wenn jemand erfolgreich ist und ein hohes Einkommen
hat, dann leistet er einen höheren finanziellen Beitrag an
den Staat.
Herr Trittin, was Sie heute für die Grünen zum Thema
Vermögensabgabe in den Bundestag eingebracht haben,
hat nichts mit leistungsabhängiger und gewinnabhängiger Besteuerung zu tun. Sie wollen eine staatliche Umverteilung, das wird mittlerweile auch deutlich ausgesprochen.
({0})
- Sie können das von Ihnen bejubelte Wort „staatliche
Umverteilung“ auch als „staatliche Teilenteignung“ beschreiben,
({1})
dann ist der Jubel vielleicht gar nicht mehr so groß.
({2})
Sie haben ausgeführt, dass Sie zunächst einen Freibetrag festlegen wollen. In den nächsten zehn Jahren wollen Sie dann eine Teilenteignung in Höhe von insgesamt
15 Prozent des abgabepflichtigen Vermögens durchsetzen. Dabei machen Sie überhaupt keinen Unterschied,
ob der betroffene Bürger in dem betreffenden Jahr etwas
verdient hat oder nicht.
({3})
Er wird seinen Beitrag auch leisten müssen, wenn er in
jenem Jahr Verluste gemacht hat. Das ist eine Substanzsteuer, die wir als CDU/CSU-Fraktion für unverantwortlich halten.
({4})
- Ja, Sie sind da schon einen Schritt weiter.
Die SPD diskutiert derzeit noch. Vielleicht wird Herr
Gabriel heute anschließend seinen Enteignungszinssatz
bekanntgeben. Die Linksfraktion ist hier schon etwas
weiter. Ihr vorliegender Antrag ist zwar etwas weiter gefasst, aber ich stelle wieder einmal fest: Wir beschäftigen
uns in schöner Regelmäßigkeit mit Ihrem Lieblingsthema, der Vermögensteuer.
({5})
Zum wiederholten Male fordern Sie einen Zinssatz von
5 Prozent jährlich auf den Verkehrswert.
({6})
Sie wissen: Bei 5 Prozent auf den Verkehrswert ist nach
20 Jahren - ({7})
- Herr Gysi, nach 20 Jahren ist es weg, und auch das
Haus ist weg: Im ersten Jahr ist es die Diele, im zweiten
Jahr das Bad, im dritten Jahr das Wohnzimmer, und nach
20 Jahren haben Sie aus einem stolzen Hausbesitzer wieder einen Mieter gemacht.
({8})
Alle drei Oppositionsparteien betonen bei diesem
Thema immer wieder, dass sie nur die Vermögenden,
also die Millionäre treffen wollen. In diesem Zusammenhang nennen Sie auch immer die Banken und die
Euro-Krise. Sie mobilisieren gemeinsam gegen „die da
oben“, gegen die Vermögenden, und erklären, dass Ihre
Vorschläge letzten Endes nur 1 Prozent der Bevölkerung
treffen. Aber es stellt sich die Frage: Mindert das den
schädlichen Effekt der Abgabe? Ist es gut und gerecht,
weil es nur wenige trifft?
({9})
Uns ist völlig klar: Sie spekulieren auf die Wählerstimmen der übrigen 99 Prozent der Bevölkerung. Ihre Politik ist volkswirtschaftlich gesehen schädlich und auch
sehr gefährlich.
({10})
Mich bedrückt besonders, dass Sie - obwohl Herr
Trittin ausgeführt hat, dass er hiermit die Bankenkrise
bewältigen will - überhaupt nicht ausgeführt haben, wie
hoch das Aufkommen sein wird.
({11})
In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass „ein großes Aufkommen realisierbar ist“. Mit solchen Initiativen leisten Sie
keine große Hilfe zur Bewältigung der jetzigen Finanzkrise.
({12})
Wenn Sie in der Debatte zum Thema Mietrecht zugehört hätten, dann wäre Ihnen jetzt klar, was Sie da beschließen wollen. Sie treffen doch in der Summe nur die
Bürger mit kleinen Einkommen und die Mieter.
({13})
Das gilt sowohl für den Vorschlag, 1,5 Prozent pro Jahr
zu erheben, als auch für den Vorschlag, 5 Prozent zu erheben.
({14})
- Herr Kollege, nehmen Sie beispielsweise den Besitzer
eines großen Mietshauses. Gehen wir davon aus, dass
mit den Wohnungen eine Verzinsung von 3,5 Prozent
erwirtschaftet wird. Wenn der Hausbesitzer, wie die
Linkspartei es vorschlägt, pro Jahr 5 Prozent auf den
Verkehrswert zahlen muss - wir können auch von den
vorgeschlagenen 1,5 Prozent ausgehen -, dann wird er
dieses Haus verkaufen wollen. Er wird jedoch keinen
Käufer finden, weil das Haus kein Renditeobjekt mehr
ist.
({15})
Was wird er machen? Er wird diese hohen Abgaben
selbstverständlich auf den Mieter umlegen. Ein Vermögensteuersatz von 5 Prozent würde demnach eine glatte
Verdoppelung der Miete bedeuten. 1,5 Prozent würden
eine Mieterhöhung um 25 Prozent bedeuten. Diese mieterfeindliche Politik werden wir von CDU und CSU
nicht mitmachen.
({16})
Zum Abschluss darf ich noch daran erinnern, dass wir
die gleiche Neiddiskussion vor einigen Jahren im
Zusammenhang mit der Reform der Erbschaftsteuer
geführt haben. Damals haben Sie die gleichen Argumente vorgebracht. Gott sei Dank haben wir ein vernünftiges Erbschaftsteuergesetz mit vernünftigen Freibeträgen und guten Übergangsmöglichkeiten für die
Unternehmenserben durchgesetzt. Wir haben die Abwanderung der Vermögen und der Unternehmen ins
Ausland gestoppt. Was mich besonders freut, ist, dass
Unternehmen mit zahlreichen Arbeitsplätzen nach
Deutschland zurückgekehrt sind.
Ich empfehle Ihnen, einmal mit Gewerkschaftsmitgliedern darüber zu diskutieren. Sprechen Sie einmal mit
den Kollegen. Dann werden sie feststellen, dass sie froh
sind, dass wir ein Erbschaftsteuerrecht auf den Weg
gebracht haben, das es ermöglicht, dass die Familienunternehmen in Deutschland bleiben. Die Menschen
arbeiten nämlich lieber in Familienunternehmen. Auch
Gewerkschaftsmitglieder möchten wissen, wo ihr Chef
wohnt, und schätzen den familiären Anschluss, den auch
große Familienunternehmen bieten. Sie schätzen Unternehmen, in denen verantwortungsvoll gearbeitet wird.
Sie wollen keine anonymen Chefs, die irgendwo in Chicago oder sonst wo sitzen; denn das ist problematisch,
wenn sie konsultiert werden müssen, zum Beispiel, weil
ein Unternehmen verkauft werden soll.
({17})
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Das, was Sie
heute vorgelegt haben, ist weit entfernt von einer vernünftigen Regelung. Deswegen sehe ich auch keine
Chance für eine Umsetzung durch den Deutschen Bundestag.
Herzlichen Dank.
({18})
Vielen Dank, Kollege von Stetten. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Sigmar Gabriel. Bitte schön,
Kollege Sigmar Gabriel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege von Stetten, wenn Sie sagen, dass die Progression in
der Einkommensteuer ausreicht, dann müssen Sie hinzufügen, dass die Einkommensteuer einen immer kleineren
Anteil an der Lastenverteilung in Deutschland hat und
die ganz normalen Menschen inzwischen einen Riesenanteil über andere Steuerarten bezahlen und die Spitzenverdiener relativ wenig zur Lastenverteilung beitragen
müssen.
({0})
Sie haben sich eben versprochen. Sie haben gesagt, Sie
seien von dem Thema betroffen. Ich glaube, da ist etwas
dran.
({1})
Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Absicherung der
Arbeitnehmer zu einer Disparität, die der persönlichen
Freiheit jede Grundlage entzieht. Gehört das Unternehmen irgendwelchen Erben, die im sonnigen Süden leben,
so erhöht sich auch deren Vermögen täglich, ohne dass
diese einen Handschlag tun, wenn das Unternehmen von
fähigen Angestellten gut geleitet wird. Auch das unternehmerische Risiko ist in der Praxis geringer als das
Risiko eines Arbeitnehmers. Der Unternehmer haftet bei
Kapitalgesellschaften nur mit seiner Einlage, der Arbeitnehmer aber häufig mit seiner ganzen Existenz, vor
allem wenn er älter ist. Der Staat könnte eine gemeinwirtschaftliche Entwicklung fördern, ohne einen einzigen Enteignungsakt zu vollziehen. Entscheidender
Hebel ist das Steuerrecht.
Ich wundere mich, warum die FDP dabei nicht applaudiert. Das stammt nämlich von Ihrem FDP-Generalsekretär, natürlich nicht von Ihrem jetzigen; der käme
auf eine solche Idee nicht. Es gibt ein Buch, das Sie angesichts Ihrer derzeitigen Verfassung einmal lesen sollten. Der ehemalige Generalsekretär der FDP, KarlHermann Flach, hat das in seinem Buch mit der Überschrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ geschrieben. Wenn Sie das machen würden, hätten Sie eine.
({2})
Es gab Zeiten, in denen in Deutschland über Parteigrenzen hinaus klar war - bei der CDU/CSU, bei der
FDP, bei uns -, dass die wachsende Disparität von Einkommen und die ungleiche Verteilung der Lasten gefährlich ist für die Demokratie. Klar ist übrigens auch, dass
es nicht um technische Details einer vernünftigen Vermögensteuer oder -abgabe geht. Wir sind eher für eine
Steuer, die Grünen sind eher für eine Abgabe. Die Grünen machen einen exzellenten Vorschlag, durch den sie
dafür sorgen wollen, dass es nicht zur Substanzsteuer
wird.
({3})
Das ist ein guter Vorschlag.
({4})
Insgesamt geht es darum, einmal darüber zu reden,
wozu das eigentlich dient. Deswegen will ich mich ausdrücklich dafür bedanken, dass es zumindest ein Mitglied der Bundesregierung gibt, das den Mut hatte, dafür
zu sorgen, dass wir heute eine Grundlage dafür haben,
über eine Vermögensabgabe oder -steuer zu diskutieren.
({5})
Grundlage ist der Armuts- und Reichtumsbericht, den
die Sozialministerin, Frau von der Leyen, vorgelegt hat.
({6})
- Na klar, das lese ich Ihnen gleich vor. Keine Sorge. Im
Gegensatz zu Ihnen habe ich den Bericht gelesen.
Herr von Stetten, es geht doch nicht darum, eine ideologische Debatte über Sozialneid oder darüber, Reiche
zu verfolgen, zu führen, sondern es geht um den Zusammenhalt und das Leben in Deutschland und um die
Frage, wer eigentlich welche Lasten trägt. Im Bericht
steht, dass inzwischen mitten in Deutschland 1,5 Millionen Menschen Schlange stehen, um sich an den Tafeln
altes Brot abzuholen, um etwas zu essen zu haben. Im
Bericht steht, dass es nicht nur um Altersarmut geht,
sondern auch um 2,4 Millionen armutsgefährdete Kinder. In Deutschland geht es also nicht nur um Altersarmut, sondern auch um Jugendarmut, Familienarmut,
die Armut der Alleinerziehenden und die Armut der
Menschen, die fleißig arbeiten und trotzdem keinen anständigen Lohn erhalten.
({7})
Wir wollen in einer wohlhabenden Gesellschaft leben,
aber wir wollen auch endlich, dass diejenigen, die diesen
Wohlstand erarbeiten, fair und gerecht daran teilhaben
und die Lasten wieder fairer verteilt werden.
({8})
- Ich kann ja verstehen, dass es Sie aufregt, dass es eine
CDU-Politikerin ist, die das aufgeschrieben hat. Aber
das ändert doch nichts daran, dass sie sich mit der Wirklichkeit beschäftigt. Sie können die Wirklichkeit nicht
einfach ignorieren, auch dann nicht, wenn sie Ihnen
nicht gefällt.
Bei der ganzen Debatte geht es darum, Deutschland
wieder in ein soziales Gleichgewicht zu bringen. Es geht
nicht um Reichenverfolgung oder irgendwelche Ideologien, sondern es geht darum, dass wir etwas, das wir
schon einmal hatten, wiederherstellen.
({9})
- Wenn hier jemand beim Thema Ideologie zurückhaltend sein sollte, dann nun wirklich Sie.
({10})
- Herr Kauder, ich weiß, das ärgert Sie,
({11})
aber ich trage nur vor, was Ihr eigenes Regierungsmitglied aufgeschrieben hat.
({12})
Der Armutsbericht deckt schonungslos auf: Jenseits
einer kleinen Oberschicht mit rasant steigenden Einkommen und Vermögen hat die große Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der Steigerung des
Wohlstands keinen Anteil. Das ist nicht nur sozial ungerecht, sondern es gefährdet auch die Grundlage, auf der
Deutschland einmal stark und wirtschaftlich erfolgreich
geworden ist. Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern ist nicht die Geschichte der sozialen Auseinanderentwicklung. Sie wussten, dass das Land und sie selber
nur eine Chance haben, wenn man sich im Land gemeinsam entwickelt und nicht auseinander. Wir wollen
darüber reden, wie wir das wiederherstellen. Wir haben
das in Deutschland schon einmal geschafft. Darum geht
es.
({13})
50 Prozent der neuen Beschäftigungsverhältnisse sind
befristet. 5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten
für 8 Euro die Stunde und weniger. 12 Millionen Menschen in Deutschland leben an oder unter der Armutsgrenze. Das Armutsrisiko liegt bei 15 Prozent. Das sind
keine Erfindungen der SPD, der Grünen oder der Linkspartei, sondern das sind die Daten und Fakten aus dem
Bericht Ihrer eigenen Regierung.
({14})
- Er sagt: Nein! Nein! Nein! Das sei nur Frau von der
Leyen.
Ich finde, das ist eine spannende Debatte. Erst kommt
Herr Rösler, Ihr Vizekanzler, und sagt: Der ganze
Bericht ist Unsinn, wir werden ihn jetzt einmal ressortabstimmen und dann verändern. Frau Merkel sagte - ich
zitiere -:
… jetzt wird dieser Bericht … abgestimmt in der
Bundesregierung. Da ist noch nicht mal die erste
Runde gelaufen. Und dann werden wir das im November im Kabinett beraten. Und ich bin ganz optimistisch, dass wir dann auch einen gemeinsamen
Standpunkt finden.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Wirklichkeit
lässt sich nicht ressortabstimmen, und sie lässt sich auch
nicht fälschen.
({15})
Es geht auch nicht darum, dass CDU, CSU und FDP zu
einem gemeinsamen Standpunkt kommen, sondern es
geht darum, dass Sie einmal merken, was in Deutschland
los ist, und dass wir gemeinsam hier im Haus versuchen
müssen, das zu verändern.
({16})
Über Steuerpolitik allein schafft man noch keine bessere Gesellschaft, aber sie soll die Instrumente schaffen,
die es ermöglichen, dass die Lasten fair verteilt werden.
Auch da zeigt der Armuts- und Reichtumsbericht ein
Bild der Wirklichkeit: Die vermögensstärksten 10 Prozent vereinigen mehr als die Hälfte des Nettovermögens
auf sich, die unteren 50 Prozent gerade einmal 1 Prozent.
So geht das weiter. Das DIW - es ist ja nicht gerade eine
linkssozialistische Einrichtung ({17})
hat unlängst dargestellt, dass genau deswegen die Mittelschicht schrumpft und zwischen den Polen zerrieben
wird. Das ist doch nicht ideologisch.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich
haben Sozialdemokraten und Grüne in ihrer Regierungspolitik beim Thema Steuerentwicklung auch Fehler gemacht; das ist doch gar keine Frage.
({18})
Frau Kramp-Karrenbauer - sie ist übrigens eine CDUMinisterpräsidentin - hat recht, wenn sie sagt, ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent, wie ihn Gerhard Schröder
eingeführt hat, sei zu niedrig. Die Frage ist nur, warum
Sie diese Fehler fortsetzen wollen. Ein Spitzensteuersatz
bei der Einkommensteuer in Höhe von 53 Prozent ab
einem Einkommen von 50 000 Euro gehörte übrigens
einmal zu Ihrer eigenen Steuerpolitik. Das fordern in der
SPD nicht einmal mehr die Jusos, meine Damen und
Herren.
({19})
Von daher: Ich glaube, es geht wirklich darum, zu merken, dass sich die Wirklichkeit verändert hat und dass
wir die Lastenverteilung in Deutschland nicht mehr so
unfair belassen dürfen.
Ihre Ministerin ist so mutig, im Reichtums- und Armutsbericht zu schreiben, wie man das machen muss.
Ich zitiere:
Die Bundesregierung prüft, ob und wie über
- Herr von Stetten, hören Sie genau zu die Progression in der Einkommensteuer hinaus
privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung
öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.
Zitat Ende. Unterschrift: Frau von der Leyen.
({20})
Genau darum geht es.
({21})
Wir dürfen nicht nur über den Anteil der Einkommensteuer reden, sondern wir müssen auch über den Beitrag
von hohen Vermögen, Erbschaften und Kapital sprechen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde schon
den Begriff „Reichensteuer“ schlecht.
({22})
Hier geht es auch nicht um Sozialneid.
({23})
Wenn Leute wohlhabend und reich geworden sind,
steckt dahinter bei den allermeisten unglaublich viel persönliche Leistung und ganz viel Anstrengung. Aber niemand wird alleine reich. Immer gehören Arbeitnehmer
dazu. Ein Land muss sozial sicher sein, über Infrastruktur verfügen, gute Bildungschancen bieten, und es muss
sozialer Friede herrschen. Das alles und persönliche
Leistung führen zu Wohlstand und Reichtum. Wenn das
Land, das mitgeholfen hat, einige Menschen sehr reich
und wohlhabend werden zu lassen, Schulden abbauen
und trotzdem in Bildung investieren muss, aber auch
seine Städte und Gemeinden nicht verkommen lassen
darf, dann ist es doch die Aufgabe derjenigen, die auch
mithilfe dieses Landes wohlhabend geworden sind,
etwas mehr mitzuhelfen als die, denen es nicht so gut
geht. Das hat nichts mit Sozialneid zu tun. Das ist Patriotismus für unser Land, den wir einfordern - nichts anderes, meine Damen und Herren.
({24})
Ich verstehe nicht, warum Sie es sich beim Thema
Vermögensteuer so schwer machen. Das ist doch keine
Erfindung von Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht.
Sie ist die erste Steuer, die in der Verfassung der Bundesrepublik benannt wird. Sie ist übrigens eine reine Ländersteuer; schließlich brauchen die Länder das Geld, um
Ganztagsschulen zu bauen. Darum geht es bei der Vermögensteuer.
({25})
Die CDU feiert ja gerade gerne Jubiläen. Es ist übrigens nicht nur Helmut Kohl, der ein Jubiläum hat. Ich
habe einmal nachgeschaut, wann das erste Mal in
Deutschland eine Vermögensteuer erhoben wurde und
wer es gemacht hat. Das war vor exakt 60 Jahren. Im
Jahre 1952 haben der damalige Bundespräsident Heuss,
FDP, Herr Bundeskanzler Adenauer, CDU - auf ihn berufen Sie sich doch gerne -, und der Bundesfinanzminister Schäffer, CSU, das Gesetz über die VermögensteuerVeranlagung unterschrieben, und sofort danach ist es in
Deutschland erstmalig in Kraft getreten. Es gab also Zeiten, in denen CDU, CSU und FDP nicht so ideologisch
dahergequatscht haben wie ihr letzter Redner, sondern in
denen sie wussten, was Verantwortung für dieses Land
bedeutet. Ich hoffe, dass das bei Ihnen wieder ein bisschen zunimmt.
({26})
Weil die FDP und insbesondere Herr Brüderle so
gerne Ludwig Erhard, den Begründer der sozialen
Marktwirtschaft, zitieren - obwohl er ja der CDU angehörte -, sage ich Ihnen Folgendes: Er hat am Gesetz über
die Vermögensteuer-Veranlagung mitgewirkt. Ich frage
mich, was er wohl heute sagen würde, wenn er erleben
müsste, wie Sie soziale Marktwirtschaft definieren, und
wenn er feststellen müsste, dass Sie nicht einmal bereit
und in der Lage sind, den entfesselten Finanzmärkten
Fesseln anzulegen, damit die soziale Marktwirtschaft
nicht immer mehr zerstört wird. Sie haben nichts mit
dem Erbe Ihrer Parteien gemein.
({27})
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass es in
unserem Land eine Schieflage gibt. Wir wollen Schulden
abbauen, in Bildung investieren, unsere Städte und Gemeinden und unsere Heimat nicht verkommen lassen,
Investitionen in Forschung, Entwicklung und Wachstum
tätigen und die enormen Herausforderungen des demografischen Wandels bewältigen.
Das alles versprechen alle Parteien fast jeden Tag
unseren Bürgerinnen und Bürgern. In der Summe dieser
Versprechungen unterscheiden wir uns praktisch überhaupt nicht. Worauf es aber ankommt, ist, auch zu sagen,
wie wir das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern ständig versprechen, eigentlich bezahlen wollen. Die Leute
haben doch die Nase voll davon, dass wir ihnen immer
sagen: Keine Sorge, wir senken Schulden, wir senken
Steuern, und wir geben mehr für Bildung und alles mögliche andere aus. Die Quadratur des Kreises glaubt uns
doch kein Mensch mehr.
({28})
- Wenn Sie den Mut haben, zu sagen, was Sie davon alles nicht machen wollen, dann kommen wir in der
Debatte ins Geschäft. Es wäre spannend, zu hören, was
Sie nicht tun wollen.
Wir sagen Ihnen: Wir wissen, wie wir eine faire
Finanzierung all dieser Aufgaben hinbekommen wollen,
nämlich durch den Abbau überflüssiger Steuersubventionen - damit haben wir übrigens einmal gemeinsam
angefangen; warum setzen wir das eigentlich nicht
gemeinsam fort? -, durch die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Einkommen von
100 000 Euro pro Person und auch durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die den Ländern bis zu
10 Milliarden Euro mehr für Ganztagsschulen, für
Kindergärten und für Hochschulen verschaffen würde.
({29})
- Bei der Vermögensteuer geht es um 1 Prozent,
genauso, wie wir das in der Vergangenheit debattiert
haben, aber eben in der Art und Weise, dass die Betriebsvermögen herausgenommen werden.
({30})
- Sie haben doch noch nicht einmal den Gesetzentwurf
der Grünen gelesen; denn sonst wüssten Sie die Antwort
darauf: Die Abgabe darf nicht mehr als 35 Prozent des
Jahresertrages des Betriebs betragen. Das ist doch deren
vernünftiger Vorschlag - verbunden mit riesigen Freibeträgen!
({31})
Wir sollten uns einmal darauf verständigen, über die
Details zu reden. Ich habe gar kein Problem damit, zu
sagen, dass ich manchen von Ihnen bestimmt recht geben würde. Sie wollen aber die soziale Spaltung des
Landes weiter vergrößern. Sie ignorieren die Wirklichkeit, wollen den Bericht darüber fälschen und der Öffentlichkeit sagen, man müsste hier nichts tun.
({32})
Das ist doch das, was Sie hier machen!
({33})
Ich sage Ihnen: Wir sagen, wie wir das bezahlen wollen. Sie haben keine Antwort darauf, sondern wollen die
Wirklichkeit ignorieren. Das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({34})
Vielen Dank, Kollege Gabriel. - Nächster Redner in
unserer Aussprache ist unser Kollege Dr. Volker Wissing
für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Dr. Volker
Wissing.
({0})
Ich danke Ihnen. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Gabriel, ich finde es bedauerlich, dass Sie hier ein solches Zerrbild von unserer
Gesellschaft gezeichnet haben.
({0})
Jemand, der sich hinstellt und sagt, er könnte die Republik besser regieren, während er die Realität dabei aber
völlig ausblendet,
({1})
kann nicht wirklich besonders ernst genommen werden,
lieber Herr Gabriel.
({2})
Sie haben aber auch etwas Kluges gesagt. Sie haben
nämlich gesagt, dass die Sozialdemokraten Fehler gemacht haben. Das ist in der Tat richtig. Sie haben gravierende Fehler gemacht, und Sie machen auch heute noch
gravierende Fehler. Ich will Ihnen zunächst einmal die
Fehler der Vergangenheit vorhalten:
Bevor Sie zuletzt Regierungsverantwortung übernommen haben, haben Sie der Öffentlichkeit erklärt,
dass Sie Reiche höher besteuern wollen. Durch die Einführung der Reichensteuer haben Sie von Vermögenden
ein paar Hundert Millionen Euro mehr abkassiert. Aus
der Mitte der Bevölkerung haben Sie aber 25 Milliarden
Euro durch eine Mehrwertsteuererhöhung herausgezogen. Die Binnennachfrage und der kleine Mann wurden
geschwächt, die Empfänger unterer Einkommen und die
Mitte wurden höher belastet. Das war die Realität Ihrer
Politik. Deswegen glaubt Ihnen in Deutschland niemand
mehr, dass es Ihnen um das Geld der Reichen geht. Sie
schielen längst wieder auf die Mitte, auf die Empfänger
unterer und mittlerer Einkommen, weil man da Kasse
machen kann. Darum geht es Ihnen.
({3})
Sie wollen Ihre überzogene Ausgabenpolitik auf Kosten der Mitte in Deutschland finanzieren. Das ist genau
die falsche Politik, um aus dieser Krise herauszukommen, weil diese Politik wachstumsfeindlich ist.
({4})
Ich bin nicht der Einzige in Deutschland, der das so
sieht. Sie tun ja so, als würden Sie mit Ihren Erklärungen
zur Gerechtigkeit die geballte Linke in Deutschland hier
vertreten.
Herr Gabriel, der Spiegel hat sich in dieser Woche
unter dem Titel „Jagd auf Reiche“ mit den Vorschlägen
der SPD auseinandergesetzt.
({5})
Er kommt hinsichtlich der Vermögensteuer, wie die SPD
sie vorschlägt, zu dem Ergebnis - ich zitiere:
Vor allem … belastet sie
- die Vermögensteuer der SPD gerade jene Bevölkerungsgruppe, deren Besitz
weniger aus Yachten, Wertpapieren oder Gemälden
besteht, sondern vor allem aus Maschinen und Fabriken.
Selbstständige mit mindestens zehn Beschäftigten
verfügen über das höchste Durchschnittsvermögen
aller Bundesbürger.
So schreibt der Spiegel. - Das ist genau die Bevölkerungsgruppe, die die meisten Arbeitsplätze in Deutschland schafft. Genau da wollen Sie als Arbeitnehmerpartei Hand anlegen. Das ist doch absurd. Was Sie
vorschlagen, würde dazu führen, alles ein bisschen
schlechter zu machen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schwächen, das Wachstum in unserem
Land zu schwächen und den Bundeshaushalt zu destabilisieren. Deswegen ist das keine zukunftsgerichtete Politik. Damit können Sie in Deutschland nichts verbessern.
({6})
Es ist doch keinem geholfen, wenn es allen ein bisschen
schlechter geht.
Dann stellen Sie sich - deswegen haben Sie ein Zerrbild gezeichnet - vor die Öffentlichkeit und sagen, wir
hätten ein Problem damit, dass es in Deutschland eine
Gruppe von Menschen gibt, denen es gut geht. - Was ist
denn das für ein Problem, dass es Menschen gut geht? Ist
es nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man in
Deutschland im Wohlstand leben kann? Das Problem
sind nicht die Menschen, denen es gut geht. Das Problem
sind Menschen, denen es noch nicht gut geht. Zu denen
haben Sie, Herr Gabriel, in Ihrer Rede äußerst wenig gesagt.
({7})
Es ist niemandem geholfen, wenn man Arbeitgebern
die Substanz wegbesteuert. Es ist niemandem geholfen,
wenn Sie Investitionen in Deutschland verhindern. Geholfen ist den Menschen, wenn man unseren Standort als
Investitionsstandort stärkt.
Was die Grünen vorschlagen, 15 Prozent des Vermögens an den Staat abzuführen, ist nicht nur absurd, sondern das ist - das sollten Sie eigentlich wissen, Herr
Trittin - verfassungswidrig.
({8})
- Nein, schauen Sie einmal: Ihr Gesetzentwurf ist deswegen verfassungswidrig, weil Sie der Öffentlichkeit etwas verschwiegen haben. Sie haben nämlich der Öffentlichkeit verschwiegen, dass der Staat in Deutschland
Eigentum zu schützen hat.
({9})
- Wenn Sie zuhören, Frau Roth, werden Sie heute Morgen noch etwas lernen.
({10})
Es ist nämlich so, dass man in Deutschland, wenn
man in das Eigentum von Bürgerinnen und Bürgern
eingreift, die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs
rechtfertigen muss, Herr Trittin. Wir leben immer noch
in einem Rechtsstaat mit einem Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland. Das gilt auch für die
Grünen.
({11})
Wenn Sie in einer Zeit, in der der Staat Steuereinnahmen in Rekordhöhe hat, die Öffentlichkeit glauben
machen, dass wir ein Finanzierungsproblem haben, dann
ist das schlicht gelogen. Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit für den Eingriff in das Privateigentum der
Bürgerinnen und Bürger.
({12})
Wir haben die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte. Der Staat schafft es, den Haushalt auszugleichen. Wir werden bald einen ausgeglichenen Haushalt
haben. Ihnen geht es darum, Menschen in Deutschland
zu enteignen, weil Sie eine Neidgesellschaft wollen.
({13})
Sie glauben, wenn es allen gleich schlecht geht, dann
wäre das Gerechtigkeit. Wir sagen: Wir müssen den
Schwachen helfen und sie stärken, aber wir dürfen nicht
mit Neid auf die blicken, denen es schon gut geht.
({14})
Sie sind in der Rechtfertigungspflicht. Sie sagen, der
Staat bräuchte das Privateigentum der Bürgerinnen und
Bürger. Wir beweisen Ihnen das Gegenteil, indem wir
den Bundeshaushalt schrittweise ausgleichen. Wir werden die Regeln der Schuldenbremse vorzeitig einhalten
können.
Sie sollten als Partei, die sich gerne als Bürgerrechtspartei geriert, Rechtsstaat und Verfassung ernst nehmen.
Was sich die Menschen an zu versteuerndem Vermögen
und Einkommen aufgebaut haben, gehört ihnen. Es gehört nicht den Grünen für neue Ausgabenprogramme.
({15})
Was machen Sie denn in den Ländern? In BadenWürttemberg machen Sie neue Schulden. In RheinlandPfalz bauen Sie mit der SPD Vergnügungsparks und
Freizeitparks. Dabei haben Sie 500 Millionen Euro versenkt. Das ist sozialdemokratische und grüne Politik.
({16})
Sie verschwenden Steuergelder und reden dann den
Menschen ein, man müsste ihnen jetzt das Privateigentum wegnehmen. Absurd ist das!
({17})
Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin privat investiert wird. Wir glauben nicht, dass Sie mit dem Geld
besser umgehen können als private Investoren und private Unternehmerinnen und Unternehmer. Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen mit Ihren Ausgabenprogrammen und einem privaten Investor ist folgender:
Sie übernehmen keine Verantwortung, keine Haftung für
Ihre Politik. Die Privatleute haften mit ihrem Privateigentum und fügen jedem Euro, den sie privat investieren, Verantwortung und Haftung hinzu. Das schafft
Arbeitsplätze. Das schafft Wachstum. Das ist die richtige
Politik für die Bundesrepublik Deutschland.
({18})
Wir werden im nächsten Jahr mit einem soliden Bundeshaushalt dastehen.
({19})
Die Bundesrepublik Deutschland hat unter dieser Koalition die höchste Beschäftigung seit Jahrzehnten. Wir
haben die höchsten Steuereinnahmen seit Jahrzehnten.
Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir werden dafür sorgen,
dass linke Kräfte in diesem Land Sie nicht kalt enteignen.
Wenn Sie wirklich etwas für die Schließung einer Gerechtigkeitslücke tun wollten, dann könnten Sie dem Abbau der kalten Progression für untere und mittlere Einkommen zustimmen. Aber weil es Ihnen genau darum
geht, bei den unteren und mittleren Einkommen abzukassieren, und weil Sie auf das Geld der kleinen Leute
schielen, lehnen Sie das im Bundesrat ab. Sie sind entlarvt durch Ihre frühere Politik und Ihre arbeitnehmerfeindliche Politik im Bundesrat.
({20})
Unter Schwarz-Gelb findet in Deutschland Gerechtigkeit statt. Sie wollen ein ungerechtes Land schaffen.
({21})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wissing. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön, Kollege
Dr. Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Wissing, so viel ideologischen Irrsinn und juristischen
Blödsinn wie das, was Sie hier verzapft haben, habe ich
selten gehört - wirklich.
({0})
Es haut mich richtig um. Ich werde versuchen, im Einzelnen darauf einzugehen.
Es geht um eine Vermögensabgabe und eine Vermögensteuer, und Sie machen sich Sorgen um die Reichen.
Das ist überhaupt nicht auszuhalten. Wie sieht denn die
Situation in Europa aus? Sie sagen: Mit der Steuergerechtigkeit ist doch alles geklärt.
Nehmen wir nur die EU: Die Unternehmensteuern
sind um 9 Prozent gesunken und liegen jetzt bei
23,3 Prozent. Die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer sind EU-weit im Schnitt um 7,3 Prozent gesunken. Die Reichen- und Vermögensteuern liegen EU-weit
bei 2,1 Prozent, übrigens in Großbritannien bei 4,2 Prozent, in Frankreich bei 3,4 Prozent und in Deutschland
nur bei 0,9 Prozent. Das ist die Realität. Selbst in den
USA liegen diese Steuern bei 3,3 Prozent.
Nein, Sie haben die Finanzmärkte völlig dereguliert,
und es ist eine gigantische Umverteilung von unten nach
oben organisiert worden.
({1})
Das ist die Hauptursache für die Banken- und Finanzkrise und damit auch für die hohen Staatsschulden. Das
ist die Wahrheit.
({2})
Nein, Sie retten keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber jede Bank und jeden Hedgefonds retten
Sie, und dafür zahlen Sie das ganze Geld. Das ist unverantwortlich, was hier geschieht. Damit wahren Sie übrigens auch den Reichtum.
({3})
Interessant ist auch, wo das viele Geld hinwandert.
Das wird nämlich nicht mehr in die Wirtschaft investiert,
sondern es fließt überwiegend in sogenannte Kapitalvernichtungssammelstellen: in Banken, Vermögensfonds,
Hedgefonds und Private Equity Fonds. Ich kann nicht zu
allem Stellung nehmen, aber da fließt das Geld hin.
Schauen wir uns einmal die Größenordnung an. Die
Vermögenswerte von Privatanlegern liegen jetzt bei
100 Billionen Euro weltweit. Die Wirtschaftsleistungen
aller Staaten betragen die Hälfte davon. Das ist die Situation, mit der wir es zu tun haben. Nichts wollen Sie
daran ändern. Das illusorische Ziel, aus Geld Geld zu
machen, nicht dafür zu arbeiten, sondern mit Spekulationen Geld zu machen, führt zu diesen Krisen. Nichts ändern Sie daran. Das ist das Problem.
({4})
Wir haben in Deutschland einen Armuts- und Reichtumsbericht. Herr Gabriel hat recht: Sie können doch
nicht im Kompromisswege die Wahrheit verschieben.
Das geht nicht.
({5})
- Lieber Herr Kauder, zu Ihnen komme ich noch. - Er
sagt die Wahrheit, und deshalb ist es auch öffentlich geworden.
Seit 20 Jahren erleben wir eine Verdoppelung des
Nettovermögens aller Haushalte in Deutschland: von
5 Billionen auf 10 Billionen Euro. Nur, das Problem ist:
0,6 Prozent der Haushalte besitzen 20 Prozent davon,
das heißt 2 Billionen Euro. Die 19-Jährige, die das erbt,
kann nicht so fleißig gewesen sein, wie Sie es hier schildern, ohne dass da etwas passiert.
({6})
Jetzt nehme ich zur Zahl der Euro-Millionäre in
Deutschland Stellung. Wir hatten vor der Krise 799 000,
jetzt sind es 830 000. Auf Dollar bezogen haben wir
922 000 Dollar-Millionäre. Und da, meinen Sie, darf
man nicht einen einzigen zusätzlichen Euro kassieren?
Was ist das für eine alberne Ideologie, die Sie hier vertreten!
({7})
10 Prozent der Bevölkerung besitzen 50 Prozent des
Vermögens. Das sind 5 Billionen Euro. Die untere Hälfte
der Bevölkerung, auch wieder 50 Prozent, hat nur 1 Prozent des Vermögens. Das ist die Realität in Deutschland.
Übrigens hatte die untere Hälfte früher wenigstens
4,5 Prozent des Vermögens. Jetzt ist es nur noch 1 Prozent.
({8})
So sieht die Schere aus, die sich ständig weiter öffnet.
({9})
Die Reallohnsenkung lag bei 4,5 Prozent. Die unteren
10 Prozent, also die, die am wenigsten verdienen, hatten
sogar einen Reallohnverlust von 9 Prozent.
Darf ich Ihnen eine Wahrheit zum Niedriglohnsektor
verraten? In den 80er-Jahren war Deutschland mit einem
Anteil des Niedriglohnsektors von 14 Prozent Schlusslicht im internationalen Vergleich. Heute sind wir mit
25 Prozent zusammen mit den USA Spitzenreiter beim
Anteil des Niedriglohnsektors.
({10})
Das ist ein Skandal, mit dem Sie sich einmal auseinandersetzen müssen.
({11})
Jetzt hat Frau von der Leyen ihren ganzen Mut zusammengenommen, und dann kommt in ihrem Bericht
ein Satz vor, der besagt, dass man doch prüfen müsse,
welche Rolle das Vermögen finanzpolitisch für die Finanzierung der Staatsaufgaben spielen kann. Da dreht
die FDP durch. Davon wollen Sie keinen Euro haben.
Mein Gott! Schon eine Prüfung wollen Sie nicht hinnehmen.
({12})
Das ist doch wohl das Mindeste, was man machen darf,
wenn man regiert.
Aber abgesehen davon - Sie haben es selbstkritisch
gesagt, Herr Gabriel, und es stimmt -: Unter Rot-Grün
hat eine Steuerreform stattgefunden, die natürlich ganz
entscheidend zu dem Desaster beigetragen hat.
({13})
Die Unternehmensteuern sind von 51,6 Prozent auf
29,8 Prozent nominal gesenkt worden; effektiv - das,
was wirklich gezahlt wird - sind es nur 22 Prozent. Der
Spitzensteuersatz ist von 53 Prozent - unter Kohl übrigens - auf 42 Prozent gesenkt und dann bei Merkel und
Steinmeier für die ganz hohen Einkommen noch einmal
auf 45 Prozent erhöht worden.
Was ist denn in Ihrer Regierungszeit erhöht worden,
Herr Lindner? Gar nichts. Nichts haben Sie erhöht. Ganz
im Gegenteil: Die Einnahmeausfälle seit 2001 betragen
schon 380 Milliarden Euro. Das ist eine Steuerungerechtigkeit, die als Umverteilung von unten nach oben wirkt.
Herr von Stetten, Sie sagen hier, dass Sie gegen eine
Umverteilung sind - Sie organisieren permanent eine
Umverteilung von unten nach oben!
({14})
Machen Sie doch einmal eine von oben nach unten! Dafür wird es höchste Zeit in unserer Gesellschaft.
Ich bin es auch leid, dass diejenigen, die die Krise
verursacht haben und an der Krise verdienen,
({15})
nicht mit einem einzigen zusätzlichen Euro herangezogen werden, sondern Leute, die nichts damit zu tun haben, das Ganze bezahlen müssen. Genau das ist nicht gerechtfertigt.
({16})
Im Übrigen, Herr Wissing, Sie sagen: Das ist Enteignung. Und: Das Grundgesetz schützt das Eigentum. Das ist ein solcher Blödsinn. Denn dann dürften Sie
überhaupt keine Steuern erheben.
({17})
Da greifen Sie immer in Eigentum ein. Außerdem, Herr
Wissing, steht in Art. 14 des Grundgesetzes, Eigentum
soll zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Was glauben
Sie, wie schwer es einem Milliardär fällt, seine Milliarde
immer so einzusetzen, dass es dem Allgemeinwohl
dient. Da können wir ihm doch solidarisch helfen, nehmen ihm was weg und führen es dem Allgemeinwohl zu.
({18})
Wir fordern eine Vermögensabgabe, die gegebenenfalls auch in Raten bezahlt werden kann, und zwar nach
dem Vorbild des Lastenausgleichgesetzes von 1952, 23368
({19})
auf private Vermögen von über 1 Million Euro. Für Betriebsvermögen gelten selbstverständlich Ausnahmen,
um die Liquidität nicht zu gefährden. Das ist eine einmalige Abgabe.
Jetzt komme ich zur Wiedererhebung der Vermögensteuer. Diesbezüglich haben Sie auch Blödsinn über unseren Antrag erzählt.
({20})
- Hören Sie zu, Herr Wissing. Es soll eine Steuer von
5 Prozent auf das erhoben werden, was man über
1 Million Euro hinaus besitzt - außer Betriebsvermögen.
({21})
Deshalb sind auch die Gewerbegrundstücke, die an Mieterinnen und Mieter vermietet werden, nicht dabei. Operieren Sie also nicht mit den Mieterinnen und Mietern.
Ihr Herz gehörte denen noch nie - aber unser Herz! Deshalb haben wir sie selbstverständlich ausgenommen und
geschont.
({22})
Erklären Sie mir einmal Folgendes: Wenn jemand
1 Million Euro im Jahr verdient, dann muss er darauf
über 40 Prozent Steuern bezahlen. Wenn er sein Geld irgendwo anlegt und noch einmal 1 Million Euro Zinsen
bekommt, dann muss er nur 25 Prozent Steuern bezahlen. Dafür waren Sie immer. Warum kann man das nicht
gleich behandeln und sagen: „Zinseinnahmen sind wie
Einkommen“?
({23})
Das wäre eine ganz einfache Logik. Aber die FDP sagt:
Um Gottes willen, wir müssen alle Zinsen schützen bloß nicht die der Bevölkerung.
({24})
Dann kommt immer der Einwand der Steuerflucht.
Das bin ich leid. Es gibt zwei Möglichkeiten, Steuerflucht zu verhindern.
({25})
- Da sieht man einmal, wie begrenzt Ihre Fantasie ist.
Ich kann nichts dafür, dass Sie Anhänger der Mauer
sind. Ich bin kein Anhänger der Mauer.
({26})
Es gibt zwei Wege, Steuerflucht zu verhindern. Der
erste Weg ist: Wir binden die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft. Dann kann ein Deutscher etwa in Liechtenstein oder auf den Seychellen wohnen - wo auch
immer -, muss aber hier angeben, was er verdient, welches Vermögen er hat und was er dafür an Steuern zu bezahlen hat. Wenn er bei uns mehr zu bezahlen hätte, dann
bekommt er hinsichtlich der Differenz einen Steuerbescheid. Es gibt ein Land, das das so macht: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die machen damit gute Erfahrungen. Und Sie drücken sich davor.
Der zweite Weg, Steuerflucht zu verhindern, wäre,
Banken, die uns Transaktionen dieser Art nicht mitteilen, die Lizenz in Deutschland zu entziehen. Was glauben Sie, wie das funktioniert?
({27})
Es gibt also Wege. Man muss es nur wollen. Sie wollen
es nicht. Das ist das Problem.
Nehmen wir Griechenland als Beispiel. Die Rentner
dort müssen jetzt die Medikamente selbst bezahlen, obwohl sie krankenversichert sind und ihre Beiträge zahlen. Frauen, die in Griechenland entbinden, müssen die
Entbindung selbst bezahlen. Sonst bekommen sie keine
ärztliche Hilfe und müssen nach Hause gehen. Eine Lehrerin in Griechenland hat ein Anfangsgehalt von
575 Euro. 2 000 Familien in Griechenland gehören
80 Prozent des Vermögens. Dann stellen Sie sich hierhin
und sagen: Diese 2 000 Familien sollen nichts bezahlen.
Alle anderen sollen das tragen. - Das ist unerträglich.
({28})
Wir haben in Europa 3,1 Millionen Dollar-Millionäre.
Diese haben schon 10,2 Billionen Dollar als Vermögen.
Solche Menschen gibt es auch in Griechenland, Italien,
Spanien und Portugal. Ich sage Ihnen: Auch diese müssen herangezogen werden.
({29})
- Sie sollten sich einmal mit diesen Menschen unterhalten, weil Sie ja Millionäre lieben.
In Hamburg hat sich ein Verein von Millionären gegründet. Dessen Mitglieder möchten endlich eine Vermögensabgabe und Vermögensteuern zahlen.
({30})
Wissen Sie, warum diese klüger sind als Sie? Weil die es
begriffen haben. Erstens werden sie ein bisschen patriotisch sein, und vielleicht wollen sie auch ein bisschen
mehr soziale Gerechtigkeit. Zweitens wissen sie: Wer in
der Not nicht abgibt, gefährdet sich selbst. - Die sind
klüger als Sie. Jetzt müssen Sie eine Vermögensabgabe
und auch eine Vermögensteuer einführen, wenn Sie den
Bestand der Bundesrepublik Deutschland nicht gefährden wollen. Das ist das Entscheidende.
({31})
Nun komme ich zum Schluss. Herr Kauder, Sie sind
doch Christ; deshalb versuche ich es jetzt mit der Bibel.
Sie müssen einmal mit den Millionären reden. Passen
Sie auf! Apostel Paulus hat seinem Weggefährten
Timotheus einen guten Rat gegeben. Ich zitiere Ihnen
das wörtlich:
Den Reichen musst du unbedingt einschärfen, dass
sie sich nichts auf ihren irdischen Besitz einbilden
oder ihre Hoffnung auf etwas so Unsicheres wie
den Reichtum setzen. … Sage ihnen, dass sie Gutes
tun sollen und gern von ihrem Reichtum abgeben,
um anderen zu helfen. So werden sie wirklich reich
sein und sich ein gutes Fundament für die Zukunft
schaffen, um das wahre und ewige Leben zu gewinnen.
Das ist aus dem 1. Brief an Timotheus.
({32})
Jetzt zitiere ich Ihnen noch Matthäus 19,24 und Lukas
18,25:
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass
ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.
({33})
- Einen Moment! - Sie müssen den Reichen doch eine
Chance eröffnen, in das Reich Gottes zu kommen. Das
geht nur über eine Vermögensabgabe und eine Vermögensteuer. Glauben Sie es mir!
({34})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Volker Kauder.
({0})
Herr Kollege Gysi, ich glaube, es ist zwingend notwendig, eine richtige Bibelauslegung - ich würde mich
auch bereiterklären, das zu machen - vorzunehmen und
Ihre Auslegung zu korrigieren.
({0})
Im Gegensatz zu dem, was Sie zitiert haben, steht in
Timotheus nicht, dass die Menschen Steuern zahlen sollen, sondern, dass sie etwas Gutes tun sollen. Genau das
ist der Unterschied zu dem, was Sie formulieren. Sie
wollen, dass der Staat die Menschen zur Kasse bittet.
Damit provozieren Sie nur Ungerechtigkeiten. Es ist unanständig, wie Sie die Heilige Schrift im Deutschen
Bundestag eingesetzt haben.
({1})
Aus der Heiligen Schrift ergibt sich kein politisches Programm. Deswegen rate ich dringend dazu, hier etwas
mehr Zurückhaltung zu üben.
Da ich das Wort habe, will ich noch einen Hinweis
geben. Ja, es ist völlig richtig, dass wir uns alle Gedanken machen müssen, wie wir den Menschen, die jeden
Tag zur Arbeit gehen, mehr von ihrem Lohn lassen können. Deswegen wundere ich mich sehr, dass die linke
Seite dieses Hauses im Bundesrat einen Abbau der kalten Progression nach wie vor verhindert.
({2})
Das ist das glatte Gegenteil von dem, was Sie hier sagen.
Sie können in der nächsten Sitzung des Vermittlungsausschusses dafür sorgen, dass die Menschen mehr von ihrem Lohn haben, als Sie ihnen jetzt lassen.
({3})
Das Wort erhält der Kollege Dr. Gysi.
Ich will zunächst auf Ihre letzte Bemerkung antworten.
Seit Jahren fordern wir, dass der Steuerbauch, unter dem
die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die Meister, übrigens auch Ärzte und andere, zu leiden haben, beseitigt
wird. Das geht aber nur, wenn wir den Spitzensteuersatz
erhöhen, und genau dagegen wehren Sie sich.
({0})
Wenn wir das nicht machen, kommt es zu einem reinen
Verlust. Es wird höchste Zeit, den Steuerbauch abzuschaffen. Darin stimmen wir überein; denn auch ich
finde, dass diese Personen zu viel Einkommensteuer bezahlen müssen. Aber die müssen nur deshalb so viel zahlen, weil wir oben so viel nachgelassen haben. Genau
das ist nicht erträglich.
({1})
Nur noch eine Bemerkung, Herr Kauder. Die Bibel zu
zitieren, ist jedem erlaubt, auch mir. Ich finde, ich interpretiere sie besser als Sie. Es tut mir leid.
({2})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erhält
unser Kollege Sigmar Gabriel.
Ich will zunächst meiner Genugtuung Ausdruck verleihen, dass auch Gregor Gysi inzwischen bei der Bibel
angekommen ist. Ich halte das für einen großen Fortschritt.
Zum Kollegen Kauder, weil er uns wegen der kalten
Progression angegriffen hat. Herr Kollege Kauder, als
Sie das erste Mal öffentlich darüber debattiert haben,
habe ich Ihnen das Angebot gemacht, sofort über die
Abschaffung der kalten Progression zu verhandeln,
wenn wir im Gegenzug den Spitzensteuersatz erhöhen;
denn zwischen diesen beiden Dingen besteht ein Zusammenhang. Sie müssen erklären, wie Sie trotzdem Schulden abbauen und in Bildung investieren wollen. Sie haben darauf nie reagiert. Es gab Einzelne aus Ihrer
Fraktion, die gesagt haben, darüber könne man reden.
Sie persönlich haben das Angebot nie aufgegriffen. Wir
würden uns freuen, wenn man mit Ihnen ernsthaft über
die Erhöhung des Spitzensteuersatzes reden könnte.
Dann würden wir auch relativ schnell einig bei der von
Ihnen beabsichtigten, Gott sei Dank geringen Einkommensteuersenkung.
Ich will noch eine Bemerkung zu der Behauptung machen, mit der Senkung der Einkommensteuer könne man
unheimlich viel für normale Beschäftigte tun. 40 Prozent
der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer
mehr, weil wir, anders als Herr Gysi gesagt hat, gemeinsam - wenn ich mich richtig erinnere, auch gemeinsam
mit Ihnen - hier im Haus dafür gesorgt haben, dass der
Eingangssteuersatz deutlich gesenkt wurde. 40 Prozent
der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer,
und das ist gut so. Aber das bedeutet auch, dass Ihr Versprechen, durch eine drastische Senkung der Einkommensteuer könne man den mittleren und unteren Einkommensbeziehern helfen, eine glatte Unwahrheit ist;
denn wer keine Steuern zahlt, dem kann man auch keine
senken.
({0})
Deswegen noch einmal ausdrücklich mein Angebot,
Herr Kauder: Wir sind sofort im Gespräch, wenn Sie in
der Lage sind, mit uns darüber zu sprechen, die Abschaffung der kalten Progression mit einer deutlichen Anhebung des Spitzensteuersatzes ab einem Einkommen von
100 000 Euro pro Person zu verbinden. Alles andere ist
eine Milchmädchenrechnung, mit der Sie der Öffentlichkeit vormachen wollen, dass man Steuersenkungen,
Mehrausgaben und Schuldenreduzierung gleichzeitig erreichen könne. Das kann man nur, wenn man die Hoffnung hat, das nie realisieren zu müssen.
({1})
Vielen Dank, Kollege Sigmar Gabriel. - Wir fahren in
der Reihenfolge unserer Redner fort. Als nächster hat für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Hans
Michelbach das Wort. Bitte schön, Kollege Hans
Michelbach.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion hat ein zielführendes Konzept zur Krisenbekämpfung und zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und seiner Arbeitsplätze.
Wir sind die Koalition der sozialen Marktwirtschaft. Wir
sind für die Sicherung des Eigentums unserer Bürger.
Wir sind für eine leistungsfähige Gemeinschaft mit allen
Bürgern, und wir wollen Arbeit und Wohlstand für alle
in diesem Land.
({0})
Wir können zweifellos die größeren Erfolge vorweisen. Wir haben weniger Arbeitslosigkeit und eine höhere
Beschäftigung, wir konsolidieren den Haushalt und haben Wachstumsimpulse durch mehr Kaufkraft und die
höhere Beschäftigung. Wir haben auch höhere Einnahmen, wie die Steuerschätzung beweist. Wir haben gegenwärtig die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten. Es
gibt überhaupt keinen Grund, eine neue Steuer- und Belastungsorgie, wie sie Rot-Grün hier vorschlägt, vorzunehmen.
Wir wollen nicht immer mehr Staat, weil wir glauben:
Das erwirtschaftete Geld gehört zuerst den Menschen
und den Betrieben. Sie können mit den Erträgen am
meisten anfangen. Durch ihr Handeln entsteht ein Mehrwert daraus. Darauf kommt es in einer Volkswirtschaft
an.
({1})
Nur mit Wachstum können wir unsere Vorbildfunktion
in Europa erhalten. Vorrang hat jetzt die Bekämpfung
der Staatsschuldenkrise. Diese Krise überwinden wir
nicht durch eine Flutung der Haushalte, durch höhere
Steuern. Wir müssen deutlich machen: Der richtige Weg
kann nur sein, auf der einen Seite Haushaltskonsolidierung zu betreiben, die Schuldenbremse einzuhalten und
auf der anderen Seite die Staatsfinanzierung zukunftsfest
zu machen. Das süße Gift der Steuererhöhungen lässt
diese Bemühungen bekanntlich immer wieder erlahmen.
Es ist ganz vernünftig, wenn man mit dem haushalten
muss, was einem die Bürger zur Verfügung stellen.
({2})
Ich weiß, meine Damen und Herren, mit Sparen hat
sich Rot-Grün schon immer sehr schwergetan. Das, was
im Antrag steht, ist keine Alternative zum Schuldenabbau. Wir haben darauf hinzuwirken, dass die Menschen
heute den Unterschied der Positionen erkennen. Sie sollen sehen, dass der vorliegende Antrag einer Oppositionsfraktion ein ideologischer Gegenentwurf ist. Sie
wollen mehr oder minder Staatssozialismus, nach dem
Motto „der Staat als Raupe Nimmersatt“. Das kommt
hier zum Ausdruck. Wir dagegen wollen, dass das erwirtschaftete Geld zunächst einmal in die Privatwirtschaft hineinfließt und damit letzten Endes für das Gemeinwohl arbeitet, den Arbeitsplätzen dient. Daher darf
ich die Betriebe, die Menschen nicht überfordern, sonDr. h. c. Hans Michelbach
dern ich muss die Marktkräfte wirken lassen. Dann hat
jeder etwas davon, und wir haben Wohlstand und Arbeit
für alle - das ist unser Grundprinzip.
({3})
Ich weiß, dass gegen uns die „Verteilungskeule“ geschwungen wird. Wir sehen bei der Opposition einen
Neidkomplex. Man möchte mit populistischen Themen
Wahlkampf bestreiten. Ich kann nur deutlich machen:
Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler bestreiten
5 Prozent, die oberen 50 Prozent bestreiten 95 Prozent
des Einkommensteueraufkommens. Es ist nicht richtig,
dass der Einkommensteueranteil geringer wird. Herr
Gabriel, wenn Sie die Steuerschätzung anschauen, dann
sehen Sie, dass im Moment gerade die Einkommensteuer explodiert und so viele Einnahmen für den Staat
wie noch nie generiert werden.
({4})
Das, was Volker Kauder gesagt hat, ist einfach sinnvoll: Hören Sie mit der Blockade des Abbaus der heimlichen Steuererhöhung, der kalten Progression, auf! Das
dient den Menschen.
({5})
Herr Gabriel, Sie wollen sogar noch eine Hebelung
vornehmen - das verstehe ich überhaupt nicht -: Sie
wollen den normalen Bürgern und Steuerzahlern keine
Entlastung gönnen, sofern nicht auch die Oberen belastet
werden. Das muss man sich erst einmal vor Augen führen: Sie nehmen die Masse der Steuerzahler in eine Art
Steuerzahlergruppenhaft. Ja, wo sind wir denn? Wir
müssen die Masse entlasten. Den Menschen in Deutschland insgesamt und nicht einigen wenigen muss es gut
gehen. Das ist die Situation.
({6})
Sie erwecken immer wieder den Eindruck, dass die
Leistungswilligen, die Leistungsfähigen in unserem
Land keine Steuern zahlen. Das Gegenteil ist der Fall.
Sie wollen immer wieder nur Politik über Transfer machen. Wir haben in Deutschland eine hohe Sozialleistungsquote. Darauf dürfen wir stolz sein. Das Geld für
den Transfer muss zunächst einmal erwirtschaftet werden. Wenn man Geld ausgibt, muss es zunächst einmal
eingenommen werden. So ist das in einer Volkswirtschaft. Was Sie machen, dazu passen die Stichworte:
Perpetuum mobile, Schneeballsystem, volkswirtschaftliche Voodoo-Politik. Das führt nicht zum Ziel. Deswegen
ist es ganz wichtig, dass wir hier dank eines klaren Konzeptes, wie wir es in dieser Koalition vertreten, eindeutige volkswirtschaftliche Erfolge feiern können.
Die Vermögensteuer ist so, wie Sie sie anlegen, betriebs- und arbeitsplatzfeindlich. Die Vermögensteuer
für Betriebsvermögen vernichtet eben Arbeitsplätze,
({7})
weil letzten Endes mit dem Geld, das an den Staat abgegeben wird, keine neuen Maschinen gekauft, keine neue
Halle gebaut und keine Investitionen bestritten werden
können. Das ist eben der falsche Ansatz, wenn Sie die
Leute überfordern. Wir brauchen die Wertschöpfung für
die Arbeitsplätze, für die Wettbewerbsfähigkeit des
Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Die Personengesellschaften lassen sich nun einmal
natürlich nicht zwischen einem Produktiv- und einem
Verwaltungsvermögen aufteilen, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen. So, wie Sie das Verwaltungsvermögen
darstellen, gibt es das in der Abgrenzung bei einer Personengesellschaft überhaupt nicht. Deswegen ist das ein
völlig falscher Ansatz. Ich muss Ihnen sagen: Es ist ernüchternd, dass Sie letzten Endes die Grundsätze einer
Steuerpolitik in Deutschland gar nicht erkennen.
({8})
Mit einem solchen Antrag zeigen Sie, dass Sie von der
Steuerpolitik und dem Steuerrecht in Deutschland null
Ahnung haben.
({9})
Ich darf Ihnen nur sagen: Die Verwaltungskosten lassen Sie in diesem Antrag, in dem Sie die Vermögensteuer erheben wollen, völlig außen vor. Schon 1997 hat
das Bundesverfassungsgericht gesagt: Das ist letzten Endes kein Ertrag für den Staat. Vielmehr machen die Verwaltungskosten zwei Drittel der Einnahmen aus. - Wenn
Sie daher eine solche Bürokratie entfachen wollen, dann
ist das absolut kontraproduktiv.
({10})
Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ganz klar, wir müssen für die Menschen arbeiten und nicht gegen die Menschen. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt letzten Endes mit dieser Koalition in der sozialen Marktwirtschaft
auf dem richtigen Weg weiter vorankommen. Das ist der
Erfolgsweg, den wir beschreiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Lothar
Binding. Bitte schön, Kollege Lothar Binding.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Wissing
Lothar Binding ({0})
hat mich motiviert, erst einmal etwas zu Baden-Württemberg zu sagen. Er hat irgendwie gesagt, die Rot-Grünen machten im Land eine schlechte Haushaltspolitik.
Ich will nur einmal sagen, dass ich einen kleinen Streit
mit Nils Schmid hatte, dem dortigen Finanzminister. Er
hat einen Kassensturz gemacht und dramatische Dinge
festgestellt.
({1})
Das wurde dann vergessen und von ihm, höflich und sanft
wie er ist, nicht weiter thematisiert. Ich hatte gesagt: Er
soll ein Bad Budget machen, er soll den Mappus-Deal auf
Kosten der Staatskasse explizit ausweisen und die
2,5 Milliarden Euro als strukturelles Defizit - da geht es
nicht um eine einfache Verschuldung - aufschreiben, damit die Bürger merken, was Schwarz-Gelb dort angerichtet hat. Insofern hat, wenn man es ein bisschen ändert,
Hans Michelbach recht: Mit Sparen tut sich SchwarzGelb schwer.
({2})
Herr Gysi hat gesagt, was er immer vorbringt, und
über Steuersätze gesprochen. Ich will das hier so erklären, wie ich es manchmal in Schulklassen mache. Dort
frage ich: Hat jemand einen Garten? Manche sagen
dann: Ja, meine Eltern haben einen Garten. Dann frage
ich: Wie groß ist der? Dann sagen die Schüler meistens:
So etwa 40 Quadratmeter. Dann frage ich: Warum haben
Sie Quadratmeter gesagt, warum haben Sie nicht nur gesagt, 4 Meter? Dann sagen sie: Ich habe da doch eine
Fläche. Darauf sage ich: Ja, der Gysi spricht auch immer
nur vom Spitzensteuersatz. Er muss aber den Spitzensteuersatz quasi als Länge mal Bemessungsgrundlage als
Breite anschauen. Wenn man beide zusammennimmt,
sieht die rot-grüne Steuerpolitik, die von 1998 bis 2005
gemacht wurde, ganz anders aus, nämlich sehr gut, weil
sie uns auf ein Niveau brachte, das Deutschland in Europa sehr gut dastehen lässt. Das ist ein Erfolg.
({3})
Vielleicht nur als Nebenbemerkung zu dem Stichwort
„kalte Progression“. Heute haben ja Leute der Koalition
uns das erklärt. Ich habe einen Brief vom Bundesfinanzministerium, in dem es heißt: Die kalte Progression hatte
bisher gar keine Wirkung, weil entsprechende Anpassungen immer vorgenommen worden sind. Jeder - das
hat unser Parteivorsitzender Sigmar Gabriel schon erklärt -, der sich damit befasst, weiß, dass Ihr Vorschlag
starken Schultern hilft, den Reichen mehr gibt und die
Armen nicht entlastet und die ganz Armen nicht entlasten kann, weil sie nichts bezahlen.
({4})
Aber in einem hat Herr Wissing recht. Herr Wissing
hat von Zerrbildern gesprochen. Interessanterweise hat
er auch die Mehrwertsteuer angesprochen. Es ist schon
richtig: Mithilfe der FDP wurde die Mehrwertsteuer
auch in dieser Legislaturperiode angepasst, um alle Fehler, die zuvor gemacht wurden, zu korrigieren. An welche Steuer ich denke, das kann sich jetzt jeder vorstellen.
Ich sage auch nichts zu Hotels. Insofern ist es klar, und
jeder weiß, was gemeint ist.
Er hat aber tatsächlich Recht mit dem Begriff „Zerrbild“. Wir haben nämlich ein Zerrbild zwischen Arm
und Reich. Der Reichtumsbericht sagt uns sehr genau,
wie sich private Vermögen entwickeln, wie sie steigen,
wie sie konzentriert werden, und ebenso, wie sich Einkommen entwickeln. Wir sehen, dass die Schere immer
weiter auseinandergeht.
Das Gute ist, dass wir uns sogar freuen, wenn Leute
reicher werden. Das ist in Ordnung; denn viele von den
Reichen sind sich wirklich ihrer Verantwortung bewusst.
Viele wollen sich sogar stärker beteiligen und machen
das auch. Viele haben auch ein Gerechtigkeitsgefühl.
Aber - Joachim Poß hat das einmal in einer Rede
gesagt - wenn die Konzentration des Vermögens explosionsartig zunimmt - das sind Wachstumsfunktionen, die
im Zeitverlauf extrem ansteigen -, dann merkt man, dass
man etwas tun muss; denn man mag sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn diese Entwicklung weiter voranschreitet. Man fragt sich, wie lange eine Gesellschaft
das aushält.
Schauen wir uns in der Welt um: Natürlich gibt es Gesellschaften, in denen mancher noch viel, viel reicher ist
als mancher Deutscher und viele sehr viel ärmer sind.
Die Frage ist aber: Wie lange würde das unsere Gesellschaft aushalten? Außerdem merkt derjenige, der die
Wirtschaftsentwicklung dieser Länder mit der unseren
vergleicht, dass ein gewisser Ausgleich zwischen Arm
und Reich für eine prosperierende Wirtschaft sehr klug
ist, alles andere aber wirtschaftsfeindlich und wachstumsgefährdend.
({5})
Diese Auseinanderentwicklung zwischen Arm und
Reich ist aber ein strukturelles Problem; es geht auf viele
gesellschaftliche Voraussetzungen zurück. Hier komme
ich auf die Idee von den Grünen zu sprechen, die wir
sehr gut finden. Die Idee, eine Vermögensabgabe zu
wollen, um Gerechtigkeitslücken zu schließen, um auch
ganz Reiche stärker zu beteiligen, hat den Nachteil
- auch wenn die Zahlung gestreckt wird -, dass sie eine
Einmalabgabe ist, die auf strukturelle Probleme nicht adäquat reagiert. Wir bevorzugen eine strukturelle Lösung
und arbeiten auch an ihr, und das ist eben eine jährlich
wiederkehrende Vermögensabgabe, die auf diese strukturellen Verwerfungen konstruktiv reagiert. Deshalb
glauben wir, dass wir, ausgehend von einer Überlegung
der Grünen, weiterentwickelt zu einer Vermögensteuer,
da sehr gut gemeinsame Ideen entwickeln können, um
diese Verwerfungen zu überwinden.
Wir haben aber nicht nur ein Problem zwischen Arm
und Reich im Privaten, im Individuellen, sondern wir haben auch ein Problem zwischen Arm und Reich im Verhältnis zwischen Öffentlichen und Privaten. Wer da genauer hinschaut, der merkt, dass wir seit vielen Jahren
eine exorbitante Zunahme privaten Reichtums haben
- einige haben die Zahl genannt: 10 Billionen Euro -,
({6})
Lothar Binding ({7})
aber auch eine exorbitant zunehmende öffentliche Armut, die letztendlich alle bezahlen müssen, im Notfall
über Zinsen, aber noch viel schlimmer durch Verwerfungen an den Finanzmärkten, die dann interessanterweise
ja nicht diejenigen bezahlen, die die Risiken eingehen,
sondern die, die Steuern zahlen. Das ist auch ein Transferkanal von Arm nach Reich, wobei die Armen die Reichen noch dabei unterstützen, dass sie ihre hohen Risiken eingehen können. Auch hier sind die Verhältnisse
aus dem Ruder gelaufen, und ich glaube, dass das auch
deutlich macht, warum Herr Wissing recht hat, wenn er
sagt: Es gibt hier große Verwerfungen und große Probleme, aber man muss es halt anpacken.
Bezogen auf unser Steuersystem, beobachten wir,
dass man permanent zwischen privatem und Betriebsvermögen hin- und herschieben kann und dass Bezieher
hoher Einkommen diese Möglichkeiten auch nutzen. Sie
schieben ihr Einkommen mal in ein unternehmerisches
Vermögen, in das Betriebsvermögen; dann wieder wird
es privat verwaltet, mal international, mal in Deutschland. All diese Verschiebebahnhöfe führen dazu, dass die
Schere, von der ich sprach, immer weiter auseinandergeht. Deshalb glauben wir, dass das Steuersystem, das
wir haben, ideal durch eine Vermögensteuer ergänzt
wird, bei der genau darauf geachtet wird, den Kanal
dichtzumachen, wenn jemand nur von dieser Verschiebung lebt und so sein Vermögen vergrößert. Das ist sicherlich eine sehr gute Angelegenheit.
Herr Michelbach, Sie haben gesagt, wir würden damit
Unternehmen ruinieren oder so. Wenn Sie die Angabe
zur Größenordnung sehen, dann merken Sie, dass das
gar nicht sein kann.
({8})
Außerdem: Sowohl bei den Grünen als auch bei unseren
Überlegungen wird die Steuer nach oben plafondiert.
Außerdem schonen wir Betriebsvermögen - das ist ja
das Besondere -,
({9})
weil wir eine Steuer machen, die Arbeitsplätze sichert.
Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es ist eine Ländersteuer, die dann natürlich hilft, in den Ländern Bildung und Familienförderung zu unterstützen und dort all
das zu tun, was es dort zu tun gibt.
({10})
Insofern ist auch der Satz von Herrn Wissing, Arbeitgebern würde die Substanz wegbesteuert, natürlich
falsch. Wer sich jetzt noch einmal ausrechnet - das kann
ich aus Zeitgründen nicht mehr machen -, wie viel Prozent 10 Milliarden von 10 Billionen Euro sind, der muss
erkennen, wie hoch die jetzt angedachte tatsächliche Belastung für die wirklich großen Vermögen ist. Er wird
dann feststellen, wie klein die Belastung ist. Eigentlich
könntet ihr euch das auch überlegen; denn es gibt auch
in der Regierungskoalition Leute, die an Gerechtigkeit
denken und an die öffentlichen Aufgaben, die wir erfüllen müssen. Deshalb wäre es schön, wenn auch ihr euch
zu einer Vermögensteuer durchringen würdet.
({11})
Vielen Dank, Kollege Lothar Binding. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Daniel Volk. Bitte schön, Kollege Dr. Volk.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der heutigen Debatte haben
wir gesehen, dass zumindest die Opposition den Wahlkampf eröffnet hat, und zwar einen Wahlkampf, der sehr
stark durch unsachliche Beiträge geprägt sein wird,
({0})
der sehr stark auf Sozialneid und eine Spaltung der Gesellschaft hinauslaufen wird. Da sind mehr oder weniger
kompetente Finanzpolitiker, die hier Äußerungen treffen, zum Beispiel Jürgen Trittin von den Grünen, der
von den reichen Bürgern und dem armen Staat gesprochen hat, allerdings leider Gottes verschwiegen hat, dass
in den Bundesländern, in denen die Grünen regieren, der
Staat noch viel, viel ärmer ist als in anderen Bundesländern, in denen eine vernünftige Haushalts-, Wirtschaftsund Steuerpolitik betrieben wird.
({1})
Sigmar Gabriel als Vorsitzender der SPD malt das
Bild an die Wand, dass, wenn die Steuerbelastung der
Bürger erhöht würde, mehr Schulen und mehr Kindergärten usw. usf. gebaut würden, verschweigt leider Gottes aber, dass im Bundesland Baden-Württemberg nach
der Übernahme durch eine grün-rote Landesregierung
Lehrerstellen abgebaut werden - und das zuzeiten, in denen Steuern in einer solchen Höhe in die Staatskasse
fließen wie noch nie.
({2})
Gregor Gysi von der Linkspartei stellt zwei Zahlen
gegenüber: die Anzahl der Millionäre vor der Krise und
die Anzahl der Millionäre nach der Krise. Für ihn ist es
dann selbstverständlich, dass die zusätzlichen Millionäre
nur deswegen Millionäre werden konnten, weil sie sozusagen an der Krise verdient hätten.
({3})
Möglicherweise ist das eher der erfreuliche Beweis dafür, dass während der Krise eine Regierung in Deutschland die Verantwortung übernommen hat, die mit einer
vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik dafür gesorgt hat, dass die einzelnen Bürger ihr Vermögen, ihren
privaten Anteil steigern konnten. Das ist ein gutes Zeichen für die Bürger dieses Landes.
({4})
Wir brauchen keine sozialspalterische Debatte, wie sie
hier von der Opposition angezettelt wurde.
({5})
Herr Kollege Dr. Volk, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?
Ja, sehr gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Schick.
Herr Kollege, Sie haben auf die Bundesländer und
den Wechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün hingewiesen.
({0})
- Grün-Rot. Danke, dass Sie das präzisieren.
Ich möchte zwei Fragen an Sie stellen. Die erste
Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Neuverschuldung in
Baden-Württemberg unter der grün-roten Landesregierung geringer ist als die Zinsausgaben, dass also, wenn
die schwarz-gelbe Landesregierung unter Herrn Mappus
keinen Schuldenberg zurückgelassen hätte, wir heute ein
Plus im Haushalt hätten, sodass die Neuverschuldung allein auf das schwarz-gelbe Konto geht?
({1})
Die zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass BadenWürttemberg beim Zahlenverhältnis „Schüler zu Lehrer“ durch die Politik der grün-roten Landesregierung
eine Spitzenposition einnimmt und dass es nicht, wie Sie
sagen, andersherum ist?
({2})
Zum Zweiten. Dass die neue Landesregierung innerhalb eines Jahres dieses Verhältnis so entscheidend geändert hat, halte ich für absolut unwahrscheinlich.
({0})
Ich glaube, das sind eher die Vorteile, von denen die
neue Landesregierung zehren kann aufgrund der hervorragenden Regierungstätigkeit der schwarz-gelben Regierung in Baden-Württemberg.
({1})
Wissen Sie, Herr Kollege: Es ist immer sehr erstaunlich, mit welcher Kreativität die Staatsverschuldungspolitiker, die eher im linken Bereich dieses Hauses anzutreffen sind, Argumente aufbringen, warum man jetzt in
weitaus mehr Staatsverschuldung hineingehen kann.
Was mir in diesem Zusammenhang auffällt: Wenn
bürgerliche Regierungen die Regierungsverantwortung
übernehmen,
({2})
geht die Staatsverschuldung immer herunter, unabhängig
davon, welcher haushaltspolitische Kurs vorher gefahren
wurde.
({3})
Sie sehen es in meiner Heimat, in Bayern. Bayern ist
das einzige Bundesland in Deutschland, das nicht nur die
Neuverschuldung herunterfährt, sondern sogar Schulden zurückzahlt.
({4})
Sie sehen es an der christlich-liberalen Bundesregierung,
({5})
die von einem Finanzminister der SPD, Peer Steinbrück,
eine Neuverschuldungsplanung von 80 Milliarden Euro
übernommen hat, jetzt aber auf dem Weg ist zu einem
ausgeglichenen Haushalt 2013, 2014.
({6})
Der Beweis in der Praxis ist erbracht. Das sollte Ihnen
zu denken geben. Das gilt vor allem angesichts Ihrer
ewigen Forderung nach stärkerer Belastung der Bürger,
und zwar mit dem wirklich immer sehr wohlklingenden
Argument, dass das, von dem Sie erwarten, dass es zusätzlich eingenommen würde - hier werden Sie wahrscheinlich stark enttäuscht werden -, eins zu eins in den
Schuldenabbau fließen würde.
Ein Gegenbeispiel dazu.
Ich gehe davon aus, dass Sie diese Frage beantwortet
haben. Es gibt nämlich noch eine weitere Frage.
Ich möchte gerne zur Beantwortung der Frage weiter
ausführen. - Ein Gegenbeispiel ist die Anhebung der
Umsatzsteuer von 16 auf 19 Prozent im Jahr 2007. Damals wurde gesagt: Wir müssen die Steuer anheben, weil
wir dadurch die Staatsverschuldung zurückfahren. - Ein
Bruchteil dieser Einnahmen ist in das Zurückfahren der
Staatsverschuldung geflossen. Der Rest ist in allgemeine
Haushaltsausgaben geflossen. Insofern kann ich den einzelnen Bürger nur davor warnen, zu glauben, dass eine
höhere steuerliche Belastung des Bürgers automatisch
zum Abbau der Staatsverschuldung führt. Das Gegenteil
ist in der Vergangenheit bewiesen worden.
({0})
Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen
Andreas Scheuer?
({0})
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Volk, da wir gerade beim Thema BadenWürttemberg sind,
({0})
nutze ich die Gelegenheit, um auf die neue Politik dort
hinzuweisen. Würden Sie auch mit Besorgnis bestätigen ({1})
die Antwort könnte mit Ja oder Nein abgehandelt werden -, dass, seitdem Grün-Rot in Baden-Württemberg
regiert, die laufenden Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur so erhebliche Kostensteigerungen erfahren, dass
der Bund zurzeit keine neuen Maßnahmen mehr in Angriff nehmen kann,
({2})
weil im Koalitionsvertrag von Grün-Rot steht, dass erst
die laufenden Maßnahmen abgearbeitet werden, was als
wirtschaftspolitische Ausrichtung für die Bauindustrie in
Baden-Württemberg ein fatales Signal bedeutet?
({3})
Herr Kollege Scheuerle, ich bestätige diese Ansicht
mit größter Besorgnis.
({0})
Scheuer. Andreas Scheuer.
Ich kann nur noch ergänzen, dass die größte Gefahr
für ein Land wie Baden-Württemberg, das über Jahrzehnte hervorragend regiert wurde,
({0})
darin besteht, dass es in der Zukunft erheblich von der
Substanz leben wird. Was das Leben von der Substanz
für ein Land bedeutet, kann man auch in anderen Regionen der Republik beobachten.
({1})
In den nächsten Jahren wird es Baden-Württemberg insofern wahrscheinlich nicht besonders gut gehen. Wir
werden jedoch sehen, ob sich die Landesregierung möglicherweise eines Besseren besinnen wird.
Herr Kollege, es gibt eine weitere Zwischenfrage.
({0})
Herr Präsident, ich würde jetzt gerne meine Ausführungen fortsetzen.
({0})
- Herr Gysi wollte eine Zwischenfrage stellen? Herrn
Gysi lasse ich natürlich zu.
Sehen Sie: Hier wird also differenziert; nicht jeder
darf. Bitte schön, Kollege Dr. Gysi.
Herr Kollege, ich habe eine Frage. Sie haben gesagt,
dass es das Verdienst der klugen Politik der Bundesregierung ist, dass selbst in der Krise die Zahl der Vermögensmillionäre in Deutschland zugenommen hat.
({0})
Ist es dann auch ein Verdienst der klugen Politik der
Bundesregierung, dass in derselben Zeit der Vermögensanteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung von
4,5 Prozent auf 1 Prozent zurückgegangen ist?
({1})
Nein. Wissen Sie, was das ganz große Verdienst dieser christlich-liberalen Regierung in der Krise ist? Dass
es uns gelungen ist, die Arbeitslosenzahlen noch einmal
deutlich zu senken, dass es uns gelungen ist, gerade die
unteren Lohngruppen und die Familien mit einer Steuerentlastung zum 1. Januar 2010 zu unterstützen!
({0})
Das ist das Verdienst dieser christlich-liberalen Koalition.
Ich weiß, dass Sie gerne mit Statistiken arbeiten. Aber
gehen Sie einmal hinaus und fragen Sie die Leute! Fragen Sie den kleinen Arbeitnehmer, wie froh er über diese
Regierungspolitik ist,
({1})
wie froh er ist, dass er keine Angst um seinen Arbeitsplatz haben muss, dass er bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen entlastet wurde! Das ist das Verdienst
dieser christlich-liberalen Koalition.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
hier einen weiteren Aspekt anführen. Ich habe mich sehr
über den bereits zitierten Artikel aus dem Spiegel dieser
Woche gefreut, in dem, wie ich finde, sehr kenntnisreich
dargelegt wird, wo denn auf der einen Seite überhaupt
das Missverständnis derjenigen liegt, die glauben, über
eine Vermögensteuer oder eine Vermögensabgabe deutlich mehr Einnahmen des Staates erzielen zu können,
und wo auf der anderen Seite die großen Schwierigkeiten einer solchen Vermögensteuerbelastung liegen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie hier in Ihren
Redebeiträgen immer das Bild an die Wand malen: Na
ja, wir reden doch nur über die oberen 0,5 Prozent oder
1 Prozent der Bevölkerung mit einem Vermögen von
1 Million oder von 2 Millionen Euro - es kommt auf die
Höhe des Grundfreibetrages an -, die durch eine entsprechende Steuererhebung belastet werden würden. - Ja,
glaubt denn irgendjemand von Ihnen, dass es für diejenigen, die ein Vermögen von weniger als 1 Million Euro
haben, also unterhalb der Freibeträge liegen, ausreicht,
einfach ein Schreiben an das Finanzamt zu schicken:
„Liebes Finanzamt, vielen Dank, aber ich kann Ihnen
versichern, dass mein Vermögen niedriger ist als das,
was zu versteuern ist“? Das wird nicht passieren. Wenn
man eine Vermögensteuer einführt, gibt es in Deutschland 82 Millionen potenziell Steuerpflichtige, die jeweils
ihre Vermögenssituation darlegen müssen, mit dem entsprechenden Veranlagungsverfahren, mit dem Bewertungsverfahren. Sie nehmen hier einen Bürokratieaufbau
vor und belasten die Bürger mit Bürokratie, obwohl Sie
- das folgt aus Ihrer eigenen Argumentation - vielleicht
nur 0,5 Prozent der Bevölkerung treffen wollen. Ich
glaube, das ist auch vor diesem Hintergrund nicht besonders sinnvoll.
({3})
Ich glaube, dass man in der Zeit der höchsten Steuereinnahmen dieses Staates eher darauf achten sollte, sich
mit den Steuermitteln, die in dieser Zeit zur Verfügung
stehen, auf die Aufgaben zu konzentrieren, die für dieses
Land und seine Bürger wirklich wichtig sind.
({4})
Sie sollten in Baden-Württemberg eben nicht Lehrerstellen abbauen und im Gegenzug andere Beamtenstellen
aufbauen. Sie sollten in Nordrhein-Westfalen eben nicht
verpassen, ausreichend Kinderbetreuungsstätten zu errichten. Sie sollten sich mit dem Geld, das dem Staat
momentan aufgrund einer hervorragenden Finanz-,
Steuer- und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung
zur Verfügung steht, auf die wesentlichen Punkte konzentrieren: Bildung, steuerliche Entlastung des Mittelstandes, damit sich Arbeit auch wieder lohnt, Schaffung
von Arbeitsplätzen.
({5})
Das sind die Herausforderungen für dieses Land. Bitte
kommen Sie uns nicht weiter mit der Chimäre einer Vermögensabgabe oder Vermögensteuer!
({6})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Lisa Paus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Volk,
Sie sagen, wir sollten Schulden zurückzahlen. Ich sage:
Warum tun Sie es dann nicht?
({0})
Warum bringen Sie in diesem Jahr wiederum einen
Haushalt in den Bundestag ein, der eine Nettoneuverschuldung vorsieht?
({1})
Herr Scheuer - Sie sind Staatssekretär im Verkehrsministerium und haben eben eine Zwischenfrage
gestellt -, allein das Verkehrsministerium muss in diesem Jahr Mehrausgaben in Höhe von 320 Millionen
Euro gewärtigen, weil der Bund an dem Desaster „Flughafen BER“ in Berlin beteiligt ist. Sie sehen Mehrausgaben vor und bauen eben nicht die Verschuldung ab.
({2})
Wir reden seit über einer Stunde über dieses Thema,
und ich muss feststellen: Bisher hat es noch keiner von
Ihrer Seite gewagt, sich mit unserem Gesetzentwurf konkret auseinanderzusetzen.
({3})
Offenbar ist er so gut, dass Sie sich gar nicht trauen, sich
mit der Sache zu beschäftigen.
({4})
- Doch, habe ich; auch Sie haben zu unserem Gesetzentwurf nichts Konkretes gesagt.
({5})
Ich werde Ihnen unseren Gesetzentwurf erklären. Wir
legen ihn heute vor, um Schulden tatsächlich abzubauen.
Wir wollen eine einmalige Vermögensabgabe, weil wir
der Überzeugung sind: Dieses Land braucht endlich eine
Antwort auf die Frage: Wer zahlt die Kosten der Krise?
({6})
Wir werben seit 2009 dafür. Die Vermögensabgabe ist
das richtige Instrument. Wir freuen uns, dass wir inzwischen nicht mehr alleine sind, sondern dass quer durch
die Lager alle - von Attac bis zu Paul Kirchhof, von der
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Boston Consulting bis
hin zur IG Metall - unseren Vorschlag unterstützen, und
das ist gut so.
({7})
Es ist einfach richtig, dass der Staat, der in der Krise
in Vorleistung gegangen ist, der mit Rettungsschirmen
und Konjunkturpaketen die privaten Vermögen vor Entwertung geschützt hat, das Geld von denjenigen einfordert, die davon am stärksten profitiert haben und die deswegen auch einen höheren Beitrag zum Abbau der
Verschuldung leisten können.
({8})
Ein Herr Ackermann oder ein Herr Winterkorn von VW
mit einem Jahresgehalt von 17 Millionen Euro leben
nicht auf einem anderen Planeten, sie leben auf dieser
Welt, sie haben einen Wohnsitz in diesem Land, und dieser Staat hat unter anderem auch ihr Vermögen gerettet
und sich dafür verschuldet.
({9})
Mit unserem Gesetz wollen wir die Kosten der Krise von
bisher geschätzten mindestens 100 Milliarden Euro finanzieren und die daraus entstandenen Schulden tilgen,
also Schulden abbauen.
Die grüne Vermögensabgabe belastet nicht die Armen
und auch nicht den Mittelstand, sondern ganze 330 000
Privatpersonen in Deutschland, das heißt - auch wenn
Sie noch so sehr daran herumdeuteln wollen -: 99 Prozent der Menschen in diesem Lande sind nicht betroffen.
({10})
Die wenigen, die unter die Abgabepflicht fallen, haben
zehn Jahre Zeit, die Abgabe zu zahlen, jährlich 1,5 Prozent. Wir sagen: Das ist nun wirklich leistbar.
({11})
- Sie müssen aber nicht zahlen, Herr Volk, das wissen
Sie.
({12})
Unser Gesetzentwurf sieht außerdem großzügige Verschonungsregelungen für Betriebsvermögen vor. So
muss zum Beispiel ein Einzelunternehmer einen jährlichen Gewinn von über 500 000 Euro haben, um in den
Kreis der Abgabepflichtigen aufgenommen zu werden.
Auch das finden wir hinnehmbar.
Durch die grüne Vermögensabgabe wird auch niemand aus diesem Land vertrieben - auch wenn die
Kanzlerin etwas anderes behauptet -; denn es zählt der
Stichtag 1. Januar 2012. Es gibt also keinen Grund, wegzuziehen; denn auch dadurch kann sich niemand der Abgabe nachträglich entziehen. Es ist vielmehr ein Grund,
in diesem Land zu bleiben; denn durch die Schuldentilgung bekommen wir wieder einen handlungsfähigen
Staat, der in die Energiewende, in Bildung und in Gerechtigkeit investieren kann.
({13})
Ich komme zum Schluss. Es bleibt noch Ihr Schreckgespenst der Substanzbesteuerung. Das trifft unseren
Gesetzentwurf nicht - wenn Sie ihn lesen, werden Sie es
feststellen; Sie wissen es eigentlich -; denn durch unsere
zusätzliche 35-Prozent-Regelung, die Verschonungsregelung, ist die Substanzbesteuerung von Betriebsvermögen zu 100 Prozent vollständig ausgeschlossen.
({14})
Deswegen können Sie das Gespenst in den Schrank stecken.
({15})
Nehmen Sie die Ergebnisse Ihres Armuts- und Reichtumsberichtes endlich ernst. Unser Gesetz ist mit einfacher Mehrheit in diesem Hause zu beschließen. Schließen Sie sich unserem Gesetzesvorschlag an! Wenn Sie es
nicht tun, dann wird es die Bundestagswahl im nächsten
Jahr regeln.
({16})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Frank Steffel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gabriel, Sie
haben das dialektisch geschickt gemacht, wie ich fand.
Sie haben manche Zusammenhänge hergestellt, die man
so, glaube ich, nicht herstellen sollte. Aber natürlich
enthielt Ihre Rede vieles, über das wir in diesem Land in
der Tat nachdenken müssen und auch nachdenken sollten. Auch für uns geht es - ich sage das in aller Deutlichkeit - um eine permanente Überprüfung von Steuerpolitik und Sozialpolitik sowie um eine kontinuierliche
Weiterentwicklung unseres weltweit einmaligen Erfolgsmodells „soziale Marktwirtschaft“. Das ist die Kernfrage.
Da müssen wir uns natürlich mit der Frage beschäftigen, wie viel Freiheit wir brauchen, weil das die eine
Seite der Medaille, die eine Seite des Erfolgsmodells
von Ludwig Erhard ist. Die Freiheit des Individuums
fängt bei denen an, die sich die Freiheit herausnehmen,
nie zu arbeiten, die wir trotzdem nicht verhungern lassen, die trotzdem eine medizinische Versorgung erhalten, die trotzdem ein Dach über dem Kopf haben. Es
geht um die Freiheit von Menschen, mit ihrem Eigentum
das zu tun, was sie wollen, in Deutschland oder anderswo.
({0})
- Frau Roth, natürlich geht es auch darum, dass Eigentum verpflichtet. Meine Damen und Herren, über diesen
Satz muss in diesem Hause doch niemand ernsthaft streiten.
({1})
Das ist doch selbstverständlich.
Wir ringen also um die Frage, wie wir diese soziale
Marktwirtschaft weiterentwickeln. Für uns als CDU/
CSU ist es eine Selbstverständlichkeit, dass starke
Schultern deutlich mehr tragen als schwache Schultern.
Wer will das angesichts der Fakten in Deutschland denn
infrage stellen? Ich will das sehr deutlich sagen: Eine Familie, zwei Erwachsene und zwei Kinder, zahlt in diesem Land bis zu einem Jahreseinkommen von knapp
40 000 Euro nicht einen Cent Lohn- und Einkommensteuer. Weniger als null geht nun mal nicht.
({2})
10 Prozent der Steuerzahler erbringen 55 Prozent des
Lohn- und Einkommensteueraufkommens. 56 Prozent
des Bundeshaushalts, der von dieser christlich-liberalen
Koalition verantwortet wird, wird für Soziales aufgewendet. Das ist doch der Versuch, die Balance zu wahren. Wir brauchen starke Schultern. Wir müssen diese
Menschen, diese Unternehmen motivieren, in Deutschland zu bleiben und zu investieren. Kapital ist leider
- das wissen wir - nicht nur ein schwieriges, sondern
auch ein sehr scheues Reh. Wenn es woanders Rahmenbedingungen findet, die deutlich besser sind, macht das
die Sache nicht leichter.
Ich will auch etwas zu dem Spitzensteuersatz sagen.
Über den können wir übrigens miteinander ringen. Natürlich müssen wir das immer wieder miteinander tun.
Herr Gabriel, Herr Trittin, ich spare mir den Hinweis,
dass die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder und
Fischer die deutlichste Steuerentlastung der Wohlhabenden in diesem Land im Bereich von Spitzensteuern, Einkommensteuern und Körperschaftsteuern vorgenommen
hat. Das war die deutlichste Steuerentlastung für Reiche,
die es jemals in der Geschichte der Republik gab. Auch
das gehört zur Wahrheit.
({3})
Sie haben das damals auch getan, weil Sie der Auffassung waren, dass wir die Rahmenbedingungen anpassen
müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu
verbessern. Ich will Ihnen gar nichts anderes unterstellen.
Wie hoch ist der Spitzensteuersatz? Das sollten wir
gerade den jungen Menschen, die heute zuhören, einmal
kurz vorrechnen: Ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent
und 3 Prozent Reichensteuer macht 45 Prozent. Jetzt
kommt der Solidaritätszuschlag dazu. Damit sind wir bei
47,48 Prozent. 55 Millionen Deutsche sind in einer der
großen Kirchen. 61 Prozent der Steuerzahler zahlen Kirchensteuer. Inklusive Kirchensteuer zahlen diese Menschen einen Spitzensteuersatz von 51 Prozent auf ihr
Einkommen. Das ist mehr als die Hälfte! Ich will das gar
nicht verfassungsrechtlich beurteilen. Ich will nur feststellen: Wenn man hier den Eindruck erweckt, diese
Menschen würden wenig oder fast gar nichts zu unser aller Gemeinwohl beitragen, wird man diesen Menschen
nicht gerecht, die in der Regel auch von Montag bis
Freitag oder von Montag bis Samstag oder von Montag
bis Sonntag, wenn ich an manch einen kleinen Mittelständler denke, arbeiten und gerne in diesem Land Steuern zahlen. Auch das gehört zur Wahrheit.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?
Bitte. Gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Schick.
Manchmal muss man für die Öffentlichkeit ein bisschen zur Verständlichkeit beitragen.
({0})
Ich bemühe mich darum.
Ich möchte zwei Fragen stellen.
Erstens. Wenn der Steuertarif gesenkt worden ist und
der Anteil, der von den oberen 10 Prozent gezahlt wird,
steigt, heißt das doch, dass sich die Verteilung von Einkommen immer stärker verändert hat und auf wenige
Personen konzentriert. Würden Sie mir also zustimmen,
dass das Argument, das Sie gebracht haben, zeigt, dass
wir dringend etwas für mehr Verteilungsgerechtigkeit in
Deutschland tun müssen?
({0})
Zweitens. Wollen Sie der Bevölkerung vielleicht noch
einmal darlegen, wie die Verhandlungen zur Steuerreform verlaufen sind? Die Opposition hatte im Bundesrat
einen Steuersatz von weit unter 40 Prozent gefordert,
({1})
und wir als rot-grüne Koalition sind damals mit der Forderung von 45 Prozent in die Verhandlungen eingetreten
und haben gesagt: Ein noch niedrigerer Steuersatz wäre
unverantwortlich, weil man dann zu viele Schulden machen müsste. Man hat sich dann auf einen Kompromiss
von 42 Prozent geeinigt. Die Kritik an der Steuersenkung vonseiten der CDU/CSU ist also ziemlich wohlfeil, weil Sie den Steuersatz damals noch stärker senken
wollten. Wir haben das nicht mitgemacht; denn das wäre
nicht verantwortungsvoll gewesen.
({2})
Herr Schick, ich habe doch eben gesagt: Wir werden
in einem Land, in einer Welt, die sich heute noch schneller verändert als in den letzten 60 Jahren - auch das ist
eine Lehre der letzten fünf Jahre -, immer darum ringen
müssen, wie wir das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln. Das ist, wie ich glaube, eine
sehr komplizierte Frage. Übrigens hat dies auch verfassungsrechtlich sehr enge Grenzen. Ich weiß nicht, ob Ihr
Vorschlag verfassungsfest ist. Er ist durchaus durchdacht; das muss man fairerweise sagen. Der Vorschlag
der Grünen ist - das muss man sagen, egal ob man ihn
ablehnt oder gut findet - im Ergebnis relativ durchdacht.
Meine Sorge wäre, dass die Freigrenzen den Eindruck
erwecken: Hier wird eine Lex, ein Gesetz für eine sehr
kleine Minderheit gemacht. Eigentlich ist das nicht im
Einklang mit unserer Verfassung. Ich bin kein Verfassungsjurist; das haben mir jedoch Fachleute dazu gesagt.
Übrigens, die entscheidende Fragestellung, mit der
wir uns beschäftigen müssen, ist: Wählen wir eine Substanzbesteuerung oder eine Ertragsbesteuerung?
({0})
Es ist doch Konsens in diesem Saal, dass jemand, der
Wohnungen hat, diese vermietet und Mieterträge hat, auf
diese Mieterträge natürlich Steuern zahlen muss. Die
Frage ist doch nur: Wie schaffe ich die Anreize, dass immer noch Immobilien gebaut werden, dass Menschen
immer noch in Immobilien investieren? Die gleiche
Frage stellt sich bei Kapitalerträgen. Wir alle wissen,
wie unser Mittelstand, unsere kleinen Unternehmen
ächzen, wenn sie 50 Prozent des Jahresgewinns an das
Finanzamt abführen müssen, obwohl sie dieses Geld
eigentlich gerne im Betrieb investieren würden.
({1})
Gleichzeitig sagen wir alle: Natürlich wollen wir,
dass breite Schultern, dass große Vermögen mehr tragen
als kleine. Jetzt sind wir bei einer Verfassungsfrage. Das
fängt übrigens beim Eigenheim an. Der Großteil des
Wohneigentums in Deutschland besteht doch nicht aus
Millionen- oder Milliardenvillen, sondern das sind
kleine Eigenheime. Deren Besitzer haben sie in der
Regel gebaut oder angeschafft, weil sie der staatlichen
Rente nicht mehr hinreichend vertrauen, weil sie glauben, dass sie ihr Eigenheim brauchen, damit sie im Alter
sorgenfrei leben können.
({2})
Nun müssen wir uns mit der Frage beschäftigen: Gehen
wir an die Substanz, oder gehen wir an die Erträge?
Ich gehe davon aus, dass die Beantwortung der Frage
beendet ist.
({0})
Herr Kollege, bleiben Sie ganz gelassen. - Ich habe
mit dem ersten Satz gesagt: Natürlich müssen wir das
weiterentwickeln. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich
der rot-grünen Bundesregierung von damals unterstelle,
dass sie sich bemüht hat, zum Wohle des Wirtschaftsstandortes Deutschland die im historischen Kontext
richtige Entscheidung zu treffen. Es gibt ja nicht wenige
bei Ihnen, die der Meinung sind, dass sie aufgrund der
damaligen Politik der Vater oder die Mutter des jetzigen
Aufschwungs sind.
Herr Kollege, geben Sie mir die Chance, Sie zu fragen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen.
Bitte. Gerne.
Kollege Manfred Grund.
Vielen Dank. - Es geht in dieser Debatte ja um Vermögen und Einkommen. Es gibt einen Koeffizienten,
mit dem die Einkommensverteilung in Volkswirtschaften bzw. Staaten gemessen wird, und zwar einen weltweit anerkannten Koeffizienten. Dieser Koeffizient zur
Einkommensverteilung bzw. zur Einkommensgerechtigkeit ({0})
- die Frage, um die es eben ging, betraf die Einkommen hat einen Wert zwischen 0 - gleiches Einkommen - und 1.
Bis 2005/2006 ist dieser Koeffizient, was die Situation
in Deutschland betrifft, angestiegen. Jetzt meine Frage:
Herr Kollege, können Sie bestätigen, dass dieser Koeffizient im Hinblick auf Deutschland seit 2006 stabil bei
0,29 liegt, was bedeutet, dass sich die Einkommensverteilung in Deutschland in den letzten Jahren nicht
dramatisch verändert hat?
Diese Zahlen und dieser Koeffizient sind in der Tat
zutreffend, Herr Kollege. Ich bin für Ihre Frage und
Ihren Hinweis dankbar.
Ich will diesen Hinweis gern damit verbinden, auf
Folgendes hinzuweisen: Da Sie uns ja tendenziell weniger glauben als anderen - das ist in der Politik manchmal
so -, mache ich Sie auf den Spiegel von dieser Woche
aufmerksam; er wurde schon zitiert. Meine Damen und
Herren, die Überschrift eines Artikels im Spiegel, in dem
es um Ihre Konzepte geht, lautet: „Jagd auf Reiche“. Der
Spiegel kommt zu vielen Ergebnissen, die am Ende übrigens alle das Gleiche zum Inhalt haben:
Die geplante Abgabe schröpft nicht nur reiche
Müßiggänger, sondern vor allem investierende
Unternehmer.
({0})
Sie gefährdet Betriebe, die in der Krise stecken.
({1})
Und sie gilt international als Auslaufmodell. Von
den 27 EU-Ländern hat nur Frankreich eine dauerhafte Abgabe …
Die Vermögensteuer hat nämlich einen entscheidenden Nachteil: Sie ist unter Finanzbeamten als
besonders ineffizient bekannt. Einem geringen
Ertrag steht ein hoher Aufwand gegenüber. Jedes
Jahr müssen die Behörden den Besitz von Millionären und Firmen bewerten … Maschinen, Häuser,
Hallen, Gemälde oder Schmuck.
… Am Ende könnte die Vermögensteuer vor allen
Dingen ein Beschäftigungsprogramm für Juristen
und Steuerberater werden.
Vor allem aber belastet sie … Maschinen und Fabriken.
Sie belastet die Unternehmerinnen und Unternehmer, die
wir in diesem Land ganz dringend brauchen. Das zeigt
das Dilemma.
Ich rate uns: Lassen Sie uns über die Ertragsteuern
diskutieren! Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wir
sicherstellen können, dass auch in den nächsten zehn
Jahren starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern! Lassen Sie uns über den Sozialstaat diskutieren!
Aber wir sollten nicht den komplizierten Versuch unternehmen, die Substanz zu besteuern und jemandem, der
ein Gemälde besitzt, sagen: Du musst jetzt jedes Jahr
10 000 Euro zahlen, weil du ein teures Gemälde besitzt.
({2})
Dieser Versuch hört sich schön an, und man kann ihn
rhetorisch wunderbar verpacken. Aber er wird die Probleme in Deutschland nicht lösen.
({3})
Ich empfehle uns: Wir sollten über den richtigen Weg
diskutieren. Wir dürfen aber keine Neiddebatten oder
Missgunstdebatten führen. Erst recht, lieber Herr Gysi,
sollten wir nicht solche Modelle befördern, die in
Deutschland schon einmal gescheitert sind. Denn eines
ist klar: Wir brauchen auch starke Schultern und Investitionen in Deutschland, insbesondere Unternehmen, die
investieren, und wir brauchen unseren Mittelstand, wenn
wir die Entwicklung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, in den kommenden Jahren fortsetzen wollen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert
Schindler. Bitte schön, Kollege Norbert Schindler.
({0})
Einen schönen guten Morgen bzw. guten Tag, auch
den Gästen auf der Tribüne!
Es ist 12.38 Uhr.
({0})
In Ordnung. Dann sage ich: Guten Tag!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man sich
vor Augen führt, wie sehr wir 1997 bei der Abschaffung
der Vermögensteuer gerungen haben
({0})
und wie dankbar uns die Finanzbeamten waren, weil die
Effizienz dieser Steuer - ({1})
- Alle, die dazwischenrufen, haben davon so viel
Ahnung wie eine Kuh vom Eierlegen. Reden Sie mit der
Finanzverwaltung vor Ort! Ich muss das einmal so deutlich und treffend sagen. Damals hatten die Bundesländer
Einnahmen in Höhe von 4 Milliarden D-Mark, und die
Verwaltungskosten betrugen über 2 Milliarden D-Mark.
Die Vermögensteuer war die uneffektivste Steuer, die es
in dieser Republik jemals gab.
Wer war davon betroffen? Erfasst wurden Leute, die
ein Vermögen über 120 000 D-Mark hatten. Es war genau wie beim Lastenausgleich; er ist von den Linken
heute Morgen ja schon als Modell ins Gespräch gebracht
worden. Die Grünen schlagen eine Steuer vor, die, über
zehn Jahre verteilt, mit jährlich 1,5 Prozent die Reichsten der Reichen abschöpfen soll.
({2})
- Wenn es nur so wäre, Herr Trittin. Durch all die Ausnahmen, die in Ihrem Gesetzeswerk enthalten sind, wird
das komplizierte Verfahren, das es bis 1997 gab, noch
viel komplizierter.
({3})
Vergleichen Sie das damalige Gesetz mit Ihrem heutigen
Gesetzentwurf!
Auf was zielt man ab? Man zielt darauf ab, 200 000
bis 300 000 Leute zu erfassen, von denen man sagt: Das
sind die Reichsten der Reichen. Wenn Fußballspieler,
bekannte Filmschauspieler oder Industriellenfamilien
irgendwo in den Alpenrepubliken einen Wohnsitz haben,
dann geht in der medialen Landschaft jeder zur Tagesordnung über; sie werden trotzdem bejubelt. Wenn
jemand von uns einen Wohnortwechsel und einen Steuerstandortwechsel vornehmen würde, dann wäre der
Teufel los. Ich stelle das nur fest; ich beklage das nicht.
Vorhin wurden die Begriffe „Staatsangehörigkeit“
und „Steuerpflicht“ als Argument genannt. Vergessen
Sie bitte nicht: Eben diese genannten Personen sind
durch die Doppelbesteuerungsabkommen geschützt, die
wir mit unseren Nachbarstaaten abgeschlossen haben.
Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die linke
Seite dieses Hauses mit einer Neidkampagne den Wahlkampf beginnen will. Wer Neid sät, wird Hass ernten.
({4})
- Es ist so. Wer Neid sät, wird Hass ernten.
({5})
Es wird kritisch darauf geschaut, welche Steuereinnahmen wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten.
Wir haben - das ist auch schon einige Male gesagt worden; ich muss das wiederholen - kein Problem der
Staatseinnahmen - sie sind die besten von allen Seiten -,
sondern wir haben ein Problem der Staatsausgaben. Ihre
Vertreter in den Ausschüssen fordern, dass die Regierung noch viel mehr für den Sozialbereich und vieles andere ausgeben soll. Gleichzeitig hören wir hier heute in
der Fensterdebatte andere Töne. Das passt einfach nicht
zusammen.
({6})
Ich sage für die Koalitionsparteien: Das, was wir seit
2008 auch mit dem roten Koalitionspartner, vor allem
aber in unserer christlich-liberalen Koalition an kluger
Finanzpolitik geleistet haben - auch hinsichtlich der
Bankensicherung und der Steuerabkommen mit unseren
Nachbarstaaten -, war nicht selbstverständlich.
Warum haben wir die Probleme? Die linke Seite hat
am Anfang der Debatte durch Herrn Gysi behauptet, wir
seien sogar schuld an dem Schlendrian des griechischen
Staates. Bei einer solchen Schuldzuweisung trotz unserer
guten Regierungspolitik frage ich mich: Wer hat denn
hier Fieber in diesem Haus?
({7})
Liebe Barbara, da kriege ich einen dicken Hals.
({8})
Wir sind an allem schuld, auch an der Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, nur weil wir in Deutschland erfolgreich und tüchtig waren, weil wir der größte Nettoeinzahler in der Europäischen Union sind, weil wir den
europäischen Gedanken auch bei jeder Nachtsitzung betonen und weil wir den Einspruch des Parlaments zu
Hause zu Recht in harte Sparbeschlüsse umsetzen? Wir
sind auch daran schuld, dass sie da unten aufgrund der
Sünden der Vergangenheit zu Recht demonstrieren? Das
ist doch nicht das Ergebnis unserer Politik.
Wir haben Deutschland stabil gemacht, nicht nur
hinsichtlich der Steuereinnahmen. Wir haben auch die
Fähigkeit, die Europäische Union mitzufinanzieren.
Welcher Staat in Europa könnte derzeit die Kraft aufbringen, dies so durchzuhalten?
({9})
Das wird auch durch die große Mehrheit in diesem Parlament getragen. Liebe Freunde, Sie fangen pünktlich
zum Wahljahr 2013 mit einer Neiddebatte an. Erinnern
Sie sich einmal an den Ärger, den die Finanzverwaltung
hatte!
Nach dem Gesetzentwurf der Grünen ist abgegebenes
Vermögen an Dritte vermögensteuerpflichtig. Nur
30 Prozent der Flächen, die die Bauern bewirtschaften,
befinden sich noch in ihrem Eigentum. Die restlichen
70 Prozent sind gepachtet. Das heißt aus der Sicht der
ländlichen Regionen: All diese Eigentümer belastet ihr
in Zukunft mit der Vermögensteuer. Sie müssen erfasst
werden, sie werden dann wieder befreit,
(Jürgen Trittin ({10}): Die superreichen Bauern!
und sie werden alle Jahre wieder kontrolliert. So ergeht
es jedem Immobilienbesitzer.
Dadurch wird eine Neiddebatte eröffnet, die Sie gerne
führen wollen. Durch all die Ausnahmen in Ihrem
Antrag, die Sie abwägen, wird er sehr kompliziert. Deswegen könnte man sagen: Er ist durchdacht. Aber er ist
in der politischen Richtung verkehrt.
({11})
Im Zusammenhang mit der kalten Progression in unserem Steuersystem - darauf hat Volker Kauder vorhin
mit Recht hingewiesen - verweigern Sie sich, den kräftigen Zugriff des Staates bei Lohnzuwächsen zu beenden.
Das ist die größte Ungerechtigkeit, die wir seit sechs
oder sieben Jahren haben.
({12})
Sie sind nicht bereit, hier zu mehr Gerechtigkeit beizutragen. Nein, Sie wollen ablenken und sprechen stattdessen ein anderes Thema an.
({13})
Leute, das werden wir seitens der Koalition mit Erfolg
verhindern.
Deswegen ist das Thema Vermögensteuer in Deutschland erledigt. Es muss auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten erledigt bleiben, sonst hätten wir mit
der Einführung einer neuen Steuer für noch mehr Steuerungerechtigkeit gesorgt. Diesen Vorschlag werden die
Wählerinnen und Wähler in einem Jahr mit Sicherheit
entsprechend quittieren.
Danke schön.
({14})
Vielen Dank, Kollege Norbert Schindler. - Letzte
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unsere Kollegin Frau Bettina Kudla. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Lassen Sie mich als letzter Redner der
Debatte
({0})
hier noch einmal die wichtigen Punkte zusammenfassen.
Uns liegen zwei Vorschläge vor: ein Gesetzentwurf
von der Fraktion der Grünen und ein Antrag von der
Fraktion der Linken. Der Gesetzentwurf der Grünen
wird damit begründet, man wolle die hohen Staatsschulden tilgen. In dem Gesetzentwurf wird auf den Anstieg
der Staatsschulden in den letzten Jahren verwiesen, auch
aufgrund der Finanzkrise und der Konjunkturprogramme. Wohlgemerkt: Die Einzahlungen in den ESM
werden beispielsweise nicht erwähnt.
({1})
In dem Gesetzentwurf wird auch eine Parallele zum
Lastenausgleich gezogen; das wurde mehrfach angesprochen. Die Grünen wissen hier offenbar recht wenig
von der Geschichte.
({2})
Offenbar wollen Sie auch nichts davon wissen. Deswegen sind Sie stets gegen die Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung.
({3})
Der Vergleich mit dem Lastenausgleich ist hier einfach nicht zutreffend. Den damaligen Lastenausgleich
hat die gesamte deutsche Bevölkerung getragen, nicht
nur ein kleiner Teil der Menschen, obwohl es der Bevölkerung damals sehr schlecht ging.
({4})
Schließlich muss man feststellen, dass die Staatsschulden seit Jahrzehnten unter Regierungen jeder Couleur
erhöht wurden, allerdings unter den CDU-geführten
Regierungen wesentlich geringer als unter den rot-grüngeführten Regierungen.
({5})
Was den Bundeshaushalt betrifft - das hat Bundesfinanzminister Schäuble vergangene Sitzungswoche eindrucksvoll dargelegt -: Das riesige Finanzloch von Peer
Steinbrück aus dem Jahr 2008 mit 100 Milliarden Euro
ist auf ein sehr kleines Finanzloch geschrumpft.
({6})
- Herr Trittin, zu Ihren Zwischenrufen kann ich jetzt nur
sagen: Als Sie vorher über Finanzen gesprochen haben,
musste ich an Atomkraft denken.
({7})
Eigentlich habe ich nicht an Atomkraftwerke gedacht,
sondern an den Super-GAU. Bleiben Sie bei den Themen, die zu Ihnen passen!
({8})
Zum Antrag der Linken. Die Linken nehmen Bezug
auf den Armutsbericht der Bundesregierung und fordern
eine Enteignung vermögender Personen im Rahmen
einer Vermögensabgabe. In beiden Vorschlägen wird die
Einführung einer Vermögensteuer von 1,5 bzw. 5 Prozent gefordert.
({9})
Lassen Sie mich auf drei Schwerpunkte eingehen:
Erstens. Löst eine Vermögensabgabe die Probleme der
öffentlichen Haushalte?
({10})
Zweitens. Was sind die Folgen einer Vermögensabgabe
und einer zu hohen Besteuerung? Drittens. Ein paar
Ausführungen zum Armutsbegriff: Wie wird der Armutsbegriff eigentlich verwendet?
Zum Ersten, der Vermögensabgabe: Kann man die öffentlichen Haushalte sanieren, indem man nur an der
Einnahmenschraube dreht? Antwort: ein klares Nein.
({11})
Die Sanierung eines öffentlichen Haushaltes allein über
die Einnahmenseite ist nicht möglich. Sobald es höhere
Einnahmen gibt, steigen die Ausgabenwünsche. Hier
zeigt sich auch die fehlende Logik der Anträge der Fraktionen der Grünen und der Linken. Wenn Sie die Mehreinnahmen wirklich zur Schuldentilgung verwenden
wollten, dann dürften Sie doch nicht permanent gegen
die Schuldenbremse wettern.
({12})
Die Sanierung der öffentlichen Haushalte - auch das haben die Redner betont - kann nur durch strukturelle
Maßnahmen auf der Ausgabenseite erreicht werden.
Dem Bundeshaushalt geht es auch deswegen besser,
weil der Ausgabenanstieg gestoppt werden konnte.
({13})
Verbunden mit höheren Einnahmen aufgrund von Wirtschaftswachstum wurde durch eine umsichtige Politik
unserer Bundesregierung der Weg der Konsolidierung
gestärkt. Der Bundeshaushalt erfüllt die verfassungsmäßigen Vorgaben der Schuldenbremse,
({14})
und im Rahmen des Fiskalvertrages sind auch die anderen europäischen Länder gehalten, eine Trendumkehr in
ihrer Haushaltspolitik einzuleiten.
Zum Zweiten. Was wären die Folgen einer übermäßigen Steuerbelastung? Würden die Bürger übermäßig
durch eine Vermögensabgabe belastet,
({15})
würde der Schutz des Eigentums, den unser Grundgesetz
garantiert, infrage gestellt. Dann würden die wohlhabenden Bürger ihren Wohn- oder Firmensitz eben ins
Ausland verlegen. Das sieht man jetzt schon bei Spitzensportlern, Schauspielern und bedeutenden Unternehmern. Die Leistungen dieser Menschen würden in
unserem Land fehlen. Gerade ihre Beiträge zu Wohlstand und sozialer Sicherung wären im Inland gefährdet.
Dies hat auch der Kapitalabfluss, der in den vergangenen
Jahren in Deutschland besonders stark war, gezeigt.
Zum Dritten. Nun noch ein paar Sätze zum Armutsbegriff: Geld ist für den Bürger immer knapp. Jemand,
der SGB II bezieht, muss sicherlich jeden Euro zweimal
umdrehen, bevor er ihn ausgibt. Das gilt aber für einen
Familienvater, der 2 000 Euro brutto durch seine eigene
Arbeitskraft verdient, vermutlich auch.
({16})
Aber man muss auch sehen, dass über 50 Prozent des
Bundeshaushaltes für Sozialleistungen ausgegeben
werden. Der Mensch steht in der Politik der Bundesregierung im Vordergrund,
({17})
aber das System an sich muss funktionieren. Der Armutsbegriff wird einfach am verfügbaren Haushaltseinkommen festgemacht. Dabei wird keine Unterscheidung
getroffen, ob es sich um ein Arbeitseinkommen oder um
ein Transfereinkommen handelt. Soziale Errungenschaften, zum Beispiel dass jemand, der - aus welchen Gründen auch immer - kein eigenes Arbeitseinkommen hat
und trotzdem sein Leben lang krankenversichert ist,
blenden Sie in Ihren Anträgen völlig aus.
Wenn Sie bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin.
({0})
Das Gleiche gilt beispielsweise für die Grundsicherung, welche die Menschen, die keine eigene Rente
erwirtschaften konnten, ihr Leben lang absichert.
Ziel unserer Politik muss immer sein, die soziale Ausgewogenheit weiterhin zu erhalten.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10770 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/10778 soll ebenfalls
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen
die Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion
Die Linke wünscht die Federführung beim Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Feder-
führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer
stimmt dagegen? - Das sind alle anderen Fraktionen des
Hauses. Enthaltungen? - Keine. Somit ist der Überwei-
sungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? -
Das sind alle anderen Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? -
Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 47 a bis 47 g und
47 i bis 47 r sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:
47 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen
- Drucksache 17/10486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivil-
prozess
- Drucksache 17/10490 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister und zur Änderung
anderer Gesetze
- Drucksache 17/10749 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/10750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Groß-
herzogtum Luxemburg zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und Verhinderung der
Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu-
ern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/10751 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem König-
reich der Niederlande zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Vizepräsident Eduard Oswald
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen
- Drucksache 17/10752 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 17. November 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Fürstentum Liechtenstein zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 17/10753 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
weitere Bereinigung von Übergangsrecht aus
dem Einigungsvertrag
- Drucksache 17/10755 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Globa-
len Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt
über den Sitz des Globalen Treuhandfonds für
Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/10756 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Rahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwi-
schen der Europäischen Union und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und der Republik
Korea andererseits
- Drucksache 17/10757 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Freihandelsabkommen vom 6. Oktober 2010
zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik
Korea andererseits
- Drucksache 17/10758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Rechtsausschuss
m) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung ({5}) Nummer 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euroraums
- Drucksache 17/10759 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
n) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes und der Schiffsregisterordnung
- Drucksache 17/10772 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln
- Drucksache 17/9426 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausbau des Truppenübungsplatzes Altmark
sofort stoppen - Colbitz-Letzlinger Heide zivil
nutzen
- Drucksache 17/10684 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für einen wirksamen Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der Europäischen Union und in Deutschland
- Drucksache 17/10786 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Eduard Oswald
r) Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über den Vollzugsaufwand bei der Gewährung von Unterhaltsvorschuss und Wohngeld an Kinder mit Anspruch auf Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Drucksache 17/10322 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({11})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 4a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens ({12})
für die Agentur der Europäischen Union für
Grundrechte
- Drucksache 17/10760 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken
- Drucksache 17/10787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({14})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staaten
- Drucksache 17/10791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Angelika Graf ({16}), Dr. Marlies
Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichheiten beseitigen - Versorgungslücken schließen
- Drucksache 17/9059 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({17})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10322 - Tagesordnungspunkt 47 r - soll federführend beim Haushaltsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 48 a bis 48 m
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 48 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Statistik
im Produzierenden Gewerbe
- Drucksache 17/10493 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({18})
- Drucksache 17/10850 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({19})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10850, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10493 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? Keine. Stimmenthaltungen? - Das sind die Fraktionen
der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 b:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Vizepräsident Eduard Oswald
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli
2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Bermuda über den Auskunftsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/10043 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
28. Oktober 2011 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Montserrat über die Unterstützung
in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/10044 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({20})
- Drucksache 17/10847 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Lothar Binding ({21})
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
3. Juli 2009 mit der Regierung von Bermuda über den
Auskunftsaustausch in Steuersachen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10043
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das ist die
Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
28. Oktober 2011 mit der Regierung von Montserrat
über die Unterstützung in Steuer- und Strafsachen durch
Informationsaustausch. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10044 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Das sind die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({22}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Vierundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 17/10542, 17/10707 Nr. 2.1,
17/10851 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10851, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/10542 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber die Gegenprobe! - Keine. Stimmenthaltungen? - Keine. Somit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 48 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 463 zu Petitionen
- Drucksache 17/10671 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 463 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 464 zu Petitionen
- Drucksache 17/10672 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Keiner.
Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 464 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 465 zu Petitionen
- Drucksache 17/10673 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/
Die Grünen. Sammelübersicht 465 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 466 zu Petitionen
- Drucksache 17/10674 23388
Vizepräsident Eduard Oswald
Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 466
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 467 zu Petitionen
- Drucksache 17/10675 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht
467 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 468 zu Petitionen
- Drucksache 17/10676 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen dieses Hauses.
Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 468 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 469 zu Petitionen
- Drucksache 17/10677 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 469 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 470 zu Petitionen
- Drucksache 17/10678 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Somit ist Sammelübersicht 470 angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 471 zu Petitionen
- Drucksache 17/10679 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Sammelübersicht 471 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 472 zu Petitionen
- Drucksache 17/10680 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 472 ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun
zum Zusatzpunkt 5:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der
CDU/CSU und FDP
Das Wort als Erster in unserer Aktuellen Stunde hat
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Thomas Oppermann. Bitte schön, Kollege Thomas
Oppermann.
({33})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Vor drei Wochen hat
die Bundesregierung das Euro-Krisenmanagement an
die Europäische Zentralbank abgetreten. Seitdem muss
sich die Bundesregierung wieder mit innenpolitischen
Fragen befassen. Das staunende Publikum stellt fest:
Nichts hat sich verändert. Überall herrscht Streit. Egal
ob Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn oder
Rente,
({0})
in keinem Bereich kann diese Regierung sich einigen. In
allen wichtigen innenpolitischen Fragen ist diese Bundesregierung handlungsunfähig.
({1})
Frau von der Leyen will die Quote. Frau Schröder
lehnt sie ab. Frau Schröder hat einen Gesetzentwurf zum
Betreuungsgeld vorgelegt, den sie selber eigentlich gar
nicht will. Frau von der Leyen hat dagegen eine Rentenreform vorgelegt, die aber die Kanzlerin verhindern will.
Die Kanzlerin hofft dabei auf die Unterstützung von
Herrn Rösler. Der ist aber damit beschäftigt, gegen die
Energiewende, gegen das Betreuungsgeld und gegen den
Reichtums- und Armutsbericht zu kämpfen. So wird das
nichts, meine Damen und Herren.
({2})
In dieser Regierung kämpf jeder gegen jeden, und niemand kümmert sich darum, die Probleme in diesem
Lande zu lösen.
Der vergangene Freitag war ein schwarzer Freitag für
diese Bundesregierung. Mehrere Ministerpräsidenten
haben im Bundesrat den Aufstand gewagt. Sie wollen
sich nicht mehr mit dem Stillstand abfinden. Sie spüren
genau: Die Zeit dieser Regierung läuft ab. Sie haben gemerkt, dass die Bevölkerung hinter den Forderungen der
Opposition steht.
({3})
- Lachen Sie nur, Sie werden dafür noch die Quittung
bekommen.
({4})
76 Prozent der Bürger sind für den gesetzlichen Mindestlohn. 69 Prozent sind gegen das Betreuungsgeld.
56 Prozent der Frauen befürworten eine Quote in den
Aufsichtsräten und Vorständen von Unternehmen. Deshalb, meine Damen und Herren, haben einige CDU-Ministerpräsidenten bei Mindestlohn und Frauenquote gegen Frau Merkel gestimmt. Sie handeln nach dem
Motto: Rette sich, wer kann!
Die Kanzlerin muss jetzt die Abtrünnigen zu einem
Krisengipfel einladen. Ich glaube nicht, dass das hilft.
Wer übrigens glaubt, dass es nicht schlimmer als am
letzten Freitag, diesem schwarzen Freitag kommen
konnte, der sieht sich getäuscht. Es kam noch schlimmer.
({5})
Nach dem schwarzen Freitag folgte der Knall am
Montag. Die FDP sabotiert das Betreuungsgeld.
({6})
In dieser Koalition funktioniert nichts mehr, weil jeder
nur noch an sich selber denkt.
({7})
Obwohl diese Koalitionspartner, diese drei Koalitionsparteien eigentlich miteinander fertig sind, haben
Sie noch ein gemeinsames Interesse, das sie verbindet:
({8})
Sie wollen den Machterhalt in den letzten zwölf Monaten dieser Wahlperiode sichern. Deshalb beginnt in diesen Tagen ein großer Kuhhandel. Die FDP sagt: Wir halten das Betreuungsgeld für grundfalsch, wir lehnen es
entschieden ab, aber wir würden zustimmen, wenn wir
dafür eine extra Gegenleistung bekämen.
({9})
Es wird über die Reduzierung des Soli und über die
Streichung der Praxisgebühr verhandelt. Herr Kauder hat
schon die Währungseinheit dieser Verhandlungen in ein
oder zwei Porsche Cayenne definiert. Ich weiß gar nicht,
was im Augenblick der Kurs bei Ihnen, Herr Kauder, ist.
({10})
- Kamele, genau, das glaube auch ich, aber davon haben
Sie selber in der Fraktion genug. Damit sind Sie reich
gesegnet.
({11})
Im Ernst: Die Gegenleistung mag noch so bedeutend
sein,
({12})
das falsche Betreuungsgeld wird doch dadurch nicht
richtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
({13})
Es bleibt doch dabei, dass das Betreuungsgeld der Rückmarsch in das Familien- und Frauenbild der 50er-Jahre
ist.
Ich will hier nicht gegen den Kompromiss reden. Der
Kompromiss gehört zur Demokratie. Der Kompromiss
ist eine demokratische Tugend, aber der Kompromiss
muss aus der Sache heraus begründet sein. Was Sie hier
vorhaben, ist ein sachfremder Kuhhandel nach dem
Motto „Schenkst du meiner Tante etwas, kriegt auch
deine Tante etwas“.
({14})
So machen Sie Politik. Sie sind jetzt drei Jahre an der
Regierung. Das ist die peinlichste Regierung, die das demokratische Deutschland je hatte.
({15})
Dazu gibt es eine gute Nachricht: In zwölf Monaten ist
die Zeit dieser Regierung abgelaufen. Und es gibt eine
schlechte Nachricht: Jeder Tag bis dahin ist ein verlorener Tag für Deutschland.
Vielen Dank.
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Michael Kretschmer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Viele von Ihnen erinnern sich sicherlich an das
Buch Momo von Michael Ende und den darin beschriebenen Kampf gegen die Zeitdiebe. Die grauen Männer
von heute, die uns die Zeit stehlen wollen,
({0})
kommen gerade von der SPD.
({1})
Anstatt mit uns darüber zu diskutieren, was die wirklichen Probleme des Landes sind und wie wir sie lösen
können, versuchen Sie, eine Show zu initiieren. Doch für
Show fehlt uns die Zeit. Die Lösung der Probleme, die
dieses Land hat, gerade im internationalen Kontext, ist
zu wichtig.
({2})
Deswegen werden wir diese Debatte auch nicht unnötig
verlängern. Ich denke, das ist gut für unser Land.
({3})
Wir nehmen die Verantwortung wahr, die uns die
Menschen mit der Wahl aufgegeben haben. Wir werden
diese für Deutschland bis zum Ende der Legislaturperiode und gern auch darüber hinaus mit Freude tragen.
({4})
Es gibt zum heutigen Zeitpunkt kaum einen anderen
Ort auf der Welt, an dem die Menschen sicherer und mit
größerer Stabilität leben können, als die Bundesrepublik
Deutschland. Dass das so ist, das hat diese Koalition, das
hat diese Regierung maßgeblich mitzuverantworten.
({5})
Wir werden auch in Zukunft um die Bewältigung der
großen Herausforderungen für dieses Land ringen. Wir
werden auch über Themen wie Betreuungsgeld, Frauenquote, Mindestlohn ernsthaft debattieren,
({6})
und zwar nicht in einer Aktuellen Stunde mit der Dauer
von einer Stunde, sondern in einer breiten Diskussion.
Denn das sind Themen, die die Gesellschaft bewegen,
die in jeder Familie, die bei den Gewerkschaften, die an
den Stammtischen
({7})
und die natürlich auch in den politischen Parteien intensiv und auch kontrovers diskutiert werden.
Es wäre schlimm, wenn über solche Themen nicht
diskutiert werden würde, wenn es nur eine Einheitsmeinung geben würde; denn das würde bedeuten, dass es
keine Ideen, keinen Diskurs gibt. Aber gerade das macht
die Demokratie aus: dass es einen Streit um die besten
Ideen gibt.
({8})
Streit in der Sache ist das eine; das bringt uns voran.
Zerrissenheit in einer Partei in Personalfragen ist das andere. Genau das erleben wir bei der SPD: Sie kann sich
nicht einigen, mit welcher von drei Personen sie bei der
nächsten Bundestagswahl antreten will. Bei den Grünen
sind es sogar 15 Personen, die für eine Spitzenkandidatur gegeneinander kämpfen, nach dem Motto: „Wer sind
wir und wenn ja, wie viele?“ Meine Damen und Herren,
so wird es nichts!
Deshalb gehen wir mit Freude in die Diskussion über
die angesprochenen Themen und an die Arbeit im kommenden Jahr. Wir freuen uns auf eine Bundestagswahl,
bei der wir darum ringen, unseren Kurs fortzusetzen.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Yvonne
Ploetz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Es ist erbärmlich, welches miserable Bild die Bundesregierung abgibt.
Das schreibt das Westfalen-Blatt.
Und weiter:
Das einstige Wunschbündnis hat schon jetzt den
Eintrag in die Geschichtsbücher als „schwarz-gelbe
Koalition des Dauerstreits“ sicher.
Sehr treffend, wie ich finde.
Aktuell streiten sie sich wieder um das Betreuungsgeld. Gerade dieses Thema ist beispielhaft für das, was
ich gleich ausführen werde: Sie schaffen es nämlich nur
noch mit den größten Anstrengungen gegen gesellschaftliche Stimmungen, gegen rebellierende Bürgerinnen und
Bürger und jetzt auch gegen den Widerstand des Bundesrats zu regieren - auch wenn Sie es immer wieder
versuchen.
Wir kommen nun zum Versagen der Bundesregierung, belegt an vier Beispielen.
Erstens: das Meldegesetz. Der Aufschrei war groß,
als der Bundestag bzw. das, was von ihm noch übrig war,
eine Neufassung des Meldegesetzes beschlossen hatte.
Hier passierte das, was wir von der Koalition schon seit
Monaten oder Jahren geboten bekommen: Sie legt einen
Entwurf vor, streitet, streitet, wartet ein bisschen, streitet
noch einmal, um irgendwann die Änderung des Entwurfs oder die Änderung der Änderung des Entwurfs
durch den Bundestag zu peitschen. So war es auch beim
Meldegesetz. Es gab einen Änderungsantrag, mit dem
Sie den Datenschutz in den Meldeämtern de facto abschaffen wollten. Wie Sie die Daten der Menschen an
den prächtig blühenden Adresshandel zu Werbezwecken
verhökern wollten, ist an Dreistigkeit wirklich nicht zu
überbieten.
({0})
Heute tut CSU-Ministerin Aigner so, als habe sie damit nichts zu tun. Angela Merkel wünscht sich Überarbeitungen durch den Bundesrat, und die einstige Bürgerrechtspartei FDP ist ein Totalausfall.
({1})
Was ist passiert? Ihr Gesetz traf nach der Verabschiedung hier im Haus auf die gesellschaftliche Realität und
auf den weit verbreiteten Wunsch nach Datenschutz,
neuerdings auch auf den Widerstand im Bundesrat und
auf rebellierende Bürgerinnen und Bürger. Sie macht das
nervös; mich macht der Widerstand unglaublich stolz.
({2})
Nächstes Thema: Frauenquote. Bis heute sind Männer
ein bisschen gleichberechtigter: mehr Geld, mehr Aufstieg, mehr Aufsichtsrat. Nachdem Sie alle von uns hier
im Bundestag gestellten Anträge abgeschmettert haben,
hat nun die Hamburger SPD einen Antrag in den Bundesrat eingebracht, in dem es um eine 40-prozentige
Quote für Frauen in Aufsichtsräten geht, und sie hat die
Unterstützung von einem CDU-Ministerpräsidenten und
einer CDU-Ministerpräsidentin bekommen.
Und damit auch gleich zu den Happenings hier in der
Koalition rund um die Quotendebatte: Frauenministerin
Schröder darf mit ihrer Flexi-Quote schon lange nicht
mehr mitspielen, und das ist auch gut so. Volker Kauder
mahnt panisch zur Geschlossenheit, und die Unionsfrauen im Bundestag drängen auf eine Abstimmung
ohne Fraktionszwang, damit die Abgeordneten ihrem
frauenpolitischen Gewissen folgen können. Liebe Unionsfrauen, bei solchen Bitten zucke ich innerlich immer
zusammen. Stehen Sie doch einfach einmal zu Ihrer
Meinung!
({3})
Aber was bringt Sie so ins Schleudern? Es ist, dass
immer mehr Menschen der Meinung sind, dass Frauen in
Kontrollgremien wichtig sind, zum einen, weil es geschlechtergerecht ist, und zum anderen, weil sie darüber
vielleicht auch andere Frauen motivieren und fördern
können. Es gibt immer mehr Menschen, die für die
Quote streiten, und der Bundesrat beschließt sie einfach.
Schwarz-Gelb ist verdutzt; mir zaubert es ein Lächeln
auf die Lippen.
Nun eiert die Koalition beim Betreuungsgeld herum,
das bekanntermaßen bis heute wirklich niemand will.
Für eine Zustimmung fordert die FDP Gegenleistungen
von der Union: Dabei könne es zum Beispiel um die Abschaffung der Praxisgebühr gehen. Nichts gegen die Abschaffung der Praxisgebühr; aber es ist unfassbar, wie
tief Ihre Schamgrenze ist. Dieses unwürdige Geschacher
rund um das Betreuungsgeld ist wirklich für niemanden
mehr zu ertragen.
({4})
Der FDP-Haushaltspolitiker Koppelin sagte vor drei
Tagen, das Betreuungsgeld sei nur ein „Steckenpferd
von Herrn Seehofer und ein, zwei anderen“. Ich will
festhalten: Steckenpferde sind tot, so tot wie dieses Projekt. Also steigen Sie endlich von Ihrem toten Gaul ab
und investieren Sie das Geld in den Ausbau der Kitabetreuung!
({5})
Abschließend haben wir noch die abstrusen Vorgänge
rund um den Armuts- und Reichtumsbericht: Da legt von
der Leyen einen Entwurf vor, der belegt: Die Reichen
werden reicher, die Armen rutschen immer mehr ab.
Und: Nötig wäre eine höhere Besteuerung von Millionärsvermögen. Diese Passage treibt Philipp Rösler auf
die Barrikaden. Er verweigert dem Bericht einfach seine
Zustimmung. Man staunt wirklich nicht schlecht, wie
der Lobbyismus Sie vor sich her treibt.
Dennoch: Wissen Sie, was mich auch hier wieder
freut? Die Rebellion der Bürgerinnen und Bürger steht
bereits in den Startlöchern. Spätestens die Kampagne
„UmFAIRteilen“ wird den Frust über die krassen Ungerechtigkeiten, die Sie hier alle mit zu verantworten haben - SPD, Grüne, Union und FDP -, auf die Straße
bringen.
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Nicole Bracht-Bendt.
({0})
Liebe Frau Ploetz, ich gehöre zu den Frauen, die auch
ohne Freigabe des Fraktionszwanges zu ihrer Meinung
stehen. Es wird Ihnen vielleicht nicht so gefallen, wie ich
zur Quote stehe; aber ich habe eine Meinung.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie alle wissen, dass es bei uns zu wenige
Frauen in Führungspositionen in Unternehmen gibt. Niemand streitet ab, dass in der Vergangenheit viele Spitzenjobs in Männerrunden gekungelt wurden. Ich frage
mich aber, warum gerade jetzt der Streit um die Einführung einer Frauenquote so eskaliert und diese Quote
schließlich auch im Bundesrat eine Mehrheit findet.
({0})
Der Ruf nach dem Gesetzgeber wird ausgerechnet zu
einem Zeitpunkt immer lauter
({1})
- hören Sie bitte einmal zu -, an dem endlich Bewegung
in die Sache gekommen ist. Laut der Beratungsgesellschaft Egon Zehnder International spiegelt sich das auch
in ganz aktuellen Zahlen wider. Untersucht wurden rund
350 der größten europäischen Unternehmen in 17 Ländern. Die dabei befragten 41 deutschen Unternehmen
hatten zwischen Mai 2011 und Mai 2012 insgesamt
81 Führungsposten neu zu besetzen, von denen 41 Prozent an Frauen gingen. Das ist zwar in der Tat ausbaufähig, aber der Trend ist eindeutig. Im Übrigen liegt
Deutschland damit über dem europäischen Durchschnitt.
Demnach wurden rund 33 Prozent der vakanten Positionen mit Frauen besetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen Sie doch
einmal mit Personalberatern. Sie werden Ihnen bestätigen, dass ihre Kunden explizit Kandidatinnen suchen.
Als überzeugte Quotengegnerin kann ich der öffentlichen Debatte über eine Frauenquote aber dennoch etwas
Positives abgewinnen:
({2})
Die Unternehmen sind sensibilisiert. Mittlerweile gilt es
doch als imagefördernd, Frauen im Vorstand zu haben.
Hinzu kommt: Frauen machen heute durchschnittlich
bessere Universitätsabschlüsse.
({3})
Auch das ist den Unternehmen natürlich nicht entgangen. Insofern gibt es aus meiner Sicht keinen Grund für
eine staatliche Reglementierung. Die FDP setzt auf
Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Die Telekom hat es
vorgemacht. Mit einer selbst auferlegten Frauenquote für
Führungspositionen kann man wunderbar als attraktiver
Arbeitgeber punkten.
Ich möchte nun auf die mittelständischen Unternehmen zu sprechen kommen. Was in DAX-Unternehmen
noch eher die Ausnahme ist, ist in mittelständischen und
familiengeführten Unternehmen heute schon fast selbstverständlich: Der Anteil leitender Mitarbeiterinnen und
Geschäftsführerinnen ist dort mit über 20 Prozent wesentlich höher als in börsennotierten Unternehmen. Deshalb bin ich dafür, dass die Frauenpolitik, statt weiter
über eine Quote für die vergleichsweise kleine Zahl an
Vorständen und Aufsichtsratsposten zu streiten,
({4})
wieder die wirklich wesentlichen Punkte in den Fokus
nehmen sollte.
({5})
Erstens möchte ich noch einmal klarstellen: Der Staat
hat kein Recht, die Wirtschaft zu dirigieren.
({6})
Und Frau Reding hat schon einmal gar kein Recht, sich
in die Belange deutscher Wirtschaft einzumischen.
({7})
Das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen. Ich
finde Frau Redings Einmischungen unerträglich.
({8})
Zweitens ist es Aufgabe des Staates - das ist für mich
als frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion das
Entscheidende -, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Das
beginnt schon im Kleinkindalter.
Wir sind uns alle einig: Die gläserne Decke muss
weg. Aber hierbei hat sich der Staat herauszuhalten. Hier
ist, wie gesagt, nicht der Staat, sondern hier sind die
Tarifpartner in der Pflicht.
({9})
Die Aufsichtsräte und Vorstände, aber auch die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren nicht genügend
Frauen im mittleren Management auf Führungsaufgaben
vorbereitet. In anderen Ländern gibt es viel mehr Nachwuchsprogramme in den Unternehmen. Kreativität ist
vonnöten - überall. Nächstes Jahr werden viele Aufsichtsratsmandate und Vorstandsposten neu zu besetzen
sein. Ich bin optimistisch, dass bis dahin die Unternehmen nach vollmundigen Ankündigungen auch Taten folgen lassen.
({10})
Die FDP-Fraktion sieht jedenfalls keinen Anlass, von
ihrer Position abzurücken. Wir lehnen eine staatliche
Einmischung als unverhältnismäßigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Wirtschaft ab. Wenn Ergebnisgleichheit wichtiger als Rechtsfreiheit ist, dann ist das
Planwirtschaft, und das werden wir auf jeden Fall verhindern.
Ganz herzlichen Dank.
({11})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Renate Künast das Wort.
({0})
Danke, Herr Lindner. - Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es ist irgendwie schon eine ganz tolle Art
seitens der Koalition, eine solche Debatte ernst zu nehmen. Herr Kretschmer erzählt hier über die grauen Männer, die uns die Zeit stehlen. Ich sage einmal: Herr
Kretschmer, Sie im dunkelblauen Anzug haben diesem
Land drei Jahre gestohlen. Das ist noch viel schlimmer.
({0})
Da stellt er sich hier hin und sagt, natürlich würden er
und die anderen ernsthaft über Quoten und über die Situation von Kindern diskutieren. Gucken Sie doch einRenate Künast
mal auf die Zettel auf Ihren Plätzen, wer in dieser Aktuellen Stunde überhaupt Redezeit angemeldet hat! Drei
mögliche Redebeiträge seitens der CDU/CSU-Fraktion
sind gar nicht angemeldet; Sie nehmen 15 Minuten Redezeit gar nicht wahr. Warum denn? Weil sich bei Ihnen
außer Herrn Kretschmer keiner traut, oder wie?
({1})
Oder weil Sie keine Frau finden, die sagt, ich stelle mich
hier oben hin und erkläre die unsinnige schwarz-gelbe
Politik?
Herr Kretschmer, wahr ist: Sie haben es drei Jahre
lang zerredet. Sie haben drei Jahre lang die Sorgen der
Menschen in diesem Land überhaupt nicht wahrgenommen, weder die Sorgen im Alltag noch die Situation in
diesem Land.
Frau Bracht-Bendt, ich habe meine Schublade aufgezogen und bin fast geneigt, Ihnen von der FDP das
Grundgesetz, mein Grundgesetz, zu geben, nachdem Sie
sagten, der Staat habe kein Recht, sich einzumischen. In
meinem Grundgesetz, Art. 3 - Gleichheit vor dem Gesetz - Abs. 2, steht:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
({2})
Erstes Semester bei der Ausbildung von Juristinnen und
Juristen: Sie haben eine Pflicht. Daraus leitet sich eine
staatliche Pflicht ab.
Frau Reding leitet ihre Zuständigkeit aus der Zuständigkeit für den Arbeitsmarkt ab. So einfach ist das,
meine Damen und Herren. Sie hat festgestellt, dass quer
durch Europa Frauen und Männer am Arbeitsmarkt nicht
gleichgestellt sind.
Wir blicken auf drei Jahre ganz großes Kino zurück:
Erst kommt Frau Schröder und sagt: Flexi-Quote, so ein
bisschen, die Wirtschaft macht das schon selber. - Wir
gucken und gucken und sehen nichts. Dann kommt Frau
von der Leyen, breitet die Arme weit aus - eine typische
Handbewegung - und
({3})
erzählt uns etwas. Früher hat sie uns erzählt: Jedes Kind
in Deutschland wird eine Chipkarte haben. Mit dieser
Chipkarte wird das Mittagessen, der Sport, der Musikunterricht und vieles andere bezahlt. - Fragen Sie doch einmal, wer eine Chipkarte hat. Keiner hat eine Chipkarte.
Die meisten haben aber auch keinen Nachhilfeunterricht.
So machen Sie Politik. Genau so reden Sie über die
Quote. Die eine so, die andere so. Was kommt dabei heraus? Gar nichts kommt dabei heraus.
Die Eltern in diesem Land, die wenig Geld haben, fragen sich: Wo ist die gute Ausbildung mit individueller
Förderung für mein Kind? Gerade die Eltern mit wenig
Geld fragen sich: Wird der Nachhilfeunterricht in Mathe
für mein Kind bezahlt, oder wird er in der Schule durchgeführt? Null. Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer
fragen: Kann ich bei einem Vollzeitjob von meinem
Lohn leben? Die Antwort wäre: Mindestlohn. Sie sagen
gar nichts. Frauen fragen sich: Kann ich erwerbstätig
sein? Wo ist die Betreuung meiner Kinder möglich? Sie
sagen am Ende auch nichts dazu; denn Sie haben mit
Herrn Röttgen voran in der Föderalismuskommission
dem Bund quasi verboten, den Kommunen Geld für die
Bildung zu geben. Das alles ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ob Frauenquote, Bildung, Mindestlohn oder Betreuungsgeld: Es wird immer ein großes Theater gemacht,
aber für die Menschen kommt dabei nichts, gar nichts
heraus.
({4})
Deshalb verstehe ich, dass auch den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der CDU/CSU so
langsam die Sicherungen durchbrennen und sie sagen:
Das lassen wir nicht mehr zu. Ich verstehe, dass Frau
Merkel die Gefolgschaft von Frau Kramp-Karrenbauer
und von Herrn Haseloff versagt wird, zum Beispiel als
es um die Abstimmung über den Hamburger Antrag auf
Einführung einer Frauenquote ging.
Ich sage Ihnen noch eines ganz klar: Nicht wir Frauen
müssen begründen, warum Frauen, die gut ausgebildet
und eine Berufsqualifikation haben, in die Vorstände und
Aufsichtsräte wollen. Nein, wir leben im Jahr 2012. Vor
dem Hintergrund des genannten Grundgesetzartikels
müssen die Männer erklären, warum die Vorstände und
Aufsichtsräte ein letzter Ort reiner Männerherrlichkeit
sein sollen. Sie können es nicht begründen.
({5})
So wird ein Schuh daraus. Ich erwarte, dass sich dieser Bundestag damit auseinandersetzt. Wenn Sie sich
nicht trauen dürfen, helfen wir Ihnen, die Abstimmung
vom Bundesrat zu wiederholen, und zwar mit einer namentlichen Abstimmung. Verzeiht mir, liebe CDUFrauen: Dann will ich nicht nur Tränen sehen, sondern
Hände, die hochgehen;
({6})
denn nur dann kann man euch glauben.
Ich, meine Damen und Herren, weiß eines: Diese Regierung kreist um sich selbst und kreist nicht um die Probleme der Menschen. Ich finde es richtig, dass der Bundesrat den Vorschlag von Frau Schavan zum Thema
Kooperationsverbot nicht mitmacht. Sie tut ja so, als
gäbe es wieder eine Kooperationsmöglichkeit bei der
Bildung. Dabei lässt die grundgesetzliche Regelung nur
den Zusammenschluss von Eliteeinrichtungen zu. Das
sind aber nicht die Probleme des Landes.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zu den Bereichen anführen, in denen Sie am Land vorbeiregieren:
Das Betreuungsgeld wird spätestens in Karlsruhe gekippt. Warten wir einmal auf die Ministerpräsidenten. Es
kann nicht sein, dass die Kommunen am Ende kein Geld
haben, um die Betreuung weiter auszubauen, Sie aber für
die Propagierung des altmodischen Gesellschaftsbildes
der 50er-Jahre Geld ausgeben. Dieses Land braucht eine
andere Regierung, und zwar eine, die nicht um sich
selbst kreist, sondern die die Alltagsprobleme der Menschen löst. Die wird nächstes Jahr kommen.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dagmar Ziegler.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wer, Herr Kretschmer, Sie selbsternannter Hüter des Zeitmanagements, wer klaut hier eigentlich wem die Zeit?
Das Versagen der Regierung Merkel hat viele Namen,
unter anderem ist da das „Betreuungsgeld“ zu nennen.
Da verwundert es natürlich nicht, wenn sich bei der
CDU/CSU nur einer traut, jetzt hier zu reden. Das Betreuungsgeld steht für den Komplettausfall des Politikmanagements im Bundeskanzleramt. Herr Pofalla ist
zwar ausnahmsweise hier;
({0})
aber man denkt, es gäbe ihn gar nicht mehr.
Das Betreuungsgeld steht für eine Koalition, die sich
um die wichtigen Probleme im Lande nicht wirklich
schert, die keine Antwort auf den Armuts- und Reichtumsbericht gibt, der nichts einfällt, um die soziale Kluft
in unserem Land zu schließen. Stattdessen reibt sich die
Koalition dabei auf, so etwas Sinnvolles wie die Frauenquote zu verhindern, für die es eine Mehrheit gibt, und
mit Brachialgewalt das Betreuungsgeld einzuführen,
wofür aus gutem Grund die Mehrheit fehlt.
Das Betreuungsgeld steht für die schlimmste Altherrenpolitik, bei der nur entscheidend ist, was Horst
Seehofer in Bayern für seine Stammtischhoheit zu brauchen glaubt, und bei der bessere Bildungschancen von
Kindern, eine bessere Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und kontinuierliche Erwerbsverläufe von Frauen gewissenlos geopfert werden.
Das Betreuungsgeld steht für eine realitätsblinde, arrogante und bürgerfeindliche Bundesregierung, die gegen den Widerstand der Menschen, gegen den Widerstand von Kinderverbänden, Bildungsforschern, Arbeitgebern und Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und
Kirchen eine Leistung durchdrücken will, die keinem
nützt, aber vielen schadet. Wer, Herr Kretschmer, klaut
hier eigentlich wem die Zeit?
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben sich mit dem Betreuungsgeld zum Gespött gemacht.
Den wievielten Anlauf haben Sie jetzt eigentlich unternommen, um das Betreuungsgeld in Ihren eigenen Reihen mehrheitsfähig zu machen? Es ist uns schwergefallen, die vielen Versuche noch nachzuvollziehen. Jetzt
sollen die Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und die
Riester-Förderung herhalten. Das ist eine völlig sachfremde Verknüpfung, die nicht retten kann, was doch
nicht zu retten ist.
Sie verkündeten am vergangenen Freitag schon die
große Einigung beim Betreuungsgeld, hatten dabei aber
leider vergessen, dass Sie noch einen kleinen Koalitionspartner fragen müssen. Nur wegen Ihres Problembären
in Bayern gibt es im Bundestag jetzt wieder Kauderwelsch und singt die Union in Richtung FDP „Ihr
Brüderle kommet“, um ihr unsinniges Betreuungsgeld
doch noch durchzusetzen.
({2})
Herr Kretschmer, wer klaut hier eigentlich wem die
Zeit?
({3})
Meine verehrten Damen und Herren von der FDP, lassen Sie sich nicht kaufen,
({4})
gehen Sie keinen Kuhhandel ein! In der Causa Betreuungsgeld schaut das ganze Land sehr aufmerksam zu.
Sie haben gesagt, das Betreuungsgeld sei möglicherweise verfassungswidrig. Sie haben gesagt, es sei nicht
zu finanzieren. Sie haben ferner gesagt, es setze falsche
Anreize. Sie haben in jedem dieser Punkte recht.
Deshalb lassen wir auch Ihnen keinen Deal in dieser
Frage durchgehen. Denn beispielsweise der Wegfall der
Praxisgebühr macht das Betreuungsgeld in keiner Weise
richtiger. Lassen Sie es sein, geben Sie das Projekt auf!
Der Schaden, den Sie verursacht haben, ist so oder so angerichtet. Gesichtswahrend kommen Sie aus dieser
Nummer nicht mehr heraus.
({5})
Die Bundeskanzlerin ruft die Abweichler in Sachen
Frauenquote - eine Ministerpräsidentin und einen Ministerpräsidenten - zum Fahnenappell ins Bundeskanzleramt. Für die Gesamtheit der Ablehner des Betreuungsgelds wird der Platz im Kanzleramt nicht ausreichen. In
diesem Falle braucht die Bundeskanzlerin einfach nur
vor die Tür zu treten; dann steht sie sofort inmitten der
Ablehnung.
Machen Sie endlich das, was zu tun Sie ja immer vorgaukeln: Packen Sie es endlich an, und packen Sie den
Gesetzentwurf ein!
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich das Thema der Aktuellen Stunde wörtlich
nehme, kann ich mich eigentlich kurzfassen. Das Thema
lautet nämlich: unterschiedliche Auffassungen innerhalb der CDU/CSU und FDP. Ich kann vermelden: Innerhalb der FDP gibt es keine unterschiedlichen Auffassungen
({0})
zu den Themen Frauenquote, Mindestlohn und Betreuungsgeld, ebenso wenig zum Thema Rente,
({1})
das Sie, Herr Kollege Oppermann, dankenswerterweise
mit in die Debatte eingeführt haben; ich komme nachher
gerne darauf zurück.
({2})
Wenn Sie allerdings das Miteinander in der Koalition
meinen, dann muss ich Sie warnen. Sie haben versucht,
ein bisschen Endzeitstimmung zu verbreiten, so wie es
der eine oder andere Redner bereits in der Haushaltsdebatte versucht hat.
({3})
Ich kann Ihnen nur sagen: Totgesagte leben länger. Ich
verstehe die Debatten in der Koalition eher als ein lebendiges Miteinander.
({4})
Sie werden sehen, dass wir am Ende mit guten Lösungen
aus dieser Diskussion herauskommen.
({5})
Damit wäre nach einer Minute eigentlich schon alles
zu diesem Thema gesagt. Aber ich bedanke mich für die
Gelegenheit, Herr Oppermann, den Ball zurückzuspielen
und einmal auf die unterschiedlichen Auffassungen in
der SPD, zum Beispiel beim Thema Rente, einzugehen.
({6})
Herr Kollege Oppermann, Sie erinnern sich: In der
letzten Sitzungswoche stand hier Herr Steinmeier am
Rednerpult. Er hat der Koalition vorgeworfen, einen
Haushalt mit einem Defizit von 18 Milliarden Euro zu
präsentieren; wohlgemerkt, wir haben ihn mit 70 Milliarden Euro Defizit von Ihnen übernommen.
({7})
Er sagte, wir müssten unsere Anstrengungen verstärken
und härter rangehen. Fast zeitgleich präsentierte der
SPD-Bundesvorstand ein Rentenkonzept mit Kosten von
35 Milliarden Euro, darunter 25 Milliarden Euro, die
über Steuern zu finanzieren sind, also mehr, als wir überhaupt als Defizit für das kommende Jahr vorgesehen haben. Das ist absolut unseriöse Politik.
({8})
Das ist bei dieser Geschichte aber noch nicht der Gipfel. Jetzt geht der Kuhhandel im SPD-Bundesvorstand
erst so richtig los: Damit das Ganze mit den Vorstellungen der Linken kompatibel werden kann, soll jetzt der
Zugang zur Rente für langjährig Versicherte erleichtert
werden. So kommen 6 Milliarden Euro zu den 35 Milliarden Euro hinzu.
({9})
Die Reaktion der Linken in Richtung von Herrn Gabriel:
Das reicht uns aber nicht, was hier vorgelegt wird. Jetzt soll auch noch die Absenkung des Netto-Standardrentenniveaus vor Steuern rückgängig gemacht werden.
Damit will sich die SPD vollkommen von der Rente mit
67 verabschieden.
({10})
Da kann ich nur sagen, Herr Oppermann: Wer im Glashaus sitzt, muss seine Steine, seine Stones, zusammenhalten.
({11})
Das ist genau das Problem, das Sie auch in der aktuellen
Debatte haben.
Dann schauen wir uns einmal die Grünen an. Frau
Kollegin Künast, Sie haben gesagt, es habe die Ansage
gegeben, eine Bildungskarte einzuführen, aber am Ende
sei keine Bildungskarte herausgekommen.
({12})
Ich kann mich an die Verhandlungen, die wir dazu geführt haben, noch relativ gut erinnern; denn ich war
nächtelang dabei.
({13})
In diesen Verhandlungen haben sich die Grünen, wo immer es ging, quergelegt.
({14})
Als es am Schluss zum Schwur kam, sind Sie in der allerletzten Verhandlungsrunde ausgestiegen und wollten
mit dem Ganzen überhaupt nichts mehr zu tun haben.
({15})
So kann man das doch nicht machen, Frau Kollegin
Künast. Es ist doch Wahnsinn, wie Sie dieses Geschäft
betreiben.
Wenn Ihnen dieses Beispiel noch nicht reicht, dann
schauen wir doch einmal nach Baden-Württemberg:
Frauenquote, Parité-Gesetz, wenn Ihnen das etwas sagt.
Da haben sich die Grünen mächtig aufgebockt: Sie wollten ein Gesetz vorlegen, nach dem bei der Kommunalwahl nur noch Listen zum Zuge kommen dürfen, auf denen Männer und Frauen gleichberechtigt erscheinen.
({16})
- Würden Sie mir bitte einmal Ihre Aufmerksamkeit
schenken, Frau Kollegin Künast? ({17})
Ich höre von diesem Parité-Gesetz gar nichts mehr. Vielleicht können Sie nachher noch kurz erklären, wann es
denn kommen wird. Nach meinen Informationen ist
auch dieses Thema abgehakt. Auch bei Ihnen also nichts
als heiße Luft.
({18})
Ich finde, es ist in einer Demokratie normal, dass man
in einer Regierung miteinander streitet. Es gehört zum
Meinungsbildungsprozess dazu, dass man sich über unterschiedliche Positionen austauscht. Aber dass es die
Opposition nicht einmal schafft, ihren internen Klärungsprozess einigermaßen reibungsfrei zu gestalten,
das finde ich dann doch bemerkenswert. Insofern hat
sich die Aktuelle Stunde heute doch gelohnt. Ich bedanke mich, Herr Oppermann, für Ihren entsprechenden
Antrag.
({19})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hubertus
Heil das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kolb, wir sollten uns eines nicht wechselseitig unterstellen - ich sage das in aller Ernsthaftigkeit - ({0})
- Hören Sie doch erst einmal zu und seien Sie nicht
gleich so nervös.
({1})
Herr Kolb, wir kennen uns ein bisschen und schätzen
uns durchaus persönlich, aber eines will ich Ihnen sagen:
Keiner von uns sollte die Tatsache, dass zwischen Ressorts, zwischen Koalitionspartnern und innerhalb demokratischer Parteien diskutiert wird, für Diffamierungen
nutzen.
({2})
- Moment! Hören Sie gut zu! - Das tut niemand; das
sollte auch niemand tun, weil dann ein falsches Bild entsteht. Hier geht es nicht um Kasernenhöfe, hier geht es
um demokratische Parteien. Aber eines ist auch klar:
Wer regiert, der sollte nicht nur diskutieren, sondern der
muss auch irgendwann auf den Punkt kommen!
({3})
Das möchten wir heute ansprechen: Sie kommen in dieser Koalition nicht auf den Punkt, Herr Kolb. Da können
Sie uns nichts vormachen.
({4})
Lassen Sie mich an einem Beispiel Folgendes verdeutlichen: Als wir mit Rot-Grün an der Regierung waren, haben wir diskutiert, manchmal sogar heftig gestritten; das will ich gerne einräumen. Beim Thema
Energiepolitik beispielsweise war zwischen Werner
Müller und Jürgen Trittin nicht immer eitel Sonnenschein - gar keine Frage. Da gab es unterschiedliche
Ressortlogiken in den Bereichen Umwelt und Wirtschaft. Aber es gab einen Unterschied zu Ihrer Regierung: Am Ende des Tages wurden Entscheidungen gefällt, gerade weil man diskutiert und dann entschieden
hat. Vom damaligen Kanzleramt wurde eine koordinierende Funktion wahrgenommen.
({5})
Das fehlt dieser Koalition: politische Führung.
({6})
Sie machen nichts anderes als Selbstblockade und Klientelpolitik. Das ist der Unterschied zu unserer Arbeit,
meine Damen und Herren. In einer Demokratie müssen
Sie es sich gefallen lassen, von der Opposition darauf
angesprochen zu werden.
({7})
Drei Jahre lang herrschte Stillstand. Wenn es einmal
vorangegangen ist, lief das wie beim Basarhandel: Jeder
darf sich einen Keks aus der Schublade nehmen. Die
FDP hat sich die Hotelsteuer gegriffen und die CSU das
Betreuungsgeld. Das ist aber keine ordentliche RegieHubertus Heil ({8})
rungsführung, das ist Basarhandel und nicht das, was unser Land braucht.
({9})
Ich wiederhole: Kein Mensch diskreditiert das Ringen
um gute Lösungen in Parteien, Koalitionen oder zwischen Ministerien - das gehört zur Demokratie dazu -,
aber es muss Ihnen doch bewusst sein, dass Sie auch
noch nach drei Jahren um dieselben Themen und Begriffe kreisen und es trotzdem nicht schaffen, eine anständige Gesetzgebung hinzubekommen.
Herr Kolb, Sie haben die Verhandlungen angesprochen, die wir nächtelang geführt haben. Dabei ging es
um drei Themen: Es ging um das Bildungspaket, es ging
um die Regelsätze, und es ging um Recht und Ordnung
auf dem Arbeitsmarkt.
Zum Thema Mindestlohn. Wir haben eine Bundesministerin, nämlich Frau von der Leyen - dass ich diesen
Punkt anspreche, werden Sie sich schon gefallen lassen
müssen -, der es in der Debatte möglicherweise mehr
um den öffentlichen Effekt geht als um die Sache. Dass
dieser Begriff ständig im Mund geführt wird, ohne dass
tatsächlich Fortschritte beim gesetzlichen Mindestlohn
zu verzeichnen sind, das enttäuscht viele Menschen in
unserem Land. Dass es dazu nicht kommt, dafür tragen
Sie von CDU/CSU und FDP die Verantwortung. Ein
Jahr vor der Wahl hören Sie gänzlich auf, Politik zu machen. In der Koalition geht es Ihnen nur noch um das
Profil von FDP, CDU oder CSU. Thomas Oppermann
hat es vorhin so beschrieben: eine Zeit, die diesem Land
gestohlen wird.
Wir haben Ihnen die Regierung in einer Zeit übergeben, in der wir schwierige Aufgaben gelöst hatten, auch
im Streit und durch Konflikte miteinander, und wir haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Aber am Ende sind
wir immer in der Lage gewesen, zu politischen Ergebnissen zu kommen. Sie aber verweigern die politische
Arbeit, weil die einzelnen Koalitionspartner nur noch an
das Überstehen der nächsten Wahl denken, aber nicht
mehr an den Fortschritt in unserem Land.
({10})
Das Thema Frauenquote ist ein Beweis dafür: Die einen reden so und die anderen reden so, und es kommt
nichts dabei heraus. Das Thema Mindestlohn ist ein weiterer Beweis dafür: Die einen reden so und die anderen
reden so. Auch beim Thema Betreuungsgeld gilt: Die einen reden so und die anderen reden so. - Beim letzten
Punkt ist Ihnen wirklich zu wünschen, dass dabei nichts
herauskommt. In diesem Zusammenhang wäre eine Blockade einmal eine gute Sache. Aber ob Sie den Mut haben, die Mehrheit, die es im Volk gegen diesen Unsinn
gibt, zu einer Mehrheit hier im Hause zu machen, ist zu
bezweifeln. Am Ende des Tages wird sich jeder wieder
einen Keks aus der Schublade nehmen.
Am Ende muss die Bundeskanzlerin die Verantwortung dafür tragen, dass das alles nicht zusammengeführt
wurde. Ich sage Ihnen: Eine Bundeskanzlerin, die so tut,
als hätte sie mit ihrer eigenen Regierung nichts zu tun,
hat Deutschland noch nicht gesehen. Frau Merkel trägt
die Verantwortung dafür, dass unser Land drei Jahre lang
durch Führungslosigkeit gelähmt wurde. Wir werden das
nächstes Jahr ändern.
Herzlichen Dank.
({11})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Christine Lambrecht von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Normalerweise ist der Schluss einer Aktuellen Stunde
ein bevorzugter Rednerplatz, weil man auf die vorgetragenen Argumente eingehen und sich ein bisschen daran
reiben kann. Es ist ja auch Sinn einer Aktuellen Stunde,
dass nicht jeder vorgefertigte Reden hält.
Heute fällt das ein bisschen schwer, weil ich nicht so
richtig weiß, auf welche Argumente ich eingehen soll.
Von Ihnen sind heute so gut wie keine Argumente vorgetragen worden, weil Sie bei den einzelnen Fragen zerstritten sind wie die Kesselflicker. Das Ganze eskaliert
darin, Beschimpfungen auf SPD, Grüne oder Linke zu
lenken. Der Blick auf die Themen, die doch eigentlich so
wichtig sind - Herr Kretschmer, Sie haben es selbst gesagt -, lässt die Zerrissenheit der Koalition deutlich werden. Zu diesen Themen habe ich aber von Ihnen so gut
wie kein einziges Wort gehört.
Das eine oder andere Thema möchte ich jetzt ansprechen. Sie haben gesagt, Herr Kretschmer, wir müssten
über Betreuungsgeld und Frauenquote ausführlicher diskutieren. Dazu hätten Sie heute die Gelegenheit gehabt.
Sie hätten drei weitere Redner ins Rennen schicken können. Dann hätten wir einmal darüber reden können, welche sachlichen Argumente gegen eine Quote sprechen.
Dann wäre schnell herausgekommen, dass es diese sachlichen Argumente nicht gibt. Deswegen stand ja auch
beispielsweise Frau Winkelmeier-Becker heute nicht am
Rednerpult. Sie hätte nämlich etwas ganz anderes gesagt. Hier wurden keine sachlichen Argumente angeführt, die tatsächlich begründen, warum wir auf eine
Quote verzichten sollten.
Frau Bracht-Bendt, Sie haben gesagt, dass Sie eine
Selbstverpflichtung der Wirtschaft wollen und dass das
Ihr Kurs ist. Dazu kann ich nur sagen: Damit sind Sie elf
Jahre zu spät dran. Bereits im Jahr 2001, also vor elf Jahren, gab es eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft
- man kann beklagen, dass wir das damals so gemacht
haben -, und auch damals wurde gesagt: Führt die Quote
nicht ein, wir regeln das alleine, wir klären das, wir sorgen dafür, dass Frauen in entsprechende Führungspositionen kommen. - Jetzt schauen wir uns doch einmal die
Bilanz an. Wie sieht es heute aus? 85 Prozent der Aufsichtsräte und 97 Prozent der Vorstände sind weiterhin
Männer. Jetzt frage ich mich: Was hat diese Selbstverpflichtung in den letzten elf Jahren gebracht?
({0})
Nichts! Und darauf wollen Sie weiter setzen. Das kann
doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
({1})
Herr Kolb, Sie haben gesagt, dass alle in der FDP einer Meinung sind. Sie sollten einmal Ihre Sitznachbarin
fragen. Frau Laurischk sieht das nämlich ganz anders.
Sie ist eine Unterstützerin der Berliner Erklärung. Sie
unterstützt die Forderung nach einer Quote. Sie ist nicht
irgendwer, sondern Vorsitzende eines der wichtigsten
Ausschüsse, nämlich des Ausschusses für Frauen, Familie, Jugend und Senioren.
({2})
Vielleicht klären Sie erst einmal in Ihrer eigenen Fraktion, ob man tatsächlich geschlossen gegen die Quote ist.
Selbst in solchen Beiträgen wird deutlich, dass Sie total
zerstritten sind.
Ich möchte noch auf ein Argument von Frau BrachtBendt eingehen. Sie hat gesagt, jetzt werde alles besser
werden, das entwickle sich alles, die Frauen sollten nur
noch ein bisschen Geduld haben. Wir müssen feststellen,
dass Frauen mindestens genauso gut ausgebildet sind
wie Männer, dass Frauen mindestens genauso gute Qualifikationen mitbringen, aber dennoch - ich habe die
Zahlen genannt - 85 bzw. 97 Prozent der Führungspositionen an Männer gehen. Da stellt man sich doch die
Frage: Wird wirklich nach Qualität entschieden?
Ich zitiere den Personalvorstand der Telekom. Er hat
auf die Frage, ob die Qualität entscheidet, ziemlich freimütig geantwortet - das kann man nachlesen -:
Entscheidungen fallen ebenso durch Seilschaft,
Treuebonus, Netzwerke, strategisches Platzieren
von Vertrauten und Vitamin B wie durch Qualität.
Das wollen Sie weiterhin so haben. Sie wollen akzeptieren, dass Entscheidungen weiterhin so gefällt werden.
Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
({3})
Deswegen kann ich sehr gut verstehen, dass den Kolleginnen und Kollegen, insbesondere den Kolleginnen,
im Bundesrat die Hutschnur geplatzt ist und dass sie gesagt haben: Uns reicht es jetzt. Es gibt keine Sachargumente gegen eine Quote, und deswegen lassen wir uns
nicht länger an die Leine nehmen. Wir lassen uns nicht
länger verpflichten, gegen ein sinnvolles Instrument zu
stimmen. - Deswegen gab es dieses Abstimmungsverhalten. Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen aus der
CDU/CSU-Fraktion, vielleicht auch Frau Laurischk,
sich im anstehenden Verfahren verhalten.
Frau Winkelmeier-Becker hat in einer Debatte im Dezember letzten Jahres erklärt:
Wer glaubt, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode abwarten, ohne dass sich an dieser Stelle
etwas tut, der hat den Schuss nicht gehört.
Damit hat sie recht. Deswegen hätte ich mir gewünscht,
dass sie sich heute hier hingestellt und sich den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundesrat angeschlossen
hätte.
Es wird spannend werden, zu beobachten, wie Sie mit
der Zerrissenheit in Ihren eigenen Reihen - jeder gegen
jeden - umgehen werden: die Bundesländer gegen die
Bundestagsfraktion, und innerhalb der Bundestagsfraktion gibt es auch eine große Gruppe, die anderer Auffassung ist. Dann haben Sie einen Koalitionspartner, der der
Meinung war, dass Sie alle auf Linie sind, wenn es um
die Quote geht. Jetzt muss er aber feststellen, Herr Kolb,
dass einige doch anders denken. Ich bin gespannt, wie
Sie mit dieser Zerrissenheit umgehen werden. Vielleicht
holen Sie ja die Keule „Fraktionsdisziplin“ heraus. Ich
bin gespannt, ob selbstbewusste Abgeordnete sich das
gefallen lassen, ob sie sich in so einer Frage an die Leine
nehmen lassen, ob sie sich einen Maulkorb verpassen
lassen und gegen ihre Überzeugung stimmen. Wir werden diese Abstimmung sehr genau verfolgen.
({4})
Herr Kretschmer, Sie haben gesagt, dass Sie Ihren
Kurs innerhalb der Koalition fortsetzen werden.
({5})
Dazu muss ich zum Schluss sagen: Die Menschen empfinden so eine Ansage als Drohung. Dass Sie diesen
Zickzackkurs, diese Geisterfahrt weiter fortsetzen wollen, kann in diesem Land nur als Drohung empfunden
werden. Ich freue mich darauf, wenn damit endlich
Schluss ist.
Vielen Dank.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen
Rentenversicherung für das Jahr 2013 ({0})
- Drucksache 17/10743 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenbeiträge nicht absenken - Spielräume
für Leistungsverbesserungen nutzen
- Drucksache 17/10779 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Haushaltsausschuss
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung ({3})
- Drucksache 17/10775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht darüber Einvernehmen? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen heute den Entwurf des Beitragssatzgesetzes 2013
ein. Die vorgesehene Senkung der Beiträge entspricht
der Rechtslage und ist auch eine Frage von Verlässlichkeit. In einem solchen Umlagesystem wie dem unseren,
einem System einer solidarischen Rentenfinanzierung,
muss sich die einzahlende Generation darauf verlassen
können, dass sie nur so stark belastet wird, wie es die
Renten der aktuellen Rentnergeneration tatsächlich erforderlich machen, und nicht darüber hinaus.
({0})
Es geht um eine Entlastung um voraussichtlich
5,4 Milliarden Euro. Die Rücklage der Rentenkasse läuft
- untechnisch gesprochen - gewissermaßen über, und
zwar dank der guten Konjunktur. Die aktuelle Debatte
dreht sich aber nicht darum, sondern eher um ein strukturelles Problem in der Rentenversicherung, nämlich um
die Frage: Wie können wir die Gerechtigkeitslücke im
Rentensystem, die sich für Geringverdiener immer weiter auftut, schließen? Gerade auch für Geringverdiener,
die jahrzehntelang Vollzeit gearbeitet und eingezahlt haben, muss die goldene Regel einer solidarischen Rentenversicherung gelten: Leistung muss sich auch im Rentensystem lohnen, sonst verliert das Rentensystem seine
Legitimation. Ich finde, auch zusätzliche Vorsorge muss
sich zum Schluss auszahlen.
Es ist gut, dass das Problem inzwischen erkannt worden ist; sonst wäre die Debatte nicht so breit. Es geht um
das Problem, dass, wenn wir jetzt nichts tun, bei sinkendem Rentenniveau
({1})
eine Situation eintritt, dass Geringverdiener nach 35, 40
oder 45 Jahren Beitragszahlungen zum Sozialamt gehen
und dort Grundsicherung beantragen müssen, statt eine
auskömmliche Rente aus dem Rentensystem zu bekommen.
({2})
Wenn es nach langem Arbeitsleben für den Lebensunterhalt nicht reicht, werden wir - nur so kann eine Lösung aussehen - durch Steuermittel aufstocken müssen.
Die Frage ist - das ist eine Gretchenfrage -: Wo? Für die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist es erst einmal irrelevant, ob die Steuermittel in die Grundsicherung gehen oder in das Rentensystem. Aber für die Menschen,
die jahrzehntelang eingezahlt haben und die immer unabhängig von Leistungen des Staates waren, macht es einen himmelweiten Unterschied, ob sie am Ende eines
arbeitsreichen Lebens den Gang zum Sozialamt antreten
müssen und Grundsicherung bekommen oder ob sie ihre
eigene Rente aus der Rentenversicherung bekommen.
Das ist auch eine Frage von Würde und Wert von Arbeit.
({3})
Deshalb steht hier auch die Legitimität des Rentensystems auf dem Prüfstand. Wenn wir nichts tun und
wenn in den kommenden Jahren Geringverdiener nach
40 oder 45 Jahren Arbeit und Beitragszahlungen zunehmend in der Grundsicherung landen, dann blutet das solidarische Rentensystem langsam, aber sicher von unten
aus. Deshalb finde ich, dass wir hier in einer grundsätzlichen Debatte und auch an einer Wegscheide sind.
Es muss einen Unterschied machen, ob man ein Leben lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet und
Pflichtbeiträge gezahlt hat und dann im Alter eine eigene
Rente aus der Rentenversicherung bekommt, oder nicht.
Es kann nicht sein, dass man dann im Alter in die Grundsicherung fällt wie diejenigen, die keinen Cent eingezahlt haben und keinen einzigen Tag gearbeitet haben.
({4})
Das entwertet nicht nur Arbeit, sondern das entwertet
auch Leistung. Für mich gilt immer noch das Prinzip,
dass sich Lebensleistung und Arbeit auch in der Rente
auszahlen müssen, meine Damen und Herren.
({5})
Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD. Was das Prinzip der Solidarrente betrifft, haben
Sie die richtige Entscheidung getroffen, nämlich die Entscheidung, nach einer Lösung im Rahmen der Rentenversicherung zu suchen; das macht die Solidarrente ja
der Zuschussrente so ähnlich. Aber was für eine Enttäuschung sind die letzten 14 Tage gewesen, als Sie angefangen haben, Ihr Rentenkonzept zu präzisieren! Ihnen
ist innerhalb von 14 Tagen plötzlich der Mut abhandengekommen, zu Ihren eigenen Reformvorschlägen zu stehen.
({6})
Jetzt schlagen Sie vor, man solle nach 45 Versicherungsjahren - nicht Beitragsjahren, sondern Versicherungsjahren - abschlagsfrei in Rente gehen können. Das ist die
klare Absage an „Arbeiten bis 67“. Sie machen eine
Rolle rückwärts.
({7})
Dass Sie von Versicherungsjahren sprechen, hat zur
Folge, dass auch Zeiten des Studiums, Zeiten von
Krankheit, die Schulzeit, Zeiten der Kindererziehung
und der Pflege berücksichtigt werden. Für Akademikerinnen und Akademiker wie mich - ich habe acht Jahre
studiert - bedeutet dies, dass die Zeit des Studiums als
Versicherungszeit mitgezählt wird.
({8})
Abschlagsfrei nach 45 Jahren in Rente gehen zu können,
ganz egal, wie alt man ist, bedeutet: Dann können sehr
viele frühzeitig in Rente gehen und unbegrenzt hinzuverdienen. Ihr System hätte zur Folge, dass man 8 bis
10 Milliarden Euro obendrauf benötigen würde. Wer
muss das zahlen?
({9})
Die junge Generation.
({10})
Diese Rechnung geht nicht auf.
Die Lebenserwartung unserer Generation ist in den
letzten 50 Jahren um durchschnittlich zehn Lebensjahre
gestiegen. Unsere Generation hat allerdings nur relativ
wenige Kinder bekommen. Diese Kinder werden später
unsere Renten zahlen müssen. Es kann doch nicht sein,
dass Sie mitten in dieser Zeit eine Rolle rückwärts machen und sagen: Ihr könnt früher aus dem Arbeitsleben
ausscheiden.
Ich bin dafür, dass Menschen, die körperlich am Ende
sind, aus dem Arbeitsleben ausscheiden können - für sie
müssen wir einen Übergang organisieren -,
({11})
aber ich bin nicht dafür, dass Leute, die topfit sind, nach
45 Jahren einfach Tschüss sagen können. Das, meine
Damen und Herren, geht nicht.
Wenn man sich Ihr Rentenkonzept anschaut, dann
sieht man, dass Sie bei den Beitragsmitteln auf einen Betrag von bis zu 25 Milliarden Euro zusätzlich kommen,
den Sie der jungen Generation mal eben vor die Füße
werfen.
({12})
Hinzu kommen Steuermittel in Höhe von 8 bis 10 Milliarden Euro. Deshalb, meine Damen und Herren von der
Opposition: Wer das Rad der Reformen zurückdrehen
will, der schließt keine Gerechtigkeitslücke.
Frau von der Leyen?
Stellen Sie sich dieser Lücke, ohne eine Rolle rückwärts zu machen.
Danke schön.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der
Kollegin Bulling-Schröter.
({0})
- Das Unterbrechen einer Rede ist manchmal nicht so
leicht, wenn keine Pause zum Luftholen gemacht wird.
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Josip Juratovic
von der SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Nach Ihrem Vortrag habe ich das Gefühl, Sie
haben sich in der Tagesordnung vertan.
({0})
Sie haben gerade zu einem völlig anderen Thema als zu
dem gesprochen, das wir laut Tagesordnung jetzt zu behandeln haben.
({1})
In der Tagesordnung steht, dass es in dieser Debatte um
die Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen
Rentenversicherung für das Jahr 2013 geht. Aber Sie haJosip Juratovic
ben über eine Rentenreform gesprochen und einen
Rundumschlag gemacht.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, hier
wird ja oft und gerne die schwäbische Hausfrau zitiert,
wenn es um die Haushaltspolitik geht. Für mich als
Schwaben gilt die Weisheit: Man muss in guten Zeiten
sparen, um in schlechten Zeiten etwas zu haben.
({2})
Diese Weisheit muss auch im Hinblick auf die Rentenversicherung gelten.
({3})
Wir müssen in konjunkturell guten Zeiten etwas zurücklegen, damit wir davon zehren können, wenn die Wirtschaft nicht so gut läuft, wenn viele Renten ausgezahlt
werden müssen und es weniger Beitragszahler gibt, sei
es aufgrund höherer Arbeitslosigkeit oder aufgrund des
demografischen Wandels.
({4})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Sie planen das Gegenteil dessen, was die schwäbische
Hausfrau machen würde.
({5})
Sie wollen jetzt die Ersparnisse der Rentenversicherung
ausbezahlen und die Beitragssätze später schnell und
kräftig erhöhen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, dass
Sie sich schon jetzt überlegen müssen, wie Sie den Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Jahre 2020 erklären
wollen, dass die Beiträge zur Rentenversicherung ziemlich abrupt stark steigen werden.
({7})
- Möglicherweise werdet ihr nicht regieren.
({8})
Wir Sozialdemokraten wollen dagegen einen stabilen
Beitragssatz von 19,6 Prozent, der bis 2025 gesichert ist.
Wir wollen kein Hickhack wie die Bundesregierung, die
die Beiträge jetzt wahrscheinlich aus wahltaktischen
Gründen senken will, um sie später massiv zu erhöhen.
({9})
In unserem SPD-Gesetzentwurf wird zudem das Sparen
erlaubt, indem die Regelung aufgehoben wird, dass die
Rentenversicherung maximal bis zum Eineinhalbfachen
ihrer monatlichen Ausgaben ansparen darf.
Die schwäbische Logik, dass man in guten Zeiten
spart, wird auch von den allermeisten Menschen in unserem Land geteilt.
({10})
Knapp 80 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger sind dafür, jetzt bei der Rentenversicherung Geld zu belassen,
anstatt später mit einem hohen Anstieg der Beiträge konfrontiert zu werden. Ich freue mich, dass auch einige
junge CDU-Abgeordnete dies so sehen.
({11})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
man muss keine Politik nach Umfrageergebnissen machen, aber wenn eine derart breite Mehrheit gegen die eigenen Pläne ist, dann sollte man schon noch einmal darüber nachdenken, ob die Menschen in unserem Land
nicht vernünftiger sind, als es ihnen einige hier zutrauen.
({12})
Herr Kolb, Sie sagen öffentlich: Die Rentenversicherung ist keine Sparkasse, deswegen muss das überschüssige Geld ausbezahlt werden.
({13})
Gleichzeitig nutzt Ihre Regierung die Rentenversicherung im aktuellen Haushalt aber als Sparkasse, und zwar
zum Abheben.
({14})
Mit dem sogenannten Konsolidierungsbeitrag und dem
Vorwegabzug bedient sich die Bundesregierung munter
mit über 2 Milliarden Euro jährlich aus der Rentenkasse.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie sagen, dass Sie der Rentenversicherung das
Ansparen von Geld verbieten, weil sie keine Sparkasse
sei, dann dürfen Sie die Rentenversicherung auch nicht
als Sparkasse zum Abheben benutzen.
({16})
Sie kennen mich hier im Plenum des Bundestages als
einen Verfechter von guten Löhnen für gute Arbeit. Das
ist eines der wichtigsten Elemente, um Altersarmut in
Zukunft zu vermeiden. Nur wer einen guten Lohn hat,
bekommt später auch eine gute Rente.
({17})
Frau von der Leyen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie sich endlich auch einmal dafür einsetzen würden,
dass wir einen flächendeckenden Mindestlohn bekommen,
({18})
und Sie nicht immer nur von Armut reden und nicht immer nur die Menschen bemitleiden und der Welt erklären
würden, wie schlimm es mit den Armen aussieht. Man
muss auch etwas dagegen tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
lesen Sie unseren Gesetzentwurf sorgfältig, und handeln
Sie mit uns Sozialdemokraten und damit mit 80 Prozent
unserer Gesellschaft, die vernünftigerweise dagegen
sind, den Beitragssatz zu senken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Juratovic,
um mit Ihrer Bemerkung zur Sparkasse anzufangen: Ja,
die Nachhaltigkeitsrücklage hat in der Tat eine Liquiditätsausgleichsfunktion. Das hat man an dem früheren
Namen „Schwankungsreserve“ noch deutlicher erkennen
können, aber auch bei der Nachhaltigkeitsrücklage geht
es schlicht und einfach darum, unterjährige Schwankungen der Liquidität der Rentenversicherung,
({0})
aber auch kurzfristigere Schwankungen der Liquidität
im Konjunkturzyklus auszugleichen.
({1})
Ich will zunächst einmal sehr deutlich darauf hinweisen, dass das auch nach der von uns beabsichtigten Beitragssenkung so sein wird.
({2})
Am Ende des Jahres 2013 wird die Nachhaltigkeitsrücklage trotz Beitragssenkung 28 Milliarden Euro betragen
und damit den höchsten Stand in der jüngeren Geschichte der Rentenversicherung haben. Das heißt, hier
sind ausreichend Mittel und Reserven vorhanden, um
auch künftig solche Ausgleiche darstellen zu können.
({3})
Der Gesetzgeber hat 1992 Bandbreiten festgelegt, die
immer wieder einmal variiert wurden. Auch die SPDFraktion hat hieran zu ihrer Regierungszeit kräftig mitgewirkt. Aber es bestand immer Konsens darüber, dass
es erstens darum geht - ich könnte Ihnen dazu Zitate liefern, ich habe sie dabei -, mit möglichst niedrigen Rentenbeiträgen dämpfend auf die Lohnnebenkosten einzuwirken. Das hat hier Herr Riester betont. Das hat Frau
Mascher, als sie noch Staatssekretärin war, in diesem
Hause erklärt.
({4})
- Ich weiß, Frau Kollegin Ferner, das spielt für die SPD
keine entscheidende Rolle mehr.
({5})
Für uns ist das zweitens weiterhin ein Argument, weil
es darum geht, in einer globalen Wirtschaft wettbewerbsfähig zu sein und dafür zu sorgen, dass in Deutschland ein möglichst hohes Maß an Beschäftigung erhalten
wird. Dann spielen auch solche Fragen eine Rolle.
Es geht hier drittens schlicht und einfach um die Entlastung der Beitragszahler in einer Größenordnung von
6 Milliarden Euro.
({6})
Das ist deren Geld. Es muss den Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmen auch zurückgegeben
werden, weil sie es in die Kasse eingebracht haben.
Wenn es derzeit nicht gebraucht wird, dann ist es gut investiertes Geld.
Ich will Ihnen das einmal vor Augen führen. Wenn
wir zu der Entlastung von 6 Milliarden Euro das Entlastungsvolumen von 6,5 Milliarden Euro durch die Beseitigung der kalten Progression hinzufügen, was Sie derzeit im Vermittlungsausschuss blockieren, dann ist das
ein recht schönes, ansehnliches Konjunktur- und Wachstumspaket von 12,5 Milliarden Euro, mit dem man gerade in der jetzigen Situation, in der wir nicht so recht
wissen, wie es mit der Konjunktur weitergeht, einen
nachhaltigen Effekt erzielen könnte.
Sie wollen das nicht. Sie marginalisieren das. Sie sagen: Das sind vielleicht 3,50 Euro oder 4 Euro pro Beitragszahler. Für einen Durchschnittsverdiener, einen Arbeitnehmer, ist das immerhin eine Entlastung von
100 Euro.
({7})
- Nein, im Jahr. - Sie sagen vielleicht: Das ist wenig.
Für die betroffenen Menschen ist das aber wirklich Geld.
Ich glaube, sie sind dankbar, wenn sie es zurückbekommen.
Aber es ist längst nicht nur das - das vergessen Sie
nämlich in der Debatte immer -: Es werden noch andere
entlastet.
({8})
Durch den abgesenkten Beitrag werden zum Beispiel die
Länder und Kommunen entlastet, in denen nicht nur Beamte, sondern auch Angestellte tätig sind, für die Rentenbeiträge entrichtet werden müssen. Von der Absenkung des Rentenbeitrags profitieren am Ende auch die
Rentner, die im folgenden Jahr eine um 0,8 Prozentpunkte höhere Rentenanpassung bekommen werden,
weil wir zum 1. Januar 2013 den Rentenbeitrag senken.
Diese Mechanismen in der Rentenversicherung sind
nicht immer für jeden durchschaubar. Aber das ist ein
Argument. Ich glaube, die Rentnerinnen und Rentner in
diesem Lande werden uns sehr dankbar dafür sein, dass
wir durch die Ausnutzung von Spielräumen positiv auf
ihre Renten einwirken.
({9})
Schließlich komme ich auf Ihre Idee zu sprechen:
Man möge doch auf die Beitragssenkung verzichten und
das Geld ansammeln, dann sei genug da, um das Rentenniveau bis 2030 zu stabilisieren. Die Wahrheit, die dahintersteckt, ist folgende: Wer das wirklich will, der
muss den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel abschaffen.
({10})
Da warne ich aber Neugierige. Herr Kollege Juratovic,
Sie erinnern sich noch: Die SPD war schon einmal auf einem solchen Trip. Die Koalition Kohl/Kinkel hatte einen
demografischen Faktor eingeführt. Schröder hat damit
Wahlkampf gemacht, dass er ihn beseitigen werde. Fünf
Jahre nach seiner ersten Wahl hat er in diesem Haus, an
diesem Podium einräumen müssen: Es war ein Fehler gewesen, dass wir diesen demografischen Faktor abgeschafft haben. Er hat den Nachhaltigkeitsfaktor - er sollte
mit einem anderen Namen ein bisschen besser aussehen,
ist aber wirkungsgleich - wieder eingeführt.
Nur wenn Sie diesen Nachhaltigkeitsfaktor abschaffen, können Sie die Absenkung des Rentenniveaus verhindern, die im Übrigen nicht im Gesetz steht. Auch da
denken Sie falsch, an dieser Stelle liegen Sie nicht richtig. Es steht nicht im SGB VI: Das Rentenniveau wird
auf 43 Prozent abgesenkt. - Dort ist nur von einer Überwachungsmarke die Rede. Sollte das Niveau in diese
Größenordnung absinken, muss der Gesetzgeber tätig
werden. Aber die Entwicklung ist durchaus differenziert
zu sehen. Im letzten Jahr hat der Nachhaltigkeitsfaktor
sogar rentensteigernd gewirkt.
({11})
Das ist also kein Automatismus. Wir sind derzeit deutlich besser unterwegs, als man es vermuten konnte. Das
Rentenniveau wird nach allem, was wir wissen, auch im
Jahr 2025 noch deutlich über 46 Prozent liegen. Das ist
auch ein Erfolg der guten Beschäftigungspolitik dieser
Bundesregierung.
({12})
Wenn Sie jetzt wissen wollen: „Was kann man tun?“,
dann empfehle ich Ihnen den Kommentar von Peter
Thelen in der heutigen Ausgabe im Handelsblatt. Er
sagt: Es geht jetzt darum, die Erwerbstätigenquote möglichst hoch zu halten. Es war richtig, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen. Er schreibt, wir sollten
versuchen, mehr Teilzeitbeschäftigung in Vollzeitbeschäftigung umzuwandeln, weil das - das ist im SGB VI
geregelt und kompliziert - zu mehr Äquivalenzrentnern
und Äquivalenzbeitragszahlern führt, also über den
Nachhaltigkeitsfaktor positiv auf das Rentenniveau
wirkt. Er schreibt, der Effekt wäre auch dann positiv,
wenn es uns gelingt, mehr über 60-Jährige als bisher in
Beschäftigung zu halten. Dafür werben wir seit Jahren
mit flexiblen Übergängen vom Erwerbsleben in den Ruhestand.
Schädlich, schreibt er, wären Mindestlöhne. Denn
diese würden wahrscheinlich dazu führen, dass in
Deutschland viele Arbeitsplätze von Beschäftigten verloren gingen,
({13})
die heute mit in unsere Sozialkassen einzahlen.
Deswegen: Sie sollten von Ihren Plänen Abstand nehmen. Das Fairste und Gerechteste wäre es, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jetzt das zurückzugeben, was ihnen zusteht, nämlich das, was zu viel an
Beiträgen in der Rentenkasse vorhanden ist.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Matthias Birkwald.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundesministerin von der Leyen hat gesagt:
„Wir müssen heute handeln, damit uns diese Welle der
Altersarmut nicht eines Tages überrollt.“ Sie hat völlig
recht.
Doch was tut sie? Ihre Zuschussrente gleicht dem
Versuch, eine Flutwelle mit Regenschirmen bekämpfen
zu wollen. Aber die Mehrheit von CDU/CSU und FDP
gönnt den Menschen nicht einmal die Regenschirme.
Das ist bitter, und das ist schäbig. Doch das ist SchwarzGelb, und genau das muss sich ändern.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und
FDP wollen nichts Wirksames gegen die Rentenarmut
tun. Das ist schlimm genug. Aber schlimmer noch:
Union und Liberale sind dabei, mit der Beitragssatzsenkung weiter Öl ins Feuer zu gießen. Das ist ungeheuerlich.
Alle drei Vizekanzlerkandidaten der SPD spielen dieses böse Spiel auch noch mit, wenn sie an der Absenkung des Rentenniveaus weiterhin festhalten wollen.
({1})
Das müssen alle wissen, wenn wir heute auch über den
Gesetzentwurf der SPD reden. Denn dieser Gesetzentwurf sieht keine Leistungsverbesserungen vor, weder für
die heutigen Rentnerinnen und Rentner noch für die zukünftigen.
Ich sagen Ihnen: Wir brauchen keinen Demografiefonds. Wir brauchen einen Rentenarmutsverhinderungsfonds, um es mal auf Von-der-Leyisch zu sagen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union, FDP und
SPD, Sie wollen über Rentenarmut reden - gut. Aber
eine zentrale Ursache dafür wollen Sie unangetastet lassen, nämlich das Rentenniveau. Es soll weiter bis zum
Jahr 2030 beständig sinken, und zwar - ich formuliere
korrekt, Herr Kollege Kolb - im schlimmsten Fall von
heute knapp 50 Prozent auf magere 45 oder sogar nur
43 Prozent. Wenn sich daran nichts ändert, werden in
Zukunft Millionen von fleißigen Menschen, Frau Ministerin, mit Armutsrenten in der Altersarmut landen.
Darum sagen wir Linken Ihnen: Das Rentenniveau
muss wieder angehoben werden, und zwar so, dass der
Lebensstandard wieder gesichert wird,
({3})
und so, wie es vor dem Rentenkahlschlag von SPD und
Grünen gewesen war. Das Mindeste ist, das Rentenniveau jetzt nicht weiter zu senken. Darum dürfen auch die
Rentenversicherungsbeiträge nicht weiter gesenkt werden.
({4})
Meine Damen und Herren, der Deutsche Gewerkschaftsbund hat recht. Das Vorstandsmitglied Annelie
Buntenbach hat gestern gesagt: „Wer den Rentenbeitrag
senkt, erhöht das Altersarmutsrisiko der jungen Generationen.“ So ist es. Darum ist es kein Wunder, dass
86 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dafür sind, Frau
Ministerin, die Beiträge jetzt nicht zu senken. Das ist der
größte Wert in der gesamten Bevölkerung. Das ist auch
verständlich. Denn wer 2 000 Euro brutto im Monat verdient, würde für den Rentenbeitrag nur 6 Euro weniger
zahlen. Für Beschäftigte mit Durchschnittsverdienst wären es gerade einmal 8 Euro.
Was aber sind 8 Euro weniger im Vergleich zu den
drastischen Rentenkürzungen, die mit dem sinkenden
Rentenniveau zu erwarten sind? Was ist, Herr
Straubinger, noch nicht einmal eine Maß Bier auf dem
Oktoberfest im Vergleich zu den drastischen Kürzungen
durch die Rente erst ab 67?
({5})
Die jungen Beschäftigten haben das verstanden, und genau deshalb dürfen die Beiträge im Interesse der jungen
Generation, Frau Ministerin, nicht abgesenkt werden.
Wenn Union und FDP heute die Beiträge senken wollen, dann müssen sie auch sagen, dass den heute jungen
Beschäftigten morgen, im Rentenalter, die Rechnung dafür präsentiert wird. Die Rechnung wird für die jungen
Beschäftigten heute heißen: niedrige Renten und massenhaft Armutsrenten. Das darf nicht sein. Ihnen das zu
sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU,
CSU und FDP, dazu sind Sie aber leider zu feige.
Wir brauchen wirklich jeden Cent, um Altersarmut zu
vermeiden. Dazu gehört: Die Rente erst ab 67 abschaffen! Dazu gehört auch, die ungerechten Abschläge für
Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen - oder
weil sie schlicht nicht mehr arbeiten können - vorzeitig
in die Erwerbsminderungsrente gehen müssen, abzuschaffen. Dazu gehört, endlich die Rehaleistungen nach
dem tatsächlichen Bedarf und nicht nach der Kassenlage
zu finanzieren.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Eine andere,
eine bessere Rentenpolitik ist nötig, und sie ist machbar.
Herzlichen Dank.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, wir haben im Moment ja eine ganze
Reihe von Baustellen in der Rentenversicherung: Dabei
geht es um die Altersarmut und die soeben zu Recht angesprochene Erwerbsminderungsrente. Wir müssen etwas beim Rehadeckel ändern, und die bessere Absicherung von Selbstständigen sowie die Angleichung der
Renten in Ost und West müssten eigentlich angegangen
werden. Die Liste ließe sich noch weiter verlängern.
In so einer Situation sind zwei Dinge wichtig: Erstens. Man muss all diese Projekte zusammendenken.
Zweitens. Man muss langfristig herangehen. Denn die
Rente braucht vor allen Dingen eines: Verlässlichkeit.
In beiden Punkten versagt diese Bundesregierung,
insbesondere die Ministerin, weil die einzelnen Aspekte
nicht zusammengedacht werden. Es wird alle paar Wochen wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Gestern war es die Riester-Rente, vor ein paar Wochen war
es die Altersarmut und vor ein paar Monaten waren es
die Selbstständigen, die sich zu Recht dagegen gewehrt
haben, was ihnen in diesem Zusammenhang vorgeschlagen worden ist. Man muss die Dinge wirklich zusammendenken.
({0})
Das geschieht aber nicht.
Außerdem muss man langfristig denken. Damit bin
ich bei dem Beitragssatz. Es hat bisher noch niemand
deutlich gesagt, dass die jetzige Beitragssatzsenkung in
bereits wenigen Jahren eine um so stärkere Beitragssatzsteigerung bedeutet.
({1})
Das kann man den Berechnungen der Bundesregierung
entnehmen und im letzten Rentenversicherungsbericht
nachlesen, Herr Straubinger. Spätestens 2019 soll der
Beitragssatz wieder stärker ansteigen. Das ist auch logisch; denn wir brauchen aufgrund der demografischen
Entwicklung in der Zukunft ja einen höheren Beitrag.
Wenn wir jetzt weiter heruntergehen, muss der Beitragssatz später umso stärker ansteigen. Auch von daher wäre
es das Beste, eine möglichst konstante Beitragssatzentwicklung zu haben. Das ist insbesondere für die Wirtschaft, die Ökonomie, aber auch für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger besser, weil sie sich darauf verlassen
können.
({2})
Also, das Ganze ist Stückwerk und sehr kurzfristig
gedacht. Das ist vielleicht verständlich; denn die Regierung plant nur noch bis September nächsten Jahres, weil
es dann eine neue Regierung geben soll.
Jetzt, da so viel grundsätzlich über die Rente diskutiert wird, wäre der richtige Zeitpunkt, über diesen Anpassungsmechanismus nachzudenken. Wir haben jetzt
sinkende Renten und sinkende Beitragssätze, und das
kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
In der Haushaltsdebatte gab es zum Beispiel einen
Vorschlag des Kollegen Karl Schiewerling aus Ihrer
Fraktion, über den man nachdenken könnte, nämlich die
Nachhaltigkeitsrücklage auf drei Monatsausgaben zu erhöhen. Es ist wichtig, die Dinge einmal zusammenzudenken und zu schauen: Was brauchen wir, wie soll es finanziert werden, und wie bekommen wir das mit
stabilen Beitragssätzen hin?
Ich möchte zum Schluss noch auf das Rentenniveau
eingehen. Dazu hatte Herr Kolb tatsächlich etwas Richtiges gesagt.
({3})
Er hat gesagt, die Senkung des Rentenniveaus stehe in
keinem Gesetz und sei auch von niemandem - auch
nicht von Rot-Grün - beschlossen worden. Wir haben
damals vielmehr gesagt, dass wir die Rente umstellen
und eine konstante Beitragssatzentwicklung wollen. Das
ist eine sehr vernünftige Sache. Das Rentenniveau entwickelt sich dann nach der Rentenformel.
In der Rentenformel gibt es zwei wesentliche Punkte,
nach denen sich das Rentenniveau bestimmt.
({4})
Der erste ist die Lohnhöhe, und der zweite sind die Menschen, die in die Rentenversicherung einzahlen. Bei beiden Punkten gibt es noch sehr viel Luft nach oben.
Punkt eins. Wir brauchen bessere Löhne. Wir brauchen
einen Mindestlohn, branchenspezifische Mindestlöhne
und eine stärkere Tarifbindung. Insgesamt brauchen wir
höhere Löhne. Allein dadurch würde das Rentenniveau
steigen.
({5})
Punkt zwei. Auch bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist noch Luft nach oben, und zwar
deutlich. Es wird gerühmt, dass wir zurzeit mit ungefähr
29 Millionen relativ hoch liegen. Aber es gibt insgesamt
40 Millionen Erwerbstätige. Die Lücke zwischen der
Zahl der Erwerbstätigen und der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war selten so groß wie
heute. Das heißt, wir müssen dazu kommen, dass diejenigen, die erwerbstätig sind und nicht in die Rentenversicherung einzahlen, wieder rentenversicherungspflichtig werden.
Auch das ist eine Möglichkeit, um langfristig das
Rentenniveau zu erhöhen, und zwar bei einer stabilen
Beitragsentwicklung. Aber dafür muss man nachhaltig
agieren und die Dinge zusammendenken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, die Lücke zwischen der
Zahl der möglichen Erwerbstätigen - das sind 50 Millionen - und den tatsächlich Erwerbstätigen - das sind
41 Millionen - war noch nie so klein. Früher war das anders. Als noch Rot-Grün regiert hat, gab es nur 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Nun
sind es 29 Millionen. Das ist der große Erfolg der Bundesregierung.
({0})
Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der Rentenversicherung wider.
Die Koalition steht für Verlässlichkeit in der Rentenpolitik. Unter Rot-Grün wurde die Nachhaltigkeitsrücklage auf 1,5 Monatsausgaben festgesetzt. Möglicherweise hat damals niemand von Rot-Grün daran gedacht,
dass diese Rücklage jemals erreicht werden wird.
({1})
Nun haben wir es erreicht. Das führt automatisch dazu,
dass wir die Rentenversicherungsbeiträge zu senken
haben. Das tun wir auch. Unser Ansinnen ist nicht wahlkampftaktisch geprägt. Vielmehr kommen wir dem gesetzlichen Auftrag nach, die Rentenversicherungsbeiträge zu senken. Dies ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, der Betriebe in unserem Land sowie
der Rentnerinnen und Rentner. Aufgrund der Nettolohnbezogenheit werden höhere Rentenanwartschaften im
nächsten Jahr erworben. Dies ist die positive Botschaft,
die aus unserer Rentengesetzgebung resultiert.
({2})
Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Birkwald von der Fraktion Die Linke?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank, Herr
Straubinger, dass Sie meine beiden Zwischenfragen zulassen. - Die erste Frage lautet: Sie haben eben gesagt,
es sei gesetzlich festgelegt, dass die Nachhaltigkeitsrücklage ab einer bestimmten Größenordnung gesenkt
werden müsse. Stimmen Sie mir zu, dass wir als Gesetzgeber das Gesetz ändern könnten?
Meine zweite Frage lautet: Sie stellen das alles so dar,
als ob Einigkeit in der Union herrschte. Mir liegt ein Antrag vor, der vom Saarland - dessen Ministerpräsidentin
ist Ihre CDU-Kollegin mit dem schönen, langen Namen
Kramp-Karrenbauer - im Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik des Bundesrates eingebracht wurde. Sie hat
etwas sehr Vernünftiges eingebracht. Ich zitiere:
Der Bundesrat lehnt die sich aus der aktuellen Gesetzeslage voraussichtlich ergebende Senkung des
Beitragssatzes für die gesetzlichen Rentenversicherung ab. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung stattdessen auf, dafür Sorge zu tragen, dass in
der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Ausbau der Nachhaltigkeitsrücklage zu einer Generationen-Reserve zügig begonnen wird.
Thüringen und Sachsen-Anhalt finden das auch gut.
Was sagen Sie denn dazu?
Zu Ihrer ersten Frage. Natürlich könnten wir als Gesetzgeber das ändern. Aber wir wollen das nicht ändern,
({0})
weil es im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Betriebe sowie der Rentnerinnen und Rentner
ist, wenn der Beitragssatz zum 1. Januar nächsten Jahres
auf 19 Prozent abgesenkt wird. Dann haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld in der Tasche. Sie werden bei den Beiträgen entlastet. Ich bin
schon verwundert: Die SPD und vor allen Dingen die
Linken sagen immer, die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse gestärkt werden. Wir stärken die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber Sie stellen sich dagegen. Das verstehe ich
nicht.
({1})
Wir machen das auch generationengerecht. Das Rentenniveau hängt von der Beschäftigungslage ab. Das Beschäftigungsniveau ist zurzeit sehr hoch. Ich bin zuversichtlich, dass wir es auch in Zukunft hoch halten bzw.
sogar ausbauen werden, insbesondere wenn Union und
FDP weiterhin gemeinsam regieren.
({2})
Frau Ferner, da täuschen Sie sich gewaltig.
Zu Ihrer zweiten Frage. Sicherlich gibt es auch Stimmen in der Union, die für eine höhere Nachhaltigkeitsrücklage sind. Ich frage mich aber, ob das auch gut angelegtes Geld ist. Die gesetzliche Rentenversicherung
verfügt derzeit über eine Rücklage von 28 Milliarden
Euro. Die Anlagemöglichkeiten für die Rentenversicherung sind bekanntermaßen sehr begrenzt.
({3})
Sie beschränken sich auf den Kauf von Staatsanleihen
Deutschlands - das ist in Ordnung und richtig so - und
vielleicht noch anderer Länder, die auch als sicher gelten. Diese erwirtschaften aber in der Regel einen Ertrag,
der so gering ist, dass er durch die Inflation wieder aufgezehrt wird und somit eine negative Rendite erwirtschaftet wird.
({4})
- Herr Birkwald, bleiben Sie stehen. Sie haben mich gefragt, und so viel Anstand müssen Sie schon aufbringen.
({5})
Das bedeutet: Wenn wir die Nachhaltigkeitsrücklage
noch erhöhen würden,
({6})
was Sie in Ihrem Antrag fordern und was auch im Gesetzentwurf der SPD beabsichtigt ist, würden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Verluste erleiden. Das
können wir diesen nicht zumuten.
({7})
Mit unserem Gesetzentwurf schaffen wir die gesetzliche Grundlage. Ich bin überzeugt - das habe ich schon
zum Ausdruck gebracht -, dass damit letztendlich den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betrieben
und den Rentnerinnen und Rentnern gedient ist. Angesichts der Tatsache, dass die konjunkturellen Aussichten
nicht mehr ganz so positiv sind wie in der Vergangenheit, setzen wir mit unserer Maßnahme einen konjunkturellen Impuls. Kollege Kolb hat darauf hingewiesen: Es
handelt sich um eine Entlastung von knapp 6 Milliarden
Euro für die Betriebe bzw. die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Sie blockieren zusätzlich im Bundesrat
eine steuerliche Entlastung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer durch die Abschaffung bzw. Abflachung
der kalten Progression. Insgesamt wäre das eine Entlastung von 12 Milliarden Euro. Dies würde wirtschaftsMax Straubinger
politisch einen kräftigen Impuls darstellen und für mehr
Arbeitsplätze und damit mehr Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler in unserem Land sorgen.
({8})
Deshalb sollten Sie von der Opposition sich diesem Ansinnen der Bundesregierung nicht entziehen. Im Gegenteil, Sie sollten den Gesetzentwurf der Bundesregierung
unterstützen. Das wäre meines Erachtens die bessere
Position.
Die SPD hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der
zum Ziel hat, die Begrenzung der Nachhaltigkeitsrücklage auf 1,5 Monatsrenten abzuschaffen und von jeglicher Begrenzung abzusehen. Sie von der SPD bleiben
natürlich die Antwort schuldig, wie hoch eine Nachhaltigkeitsrücklage überhaupt sein soll. Möglicherweise ist
das gar nicht vorgesehen, weil Ihr Rentenkonzept darauf
abzielt - die Kollegen haben schon darauf hingewiesen -, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ständig zu belasten, damit Sie die Rente mit 67 wieder rückgängig machen können - die Frau Bundesministerin hat
darauf hingewiesen ({9})
und um andere rentenpolitische Entscheidungen, die notwendig waren, um eine dauerhafte Beitragssatzstabilität
in der gesetzlichen Rentenversicherung in Zukunft zu erreichen, zu revidieren.
Möglicherweise wollen Sie weitere Ausgaben damit
finanzieren. Das ist das einzige Ansinnen der SPD - Herr
Kollege Juratovic, Sie schütteln mit dem Kopf -, das in
dem Gesetzentwurf, der in den Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, zum Ausdruck kommt. Sie wollen
letztendlich Finanzmittel bei den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern abkassieren, um sich eigene Wünsche zu
erfüllen und sich den Gewerkschaften wieder anzunähern. Das ist das Ansinnen Ihres Gesetzentwurfes und Ihrer Politik.
Herr Straubinger, der Kollege Ernst würde Ihnen auch
gern die Gelegenheit geben, auf eine Zwischenfrage zu
antworten.
Dem bin ich so in Herzlichkeit verbunden, da kann
ich nicht ablehnen.
Bitte schön, Herr Ernst.
Herr Straubinger, danke. - Würden Sie mir zustimmen, dass die Gelder, die jetzt in der Rentenkasse sind,
den Rentnern dann zugutekommen, wenn sie in irgendeiner Form ausgezahlt werden? Würden Sie mir auch zustimmen, dass, wenn man dieses Geld jetzt durch eine
Beitragssenkung verbrät, dies den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, die irgendwann Rentnerin und
Rentner werden, nur zur Hälfte zugutekommt, weil die
andere Hälfte ja den Arbeitgebern zugutekommt? Würden Sie unter dieser Bedingung tatsächlich den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen der SPD, die Rentenbeiträge jetzt nicht zu kürzen, ein Griff in die Tasche der
Menschen ist, die diese Beiträge erwirtschaftet haben,
also die abhängig Beschäftigten? Ist es nicht vielmehr eigentlich im Interesse gerade der jungen Generation, jetzt
durch eine vernünftige Verwendung der Rentenbeiträge
zu einer Sicherung des Rentenniveaus beizutragen, damit sie später nicht in Altersarmut geschickt wird?
({0})
Meine letzte Frage: Würden Sie unter all diesen Bedingungen den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen,
den Rentenbeitrag jetzt nicht zu kürzen, darauf abzielt,
in die Tasche der Menschen zu greifen, die in den Betrieben arbeiten?
({1})
Natürlich ist das Ganze ein Griff in die Taschen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch der
Betriebe. Vor allen Dingen, Herr Kollege Ernst, ist Ihr
Ansinnen ja nicht, eine Demografierücklage zu bilden.
({0})
Ihr Ansinnen ist, mehr Leistungsversprechen zu erfüllen.
({1})
Genau das ist nicht im Sinne der jungen Generation.
Herr Kollege Ernst, derzeit sind in Deutschland 50 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl
wird sich bis zum Jahr 2030 auf 42 Millionen vermindern. Die Prognosen besagen, dass es in Deutschland im
Jahr 2060 nur noch 32 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter geben wird. Angesichts dessen würde man
den künftigen Generationen, gerade denen, die heute
jung sind - Sie glauben, ihnen dadurch helfen zu können, dass Sie dafür eintreten, dass der Beitragssatz hoch
bleibt -, eine gewaltige Last aufbürden, eine Last, die sie
nicht mehr tragen könnten.
({2})
Das ist es, und das wollen Sie nicht wahrhaben. Sie wollen Menschen in irgendeiner Art und Weise zusätzlich
beglücken.
({3})
Aber wir stehen für eine langfristige Politik, weil wir
auch langfristig Regierungsverantwortung tragen. Das
ist entscheidend.
({4})
Wir können das verantworten.
Sie in der Opposition denken von heute auf morgen,
und damit ist die Sache für sie erledigt.
({5})
Wir bringen zielorientierte rentenpolitische Entscheidungen zustande. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur empfehlen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in
zweiter und dritter Lesung zuzustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Bettina Hagedorn von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Das, was uns die Koalition hier gerade an Redebeiträgen
geboten hat, ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten.
({0})
Da sagt die Ministerin, sie fühle sich der einzahlenden
Generation verpflichtet, und vergisst dabei, zu erwähnen, dass sie das auf dem Rücken der künftig einzahlenden Generationen tut, die sie in ihren Sonntagsreden
sonst immer so gerne vor sich herträgt. Herr Kolb deklariert die 5,4 Milliarden Euro, die durch diese Beitragssatzsenkung den Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegeben werden sollen, quasi als eine karitative
Veranstaltung. Er sagt: Die Betroffenen werden uns
dankbar sein.
({1})
Genau das ist Ihr Kalkül. Das, was Sie hier machen
- eine Rentenbeitragssatzsenkung -, ist der Kitt, der Ihre
Koalition ein Jahr vor der Bundestagswahl zusammenhalten soll. Das Ganze ist eigentlich ein Wahlgeschenk.
Es soll ein Wahlkampfschlager werden.
({2})
- Genau. Die Leute wollen es gar nicht. Sie sind
vernünftiger, als Sie denken. - Wissen Sie was? Dieses
Vorgehen ist unverantwortlich.
Vor allen Dingen versuchen Sie zu kaschieren, dass
die Bundesregierung bei dieser ganzen Nummer, mit
dieser Senkung, den eigenen Haushaltsentwurf frisiert,
und zwar um exakt 2 Milliarden Euro. Das tun Sie auf
dem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
Sie tun so, als könnten Sie im Schlafwagen die Schuldenbremse einhalten. Diese Frisiernummer machen Sie
nicht nur bei der Rente, die machen Sie auch beim
Gesundheitsfonds, die machen Sie auch bei der Bundesagentur für Arbeit und auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen, und das im milliardenschweren Bereich.
Das ist einfach unverantwortlich.
({3})
„Beitrag zur Konsolidierung“ nennt Herr Schäuble
- der Stuhl des Finanzministers ist bei dieser Debatte erstaunlicherweise leer - seinen „Vorwegabzug“ zulasten
der Rentenkasse. Das sind 1 Milliarde Euro im Jahr 2013
und 1,25 Milliarden Euro jeweils bis 2016, sprich
4,75 Milliarden Euro bis zum Ende des Finanzplanraums, die er von der Rentenkasse zugunsten seines
Bundesetats umschaufelt. Ab 2017 soll dann paradoxerweise diese Maßnahme wieder umgekehrt werden, 2017,
wenn wir unter einem verschärften Konsolidierungszwang aufgrund der Schuldenbremse stehen werden.
Hinzu kommt, dass wir noch nicht wissen, ob die ganzen
Steuerquellen und Beitragsquellen dann genauso sprudeln werden, wie es in der jetzigen konjunkturellen Lage
der Fall ist. Aber dann wollen Sie das Rad zurückdrehen.
Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Noch eine zweite Stellschraube nutzen Sie - das ist
genau die, die wir hier jetzt diskutieren -, um Ihren
Haushalt zu frisieren. Das ist diese Beitragssatzsenkung.
Etwas ist ja ganz erstaunlich: dass der Finanzminister die
1 Milliarde Euro, von der hier noch nicht die Rede war,
die der Bund bei dieser Nummer „spart“, schon im Juli
in seinen Haushaltsentwurf eingerechnet hat. Das heißt,
er hat schon im Juli seinen Haushaltsentwurf um 2 Milliarden Euro schöngerechnet.
({4})
Wissen Sie, was? Das sind insgesamt 9,5 Milliarden
Euro während des Finanzplanraumes, die er hier einkassiert hat. Dann will ich noch einmal daran erinnern, dass
diese Regierung ja auch schon 2011 1,8 Milliarden Euro
zulasten der Rentenkasse „konsolidiert“ hat, wie sie es
so schön nennt, nämlich zulasten der Langzeitarbeitslosen.
({5})
Wenn ich das noch einmal dazurechne, dann sind das
bis 2013 5,4 Milliarden Euro und 10,8 Milliarden Euro
bis zum Ende des Finanzplanraums. Bei diesen Zahlen
wird deutlich, dass Sie Ihre Schuldenbremse bis 2016
nur deshalb angeblich erreichen können, weil Sie einen
schamlosen Griff in die Sozialkassen machen.
({6})
In Europa baut man den Popanz Deutschlands als Supersparregierung auf, und in der Realität bedient man
sich vor allem an den Sozialkassen, und das in konjunkBettina Hagedorn
tureller Boomphase. Das ist genau das, was mein
Kollege über die schwäbische Hausfrau gesagt hat. Wir
haben jetzt - wir sagen ausdrücklich: glücklicherweise eine Zeit, in der die Steuereinnahmen und die Beitragseinnahmen sprudeln. Aber was machen Sie? Sie schöpfen den konjunkturell entstandenen Rahm auf den
Sozialkassen ab, um so zu tun, als würden Sie sparen.
Aber Sie tun es gar nicht. Sie machen keine Strukturveränderung, wie Sie es einmal zugesagt haben, Sie
bauen keine Subventionen und all diese Dinge ab, und
vor allen Dingen machen Sie es wieder nur auf dem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und auf
dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wissen Sie, was? Ich empfehle Ihnen dringend: Stimmen Sie dem Antrag der SPD zu, einen Demografiefonds aufzubauen! Das ist die richtige Antwort in dieser
Zeit, und das ist das, was die Menschen auch von uns
erwarten.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10743, 17/10779 und 17/10775 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({1}), Dr. Hans-Peter
Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Gesundes Aufwachsen von Kindern und
Jugendlichen fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich machen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Lebenssituation junger
Menschen und die Leistungen der Kinderund Jugendhilfe in Deutschland
- 13. Kinder- und Jugendbericht und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksachen 17/3178, 17/3863, 16/12860,
17/4754 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Marlene Rupprecht ({2})
Miriam Gruß
Katja Dörner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß,
Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die jugendfreundlichste Kommune
Deutschlands
- Drucksachen 17/9397, 17/7846, 17/9840 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Florian Bernschneider
Katja Dörner
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Peter Tauber
von der CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz
gut, dass wir uns wieder einmal Zeit nehmen, über die
Kinder- und Jugendpolitik in diesem Land zu reden, und
dass wir uns bei dieser Gelegenheit mit dem Kinder- und
Jugendbericht und mit den Anträgen aus dem Hause, die
vorliegen, beschäftigen und uns ein bisschen die aktuelle
Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland
vor Augen führen.
Ich wage die Prognose - auch wenn ich der erste Redner in der Debatte bin -, dass das Bild der Situation der
Kinder und Jugendlichen in diesem Land, das die Vertreter der Opposition zeichnen werden, eines sein wird, bei
dem man sich fragen muss: Lohnt es sich, in diesem
Land Kind oder Jugendlicher zu sein?
Deshalb möchte ich mit Blick auf die aktuelle Situation an den Anfang meiner Rede eher die positiven
Aspekte stellen: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Während der Durchschnitt bei mehr als 20 Prozent liegt, sind
in Deutschland nur knapp 8 Prozent der Jugendlichen
ohne Job.
Wir haben fast 200 000 freie Ausbildungsplätze in
diesem Land. Das ist eine Entwicklung, die sensationell
ist, wenn man sich die Situation von vor zehn Jahren vor
Augen führt. Damals war ich noch ehrenamtlicher Stadtverordneter in meiner Heimatgemeinde. Seinerzeit sind
alle Stadtverordneten quer durch die Fraktionen zu den
Unternehmen gepilgert, um auf Knien darum zu bitten,
Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Unternehmer haben
alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und
haben gesagt: Jetzt kommt ihr noch, wir leiden schon unter der rot-grünen Bundesregierung; wir können keine
Ausbildungsplätze bereitstellen. - Die gibt es heute im
Übermaß. Fast jeder junge Mensch, der einen Schulabschluss hat, findet den Ausbildungsplatz, den er sich
wünscht.
({0})
Das heißt, in nur einem Jahr ist die Jugendarbeitslosigkeit um 14 Prozent gesunken, während sie anderswo in
Europa steigt. Das ist eine wirklich gute Nachricht für
die jungen Menschen in diesem Land.
Dasselbe gilt, wenn auch nur eingeschränkt, für die
Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Hartz IV angewiesen sind. Diese ist immer noch viel zu hoch, aber
auch sie sinkt, und auch das ist eine gute Nachricht.
Man sollte bei dieser Gelegenheit durchaus einmal in
den Blick nehmen, dass in Berlin 33 Prozent der Kinder
und Jugendlichen auf Hartz IV angewiesen sind, in Bayern aber nur 6,2 Prozent.
({1})
Jetzt kann man sich durchaus die Frage stellen: Hat das
etwas mit Politik zu tun? Hat das etwas mit Familienbildern zu tun, die gelebt werden? Ich glaube, ja.
({2})
- Nein, ich werfe das niemandem vor, Frau Kollegin. Ich
bin für Ihren Zwischenruf sehr dankbar. Vielleicht kleiden Sie ihn beim nächsten Mal in eine Frage; ich greife
ihn jetzt trotzdem auf.
Ich werfe das niemandem vor. Aber ich frage mich
schon, welche Familienbilder man vorlebt und vorgibt
({3})
und welche Rahmenbedingungen man setzt, damit Familie gelebt werden kann. Offensichtlich sind diese in
Bayern nun einmal ein bisschen besser als in Berlin. Das
zeigen zumindest die Zahlen.
({4})
Wir haben Weiteres geleistet. Wir haben das Deutschlandstipendium auf den Weg gebracht, wir haben in das
BAföG investiert. Erstmals stehen für das BAföG mehr
als 3 Milliarden Euro zur Verfügung. Mehr als 900 000
Menschen profitieren davon. Auch das ist eine gute
Nachricht.
Die weitere gute Nachricht ist, dass die Zahl der
Schulabbrecher deutlich gesunken und die Zahl der
Gymnasiasten deutlich gestiegen ist. Wir machen also
ernst mit der Bildungsrepublik. Das sind gute Nachrichten für die jungen Menschen in diesem Land.
({5})
Was tun wir darüber hinaus? Wir haben in die Schulsozialarbeit investiert, weil wir wissen, dass junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen Hilfesysteme
brauchen. Der Bund ist hier in die Finanzierung eingestiegen, obwohl das eigentlich Aufgabe der Länder
und der Schulträger ist.
Wir haben das Bildungs- und Teilhabepaket auf den
Weg gebracht. Von den Klassenfahrten über die Schülerbeförderung über die Nachhilfe bis hin zur Mitgliedschaft in Vereinen - wir leisten einen Beitrag dazu, dass
junge Menschen in diesem Land Perspektiven haben.
({6})
Wir haben die Jugendfreiwilligendienste in einem
Maße ausgebaut, von dem Sie zu Beginn der Legislaturperiode nur geträumt haben. Die Botschaft, die wir damit
den jungen Menschen mit auf den Weg geben, ist eine
ganz klare: Ihr werdet gebraucht. Wir wollen, dass ihr in
dieser Gesellschaft Verantwortung übernehmt, dass ihr
Erfahrungen sammelt. - Mehr als 90 000 Menschen engagieren sich in den verschiedenen Säulen der Freiwilligendienste. Das ist eine Leistung dieser Politik, aber vor
allem der jungen Menschen, die einen solchen Freiwilligendienst leisten.
({7})
Wir haben die Förderung des Kinder- und Jugendplans konstant gehalten, um selbstständige Jugendarbeit
zu ermöglichen. Das ist die Grundlage für die Verbände,
das ist die Grundlage für die ehrenamtliche Betätigung
von jungen Menschen in diesem Land, und das trotz der
Vorgaben der Schuldenbremse. Auch das ist ein klares
Bekenntnis zu einer eigenständigen Kinder- und Jugendpolitik.
Dieses Thema kann man jetzt weiter ausführen. Ich
nenne die Verbesserung der Mobilität. Für Jugendliche
im ländlichen Raum ist der Führerschein ab 17 interessant. Erstmals unterscheiden wir zwischen Kinder- und
Jugendpolitik, weil wir anerkennen, dass Jugendliche
andere Bedürfnisse haben als Kinder. Mit 13 Jahren ist
es nicht mehr sexy, in den Streichelzoo zu gehen. Dann
hat man andere Wünsche, was die eigene Freizeitgestaltung betrifft. Das symbolträchtige Thema Kinderlärm
und die Tatsache, dass man dagegen nicht mehr klagen
kann - es war ein wichtiger Schritt, dass wir das auf den
Weg gebracht haben.
({8})
Neben den positiven Beispielen und Zahlen, sollte
man auch das in den Blick nehmen, was schwierig ist. Es
gibt Kinder und Jugendliche in unserem Land, die unsere Hilfe brauchen, weil sie sie in ihrer Familie nicht in
ausreichendem Maße bekommen, weil sie es nicht schaffen, ihren Weg zu gehen. Das ist eine zusätzliche Aufgabe, die sich für uns stellt. Natürlich müssen wir uns
um diese jungen Menschen kümmern.
Die Probleme sind vielfältig. Mit Blick auf meine Generation könnte man sagen: Junge Leute sind heute ein
bisschen langweiliger als wir früher. Sie sind zumindest
sehr viel vernünftiger, als es vielleicht meine Generation
war. Die Zahl derer, die exzessiv trinken, die rauchen
und kiffen, geht deutlich zurück. Ob es vor diesem Hintergrund vorbildlich ist, wenn führende grüne Spitzenpolitiker darüber räsonieren, welche Farben die Drachen
haben, die sie im Drogenrausch gesehen haben, sei dahingestellt.
({9})
Wir erkennen, dass die Zahl junger Menschen, die
suchtgefährdet sind, deutlich zurückgeht. Wir erkennen
aber auch neue Herausforderungen: Glücksspiel, Onlineabhängigkeit, Internetsucht. Wir haben die Aufgabe, präventive Angebote zu machen und für Aufklärung zu sorgen.
Ich habe einleitend gesagt, dass in diesem Land die
Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, noch
viel zu hoch ist. Das ist eine Aufgabe, die wir angehen
müssen. Wir müssen uns aber auch fragen, ob wir das allein mit staatlichen Hilfesystemen schaffen. Am Ende
müssen wir Eltern ermutigen und in die Lage versetzen,
ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Wir Politiker können zwar viele Dinge wollen, wir brauchen aber
Menschen, die sich dieser Herausforderung stellen. Dies
sind am Ende des Tages in erster Linie immer die Eltern.
Es bleibt dabei, dass der demografische Wandel eine
große Herausforderung für unser Land ist. Wenn man
auf meine eingangs gestellte Frage zurückkommt und
sich überlegt, ob in diesem Land Kinder und Jugendliche
Chancen haben, groß zu werden, ihre Ideen und Wünsche zu verwirklichen, sich ein selbstbestimmtes Leben
aufzubauen, dann kann man zu dem Ergebnis kommen,
dass es wahrscheinlich wenig Länder auf diesem Globus
gibt, in denen junge Menschen solche Chancen haben.
Wenn wir - ohne die Probleme beiseiteschieben zu wollen - das nicht stärker in den Mittelpunkt rücken, dann
brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn junge Paare
sagen: Warum soll ich in diesem Land Kinder in die
Welt setzen? Es ist viel zu gefährlich. - Ich bleibe dabei:
Sie zeichnen hier oft ein Bild, das nicht der Lebenswirklichkeit entspricht.
({10})
Gleich können Sie wieder das Leben von jungen
Menschen in den schwärzesten Farben beschreiben. Die
Lebenswirklichkeit sieht jedoch ein bisschen anders aus.
Deswegen brauchen junge Menschen keine Angst vor einem Land zu haben, wie Sie es beschreiben. Sie müssten
vielleicht Angst vor einem Land haben, das Sie regieren.
Das ist der entscheidende Unterschied. Ich freue mich
auf die weitere Debatte.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Marlene Rupprecht.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Der Anlass unserer heutigen Debatte ist der 20. September, nämlich der Weltkindertag. An diesem Tag lassen
wir in Deutschland - in anderen Ländern geschieht das
an anderen Tagen - Revue passieren, was für Kinder getan worden ist bzw. getan wird. Hierzu gibt es aus den
unterschiedlichen Fraktionen einige Anträge, die dem
Parlament zum Teil schon länger vorliegen. Man sieht,
dass einiges von dem, was in diesen Anträgen steht, bereits abgearbeitet wurde.
Ich ziehe es vor, keine Bierzeltrede zu halten. Ebenso
ziehe ich es vor, keine Konfrontationspolitik zu betreiben, weil Eltern und Kinder davon die Nase voll haben.
Sie wollen nämlich ganz schlicht und ergreifend, dass
ihre Situation wahrgenommen wird und dass wir alles
tun, um die Lebensbedingungen möglichst so zu verändern, dass sie lebenswert sind.
In unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht, geht es darum, wie Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Behindertenhilfe besser vernetzt und verzahnt werden können, sodass Kinder nicht zwischen den
Rastern der Systeme - die für sich gesehen gut sind hindurchfallen.
Das heißt: Die einzelnen Hilfen stehen zwar zur Verfügung, jedoch wird nicht immer optimal zusammengearbeitet. Seit 21 Jahren ist gesetzlich vorgeschrieben - in
§ 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes -, dass sich
alle rund um das Kind Beteiligten zusammensetzen und
absprechen sollen. Das wird leider nicht gemacht.
Es geht darum, dass Eltern, wie es in Art. 6 des
Grundgesetzes festgeschrieben ist, ihre Aufgabe gut
wahrnehmen können. Dazu brauchen sie alle diese Systeme. Wenn ein Kind in die Schule geht, braucht es dort
ein entsprechendes Umfeld, in dem es gesund aufwachsen kann. Das Gleiche gilt, wenn ein Kind in den Kindergarten geht. Wenn das Kind behindert ist, soll es ohne
Ansehen der Behinderung auch dort unterrichtet oder betreut werden. In diesem Bereich gibt es in Deutschland
nach wie vor ein großes Defizit, obwohl internationale
Marlene Rupprecht ({0})
Konventionen unterzeichnet worden sind. In unserem
Antrag findet sich einiges zu diesem Thema. Inklusion
muss für alle Orte und bei allen Planungen von vornherein berücksichtigt werden, sodass Kinder - egal aus
welcher sozialen Schicht sie kommen - so angenommen
werden, wie sie sind, und es eben kein Muster gibt, wie
sie sein sollen.
Es ist die große Aufgabe der Politik, darauf hinzuwirken. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt, weil
wir noch gelernt haben, dass es „normale“ und „nicht
normale“ Kinder gibt, und dass die nicht normalen Kinder ausgesondert werden. Dieser Weg ist ein Lernprozess. Wir müssen endlich lernen, dass Kinder eigene
Rechtspersönlichkeiten, eigene Rechtssubjekte sind.
Auch wenn die Eltern die vornehme Pflicht und das
Recht haben, sie zu erziehen, haben sie nicht das Recht,
die Kinder so zu verformen oder zu verändern, dass sie
Schaden nehmen. Ich erinnere hier nur an die derzeitige
Diskussion über die Beschneidung; ich kann es nicht lassen. Hierbei zeigt sich ganz klar, wie wichtig es ist, sich
wirklich für die Kinderinteressen einzusetzen und Kinder als Rechtssubjekte zu sehen, die von niemandem,
egal welchen Auftrag sie haben, auch nur berührt werden dürfen, um sie dauerhaft zu verändern. Diese Diskussion müssen wir hier führen. In diesem Haus wird sie
leider immer nur aus Erwachsenensicht geführt und
nicht aus Kindersicht.
Uns liegen Anträge vor, bei denen das Kindeswohl
und das Wohlergehen beim Aufwachsen im Mittelpunkt
stehen. Grundlage unserer Anträge war der 13. Kinderund Jugendbericht. Hierin ging es um die Verzahnung
von Kinder- und Jugendhilfe sowie Gesundheitsförderung. Der Titel lautete: „Mehr Chancen für gesundes
Aufwachsen - Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“.
Lassen Sie mich sagen, wie schwer es uns schon hier
im Hause fällt, zusammenzuarbeiten. Es ist äußerst
schwierig, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend und den Gesundheitsausschuss unter ein
Dach zu bringen. Wenn wir beispielsweise die Mitarbeiter des Gesundheitsausschusses bitten, sich etwas für
den präventiven Bereich zu überlegen, dann heißt es:
Was habt ihr uns schon vorzuschreiben?
Dann denke ich: Wenn wir, die wir täglich miteinander umgehen, schon nicht zusammenkommen können,
wie soll das dann erst draußen gelingen? Es ist unsere
Aufgabe, das in Angriff zu nehmen. Das kann man nicht
schlechtreden oder schönreden, sondern man muss
schlicht zugeben, dass wir unsere Hausaufgaben noch
nicht gemacht haben.
Gestern waren zwei Fachleute in der Kinderkommission, die uns gesagt haben, sie könnten keine Daten über
psychisch kranke Kinder erfassen, weil es eine Richtlinie gebe, die das verbietet. Keiner jedoch konnte erklären, warum es diese Richtlinie noch gibt.
Könnt ihr mir mal erklären, warum wir es hier nicht
auf die Reihe bringen, dass wir wirklich alle Dinge für
Kinder so regeln, dass es vom Kind, von der Familie aus
gedacht ist, nicht von der Institution aus?
Wir haben es hier im Deutschen Bundestag immer
noch nicht geschafft, die Kinderrechte ins Grundgesetz
zu bringen, damit eindeutig nachzulesen ist, dass die
Kinder Rechtssubjekte sind. Ich wünsche mir, dass an
drei Stellen des Grundgesetzes Änderungen vorgenommen werden: In Art. 2, in dem es um das Individuum
geht, sollte das Recht auf die Entwicklung - das steht
dort nämlich nicht - und die freie Entfaltung aufgenommen werden. In Art. 6 sollten die gemeinsamen Rechte
von Eltern und Kindern gestärkt werden, um kindgerechte Lebensverhältnisse zu garantieren. Zudem hätte
ich gern eine Änderung an Art. 45. Dort ist geregelt, dass
es für die 180 000 Soldaten - Wehrpflichtige gibt es jetzt
nicht mehr - einen Wehrbeauftragten mit fast 40 Mitarbeitern gibt. Wenn man das hochrechnet, dann kommt
man für die 12 Millionen Kinder und Jugendlichen auf
ein Amt mit über 2 000 Beschäftigten. Mir würden
40 Mitarbeiter reichen, wenn hier im Bundestag, neben
dem Stuhl, auf dem unser Wehrbeauftragter sitzt, ein
Kinderbeauftragter sitzen und die Interessen der Kinder
wahrnehmen würde. Mit 40 Mitarbeitern wäre ich ganz
zufrieden.
Danke schön.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Florian
Bernschneider das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir
alle sind froh, dass wir heute zu einer recht prominenten
Tageszeit die Gelegenheit haben, über Jugendpolitik zu
diskutieren. Entsprechend verantwortungsvoll sollten
wir diese Debatte führen.
({0})
Bevor ich zu den Punkten komme, wo wir uns nicht einig sind - ich verspreche Ihnen: auch dazu komme ich -,
möchte ich vielleicht erst einmal eine Gemeinsamkeit
herausstellen. Wir sind uns in einem Punkt einig: Die
christlich-liberale Koalition geht mit der Etablierung einer Eigenständigen Jugendpolitik einen richtigen und
wichtigen Schritt in die Zukunft.
({1})
Ich betone diese Gemeinsamkeit auch deswegen, weil
ich der festen Überzeugung bin, dass die eigenständige
Jugendpolitik nur dann gelingen kann, wenn wir alle an
einem Strang ziehen. Denn wir alle wissen: Das ist kein
Projekt für eine oder zwei Legislaturperioden, sondern
eine langfristige Ausrichtung der Jugendpolitik.
Wir alle wissen auch, dass nicht die Politik allein die
Eigenständige Jugendpolitik gestalten wird, sondern es
darauf ankommt, verschiedenste Akteure - Jugendverbände, Bildungsträger, Unternehmen, Medien - mitzunehmen. Deswegen ist es so wichtig und richtig, dass das
Ministerium eine Allianz für Jugend etabliert hat, um all
diese Akteure zusammenzubringen.
Das alles, meine Damen und Herren, reicht natürlich
nicht aus. Ich sage auch offen, dass wir uns als christlich-liberale Koalition natürlich daran messen lassen
wollen, was wir mit konkreten politischen Handlungen
für junge Menschen in diesem Land erreichen. Ich
glaube, wir brauchen uns, was unsere Bilanz an dem
Punkt angeht, nicht zu verstecken. Wir alle sind uns einig, dass es bei der Eigenständigen Jugendpolitik auch
zählt, über die Ressortgrenze des BMFSFJ hinaus zu
denken. Wenn man sich einmal anschaut, was wir da geschafft haben, erkennt man: Das ist keine schlechte Bilanz. Wir haben uns mit der Einführung des Führerscheins ab 17 verstärkt dem Aspekt der sicheren
Mobilität Jugendlicher gewidmet. Wir haben mit dem
Deutschlandstipendium und der Sommerferienjobregelung dafür gesorgt, dass sich Leistung eben auch für
junge Menschen lohnt. Wir haben das BAföG erhöht und
mit der Weiterführung des Programms „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ dafür gesorgt, dass auch diejenigen Jugendlichen mitgenommen werden, die es nicht
immer ganz leicht haben. Das alles sind Punkte - man
könnte das fortführen -, an denen man deutlich machen
kann, dass in dieser Legislaturperiode schon viel passiert
ist und viel auf den Weg gebracht wurde. Wir alle miteinander wollen nicht so tun, als ob das in jeder bisherigen Legislaturperiode auch so gut gelaufen wäre.
({2})
Wenn ich an jugendrelevante Diskussionen aus bisherigen Legislaturperioden denke, dann fallen mir die Diskussionen über Killerspielverbote, Alkoholverbotszonen, Alkopopsteuer usw. ein. All das hat doch mit dazu
beigetragen, dass in unserem Land ein Bild von der Jugend von heute herrscht ({3})
- da muss Politik auch einmal ganz selbstkritisch sein nach dem Motto: Die sitzen zu lange vor dem Computer,
die trinken zu viel Alkohol und überhaupt sind sie nicht
in der Lage, Verantwortung für sich und erst recht nicht
für das Land zu übernehmen.
Ich finde, die Koalition hat mit dem Freiwilligendienstkonzept den besten Gegenbeweis zu diesem falschen Bild ermöglicht - der Kollege Tauber hat es
gesagt -:
({4})
Wir hatten im Jahr 2009 im Durchschnitt 68 000 Zivildienstleistende; heute haben wir über 80 000 Freiwillige,
die einen großen Dienst erweisen, und das ohne jeden
Zwang. Das zeigt im Übrigen nicht nur, dass das Konzept Freiwilligendienst funktioniert, es zeigt auch, dass
junge Menschen in unserem Land sehr wohl bereit sind,
Verantwortung zu übernehmen.
Nehmen wir den Bereich Partizipation, der in den Anträgen eine wesentliche Rolle spielt. Ehrlich gesagt: Von
der Opposition höre ich dazu zu wenig. Ja, die Linken
bringen zwar einen Antrag zum Thema „jugendfreundlichste Kommune“ ein - das Thema Kommune spielt in
Bezug auf die Partizipation tatsächlich eine wichtige
Rolle -, aber seien wir ehrlich: Das reicht nicht aus.
Von SPD und Grünen höre ich den Klassiker: Absenkung des Wahlrechtalters. Es ist nicht nur so, dass ich
immer noch nicht verstanden habe, wie man den jungen
Menschen erklären soll, dass man zwar mit 16 zur Bundeswahl gehen soll, aber keinen Handyvertrag abschließen kann, auch allein die Tatsache, dass ich, wenn ich im
falschen Jahrgang geboren wurde, von der Absenkung
des Wahlalters überhaupt nicht profitieren würde, zeigt
doch, dass das kein sinnvoller Schritt zur Partizipation
junger Menschen sein kann. Deswegen ist die Förderung, die wir Ihnen in unserem Antrag vorschlagen,
nämlich der U-18-Wahl - anders als die Kollegin Deligöz
zu Protokoll gegeben hat - kein Feigenblatt, sondern tatsächlich ein guter Schritt, um junge Menschen an politischen Prozessen partizipieren zu lassen, egal wie alt sie
sind: ob 14, 15 oder 17 Jahre und 364 Tage.
Aber auch hier bleiben wir nicht bei Sonntagsfloskeln, die wir alle meiner Meinung nach viel zu lange und
viel zu häufig benutzt haben, wenn es um das Thema
Partizipation ging, sondern wir machen weitere konkrete
Vorschläge, zum Beispiel zum Kinder- und Jugendplan.
Es ist doch schlicht nicht zu erklären, warum es beim
größten monetären Förderinstrument, das wir in der Kinder- und Jugendpolitik haben, für die jungen Menschen
kaum Möglichkeiten gibt, dieses in irgendeiner Form beeinflussen zu können. Es ist so intransparent und in seinem Antragsverfahren so schwierig, dass es junge Menschen einfach abhängt. Deswegen ist die Reform, die wir
hier vorschlagen, auch im Sinne von Partizipation wichtig.
({5})
Ich habe alle Anträge und auch die zu Protokoll gegebenen Reden sehr aufmerksam gelesen. Der Höhenflug,
den die Grünen an Kreativität beim Thema Partizipation
hatten, war die Forderung nach der Festschreibung von
Beteiligungsinstrumenten in den Kommunalordnungen.
Das ist vielleicht gut gemeint, aber man muss so ehrlich
sein und sagen: Das können wir hier im Bundestag nicht
entscheiden, das müssen die Bundesländer machen. Sie
können gerne dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen, mit gutem Beispiel vorangehen.
Ich will noch kurz auf den 13. Kinder- und Jugendbericht eingehen, besonders unter dem Aspekt der Eigenständigen Jugendpolitik. Unsere Eigenständige Jugendpolitik soll sich dadurch auszeichnen, dass wir zeigen,
dass wir die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir stehen, ernst nehmen, dass wir aber auch den
„ganz normalen“ Jugendlichen in unserem Land berücksichtigen. Der Kinder- und Jugendbericht zeigt deutlich,
dass der überwiegende Teil junger Menschen und Kinder
in unserem Land gesund und wohlbehütet aufwächst. Das
sollten wir in der Politik betonen.
({6})
Trotzdem - Frau Rupprecht, Sie haben natürlich recht darf man die Augen nicht vor den Herausforderungen
verschließen. Es ist schlicht nicht akzeptabel, dass die
sozialen und finanziellen Verhältnisse des Elternhauses
über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen entscheiden. Wir alle wissen um die Herausforderungen,
die uns der Kinder- und Jugendbericht aufträgt. Wir alle
- zumindest wir Familienpolitiker - sind der festen
Überzeugung, dass eine große Lösung sicherlich die
beste Lösung wäre.
({7})
Wir alle wissen auch, wie schwierig diese große Lösung
ist. Deswegen bin ich Frau Rupprecht sehr dankbar, dass
wir nicht anfangen, gegenseitig mit dem Finger aufeinander zu zeigen und zu sagen: Warum hast du nichts erreicht?, sondern gemeinsam versuchen, weiter konstruktiv an einer großen Lösung zu arbeiten.
Als Koalition haben wir vielleicht nicht die große Lösung, aber in vielen kleinen Bereichen einiges auf den
Weg gebracht haben. Ich will mir keine Tatenlosigkeit
vorwerfen lassen. Wir haben das Teilhabepaket auf den
Weg gebracht, wir haben das Bundeskinderschutzgesetz
- mit deutlichem Akzent auf dem Thema Prävention,
zum Beispiel durch Familienhebammen - und die Offensive „Frühe Chancen“ - bis zu 4 000 Schwerpunktkitas
zum Thema „Sprache und Integration“ - auf den Weg
gebracht. Vieles andere mehr ließe sich noch aufführen.
Sie sehen: Auch in diesem Bereich geht die Koalition
voran. Ich finde, wir können stolz auf die bisherige Bilanz unserer Kinderpolitik und der Eigenständigen Jugendpolitik sein. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich
in Ihren Anträgen statt auf blumige Worte auf konkrete
Forderungen konzentrierten. Lassen Sie uns gemeinsam
konkret an der weiteren Verbesserung der Situation von
Kindern und Jugendlichen arbeiten. Beide Gruppen hätten es verdient.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Tauber, ich bin ein Stück weit
verwundert über Ihre Aussage. Sie haben einen Vergleich zwischen Bayern und Berlin angestellt, dabei wissen Sie sehr genau, dass sich die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung in Berlin deutlich von der in
Bayern unterscheidet. Sie wissen genauso gut wie ich,
dass es Familienkonstellationen gibt, Alleinerziehende
zum Beispiel, die im Durchschnitt deutlich stärker von
Sozialleistungen abhängig und von Armut betroffen
sind. Den Alleinerziehenden das zum Vorwurf zu machen und an die Berliner Politik zu appellieren, für bessere Vorbilder zu sorgen, finde ich, gelinde gesagt, ziemlich arrogant.
({0})
Das hat mit einem Politikansatz, der danach fragt, wie
man den Betroffenen helfen kann, überhaupt nichts zu
tun.
Schön finde ich aber, dass Sie zumindest zur Kenntnis
nehmen, dass wir in unserem Land ungleiche Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche haben. Wir wissen aus diversen Untersuchungen - das wissen wir nicht
erst seit diesem Kinder- und Jugendbericht, der sich
auch mit der Kindergesundheit beschäftigt -, dass sich
diese ungleichen Lebensbedingungen auf die psychische, die körperliche und die soziale Entwicklung von
Kindern auswirken. Die Expertenkommission, die diesen Kinder- und Jugendbericht erarbeitet hat, hat nicht
ohne Grund gesagt, dass Armut und soziale Benachteiligung die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gefährden.
Nun ist die Frage, wie man mit solchen Erkenntnissen
umgeht. Es ist bestimmt nicht sinnvoll, die Debatte über
diesen Bericht immer wieder zu vertagen. Deshalb bin
ich sehr froh darüber, dass aufgrund der Anträge der Opposition heute endlich über diesen Bericht diskutiert
wird. Sinnvoll war mit Sicherheit auch das nicht, was
diesbezüglich in der Bundespolitik in den letzten Jahren
passiert ist. Ich will das kurz nennen: Die Regelsätze für
Kinder und Jugendliche sind nach wie vor nicht nach ihrem Bedarf bemessen. Es tut mir leid, das hier noch einmal feststellen zu müssen, aber der Paritätische Wohlfahrtsverband hat schon vor Jahren eine Expertise vorgelegt, die belegt, dass diese Regelsätze deutlich unterbewertet sind. Allein in der Altersgruppe der 6- bis unter
14-Jährigen liegt der Regelsatz monatlich 86 Euro unter
dem tatsächlichen Bedarf, und das hat eine Unterversorgung in den Bereichen Nahrung, Kleidung und Bildung
zur Folge. Die Bundespolitik schaut seit Jahren zu, obwohl sie weiß, dass einige Eltern gar keine Chance haben, ihre Kinder gesund zu ernähren, sie ausreichend zu
kleiden und zu fördern.
Diesbezüglich ist in den letzten Jahren nichts passiert.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil hatte bezüglich der
Kinderregelsätze keinerlei Konsequenz. Man muss es
sogar als Gunst der christlich-liberalen Koalition verstehen, dass die Sätze nicht abgesenkt wurden. Das wurde
uns hier häufig genug erzählt. Das kann nicht sein. Ich
sage immer noch und immer wieder: Kinder sind keine
kleinen Erwerbslosen, und deshalb muss endlich ein
kindgerechter Regelsatz berechnet werden.
({1})
Weitere Stichworte möchte ich hier kurz nennen. Das
Stichwort Präventionsprogramme ist in der Debatte schon
gefallen. Von einem Präventionsgesetz sind wir meilenDiana Golze
weit entfernt. Was es gibt, sind bunte Broschüren und
Projekte, die in der Realität aber nicht helfen.
Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde angesprochen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass das
Geld nicht einmal bei der Hälfte der berechtigten Jugendlichen ankommt. Natürlich kann man den Eltern
vorwerfen, dass sie die Anträge nicht stellen. Wer aber
ein so kompliziertes Konstrukt erfindet, in dem Wissen,
dass das Geld bei den Kindern und Jugendlichen nicht
ankommt, muss sich doch an die eigene Nase fassen und
hier endlich etwas ändern. Das setzt aber voraus - Marlene
Rupprecht hat angesprochen, dass wir gestern in der
Kinderkommission über Beteiligung gesprochen haben -,
dass man Kindern und Jugendlichen gegenüber eine gewisse Haltung hat. Das setzt voraus, dass man Kinder
und Jugendliche endlich als eine eigene Bevölkerungsgruppe mit eigenständigen Ansprüchen an die Gesellschaft begreift.
Damit bin ich bei dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu einer Eigenständigen Jugendpolitik. Ich wusste,
dass Sie das Deutschlandstipendium nennen. Die Zielgruppe dieses Stipendiums ist so klein, dass das für mich
kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik ist.
Auch aufgrund der unübersehbaren Zahl an Prüfaufträgen habe ich nicht die Hoffnung, dass Sie in dieser Regierungszeit zu einem Ende der Prüfungen, geschweige
denn zu wirklichen Verbesserungen kommen. Dass Sie
in diesem Zusammenhang die Privilegierung des Kinderlärms nennen, verstehe ich überhaupt nicht. Ich bitte
Sie! Sie schließen den Jugendlärm damit explizit aus.
Das ist doch kein Beispiel für eine Eigenständige Jugendpolitik. Das ist hier völlig fehl am Platz.
Es bleibt dabei: Die Tatsache, dass man eine Eigenständige Jugendpolitik in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben hat, bringt noch nichts. Dass Sie die Fachgespräche mit den Verbänden aufgenommen haben, ist
löblich, aus meiner Sicht aber selbstverständlich und
kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik.
Das heißt zusammenfassend: Wenn wir diesen Kinder- und Jugendbericht und die Kinder- und Jugendberichte der letzten Jahre ernst nehmen, dann müssen wir
uns den Kindern und Jugendlichen als eigenständige Bevölkerungsgruppe nähern. Wir müssen den Vorrang des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor den anderen Sozialgesetzbüchern - das ist der allererste und wichtigste
Schritt - endlich in der Realität durchsetzen. Wir müssen
ein Aufwachsen in Armut verhindern. Diesbezüglich ist
noch eine ganze Menge zu tun.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben einen sehr aufschlussreichen
Bericht mit durchaus spannenden und bemerkenswerten
Handlungsvorschlägen vorgelegt bekommen. Erstmals
hat sich ein Kinder- und Jugendbericht dezidiert mit der
gesundheitsbezogenen Prävention und der Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen befasst, und
erstmals - auch das finde ich sehr bemerkenswert wurde die Situation von Kindern mit Behinderung ausdrücklich aufgenommen und mit in den Blick genommen.
Mich irritiert aber sehr - das muss ich sagen -, dass
die Regierungsfraktionen zum gesamten Bericht wenig
beizutragen und nichts zu sagen haben. Sie haben sich
offensichtlich nicht mit den Handlungsvorschlägen auseinandergesetzt, und sie befinden es auch nicht für notwendig, der Regierung einen klaren Auftrag im Sinne eines Forderungskatalogs, beispielsweise in Form eines
Antrags, zum 13. Kinder- und Jugendbericht mitzugeben.
({0})
Diese Geringschätzung eines so wichtigen Themas das muss ich sagen - lässt eine gewisse Fassungslosigkeit bei mir aufkommen. Denn es ist bei weitem nicht so,
als wäre alles in Butter. Der 13. Kinder- und Jugendbericht, aber auch viele Studien belegen, dass die Kinder in
Deutschland sehr unterschiedliche Chancen haben, gut
und gesund aufzuwachsen. Die Gesundheitsrisiken konzentrieren sich bei ungefähr 20 Prozent der Kinder und
Jugendlichen. Betroffen sind insbesondere diejenigen
aus sozial schwächeren Familien und diejenigen mit Migrationshintergrund. Diese Ungerechtigkeit darf uns doch
nicht kalt lassen.
Wir wissen auch, dass es eine Verlagerung innerhalb
des Krankheitsspektrums gegeben hat, und zwar von den
akuten zu den chronischen Erkrankungen, von den somatischen zu den psychischen Störungen. Die Ursachen
dafür liegen unter anderem im Bewegungsmangel, in
falscher Ernährung, aber eben auch in einem zunehmenden Verlust von Sicherheit und von sozialer Einbindung.
All das zeigt, wie wichtig es ist, heute konsequent zu
handeln. Man darf sich vor diesen Problemen nicht einfach wegducken, wie diese Bundesregierung und die Regierungsfraktionen es tun.
({1})
Es wurde nach konkreten Vorstellungen und Forderungen gefragt. Diese möchte ich hier gerne anbringen.
Wir brauchen beispielsweise ein Präventionsgesetz, das
alle Akteure zusammenbringt und in dem verbindlich
geregelt wird, wie die Zusammenarbeit und die Finanzierung zu gestalten sind. Wir müssen beispielsweise die
Bundesländer darin unterstützen, in den Schulen gesundheitsförderliche Lernbedingungen zu schaffen. Die Vermittlung von Gesundheits- und Ernährungskompetenzen, Bewegungsangebote und eine ausgewogene Ernährung gehören unbedingt dazu.
Wir haben eine Reihe ungelöster Schnittstellenprobleme; sie sind eben schon angesprochen worden. Diese
müssen wir uns auch dringend vorknöpfen. Ich erwähne
als Beispiel die Komplexleistung Frühförderung. Dies
betrifft insbesondere auch die Aufsplitterung der Leistungen für Kinder mit Behinderung zwischen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe; auch das ist hier
schon angesprochen worden. Ich freue mich, dass hier
offensichtlich ein breiter Konsens besteht, dass wir aus
kinder- und familienpolitischer Perspektive eine große
Lösung anstreben sollten. Ich bin froh, dass dieser Vorschlag in der Stellungnahme der Bundesregierung zum
13. Kinder- und Jugendbericht explizit gemacht wird.
Wir brauchen viel mehr Vernetzung zwischen den
Angeboten aus dem Gesundheitsbereich und der Kinderund Jugendhilfe. Aber das darf man von der Bundesebene aus nicht immer nur von den anderen einfordern
und erwarten, sondern man muss da selber auch mit gutem Beispiel vorangehen. Doch davon ist leider bei dieser Bundesregierung überhaupt nichts zu spüren. Bei
ganz zentralen Aufgaben der letzten Monate und Jahre
war das leider sehr eindeutig. Ich nenne als Beispiel nur
das Programm „Frühe Hilfen“ und die Familienhebammen. Es ist sehr offensichtlich, dass der Gesundheitsminister die Familienministerin ziemlich schnöde hat auflaufen lassen. Wir alle haben das Programm unterstützt;
wir alle fanden, dass das ein richtiges Programm ist. Angedacht war jedoch eine notwendige Vernetzung von
Gesundheits- und Familienpolitik mit einem gemeinsamen Konzept und strukturell verankerter Finanzierung
und nicht ein kleines Progrämmchen im Familienministerium.
Hier hat - auch das muss man einmal sagen - das Gesundheitsministerium offensichtlich die Zeichen der Zeit
und auch die Notwendigkeiten der Zeit nicht erkannt.
Vielleicht hat die Koalition ja auch deshalb keinen eigenen Antrag zum 13. Kinder- und Jugendbericht vorgelegt. Ich finde jedenfalls, dass das ein Armutszeugnis für
die schwarz-gelbe Politik ist.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unser Antrag betont die Eigenständigkeit der
Jugendpolitik. Das setzt voraus, dass die Jugendzeit tatsächlich eine eigenständige Zeit ist. Das hat die Politik
nicht immer erkannt. Es gab ja eine Zeit, in der wir die
Jugend- und die Kinderpolitik als einen Politikbereich
angesehen haben. Wir wollen die Selbstständigkeit der
Jugendpolitik. Das haben Sie, Herr Bernschneider, betont, und das kann man nur unterstreichen; denn die Jugendzeit ist eine selbstständige Zeit. Sie hat ihren Sinn in
sich. Sie ist eine Zeit, in der der Jugendliche zwar noch
nicht Erwachsener ist, in der er aber nicht mehr Kind ist.
Die Jugendzeit ist ihre Zeit, genauso wie die Kindheit
ihre Zeit ist. Jeder Abschnitt hat seinen Sinn in sich.
Deswegen ist es richtig, eine Eigenständige Jugendpolitik zu betonen. Wer dies nicht tut, nimmt die Jugend eigentlich nicht ernst genug.
Natürlich wollen wir dabei nicht nur die Problemgruppen betrachten; das haben wir früher vielleicht zu
oft getan. Wir haben manchmal nur die Problemgruppen
gesehen, nicht aber die Gesamtheit der Jugendlichen; darauf kommt es uns aber an. Wir wollen die Interessen aller Jugendlichen erkennen und versuchen, sie zu vertreten. Es kommt natürlich entscheidend darauf an, dass wir
den Jugendlichen die Chance geben, sich zu entwickeln.
Wir dürfen sie aber nicht bevormunden. Wir müssen sie
fördern, dürfen ihnen aber keinen Lebensentwurf vorschreiben.
Zugleich müssen wir es schaffen, den Jugendlichen
beizubringen - und zwar so, dass sie es in sich aufnehmen und dafür eintreten -, dass dieser Staat auf gewissen
Voraussetzungen beruht, die man nicht einfach preisgeben darf und für die man kämpfen muss, die der Staat
aber, wie Böckenförde gesagt hat, nicht selber garantieren kann. Die Jugendlichen und die anderen Menschen,
die in einem Staat leben, können diese Grundlagen garantieren. Geben wir diese Grundlagen auf, dann geben
wir unser ganzes Staatsgebilde auf. Dies deutlich zu machen, ist, wie ich meine, ein wichtiger Auftrag der Jugendpolitik.
({0})
Ein Weiteres scheint mir wichtig zu sein: Es kommt
immer wieder vor, dass der Übergang von der Bildungszeit zur Berufszeit schwierig wird. Die Entscheidung für
einen bestimmten Beruf erfordert Mut. Die ganz breite
Perspektive, dass einem Jugendlichen die Welt gewissermaßen offensteht, wird in dem Augenblick verengt, in
dem er sich entscheidet, einen bestimmten Beruf zu ergreifen. Diese Entscheidung ist allerdings eine Zukunftsentscheidung, in der die Zukunft zugleich Gestalt
annimmt. Wenn sich nämlich jemand entscheidet,
Schlosser, Schreiner, Arzt oder Anwalt zu werden, dann
ist das eine Verengung, aber zugleich die Gestaltung der
Zukunft.
Wir wissen aus den Informationen, die uns vorliegen,
dass gerade diese Phase für Jugendliche schwierig ist,
weil die Entscheidung für einen bestimmten Beruf Mut
erfordert. Viele bringen diese Entscheidung nicht zustande, und sie tauchen ab. Deswegen gibt es in manchen
Kommunen - nicht in allen; aber eigentlich sollte sie in
allen Kommunen eingeführt werden - eine Stelle, die
sich um die Jugendlichen kümmert, die fragt: „Was ist
eigentlich aus dem und dem, der sein Abitur oder seine
mittlere Reife gemacht hat, geworden?“ und dem nachgeht. Dafür stellt das Ministerium Geld bereit. Es muss
nur in Anspruch genommen werden.
Ich meine, es ist auch notwendig, dass wir den Jugendlichen einen vernünftigen Umgang mit den Medien
zu vermitteln versuchen. Die Medien sind eine hervorragende Einrichtung. Gerade für Jugendliche aus nicht
sehr wohlhabenden Familien und für Jugendliche mit
Migrationshintergrund ist der Laptop eine Möglichkeit,
an Wissen heranzukommen, an das sie sonst nicht so
schnell kommen würden. Insofern ist das Internet, sind
die Medien eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit für
die Jugendlichen. Aber zugleich bergen sie Gefahren;
das darf man nicht übersehen. Wir müssen dafür sorgen
- das scheint mir auch Auftrag der Politik zu sein -, dass
die Jugendlichen Medienkompetenz erlangen, dass sie
nicht einfach alles in sich aufnehmen, sondern auch lernen, Inhalte einzuordnen und Abstand zu nehmen; das
ist wichtig. Hier ist die Kommunalpolitik gefordert.
({1})
Aber noch viel mehr sind an dieser Stelle die Schulen
gefordert. Dafür zu sorgen, ist ein wichtiger Auftrag der
Schule. Wir haben die Verpflichtung, den Schulen dies
mitzuteilen. Es kommt darauf an, dass gerade in den
Schulen die Medienkompetenz gestärkt wird.
({2})
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich die Jugend
für die Öffentlichkeit engagiert und sich für die Aufgaben in der Öffentlichkeit interessiert. Es gibt Politikverdrossenheit - das stellen wir immer wieder fest -, und
zwar in allen Schichten. Woher kommt sie? Eine Ursache mag sein, dass die Jugend nicht richtig informiert ist
bzw. vielleicht auch gar nicht richtig informiert wird,
weil die Jugendlichen, wenn sie abends den Fernseher
einschalten, zu jedem Thema diese und jene Meinung
hören und oft nur Streit wahrnehmen.
Das alles mag richtig sein, aber das bringt uns ja nicht
weiter und nützt ja nichts. Wir müssen die Jugend trotzdem an die Öffentlichkeit heranführen.
Hier scheint es mir wichtig zu sein, sich die Gedanken
zu machen, die Sie, Herr Bernschneider, hier vorgetragen haben. Wir müssen die Frage stellen: Wie können
wir die Jugendlichen stärker teilhaben lassen und die
Partizipation der Jugendlichen an der Öffentlichkeit und
an den Aufgaben der Öffentlichkeit verstärken? Ich weiß
nicht, ob es der richtige Weg ist, dass man jetzt das
Wahlalter senken und Volksentscheide herbeiführen will.
Wenn sie nicht zur Bundestagswahl gehen, dann gehen
sie über kurz oder lang auch nicht zu Volksentscheiden.
Das scheint nicht der richtige Weg zu sein.
Ich glaube auch, dass die plebiszitären Elemente mit
etwas mehr Vorsicht diskutiert werden müssen; denn
durch die plebiszitären Elemente wird in einer Massendemokratie die Verantwortung ausgeschaltet. Ich kann
das Volk für eine falsche Entscheidung nicht verantwortlich machen, aber ich kann eine Partei oder eine Regierung für eine falsche Entscheidung verantwortlich machen. Das Prinzip der Verantwortung gehört zu einer
Massendemokratie.
Ich glaube, dass die Jugendpolitik ein sehr wichtiger
Ansatz in der Politik insgesamt ist. Deshalb freue ich
mich über diese Diskussion heute. Sie soll unterstreichen, wie wichtig uns dieses Anliegen ist.
Danke schön.
({3})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Stefan Schwartze für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Eckpunkte der Bundesregierung für eine Eigenständige Jugendpolitik liegen uns jetzt seit über einem
Jahr vor, aber erst durch unsere Kleine Anfrage ist das
Parlament darüber informiert worden, was die Bundesregierung eigentlich plant.
Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen im Dialog
mit verschiedenen Akteuren Leitlinien für eine Eigenständige Jugendpolitik erarbeitet und dem Kabinett vorgelegt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die
Absicht, Jugendpolitik wieder sichtbar zu machen.
Wenn in den letzten Jahren über Jugendpolitik diskutiert worden ist, dann sehr oft defizitorientiert: über Jugendkriminalität, über Alkohol oder über Jugendarbeitslosigkeit. Wer redet aber eigentlich über die große
Mehrheit der Jugendlichen, die ihren Weg geht?
({0})
Wer hat eigentlich über die Probleme der Jugendlichen
in Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf diskutiert?
Wer hat darüber diskutiert, dass junge Menschen Zeit zur
Orientierung, Zeit für die eigene Entwicklung und Zeit
für das Meistern von Übergängen brauchen?
Wir brauchen ein Klima der Anerkennung und des
Respekts gegenüber den Jugendlichen, und wir müssen
wieder einen eigenständigen Politikbereich für die Jugend begründen. Ziel muss eine jugendpolitische Gesamtstrategie sein, wie sie leider schon lange nicht mehr
sichtbar ist. Das sage ich an dieser Stelle auch ganz
selbstkritisch.
Jede neue politische Maßnahme und jedes neue Gesetz müssen im Hinblick auf die Gesamtstrategie überprüft werden. Wir brauchen einen Jugendpolitik-TÜV.
({1})
Es ist wichtig, dass die Leitlinien einer Eigenständigen Jugendpolitik auch ressortübergreifend diskutiert
werden. Das Jugendministerium muss zumindest eine
Koordinationsfunktion für alle Politikfelder bekommen,
die für die Jugend relevant sind. Dabei darf es keine Ressortstreitereien geben. Ich weiß, Ihre Kernkompetenz
von Schwarz-Gelb ist eigentlich der Streit miteinander,
aber den müssen Sie an dieser Stelle einmal unter den
Tisch fallen lassen.
({2})
Die SPD hat die Jugendpolitik zum Thema ihres ersten Parteikonvents gemacht, und wir haben im Juni einen
Leitantrag zur Eigenständigen Jugendpolitik verabschiedet. Das war ein wichtiger und gut beachteter Impuls für
die Jugendpolitik.
({3})
Wo bleibt aber eigentlich Ihr Impuls?
({4})
Die Koalition schreibt den Antrag der Linken zum
Thema „Jugendfreundlichste Kommune“ ab.
({5})
Von uns kopieren Sie den Antrag zum Erhalt des Projekts der U-18-Wahlen. Herzlichen Glückwunsch! Das
hat die SPD schon für den letzten Haushalt gefordert.
Gut, dass Sie diesen Weg jetzt mitgehen.
Gegen die einzelnen hier geforderten Maßnahmen ist
nicht viel zu sagen:
({6})
ob das die Ausschreibung eines Preises für ein Praxishandbuch zur kulturellen Bildung ist oder der Preis für
die jugendfreundlichste Kommune. Aber das kann doch
an dieser Stelle nicht wirklich alles sein.
Jugendpolitik muss die Interessenvertretung für alle
jungen Menschen sein.
({7})
Die SPD will weder eine defizit- noch eine elitefixierte
Politik.
({8})
Wir wollen alle befähigen, ihre Talente zu entdecken und
ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
({9})
Im Bildungssystem brauchen junge Menschen auch
zweite und dritte Chancen. Man muss Fehler machen
dürfen.
({10})
Junge Leute brauchen diese Freiräume.
({11})
Sie brauchen Unterstützung beim Übergang von Schule
in Beruf. Sie brauchen einen Rechtsanspruch auf einen
Schulabschluss und auf eine Berufsausbildung.
({12})
Was tun Sie gegen die prekäre Beschäftigung, die besonders oft die jungen Menschen nach der Ausbildung
trifft? Wir dürfen an dieser Stelle keinen jungen Menschen zurücklassen. Wir brauchen eine echte Partizipation von jungen Menschen. Wir brauchen das Wahlrecht
ab 16 Jahren auch auf der Bundesebene.
({13})
Dazu findet sich in Ihren Anträgen kein Wort.
Eine Eigenständige Jugendpolitik ist eindeutig mehr
als das, was Sie hier auf den Tisch legen. Sie brauchen
eine Gesamtstrategie und das notwendige Geld. Beides
spielt in Ihren Anträgen leider keine Rolle.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/4754. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des 13. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung auf Drucksache 16/
12860, unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/3178 mit dem Titel „Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der
Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3863 mit dem Titel „Gesundes
Aufwachsen für alle Kinder möglich machen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/
10777. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9840. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9397 mit dem
Titel „Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen für
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
junge Menschen in Deutschland“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7846 mit dem Titel „Die jugendfreundlichste
Kommune Deutschlands“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung
- Drucksache 17/10773 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Max
Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bringen heute einen Gesetzentwurf ein, mit dem die Geringfügigkeitsgrenzen von 400 Euro auf 450 Euro und die Grenze für
das monatliche Gleitzonenentgelt ebenfalls um 50 Euro
auf 850 Euro angehoben werden sollen. Wir sind der
Meinung, dass diese Erhöhung angemessen und notwendig ist, weil wir seit 2003 eine starke Lohnentwicklung
feststellen können, aber die starre Entgeltgrenze bei geringfügiger Beschäftigung bei 400 Euro geblieben ist.
Dies wollten wir ändern.
({0})
Ich möchte zunächst anmerken, dass eine Geringfügigkeitsgrenze notwendig ist. SPD und Grüne haben in
ihrer Regierungszeit die Möglichkeit der geringfügigen
Beschäftigung stark eingeschränkt, um nicht zu sagen:
letztendlich ad absurdum geführt, und zwar dadurch,
dass sozialversicherungspflichtig Beschäftigte keine zusätzliche geringfügige Beschäftigung als bezahlte Arbeit
aufnehmen konnten. Infolgedessen musste festgestellt
werden, dass es vermehrt Schwarzarbeit gab. Die jüngste
dazu durchgeführte Umfrage zeigt das sehr deutlich.
({1})
- Zu den Haushalten wurde angegeben, Frau Kollegin
Ferner, dass 10 Prozent Hausarbeiten grundsätzlich in
Schwarzarbeit verrichten.
({2})
- Doch, das ist sogar heute noch der Fall.
({3})
18 Prozent haben erklärt, dass sie, wenn sie Arbeit anzubieten hätten, diese ebenfalls in Schwarzarbeit verrichten lassen.
Deshalb ist es meines Erachtens notwendig, dass wir
die Geringfügigkeitsgrenze regeln, weil es um Beschäftigung unsteter Art geht, die freundlich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auszugestalten ist, nämlich indem sie brutto für netto ausgezahlt bekommen.
Das ist der Sinn.
({4})
Das bedeutet auch, Frau Kollegin Ferner, dass es damit
mehr Rechtstreue auf dem gesamten Arbeitsmarkt gibt.
({5})
- Natürlich geht es um Rechtstreue. - Darüber hinaus ist
auch mit wesentlich stärkeren Sozialversicherungsbeiträgen für unsere sozialen Sicherungssysteme zu rechnen.
Die Arbeitgeber sind bei einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis verpflichtet, eine pauschale Umlage von
30,88 Prozent abzuführen. Davon erhalten die gesetzliche Rentenversicherung 15 Prozent und die gesetzliche
Krankenversicherung 13 Prozent.
({6})
2 Prozent fließen in die Arbeitslosenversicherung. Hinzu
kommen die pauschale Lohnsteuer bzw. die Kirchensteuer.
Frau Kollegin Ferner, es wird immer wieder unterstellt, dass Arbeitgeber in ihrer Gesamtheit ein Interesse
daran haben, Aufgaben zu stückeln und möglichst viele
geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen.
Das kann nicht im Interesse eines Arbeitgebers sein.
Denn die 30,88 Prozent muss der Arbeitgeber alleine tragen,
({7})
während er bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nur den hälftigen Satz zu tragen hat, nämlich
rund 19 Prozent.
Sehr deutlich ist auch, dass es ein großes Interesse der
Bürgerinnen und Bürger an diesen Beschäftigungsver23420
hältnissen gibt. Darüber hinaus können damit unregelmäßig vorkommende Arbeitsspitzen bewältigt werden.
Das hilft dem Betriebsinhaber.
Die Tankstelle, an der ich zu tanken pflege, wird vom
Betriebsinhaber und seiner Ehefrau betrieben. Sie sagen:
Wir brauchen ab und zu eine Entlastung beim Kassieren.
- Die Tankstelle ist bis 10 Uhr abends geöffnet. Deshalb
werden Schüler und Studenten eingesetzt, die froh sind,
in einem solchen Beschäftigungsverhältnis arbeiten zu
können und damit eine Zuverdienstmöglichkeit zu haben,
({8})
weil sie als Schüler oder Studenten nicht Vollzeit erwerbstätig sein können. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bieten diese Möglichkeit.
({9})
Deshalb schlagen wir die Erhöhung vor.
Zusätzlich schlagen wir vor, dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zukünftig generell rentenversicherungspflichtig sind.
({10})
Wenn wir zum 1. Januar des nächsten Jahres den Beitragssatz absenken, bedeutet das für den Einzelnen einen
Beitragsaufwand von 4 Prozent. Bei 450 Euro sind das
22 Euro Eigenbeitrag bei voller Leistung aus der Rentenversicherung - ob im Erwerbsunfähigkeitsfall oder
im Alter. Dafür plädieren wir.
Leider ist eine Opt-out-Regelung vereinbart, die es ermöglicht, dass man sich letztendlich wieder davon verabschiedet.
({11})
Ich bin davon überzeugt, dass Sie das nicht tun werden.
Ich appelliere auch an unseren Koalitionspartner, nochmals über eine generelle Rentenversicherungspflicht
nachzudenken, weil das weniger Bürokratie in den Betrieben bedeuten würde
({12})
und im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die dann versichert sind, ist. Auch die Arbeitgeberverbände - der HDE und die Gebäudereinigerverbände plädieren für eine generelle Rentenversicherungspflicht
für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.
Es wird immer insinuiert, geringfügige Beschäftigung
sei prekäre Beschäftigung.
({13})
Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind aber ganz
reguläre Arbeitsverhältnisse
({14})
mit Anspruch auf Urlaubsgeld und mit Anspruch auf
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
({15})
Das ist alles gesetzlich geregelt, werte Kolleginnen und
Kollegen aus den linken Reihen dieses Hauses. Wir müssen vielleicht daran arbeiten, dass dies noch stärker
durchgesetzt wird.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit
und bitte um Ihre Unterstützung unseres Gesetzes.
({16})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Bei
diesem Gesetzentwurf zeigen Sie, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, Ihr wahres Gesicht. Sie sind sich selbst für den gröbsten Unfug nicht
mehr zu schade.
({0})
- Entweder wissen Sie nicht, was Sie beschließen, oder
Sie kennen die Realität nicht. Eines von beidem muss es
sein.
Wer sich nämlich die Zahlen zu den Minijobstrukturen anschaut, kann einen solchen Gesetzentwurf nicht
ernsthaft zur Abstimmung stellen. Denn anstatt prekäre
Beschäftigung abzubauen, vergrößern Sie sie noch. Sie
sollten wissen, Herr Straubinger, was unter prekärer Beschäftigung zu verstehen ist. Ich will deshalb die Zahlen
noch einmal ein bisschen deutlicher machen.
Minijobs sind weiblich. Mehr als zwei Drittel der Minijobs werden von Frauen ausgeübt. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass zwei Drittel gerne mehr arbeiten würden, als sie es in einem Minijob oder auch in
Teilzeit tatsächlich tun. Aber insbesondere die Frauen
sind in den Minijobs gefangen. Sie verfestigen mit dieser
Minijobvariante in Verbindung mit der beitragsfreien
Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, dem Ehegattensplitting und der Steuerklasse V
auch noch die Rolle der Ehefrauen als Zuverdienerinnen
der Familie. Das kann ja wohl niemand ernsthaft bestreiten, auch bei Ihnen nicht.
({1})
Über 5 Millionen Menschen haben nur einen Minijob,
sonst keinen. Wenn man sich anschaut, welche Rentenansprüche daraus entstehen - darauf komme ich noch
zurück - und dass gerade in der Gruppe der 40- bis
55-Jährigen 1,4 Millionen Menschen nur einem Minijob
- keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Elke Ferner
nachgehen, dann kann man sagen, dass heute die Grundlagen für die Altersarmut von morgen gelegt werden. Sie
verschärfen dieses Problem mit Ihrem Gesetzentwurf
noch.
({2})
Sie erhöhen die Einkommensgrenzen, bis zu denen
Menschen ohne eigenständige soziale Absicherung arbeiten. Das ist absurd, und das ist vor dem Hintergrund
der Debatte, die Frau von der Leyen eben in Bezug auf
den Rentenversicherungsbeitrag noch einmal geführt
hat, auch scheinheilig. Frau von der Leyen beklagt in
Sonntagsreden die Altersarmut, insbesondere die von
Frauen, und werktags lässt sie ihr Ministerium eine Formulierungshilfe für einen Gesetzentwurf schreiben wie
den, den Sie heute einbringen, mit dem die Altersarmut
noch vergrößert wird. Die Wahrheit ist: Sie erhöhen die
ungeschützte Beschäftigung, statt sie zu verringern, und
verringern die geschützte Beschäftigung, statt sie zu erhöhen. Das ist die Folge dessen, was Sie machen.
({3})
Herr Straubinger, Sie haben zu Recht auf die gesetzlichen Regelungen verwiesen. Aber in Wahrheit - das wissen wir alle - sind die ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse, also Minijobs und geringfügige Beschäftigung
- das suggeriert der Name schon -, in der Realität Arbeitsverhältnisse nicht zweiter, sondern dritter Klasse.
Die Beschäftigten wissen häufig nicht um ihre Rechte.
Sie wissen nicht, dass sie einen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben. Sie wissen in der Regel
nicht um ihr Recht auf bezahlten Urlaub. Und sie wissen
auch nicht um ihr Recht auf gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit. Die Arbeitgeber enthalten ihnen diese
Rechte vor; denn nur so lohnt sich das für die Arbeitgeber,
Herr Straubinger. Ich möchte den Arbeitgeber kennenlernen, der freiwillig 30 Prozent zahlt, wenn er nur 20 Prozent Sozialversicherungsabgaben zahlen muss. Die Arbeitgeber sparen an anderen Stellen. Sie zahlen zwar
28 Prozent Sozialabgaben plus Pauschalsteuer, sparen
das aber ein, indem sie den Minijobberinnen und Minijobbern das vorenthalten, was ihnen gesetzlich zusteht.
Sie, Herr Straubinger, haben eben gesagt, dass Sie Gesetzestreue einfordern. Da frage ich mich: Wo enthält denn
Ihr Gesetzentwurf Maßnahmen, die dazu dienen, den
Missbrauch, der Tag für Tag bei den Minijobs stattfindet,
zu bekämpfen?
({4})
Die Minijobberinnen werden in der Regel schlechter
bezahlt. Zwei Drittel aller Minijobberinnen arbeiten für
Stundenlöhne in Höhe von weniger als 8,50 Euro. Sie erhalten häufig weniger Geld als die Teilzeitkollegin oder
der Vollzeitkollege, obwohl sie die gleiche Arbeit machen. Sie erhalten kein Geld, wenn sie krank werden,
und auch keinen bezahlten Urlaub.
Es gibt auch ganz Schlaue, die die Gesetze formal
einhalten; das hören wir ja immer wieder. Zuerst wird
eine niedrige Stundenzahl vereinbart. Dann gibt es regelmäßig Mehrarbeit. Wenn die Menschen dann krank werden oder bezahlten Urlaub machen wollen, dann werden
die Lohnersatzleistung und das Urlaubsgeld auf Basis
der geringen Stundenzahl berechnet. Das hat doch nichts
mit Gesetzestreue zu tun. Das kann auch niemand ernsthaft wollen. So kann man auf keinen Fall sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde Beschäftigung
schaffen. Vor diesem Hintergrund kann ich, ehrlich gesagt, nicht verstehen, warum Sie einen solchen Vorschlag machen, der vor allem zulasten der Frauen geht.
Von der FDP erwartet man eigentlich nichts anderes.
Aber dass die Union einen solchen Gesetzentwurf unterstützt, ist mir ein Rätsel.
Herr Straubinger, Sie begründen diesen groben Unfug
mit dem Hinweis, dass es nun endlich einen Inflationsausgleich geben muss. Das ist schon sehr bemerkenswert. Ich finde das, was Sie da machen, ziemlich schräg.
Sie erdreisten sich sogar, das in die Begründung des Gesetzentwurfs aufzunehmen. Einen Inflationsausgleich
bekommen die Beschäftigten, um die es hier geht, nicht
dadurch, dass man die Grenzen anhebt. Das bringt noch
keinen Cent mehr in die Taschen. Eigentlich müsste ein
Inflationsausgleich bzw. eine Lohn- oder Gehaltserhöhung parallel zur Entwicklung bei den regulär Beschäftigten erfolgen.
({5})
Herr Weiß, Sie suggerieren den Menschen: Weil wir
die Grenze auf 450 Euro erhöhen, bekommt ihr ab 1. Januar nächsten Jahres statt 400 Euro 450 Euro. - Das
stimmt aber nicht. Wenn die Arbeitszeit gleichbleibt,
gibt es nicht 50 Euro mehr. Was Sie hier machen, ist
mehr als schräg. Das Schlimmste ist, dass Sie mehr
Menschen in ungeschützte Beschäftigung drängen, als
wir heute ohnehin schon haben.
Schauen wir uns einmal an, wie sich das Ganze auswirkt. Wer heute 450 Euro brutto verdient, bekommt
nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen in der Steuerklasse V 314 Euro netto; nach der
Gleitzonenvariante sind es ungefähr 350 Euro. Jetzt
brauche ich doch nicht lange zu raten, wie sich Menschen, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, verhalten werden, damit ihnen 450 Euro netto ausbezahlt
werden können. Denn die Ehefrau ist beim Ehemann
beitragsfrei mitversichert, die hohen Steuern in der Steuerklasse V fallen auch nicht an, und der Splittingvorteil
erhöht sich sogar noch, welch Wunder. Man muss schon
sehr willensstark sein, wenn man diesen Verlockungen
widersteht. Es werden viele in dem Einkommenssegment die Minijobvariante wählen und damit aus der Sozialversicherung ausscheiden; denn diese Option besteht
immer noch. Das scheint Ihrem Kalkül zu entsprechen.
({6})
Ich muss sagen: Dieser Gesetzentwurf ist das Papier
nicht wert, auf dem er steht. Ich hoffe, dass er nicht beschlossen wird. Am besten würden Sie, Herr Straubinger,
diesen Gesetzentwurf einfach zurückziehen; denn er wird
nicht gebraucht.
({7})
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minijobs - das ist der Grund, warum wir als Koalitionsfraktionen diesen Gesetzentwurf hier vorlegen - sind ein Teil
des erfolgreichen deutschen Arbeitsmarkts;
({0})
sie werden von den Menschen nicht nur gebraucht, sondern sie sind auch beliebt - und das hat Gründe.
({1})
Sie leisten einen positiven Beitrag zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit - Kollege Straubinger hat es ausgeführt -, gerade in den privaten Haushalten. Frau Kollegin Ferner, Sie haben sich eben nicht vorstellen können,
warum auch Unternehmen Interesse an Minijobs haben.
Der Kollege Straubinger hat ein Beispiel aus der Praxis
gebracht, nämlich das des Tankstellenbetreibers; denn
Unternehmen brauchen zum Beispiel Flexibilität.
({2})
Vor allem leisten Minijobs einen positiven Beitrag für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt; denn sie ermöglichen ganz vielen unterschiedlichen Menschen in diesem Land, die aus den unterschiedlichsten Altersgruppen kommen und sich in den
unterschiedlichsten Lebenssituationen befinden, sich unkompliziert etwas dazuzuverdienen, und das ist richtig.
Deshalb ist es auch richtig, dass wir uns zu den Minijobs
bekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({3})
In Minijobs ist die vielfältigste Gruppe beschäftigt,
die wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben. Da ist
die Studentin, die sich neben ihrem Studium mit Kellnern etwas dazuverdient; da ist der Feuerwehrmann, der
am Wochenende gerne beim Cateringservice ein paar
Stunden aushilft; da ist die Seniorin, die noch bei einer
Nachbarin ein paar Stunden im Haushalt tätig sein will.
Das sind nur drei Beispiele, die ich aus meinem persönlichen Bekanntenkreis nennen will. All diese Menschen
üben Minijobs aus. Sie können die Minijobs nicht auf
wenige Fälle, wo wir möglicherweise Probleme haben,
reduzieren. Das wird diesem Instrument einfach nicht
gerecht. Es gibt 7 Millionen Minijobber in diesem Land,
Frau Kollegin Ferner.
({4})
Weil Minijobs ein beliebter Teil des erfolgreichen
deutschen Arbeitsmarkts sind, ist es auch richtig, dass
wir den Minijobbern zum ersten Mal seit zehn Jahren einen Inflationsausgleich ermöglichen. Immerhin ein Drittel der Minijobber arbeitet an der Grenze zu 400 Euro.
({5})
Es gibt viele, denen der Arbeitgeber gerne eine Gehaltserhöhung geben würde. Früher waren die Minijobs sogar
indexiert. Da ist die Grenze automatisch gestiegen. Es ist
richtig, dass wir jetzt, nach zehn Jahren, eine Erhöhung
vornehmen und die Grenze von 400 auf 450 Euro anheben.
({6})
Es ist auch richtig, dass wir im Bereich der Rentenversicherung ein System von Opt-out einführen;
({7})
denn wir reden darüber, bei Menschen mehr Bewusstsein zu schaffen, damit sie sich mehr Gedanken über ihre
rentenrechtliche Absicherung machen. Auch wenn Minijobs oft nur für eine kurze Zeit im Leben das Instrument
der Wahl sind, ist es richtig, dass derjenige, der sich
keine Gedanken macht, automatisch die vollen Beiträge
in die Rentenversicherung einzahlt und dadurch Vorteile
erwirbt. Gleichzeitig muss niemand, der das nicht will,
weil er etwa als Student noch nichts einzahlen will, mehr
einzahlen als heute. Deshalb ist Opt-out eine gute Lösung, der auch Sie eigentlich zustimmen könnten.
({8})
Ich will in der zweiten Hälfte meiner Redezeit,
({9})
weil die Argumente, warum man das dringend machen
muss, eigentlich auf der Hand liegen, darauf eingehen,
was Sie den Minijobs vorwerfen. Was haben wir eben
wieder gehört? Es würde eine Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch die Minijobs
stattfinden.
({10})
Da hilft es, sich einfach einmal die Fakten anzuschauen.
Ich zitiere jetzt die offiziellen Zahlen der Minijobzentrale, also der zuständigen Behörde. Drei Viertel der Arbeitgeber, die Minijobber beschäftigen, beschäftigen nur
bis maximal drei Minijobber.
({11})
Wenn Sie eine Vollzeitstelle durch Minijobs ersetzen
wollten - und das wird immer wieder behauptet -,
Johannes Vogel ({12})
bräuchten Sie schon vier. Das kann schon einmal nicht
aufgehen.
({13})
- Ich antworte gerne auf eine Zwischenfrage.
Sie sind schon zu einer Zwischenfrage eingeladen,
Frau Kollegin Zimmermann.
Eine Frage von der Kollegin Zimmermann, der Ausschussvorsitzenden, immer gern.
({0})
Danke, Herr Vogel; danke, Herr Präsident.
Herr Vogel, stimmen Sie mir zu oder ist Ihnen bekannt - fragen wir lieber so -, dass es gerade im Handel
durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten einen
Verdrängungseffekt bei Vollzeitarbeitsplätzen gibt und
dass dort aus Vollzeitarbeitsplätzen ein, zwei oder drei
Minijobs entstanden sind? Ist Ihnen das bekannt?
Mir sind die Zahlen im Handel sehr gut bekannt, denn
auch sie kann man bei der Minijobzentrale erfragen. Dabei kommt Folgendes heraus: Erstens. Für den gesamten
Arbeitsmarkt gilt, was ich eben gesagt habe: Drei Viertel
der Arbeitgeber beschäftigen gar nicht so viele Minijobber, dass sie auch nur eine Vollzeitstelle ersetzen könnten.
({0})
- Ich komme gleich zum Handel.
Zweitens. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen, die ja in diesen Monaten in
Deutschland Rekordwerte erreicht, wächst erheblich
stärker als die Zahl der Minijobber in Deutschland insgesamt.
({1})
Das heißt, offensichtlich findet hier keine Ersetzung
statt.
({2})
Das führt dazu, dass der Anteil von Minijobs im Verhältnis zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen
seit 2003, seitdem die rot-grüne Regierung die heutige
Regelung eingeführt hat, gar nicht zugenommen hat.
({3})
Es sind also im Verhältnis nicht mehr Minijobs entstanden, sondern eine Zunahme erfolgte zugunsten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Das, Frau
Kollegin Zimmermann, gilt genauso für den Handel und
übrigens ebenso für das Gaststättengewerbe. Eine Ersetzung müsste ja dazu führen, dass der Anteil der Minijobber im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten zunimmt.
({4})
Das Gegenteil ist der Fall, Frau Kollegin Zimmermann.
Ersetzung sieht bei aller Liebe anders aus. Sie ist einfach
nicht festzustellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Kommen wir zu dem zweiten Argument, das ich immer wieder höre, Minijobs würden bedeuten, die Menschen in den Niedriglohn abzuschieben.
({6})
Jetzt muss man berücksichtigen, dass den Minijob aus
Sicht des Arbeitnehmers ja gerade ausmacht, dass er sein
Gehalt brutto für netto bekommen kann. Das heißt, hier
ist es nicht fair, das Bruttogehalt zu vergleichen;
({7})
vielmehr müssen wir uns das Nettogehalt anschauen.
({8})
Dann schauen wir uns einmal das durchschnittliche
Nettogehalt von Minijobbern an. Wir sind uns, glaube
ich, alle einig: Minijobber sind in der Regel nicht Raketenwissenschaftler;
({9})
vielmehr handelt es sich natürlich eher um einfache Tätigkeiten. Trotzdem liegt das Nettodurchschnittsentgelt
({10})
von Minijobbern über der Niedriglohngrenze, auf netto
bezogen, sogar 2 Euro darüber. Das heißt, im Durchschnitt wird bei einem Minijob netto deutlich über dem
Niedriglohnsektor verdient. Dass also die Minijobs per
se Niedriglohn bedeuten würden, kann am Ende, netto
für den Beschäftigten in der Tasche, auch nicht stimmen,
und Sie sollten hier keine Unwahrheiten verbreiten, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({11})
Kommen wir zum letzten Aspekt, einem ernsten Aspekt, über den wir uns Gedanken machen sollten. Sie haben nämlich die Frage angesprochen, Frau Kollegin
Ferner: Wie sorgen wir dafür, dass Frauen, die nur einen
Minijob machen und gern mehr arbeiten wollen, aus
dem Minijob herauskommen können? - Ich glaube, das
Johannes Vogel ({12})
ist ein Ziel, das wir alle teilen. Jetzt muss man natürlich
nur - ({13})
- Hören Sie doch kurz zu, wenn wir uns ernsthaft darüber unterhalten wollen; vielleicht folgen Sie dann auch
meinem Gedankengang ein wenig.
({14})
Jetzt muss man sich in meinen Augen auch einmal anschauen: Liegt das wirklich an den Minijobs, oder hat
das andere Ursachen? In diesem Zusammenhang muss
man sich erst einmal vergegenwärtigen, dass ausweislich
aller Umfragen drei Viertel aller Minijobber gar nichts
anderes als einen Minijob machen wollen. In der Gruppe
derjenigen, die gern mehr arbeiten wollen, sind in der
Tat viele Frauen. Ich glaube, Sie haben die wahren
Gründe dafür auch benannt. Natürlich ist die Steuerklasse V hier ein Hindernis; natürlich geht es um die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf und um Betreuung.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns dem Ausbau von Betreuung widmen. Deshalb würde ich auch sagen: Lassen
Sie uns darüber diskutieren, ob die Steuerklasse V nicht
verzichtbar ist.
({15})
Nur hat dies mit dem Minijob an sich überhaupt
nichts zu tun. Der Minijob ist nicht die Ursache dieser
Probleme. Deshalb den Minijob jetzt kaputtmachen zu
wollen oder ihn zu diffamieren, das ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn Sie, falls Sie einen Motorschaden am
Auto haben und sich nicht leisten können, den Motor zu
reparieren, einfach das Getriebe austauschen, weil das
Auto nicht mehr fährt.
({16})
Das bringt nichts. Das bringt Ihrem Auto nichts,
({17})
und das löst auch das Problem nicht. Deshalb ist es auch
falsch, hier die Minijobs anzugehen, wenn die Ursachen
der Probleme in Wahrheit woanders liegen. Es ist übrigens vor allem auch unfair gegenüber denjenigen, die
eben gar nicht mehr wollen als einen Minijob. Die
größte Alterskohorte derjenigen, die einen Minijob machen, liegt im Alter zwischen 20 und 25 Jahren. Das gilt
für Männer wie für Frauen; das sind die Studenten. All
denen würden Sie einen Bärendienst erweisen, wenn Sie
hier den Minijob diffamieren.
({18})
Ich kann nur sagen: Die Kritikpunkte -
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Der letzte Satz: Die Kritikpunkte am Minijob halten einer Faktenüberprüfung nicht
stand. Ich freue mich, wenn wir das in der zweiten und
dritten Lesung noch vertiefen können. Auf der bisherigen Grundlage kann ich nur sagen: Dann sollte man den
Minijobs aber auch nicht über die Inflation langsam die
Luft abschnüren, sondern muss eine Anhebung der
Grenze vornehmen, so wie wir das hier machen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und deshalb ist das auch
richtig für die Minijobber in diesem Land.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich darf Ihnen von der Koalition erst einmal
ein ganz großes Kompliment aussprechen: Sie schaffen
es immer wieder - Herr Kober lächelt schon -, den Menschen im Lande Ihre Arbeitsmarktpolitik unter dem Label „hohe Zuverlässigkeit und hohe Konstanz“ zu verkaufen. Ich will es Ihnen auch erklären. Konstant und
zuverlässig können die Beschäftigten im Niedriglohnsektor erwarten, dass sie von Ihrer Arbeitsmarktpolitik
keine Verbesserungen bekommen werden.
({0})
Konstant und zuverlässig dürfen sie damit rechnen, dass
Sie diesen Niedriglohnsektor weiter ausbauen werden.
Das beweisen Sie heute mit Ihrem Gesetzentwurf einmal
mehr.
({1})
Durch die Anhebung der Entgeltgrenze bei geringfügig entlohnter Beschäftigung auf 450 Euro bauen Sie
den Niedriglohnsektor weiter aus - das ist heute des Öfteren schon gesagt worden - und setzen den Weg fort,
den die SPD unter Kanzler Schröder mit der Deregulierung der Minijobs 2003 begonnen hatte. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird dargelegt, dass noch nie
so viele Menschen in Beschäftigung waren wie heute.
Dies ist heute ja schon öfter von Ihrer Seite gefallen.
Sie verschweigen aber, dass noch nie so viele Menschen in prekärer Arbeit wie heute waren. Wir müssen
doch feststellen, dass in den letzten Jahren der Niedriglohnbereich stark angewachsen ist. Dazu geht die sozialSabine Zimmermann
versicherungspflichtige Beschäftigung in Vollzeit beständig zurück und wird von Teilzeit und Minijobs
abgelöst. Immer mehr Menschen finden keine existenzsichernde Arbeit, und das ist der Skandal, meine Damen
und Herren.
({2})
Dies ist ein spezifisch deutsches Problem. In keinem
anderen europäischen Land ist der Niedriglohnbereich
so rasant gewachsen wie bei uns. Deutschland ist in Europa zum Motor der Niedriglohnbeschäftigung geworden. Dies wollen Sie jetzt auch noch über den Fiskalpakt
zum Exportschlager für Europa machen.
({3})
Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, und darüber sollten Sie
vielleicht einmal nachdenken.
({4})
Viele Arbeitgeber haben in den letzten Jahren reguläre Beschäftigung in Minijobs umgewandelt, um flexibel zu bleiben und Geld einzusparen. In manchen Bereichen ist die geringfügige Beschäftigung kurz davor, zur
Regelbeschäftigung zu werden, zum Beispiel in der Gastronomie, Herr Vogel.
Lieber Herr Vogel, sosehr ich Sie als Kollege schätze,
so wenig - das muss ich Ihnen sagen - kann ich Ihre arbeitsmarktpolitischen Überlegungen nachvollziehen. In
der vergangenen Woche haben Sie in den Medien darüber gesprochen, dass Minijobs eine beliebte Möglichkeit seien, sich etwas dazuzuverdienen. Vorhin haben Sie
das ja hier auch gesagt. Ich sage Ihnen: Die Leute wollen
aber keine Minimalbeschäftigung zu Hungerlöhnen.
({5})
Sie wollen eine Arbeit, von der sie ihre Familie ernähren
können und von der sie auch noch etwas für ihre Rente
ansparen können.
({6})
Darüber sollten Sie nachdenken.
Hinzu kommt, dass Sie die Anhebung der Entgeltgrenze der Minijobs als eine Art Lohnerhöhung darstellen - Frau Kollegin Ferner ist schon darauf eingegangen -, da Sie anscheinend davon ausgehen, dass die
Arbeitgeber sogleich die 50 Euro mal eben obendrauf
aufschlagen. Hätten Sie sich aber vorher einmal sachkundig gemacht, wüssten Sie, dass ein Minijobber im
Schnitt nur 260 Euro verdient, nein, bekommt - er verdient das ja nicht, er bekommt es - und eben nicht die
400 Euro. Somit ist Ihre Argumentation doch ein totaler
Unsinn, oder man muss feststellen, dass Sie die Öffentlichkeit bewusst täuschen wollen.
({7})
Von einem besonderen Zynismus zeugt die Begründung des Gesetzentwurfes, dass die nun einzuführende
Rentenversicherungspflicht das Bewusstsein der geringfügig Beschäftigten für ihre Alterssicherung stärken
solle. Glauben Sie denn wirklich, dass die Menschen
nicht wissen, dass sie in die Altersarmut reingehen,
wenn sie einen Minijob haben, und dass sie damit auch
gar keine nennenswerten Rentenansprüche erarbeiten?
Da ist doch Altersarmut vorprogrammiert.
Meine Damen und Herren der Regierung, ich sage Ihnen: Verlassen Sie endlich diesen Irrweg der Niedriglohnpolitik, tun Sie etwas für gute Arbeit, für einen guten Lohn, damit die Menschen auch etwas für ihre Rente
ansparen können.
In diesem Sinne: Danke schön.
({8})
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die negativen Auswirkungen von Minijobs sind allenthalben bekannt, außer bei Herrn Vogel natürlich.
({0})
Die Stichworte sind genannt worden: Niedriglohnfalle;
84 Prozent aller Minijobberinnen arbeiten im Niedriglohnbereich; berufliche Sackgasse für die Frauen; Einnahmeverluste für die Sozialversicherung; Altersarmut.
Mit anderen Worten: Die Ausweitung der Minijobs ist
eine Politik, die in die völlig falsche Richtung geht.
({1})
Herr Vogel, daran ändert das Feigenblatt der Opt-outRegelung wirklich gar nichts, und zwar deshalb nicht,
weil diese Regelung nicht wirkt. Sie ist unwirksam.
Wenn Sie einmal die Begründung in Ihrem eigenen Gesetzentwurf lesen, dann stellen Sie das fest. Sie selber
gehen davon aus, dass sich 90 Prozent aller Minijobber
und Minijobberinnen von der Pflicht befreien lassen, in
die Rentenversicherung einzuzahlen. Das heißt, für einen minimalen Effekt von zehn Prozent erzeugen Sie einen maximalen bürokratischen Aufwand
({2})
für die Betroffenen selbst.
({3})
Sie selber gehen davon aus, dass ein Antrag auf Optout bei dem Betroffenen 40 Minuten Zeit in Anspruch
nimmt, bei dem Betrieb 15 Minuten. Sie selber gehen
davon aus, dass 3 150 000 Opt-out-Anträge gestellt werden. 3 150 000 Anträge verursachen einen Zeitaufwand
von 787 500 Stunden. Das entspricht 22 Millionen Euro
Lohnkosten in den Betrieben.
({4})
Meine Damen und Herren, das ist kafkaesk. Ich fordere
Sie auf: Stoppen Sie diesen Wahnsinn!
({5})
Ich frage mich wirklich, wo in dieser Debatte eigentlich die Arbeitsministerin ist.
({6})
Noch vor einem Jahr hat die Arbeitsministerin der Wochenzeitung Die Zeit ins Blatt diktiert - ich zitiere -:
... ich bin eine entschiedene Gegnerin der Ausweitung von Minijobs.
({7})
Aus dieser entschiedenen Gegnerin ist jetzt aber eine
Handlangerin geworden. Frau Ferner hat schon darauf
hingewiesen: Dieser Gesetzentwurf ist im Bundesarbeitsministerium entstanden.
({8})
Die Autorin dieses Gesetzentwurfs ist diese Gegnerin
der Ausweitung von Minijobs. Frau Ministerin von der
Leyen warnt intensiv vor Altersarmut und tut so, als
wollte sie die Altersarmut bekämpfen. Die Ausweitung
von Minijobs ist die Ausweitung von Altersarmut, meine
Damen und Herren,
({9})
insbesondere die Ausweitung der Altersarmut von
Frauen.
Nun vergeht zumindest gefühlt kein einziger Tag, an
dem diese Bundesarbeitsministerin nicht den Eindruck
erweckt, als sei sie die Speerspitze der Frauenbewegung.
Ganz besonders groß ist ihr Engagement, wenn es um
den Zuständigkeitsbereich ihrer Kabinettskollegin geht.
({10})
Zur Frauenquote, zum Betreuungsgeld, zur Altersarmut
von Frauen - Frau von der Leyen hat eine dezidierte
Auffassung, und damit hält sie auch nicht hinterm Berg.
Sie weiß wirklich alles, und im Zweifel weiß sie es auch
besser, zumindest besser als die Frauenministerin. Nun
werden Sie sagen: Das ist keine Kunst.
({11})
Aber, meine Damen und Herren, wenn es um ihre originäre Zuständigkeit geht, dann lässt diese Speerspitze der
Frauenbewegung die Frauen im Stich.
({12})
Aus der Vorkämpferin für Frauenrechte wird dann ein
Duckmäuschen.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie kennen wahrscheinlich
alle die von breiten Kreisen getragene Kampagne „Nicht
meine Ministerin“. Diese Kampagne richtet sich noch
gegen Frauenministerin Schröder. Frau von der Leyen
muss aufpassen, dass nicht auch sie bald Gegenstand
dieser Kampagne wird.
Ich danke Ihnen.
({14})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Heute Nachmittag muss man sich ernsthafte Sorgen um
unsere Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion
und aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen machen.
({1})
Wenn ich die Debattenbeiträge des heutigen Nachmittags Revue passieren lasse, frage ich mich: Wer hat Regierungsverantwortung getragen, als in das Gesetz geschrieben wurde: „Bei einer Nachhaltigkeitsrücklage
von 1,5 Monatsausgaben muss automatisch der Rentenversicherungsbeitrag gesenkt werden“?
({2})
Welcher Partei gehörte jener Finanzminister an, der
schon einmal zur Haushaltskonsolidierung befristet den
allgemeinen Bundeszuschuss zur Rente abgesenkt hat?
Wer hat am 1. April 2003 dieses Land regiert, als das
heute gültige Minijobgesetz in Kraft getreten ist?
({3})
- Es war nicht die CDU/CSU. Es war nicht die FDP. Es
waren auch nicht die Linken. Wer hat denn unser Land
in dieser Zeit regiert? Es war Rot-Grün!
({4})
Alles, was Rot-Grün in der heutigen Debatte als Konsequenz der eigenen Gesetzgebung beklagt, kann sie nicht
bei der heutigen Regierungsbank abladen. Das muss sie
bei sich selber abladen.
({5})
Peter Weiß ({6})
Alle Finger, mit denen auf diese Regierungsbank gezeigt
wird, zeigen automatisch auf euch, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, zurück.
({7})
Genauso ist es bei der Grenze von 400 Euro bei einem
Minijob.
({8})
Der Kollege Straubinger hat zu Recht vorgetragen:
Wenn heute bei den Minijobs eine Grenze von 450 Euro
vorgeschlagen wird, dann ist das exakt die Nachholung
der Lohnsteigerung, der Inflation, der Preissteigerung, in
den letzten zehn Jahren, nichts anderes.
({9})
Wenn heute 450 Euro falsch sind, dann waren 400 Euro
im Jahr 2003 erst recht falsch. Das ist einfache Mathematik.
({10})
Deswegen ist alle Kritik, die Sie hier an dem Betrag vortragen, völlig falsch und völlig fehlgeleitet. Es fällt auf
Sie zurück.
({11})
Es gibt einen wichtigen Punkt, den ich herausheben will.
Es ist schon eine entscheidende Frage, ob die Masse der
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ohne Ansprüche an die Sozialversicherung bleibt oder nicht. Deswegen ist es ein entscheidender Schritt, den wir heute vorschlagen,
({12})
dass künftig auch eine Minijobberin oder ein Minijobber
in die Rentenversicherung einzahlt und damit Rentenversicherungsansprüche begründet.
({13})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man Altersarmut verhindern will, dann muss der Grundsatz gelten: Ab dem ersten Euro, der verdient wird, Beiträge in
die Rentenversicherung!
({14})
Den Grundsatz setzen wir heute durch.
({15})
Natürlich, aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis oder einem anderen Beschäftigungsverhältnis,
bei dem man nicht sehr viel verdient, erwachsen nicht
massenhaft Rentenansprüche. Für einen Schüler oder
Studenten zum Beispiel, der einen 400-Euro-Job hat, ist
es aber doch gut, erste Ansprüche in der Rentenversicherung zu erwerben,
({16})
auf die er später hoffentlich mit einem guten Gehalt aufbauen kann. Es ist doch für jemanden, der zusätzlich zu
seinem normalen Job noch einmal 400 oder 450 Euro
verdient, gut, wenn er auch hieraus Rentenansprüche erwirbt und nicht nur aus seinem eigentlichen Gehalt.
({17})
Selbst für denjenigen, der zeitweise oder auch für etliche
Jahre nur einen Minijob hat, ist doch diese Ergänzung
für die Rente wichtig.
({18})
Es ist wichtig, dass er auch in dieser Zeit Rentenansprüche erwirbt.
Im Übrigen ist nicht nur die Frage wichtig, „Wie viel
Entgeltpunkte habe ich in der Rentenversicherung durch
konkrete Beitragszahlungen angesammelt?“, sondern die
Frage ist auch: „Habe ich die Anwartschaftszeiten in der
Rente erfüllt?“ Dass die Zeit, in der ein Minijob ausgeübt wird, mitzählt, ist ebenfalls ein wichtiger Gewinn für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land.
({19})
Heute wird gegenüber dem Gesetz aus rot-grüner Zeit
nichts verschlechtert, sondern etwas Entscheidendes verbessert, indem Rentenbeiträge für Minijobber zur Regel
werden. Das ist der eigentliche große Erfolg, den wir in
dieser Koalition schaffen. Wir verbessern das, was in
rot-grüner Zeit nur schlecht gemacht worden ist.
({20})
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der Grünen? Ich habe jetzt nicht aufgepasst.
Ja, wenn die Debatte verlängert werden soll, bitte.
Kollegin Pothmer, bitte.
Herr Kollege Weiß, ich frage Sie, ob Sie die Begründung Ihres Gesetzentwurfes gelesen haben
({0})
und ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass Sie selber - sozusagen die Autorinnen und Autoren des Gesetzentwurfes - davon ausgehen, dass diese Opt-out-Regelung dazu führen wird, dass 90 Prozent aller
Minijobberinnen und Minijobber eben nicht die Rentenbeiträge zahlen, sondern einen Antrag stellen werden,
um sich davon zu befreien?
({1})
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es über diesen Weg
unmöglich zu erreichen sein wird, dass alle Minijobberinnen und Minijobber Beiträge in die Rentenversicherung zahlen?
Verehrte Frau Kollegin Pothmer, es gibt einen entscheidenden Unterschied zur heutigen Situation. Wer
heute einen Minijob annimmt, muss von sich aus tätig
werden
({0})
und einen Antrag stellen, dass er gerne einen Beitrag in
die Rentenversicherung zahlen will. Künftig - das ist der
entscheidende Unterschied - ist man automatisch in der
Rentenversicherung versichert, muss seinerseits aktiv
werden
({1})
und eine Erklärung abgeben: Ich möchte keinen Rentenversicherungsbeitrag zahlen.
Frau Kollegin Pothmer, es wird auch an uns selber
liegen, ob wir als Abgeordnete zum Beispiel in unseren
Wahlkreisen bei den Betroffenen dafür werben, diese gesetzliche Regelung zu akzeptieren und zu praktizieren
({2})
und nicht die Ausnahmeregelung für sich in Anspruch zu
nehmen.
({3})
Ich gebe ehrlich zu - damit möchte ich zum Abschluss kommen -, dass die Arbeitgeber zu Recht darauf
hinweisen, dass eine solche Opt-out-Regelung zusätzliche Bürokratie für sie bedeutet.
({4})
Deswegen bin ich der Auffassung, dass es gut wäre,
wenn wir noch einmal über diese Opt-out-Regelung
nachdächten.
({5})
Aber, Frau Kollegin Pothmer, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, ist
immerhin eine deutliche Verbesserung gegenüber dem,
was heute im Gesetz steht. Wir sind also auf dem richtigen Weg: für mehr Sozialversicherung, auch für Minijobber, und damit für mehr Ansprüche in der Rentenversicherung.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10773 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Dorothée Menzner, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein Sponsoring
der Konzerne durch Stromkunden
- Drucksachen 17/8608, 17/9999 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Marco Bülow
Eva Bulling-Schröter
Hans-Josef Fell
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Wir haben einen Antrag vonseiten der Linken
zum Thema Energieintensive Industrie vor uns liegen.
Ich möchte ganz offen für diesen Antrag danken, weil er
noch einmal deutlich macht, welche Wahlkampfstrategie
Sie schon jetzt für die nächsten Monate einleiten.
Sie möchten im Zuge der Energiedebatte, die für unser Land sehr wichtig ist, im Wahlkampf eine reine Verteilungsdebatte führen. Ihnen geht es nicht mehr darum,
wie wir die Energiewende gemeinsam meistern, wie wir
es schaffen, die Energiewende für jeden bezahlbar zu
machen, sondern Sie fragen nur noch, wer diese Energiewende bezahlt.
Ich glaube, dass die Debatte, die Sie anstoßen - übrigens auch mit Unterstützung der Grünen und der SPD
oftmals -, uns auf einen Irrweg führt und Sie damit eine
Zündschnur an die Energiewende legen. Sie sind damit
eine große Gefahr für die Energiewende.
({0})
Wir sind der Auffassung: Die Energiewende muss für
alle bezahlbar sein. Jeder muss Gewinner der Energiewende sein. Deshalb sollten wir andere Debatten führen.
Ich nehme Ihren Antrag jedoch gerne zum Anlass, dass
wir einmal sehr grundsätzlich über die Frage diskutieren,
wie wir die energieintensiven Industrien schützen, weil
wir damit auch Arbeitsplätze schützen. Ich unterstütze
gerne deutsche Arbeitsplätze und innovative Unternehmen in unserem Land.
({1})
Deshalb ist es richtig, sich die energieintensiven Industrien einmal genau anzuschauen.
Wir haben in Deutschland 5,7 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie, die wiederum 45 Prozent des
Stroms verbraucht. Knapp 1 Million Arbeitsplätze gibt
es in den energieintensiven Industrien; 53 Milliarden
Euro werden in diesen Industrien erwirtschaftet. Dazu
gehören die Papierindustrie, die Glasindustrie, die Chemieindustrie. Die wichtigen Werkstoffe Aluminium,
Kupfer und Zink werden hier produziert. Diese Werkstoffe bilden die Grundlage unserer Energiewende. Beispielsweise braucht man für den Bau einer Offshorewindanlage allein 30 Tonnen Kupfer. Das zeigt, dass wir
diese Werkstoffe brauchen, dass wir günstige und bezahlbare Werkstoffe brauchen, um die Energiewende tatsächlich zu meistern.
({2})
Wir brauchen in Deutschland wettbewerbsfähige Energiepreise.
({3})
Wenn man sich die Preise anschaut, dann bereitet das
schon Sorge. Die Stromkunden aus der Industrie zahlen
in Deutschland bereits heute 10 Eurocent je Kilowattstunde. In Frankreich sind es nur 5,6 Cent je Kilowattstunde. In den USA liegen die Preise bei 4 bis 5 Cent je
Kilowattstunde.
({4})
Da zeigt sich, dass wir bereits heute einen erheblichen
Wettbewerbsnachteil haben und dafür sorgen müssen,
dass dieser Nachteil nicht noch ausgeweitet wird. Deshalb müssen wir großes Augenmerk auf diese Preise legen. Eine mittelständische Chemiefirma hat heute schon
500 000 Euro bis 1 Million Euro mehr Energiekosten als
eine vergleichbare Firma in Frankreich.
({5})
Die Zahlen allein zeigen schon, lieber Herr Krischer,
dass das arbeitsplatzgefährdend sein kann.
({6})
Es ist deshalb richtig - jetzt ist auch mal ein Lob für
Rot-Grün fällig -, dass Rot-Grün diese damals neuen
Kosten für die energieintensiven Industrien zum Anlass
genommen hat, diese Industrien zu entlasten.
({7})
Sie haben damals, im Jahr 2000, die EEG-Befreiung auf
den Weg gebracht. Nur war es damals falsch, dass Sie
von Rot-Grün nur die großen Konzerne mit einem Verbrauch von mehr als 10 Gigawattstunden entlastet haben. Wir haben in der jetzigen Koalition dafür gesorgt,
dass auch der industrielle Mittelstand entlastet wird,
({8})
der in einem enormen Wettbewerb steht; er muss stärker
im Fokus stehen.
({9})
Das haben wir in der jetzigen Koalition entsprechend angepasst.
Wir haben klare Kriterien eingeführt.
({10})
Wir haben gesagt: Internationaler Wettbewerb und Energieintensität müssen vorliegen, und der Verbrauch muss
mehr als 1 Gigawattstunde betragen. Das sind klare Kriterien, die Willkür verhindern und klar regeln, wer Nutznießer ist.
({11})
Beim Netzentgelt haben wir an das angeknüpft, was
Rot-Grün gemacht hat, und sind sogar noch weiter gegangen, indem wir gesagt haben, dass wir auch die Systemrelevanz als Grundlage sehen müssen, angefangen
beim großen Pumpspeicherkraftwerk, das wir für die
Energiewende brauchen, bis hin zu kleinen Wärmepum23430
pen und Nachtspeichern. Ich glaube, das ist der richtige
Weg. Auch das muss der Wahrheit halber gesagt werden.
({12})
Auch beim Spitzenausgleich führen wir fort, was RotGrün begonnen hat. Wir gehen sogar noch einen Schritt
weiter als Rot-Grün:
({13})
Wir zahlen den Spitzenausgleich ab 2013 nur noch dann,
wenn in dem Unternehmen wirklich ein Energiemanagementsystem eingeführt wird
({14})
und wenn ganz klar und deutlich eine Energieeffizienzsteigerung zu erkennen ist. Auch da gehen wir sogar
noch weiter als Rot-Grün.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entlastungen sind notwendig. Ich will den Vorwurf ausräumen,
dass die energieintensiven Industrien nichts zahlen. Die
chemische Industrie allein zahlt 720 Millionen Euro
EEG-Umlage. Das sind pro Arbeitsplatz 1 800 Euro
EEG-Umlage.
({16})
Wenn Sie diese Zahl noch nicht überzeugt, dann rate ich
gerade Ihnen von den Linken zu Gesprächen mit den Gewerkschaften, die vehement für Entlastungen für die
energieintensiven Industrien kämpfen. Vor wenigen Tagen hat die Kanzlerin, wie man in der Zeitung liest, ein
Schreiben von den Gewerkschaften bekommen. Herr
Vassiliadis schreibt hier:
Eine der wichtigsten Standortbedingungen für die
energieintensive Chemieproduktion ist die Gewährung von Entlastungsregelungen, beispielsweise bei
EEG, Ökosteuer und Emissionshandel.
In diesem Sinne packen wir die Energiewende an,
entlasten diejenigen, die es brauchen,
({17})
und sichern damit Arbeitsplätze. Ich denke, wir machen
dort weiter, wo Rot-Grün aufgehört hat.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen hier
doch einmal die Wahrheit auf den Tisch bringen.
({0})
Heute hat der Herr Kollege Bareiß gesprochen. In der
ersten Lesung am 29. März dieses Jahres hat der CDUKollege Koeppen über den Titel des Antrags der Linken
- ich will ihn noch einmal nennen: „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein
Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden“ - gesprochen. Der Herr Kollege bemühte an dieser Stelle den
Duden. Er hat gesagt:
„Unberechtigt“ heißt rechtswidrig, heißt ungesetzlich, heißt illegal oder auch, wenn man es weitertreiben würde, kriminell.
Mal ganz abgesehen davon, dass „kriminell“ im Duden
nicht als Synonym für „unberechtigt“ geführt wird, ist
das ja nur eine der Bedeutungen.
({1})
„Unberechtigt“, so sagt der Duden, kann ebenfalls
„grundlos“ oder „unbegründet“ heißen, aber die Begriffe
„grundlos“ und „unbegründet“ sind weniger spektakulär,
und - was noch viel wichtiger ist - darauf kann man
keine billige Polemik aufbauen.
({2})
Ich persönlich halte diese Art des Umgangs mit dem
Duden für bezeichnend für die Regierungskoalition.
({3})
Sie sehen immer nur die halbe Wahrheit. Was Ihnen
nicht passt, das blenden Sie einfach aus.
({4})
Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir alle uns in einem Punkt sehr einig sind, nämlich dass die energieintensiven Unternehmen, die auch im internationalen
Wettbewerb stehen, nicht zusätzlich belastet werden sollen. Dazu stehen wir als SPD, und so hatten wir es damals unter Rot-Grün bei der Ökosteuer festgeschrieben.
Ausnahmeregelungen müssen begründet sein; auch dazu
stehen wir. Genau diese Regelung - das gehört ebenfalls
zur Wahrheit - hat Schwarz-Gelb in diesem Jahr entscheidend geändert. Früher galt, dass ein Unternehmen
ab einem Stromverbrauch von 10 Gigawattstunden pro
Jahr als energieintensives Unternehmen geführt wurde.
Heute reicht ein Jahresverbrauch von 1 Gigawattstunde.
Waltraud Wolff ({5})
Was - meine Damen und Herren hier oben, Sie wissen es
bestimmt nicht - bedeutet das denn?
({6})
Das bedeutet, dass heute statt 540 Unternehmen - ich
beziehe mich jetzt auf Zahlen der Bundesregierung 1 600 oder mehr Unternehmen entlastet werden. Mit anderen Worten: Statt 2,1 Milliarden Euro werden künftig
bis zu 3,2 Milliarden Euro an Erneuerbarer-EnergienUmlage von kleinen Unternehmen und von den Privathaushalten bezahlt. Das ist doch wieder eine richtige
Entscheidung à la FDP. Irgendwie hat mich das an die
Steuergeschenke an die Hoteliers erinnert.
({7})
Da fragt sich natürlich auch der kleine Handwerker,
weshalb er eigentlich für ein großes Kaufhaus die EEGUmlage zahlen soll, und auch die Rentnerin fragt sich,
wieso sie eigentlich die Kosten schultern soll, damit ein
Hotel entlastet werden kann. Diese besondere Ausgleichsregel ist einzig und allein für die energieintensiven Unternehmen geschaffen worden, weil wir die Arbeitsplätze und Deutschland als Industriestandort erhalten wollen. Es muss die Frage erlaubt sein: Ist die
massive Ausweitung, die diese Koalition jetzt vorgenommen hat, überhaupt begründbar?
Die Bundesnetzagentur hat im März dieses Jahres einen Bericht vorgelegt, in dem sie zu dieser Frage Stellung explizit genommen. Sie hat gefragt, ob das wirklich
noch die richtige Balance ist. Es wird ausgeführt, dass
im Jahr 2012 die begünstigten Unternehmen zwar
18 Prozent des gesamten Stroms verbraucht haben, aber
- das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen sage und schreibe nur einen Anteil von 0,3 Prozent an
der Erneuerbaren-Energien-Umlage bezahlt haben. Mit
anderen Worten: Die Umlage, die uns demnächst ins
Haus steht, nämlich 3,59 Cent je Kilowattstunde, läge
ohne dieses Privileg bei genau 3 Cent pro Kilowattstunde.
Ich sage es noch einmal: Wir als SPD stehen zu einer
Ausnahmeregelung. Die Bundesnetzagentur hat doch
völlig recht, wenn sie infrage stellt, ob hier noch die
richtige Balance gewahrt wird und ob kleine Unternehmen und Privathaushalte an dieser Stelle in die Bresche
springen sollten für Unternehmen, die neuerdings zu den
intensiven Energieverbrauchern gehören sollen.
Übrigens klagte Schwarz-Gelb die ganze Zeit - auch
das ist sehr bezeichnend - über die hohen Kosten, die
mit der Erneuerbaren-Energien-Umlage für die privaten
Haushalte verbunden sind. Bei dieser Geschenkerunde
jetzt sagt aber niemand von Ihrer Seite, dass die Privathaushalte und die kleinen Unternehmen die Zeche dafür
bezahlen. Das ist doch die Wahrheit.
({8})
Sie selber mit Ihrer Gesetzgebung sind die Kostentreiber
bei der Umlage für erneuerbare Energien.
Ich bin Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Wir sind lange der
Frage nachgegangen, wie wir unseren Wohlstand erhalten und trotzdem den unsäglich großen Verbrauch unserer Umwelt begrenzen können. Ist es möglich, diese Prozesse zu entkoppeln und unser Klima zu schützen? Ein
Baustein - das ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg unstrittig - ist der sparsame Umgang mit Energie. Wird der
Strom teurer, sieht jeder zu, dass er Strom sparen kann.
Das machen auch Unternehmen. Diesen Fakt haben besonders die Unionspolitiker und die FDP-Politiker betont. Klar ist aber, dass die Ausweitung dieser Ausnahmeregelung diesem Ansatz widerspricht. Damit kommt
man nicht zu Einsparungen, und so verbessert man auch
nicht die Energieeffizienz.
Was spräche eigentlich gegen ein verpflichtendes
Energiemanagement als Voraussetzung für die Begünstigung bei der Energiesteuer? Darüber sollte man einmal
nachdenken. Ein Energiemanagement, das nicht nur den
Energieverbrauch und die Einsparpotenziale bewertet,
sondern auch die Umsetzung von empfohlenen Maßnahmen vorschreibt, wäre eine Möglichkeit, um in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für diese Begünstigung zu
erreichen.
Ein Teil unserer Industrie, an dem Arbeitsplätze und
Wohlstand hängen, ist stromintensiv, keine Frage. Niemand will die Produktion aus Deutschland verbannen.
Fakt ist aber, dass bis 2020 - nach Schätzungen - 20 bis
40 Prozent des Energieverbrauchs in der Industrie durch
einen wirtschaftlicheren Einsatz eingespart werden
könnten. Dieses Potenzial müssen wir heben. Hier muss
man ansetzen und nicht entlasten, wenn mehr verbraucht
wird.
({9})
Entlastungen dürfen nur dort erfolgen, wo sie notwendig
sind.
Zum Schluss: Viele Fragen, die in Ihrem Antrag, im
Antrag der Linken, gestellt werden, sind richtig. Ihr Antrag enthält aber viele pauschale Äußerungen in Bezug
auf Industrie und Standortfragen, die Arbeitsplätze betreffen. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Meine Fraktion wird sich der Stimme enthalten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Wolff, Sie sollten sich vielleicht nicht nur mit Professoren in Enquete-Kommissionen beschäftigen, sondern als
Sozialdemokratin auch einmal in die Betriebe in
Deutschland gehen und sich den industriellen Mittelstand anschauen.
({0})
Sie sollten sich anschauen, wie die Arbeitswirklichkeit
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der chemischen
Industrie aussieht. Die meisten Unternehmen in der chemischen Industrie sind nämlich nicht so groß wie die
BASF.
({1})
Man muss sich einmal genau anschauen, was Sie gerade gesagt haben. Sie haben, wie ich unserem sogenannten Parlamentsbuch entnommen habe, einen Abschluss als Unterstufenlehrerin für Mathematik. In der
Unterstufe lernt man ja schon Prozentrechnung.
({2})
Das scheint bei Ihnen nicht mehr so ganz präsent zu sein,
Frau Wolff.
({3})
Sie haben uns hier erzählt, das Kriterium für Energieintensität sei der Energieverbrauch. Den Schwellenwert,
den Sie angesprochen haben - 1 Gigawattstunde oder
10 Gigawattstunden -, den gibt es. Das Kriterium dafür,
ob ein Unternehmen zu den energieintensiven Unternehmen zählt oder nicht, ist aber ein Prozentsatz: 14 Prozent
der Wertschöpfung. Das ist das Kriterium, das die SPD
eingeführt hat. Diese Koalition hat es nicht geändert.
({4})
Den Schwellenwert haben wir in der Tat geändert. Sie
haben nur die Großunternehmen befreit, nur die
Thyssens und die BASFs dieser Republik. Es ist an ihrer
Politik unschwer erkennbar. Sie sind die Genossen der
Bosse. Wir sind diejenigen, die für den industriellen
Mittelstand und für die Arbeiter in diesen Unternehmen
stehen.
({5})
Den Grünen ist die Wertschöpfung ja egal. Man fährt im
Porsche Cayenne zum Bioladen, und die Arbeiter in der
Chemieindustrie sind einem egal.
({6})
Aber von Sozialdemokraten würde ich einen anderen
Ansatz erwarten und nicht, dass Sie hier so tun, als seien
die Industrieunternehmen im Mittelstand nicht im internationalen Wettbewerb.
({7})
Sie wollen das deutsche Volk täuschen, indem Sie sagen:
Alle Kostensteigerungen gibt es nur deswegen, weil wir
hier jetzt irgendwelche Unternehmen begünstigen.
({8})
Nein, die Wahrheit ist, dass wir an dieser Stelle Arbeitsplätze in Deutschland, die im internationalen Wettbewerb stehen, schützen.
({9})
Dazu stehen wir. Wir sind stolz auf die Arbeiterinnen
und Arbeiter in diesem Land.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Ja bitte, er hat wahrscheinlich wieder keine Redezeit
von seiner Fraktion bekommen.
({0})
Ich werde als stellvertretender Fraktionsvorsitzender
in meiner Fraktion laufend unterdrückt, was die Redezeit
angeht.
({0})
Ich fand es übrigens nicht gut - eine kurze Bemerkung dazu möchte ich machen -, über die Berufe anderer
herzuziehen. Vor allem sollte man, wenn man selber
auch noch nie in der freien Wirtschaft gearbeitet hat, das
nicht jemandem anders vorwerfen.
({1})
Meine Frage: Sie nennen die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen als Kriterium - das ist
eines der drei Kriterien, die auch wir in unseren Anträgen nennen - und benennen dann erst einmal Firmen, die
schon zu Regierungszeiten der SPD diese Ausnahmen
bekommen haben und von denen wir sagen, dass sie
auch beibehalten werden sollen. Ich möchte Sie hinsichtlich ein paar Unternehmen, die auch schon in der Öffentlichkeit genannt wurden, fragen,
({2})
was dort die internationale Wettbewerbsfähigkeit ausmacht.
Der Deutsche Wetterdienst, eine Behörde, ist jetzt
durch Sie von der EEG-Umlage befreit. Der Flughafen
Stuttgart lagert alles, was mit Energie zu tun hat, in einen
neuen Konzern mit einem Mitarbeiter aus und lässt diesen von der EEG-Umlage befreien. Glauben Sie, dass
dieser eine Mitarbeiter gefährdet wäre, wenn der Flughafen Stuttgart weiter EEG-Umlage zahlen müsste? Sie
und auch ich lieben ein gepflegtes Bier. NordrheinWestfalen ist ja das wirkliche Hauptland der Bierbrauerei. Glauben Sie, dass sich niemand mehr für unsere
Biere entscheiden würde, wenn Sie die Brauereien in
Deutschland nicht von der EEG-Umlage befreien
würden? Wo sehen Sie da die internationale Wettbewerbsfähigkeit? Sie weiten doch im Augenblick die
Ausnahmen mit der Gießkanne zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher aus.
Lieber Herr Kelber, ich wiederhole es: Wir haben das
Energieintensitätskriterium nicht geändert. Die Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Bahn, die in Ihrer Zeit
bereits als energieintensives Unternehmen eingestuft
wurde, ist im internationalen Wettbewerb zumindest auf
den deutschen Strecken auch nicht gefährdet. Wenn Sie
also das kritisieren, dann gebe ich diese Kritik gerne an
Sie zurück.
({0})
Die Frage ist in der Tat, ob wir uns ganz sachlich und
unemotional anschauen müssen, ob man die unterschiedlichen Kriterien, die wir bei den Bereichen Emissionshandel, Energiesteuer und EEG für die Ausnahme- und
Reduktionstatbestände anwenden, besser angleichen
könnte. Da können wir gerne zusammenarbeiten, um
solche Beispiele, wie Sie sie - ({1})
- Herr Krischer, Sie kommen noch dran. Das können Sie
dann gleich alles erzählen.
({2})
Herr Kelber, wir können gerne seriös darüber sprechen, wie man diese Stilblüten, die Sie hier vortragen,
zum Beispiel den Deutschen Wetterdienst, dort wieder
herausbekommt. Aber ich sage noch einmal ganz deutlich: Am Energieintensitätskriterium der SPD haben wir
nichts geändert. Wir haben nur die Schwellenwerte abgesenkt, damit Chemieunternehmen in Chemieparks und
Zulieferer, zum Beispiel im Sauerland - Sie haben gerade auf NRW verwiesen -, die auch energieintensiv
sind, genau die gleichen Rechte haben wie Thyssen,
BASF, Lanxess oder andere Großunternehmen in dieser
Republik.
({3})
Herr Präsident, der Kollege möchte eine Zwischenfrage stellen. - Ja, gerne.
Sie haben schon voreilig Ja gesagt. - Also, bitte
schön, Herr Kollege.
({0})
Ich möchte in der Tat eine Nachfrage stellen, ganz im
Sinne von Herrn Kelber.
({0})
Sie stimmen mir doch sicher zu, dass wir keine einzelbetriebliche Regelung getroffen, sondern Kriterien festgelegt haben, nach denen sich die Unternehmen melden
können.
({1})
Wir haben bei dieser Reform die Unternehmen, die Sie
befreit hatten, die aber, wie wir festgestellt haben, nicht
dem europäischen oder dem weltweiten Wettbewerb
unterliegen, sofern sie identifiziert werden konnten,
herausgenommen.
({2})
Ein Beispiel, von dem ich leider persönlich betroffen
bin - genau -, ist der Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung. Dieses Unternehmen ist ein energieintensives. Das führt - im Übrigen nicht zur Freude derjenigen,
die insbesondere in der Region Stuttgart betroffen sind zu einer rund 10-prozentigen Wasserpreiserhöhung.
Aber in der Tat: Beim Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Unternehmen nach Hongkong oder nach Paris auswandert,
relativ gering. Deshalb ist das Unternehmen bei der letzten Reform, als es als energieintensives Unternehmen
erkannt wurde, herausgenommen worden.
({3})
Ich gehe davon aus, dass wir uns mit diesem Thema gemeinsam mit der FDP und mit Herrn Kauch, sobald die
entsprechenden Erkenntnisse vorliegen, befassen und
die Regelung verändern werden.
({4})
Aber wir sollten jetzt nicht versuchen, uns gegenseitig
mit Einzelbeispielen, die die energieintensive Industrie
insgesamt in ein falsches Licht rücken, vorzuführen.
({5})
Herr Kollege Pfeiffer hat völlig recht; er sieht das
richtig. Die FDP wird gerne mit Ihnen darüber diskutieren, wie wir die Ausnahmeregelungen treffsicher gestalten.
({0})
Unser gemeinsames Anliegen ist, Arbeitsplätze in energieintensiven Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, zu befreien, damit es nicht zu Verzerrungen im internationalen Wettbewerb kommt; da sind wir
ganz einer Meinung.
Meine Damen und Herren, noch einmal: Wir müssen
die unterschiedlichen Reduktions- und Befreiungstatbestände möglichst einheitlich und treffsicher gestalten
und sie zusammenführen. Das ist auch im Interesse der
Unternehmen, für die unterschiedliche Vorgaben gelten,
was den Emissionshandel, die Energiesteuer und das
EEG angeht.
Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie schaffen
wir es, dafür zu sorgen, dass nicht immer mehr auf immer weniger Schultern lastet? Das ist ja der Ausgangspunkt dieser Debatte. Wie können wir verhindern, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher, also die Privathaushalte, am Schluss allein die Zeche zahlen?
({1})
An dieser Stelle sage ich ganz klar in Richtung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie: Es ist keine gute
Lobbyarbeit, kein gutes Vorschlagsmanagement, wenn
vonseiten der Industrie ständig die Forderung nach weiteren Befreiungen erhoben wird. Es darf nicht so weit
gehen, dass wir die gesamte deutsche Wirtschaft von
EEG-Umlage, Energiesteuer usw. befreien; das ist völlig
klar.
({2})
Am Schluss muss Energie für alle Bürgerinnen und Bürger bezahlbar sein.
({3})
Ihre Strategie, Ihre Ablenkungsstrategie, wird nicht
verfangen. Es ist ja ganz klar, was Sie mit Blick auf den
15. Oktober dieses Jahres machen. Am 15. Oktober wird
die EEG-Umlage um voraussichtlich 50 Prozent steigen.
({4})
Ihre Antwort ist ganz einfach:
({5})
Das liegt nur an der Befreiung der energieintensiven
Unternehmen. - Das ist doch Volksverdummung, was
Sie hier betreiben.
({6})
Zu einem großen Teil liegt diese Steigerung der EEGUmlage nämlich am unkoordinierten Ausbau der Photovoltaik in der Vergangenheit.
({7})
Diese Koalition aus FDP und Union hat diesen Missstand beseitigt. Wir als FDP gehen noch weiter: Wir
wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Energiewende auf Dauer nicht überlastet werden
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
- und dass bei jedem Cent, den wir den Bürgerinnen
und Bürgern hier aufbürden, möglichst viel an erneuerbaren Energien herauskommt. Deshalb sollten Sie nicht
ablenken, sondern gemeinsam mit uns an einer wirklichen Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes arbeiten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist eine interessante Debatte.
({0})
Ich habe das Gefühl, wir haben eine empfindliche Stelle
getroffen. Inzwischen haben die Medien ja schon sehr
viel über das Thema berichtet. Sie ist auch deshalb empfindlich, weil bei den Kosten der Energiewende bzw. der
Energiepolitik sehr oft die Unwahrheit gesagt und auch
geheuchelt wird.
({1})
Wenn es um die Kostenrechnung geht, dann machen
Sie Stimmung; denn es geht Ihnen darum, regenerative
Energien zurückzudrängen. Das Stichwort von Herrn
Kauch war „unkoordinierter Ausbau“. Stellen Sie sich
vor: Jetzt bauen die einfach unkoordiniert regenerative
Energien aus! Frechheit!
Herr Rösler und Herr Altmaier übersehen geflissentlich - das muss man den Wählerinnen und Wählern
sagen -, was die Kosten von Kohle- und Atomstrom
sind. Darüber haben wir heute noch gar nicht gesprochen. Wir reden hier über Kosten von 1 Euro pro Kilowattstunde. Die Wählerinnen und Wähler sind nicht so
dumm, wie Sie glauben.
Es geht natürlich um Umverteilung; das ist richtig.
Sie haben richtig erkannt, dass es uns, den Linken, um
Umverteilung geht, nämlich um die Umverteilung der
Energiekosten. Es kann eben nicht sein, dass immer
mehr ausgenommen wird und dass Otto Normalverbraucher und der Mittelstand das alles dann bezahlen müssen. Das wird ihnen übergestülpt, und sie sollen dann
schauen, wie sie damit zurechtkommen.
Es wird dann immer das Argument Wettbewerbsprobleme genannt. Das haben wir rauf und runter gehört.
Darüber, ob sie tatsächlich existieren oder herbeifantasiert werden, reden wir nicht. Wir müssten eine Debatte
darüber führen, aber die Lobby der Firmen - die kennen
wir ja alle -, die viel verbrauchen, schafft es einfach immer wieder, Gesetze zu beeinflussen, sodass sie sauber
dabei herauskommen, manchmal sogar mit einem leistungslosen Gewinn. Die privaten Verbraucherinnen und
Verbraucher bezahlen das dann. Wir halten das für unsozial und auch für wirtschaftsfeindlich.
Ich sage Ihnen: Ich war letzten Samstag beim Technischen Hilfswerk, der Helferorganisation, in Bayern. Dort
waren auch drei CSU-Abgeordnete; einer sitzt hier.
({2})
Das THW hat sich auch über die Stromkosten beschwert, weil es immer mehr bezahlen muss. Sie haben
uns gebeten, den Haushalt für das THW zu erhöhen, weil
sie die Energiekosten nicht mehr bezahlen können. So
läuft eins ins andere.
Jetzt noch einmal zu unserem Antrag. Es geht um die
Privilegien beim EEG, bei der Energie- und bei der
Stromsteuer. Der Spitzenausgleich bei der Ökosteuer
soll bis 2022 verlängert werden. Auch hier werden Unternehmen im zweistelligen Milliardenbereich entlastet.
Das ist jetzt neu und wird demnächst erst beschlossen.
Es geht um Netzentgelte usw. In der Summe macht das
9 Milliarden Euro im Jahr aus. Den größten Teil davon
würden wir anders verwenden, nämlich zur Abfederung
der Kosten der Energiewende, nicht nur im privaten Bereich, sondern auch zur Begleitung von Strukturbrüchen,
also für Umschulung, Weiterbildung, Umzugsfinanzierung und einen gut abgesicherten Vorruhestand, worum
es heute bei der Debatte um die Rente auch ging.
({3})
Ich meine, das sind wir den Kohlekumpels und vielen
anderen, um deren Lebensleistung es hier nämlich geht,
auch wirklich schuldig; denn zum Teil werden Arbeitsplätze vor Ort verloren gehen, ob mit oder ohne Privilegierung. Wir müssen in neue Zukunftsbranchen investieren; das ist dringend notwendig.
({4})
Noch einmal: Es geht uns nicht darum, energieintensive Unternehmen niederzumachen. Das ist eine Lüge,
die verbreitet wird.
({5})
Bei dieser Lüge - die Gewerkschaften wurden angesprochen - mischen auch einige Kollegen von den Grünen
und der SPD mit, die mir geschrieben haben. Sie müssten es eigentlich besser wissen; denn Ihre Kollegen hier
wissen es besser.
({6})
Es geht uns darum, zu unterstützen und zu gucken,
wer wirklich im Wettbewerb steht. Ich meine, hier können wir gemeinsam mit den kleinen Firmen kämpfen,
die die steigenden Energiepreise zum Teil eben nicht
überleben werden. Wir kämpfen für Menschen mit niedrigem Einkommen. Das macht nicht die FDP. Das machen wir.
({7})
Wir wollen eine lebenswerte Zukunft und zukunftsfeste
Arbeitsplätze.
Noch eine Information: Ich bin von Beruf Schlosserin. Das habe ich gelernt. Ich war bis zu meiner Wahl in
den Bundestag als Schlosserin tätig.
({8})
Ich war acht Jahre im Bundestag und habe dann wieder
drei Jahre an der Basis gearbeitet. Ich kenne die Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Job gemacht. Ich besuche meine Kolleginnen und Kollegen auch.
({9})
Im Gegensatz zu Ihnen habe ich schon meine Schaufel in
der Hand gehabt, wie das Polt, der Kabarettist, sagen
würde.
({10})
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist völlig klar: Es gibt in Deutschland energieintensive
Branchen, die im internationalen Wettbewerb stehen.
({0})
Diese brauchen Ausnahmen bei Umlagen und Steuern,
weil sie sonst im internationalen Wettbewerb keine
Chance haben. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass es
in Deutschland niedrigere Industriestrompreise und vor
allen Dingen fallende Industriestrompreise gibt.
Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Wir waren neulich bei der Firma Bayer MaterialScience. Dort wurde
uns eine schöne Grafik aufgelegt, und es hieß: Ja, in
Deutschland ist das Niveau der Industriestrompreise
günstiger als beispielsweise in Frankreich, günstiger als
in Teilen des osteuropäischen Auslands. - Fragen Sie bei
Bayer MaterialScience nach, nicht unbedingt verdächtig,
eine den Grünen besonders nahestehende Organisation
zu sein.
Ein weiteres Beispiel: Norsk Hydro, ein Alukonzern,
verlagert seine Produktion nach Deutschland, weil hier
die Industriestrompreise niedrig sind, gefallen sind, unter anderem gesenkt durch den Ausbau der erneuerbaren
Energien, den Sie abbremsen wollen. Das ist die Realität.
Der bekannteste Aluhersteller, der größte private
Stromverbraucher in Deutschland, die Firma Trimet in
Essen - Herr Kauch, Sie kennen sie - meldet einen Verlust, aber - jetzt hören Sie zu! - nicht wegen gestiegener
Strompreise, sondern wegen gefallener Strompreise. Die
Firma hatte darauf gewettet, dass die Strompreise steigen werden, hatte dafür entsprechende Versicherungen
abgeschlossen, und jetzt muss sie zahlen. Das ist Realität
in Deutschland, nicht das Bild, das Sie hier zeichnen.
({1})
Unser Problem - das ist schon eine Reihe von Malen
angesprochen worden - ist: Wir haben überbordende
Ausnahmeregelungen. Das beste Beispiel dafür - ich
meine, Sie haben es eben eine Stilblüte genannt, Herr
Kauch - ist der Deutsche Wetterdienst. Ihr Minister, das
wirtschaftspolitische Schwergewicht Herr Rösler, hat in
der letzten Sitzungswoche hier gestanden und auf meine
Zwischenfrage geantwortet: Der Deutsche Wetterdienst
braucht diese Ausnahmeregelungen, weil er leistungsfähige Computer hat. - Meine Damen und Herren, auf diesem Niveau arbeiten Sie.
Erklären Sie mir bitte einmal, warum die Rechenzentren von Telekommunikationsunternehmen in Deutschland von den Netznutzungsentgelten befreit werden.
Keine Erklärung! Es ist niemandem zu erklären, warum
Sie das wollen und warum Sie das machen. Sie können
auch überhaupt niemandem erklären, warum RWE und
Vattenfall bei der Braunkohlenförderung von der EEGUmlage befreit sind. Das ist eine Absurdität im Quadrat.
Sie müssen tagtäglich daran arbeiten, das zu ändern.
Es kommt hinzu, dass diese ganzen Regelungen völlig intransparent sind. Bei der EEG-Umlage ist es 1 Gigawatt, beim Netznutzungsentgelt haben Sie 10 Gigawatt festgelegt. Bei der Haftungsumlage Offshore, die
Sie als Protokolldebatte einbringen, sind es plötzlich
100 000 Kilowattstunden. Dann gibt es noch ein Eigenstromprivileg für Unternehmen mit Kraftwerken. Das
führt zu der Absurdität, dass die Bundesregierung selber
nicht mehr sagen kann, welche Industriezweige welche
Befreiungen haben. Das können Sie niemandem erklären. Das können Sie draußen niemandem mehr verständlich machen.
({2})
Diese ganzen Subventionen summieren sich inzwischen auf über 10 Milliarden Euro. Über diesen Betrag
reden wir. Diesen müssen am Ende die privaten Verbraucher zahlen. Herr Kauch, wenn Sie hier den BDI kritisieren, dann müssen Sie einmal mit dem Kollegen Pfeiffer
von der Wirtschafts-AG der CDU/CSU - Pfeiffer mit
drei f - in einen Dialog eintreten. Er schickt nämlich ein
Papier herum, in dem steht: Die Befreiungstatbestände
sind noch lange nicht ausreichend. Wir wollen noch viel
mehr. Er sagt offen und ehrlich und deutlich: Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen die Energiewende, dann sollen sie sie auch bezahlen. - Das ist das
Credo von Herrn Pfeiffer und weiten Teilen Ihrer Koalition.
({3})
So kann es ja nun nicht laufen, dass auf der einen
Seite die Industrie durch Aufträge und sinkende Preise
von der Energiewende profitiert und auf der anderen
Seite die privaten Verbraucher nur bezahlen. Das werden
wir nicht hinnehmen. Das muss ordentlich debattiert und
am Ende geändert werden.
({4})
Der Antrag der Kollegen der Linken benennt die Probleme in der Tat richtig. Aber wenn es an die Lösung
geht, wird es reichlich nebulös.
({5})
Dazu finde ich keinen guten Vorschlag. Deshalb werden
wir uns an dieser Stelle enthalten.
Ich kann Ihnen ankündigen - das steht schon auf der
Tagesordnung -: Wir werden in der nächsten Woche einen Antrag einbringen, in dem wir konkrete Vorschläge
machen, wie wir das Problem am Ende regeln werden.
Es kann nur in der Weise sein, dass wir klare Grenzen
ziehen, was Energieintensität und Außenhandelsintensität von Unternehmen angeht. Ich sage bewusst „und“,
nicht „oder“; denn das sind die Kriterien.
Wir müssen vor allen Dingen die absurden Schwellen
und Stufenwerte abschaffen, die dazu führen, dass einzelne Unternehmen ihren Energieverbrauch künstlich
hochschrauben, damit sie über eine bestimmte Schwelle
hinauskommen. Dafür müssen wir Lösungen schaffen.
Dazu sind Debattenbeiträge gefordert.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir werden sie liefern. Von Ihnen höre ich leider nur,
dass es immer noch mehr werden soll. Das wird nicht
funktionieren. Das zerstört die Akzeptanz der Energiewende.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Krischer, wenn das alles überhaupt
kein Problem ist und die Industrie über die Strompreise
so wettbewerbsfähig ist, wie Sie es beschreiben, dann
stellt sich mir die dringende Frage, warum Rot-Grün seinerzeit bei der Einführung des EEG zu genau dem Härtefallmechanismus gekommen ist, den wir jetzt ausgeweitet haben.
({0})
Aber warum denn? Ich möchte das einmal sagen. Wir
lagen damals bei Differenzkosten von 0,2 Cent. Bei
0,2 Cent haben Sie gesagt: Es gibt in Deutschland eine
Industrie, die man von dieser Umlage befreien muss,
weil sie sonst in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefährdet
ist. Wir sind jetzt - ich ziehe ausdrücklich das ab, was
tatsächlich auf die Umlage entfällt - in etwa bei 3 Cent
Umlage. Das ist das Fünfzehnfache. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass man sehr genau fragt, ob man die
Befreiung für die energieintensive Industrie nicht ausweiten und auch dafür Sorge tragen muss, dass gerade
der industrielle Mittelstand davon profitiert. Das ist ganz
klar.
Das haben wir getan. Wenn man allgemeine Regelungen schafft, kann man kritisieren, dass das eine oder
andere nicht so trennscharf geschieht. Man kann auch
kritisieren, dass es den einen oder anderen Gestaltungsmissbrauch gibt. Aber das spricht nicht gegen die Regelung.
({1})
Es spricht vielleicht dafür, dass man im Nachgang noch
einmal darüber nachdenkt, wie man den Gestaltungsmissbrauch unterbinden kann.
Aber wir haben bewusst gesagt: Wer einen Stromkostenanteil von 14 Prozent an der Bruttowertschöpfung
hat, ist aus unserer Sicht ab einer bestimmten Schwelle
energieintensiv. 14 Prozent der Kosten sind - Sie können
Kaufleute danach fragen - eine ganze Menge. Deshalb
war die Entscheidung richtig.
({2})
Weil man Ihnen das offenbar immer wieder sagen
muss, will ich noch einmal unterstreichen: Wir sind das
letzte verbliebene wirkliche Industrieland in der Europäischen Union. Unsere Industrie hat uns in der Krise
stabilisiert. Gerade der industrielle Mittelstand hat uns
stabilisiert. Deshalb ist es richtig und wichtig, ein besonderes Augenmerk darauf zu richten. Wer das kritisiert,
soll - das richte ich bewusst an die Linke - mir bitte
nicht morgen mit Sozialtarifen und anderen Ideen kommen, was man noch alles tun sollte, um von der unteren
Seite letztendlich dafür Sorge zu tragen, dass nur die
Mittelschicht die Mehrkosten der Energiewende zahlen
wird. Das wird nicht gehen.
({3})
Wenn man schon an dieser Stelle über Schuldfragen
diskutiert:
({4})
Letztendlich geht es Ihnen nur darum, ein Ablenkungsmanöver zu starten. Von was wollen Sie ablenken? Sie
wollen davon ablenken, dass die jetzige Höhe der EEGUmlage insbesondere darin begründet liegt, dass Sie mit
der Photovoltaik zu früh und viel zu teuer an den Markt
gegangen sind und sie viel zu früh und zu hoch subventioniert haben
({5})
und dass Sie uns immer wieder gebremst haben, wenn
wir das auf ein normales Niveau zurückführen wollten.
({6})
Das haben Sie getan, und das müssen Sie sich letztendlich anrechnen lassen.
({7})
- Nein.
({8})
- Es liegt mir völlig fern, irgendwelche SchwarzerPeter-Spielchen, die Sie hier gerne spielen wollen, mitzuspielen. Aber man muss schon einmal sagen, wo welche Kosten herkommen. Es wäre mir persönlich sehr
viel lieber, wenn wir die Energiewende endlich weniger
problem- und stärker lösungsorientiert diskutieren würden.
({9})
Wir sollten uns einmal ernsthaft Gedanken darüber
machen, welchen Beitrag wir alle miteinander dazu leisten können, dass dieses schwierige Experiment gelingt.
({10})
Sie haben seinerzeit nur einen Beitrag zum Aufbau teurer Kapazitäten geleistet. Jetzt geht es darum, wie man
aus den teuer aufgebauten Kapazitäten eine Versorgung
aufbaut.
({11})
Dazu höre ich relativ wenig Konstruktives von Ihrer
Seite. Wenn es um die Netze geht, höre ich von Ihnen
mehr Widerstand als Unterstützung zu dem, was man da
reduzieren kann. Ich sage Ihnen jetzt schon, dass wir bei
der Speicherförderung etwas auf den Weg bringen werden.
Wir müssen schauen, wie wir schneller und mehr
Marktnähe hinbekommen. Auch da sind wir seit der letzten EEG-Novelle auf einem ausgesprochen guten Weg.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lenkert?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. - Ich hätte zwei
kurze Fragen an Sie.
Erstens. Wie erklären Sie sich, dass der Strompreis
zwischen 2002 und 2012 von 14 Cent auf etwa 26 Cent
pro Kilowattstunde gestiegen ist, obwohl die EEG-Umlage nur um 3,5 Cent pro Kilowattstunde gestiegen ist?
Wo kommt der restliche Anstieg her?
Zweitens. Wissen Sie, dass die Hauptwiderstandskraft
gegen den Neubau eines Pumpspeicherwerkes, das wir
für die Energiewende dringend brauchen, ein ehemaliger
Landesminister der CDU in Thüringen, Herr Trautvetter,
ist? Was sagen Sie dazu? Wer steht hier der Energiewende im Weg?
Entschuldigung, Herr Kollege, den letzten Teil habe
ich akustisch nicht verstanden.
In Thüringen ist ein Pumpspeicherwerk geplant, das
wir für die Energiewende brauchen. Ein ehemaliger Landesminister der CDU, Herr Trautvetter, ist die Speerspitze des Widerstandes gegen dieses Pumpspeicherwerk. Was sagen Sie dazu?
Zunächst einmal kann ich nicht für ehemalige Landesminister sprechen und Ihnen auch nicht erklären, was
sie denken. Das ist etwas, was man sie selber fragen
muss. Das ist das eine.
({0})
Das andere kann ich Ihnen erklären. Die Anstiege der
Strompreise sind auch bedingt durch die Ökosteuer und
die Stromsteuer - ein Werk der linken Seite dieses Hauses -, die dafür gesorgt haben, dass der Strom deutlich
teurer wird. Das muss man in dieser Klarheit einfach
einmal sagen.
Ein Haushalt zahlt momentan, bezogen auf den Preis
einer Kilowattstunde Strom, 8 Prozent Ökosteuer und
16 Prozent Mehrwertsteuer. Das ist eine ganze Menge.
Irgendwann wird man auch darüber diskutieren müssen,
wie genau man da einen Ausgleich hinbekommt. Das
sage ich ganz offen und ehrlich. Ich glaube, dass eine
Haltet-den-Dieb-Diskussion uns nichts bringt. Wir dürfen nicht einseitig nur auf die EEG-Thematik schauen,
sondern müssen auch einmal in Augenschein nehmen,
was beispielsweise Ihre Ökosteuer den Verbraucher kostet, und darüber nachdenken, wie man da einen Ausgleich hinbekommt. Auch das gehört zur Wahrheit.
Ich weiß aber auch, wie unsere Haushalte aussehen
und wie problematisch es ist, solche Steuern zu kürzen.
Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir in dieser
Debatte ein bisschen ehrlicher, konstruktiver und zielorientierter miteinander umgehen und Sie nicht jede Woche mit derselben Leier und denselben Vorwürfen kommen,
({1})
statt endlich konstruktiv darüber zu reden, wie man die
Energiewende voranbringt. Vielleicht hat der eine oder
andere von Ihnen auch dazu eine Idee. Das wäre zur Abwechslung gar nicht schlecht.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie
abschaffen - Kein Sponsoring der Konzerne durch
Stromkunden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9999, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8608 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2011 ({0})
- Drucksache 17/8400 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus.
({2})
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Bitte erlauben Sie mir, als Erstes einen
herzlichen Gruß nach Bosnien-Herzegowina zu schicken. In diesen Minuten wird im EUFOR-Hauptquartier
in Sarajevo die deutsche Flagge eingeholt. Damit endet
der bislang längste Auslandseinsatz der Bundeswehr.
Mehr als 63 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten waren dort seit 1996 im Einsatz. Beim Besuch dort habe ich
mich selbst von der hervorragenden und auch erfolgreichen Arbeit unserer Soldaten überzeugen können.
Mein Dank gilt allen Soldatinnen und Soldaten, die
durch ihren Dienst in Bosnien-Herzegowina maßgeblich
zur Stabilisierung der Region beigetragen haben.
({3})
Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle aber auch
ihren Angehörigen, die viel zu häufig vergessen werden
und manche Entbehrung und Belastung tragen mussten.
Und: Ich gedenke in Trauer der Soldaten, die bei diesem
Einsatz wie auch bei den anderen Einsätzen ihr Leben
lassen mussten oder die gesundheitlichen oder seelischen Schaden erlitten haben. Ihre Opfer werden uns
stets mahnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, bitte erlauben Sie mir vorab zwei weitere kurze
Anmerkungen zu aktuellen Fragen.
Erstens. Auch wenn es immer wieder bedauerliche
Einzelfälle gibt, die zu Recht hart geahndet wurden: Der
Wehrbeauftragte hat keine Erkenntnisse darüber, dass es
allgemeine rechtsradikale Tendenzen in der Bundeswehr
gibt. Bei noch immer beinahe 200 000 Soldatinnen und
Soldaten liegen jedenfalls die bekanntgewordenen Vorfälle glücklicherweise hinsichtlich Anzahl und Schwere
unterhalb der Durchschnittswerte in der Gesellschaft.
Dies gilt zweitens auch für die beklagenswerten sexuellen Übergriffe und Sexualdelikte, von denen wir lesen
mussten. Ich möchte diese Vorfälle nicht bagatellisieren.
Aber man darf sie auch nicht verallgemeinern. Auch die
entsprechenden Zahlen hierfür liegen unter dem statistischen Mittel der allgemeinen Kriminalitätsstatistik. Dennoch ist jede dieser schändlichen Taten eine zu viel. Ich
werde diesen beiden Bereichen auch in Zukunft besondere Aufmerksamkeit widmen.
({4})
Nun zum Jahresbericht. Mehr denn je bestimmt weiterhin die laufende Neuausrichtung die Diskussion über
die Bundeswehr. Über die Probleme, die beim Übergang
von der Wehrpflicht zum Freiwilligendienst in den
Streitkräften aufgetreten sind, habe ich berichtet. Sie
sind inzwischen größtenteils gelöst. Dennoch ist die
Stimmung unter den Soldatinnen und Soldaten und mehr
noch unter ihren Angehörigen noch immer schlecht. Die
jüngsten Erhebungen der TU Chemnitz, im Auftrag des
Deutschen BundeswehrVerbandes erstellt, und des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr haben nun
auch wissenschaftlich belegt, was bereits Tenor meines
Jahresberichts in diesem Punkt war. Die Soldaten vermissen ein klar umrissenes Ziel der Reform und bezweifeln, dass die jetzt eingeleiteten Umstrukturierungen Bestand haben können. Vor allem kritisieren sie die
Umsetzung der Reform. Ich bin dem BundeswehrVerband und seinem Vorsitzenden Oberst Kirsch - ich sehe
ihn jetzt nicht; er wollte eigentlich anwesend sein; aber
andere Vertreter des Verbandes sind da - sehr dankbar
für die klare Positionierung in diesem Punkt.
Meine Damen und Herren, es gibt eben zu viele Baustellen, und zu wenige Lösungen prägen die Situation.
Dazu einige Beispiele.
Frauen steht der Dienst in den Streitkräften in allen
Verwendungsreihen offen. Ihr Anteil ist auf zurzeit
9,6 Prozent gestiegen. Zweifellos ist das ein großer Erfolg; denn ohne die Frauen wird die Bundeswehr angesichts der demografischen Entwicklung in Zukunft noch
weniger auskommen als heute. Frauen aber bekommen
erfreulicherweise Kinder, die meisten jedenfalls.
Dieses Hohe Haus hat eine ganze Reihe von Gesetzen
beschlossen, um Frauen dazu zu ermutigen und es ihnen
auch zu erleichtern, sich für ein Kind zu entscheiden. In
der Bundeswehr aber fehlt es vielfach noch an einem
solchen ermutigenden Klima. Stattdessen wird häufig
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
darauf verwiesen, dass in der Zeit der Schwangerschaft,
des Mutterschutzes oder auch der Elternzeit der Soldatin
oder auch des Soldaten andere deren Arbeit miterledigen
müssten. Das ist wahr und leider unter den derzeitigen
Gegebenheiten auch unvermeidbar. Gerade deshalb ist
es aber die Aufgabe des Dienstherrn, Strukturen zu
schaffen, die dieses Problem lösen. Bis heute fehlt es an
dem dazu notwendigen personellen Vorhalten zur Kompensation familienbedingter Abwesenheiten. Hier muss
bald etwas geschehen, übrigens nicht nur für die Mütter,
sondern auch für die Väter, damit sie den vom Gesetz
her besonders geförderten Anspruch auf Elternzeit auch
wahrnehmen können.
({5})
Auch bei der Kinderbetreuung gibt es kaum Fortschritte. Für die Bundeswehrkrankenhäuser in Ulm, Koblenz und Berlin sollen jetzt zwar eigene Kindergärten
eingerichtet werden. Ohne solche Einrichtungen wären
die Krankenhäuser nach Aussage des Ministeriums im
Wettbewerb um die Gewinnung qualifizierten medizinischen Personals nicht konkurrenzfähig. Das ist wahr.
Wahr ist aber auch, dass das nicht nur für die Krankenhäuser gilt. Angesichts des von der demografischen Entwicklung angetriebenen Wettbewerbs mit der Wirtschaft
um den Nachwuchs werden sich bald alle Bereiche der
Streitkräfte einem solchen scharfen Wettbewerb stellen
müssen. Hier muss also an flächendeckenden Angeboten
gearbeitet werden, bevor es zu spät ist.
Bei Besoldung und Betreuung gibt es dagegen durch
die Übernahme des Tarifabschlusses für die Soldaten
spürbare Verbesserungen. Das wird in der Truppe auch
anerkannt. Die Angebote bei einem früheren Ausscheiden aus dem Dienst nach dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz werden indessen insbesondere von Portepeeunteroffizieren als nicht ausreichend empfunden. Die
Entwicklung in diesem Bereich werde ich natürlich weiter verfolgen.
Meine Damen und Herren, erhebliche Sorgen bereitet
mir weiterhin der Sanitätsdienst; denn die sanitätsdienstliche Versorgung in der Fläche ist weiteren Einschränkungen ausgesetzt. Die Zahl der regionalen Sanitätseinrichtungen wird nahezu halbiert. Dieser Verlust soll
durch einen stärkeren Rückgriff auf niedergelassene
Ärzte kompensiert werden, was aber nicht überall gelingen kann. Deshalb muss gerade dort eine stärkere Präsenz des Sanitätsdienstes gesichert bleiben, wo bereits
die ärztliche Regelversorgung zu stark ausgedünnt ist.
Weiterer Anstrengungen bedarf auch die Behandlung
und Betreuung einsatzgeschädigter, insbesondere traumatisierter Soldatinnen und Soldaten. Ziel muss hier die
Versorgung aus einer Hand auch über das Ende der
Dienstzeit hinaus sein.
Positiv hervorzuheben sind die durch den Deutschen
Bundestag beschlossenen Verbesserungen bei der Versorgung durch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz und das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz. Das
sind Maßnahmen, die die Situation der Betroffenen deutlich verbessert haben. Den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages, die diese Verbesserungen, die übrigens
weit über die Vorstellungen der beteiligten Ministerien
hinaus gingen, für unsere Soldatinnen und Soldaten
durchgesetzt haben, gilt mein besonderer Dank.
({6})
Meine Damen und Herren, auch Ausstattung und
Ausrüstung im Einsatz sowie in der einsatzvorbereitenden Ausbildung wurden weiter verbessert. Das ist anzuerkennen. Aber es sind noch weitere erhebliche Anstrengungen nötig, die ich dem Verteidigungs- und dem
Haushaltsausschuss bereits gesondert dargestellt habe.
Dabei sollten übrigens bei der Beschaffung bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. Nicht immer muss
für den Einsatz neuer Systeme jede zivile verkehrstechnische oder arbeitsrechtliche Anforderung erfüllt sein,
insbesondere dann nicht, wenn dadurch im militärischen
Einsatz andere Einschränkungen der Sicherheit hingenommen werden müssen. Entscheidend ist doch, dass
die Truppe Systeme erhält, die den Anforderungen des
Einsatzes gerecht werden und den Schutz der Soldatinnen und Soldaten verbessern. Das muss die Richtschnur
zukünftiger Beschaffungs- und Entwicklungsverfahren
sein.
Inakzeptabel war im Berichtsjahr das Fehlen von Munition für Handfeuerwaffen und die dadurch bedingte
unzureichende Schießausbildung. Die Stellungnahme
des Ministeriums dazu erschöpft sich in einer Erklärung,
wie es zu dem Missstand gekommen ist, und sie gibt lediglich einen Ausblick, wann die ergriffenen Maßnahmen voraussichtlich greifen werden. Das reicht in einer
Einsatzarmee für die Behebung eines so eklatanten Mangels nicht aus. Unsere Soldaten brauchen jeden Tag ihre
erforderliche Munition, sie brauchen jeden Tag die entsprechende Ausrüstung. Ich bin froh, dass der Inspekteur
der Streitkräftebasis nun eine neue Initiative zur Verbesserung der Situation ergriffen hat.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
möchte ich kurz auf die Kritik eingehen, die jüngst auch
von Abgeordneten an einigen meiner Äußerungen vorgebracht wurde. Der Wehrbeauftragte des Deutschen
Bundestages ist nicht für konkrete Beschaffungsentscheidungen und deren haushalterische Legitimation zuständig;
dessen bin ich mir bewusst. Es ist aber meine Aufgabe,
soweit erforderlich, auf Fähigkeitslücken hinzuweisen,
auch wenn es natürlich Stimmen gibt, die das anders sehen. Dies haben übrigens auch meine Vorgänger bereits
zu Recht so gehalten, und so wird es auch anderswo gesehen. Im Vereinigten Königreich haben sich schon Gerichte mit Vorwürfen über unzureichende Ausrüstung
und Bewaffnung im Einsatz befassen müssen. So weit
muss es bei uns hoffentlich nicht kommen.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole gerne, was
ich an dieser Stelle schon einmal gesagt habe: Die
Grundrechte unserer Soldatinnen und Soldaten, insbesondere der Anspruch auf den Schutz ihrer körperlichen
Unversehrtheit, würden verletzt, wenn andere Gesichtspunkte wie etwa Fragen der politischen Opportunität, industriepolitische Gesichtspunkte oder Kostengründe
Vorrang vor den Schutzansprüchen der Soldatinnen und
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
Soldaten fänden. Ich bedauere aber, dass mein Hinweis
auf eine anerkannte Fähigkeitslücke vereinzelt als das
Abwürgen einer ethischen Debatte empfunden wurde.
Das war nicht meine Absicht, und es steht ja auch gar
nicht in meiner Macht.
Frau Präsidentin, wenn ich darf - ich sehe, dass meine
Zeit abgelaufen ist -,
({7})
würde ich gerne noch einen Dank sagen. Abschließend
bedanken möchte ich mich zuallererst natürlich bei unseren Soldatinnen und Soldaten, die einen hervorragenden
Dienst leisten, sowie selbstverständlich bei ihren Familien.
({8})
Ich danke auch Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Ihre stets wohlwollende Begleitung meiner Arbeit. Danken möchte ich auch dem Minister, dem Ministerium, militärischen Dienststellen und allen, die mit
meinem Amt zusammenarbeiten, für die zumeist konstruktive Zusammenarbeit.
Ein besonders herzlicher Dank gilt aber natürlich
meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt des
Wehrbeauftragten. Sie sind hier durch die Führungskräfte vertreten. Sie alle haben in dieser Zeit des Umbruchs viele zusätzliche Belastungen hervorragend gemeistert. Dafür bin ich Ihnen dankbar.
Meine Damen und Herren, Ihnen bin ich dankbar für
Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich im Namen des gesamten Hauses dem Wehrbeauftragten und natürlich seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2011 und
ebenso für ihr Engagement danken.
({0})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
heute eine Debatte des Dankes, aber das ist ja auch richtig so. Herr Königshaus, ich möchte deshalb gerne die
Gelegenheit nutzen, Ihren Mitarbeitern, aber auch Ihnen
selbst für Ihre Arbeit zu danken. Wir mussten uns auch
erst ein bisschen aneinander gewöhnen, als ich ins Amt
kam und Sie ins Amt kamen.
({0})
- So wechselseitig. - Wir hatten auch Debatten über Aktenzugänge und all das; da hat es auch manchmal ein
bisschen gerumst. Aber das ist alles, glaube ich, einvernehmlich gelöst. Ich bedanke mich auch für die differenzierte Art und Weise, in der Sie vorgehen, in der Sie hier
vorgetragen haben. Es gefällt einem Minister nicht immer, wenn man in die Ecken guckt, wo vielleicht ein
bisschen Staub ist. Aber das gehört dazu, und deswegen
herzlichen Dank dafür.
Ich möchte auf ein paar einzelne Punkte eingehen, die
Sie angesprochen haben, und auch auf einen Punkt hinweisen, den Sie in Ihrem Bericht aufgeführt hatten, aber
heute nicht angesprochen haben.
Zunächst: In der Haushaltsdebatte hatten wir schon
darüber debattiert, dass es infolge der Neuausrichtung
der Bundeswehr, insbesondere in einer Phase, in der die
Umsetzungsschritte noch nicht für jeden Mitarbeiter, für
jeden Soldaten und jede Soldatin, für jede Mitarbeiterin
klar sind, zu Unsicherheit kommt. Das ist verständlich,
und wir müssen daran arbeiten, dass diese Unsicherheit
schnell abgebaut wird. Das tun wir, und dazu gehört natürlich auch, den Dienst in der Bundeswehr attraktiv zu
halten. Es war gestern vorgesehen, dazu im Verteidigungsausschuss umfangreich vorzutragen. Dazu kam es
nicht; das wird dann sicherlich in der nächsten Sitzung
erfolgen. Aber ich glaube, in dieser Hinsicht ist doch einiges passiert, auch im Bereich der Kinderbetreuung.
Dazu will ich gern eine Ergänzung anbringen; ich
weiß nicht, ob wir uns da unterscheiden. Sie haben von
einem flächendeckenden Angebot gesprochen. - So
weit, so gut. Ich bin aber nicht der Auffassung, dass es
sich um ein flächendeckendes Angebot der Bundeswehr
handeln sollte. Das hängt nämlich von den Umständen
vor Ort ab. Es mag manchmal nicht nur billiger, sondern
für das Aufwachsen der Kinder auch besser sein, dass
vor Ort mit Belegungsrechten und in anderer Weise dafür Sorge getragen wird, dass die Kinder von Soldatinnen und Soldaten anständig betreut werden.
({1})
Es kann sogar ein Fehler sein, Kindergärten einzurichten, in denen nur Soldatenkinder sind. Ich habe in
Amerika Großstandorte besucht. Da ist alles von der Armee belegt: die Häuser, die Schulen, die Kindergärten,
die Sportplätze. Ich möchte das in Deutschland nicht,
sondern ich möchte, dass die Soldatinnen und Soldaten
und ihre Angehörigen Teil der Gesellschaft sind und
Kinderbetreuung für sie stattfindet, ganz gleich wo. Das
heißt, durch uns organisierte Kinderbetreuung wird es
nur an Großstandorten geben. Selbst in Ulm - Sie haben
das Beispiel erwähnt - soll zusammen mit der Universitätsklinik ein Kindergarten eingerichtet werden, in dem
die Kinder zusammen aufwachsen und spielen.
Wenn wir unter Kinderbetreuung also verstehen, dass
jeder ein Angebot haben soll, aber es kein bundeswehreigenes Angebot sein muss, dann sind wir, glaube
ich, einig.
Zur Sanität vor Ort: Ich hatte schon im Ausschuss und
hier bei verschiedener Gelegenheit vorgetragen, dass die
Realisierungsplanung bis auf die Standortschießplätze
und damit zusammenhängende Fragen und bis auf Sanität abgeschlossen ist. Warum? Weil Sanität akzessorisch
ist; Sanitätsversorgung muss ja da sein, wo Menschen
sind. Deswegen muss sich die Sanitätsversorgung etwa
an die zeitliche Abfolge der Schließung von Standorten
anpassen und ihr nachlaufen.
Nun wird überlegt - das ist im Grunde unser Anspruch -,
dass wir jedem Soldaten eine sanitätsdienstliche Versorgung von uns zur Verfügung stellen. Nur, in kleinen
Standorten ist dann diese Versorgung, wenn sie denn
stattfindet, nicht nur teuer, sondern schlechter; denn wir
können gar nicht so viel Sanitäts- und ärztlichen Sachverstand in kleinen Standorten vorhalten, dass es dort für die
Fülle der denkbaren Krankheitsbilder eine gute Versorgung gibt. Es kann nicht im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten liegen, dass sie vor Ort zu wenig Ärzte haben,
die etwas von der Sache verstehen, oder für eine vielleicht
harmlose Krankheit eine Stunde zu einem Sanitätsversorgungszentrum fahren müssen, sondern es kann viel eher
im Interesse der Soldatinnen und Soldaten sein, dass wir
mit dem Hausarzt um die Ecke oder dem Internisten um
die Ecke einen Vertrag abschließen und sie zu ihm gehen
können und die Kosten erstattet bekommen, sodass nur
dann, wenn es um Dinge geht, die in besonderer Weise sanitätsdienstlich für uns von Interesse sind, eine spezielle
Versorgung in einem Sanitätsversorgungszentrum erfolgt. Ich glaube, das ist im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade an kleinen Standorten, wenn wir diese vertragsärztliche Versorgung ausbauen können. Das Konzept kommt
demnächst.
({2})
Nun zur Ausrüstung: Das ist, wie Sie ja wissen, wie
wir alle wissen, ein ständiger, wenn Sie so wollen, mahnender Zeigefinger, den Sie erheben. Durch Sie, aber
auch durch die Haushälter, durch den Verteidigungsausschuss und durch meine Vorgänger ist in diesem Bereich
sehr viel passiert. Sicherlich ist manches zu spät gewesen, was Afghanistan angeht. Aber ich würde einmal die
Behauptung aufstellen, dass heute die Soldatinnen und
Soldaten unserer Bundeswehr sowohl hinsichtlich ihrer
Ausrüstung wie auch bei der Fortbewegung und bei anderen Formen im Schnitt besser geschützt sind als unsere
Verbündeten. Das ist so. Ich will jetzt nicht die Staaten
miteinander vergleichen, weil sich das nicht gehört.
Aber wenn man mit den Soldaten vor Ort spricht und
wenn man manche Folgen von Anschlägen sieht, dann
stellt man fest, dass das inzwischen so ist. Dies ist auch
Ihr Verdienst, und das ist gut so. Dass Sie weiterhin in
diese Richtung drängen, versteht sich von selbst.
Eine Bemerkung will ich mir nicht verkneifen, die Sie
natürlich auch kennen: Nicht immer liegt das Abstellen
von Mängeln am Ministerium oder am Geld, sondern
manchmal liegt es auch an dem, der etwas liefern sollte.
Das ist ein leidgeprüftes Thema, das ich jetzt auch nicht
an Beispielen vertiefen will. Aber auch das gehört zur
Wahrheit.
Herr Königshaus, Sie haben in Ihrem schriftlichen
Bericht einen Punkt angesprochen, auf den ich und viele
unserer Kollegen auch bei jedem Truppenbesuch angesprochen werden: Das ist das Thema Weiterverpflichtung. Viele Zeitsoldaten fragen: Warum können wir nicht
weiterverpflichtet werden, obwohl wir jetzt erfahren
sind, gut sind und gut ausgebildet sind? Stattdessen werden heurige Hasen eingestellt, die keine Ahnung haben.
Wie kann das gehen in einem Einsatz? - Das ist, glaube
ich, ein zentraler Punkt. Ich will dazu gern zwei Dinge
sagen.
Zunächst muss es immer eine richtige Mischung zwischen sehr Erfahrenen, mittelmäßig Erfahrenen und Anfängern geben. Wir würden unseren Nachfolgern ja keinen Gefallen tun, wenn wir jetzt alle erfahrenen Leute
weiter verpflichten. Denn wenn diese in fünf oder sechs
Jahren auf einmal ausscheiden, sind überhaupt keine erfahrenen Kräfte mehr da. Deswegen muss es immer eine
Mischung geben.
Nun ist der Eindruck erweckt worden - nicht von Ihnen, aber von manchen in der Truppe -, das sei alles viel
zu wenig, da finde nichts statt. Deswegen habe ich mir
für die heutige Debatte die Zahlen besorgen lassen, wie
hoch die Zahl der Weiterverpflichtungen von Zeitsoldaten ist, die als Z 4, Z 8 oder Z 12 angefangen haben, denen es dann gefallen hat oder bei denen der Vorgesetzte
gesagt hat: „Junge, bleib doch bei uns“, und bei denen
die Prüfung der Weiterverpflichtung zu einem positiven
Ergebnis gekommen ist. Wie viele dieser Weiterverpflichtungen hat es also gegeben? Es waren im Jahr 2010
3 180, es waren im Jahr 2011 - in dem Jahr, in dem die
Wehrpflicht ausgesetzt worden ist und in dem die Lücke
natürlich besonders groß war - 6 340, davon allein fast
5 000 beim Heer, wo das Problem am größten war, und
es sind im Jahr 2012 bisher fast 2 800. Das wird also
schon gemacht.
Natürlich wird jeder Fall, der abgelehnt wird, besonders betont, während die Fälle, die bewilligt werden, als
selbstverständlich angesehen werden. Wir bleiben dabei.
In diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal auf
den Bundeshaushalt, für den wir die Höherbewertung
von rund 5 000 Stellen gerade für Mannschaftsdienstgrade beantragt haben in der Hoffnung, dass sie bewilligt wird. Einem Zeitsoldaten geht es ja nicht nur darum,
länger zu bleiben; vielmehr verbindet er mit dem
Wunsch, länger zu bleiben, auch die Erwartung, befördert zu werden. Dafür braucht man dann auch die entsprechenden Stellen.
Wir brauchen hier Augenmaß und wir brauchen Verständnis für beide Positionen, nämlich die Weiterverpflichtung von Erfahrenen und das Bemühen um die Rekrutierung von Neuen, die später die Erfahrenen sein
werden. Das ist der Sinn und Zweck einer Armee, die
eben keine Berufsarmee, sondern eine Freiwilligenarmee ist, die zu zwei Dritteln aus Zeitsoldaten und zu einem Drittel aus Berufssoldaten besteht.
Meine Damen und Herren, das Ministerium wird weiterhin die Arbeit des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konstruktiv begleiten. Wenn
es einmal knirscht, werden sich immer Wege finden, auf
denen wir das abzustellen versuchen. - Herzlichen
Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Karin Evers-Meyer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrter Herr Wehrbeauftragter!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass
wir heute den Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragten
im Plenum behandeln können.
Wir haben eine Bundeswehr, die Hervorragendes leistet. Das hat der Herr Wehrbeauftragte eben schon ausführlich gewürdigt. Ich möchte nicht nur als Verteidigungspolitikerin, sondern auch im Namen meiner
Fraktion allen Diensttuenden für ihren Einsatz und für
ihr Engagement bei der Bundeswehr herzlich danken.
({0})
Ich wünsche mir natürlich, dass die im Bericht aufgezeigten Defizite und Mängel zügig behoben werden, damit unsere Soldaten auch in Zukunft erfolgreich und sicher ihren Dienst leisten können.
Herr Wehrbeauftragter Königshaus, auch wenn wir
von der SPD noch in der Opposition sind,
({1})
möchte ich für Ihren Bericht nicht mit Lob sparen. Er
spricht offen und mutig Missstände an, die es schnell abzustellen gilt. Der Bericht zeigt, wo angesetzt werden
muss. Das verdient unser Lob. Wir schließen ausdrücklich Ihre Mitarbeiter darin ein.
({2})
Ich denke, dass wir Dinge anpacken müssen, Dinge
aus der Welt schaffen müssen, die immer noch die Qualität und Sicherheit der Arbeit unserer Streitkräfte gefährden. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den Bedürfnissen und Sorgen unserer Soldatinnen und Soldaten
in der besonderen Weise nachzukommen, wie auch sie
für unser Land in ganz besonderer Weise Belastungen
tragen. Lassen Sie uns Lösungen finden, damit sich vor
allen Dingen in Zukunft Dienst und Familie besser vertragen.
({3})
Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass Mütter
mit Kindern unter zwei Jahren nicht in einen Auslandseinsatz geschickt werden.
({4})
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Bundeswehr
mehr Anstrengungen unternimmt, Kinderbetreuung zu
ermöglichen. Herr Minister, ich habe mit Freude zur
Kenntnis genommen, dass Sie gesagt haben, dass Weiteres folgen soll. Auch die Kooperation mit den Kommunen ist sicherlich sinnvoll. Das passt aber sehr oft nicht
zusammen. Die Bundeswehr kauft sozusagen Plätze,
aber die Öffnungszeiten der Einrichtungen entsprechen
nicht den Schichtdiensten der Soldaten. Schon stehen
diese Eltern wieder ohne eine adäquate Betreuung da.
Ich finde, da könnte man noch eine Schippe drauflegen.
Das wäre sehr schön. Die Bundeswehr will doch ein attraktiver Arbeitgeber sein. Ein attraktiver Arbeitgeber
muss auch für vernünftige Kinderbetreuung sorgen.
({5})
Ein für meine Fraktion ganz wichtiges Thema ist die
Belastung von Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen. Das muss besser werden. Das muss in einem
erträglichen Rahmen bleiben. Drei Auslandseinsätze in
zwei Jahren sind zu viel für einen Soldaten oder eine
Soldatin. Ich denke zum Beispiel an das deutsch-österreichische ORF-Bataillon in Bruchsal. Wir sind es den
Soldatinnen und Soldaten schuldig, realistische Ruhezeiten zwischen den Einsätzen sicherzustellen und die Belastung auf ein erträgliches Maß zu bringen.
({6})
Auch der Einwand, dass diese zusätzlichen Belastungen freiwillig übernommen werden, überzeugt mich
nicht. Das ist doch dann eher freiwilliger Zwang. Natürlich lässt man seine Kameraden, mit denen man in mehreren Einsätzen zusammen war, nicht im Stich, wenn sie
sagen: Du willst doch unsere Truppe nicht alleine gehen
lassen. - Was nützt es, wenn diese Soldaten, die sehr oft
junge Familienväter sind, zurückkommen und vor den
Trümmern ihrer Ehe stehen bzw. ihre Familie daran zerbrochen ist? Dieses Thema muss man viel ernster nehmen. Auch dieses Thema trägt zur Attraktivität der Bundeswehr bei.
Herr Wehrbeauftragter, eines muss ich noch anmerken, auch wenn Sie es schon angesprochen haben: Über
eine Sache haben wir uns in den letzten Tagen etwas gewundert: Uns von der Opposition ist vielleicht entgangen, dass der Wehrbeauftragte neuerdings auch Einkaufsberater der Bundeswehr ist. Anders können wir uns
Ihre Kaufempfehlung für bewaffnete Drohnen nicht erklären. Dabei ist Ihr Ansinnen sicherlich honorig: Die
Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz soll gesteigert werden. Das sehen wir auch nicht
anders. In der Frankfurter Rundschau vom Montag werden Sie allerdings mit den Worten zitiert:
„Hätten unsere Soldaten bewaffnete Drohnen zur
Verfügung, müssten sie nicht mehr hilflos zuschauen, wenn unsere eigenen Leute bedroht werden“, …
({7})
Herr Königshaus, wenn Sie es ernst meinen mit der
Sicherheit unserer Soldaten, dann lesen Sie doch bitte
noch einmal in Ihrem Bericht nach, was dort zur Ausrüstung unserer Truppen geschrieben steht. Aus den Zeilen
… im zehnten Jahr des Afghanistan-Einsatzes bestanden zahlreiche … Mängel im Bereich der Ausrüstung fort
geht doch eindeutig hervor, wo nachgebessert werden
muss. Die von Ihnen im Bericht ebenfalls beschriebenen
Mängel an Handwaffen und Munition geben zusätzlichen Aufschluss. Jetzt auf ein schussbereites fliegendes
Auge zu setzen, trägt eventuell in einigen Jahren zu
mehr Sicherheit bei. Aber diese Diskussion hilft doch
nicht unseren Truppen, die heute im Auslandseinsatz
sind.
({8})
Verstehen Sie mich bitte richtig: Wir finden wirklich,
dass Sie ordentliche Arbeit leisten. Aber nehmen Sie
bitte Ihre gesetzlichen Aufgaben als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrollen wahr. Das operative Geschäft und die Materialund Waffenbeschaffung fallen unserer Meinung nach in
ein anderes Ressort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht
des Wehrbeauftragten von 2011 zeigt, wo gehandelt werden muss. Verteidigungsministerium und Bundeswehrführung sind gefordert, den Rahmen so zu gestalten, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst bestmöglich und mit möglichst geringer Gefährdung tun können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Christoph Schnurr hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Am 24. Januar
2012 haben Sie, Herr Königshaus, uns den aktuellen Bericht vorgelegt. Sie haben damit neue Maßstäbe gesetzt,
was die zeitliche Unterrichtung des Deutschen Bundestages betrifft.
({0})
Manchmal wäre man froh, wenn der eine oder andere
Bericht ebenfalls zeitnah vorläge. Wenn das dann, wie
jetzt beim Wehrbericht, einmal der Fall ist, Herr Kollege
Koch, dann muss man das auch positiv erwähnen.
In diesem Zusammenhang möchte ich im Namen
meiner Fraktion insbesondere Ihrem Hause meinen
Dank aussprechen; denn ohne Ihre Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter wäre diese schnelle Umsetzung sicherlich
nicht gelungen.
Ich möchte gleichzeitig aber auch all denjenigen danken, die die unterschiedlichsten Eingaben - ob es nun
Briefe, E-Mails, Faxe oder teilweise auch Telefonate waren - Ihnen zukommen ließen, auf deren Grundlage Sie
diesen Bericht verfasst haben. Im Grunde sind die Petenten die eigentlichen Verfasser dieses Berichtes. Sie schildern ihre Erfahrungen mit diversen Missständen und leider teilweise auch mit dem gelegentlichen Fehlverhalten
von Kameraden.
Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten wird eben auch von denjenigen Menschen in Deutschland gelesen, die sich eine
Karriere bei der Bundeswehr vorstellen können. Das Interesse an diesem Jahresbericht 2011 ist vorhanden. Seit
der Übergabe wurde er über 36 000-mal heruntergeladen. Das zeigt, dass er nicht nur eine von vielen Drucksachen ist, die sicherlich in der Bundeswehr interessiert
zur Kenntnis genommen wird, sondern dass dieser Bericht auch in der Breite der Gesellschaft Beachtung findet. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Der Bericht
und die darin beschriebenen Missstände sind entscheidend dafür, wie die Bundeswehr im Lande wahrgenommen wird.
Ich möchte auf drei wesentliche Punkte eingehen, die
Herr Königshaus und der Minister zu Beginn schon angesprochen haben.
Erstens. Ein wichtiger Punkt ist die wesentliche Verbesserung von Ausstattung und Ausrüstung über die
letzten Jahre hinweg. Hierzu gehört auch - wenn ich das
an dieser Stelle ergänzen darf - die immer besser werdende einsatzvorbereitende Ausbildung. Hier sind viele
finanzielle Mittel geflossen, damit unsere Soldatinnen
und Soldaten eben nicht erst im Einsatz die entsprechenden Fahrzeuge oder Systeme bedienen müssen, ohne sie
vorher erprobt zu haben. Sie sollen schon hier in
Deutschland bestmöglich ausgerüstet werden.
Momentan haben wir über 1 000 geschützte Fahrzeuge; das ist ein sehr hoher Stand. Es ist nur richtig,
dass diese Fahrzeuge, die derzeit wieder aus dem Auslandseinsatz zurückgeführt werden, unmittelbar für die
einsatzvorbereitende Ausbildung genutzt werden. Damit wird sichergestellt, dass die Fahrer einen routinierten
Umgang mit den jeweiligen Fahrzeugen erlernen können. Hier sind wir auf einem guten Weg.
Natürlich gab es in der Vergangenheit immer wieder
einzelne Probleme. Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass wir auch die Erfahrungen, die wir bei den unterschiedlichsten Gesprächen im Rahmen von Truppenbesuchen im Inland oder im Ausland gesammelt haben,
in den Verteidigungsausschuss oder in den Haushaltsausschuss einbringen konnten. An dieser Stelle geht mein
expliziter Dank an unsere Haushälter dafür, dass für
wichtige Investitionen, für wichtige Beschaffungsvorhaben, für Ausrüstung und für Ausbildung die jeweils benötigten finanziellen Mittel bereitgestellt wurden.
Wenn wir über den Schutz im Einsatz sprechen, dann
darf der Tiger nicht unerwähnt bleiben. Ich glaube, dass
wir recht gut in der Zeit liegen, und hoffe, dass es in diesem Zusammenhang keine weiteren Verschiebungen
mehr gibt.
Zweitens. Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir
im Deutschen Bundestag schon einmal diskutiert haben,
ist die Betreuungskommunikation. Es gab einen interfraktionellen Antrag, der eine sehr starke Wirkung hatte.
Einiges aus diesem Antrag ist bereits umgesetzt worden.
So sind die praktischen Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre durchgeführt worden. Die Erhöhung der
Bandbreite für die Internetnutzung sollte zeitnah erfolgen und bald auch abgeschlossen sein.
Selbstverständlich - darauf möchte ich an dieser
Stelle noch einmal hinweisen - erwarten wir auch weiterhin die volle Umsetzung des kompletten Antrags, den
wir im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Das
gilt insbesondere für das zum Ende dieses Jahres angekündigte Umsetzungskonzept zur kostenfreien Nutzung
des Internets.
({1})
Dazu gehört auch, dass wir uns nicht nur die Bereiche
anschauen, die oft im Fokus der politischen und gesellschaftlichen Diskussion stehen, wie beispielsweise der
Einsatz in Afghanistan. Wir müssen uns vielmehr auch
den Bereich der Marine im Einzelnen vornehmen; denn
auch hier gibt es vermehrt Baustellen, was die Telekommunikationsmöglichkeiten auf Schiffen anbelangt.
({2})
Drittens: die Neuausrichtung. Die Frage der Attraktivität der Bundeswehr wurde immer wieder gestellt; sie
begleitet uns seit Jahren und wird uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Denn die Bundeswehr ist natürlich
ein Arbeitgeber, der um die qualifiziertesten und fähigsten jungen Männer, aber auch Frauen wirbt. Wir haben
hier einen guten Weg eingeschlagen; die ersten Maßnahmen sind beschlossen und auch umgesetzt. Aber ich
glaube, dass dies nicht das Ende sein darf.
Die Zahlen sprechen für sich: Am 1. Oktober, kommenden Montag, werden 3 500 Freiwillige ihren Dienst
antreten und circa 3 000 Soldaten auf Zeit ihren Dienst
beginnen. Das zeigt doch, dass die Bundeswehr nach der
Aussetzung der Wehrpflicht durchaus noch attraktiv ist.
Wir haben erreicht, dass die Bundeswehr weiterhin in
unserer Demokratie verankert ist, und wir konnten sie
als attraktiven Arbeitgeber positionieren und darstellen.
Wenn ich es in der heutigen Meldung richtig gelesen
habe, haben sogar mehr als 50 Prozent derjenigen, die
am kommenden Montag ihren freiwilligen Wehrdienst
bei der Bundeswehr beginnen werden, Abitur. Die ursprüngliche Befürchtung, dass keiner mehr zur Bundeswehr gehen will, wenn die Wehrpflicht ausgesetzt ist, hat
sich nicht bestätigt. Insofern glaube ich, dass wir auch in
diesem Punkt auf einem guten Weg sind.
({3})
Ich sehe, dass meine Redezeit rasant schwindet. Ich
möchte noch einen Punkt ansprechen, der ebenfalls zum
Thema Neuausrichtung gehört. Frau Präsidentin, ich verspreche Ihnen: Es geht schnell.
Herr Wehrbeauftragter, ich glaube, Sie haben schon
viele Gespräche zum Thema Neuausrichtung geführt.
Wir dürfen nicht vergessen: Es geht hier nicht nur um
eine strategische Frage, die sicherheitspolitisch abgeleitet wird, sondern es geht bei dieser ganzen Reform auch
um Menschen; es geht um unsere Soldatinnen und Soldaten und um die zivilen Angestellten. Deswegen ist es
wichtig, dass wir uns unter anderem die Studie des Deutschen BundeswehrVerbandes sehr detailliert anschauen.
Darin steht nicht nur Negatives, allerdings auch nicht
nur Positives.
Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: Ich
glaube, nicht alles ist perfekt. Aber für uns ist klar: Reformen bedeuten Veränderungen. Wer diese Veränderungen nicht haben will, der sollte nicht nach Reformen rufen. Mein Dank gilt den Angehörigen der Bundeswehr,
unseren Soldatinnen und Soldaten, den Zivilisten, aber
auch den Reservisten und ganz besonders den Familien.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Harald Koch hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Wir reden heute
über den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr
2011, also über all diejenigen Probleme, Verfehlungen,
Mängel und Unzufriedenheiten, wegen denen sich die
Soldatinnen und Soldaten im letzten Jahr an Sie gewandt
haben. Dabei ist ein Phänomen zu beobachten, nämlich
dass die aufgezählten Defizite Jahr für Jahr nahezu identisch sind.
Wir sprechen jedes Jahr aufs Neue über die unzureichende medizinische Versorgung und Absicherung der
Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz verwundet
oder traumatisiert werden. Wir sprechen jedes Jahr wieder über grobes Fehlverhalten von Vorgesetzten oder
über unangemessene und herabwürdigende Aufnahmerituale. Auch die ausbleibenden Fortschritte bei der Vereinbarkeit von Dienst und Familie und die daraus resultierenden Trennungs- und Scheidungsquoten unter den
Soldatinnen und Soldaten von zum Teil über 80 Prozent
sind immer wieder ein Thema, ganz zu schweigen von
der kritischen Personalsituation im Sanitätsdienst oder
der Unzufriedenheit über die halbherzigen Entschädigungsanstrengungen gegenüber den Radarstrahlenopfern.
Herr Königshaus, verstehen Sie mich nicht falsch: Es
ist gut und richtig, dass Sie all diese Mängel und Probleme Jahr für Jahr auflisten und zur Sprache bringen.
Es ist aber äußerst bedenklich, dass dies anscheinend gar
nichts an der Situation ändert. Da muss ich in Richtung
des Ministers die Frage stellen: Wie lange soll das noch
so weitergehen?
({0})
Sie sprechen in Ihrem Bericht von schlechter Stimmung und tiefgreifender Verunsicherung in der Truppe.
Dies wurde mittels der Studie des Deutschen BundeswehrVerbandes nun auch wissenschaftlich belegt. Ich
sage Ihnen: Das Ganze kommt nicht von ungefähr, es hat
hausgemachte Ursachen.
Zum einen wird in der Bundeswehr alles der uneingeschränkten Einsatzfähigkeit untergeordnet. Wenn das
Geld nach der Beschaffung von millionenschweren
Kriegsgeräten ausgegangen ist oder es in den Augen der
Einsatzleitung nötig ist, dass Soldatinnen und Soldaten
sechs Monate oder länger am Stück im Einsatz sind,
dann fallen die Interessen der Betroffenen hinten herunter und werden als nicht so wichtig erachtet. Das spüren
die Soldatinnen und Soldaten auch. Das ist für die Linke
nicht hinnehmbar und muss dringend überdacht werden.
({1})
Zum anderen wurde von Anfang an vergessen, die
Soldatinnen und Soldaten bei der Reform der Bundeswehr mitzunehmen. Stattdessen wird jetzt versucht, ein
unausgegorenes und falsch konstruiertes Konzept von
oben herab überzustülpen. Dass da massive Unzufriedenheiten entstehen und gut 90 Prozent der Befragten
- das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: 90 Prozent - im Rahmen der Studie des BundeswehrVerbandes der Meinung sind, dass diese Reform
nicht von Dauer sein wird und Korrekturen unumgänglich sind, kann ich nur zu gut nachvollziehen. Daher
kann ich dem Verteidigungsminister nur raten, diese Probleme nicht länger abzutun bzw. zu ignorieren. Nehmen
Sie die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten endlich ernst und ändern Sie etwas. Es wird höchste Zeit.
({2})
Eines möchte ich dennoch betonen: Der Wehrbeauftragte - ich schließe seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ein - macht eine sehr gute Arbeit. Er trägt
dazu bei, dass Verfehlungen nicht unter den Teppich gekehrt werden, dass aufgeklärt wird und dass manchmal
auch unangenehme Fragen auf der Tagesordnung stehen.
Dafür möchte ich ihm und seinen Mitarbeitern danken.
({3})
Herr Königshaus, was aber meines Erachtens gar
nicht geht - das ist heute schon mehrfach angesprochen
worden -, ist, dass Sie sich zum Gehilfen der Rüstungslobby machen und nun bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr fordern. Als Begründung führen Sie an - das
haben Sie noch einmal gesagt -, dass das die Sicherheit
der Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen
erhöhen würde. Aber was ist mit der Sicherheit der vielen unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten, die durch
bewaffnete Drohnen ums Leben kommen? Ist die weniger wichtig? Was ist mit der moralischen und ethischen
Dimension des Ganzen?
({4})
Was ist mit dem Herabsinken der Schwelle für Gewaltanwendung, der drohenden Abstumpfung, wenn der potenzielle Gegner von weit weg per Knopfdruck ausgeschaltet wird? Ist das auch nur um einen Deut besser?
Für mich definitiv nicht.
({5})
Herr Königshaus, Ihre Aufgabe ist es, die Rechte der
Soldatinnen und Soldaten zu schützen sowie dem Bundestag bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte behilflich zu sein. Verwenden Sie daher Ihre Energie lieber
darauf, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr endlich beendet werden.
({6})
Das bedeutet Sicherheit für die Soldatinnen und Soldaten.
({7})
Das würde zeigen, dass die Bedürfnisse der Soldatinnen
und Soldaten ernst genommen werden. Konzentrieren
Sie sich auf Ihre eigentliche Aufgabe und lassen Sie die
Finger von Drohnen und anderem Kampfgerät. Damit ist
den Soldatinnen und Soldaten am meisten geholfen.
Danke schön.
({8})
Der Kollege Omid Nouripour hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
gute und es gibt schlechte Routinen. Zu den guten Routinen gehört, dass wir immer wieder zusammenkommen,
um über den jährlichen Bericht des Wehrbeauftragten zu
sprechen. In diesem Zusammenhang gehört es dazu, Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für die gute Arbeit, die Sie leisten,
herzlich zu danken. Der Wehrbeauftragte ist eine Institution, die international einmalig und für eine Parlamentsarmee zwingend notwendig ist.
({0})
Keine Routine ist der Bericht selbst, der in der Regel
sehr gründlich und sehr gut strukturiert vorliegt.
Sie haben vorhin gesagt, dass ich Ihnen in Bezug auf
das Thema Kampfdrohnen das Abwürgen der Debatte
vorgeworfen habe. Dazu möchte ich ein paar Sätze sagen. Wir brauchen bei diesem Thema Zeit für eine Diskussion, die sowohl die ethischen als auch die rechtlichen Aspekte berücksichtigt.
({1})
Den Zeitdruck, der hier immer wieder herbeigeredet
wird, indem gesagt wird, dass wir jetzt schnell entscheiden müssen, gibt es schlicht nicht. Wenn Sie diesem
Zeitdruck sozusagen das Wort reden, dann würgen Sie
damit die Debatte ab. Das habe ich gemeint. Helfen Sie
uns bitte, dass wir diese Debatte führen können.
({2})
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, ich kann nur festhalten: Der Kollege Ernst-Reinhard Beck von der CDU/
CSU hat in der letzten Haushaltsdebatte gesagt, dass es
durchaus möglich und kein Problem wäre, den Einsatz
von Heron 1 erst einmal zu verlängern. Dann hätten wir
ausreichend Zeit, um diese Debatte zu führen. Natürlich
ist es Ihr gutes Recht und es ist auch Teil Ihrer Aufgabe,
auf Fähigkeitslücken hinzuweisen. Das ist unbestritten.
Lassen Sie mich aber drei Gründe nennen - und das sind
nicht die einzigen -, warum wir diese Debatte brauchen:
Erstens. Es gibt unglaublich viele Großinvestitionen
bei der Bundeswehr, bei denen erst beschafft und dann
diskutiert wurde. Das wissen Sie selbst.
({3})
Es gibt so viele Investitionsruinen. Das hat mit dem
Schutz der Soldatinnen und Soldaten nichts zu tun.
Zweitens. Wenn wir über den Schutz der Soldatinnen
und Soldaten reden, dann sollten wir auch darüber reden,
dass in den US-Streitkräften die Suizidrate bei denjenigen, die Kampfdrohnen steuern, höher ist als bei denjenigen, die Bomber fliegen.
({4})
Drittens. Wenn Sie betonen, dass der Schutz der Soldatinnen und Soldaten gewährleistet sein muss, dann
müssen wir natürlich auch solche Aspekte, die die ethische Grundlage eines solchen Einsatzes berühren, berücksichtigen.
Der Minister hat, sofern das gestern in der Stuttgarter
Zeitung richtig zitiert wurde, gesagt:
Gezieltes Töten ist ein Fortschritt. Es vermindert
Kollateralschäden und sorgt für weniger nicht gewollte Opfer und Geschädigte.
Dass es einen Fortschritt bringen soll, wenn man auf Gerichtsverfahren verzichtet, ist etwas, worüber man hier
unter ethischen Geschichtspunkten einmal ganz dringend diskutieren muss.
({5})
Wir brauchen ganz dringend ausreichend Zeit, um die
Debatte führen zu können.
In dieser Debatte gibt es auch eine schlechte Routine.
Zur schlechten Routine gehört, dass wir gewisse Punkte
Jahr für Jahr im Bericht des Wehrbeauftragten finden.
Lassen Sie mich auch hier einige Beispiele anführen:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schon
mehrfach genannt worden. Es hilft einfach nicht, immer
wieder darauf hinzuweisen, dass es 300 Eltern-KindZimmer gibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie besonders häufig genutzt werden und dass sie besonders
hilfreich sind. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
ist aber von zentraler Bedeutung, wenn es um das Thema
Attraktivität geht und wenn es um die Frage geht, wen
man für die Bundeswehr gewinnen kann.
Der Sanitätsdienst ist ein immer wiederkehrendes
Thema. Das gilt auch für die psychologische Betreuung.
Dabei geht es insbesondere um die Betreuung derjenigen, die zu Schaden gekommen sind, und um die Betreuung der Angehörigen der Versehrten. Das ist natürlich
ein sehr wichtiges Thema. Die Tatsache, dass die Hälfte
der Dienstposten in diesem Feld nicht besetzt ist - auch
das liest man in Ihrem Bericht -, stellt ein erhebliches
Problem dar.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bitte äußern, die Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, nicht neu ist; wir
haben sie in den letzten Jahren immer wieder formuliert.
Wenn man sich anschaut, wer sich freiwillig zur Bundeswehr meldet, dann stellt man fest, dass über 25 Prozent
der Bewerber einen Migrationshintergrund haben. Das
bringt langfristig eine massive Veränderung des Charakters der Bundeswehr mit sich.
({6})
Ich glaube, dass das auch große Veränderungen für die
Gesellschaft mit sich bringen kann. Es würde mich sehr
freuen, wenn Sie sich in Ihrem Bericht eingehend mit
diesem Thema beschäftigen würden, mit den Chancen
und den Problemen, die damit verbunden sein können.
Ich glaube, dass uns das in den nächsten Jahren sehr
stark beschäftigen wird.
Herr Wehrbeauftragter, herzlichen Dank für den Bericht, den Sie vorgelegt haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anita
Schäfer das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Ihr
Bericht für das Jahr 2011 ist eine Besonderheit; denn er
umfasst erstmals einen Zeitraum nach der Aussetzung
der Wehrpflicht im vergangenen Sommer. Das war der
größte Umbruch in der Geschichte der Bundeswehr, und
das bei weiterlaufenden, auch sehr gefährlichen Einsätzen. Das entspricht, wie der Bundesverteidigungsminis23448
Anita Schäfer ({0})
ter es damals bei der Vorstellung der Reform bemerkt
hat, in etwa einer „Operation am offenen Herzen bei einem Patienten, der noch die Straße entlangläuft“.
Angesichts dieser Umstände können wir feststellen,
dass der Patient das erste Jahr nach der Operation bemerkenswert gut überstanden hat. Dabei will ich nicht verschweigen, dass es im Zusammenhang mit der Umsetzung der Reform noch einige Beschwerden gibt, die sich
im Bericht des Wehrbeauftragten, aber auch in der kürzlich vom BundeswehrVerband vorgestellten Befragung
militärischer Führungskräfte wiederfinden.
Uns als Regierungskoalition muss es also vor allem
darum gehen, die Soldaten und zivilen Mitarbeiter dabei
mitzunehmen. Deswegen wird es eine wesentliche Aufgabe des Verteidigungsministeriums, aber auch von uns
Abgeordneten bleiben, die Kommunikation mit der
Truppe auf allen Ebenen weiterzuführen, die Reformbemühungen zu vermitteln und die Rückmeldungen, Beschwerden und Vorschläge der Soldaten aufzunehmen.
Trotz der gegenwärtig noch schwierigen Situation ist
das Bewerberaufkommen aber weiterhin hervorragend,
obwohl die Bundeswehr nun auf einem Markt mit den
niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit 20 Jahren um ihren
gesamten Nachwuchs werben muss. Es kommen also
nicht einfach diejenigen, die sonst nichts finden, wie von
manchen prophezeit. Neben der Rekrutierung von Zeitsoldaten erfüllt auch der neue freiwillige Wehrdienst die
Erwartungen, wobei es allerdings eine Abbrecherquote
von etwa 27 Prozent in den ersten zwei Monaten des
Dienstes gibt. Das kann uns zwar nicht befriedigen, entspricht aber ziemlich genau den Erfahrungen der Wirtschaft. Selbst so verbleiben mehr als ausreichend freiwillig Wehrdienstleistende.
Von denen, die ihren Dienst jetzt im Oktober antreten,
hat über die Hälfte Abitur, fast ein Drittel die mittlere
Reife und jeder Neunte bereits einen Berufsabschluss.
Es sind also junge Männer und Frauen, die durchaus alle
Möglichkeiten haben, die sich aber für eine gewisse Zeit
für unser Land und unsere Gesellschaft engagieren wollen, wobei wir ja beispielsweise auch schon den Fall einer 41-jährigen Mutter von drei erwachsenen Kindern
hatten, die kurzerhand diese Möglichkeit wahrgenommen hat. Insgesamt - auch das muss man sagen - ist allerdings der Frauenanteil unter den freiwillig Wehrdienstleistenden mit 6 bis 8 Prozent relativ gering. Da
gibt es also noch Potenzial, das man ausschöpfen kann.
Ein wichtiger Punkt bei der Nachwuchsgewinnung ist
die Attraktivität des Dienstes. Für engagierte Staatsbürger war die Bundeswehr schon immer attraktiv, aber wir
müssen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen, die auch vor Soldaten nicht haltmachen, wie zum
Beispiel die zunehmende Zahl von Beziehungen zwischen berufstätigen Partnern, mehr Pendler etc. Deswegen freut es mich besonders, dass die über 40 Maßnahmen aus dem Attraktivitätspaket des Bundesministeriums
der Verteidigung im Haushalt 2013 voll abgedeckt sind.
Wir müssen jungen Menschen ein Angebot machen,
das ihnen die Entscheidung für die Bundeswehr erleichtert. Dazu gehört nach meiner Überzeugung auch eine
weitere Verbesserung des Standards der Unterkünfte.
Kürzlich war ich mit dem Verteidigungsminister bei seinem Besuch am Standort Zweibrücken in meinem Wahlkreis einig: Es müssen ja keine Hotelzimmer sein, aber
die alten Sechsbettstuben werden es künftig auch nicht
mehr tun. Das Gleiche gilt für die Modernisierung der
Ausrüstung. Hier wollen wir trotz knapper Kassen alles
Mögliche tun, damit das bestmögliche Gerät die Soldaten auf dem schnellstmöglichen Weg erreicht.
({1})
Den hierzu vorgesehenen neuen integrierten Planungsprozess begrüße ich deshalb ausdrücklich. Es wird
nun darauf ankommen, diesen Prozess in den neuen
Strukturen des Bundesministeriums der Verteidigung
und seines nachgeordneten Bereichs mit Leben zu erfüllen und zu einem Erfolg vor allem für die Menschen im
Einsatz zu bringen. Wir von der Koalition werden diesen
Prozess aufmerksam begleiten und, wo immer wir gefordert sind, tatkräftig unterstützen.
Ich möchte noch einen Einzelpunkt aus dem Bericht
herausgreifen, weil sich Soldaten im Gespräch mit mir
recht häufig dazu äußern. Es handelt sich dabei um das
seit 2007 geltende Beurteilungssystem. Bekanntlich
wurde es eingeführt, um der Inflation von Bestnoten unter dem vorherigen System entgegenzuwirken. Diese
wurde mit der Quotierung von Bewertungsstufen innerhalb der Vergleichsgruppen abgestellt. Wie sich aber gezeigt hat, bringt das neue Verfahren seine eigenen Probleme mit sich. Weil Bestnoten nur noch begrenzt
vergeben werden dürfen, teilen wohlmeinende Vorgesetzte sie häufig denjenigen Soldaten zu, die sie für weitere Beförderungen oder die Übernahme zum Berufssoldaten brauchen, was natürlich ungerecht gegenüber
ebenso leistungsstarken Kameraden ist, für die aber
keine guten Noten mehr übrig sind.
Ein wesentlicher Grund für diese unbeabsichtigten
Folgen ist der immer wieder angesprochene Beförderungsstau. Ich hoffe, dass das künftig flexiblere Verpflichtungssystem dieses Problem an der Wurzel packt,
da hiermit der Anteil an Berufssoldaten, die vorhandene
Planstellen für lange Zeit besetzen, verringert wird.
Auch die demografische Entwicklung wird sicher einiges dazu beitragen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge
aus dem Dienst scheiden. Dann sollten wir ein fertiges
Konzept zur weiteren Verbesserung des Beurteilungssystems haben; denn auch gute Karriereaussichten gehören
zur Attraktivität des Dienstes.
Letztlich gehört dazu auch die gesellschaftliche Anerkennung im Hinblick auf den Wert dieses Dienstes. Ich
habe den Mangel daran hier oft beklagt, sodass ich jetzt
auch einmal ein Lob aussprechen möchte; denn langsam
ändert sich etwas. Das sehen wir gerade an der wachsenden Zahl von Repräsentanten nicht nur aus der Politik,
sondern auch aus der Kunst und der Unterhaltung, die
sich dafür engagieren. Wir brauchen all diese Formen.
Ich möchte allen danken, die sich auf verschiedenste Art
dafür engagieren. Denn unsere Soldaten leisten ihren
Dienst für uns alle, und sie sollten dafür auch den entsprechenden Rückhalt in der Gesellschaft finden. Daran
sollten wir alle arbeiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege
Wolfgang Hellmich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst
möchte ich mich beim Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages für den sehr ausführlichen Bericht für das
Jahr 2011 herzlich bedanken. Ausdrücklich möchte ich
das Bemühen des Wehrbeauftragten hervorheben, die
Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten deutlich zu
verbessern. Damit steht er in der guten Tradition seiner
Vorgänger; das ist auch in der Truppe angekommen.
({0})
Die Frage ist: Trifft dieser Bericht die Realität? Die
Messlatte ist schließlich der Alltag unserer Truppe, die
alltägliche Situation der Soldatinnen und Soldaten.
Meine Damen und Herren, verunsicherte Soldatinnen
und Soldaten sind keine gute Werbung für die Bundeswehr. Der Reformprozess und der damit verbundene
Um- und Abbau sowie die Reduzierungen und Schließungen drücken auf die Stimmung in unserer Truppe;
das ist schon an vielen Stellen erwähnt worden. Dass die
Kommunikation über die Neuausrichtung der Bundeswehr erheblich verbessert werden muss, ist zwischen allen Fraktionen dieses Hauses Konsens.
Die Vielzahl der Veränderungen verstärkt die Aufstiegsunsicherheit innerhalb der Bundeswehr. Wie geht
es wo in welcher Verwendung und mit welchen Karriereoptionen weiter? Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Soldaten beschäftigen, nicht nur diejenigen, die
hierzulande ihren Dienst tun, sondern auch diejenigen,
die im Ausland im Einsatz und von diesen Entscheidungen noch weiter entfernt sind als diejenigen, die hier
sind. Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Soldaten beschäftigen, und das in einer Truppe, die strukturell und personell so ausgedünnt ist, dass sie ihre Aufgaben im Alltag manchmal kaum noch erfüllen kann. Die
Frage, die sich einige stellen - manchmal wird sie eher
ironisch gestellt -, lautet: Wann haben wir den Punkt erreicht, an dem die Offiziere die Wache übernehmen müssen?
Gerne hätte ich vonseiten des Ministers etwas zu der
Frage gehört, warum Soldatinnen und Soldaten in immer
dichterer Folge lange Auslandseinsätze absolvieren müssen. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit ist keine Antwort, weil es in einer modernen Armee die Aufgabe des
Arbeitgebers ist, sich um seine Soldatinnen und Soldaten, seine Beschäftigten, zu kümmern. Den einen oder
anderen muss man dabei schlichtweg vor seiner eigenen
Entscheidung schützen. Freiwilligkeit ist kein Argument.
({1})
Hierzu hätte ich, wie gesagt, gerne etwas gehört, damit an
dieser Stelle auch den Soldatinnen und Soldaten klar
wird, in welche Richtung es gehen soll. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Unseren Soldatinnen und Soldaten wie auch den zivilen Beschäftigten stehen Planungssicherheit und Teilhabe bei Strukturentscheidungen
zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist die
Aufgabe des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, sich aktiv in die Bundeswehrreform einzuschalten,
und das zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten. Fürsorge und Betreuung sind das eine. Die Evaluierung eines
Reformprozesses aber muss im Interesse der Soldatinnen
und Soldaten reformbegleitend angelegt und organisiert
werden, und zwar jetzt, damit uns dann, wenn wir in der
Lage sind, Korrekturen vorzunehmen, das nötige Material zur Verfügung steht.
Meine Damen und Herren, Betroffene wie Vorgesetzte beklagen, dass der Dienstherr Bundeswehr mehr
auf Neueinstellungen anstatt auf bereits ausgebildete Bewerber aus der Truppe setzt. Ich denke, es muss auch darüber gesprochen werden, dass die Binnenwerbung eindeutig verstärkt und anders angegangen werden muss.
Eine moderne Armee braucht eine besser organisierte
Weiterbildung in den Bereichen Sprache, Führungskompetenzen und berufliche Qualifizierung und eine zukunftsorientierte Personalentwicklung im Bestand. Das
wird die Attraktivität des Dienstes steigern.
Das Soldatengesetz verpflichtet den Bund, seiner Fürsorgeverantwortung gegenüber den Soldaten selbst nachzukommen. Das steht deutlich im Bericht und ist dort
hervorgehoben.
Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis,
wenn ich Ihnen mitteile, dass Auslandseinsätze mit hohen physischen und psychischen Belastungen verbunden
sind. Das ist auch eine Konsequenz daraus, wie sie organisiert sind. Posttraumatische Belastungsstörungen sind
für 2 bis 4 Prozent aller im Einsatz befindlichen Kräfte
leider Realität, wie im Deutschen Ärzteblatt jüngst veröffentlichte Studien noch einmal aufweisen, wobei man
sagen muss: Die wissenschaftliche Begleitung dieses
Faktors und dieser Umstände ist in der Bundesrepublik
im Vergleich zu allen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern weit unterdurchschnittlich entwickelt. Hier muss dringend nachgearbeitet werden.
({2})
Der Begriff des sogenannten Einsatzunfalls wurde
durch das Einsatzversorgungsgesetz, das am 27. Dezember 2004 im Bundesgesetzblatt verkündet wurde und
rückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft trat, in das
Soldatenversorgungsgesetz eingefügt. Mit dem am
13. Dezember 2011 in Kraft getretenen Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz wird unter anderem der
Stichtag für die Anwendbarkeit des Einsatz-Weiterverwendungsgesetzes zurückdatiert. Die rückwirkende Veränderung der Anspruchsvoraussetzungen war jedoch
nicht Gegenstand dieses Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetzes. Somit wurde die Stichtagsregelung zur
Gewährung einer entsprechenden Entschädigungszahlung nicht geändert.
Worauf will ich hinaus? Innerhalb der Bundeswehr
gibt es noch zwei verschiedene Gruppen von Entschädigungszahlungen bei auslandsgeschädigten Soldaten mit
PTBS - je nachdem, wann das schädigende Ereignis
stattgefunden hat. Soldaten, die bis zum 30. November
2002 geschädigt wurden, erhalten keine Entschädigung.
Soldaten, die vom 1. Dezember 2002 bis zum 12. Dezember 2011 geschädigt wurden, erhielten erst 80 000 Euro
und nach der Verabschiedung des Reformbegleitgesetzes
noch einmal 70 000 Euro, insgesamt also 150 000 Euro.
Diese erhalten ebenso Soldaten, die ab dem 13. Dezember 2011 geschädigt wurden.
Hierbei handelt es sich nicht um zwingend vorgegebene Daten, sondern um eine rein politische Entscheidung, die allein an den Absturz des CH-53 im
Dezember 2002 in Kabul anknüpft. Das hat zur Folge,
dass 36 Soldatinnen und Soldaten, die in IFOR-,
SFOR- und KFOR-Einsätzen waren und vor dem
1. Dezember 2002 geschädigt wurden, keine Entschädigung erhalten. Daneben gibt es eine Dunkelziffer von
circa 20 Fällen. Das ist eine grobe Ungleichbehandlung
und Ungerechtigkeit, die man aufheben muss.
Ein im Kosovo-Einsatz geschädigter Soldat wandte
sich mit diesem Anliegen an den Wehrbeauftragten des
Deutschen Bundestages. In dem Antwortschreiben eines
Mitarbeiters vom August 2012 findet sich folgendes Zitat: Ich sehe zurzeit jedoch keine Möglichkeit, mich im
parlamentarischen Raum mit Aussicht auf Erfolg für
eine weitergehende Ausweitung im Sinne einer rückwirkenden Änderung der Tatbestandsvoraussetzungen hinsichtlich des Anspruchs auf Einmalentschädigung für die
vor dem 1. Dezember 2002 geschädigten Soldatinnen
und Soldaten einzusetzen.
Sehr geehrter Herr Königshaus, ich kenne diese Initiative nicht - und auch keine Anfrage in dieser Richtung. Würden Sie eine in dieser Richtung starten, wäre
ich gerne dabei und würde Sie dabei unterstützen, um
diesen 56 Soldatinnen und Soldaten Gerechtigkeit in ihrer Lage zukommen zu lassen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke
mich an dieser Stelle für Ihre freundliche Aufmerksamkeit und hoffe, dass das noch lange so bleiben wird.
Vielen Dank und Glück auf!
({4})
Kollege Hellmich, diese Rede wird im Protokoll des
Deutschen Bundestages als Ihre erste Rede vermerkt
sein. Ich gratuliere Ihnen dazu recht herzlich und wünsche Ihnen, sicherlich im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen, viel Erfolg für Ihre Arbeit.
({0})
Es sei mir allerdings auch der Hinweis erlaubt, dass
man, egal wer hier vorne gerade präsidiert, seine Redezeit tatsächlich nur einmal um fast die Hälfte überziehen
kann. Ich bitte Sie also, in Zukunft auf das Signal auf
dem Redepult zu achten.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt ({3}), Doris Barnett, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kultur für alle - Für einen gleichberechtigten
Zugang von Menschen mit Behinderung zu
Kultur, Information und Kommunikation
- Drucksachen 17/8485, 17/10030 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Ulla Schmidt ({4})
Dr. Rosemarie Hein
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die Unionsfraktion.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
SPD-Fraktion hat vor einiger Zeit einen Antrag vorgelegt, in dem sie feststellt, dass nur durch den gleichberechtigten Zugang auch zu kulturellen und medialen Angeboten und durch barrierefreie Informationen dem
Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention Genüge getan wird. Diese Feststellung ist richtig. Dieser
Feststellung schließen wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich an.
({0})
Die größte Behinderung ist nicht die körperliche Behinderung, sondern es sind die vielen kleinen und großen
Barrieren in unserem Alltag, die Menschen mit Behinderung tagtäglich im Wege sind und ihnen die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben erschweren. Im kulturellen LeMaria Michalk
ben sieht das genauso aus. Ein Beispiel: Ein Mensch in
einem Rollstuhl möchte ins Kino gehen, doch es gibt
keinen barrierefreien Eingang, keine Möglichkeit, den
Rollstuhl im Vorführsaal zu platzieren, weil dafür gar
kein Platz vorgesehen ist. Die Barriere ist also nicht der
Rollstuhl an sich, sondern die bauliche Gegebenheit. Sie
schließt ihn von dem aus, was er in seiner freien Zeit
gerne machen möchte, was alle Menschen tun, mit oder
ohne Behinderung.
Menschen mit Behinderung wollen im Grunde genau
das tun, was alle anderen, wir alle, selbstverständlich
tun. Sie wollen vor allem keine Sonderaufführungen im
Theater oder im Kino, keine Sonderlesungen oder -konzerte, keine Sonderfernsehprogramme. Sie wollen Spielfilme, Talkshows, Kochsendungen, Serien, die auf den
regulären Kanälen angeboten werden, anschauen und ihnen folgen können. Wir müssen weg von der Vorstellung, dass für Menschen mit Behinderung ganz besondere, ganz spezielle Angebote bereitgehalten werden,
irgendwo da, wo wir alle nicht hinkommen. Das ist nicht
die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie wir sie
verstehen. Das ist erst recht nicht der Grundgedanke der
Inklusion.
({1})
Wir müssen hin zu der Haltung, dass das Thema Behinderung immer und bei allen Entscheidungen von uns
allen mitgedacht wird. So wie wir ganz persönlich, jeder
von uns, eine grundsätzliche Haltung zu Sprache, Kultur
und Kunst haben, so müssen wir uns eine ganz persönliche Haltung zu dieser grundsätzlichen Teilhabe, zu Inklusion auch im kulturellen Leben unserer Gesellschaft
für Menschen mit Behinderung angewöhnen, sie uns
einverleiben. Das muss eine Selbstverständlichkeit werden.
({2})
Es muss das Prinzip des universellen Designs gelten.
Das heißt, alles muss so aufbereitet, konstruiert, gebaut,
gedacht werden, dass es von allen Menschen genutzt
werden kann. Dies ist ein sehr hoher Anspruch; denn wir
kommen aus einer Welt, in der wir immer meinten, Gutes zu tun, wenn wir Sonderangebote geschaffen haben.
Wir müssen uns angewöhnen, alles gemeinsam zu tun.
({3})
In dem vorliegenden Antrag wird gefordert, mehr Angebote in leichter Sprache bereitzuhalten. Ja, nicht nur
Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit
Lernschwäche würden davon profitieren. Wir alle sind
doch - seien wir einmal ganz ehrlich - selber froh, wenn
wir verständliche, kurze, prägnante Informationen in die
Hand bekommen und nicht erst dreimal den Text lesen
müssen, bevor er im Kopf ankommt.
Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag anlässlich unseres gemeinsamen Projektes „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“, das im Oktober
stattfinden wird, die Idee aus dem Antrag aufgegriffen
hat und wir jetzt in der Realisierungsphase sind.
Die leichte Sprache ist jedoch nur ein Teil dessen, was
Barrierefreiheit insgesamt ausmacht. Für ein umfangreiches Angebot an Information für alle Menschen mit ganz
unterschiedlichen Behinderungen sind sehr viel mehr
Dinge zu bedenken.
Für Blinde und Sehbehinderte ist es wichtig, dass zum
Beispiel Fernsehprogramme eine Audiountertitelung haben, dass Internetseiten oder PDF-Dokumente barrierefrei gestaltet sind, dass Broschüren in Brailleschrift angeboten werden und vieles mehr. Sie sind zudem auf
Blindenleitsysteme in Kinos, Theatern, öffentlichen Einrichtungen, Museen, bei Denkmälern usw. angewiesen.
Nehmen wir als weiteres Beispiel die gehörlosen
Menschen. Sie brauchen Gebärdendolmetscher, wenn
sie einer Theateraufführung folgen wollen. Vor Ort gibt
es Gott sei Dank sehr viele praktische und persönliche
Initiativen, durch die man diese Teilhabe über Spenden
und ehrenamtliches Engagement zusätzlich verbreitert.
Das sollten wir einmal positiv hervorheben und den
Menschen, die sich vor Ort in diesem Bereich engagieren, sehr herzlich danken. Denn sie tun das in der Regel
ehrenamtlich.
({4})
Art. 30 der auch von Deutschland ratifizierten UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet uns alle, dafür zu sorgen, dass Kunst und Kultur ohne Abstriche
auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind.
({5})
Nach der Erarbeitung und Beschlussfassung zum nationalen Aktionsplan fußt die Umsetzung der Konvention
auf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Insofern
ist der Antrag durchaus eine Gelegenheit, wieder und
wieder über diese Themen zu sprechen.
Manche reden den Aktionsplan leider gerne schlecht.
Ich bin nicht derselben Meinung und bin davon überzeugt, dass dieser Aktionsplan und all die Aktivitäten in
den unterschiedlichsten Lebensbereichen - dazu gehören
Kultur und Kunst -, die sich entwickeln, unsere Gesellschaft durchdringen. Denn Barrierefreiheit ist kein Geschenk für Menschen mit Behinderung, sondern sie erleichtert unser aller Leben,
({6})
vor allem mit Blick auf die kulturelle Teilhabe.
Wer Kultur anbietet - um einmal von der Angebotsseite auszugehen -, wird künftig an alle diese Menschen
denken müssen. Denn in unserer älter werdenden Gesellschaft sind Menschen mit Behinderung auch eine wichtige Kundengruppe. Immerhin leben zurzeit 7,3 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung.
1,5 Millionen davon sind entweder blind, sehbehindert,
schwerhörig oder taub. Die Zahl wird steigen, weil wir
Gott sei Dank älter werden und es unserem menschlichen Körper immanent ist, dass wir zunehmend auf
Hilfe und Unterstützung angewiesen sind.
Selbst in einem Lebensbereich, in dem man vielleicht
selber weder künstlerische Aktivitäten bestreiten noch
Kultur aktiv konsumieren kann, sind kulturelle Ange23452
bote wichtig, zum Beispiel dass älteren kaum noch handlungsfähigen Personen aus guten Büchern vorgelesen
wird und sie vielleicht ein Fernsehprogramm sehen können, das die wunderbaren Denkmäler Deutschlands
zeigt, damit auch diese Menschen an unserem kulturellen Gut in Deutschland teilhaben können.
Deshalb lassen die Fernsehmacher die Menschen mit
Behinderung längst nicht mehr links liegen: Sie haben
sie als Zielgruppe entdeckt. Manche Sender schaffen
neue Angebote, um auch diese Zuschauer für ihr Programm zu gewinnen.
Ein wirklich gutes Beispiel, wie Teilhabe über das
Fernsehen gelingen kann, haben wir im Deutschen Bundestag am 18. März bei der Wahl unseres Bundespräsidenten erlebt, als die Übertragung auf Phoenix erstmals
live mit Einblendungen in Gebärdensprache stattgefunden
hat. Kompliment dafür an die Initiatoren und Macher!
Solchen guten Beispielen sollten andere folgen.
Sie fordern in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD-Fraktion, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stärker in die Pflicht zu nehmen, was barrierefreie Angebote betrifft. Ist das wirklich
nötig?
({7})
Unsere Rundfunkräte, in denen auch Sie vertreten
sind, haben mit der neuen Gebührenordnung ab Januar
des nächsten Jahres große Erwartungen geweckt; da sind
wir uns einig. Es ist klar: Wenn auch von dieser Personengruppe höhere Gebühren eingezogen werden, dann
sind bessere Angebote notwendig. Aber ich denke, dass
die Herren und Damen in den Anstalten jetzt auf dem
Weg sind, das zu organisieren und die entsprechenden
Voraussetzungen zu schaffen. Hinsichtlich derer, die
noch nicht daran gedacht haben, ist hier ein entsprechender Appell durchaus angebracht.
({8})
Denn Barrierefreiheit ist ein Prozess, der nur dann vorankommt, wenn viele Impulse aus vielen Richtungen
gegeben werden.
({9})
Das zeigt zum Beispiel auch die Filmförderung. Durch
den Einsatz aller Fraktionen hat die Filmförderungsanstalt eine barrierefreie Fassung der Förderungsbedingungen der Filmschaffenden erstellt. Sie will darüber hinaus
Barrierefreiheit in die Richtlinien des Deutschen Filmförderfonds verpflichtend aufnehmen. Dies ist eine gute
Initiative, die wir ausdrücklich begrüßen.
({10})
Damit hat sich eine weitere Forderung Ihres vorliegenden Antrags erledigt.
Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag weiter die
Umsetzung der BITV 2.0. Diese ist vor ziemlich genau
einem Jahr in Kraft getreten. Diesbezüglich können auch
wir nur hoffen, dass nach Veröffentlichung des Leitfadens, der jetzt noch in Arbeit ist, die Umsetzung auch
mit Unterstützung der Länder zügig geschieht, sodass
auch im Internet Barrierefreiheit erreicht wird.
Denn wir wollen, dass auf jedem Kulturfeld eine
nachhaltige Lösung gefunden wird. Deshalb geht das
nicht schnell und über Nacht, sondern muss systematisch
und vor allen Dingen nachhaltig angegangen werden.
Ein Teil des bunten Straußes an Forderungen aus Ihrem Antrag ist also, wie gesagt, schon realisiert bzw. auf
einem guten Weg, und nicht alle haben einen originären
kultur- oder medienpolitischen Hintergrund. Deshalb
freue ich mich immer wieder, wenn ich kreativen Menschen begegne, die mit ihrer und trotz ihrer Behinderung
kulturelle Meisterwerke hervorbringen - für Menschen
mit Behinderung und mit ihnen.
Es kommt darauf an, dass wir das Kunst- und Kulturschaffen dieser Menschen würdigen und es auch als
Menschen ohne Behinderung in einer würdigen Form
bewerten, als Kulturgut anerkennen sowie konsumieren
und entsprechend verbreiten.
({11})
Ich möchte, dass die eigene Kreativität auch bei Preisverleihungen eine stärkere Rolle spielt. Auch da gibt es
gute Beispiele. Ich denke etwa an den Deutschen Hörfilmpreis. Das ist seit vielen Jahren eine gute Initiative,
die Jahr für Jahr zeigt, welche qualitativen Verbesserungen sich da entwickeln.
Dies alles muss wachsen. Klar, wir sind ungeduldig.
Auch in unserem Herzen sind wir ungeduldig. Aber
wenn wir es schaffen, dass diese Form der kulturellen
Teilhabe kein Thema für Experten oder behindertenpolitische Sprecher bleibt, sondern Herzenswunsch von uns
allen wird, dann haben wir einen guten Beitrag für unsere Kulturgemeinschaft geleistet.
Ich danke für die heutige Debatte. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses hat deutlich gezeigt, dass wir
bereits viele Dinge auf den Weg gebracht haben und diesen Weg weitergehen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich für
diesen großen und wichtigen Bereich engagieren.
Herzlichen Dank.
({12})
Die Kollegin Ulla Schmidt hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Michalk, ich mache Ihnen einen einfachen Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
({0})
Ulla Schmidt ({1})
Wenn alles schon erledigt oder auf einem guten Weg ist,
dann weiß ich nicht, warum die CDU/CSU-Fraktion und
die FDP diesen Antrag ablehnen. Ich kann Ihnen den
Grund aber nennen. Der steht in Ihrer Beschlussempfehlung. Da heißt es, dass zweifelsohne vieles auf dem Weg
ist. Es sei aber auch unbestritten, dass noch viel zu tun
sei.
({2})
Aber im Hinblick auf andere Anliegen und die begrenzten Finanzmittel müsse endlich anerkannt werden, dass
mehr im Moment nicht erledigt werden könne.
({3})
Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben da eine andere Auffassung. Die UN-Behindertenrechtskonvention zu ratifizieren, ist das eine. Sie
umzusetzen und dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in
diesem Land, egal ob behindert oder nicht behindert,
ob alt oder jung, ob zugewandert oder hier geboren, das
Recht hat und die Chance erhält, das Beste aus seinem
Leben zu machen, ist das andere. Wir müssen die in der
UN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Rechtsansprüche erfüllen. Bei dieser Aufgabe ist das Bohren
dicker Bretter, wie es Max Weber formuliert hat, notwendig.
({4})
Sie haben recht: Es muss etwas in der Gesellschaft, in
den Köpfen der Menschen verändert werden. Aber es ist
auch klar: Wenn wir Bundestagsabgeordnete als Gesetzgeber nicht für entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen sorgen und die Strukturen, in denen wir leben,
nicht so verändern, dass die Teilhabe und das Mitmischen aller garantiert sind, dann bleibt die UN-Behindertenrechtskonvention reines Wunschdenken und wird in
diesem Land nicht gelebte Realität.
({5})
Wir wollen mehr und haben deshalb als SPD-Fraktion
eine Reihe von Anträgen eingebracht. Wir wollen, dass
über dieses Thema hier im Bundestag diskutiert wird
und dass wir uns damit auseinandersetzen. Sie haben
recht: Das ist nicht allein eine Aufgabe der Behindertenbeauftragten der Fraktionen und des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. Vielmehr geht es um eine
große gesellschaftspolitische Aufgabe. Wir sollten uns
zum Ziel setzen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts entscheidende Schritte voranzukommen, und zwar in allen
wichtigen Bereichen wie Verkehr, Mobilität, Bildung,
Arbeitswelt, politische Teilhabe und gesundheitliche
Versorgung.
Wir fordern in unserem Antrag, die Barrierefreiheit
im gesamten Bereich von Kultur und Medien zu garantieren. Das ist wichtig; denn durch die Ratifizierung der
UN-Behindertenrechtskonvention erkennen wir an, dass
es um die Verwirklichung von Rechtsansprüchen jedes
einzelnen Menschen und nicht um ein Goodwill geht. Es
spielt als keine Rolle, ob wir das machen wollen oder
nicht. Wir müssen es machen.
({6})
Wir wollen alles unternehmen, um dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen und darüber
zu debattieren. Uns ist die Barrierefreiheit gerade im
Bereich von Kultur und Medien wichtig, weil es darum
geht, dass sich in den Köpfen - darauf haben Sie zu
Recht hingewiesen - vieles verändert. Wir in Deutschland neigen dazu, Menschen bestimmte Eigenschaften
oder Fähigkeiten zuzuschreiben. Das geht oft mit dem
Ausschluss von bestimmten Aufgaben einher. Gerade
Kultur und Medien, die daran mitwirken, dass sich die
Gesellschaft verändert und dass es keine kritische Auseinandersetzung ohne diejenigen gibt, die betroffen
sind, kommt eine ganz wichtige Aufgabe zu, wenn es
darum geht, die Teilhabe aller zu garantieren. Wir haben
große Chancen, unsere Ziele im Bereich von Kultur und
Medien zu erreichen. Es geht nicht nur um passive Teilhabe. Wir fördern viele Bereiche und wollen erreichen,
dass die aktive Teilhabe behinderter Menschen genauso
selbstverständlich ist wie die nicht behinderter Menschen.
Ich habe viele Theaterstücke gesehen und Musicals
besucht, an denen Behinderte und Nichtbehinderte mitgewirkt haben. Die Nichtbehinderten haben gesagt:
Nach einer gewissen Zeit haben wir gar nicht mehr bemerkt, wer behindert ist und wer nicht. Wir alle haben
unser Bestes eingebracht. - So etwas verändert mehr in
den Köpfen als viele andere Aktionen.
Es nutzt aber nichts, allein Postulate aufzustellen und
ständig nur darüber zu reden, was wir wohl noch machen
könnten. Wir sagen in unserem Antrag ganz klar: Die
rechtlichen Voraussetzungen für Barrierefreiheit müssen
geschaffen werden. Das bedeutet im Bereich von Kultur
und Medien, dass wir uns darauf verständigen müssen,
dass kein einziger Euro mehr - das gilt auch für die
Filmförderung - in Projekte fließt, wenn die Barrierefreiheit nicht gesichert ist. Das kann der Bundestag beschließen. Dann wird wirklich etwas geschehen.
({7})
Es geht darum, bei der Unterstützung kultureller Projekte Barrierefreiheit einzufordern und alle dazu zu verpflichten, sich für Barrierefreiheit einzusetzen. Dann
sind wir auf dem richtigen Weg. Damit setzen wir
Signale, so wie wir es mit unserem Antrag gemacht haben.
Ich weiß sehr wohl, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist. Das spreche ich hier an, weil auch das
etwas mit kultureller Bildung zu tun hat. Inklusion ist
vor allen Dingen da wichtig, wo es um die gemeinsame
Erziehung und Beschulung geht. Dafür brauchen wir
Geld. Wir brauchen die entsprechenden Rahmenbedingungen, damit Inklusion erfolgreich ist. Im Bereich der
Kultur und der Medien können wir mit dem, was wir
derzeit auf den Weg bringen, Verbesserungen erreichen.
Ulla Schmidt ({8})
Wir können etwas verändern. Deshalb war es uns wichtig, einen Weg aufzuzeigen und ein Signal zu senden.
Das Ziel meiner Fraktion ist eine Gesellschaft, an der
alle gleichberechtigt teilhaben und in der alle mitmachen
können. Das gilt für Menschen mit Behinderung, die in
ihrem Umfeld auf Barrieren stoßen, aber auch für Menschen ohne Behinderung oder diejenigen, die teilweise
Einschränkungen haben. Das gilt für lernschwache und
lernstarke Menschen, Ältere und Jüngere, Zugewanderte
und für diejenigen, die hier geboren wurden. Sie alle
können von der Inklusion profitieren.
({9})
Frau Kollegin Schmidt.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, dies perspektivisch umzusetzen. Ich weiß, dass wir dafür Zeit brauchen.
Kollegin Schmidt, der Kollege Kurth will Ihnen durch
eine Bemerkung oder Frage die Gelegenheit geben, Ihre
Redezeit zu verlängern. Deswegen versuche ich die
ganze Zeit, Sie zu unterbrechen.
Bitte schön.
Frau Kollegin, herzlichen Dank. - Wir alle setzen uns
für Barrierefreiheit ein. Bitte richten Sie dringend meinen Gruß an Ihre famose Landesregierung in NordrheinWestfalen aus. Sie hat neulich die Teilnehmer der Paralympics in Nordrhein-Westfalen auf einer Bühne begrüßt, die für Rollstuhlfahrer nicht geeignet war.
Herr Kollege Kurth, ich bin sehr froh, dass die jetzige
Regierung von SPD und Grünen
({0})
die schwarz-gelbe Regierung abgelöst hat. Mit dem Koalitionsvertrag, aber auch schon vorher, ist Inklusion
überhaupt erst zu einem wichtigen Thema in NordrheinWestfalen geworden.
({1})
Bedauerlich ist, dass es heute noch Bühnen gibt, die
für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind.
({2})
- Das ist bedauerlich. Das muss man kritisieren. Ich
richte das gerne aus.
({3})
Aber, Herr Kollege Kurth, wir können darauf hinwirken, dass Barrierefreiheit beim Bau berücksichtigt wird,
damit so etwas der Vergangenheit angehört. Das muss in
die Köpfe aller Beteiligten.
Ich habe am Wochenende in Marburg erlebt - das
habe ich bedauert -, dass eine Bühne für Menschen mit
einer Gehbehinderung nicht so umgebaut war, dass sie
für diese zugänglich gewesen wäre. Das zeigt, Frau Kollegin Michalk, dass wir noch vieles zu tun haben und es
durchaus nicht so ist, als habe sich das alles schon von
allein erledigt.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich war am
Wochenende in Marburg und habe dort erlebt, was geschieht, wenn Menschen, auch solche mit einer geistigen
Behinderung, dauerhaft zu Partizipation, zu Teilhabe angeregt werden. Ich habe die Diskussionen verfolgt und
gesehen, wie die behinderten Menschen ihre Rechte
wahrgenommen haben. Das ist für geistig Behinderte
eine besondere Herausforderung. Dafür bedarf es einer
leichten, einfachen Sprache, und dazu bedarf es Informationen. Sie haben in die Debatten eingegriffen, für ihre
Rechte gekämpft und waren in der Lage, auf alle Beiträge, die dort geleistet wurden, einzugehen.
Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, damit endlich Teilhabe für alle möglich ist. Das ist unabhängig davon, ob
sie blind oder sehbehindert sind, ob sie taub oder
schwerhörig sind, ob sie körperlich oder geistig behindert sind. Das ist völlig egal. Diese Menschen gehören in
unsere Mitte, sie gehören zu uns, und sie haben das
Recht auf Teilhabe wie alle anderen Menschen auch.
Dafür werben wir als SPD-Fraktion. Ich würde mir
wünschen, Sie würden das unterstützen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Altbundespräsident Richard
von Weizsäcker hat einmal gesagt - ich zitiere -:
Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst,
sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit
genommen werden kann.
Mit diesem Ausspruch wollte Altbundespräsident von
Weizsäcker uns für die Belange von Menschen mit Behinderung sensibilisieren und deutlich machen, dass uns
die Belange dieser Menschen auch deshalb nicht gleichgültig sein können, da es jeden von uns jederzeit betreffen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir ehrlich
sind, dann ist es doch häufig so, dass wir im alltäglichen
Leben - am Wohnort, am Arbeitsort, im Freizeitvergnügen - nicht an Barrieren denken, die sich auf unseren
täglichen Wegen für Menschen mit Behinderung auftun.
Wir nehmen unser quasi barrierefreies Leben als selbstverständlich hin. Für Menschen mit Behinderung gibt es
dieses Selbstverständnis der Barrierefreiheit nicht. Sie
sind mit Barrieren konfrontiert, die aufgrund baulicher
oder räumlicher Aspekte sofort sichtbar sind, aber auch
mit Barrieren, die nicht sofort zu erkennen sind, wie zum
Beispiel im Internet, bei Filmangeboten oder im Kommunikationsbereich.
Thomas Hänsgen, der Stiftungsratsvorsitzende und
Geschäftsführer von „barrierefrei kommunizieren!“,
sagte im Fachgespräch des Unterausschusses Neue
Medien am 19. September 2011 - ich zitiere -:
Barrierefreiheit ist eine Vision. Bisher haben wir es
im besten Falle mit barrierearmen Angeboten zu
tun.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns, Politik und
Gesellschaft, die Bedürfnisse von behinderten Menschen
vergegenwärtigen und Barrieren sowie Hindernisse
abbauen. Menschen mit Behinderung haben wie jeder
Bürger in Deutschland das Recht auf gleichberechtigte
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, und dies umfasst ganz
selbstverständlich auch das Recht auf Nutzung von kulturellen und medialen Angeboten.
Schon in der ersten Lesung und auch in den Beratungen im Ausschuss für Kultur und Medien habe ich den
Kolleginnen und Kollegen von der SPD für die Anregungen gedankt, die sie mit ihrem Antrag unterbreitet
haben. Ihr Antrag enthält eine ganze Reihe von Punkten,
die wir durchaus mittragen, daneben andere, über die
man nachdenken kann, und viele, die inzwischen schon
in der Umsetzung sind. Ich könnte mir durchaus vorstellen, die Denkmalförderung an Kriterien der Barrierearmut, nicht aber der Barrierefreiheit zu knüpfen.
Allerdings gibt es einen konkreten Punkt, weshalb wir
nicht zustimmen können: das Vergaberecht, denn es ist
nicht der geeignete Weg, Ausschreibungen mit der Erfüllung von Beschäftigungsquoten für Menschen mit
Behinderung zu verknüpfen. Nicht jedem kleinen und
mittelständischen Unternehmen wird es möglich sein,
die Voraussetzungen für barrierefreie Arbeitsplätze zu
schaffen; damit würden aber diese Unternehmen von der
Auftragsvergabe ausgeschlossen.
Uns Liberalen kommt es darauf an, dass wir Wege
finden, die allen Interessen weitgehend gerecht werden.
Es ist uns wichtig, dass wir den Weg des gesellschaftlichen Umdenkens, des Bewusstmachens der Bedürfnisse
der Menschen mit Behinderung, konsequent weitergehen. Allerdings müssen wir auch so realistisch sein,
um zu erkennen, dass wir nicht alles durch Gesetze
erzwingen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was unser Haus
selbst angeht, so wird im Oktober im Bundestag eine
Broschüre vorgestellt werden, die in Leichter Sprache
über die Arbeit dieses Hohen Hauses informiert. Dies ist
ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Inklusion, den wir
Liberale durchaus begrüßen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Rosemarie Hein das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein Professor soll zu seinen Studierenden einmal gesagt
haben: Ich bin Professor; mit mir müssen Sie einfach
reden. - Das war ein kluger Mann.
Wir denken nicht selten, wir seien besonders klug,
wenn unsere Reden mit möglichst vielen Fremdwörtern
gespickt sind und wir Fachbegriffe verwenden. Das ist
falsch. Wer klug ist, kann Kompliziertes einfach erklären. Da nehme ich mich selbst aus der Kritik nicht aus.
Die SPD hat mit der Übersetzung ihres Antrags in eine
einfache Sprache ein Beispiel gegeben: So geht es auch.
Manche und mancher meint immer noch, dass man
mit einer einfachen Sprache Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Behinderungen abwertet. Das ist
falsch. Mit der Verwendung einer einfachen Sprache
zeigt man vielmehr, dass man sie ernst nimmt. Umgekehrt bedeutet man ihnen mit einer Sprache, die sie
nicht verstehen können, dass man sie für dumm hält, was
sie nicht sind.
({0})
Darum halte ich es für wichtig, politische Entscheidungen auch in einer einfachen Sprache zu veröffentlichen. Ebenso wichtig ist es - das ist hier heute schon gesagt worden -, sie für Gehörlose in Gebärdensprache
oder Schriftsprache anzubieten.
({1})
Vielleicht ist Ihnen ja an der Tür unseres Plenarsaales
das kleine blaue Bildchen mit der Abbildung eines Ohres
und einem „T“ aufgefallen. Das ist das Zeichen dafür,
dass hier im Sitzungssaal eine Hörschleife liegt. Das
heißt, alle Menschen mit einer Hörhilfe können sich über
eine gesonderte Schalterstellung an ihrem Hörgerät in
die Lage versetzen, das besser zu hören und zu verstehen, was hier im Saal gesagt wird. Ich bin mir nicht
sicher, ob dies alle wussten.
Ich kenne die Einschränkungen von Hörgeschädigten
seit meiner Kindheit durch meine Mutter gut. Ich weiß,
was sie braucht, um am kulturellen Leben teilnehmen zu
können. Aber wirklich gut kenne ich eben nur die Besonderheiten dieser Beeinträchtigungen.
Es gibt aber unendlich viel mehr Barrieren beim Zugang zu Kultur und Medien: zum Beispiel der Zugang
zur Stadtbücherei über eine Treppe. Wenn dann noch die
einzige öffentliche Bibliothek aus Geldmangel geschlos23456
sen wird, wie es zum Ende dieses Jahres in der Stadt
Calbe in meinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt vorgesehen ist, wird für viele auch der Zugang zu guter Literatur
abgeschnitten werden. Übrigens ist die Leiterin dieser
Bibliothek schwerbehindert.
Oder nehmen wir die Haltestelle vorm Zoo in meiner
Stadt Magdeburg: Man kann zwar in die Straßenbahn
möglicherweise barrierefrei einsteigen und zum Zoo fahren, aber man kommt an Ort und Stelle alleine im Rollstuhl nicht wieder heraus. Zum Zoo hat man dann sehr
weite Wege.
Die Aufzählungen lassen sich nahezu unbegrenzt
fortsetzen. Hier sind heute auch schon einige weitere
Beispiele genannt worden. Der Antrag der SPD kann
helfen, das Verständnis dafür zu schärfen und das Problembewusstsein zu entwickeln.
({2})
Die meisten von uns haben sicherlich mit großer
Bewunderung die Leistungen der Sportlerinnen und
Sportler mit Handicaps bei den Paralympics in London
verfolgt. Mir scheint, noch in keinem Jahr wurde so umfassend davon berichtet. Auch das ist ein Fortschritt.
({3})
Da konnte man auch sehen, was alles möglich ist,
wenn entsprechende Hilfen gewährt werden: nahezu alles. Die Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen
sind darum auch Vorreiterinnen und Vorreiter; denn noch
lange nicht allen Menschen mit Handicaps werden diese
Hilfen gewährt. Dies erfährt man sehr schnell, wenn man
plötzlich in die Lage versetzt ist, dass man sich um Angehörige kümmern muss, die pflegebedürftig werden.
Wir haben eine Verantwortung dafür, dass Menschen
mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen am öffentlichen Leben uneingeschränkt teilnehmen können; denn
wir machen die Gesetze. Aber von den notwendigen
Gesetzesveränderungen ist im Nationalen Aktionsplan
gerade bei dem Thema Zugang zu Kultur und Informationen eben nichts zu lesen, und darum ist Nachbesserung angesagt. Wenigstens für öffentliche Einrichtungen
könnten wir diese Regelungen schaffen. Wir müssen
endlich dafür sorgen, dass Städte und Gemeinden finanziell so ausgestattet werden, dass sie ihre einzige kulturelle Einrichtung nicht schließen müssen. Kultur ist eben
nicht Luxus und freiwillig, sondern sie gehört zum Leben in den Städten und Dörfern dazu, und zwar für alle.
({4})
Wir können mit gutem Beispiel vorangehen, indem
zum Beispiel die Internetseite dieses Parlaments so gestaltet wird, dass man auch erfährt, welche Barrieren
nicht mehr vorhanden sind. Auch könnte diese Internetseite selbst barrierefrei gestaltet werden. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses empfiehlt nun aber leider
als Lösung, diesen Antrag abzulehnen.
Kollegin Hein, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich bin sofort fertig. - Es steht in dieser Beschlussempfehlung, es gebe keine Alternativen. Nach dem, was
ich heute gehört habe, bin ich da sehr enttäuscht; denn
Sie haben davon gesprochen, dass Sie das alles als wichtig ansehen. Nun bitte ich Sie: Lehnen Sie die Beschlussempfehlung ab; denn Alternativen bietet der Antrag der
SPD sehr wohl.
Danke schön.
({0})
Ein kleiner geschäftsleitender Hinweis sei uns gestattet: Bis vor zwei Sekunden konnten wir Sie im Saal nicht
sehen, da wir hier den Platz an der Sonne hatten. Wir
haben der Rednerin eben und auch ihrem Vorredner
zugestanden, dass sie wahrscheinlich das Signal nicht erkennen konnten. Ich bitte aber jetzt darum, die Signale
aus dem Präsidium zu beachten. Sollten wir eine
Meldung aus dem Saal aufgrund der Verhältnisse hier
übersehen, bitte ich, es uns irgendwie akustisch noch anzuzeigen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Barrierefreiheit beginnt hier im Parlament.
Wenn Gesetze und Anträge so formuliert sind, dass die
meisten Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen können, worum es geht, läuft etwas falsch. Verklausulierte
Sprache führt zur Ausgrenzung und verstärkt die Kluft
zwischen Politik und Bevölkerung. Die Anregung der
SPD zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung, bei zentralen Debatten die Leichte Sprache zu berücksichtigen,
unterstützen wir daher ausdrücklich.
({0})
Wir begrüßen den Antrag der SPD, weil er konkrete
Vorschläge macht für mehr Barrierefreiheit in Kultur,
Medien und Politik - ganz im Gegensatz zum Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung. Dieser verliert
sich nämlich in vagen Kannbestimmungen. Ende 2012
laufen viele Maßnahmen des Aktionsplans auch schon
wieder aus, ohne dass sich im Bereich Inklusion Entscheidendes verändert hat.
Ab 2013 ist beispielsweise die Förderung für das
Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit nicht mehr
gesichert. So kommen wir in Deutschland bei der Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte der
Menschen mit Behinderung nicht weiter.
Meine Fraktion denkt bei ihren Anträgen Barrierefreiheit immer mit. Unser Antrag zum Aufbau der Deutschen Digitalen Bibliothek enthält auch die Forderung,
die Bedürfnisse hörgeschädigter, gehörloser und
taubstummer Menschen bei der Bereitstellung digitaler
Kulturgüter mit einzubeziehen. Seit einem Jahr steht
unsere Forderung nach einem Sofortprogramm „Barrierefreier Film“ im Raum. Auch in den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten müssen mehr Angebote
für hör- und sehbeeinträchtigte Menschen geschaffen
werden.
({1})
Nicht nur Verbesserungen beim substanziellen Zugang zu unserer medialen und kulturellen Infrastruktur
für Menschen mit Behinderung sind notwendig. Es geht
auch darum, wie wir ihre Mitgestaltung individuell fördern können. Ansonsten geht unserer Gesellschaft viel
kreatives Potenzial verloren.
Was wäre unsere Musiklandschaft ohne die Stimme
eines Thomas Quasthoff? Seine Karriere hätte beinahe
geendet, bevor sie begonnen hat: vor den Türen der
Musikhochschule, die ihn nicht aufgenommen hat, weil
er aufgrund seiner Conterganschädigung nicht Klavier
spielen kann. Ohne das Pflichtfach Klavier ist an unseren Musikhochschulen auch heute noch offiziell kein
Gesangsstudium möglich.
Alle Ausbildungseinrichtungen im Bereich Kultur
und Medien müssen sich auf die Besonderheiten von
Menschen mit Behinderung einstellen. Ihr kreatives,
künstlerisches und intellektuelles Potenzial muss sich
entfalten können - das fordert auch die UN-Behindertenrechtskonvention.
({2})
In meinem Wahlkreis Ingolstadt gibt es an einer Förderschule eine Tanzgruppe mit besonderen Kindern.
Einmal in der Woche kommt eine Tänzerin, um mit ihnen zu arbeiten. Vor der Sommerpause habe ich dort eine
Aufführung besucht. Es war berührend und beeindruckend, wie sich diese Kinder mit teilweise schwersten
Behinderungen zur Musik bewegten. Durch die Musik
und den Tanz wurden ihre Persönlichkeiten sichtbar.
Und ich rede hier von Kindern, die für uns oft nicht
sichtbar sind.
Ich wünsche mir, dass vielfältige künstlerische Angebote für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne
Behinderung gleichermaßen selbstverständlich werden.
Es geht um die Entfaltung von Fantasie und Empathie,
um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.
Sorgen wir gemeinsam dafür, dass Barrierefreiheit in
Kunst und Kultur für alle Menschen nicht nur ein
Wunsch auf dem Papier bleibt, sondern umgesetzt wird.
Vielen Dank.
({3})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Burkhardt Müller-Sönksen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Inklusion geht uns alle an, nicht nur als breite gesellschaftliche Initiative. Insbesondere uns hier in diesem
Hause sollte sie ein ganz besonderes Anliegen sein.
Frau Kollegin Schmidt, Sie haben es in der letzten
Debatte auf den Punkt gebracht: Wenn wir Volksvertreter sein wollen, dann müssen wir für alle Menschen
Klartext reden und Klartext schreiben. Diese Äußerung
möchte ich ausdrücklich zitieren.
({0})
Den Antrag der SPD-Fraktion können wir zwar, wie
mein Kollege Reiner Deutschmann ausgeführt hat, nicht
in allen Punkten mittragen. Ich möchte aber den Impuls
des Antrags gerne aufgreifen, weil das gesellschaftliche
Umdenken jetzt beschleunigt werden muss.
({1})
Nach den Empfehlungen des Vereins „Mensch zuerst Netzwerk People First Deutschland e. V.“ habe ich Teile
meiner Homepage in Leichte Sprache übersetzt. Ich bin
dem Beispiel meiner Kollegin Gabi Molitor gefolgt, weil
ich der Auffassung bin, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten meine parlamentarische Arbeit verfolgen sollen. Liebe Gabi, das machst du genau richtig.
Alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Hause sollten
deinem Beispiel folgen.
({2})
Und wie Sie, Frau Schmidt, stand ich vor der Herausforderung, im Wortsinne unübersetzbare Begriffe allen
Besuchern zugänglich zu machen. Es ist nicht einfach,
sich in Leichter Sprache auszudrücken. Es ist aber notwendig, und deshalb werbe ich bei allen Kolleginnen
und Kollegen, sich damit zu beschäftigen und den zusätzlichen Aufwand, den die Übersetzung in Leichte
Sprache mit sich bringt, bei der Bearbeitung der Homepage auf sich zu nehmen.
Bei der Übersetzung fiel mir auf, was die Koalition
schon geleistet hat. Vor noch nicht einmal einem Jahr haben wir den Antrag zur Ausweitung des barrierefreien
Filmangebotes beschlossen. Die Koalitionsfraktionen
haben die Bundesregierung aufgefordert, das Kriterium
des barrierefreien Zugangs zu Filmen bei der Filmförderung stärker zu berücksichtigen. Nun wurden die Förderrichtlinien des Deutschen Filmförderfonds entsprechend
angepasst und treten zu Beginn des nächsten Jahres in
Kraft. Damit haben wir einen Anreiz für mehr barrierefreie Filmangebote gesetzt, von denen viele hör- und
sehbehinderte Menschen profitieren werden.
Als Beispiel für die Umsetzung der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung möchte ich auf das Auswärtige Amt verweisen. Auf dessen Website finden sich
zum Beispiel sehr informative Texte in Leichter Sprache
zur Menschenrechtspolitik und Videos mit Gebärdensprache.
Außerdem möchte ich die Bemühungen des Verteidigungsministeriums - gerade war der Wehrbeauftragte
hier - hervorheben. Die Komplexität sicherheitspolitischer Begriffe in Leichter Sprache wiederzugeben, ist
wirklich eine anerkennenswerte Leistung.
({3})
Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns nach alledem
auf einem guten Weg: Ein Antrag der SPD, mein Beispiel
einer Homepage oder der Beschluss des Ältestenrates,
zum Beispiel bei www.bundestag.de, sind erste Schritte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir diesen
Weg konsequent gemeinsam weiter, dann wird die Inklusion in allen Bereichen gelingen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Kultur für alle - Für einen
gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10030, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8485 abzulehnen.
({0})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Bericht des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2011
- Drucksache 17/9900 -
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({1})
Elektronische Petitionen und Modernisierung
des Petitionswesens in Europa
- Drucksache 17/8319 Überweisungsvorschlag:
Petitionsausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsitzende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten
Steinke.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Der Petitionsausschuss war auch im Jahr 2011
wieder Anlaufpunkt für viele Menschen, die sich Hilfe
erhofften. Zwei Zahlen prägten die Arbeit des Petitionsausschusses im Jahr 2011: 15 191 Petitionen wurden im
vergangenen Jahr eingereicht, und 1,1 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich auf der Internetseite des
Petitionsausschusses angemeldet, um Petitionen auf
elektronischem Weg einzureichen oder öffentliche Petitionen mitzuzeichnen oder zu diskutieren.
Ein Drittel aller Eingaben, also circa 5 000, wurden
per E-Mail eingereicht. Knapp ein Viertel der Gesamteingaben, nämlich 3 364 Vorgänge, fielen auf das Ressort Arbeit und Soziales. Damit belegt es, wie auch in
den Vorjahren, den Spitzenplatz unter den betroffenen
Bundesministerien.
Allein zum ALG II gab es 937 Petitionen. Hier ging
es zum Beispiel um Fehler bei der Berechnung, um die
Aussetzung von Leistungen, um Sanktionen oder Sonderregelungen für unter 25-Jährige, um die Verrechnung
mit anderen Einkommen wie Ferienjobs oder Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeit.
Zahlreiche Beschwerden gingen beim Petitionsausschuss ein, weil bei der Anrechnung einer Verletztenrente
aus einer gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente
aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Ost und
West unterschiedliche Freibeträge galten. Die Petenten
forderten die Abschaffung dieser Ungleichbehandlung.
Dieser Forderung schloss sich der Petitionsausschuss einstimmig an, blieb aber im ersten Anlauf erfolglos. Doch
es wäre nicht unser Petitionsausschuss, wenn er die Erfolglosigkeit einfach so akzeptieren würde. Es wurde ein
weiteres Gespräch mit Regierungsvertretern geführt und
um eine Lösung gerungen. Das Ergebnis: Seit dem 1. Juli
des vergangenen Jahres gelten für Ost und West einheitliche Freibeträge.
({0})
Das Bundesministerium der Justiz mit 1 885 Eingaben bzw. 12 Prozent der Gesamteingaben lag auch im
vergangenen Jahr auf dem zweiten Rang der Eingabenstatistik. Adoptionsrecht, Unterhaltsrecht, Mietrecht und
Verbraucherschutz sind nur einige Themen aus diesem
Bereich, mit denen sich die Bürgerinnen und Bürger an
uns wenden.
Neben seinen 22 regulären Sitzungen hat der Ausschuss 32 Berichterstattergespräche mit einzelnen Ministerien geführt, um Lösungen für schwierige Fälle zu finden. Hier wurden beispielsweise das Verbot von ActionComputerspielen, der Lärmschutz im Luftverkehr und an
Schienenwegen, die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts und die wohnortnahe Versorgung mit
Hebammenhilfe thematisiert.
Hervorzuheben sind vier öffentliche Sitzungen, in denen zehn Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen wurden. Themen waren unter anderem: die Verankerung des
Klimaschutzes als Staatsziel im Grundgesetz, das Verbot
des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, die nukleare Ver- und Entsorgung, die Ambulante Kodierrichtlinie, die Finanztransaktionsteuer und die Kopfpauschale
zur Finanzierung der GKV.
In drei Fällen führte der Ausschuss Ortstermine
durch. Besprochen wurden gemeinsam mit den Petenten
und den Vertretern der zuständigen Verwaltungen die
Trassenführung der S-Bahn bei Fürth, die Nutzung der
Ferienanlage Prora auf Rügen sowie der Bau einer
Ortsumgehung bei Ratzeburg.
Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass sich die
Mitglieder des Petitionsausschusses mit großem Engagement darum bemühen, die bestmögliche Lösung für jede
Petentin und jeden Petenten zu erreichen und dabei in vielen Fällen eine über die Fraktionsgrenzen hinausgehende
konstruktive Zusammenarbeit praktizieren. Selbstverständlich ist aber auch, dass es zu manchen Themen sehr
unterschiedliche Sichten gibt und somit unterschiedlich
von den Fraktionen votiert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere mithilfe des Internets eröffnen sich den Bürgerinnen und
Bürgern seit 2005 völlig neue Arten der Beteiligung. Die
Möglichkeit, Petitionen im Internet zu veröffentlichen
und online zu unterstützen, erlaubt es den interessierten
Menschen, sich zusammenzutun und sich gemeinsam für
ein Anliegen starkzumachen. Ziel der öffentlichen Petition ist es, der Öffentlichkeit Themen von allgemeinem
Interesse vorzustellen und zu diskutieren. Auf diese
Weise wird die Informationsbasis des Ausschusses, die
die Grundlage seiner Empfehlungen an das Plenum des
Deutschen Bundestages bildet, erheblich erweitert.
Seit 2005 besteht die Möglichkeit, Petitionen per Internet einzureichen, öffentlich zu stellen und mitzudiskutieren. Und die Zahlen beweisen: Die Entscheidung für
das Internet war richtig, und wir tun gut daran, das Angebot immer weiter zu verbessern.
({1})
Neben den bereits erwähnten 1,1 Millionen registrierten Nutzern auf der Internetseite wurden auch die 650
im Berichtsjahr veröffentlichten Petitionen insgesamt
1 Million Mal mitgezeichnet und 66 000-mal kommentiert.
Eine weitere Zahl ist imposant: 4 bis 5 Millionen Seitenaufrufe pro Monat zeigen das rege Interesse der Bevölkerung an diesem Angebot des Petitionsausschusses.
Unser Internetportal ist damit klarer Spitzenreiter unter
den Internetangeboten des Deutschen Bundestages.
Die am häufigsten über das Internetportal mitgezeichneten öffentlichen Petitionen im Berichtsjahr waren die
Petition zum Verbot der Vorratsdatenspeicherung mit
über 64 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern
und zum Verbot des Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen mit über 43 000 elektronischen Mitzeichnungen.
Ich bin der festen Überzeugung: Insbesondere das Instrument der öffentlichen Petitionen kann helfen, die Demokratie zu stärken und Mitwirkung auf eine breitere
Basis zu stellen. Doch bei all den Möglichkeiten, die das
Petitionsrecht in Verbindung mit dem Internet bringt,
dürfen wir eines nicht vergessen: die sehr persönlichen
Sorgen und Nöte des einzelnen Bürgers, die quasi das
Kerngeschäft des Petitionsausschusses sind und auch
den Kernanteil unserer Arbeit ausmachen. Bei all den
persönlichen Bitten und Beschwerden, etwa wegen falscher Berechnung der Rente, Nichtfinanzierung eines
Rollstuhls oder Ablehnung eines Besuchervisums, geht
es für den Einzelnen, der sich an uns wendet, um existenzielle Probleme. Diese Eingaben eignen sich aber
nicht für Diskussionsforen und öffentliche Beratungen.
Doch auch diese Beschwerden zeigen, wo in der Politik
etwas nicht funktioniert.
Der Petitionsausschuss wird täglich mit diesen Einzelschicksalen konfrontiert, bei denen Bürgerinnen und
Bürger in die Mühlen der Bürokratie geraten sind und
nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen. Hier ein
Beispiel: Eine Petentin, die an einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems leidet, wandte sich an uns,
damit die Deutsche Rentenversicherung Bund die Kosten
der Wartung der Rollstuhlladehilfe an ihrem Pkw übernehme; denn trotz ihrer Erkrankung war es der Dame mit
dem entsprechend ausgestatteten Pkw möglich, am Berufsleben teilzunehmen. Durch eine verzögerte Bearbeitung durch die Deutsche Rentenversicherung Bund war
sie jedoch gezwungen, die Wartungskosten selbst zu
übernehmen, wenn sie weiter dem Beruf nachgehen
wollte. Durch die vom Petitionsausschuss eingeleitete
Ermittlung konnte der Frau dann doch geholfen werden.
Der Petentin wurden die Wartungskosten erstattet und
die Finanzierung eines Kraftverstärkers am Rollstuhl bewilligt, um ihr auch weiterhin die Teilnahme am aktiven
Leben zu ermöglichen. Ja, die Lösung solcher Probleme
ist zeitaufwändig und in aller Regel auch wenig öffentlichkeitswirksam. Aber diese Anfragen sind genauso
wichtig wie die Petitionen mit Hunderttausenden Unterschriften.
({2})
Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Der Bericht des
Büros für Technikfolgen-Abschätzung, der heute auch
auf der Tagesordnung steht, kommt zu der Einschätzung:
Der Petitionsausschuss ist für die Bürger relativ
einfach erreichbar, gleichzeitig aber in der Durchsetzung von Bürgerinteressen schwach.
So weit, so gut bzw. so schlecht. Ich frage mich allerdings, wie wir diese Einschätzung ins Gegenteil kehren
wollen, wenn wir nicht einmal die Anerkennung des Parlaments, geschweige denn ausreichend Gehör zur Durchsetzung im Parlament finden.
({3})
Wie sonst soll ich es bewerten, dass der Tagesordnungspunkt so aufgesetzt wurde, dass unsere Debatte erst zu
dieser späten Uhrzeit stattfindet? Die Obleute aller Fraktionen haben sich gemeinsam dafür stark gemacht, diesen Tagesordnungspunkt zu einer früheren Tageszeit im
Plenum aufzurufen, und sind den Kompromiss eingegangen, den Jahresbericht nicht im Juni, sondern im September zu debattieren. Das Ergebnis der Bemühungen
- und damit die mangelnde Akzeptanz und Würdigung
unserer Arbeit - wurde heute wieder sichtbar.
({4})
Doch seien Sie sicher: Wir werden uns nicht entmutigen
lassen und immer wieder anmahnen, unsere Arbeit und
ihre Ergebnisse zu achten, aber vor allem ernst zu nehmen. Denn bei unserer Arbeit geht es um die Menschen
in unserem Land, um ihre Rechte, ihre Fragen, ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Vorschläge und Anregungen. Es geht
also um die Ausübung und Achtung eines demokratischen Rechts, des Petitionsrechts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die heutige Debatte auch dazu nutzen, mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes
ganz herzlich zu bedanken. Sie sorgen trotz stetigen
Wechsels und dünner Personaldecke für einen kontinuierlichen Zustrom an beratungsreifen Petitionen, arbeiten konstruktiv mit den Abgeordneten zusammen und
stehen uns Abgeordneten stets unterstützend zur Seite.
Dafür ganz herzlichen Dank!
({5})
Darüber hinaus möchte ich mich natürlich bei den Ausschussmitgliedern aller Fraktionen ganz herzlich für ihr
Engagement und für die gute Zusammenarbeit bedanken.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das kommende Jahr wünsche ich mir von den Mitgliedern unseres Parlaments, des Petitionsausschusses und den Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes eine weiterhin
konstruktive und respektvolle Zusammenarbeit, um unsere Bemühungen für die Bürgerinnen und Bürger noch
effektiver zu gestalten.
Georg Christoph Lichtenberg sagte einmal:
Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein
Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu
versengen.
Ich sehe unseren Petitionsausschuss als Fackelträger.
Wenn bei unserer Tätigkeit der eine oder andere Bart
versengt wird, können Sie gesichert davon ausgehen,
dass dies immer im Sinne der Petentinnen und Petenten
geschieht.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Günter Baumann hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir stellen oft fest, dass sich in unserem Land ein gewisses Maß an Politikverdrossenheit breit macht. Besonders
stellen wir das bei Wahlen fest, da manchmal nur 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen.
Der ehemalige
„Wir dürfen nicht müde werden, uns zu fragen, was wir
tun können, um unsere Demokratie attraktiv, aktuell und
lebendig zu erhalten.“ Mein persönlicher Eindruck ist:
Der Petitionsausschuss wird nicht müde, sich Tag für
Tag mit den Problemen der Menschen zu beschäftigen
und zu versuchen, Abhilfe zu schaffen. Nach dem Wahlrecht bietet der Petitionsausschuss den Bürgerinnen und
Bürgern die wichtige Möglichkeit, sich direkt an der
Politik beteiligen.
Die Bürgerinnen und Bürger haben nach meiner Ansicht Vertrauen in unsere Arbeit, und das, obwohl es neben uns in Behörden und Institutionen eine Vielzahl von
Beauftragten gibt. Trotzdem kommen seit vielen Jahren
15 000 bis fast 20 000 Petitionen pro Jahr zusammen.
Auch im letzten Jahr, 2011, belegen das die Zahlen in
eindrucksvoller Weise; die Vorsitzende hat darauf hingewiesen.
Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dank
an die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss richten.
Wir pflegen ein kollegiales Miteinander. Wir haben nicht
immer die gleiche Meinung - das ist normal -, aber
trotzdem geht es kollegial zu und wir versuchen gemeinsam, Lösungen zu finden. Wir danken unseren MitarbeiGünter Baumann
terinnen und Mitarbeitern, die uns zuarbeiten, um die
Berge von Akten zu bewältigen. Ohne sie wäre unsere
Arbeit nicht möglich. Ein herzliches Dankeschön gilt natürlich auch dem Ausschussdienst, der uns mit sehr hohem Sachverstand zuarbeitet, sonst könnten wir unsere
Aufgaben nicht packen.
Meine Damen und Herren, ich möchte behaupten: Die
Arbeit im Ausschuss ist erfolgreich, auch wenn wir an
manchen Stellen etwas zu kritisieren haben. Wir können
auf unsere Arbeit ein Stück stolz sein, auch wenn wir
heute Abend erst um 19 Uhr hier im Plenum sprechen
dürfen.
Wenn wir als Delegationen in verschiedene Länder
der Welt reisen, stellen wir fest, dass Bürgerprobleme
teilweise anders behandelt, teilweise ignoriert werden.
Wir können daher stolz darauf sein, wie das bei uns
läuft.
Die eindrucksvollen Zahlen hat die Vorsitzende genannt. Es gab reichlich 15 000 Petitionen. Zur Ergänzung ist zu erwähnen: Das sind immerhin fast 60 Petitionen pro Tag, die im Bundestag eingehen. Die müssen
erst einmal bearbeitet werden, der Aufwand ist also groß.
500 000 Mitzeichnungen im Internet sind ebenfalls eine
eindrucksvolle Zahl. Wir haben im Ausschuss 728 Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen, das heißt, wir hatten sie in den Büros, in den Arbeitsgruppen zu bearbeiten. Das war ein riesiger Aufwand. Eine Zahl noch, die
die Vorsitzende nicht genannt hat: Immerhin konnten wir
bei rund 6 500 Petitionen, also rund 43 Prozent, den Petenten helfen, in welcher Form auch immer.
Auffällig ist, dass auch 22 Jahre nach der deutschen
Einheit prozentual immer noch die meisten Petitionen,
auf die Einwohner bezogen, aus den neuen Bundesländern kommen. Aus Berlin, Brandenburg, Sachsen und
Thüringen sind das zwischen 200 und fast 500 Petitionen
pro Land. Im Vergleich dazu Bayern: 137. Das heißt
nicht - das sage ich jedes Jahr wieder -, dass die Ossis
am meisten meckern, sondern es gibt im Osten eine
Reihe von Problemen - bedingt durch die Geschichte
und durch die Erwerbsbiografien der Menschen -, und
nicht alles konnte durch den Einigungsvertrag komplett
geregelt und aufgearbeitet werden. Einige Herausforderungen liegen noch immer vor uns: Ich denke an offene
Vermögensfragen, an das Sachenrechtsbereinigungsgesetz, an Rentenfälle und die Zusatzversorgung, wo immer noch die berühmten „Ostfälle“ bei uns aufschlagen.
Wir nutzen unsere besonderen Befugnisse im Ausschuss sehr stark, um höhere Sachkenntnis für die einzelne Petitionsbearbeitung zu erreichen und die Fachministerien einzubeziehen. Die Vorsitzende sprach bereits
von 32 Berichterstattergesprächen zu den Themen Gesundheit, Verkehr, Lärmschutz, Vermögensfragen, Renten, Asyl und Spätaussiedler. Wir haben im Zuge der Gespräche für eine Reihe von Petitionen Lösungen finden
können, nicht immer komplett im Interesse des Petenten,
aber zumindest Teillösungen wurden erzielt.
Ich möchte die Verhandlungen mit dem BMVBS und
der Flugsicherung über das Thema Südabkurvung am
Flughafen Leipzig ansprechen. Dabei ging es um Lärmschutz. Wir haben nach mehreren Gesprächen erreicht,
dass die Trassen verändert wurden. Das Problem wurde
nicht vollkommen gelöst, heute sind aber wesentlich weniger Bürger durch Lärm belästigt als vor den Verhandlungen. Das ist ein Erfolg des Petitionsausschusses.
Ich möchte erwähnen, dass wir im letzten Jahr durch
Härtefallregelungen Spätaussiedler in bereits genehmigte Fälle einbeziehen konnten. Damit konnten wir einer Reihe von Bürgerinnen und Bürgern helfen.
Wir nutzen die Möglichkeit von Ortsterminen. Die
Vorsitzende hat das schon erwähnt. In Prora auf Rügen
haben wir uns nicht um eine Ferieneinrichtung gekümmert, sondern wir haben uns bemüht, ein kulturhistorisches, geschichtsträchtiges Museum zu erhalten. Ich
denke, das war eine ganz gute Aktion. Wir haben einen
Kompromiss ausgehandelt, sodass das Museum erst einmal erhalten bleibt. Jetzt müssen wir schauen, wie es
dort weitergeht.
Ich möchte auch die Lärmbelästigung durch abgestellte Züge in der Nähe von Wünsdorf auf der Eisenbahnstrecke Dresden-Berlin erwähnen. Wir haben dazu
eine Reihe von Stellungnahmen des Ministeriums erhalten, auch von der Deutschen Bahn, die uns nicht befriedigt haben. Man hat das Thema nicht ernst genommen.
Erst nach dem Ortstermin kam Bewegung in die Sache.
Nach einer langen Verhandlungszeit haben wir nun erreicht, dass die Lärmsanierung für 2015 im Plan steht.
Die Bürger sind nun ein ganzes Stück zufriedener.
({0})
Der schönste Erfolg für uns im Petitionsausschuss ist,
wenn Bürger uns schreiben und sich dafür bedanken,
dass etwas erreicht worden ist. Ich freue mich immer
über solche Briefe. Im letzten Jahr haben uns mehrere
Briefe erreicht, in denen die Bürger einfach geschrieben
haben: Danke. Durch Ihre Arbeit habe ich wieder Mut
gefunden. Mein Problem konnte gelöst werden.
Auch der TAB-Bericht steht heute zur Diskussion. Es
ist ein Novum, dass wir heute in der Zeit, in der wir
sonst nur über den Petitionsbericht debattiert haben,
zwei Berichte bereden müssen. Also haben wir nur sehr
wenig Zeit dafür. Daher nur einige kurze Bemerkungen
dazu: In dem Bericht, der am 15. März 2012 veröffentlicht wurde, wird empfohlen, dass öffentliche Petitionen
von der Ausnahme zur Regel erklärt werden. Ich möchte
für meine Fraktion deutlich sagen: Diese Einschätzung
teilen wir nicht. Petitionen können elektronisch eingereicht werden. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie
im Internet veröffentlicht werden. Wir haben einvernehmlich Kriterien festgelegt, an die wir uns halten. Petitionen, die nicht elektronisch eingereicht wurden, müssen nicht im Internet veröffentlicht werden. Das
Instrument der öffentlichen Petitionen, das 2005 als Modellprojekt eingeführt wurde, hat sich als ständige Einrichtung auf der Internetseite des Deutschen Bundestages bewährt. Inzwischen werden monatlich zwischen 30
und 80 Petitionen neu eingestellt. Das ist also ein gutes
System. Die Veröffentlichung hat allgemeines Interesse
gefunden.
In dem Bericht wird ferner bemängelt, dass nur ein
Siebtel aller Petitionen, die öffentlich sind, bei uns zugelassen wird.
Herr Kollege, nicht dass Sie denken: „Ossis meckern
doch“,
({0})
aber ich muss Ihnen sagen: Ihre Redezeit ist zu Ende.
Okay. Ich nehme den Hinweis sehr gerne ernst. - Ich
glaube, über den TAB-Bericht müssen wir noch einmal
sprechen. Die Zeit reicht dafür heute absolut nicht aus.
Ja.
Ein letzter Satz, wenn Sie gestatten. - Wir wollen,
dass alle Petitionen gleich behandelt werden, egal ob sie
öffentlich oder nichtöffentlich sind, ob sie von einem
oder von 50 Leuten eingereicht werden. Für uns ist jeder
Petent gleich. Daran wollen wir festhalten und dieses
System in der Form weiter ausbauen.
Recht vielen Dank.
({0})
Klaus Hagemann hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich zwar in
jeder Sitzungswoche hier im Plenum mit Petitionen, aber
es wird nur über Listen abgestimmt, und zwar ohne Debatte. Einmal im Jahr haben wir die Möglichkeit - das ist
der Höhepunkt -, hier über das Petitionswesen und das
Thema Petitionen öffentlich zu diskutieren. Heute diskutieren wir zu einer Uhrzeit - Frau Vorsitzende, diesbezüglich stimme ich Ihnen vollkommen zu -, wie ich es
noch nie erlebt habe, seitdem ich Mitglied des Petitionsausschusses bin. In der Zeit von Rot-Grün haben wir
festgelegt, dass wir in der Kernzeit miteinander diskutieren. Ich verstehe nicht, warum die Fraktionsführungen
der Koalitionsfraktionen diese Debatte so weit nach hinten geschoben haben. Es gibt doch gar keinen Grund, unsere Arbeit zu verstecken. Auch ihr von den Koalitionsfraktionen müsst eure Arbeit nicht verstecken. Ihr müsst
doch nicht versteckt werden. Ihr macht, genauso wie wir,
gute Petitionsarbeit. Deswegen habe ich überhaupt kein
Verständnis dafür, dass man den Tagesordnungspunkt
zeitlich so weit nach hinten geschoben hat.
({0})
Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, stelle ich
fest, dass es dieses Jahr eine deutliche Verstärkung gibt.
Kompliment an die Herren Staatssekretäre. Aber ich
muss rügen, dass der Staatssekretär, der eben noch hier
gewesen ist und dem die meisten Petitionen zugeleitet
werden, nämlich der aus dem Bereich Arbeit und Soziales, nicht mehr anwesend ist. Dieses Ministerium ist
nicht vertreten. Das will ich hier rügen.
({1})
Ich muss sagen, dass es so aussieht, als wollten die
Fraktionsführungen hier nicht zuhören. Mein stellvertretender Fraktionsvorsitzender ist anwesend; das freut
mich.
({2})
- Entschuldigung. - Damit signalisiert man den Petenten, dass man ihnen nicht zuhören will. Das schließe ich
daraus, dass man die Debatte auf eine derart späte Tageszeit verschoben hat. Ihre Nervosität zeigt, dass ich gar
nicht so falsch liege. Liebe Frau Piltz, das ist wohl der
Grund, und diesen musste ich hier herausstellen.
({3})
- Passen Sie auf, es zeigen immer drei Finger auf einen
selbst zurück, wenn man mit dem Finger auf andere
zeigt.
({4})
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag ansehe, der von
Schwarz-Gelb vor drei Jahren geschlossen worden ist,
dann sehe ich, dass dort steht - ich hatte die Hoffnung,
dass es auch weiterentwickelt wird -: Das Petitionswesen soll weiterentwickelt und verbessert werden. - Was
ist geschehen? Bisher nichts. Dort steht: Das Anhörungsrecht soll verbessert werden. - Was ist geschehen?
Bisher nichts. Vom Kollege Thomae wurde in der Presse
vorgeschlagen - das finde ich ganz toll; wir haben uns
dem auch angeschlossen -, mehr Petitionen hier im Plenum zu behandeln und nicht nur einmal im Jahr über das
Thema zu diskutieren. Was ist geschehen? Ich weiß es
nicht, lieber Kollege Thomae, ich vermute, nicht viel;
sonst würde es hier schon Vorlagen geben. Hier muss
also noch etwas mehr Butter bei die Fische gegeben werden.
Petitionsrecht ist nicht nur der Kummerkasten der Nation. Unsere Frau Vorsitzende hat darauf hingewiesen.
Das ist wichtig und die Hauptsache. Aber Petitionswesen bedeutet auch, die Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen im Deutschen Bundestag teilnehmen
zu lassen. Nach unserem Grundgesetz ist das die einzige
Möglichkeit der Bürger, auf das politische Geschehen
hier im Parlament, aber auch auf die Regierung direkt
Einfluss zu nehmen. Das hat man nicht genügend herausgestellt.
Wir haben im Jahre 2005 - Kollege Baumann hat darauf hingewiesen; er musste damals ein bisschen zum Jagen getragen werden ({5})
unter Rot-Grün eine Reform durchgeführt. Sie war gut.
Wir haben die elektronischen Petitionen eingeführt. Wir
haben die öffentlichen Petitionen eingeführt. Wir haben
die Diskussionsforen eingeführt. Unsere Frau Vorsitzende hat deutlich gemacht, wie stark diese Möglichkeiten wahrgenommen werden und dass wir auf einem guten Weg sind. Der TAB-Bericht, also die wissenschaftliche Untersuchung, die das evaluiert, belegt, dass wir
auf einem guten Weg sind. Von dieser Innovation, die
wir damals im Petitionswesen gestartet haben - lieber
Josef Winkler, liebe Gabriele Lösekrug-Möller, wir haben hier an einem Strang gezogen -, leben wir noch
heute; aber es folgt nichts, es kommt nichts nach. Deswegen bitte ich darum, dass wir uns dieses Thema noch
einmal zusammen ansehen.
Was ist bei den öffentlichen Anhörungen nicht alles
besprochen worden? Wir haben öffentlich über Internetsperren diskutiert. Das Gesetz wurde zwischenzeitlich
aufgehoben. Das Thema ACTA ist zu den Akten gelegt
worden; auch damit haben wir uns im Petitionsausschuss
beschäftigt. Zur Finanztransaktionsteuer liegt immer
noch nichts vor; darüber wird immer noch beraten.
Stichwort „Hebammen“: 200 000 Unterschriften waren
eingegangen. Was ist geschehen? Bisher noch nichts. Es
ist noch nichts Konkretes vorgelegt worden. Ich denke
auch an das Beispiel Vorratsdatenspeicherung, an die
Diskussion, die wir dazu geführt haben. 65 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger hatten diese öffentliche Petition
unterschrieben. Dreimal haben wir von der Opposition
versucht, das Thema hier auf die Tagesordnung zu setzen, aber Sie haben dem nicht zugestimmt, obwohl der
Rechtsanspruch gegeben war; denn die Koalition war
zerstritten, und dies wollten Sie nicht zeigen.
Ähnliches gilt auch im Hinblick auf das Thema „Generation Praktikum“. Wir haben dazu eine Anhörung
durchgeführt. Fünf, sechs Jahre hat es gedauert, bis ein
paar Konsequenzen gezogen worden sind.
({6})
Schließlich hat man eine Broschüre vorgelegt - Frau
Piltz, es ist nun einmal so; die Wahrheit tut manchmal
weh -,
({7})
die man „Leitfaden für die Generation Praktikum“
nennt. 100 000 junge Menschen haben hier unterschrieben, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Die
jungen Menschen sind enttäuscht worden. Das ist der
falsche Weg.
Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, aber
meine Redezeit ist leider zu Ende.
({8})
- Es ist schwierig, die Wahrheit zu ertragen, Herr Kollege, nicht wahr?
Wie sieht es im Hinblick auf die Beschlüsse zu
Berücksichtigungen oder Erwägungen aus, die wir gemeinsam gefasst haben?
({9})
Nur die Hälfte von ihnen ist von der Regierung bisher
erledigt worden.
Herr Kollege?
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Das muss konsequenter aufgearbeitet werden; denn Petitionsrecht ist
auch Teilhabe an der Politik.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Otto Fricke.
Herr Kollege Hagemann, es ist ja immer möglich, ein
Thema auf eine billige parteipolitische Ebene zu schieben. Aber ich glaube, dafür ist das Thema Petitionen zu
schade.
({0})
Sie haben gerade behauptet - das bekommen die Bürger dann ja auch mit -, die Koalitionsfraktionen hätten
diesen Tagesordnungspunkt auf diese Uhrzeit gelegt. Ich
darf Sie darauf hinweisen - ich habe mich extra noch
einmal informiert -, dass sich die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen darauf geeinigt
haben, diese Debatte zu diesem Zeitpunkt durchzuführen. Man sollte eher sagen - dafür plädiert meine
Fraktion -: Lasst uns alle noch einmal auf die Parlamentarischen Geschäftsführer zugehen, um dafür zu sorgen,
dass das beim nächsten Mal nicht wieder passiert! Wir
sollten daraus nicht eine parteipolitische Sache machen,
sondern im Interesse der Petenten und im Interesse des
Petitionsverfahrens handeln.
Da Sie darauf hingewiesen haben, wie viele Abgeordnete hier anwesend sind, muss ich Ihnen entgegnen: Ich
werde den Linken nicht vorwerfen, dass nur drei von ihnen hier sind; denn auch sie machen noch ihre Arbeit.
Ich werde auch Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie, obwohl
Ihre Fraktion etwas größer ist als unsere, nicht in der
Lage sind, mehr Leute als unsere Fraktion hier aufzubieten. Wir sollten wirklich versuchen, Herr Kollege
Hagemann, beim wichtigen Thema Petitionen, bei der
Anknüpfung von Bürgern ans Parlament, nicht auf parteipolitischer Ebene, sondern gemeinschaftlich zu agieren. Das wäre sehr schön.
Herzlichen Dank.
({1})
Herr Hagemann, bitte.
({0})
Wahlkampf brauche ich nicht mehr zu machen, weil
ich nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidiere.
({0})
Insofern, meine Damen und Herren, war dieser Zwischenruf falsch.
Erstens, lieber Kollege Otto Fricke. Es geht nicht
darum, irgendjemanden anzugreifen,
({1})
sondern ich habe, um das deutlich zu machen, die Realitäten geschildert, um auch den Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Fraktion und aus der Unionsfraktion, mit
denen wir gemeinsam an einem Strang ziehen, den
Rücken zu stärken.
Zweitens: zum Termin. Das Aufsetzungsrecht haben
die Koalitionsfraktionen.
({2})
Wir haben versucht, um auch das noch einmal zu sagen,
den Termin in eine andere Sitzungswoche zu verschieben, damit wir dann die Möglichkeit haben, früher zu
tagen. Ich könnte Ihnen Kollegen, die mit dabei waren,
als Zeugen nennen; das geschah sogar auf Anregung des
Kollegen Baumann.
({3})
Aber man hat sich nicht durchgesetzt. Meine Fraktion
wäre dazu bereit gewesen. Dann hätten wir zu früherer
Stunde über dieses Thema diskutieren können.
({4})
Lieber Otto Fricke, im Petitionsausschuss ziehen wir
bei allen Tagungen gemeinsam an einem Strang; das
möchte ich betonen. Aber man muss auch die Schwachstellen deutlich machen. Petitionswesen heißt nämlich
auch: Lieber Petent, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir wollen Ihr bzw. dein Interesse ernst nehmen. Das muss man deutlich machen, und das muss man auch
zeigen.
({5})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Peter Röhlinger für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Wenn Sie gestatten, kehre ich, ohne das Gespräch über
die Terminierung der heutigen Veranstaltung zu kommentieren, zur Sache zurück und knüpfe an das an, was
der Herr Bundestagspräsident anlässlich der Eröffnung
des Internetportals getan hat. Er hat unseren Ausschuss
nämlich als den fleißigsten und öffentlichkeitswirksamsten bezeichnet und für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr viel Lob übriggehabt.
({0})
Das ist für mich der Anknüpfungspunkt: Lieber Herr
Hagemann, ich kenne Sie auch aus den Ausschusssitzungen als einen sehr konstruktiven Kollegen und bin ganz
überrascht, dass Ihnen das heute so schwerfällt.
({1})
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist
im Grunde genommen tatsächlich Ihr Ausschuss. Über
den Petitionsausschuss kommunizieren wir mit den Bürgerinnen und Bürgern. Jeder von ihnen darf und soll sich
mit Petitionen an uns wenden. So viel zum Werbeblock!
Ich sage Ihnen: Wir haben durchaus damit zu tun, dem
nachzukommen. Es ist uns aber jede Anstrengung recht,
um dieser Verpflichtung nachzukommen - frei nach
Schiller, Herr Hagemann: „Der brave Mann denkt an
sich selbst zuletzt“.
({2})
Die Zahlen sind sehr beeindruckend; sie sind vorgetragen worden. Ich will sie hier nicht noch einmal wiederholen. Eines will ich aber schon sagen: Der Trend ist
positiv. Wir haben die Bürger in den vergangenen Jahren
offensichtlich zunehmend erreicht. Es wurden viele neue
Fragen gestellt - unabhängig von Geschlecht und Alter
und insbesondere auch von dem sozialen Umfeld der
Petenten. Wir freuen uns darüber, dass sich so viele
Menschen an den Deutschen Bundestag wenden und uns
Abgeordneten zutrauen, dass wir ihnen wirklich helfen
wollen. Wir werten das als einen großen Vertrauensbeweis.
Das Interesse an der Ausübung des Petitionsrechts ist
in einer Zeit, in der sich viele Bürgerinnen und Bürger
nicht an Wahlen beteiligen, eine Chance für die Demokratie.
Die Ausschussmitglieder bearbeiten die Eingaben mit
großem Engagement. 2011 haben wir in 26 Sitzungen
über 700 Petitionen behandelt. Das ist ein ordentliches
Pensum. Ich werde oft gefragt, wie das funktionieren
kann, wenn 25, 30 oder noch mehr Petitionen auf der
Tagesordnung stehen. Ich will dazu eine kurze Ausführung machen:
Verstehen Sie den Petitionsausschuss vielleicht so
ähnlich wie den Hausarzt bei den Medizinern, der oft
Eingangsarzt ist. Er wird die Therapie mit der Untersuchung des Patienten auch nicht beenden, sondern er ist
häufig genötigt, ihn zu anderen Ärzten zu schicken. So
ist es bei uns auch. Das heißt, wir legen mit unseren verschiedenen Voten fest, was wir zur Weiterbearbeitung
dieser Petition empfehlen. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass eine Gesetzesänderung geplant ist, dann geben
wir diese Petition dem betreffenden Ministerium oder
Ausschuss zur Beachtung und zur Einarbeitung. Wir
sind dann sicher, dass die Petition dort nicht abgeschmettert, sondern in Ruhe und mit hoher Sachkompetenz bearbeitet wird.
Die Bearbeitung der Petition liegt zunächst einmal in
den Händen von über 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - ein Teil der Führungskräfte ist hier anwesend -,
die die Petitionen dann den Berichterstattern zuleiten
und für den weiteren Verfahrensweg zuständig sind. Ich
muss Ihnen sagen: In den vergangenen Jahren ist hier ein
sehr enges und gutes Vertrauensverhältnis entstanden auch dadurch, dass Mitarbeiter des Ausschussdienstes
uns auf den Auslandsreisen begleitet haben. Auf vielerlei Weise konnten wir uns von deren Kompetenz überzeugen.
Wir sind unsererseits natürlich daran interessiert, die
Mitarbeiter, auch unsere eigenen, durch gute Rahmenbedingungen zu motivieren und in die Lage zu versetzen, diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden.
Ich sage hier aber auch: Wir schieben zurzeit einen
Berg von Petitionen vor uns her, es gibt einen regelrechten Stau. Herr Hagemann, das sollten wir auch sagen.
Wir haben noch keinen Terminkalender, nach dem wir
diesen Berg abarbeiten. Fangen wir doch bei uns einmal
an, Herr Hagemann, bevor wir andere bitten, uns ernst
zu nehmen.
({3})
Uns ist es bislang nicht gelungen, zu konzipieren, wie
wir diesen Stau auflösen. Das ist unsere Sache. Da bin
ich der Auffassung: Das sollten wir selber machen.
Wir bemühen uns - das ist erfreulich, auch wenn es
heute so aussieht, als sei das untypisch - bei der Bearbeitung von Petitionen um Übereinstimmung. Das ist ein
gutes Zeichen, ein Ausdruck dessen, dass wir nicht die
Widersprüche suchen, sondern dass wir froh und dankbar darüber sind, wenn wir das eine oder andere fraktionsübergreifend besprechen und in Übereinstimmung
behandeln können.
Petitionen machen uns Abgeordnete auf die Sorgen
und die Probleme aufmerksam, mit denen Bürgerinnen
und Bürger zu tun haben, wo sie Ungerechtigkeit erfahren und wo die Gesetze unzulänglich sind. Wir müssen
allerdings auch sagen: Wir können nicht in jedem Fall
helfen. Wir können also nicht immer versprechen, dass
das Anliegen im nächsten Gesetzgebungsverfahren aufgenommen wird.
Aber auf eines haben wir Einfluss, nämlich darauf,
dass die Fristen eingehalten werden und dass unsere
Antwort, wie immer sie auch ausfällt, vom Petenten verstanden wird. Er soll merken, dass wir uns nicht nur um
den Inhalt bemühen, sondern auch darum, dass er unsere
Antwort versteht. Er soll nicht das Gefühl haben, mit uns
auf Distanz gewesen zu sein, sondern es soll deutlich
werden: Der Bundestagsabgeordnete hat mich verstanden, der Ausschussdienst hat ihm ordentlich zugearbeitet. Er kann mir vielleicht nicht helfen, aber er ermuntert
mich, am Ball zu bleiben und mein Anliegen gegebenenfalls auf anderem Weg weiter zu verfolgen.
({4})
Ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen. Frau Präsidentin, weil ich das sehr respektiere, bedanke ich mich
sehr freundlich für den Hinweis und wünsche der Veranstaltung einen guten Verlauf.
({5})
Dazu trägt jetzt die Kollegin Sabine Stüber für die
Fraktion Die Linke bei.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter des Ausschussdienstes! Ein Parlament ist laut politi-
scher Theorie eine Volksvertretung. Wir sind also hier
versammelt, um die politischen Meinungen der deut-
schen Wahlbevölkerung zu vertreten und zu repräsentie-
ren.
Tun wir das in einer Art und Weise, die von der Wahl-
bevölkerung akzeptiert wird? Wenn ich mir allein die
zahlreichen Beschwerden vieler Menschen anschaue, die
dem Petitionsausschuss jeden Monat zugehen, beschlei-
chen mich gewisse Zweifel. Da wird bei politischen
Entscheidungen mangelnde Bürgerbeteiligung beklagt.
Uns Abgeordneten wird vorgeworfen, abgehoben und
intransparent nur unsere eigenen Ziele zu verfolgen. Die
Liste ließe sich fortsetzen. Wie also können wir das
ändern?
Ein erster Schritt wäre es, die bereits vorhandenen
Mitwirkungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger,
zum Beispiel den Petitionsausschuss hier im Bundestag,
einfach ernster zu nehmen. Die individuellen Anliegen
von Petentinnen und Petenten werden in der Regel von
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss-
dienstes in einem ersten Schritt sorgfältig geprüft.
Manchmal können sie dabei schon durch eine Nachfrage
bei zuständigen Behörden etwas für diejenigen bewegen,
die sich an den Ausschuss gewandt haben. Das ist
tatsächlich Arbeit in deren Sinn.
Wir Abgeordneten bewerten die Anliegen darüber
hinaus politisch. Wenn sich bestimmte Beschwerden
wiederholen oder in den Fachausschüssen ein Problem
noch gar nicht behandelt worden ist, können wir parla-
mentarisch aktiv werden. In diesem Bereich läuft die
Arbeit des Ausschusses meiner Meinung nach gut.
Im Bereich der öffentlichen Petitionen sehe ich aller-
dings erheblichen Verbesserungsbedarf. Alle reden von
einem notwendigen Liquid Feedback an die Politik, also
von fließenden Übergängen zwischen repräsentativer
und direkter Demokratie. Wir erleben, dass Menschen
ihre Anliegen selbst vorbringen wollen. Jedoch werden
sie durch bürokratische Hürden und unverständliche Hi-
erarchien meist daran gehindert. Würden wir den Peti-
tionsausschuss als bereits vorhandenes Instrument rich-
tig nutzen und optimieren, könnten wir a) mehr über die
Zustände in Deutschland erfahren als aus manch hoch-
wissenschaftlicher Studie und b) dazu beitragen, dass
Menschen ihre Anliegen auch besser selbst vortragen
könnten.
Ein Beispiel dafür ist für mich die öffentliche Ausschusssitzung zum Thema Finanztransaktionsteuer im
Februar 2011. Über 66 000 Bürgerinnen und Bürger haben diese Forderung unterschrieben. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es nun schon über anderthalb Jahre
dauert, das Anliegen des Petenten im Ausschuss voranzubringen.
({0})
Denn die Bürgerinnen und Bürger sind ja nicht blind. Sie
sehen: Unser Nachbarland Frankreich beispielsweise hat
den ersten Schritt gemacht und am 1. August eine Finanztransaktionsteuer eingeführt. Deutschland hat sich
dem bisher nicht angeschlossen und trotz Ankündigung
die zu erwartenden Einnahmen noch nicht einmal in den
Haushaltsentwurf 2013 eingestellt. Das Anliegen der Petentinnen und Petenten wird also gerade nicht vorangebracht. Ihrem Anliegen wird nicht einmal teilweise entsprochen.
Wir müssen uns also nicht wundern, wenn sich zunehmend mehr Menschen von dieser Art und Weise des
Politikmachens nicht mehr vertreten fühlen. Die Regierungsmehrheit erweist damit sowohl dem Anliegen des
Petitionsausschusses als auch der Demokratie insgesamt
einen Bärendienst.
({1})
Ich fordere Sie auf, diese politische Praxis zu ändern.
Gelegenheit dazu haben Sie ausreichend. Laut Koalitionsvertrag soll im kommenden Jahr ein Petitionsgesetz
zur Behandlung von Massenpetitionen dem Plenum und
den Fachausschüssen vorgelegt werden. Ich bin gespannt
darauf.
Die Linke wird im Oktober einen Antrag im Plenum
einbringen. Darin werden unsere Positionen zusammengefasst. Die Menschen werden sich in diesem Lande
besser mit ihren Anliegen vertreten fühlen.
Abschließend bedanke ich mich sehr herzlich bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für die gute Zusammenarbeit und freue mich auf ein
weiteres Jahr im Petitionsausschuss.
Danke schön.
({2})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Demokratie ist kein Zuschauersport. Der Petitionsausschuss ermöglicht allen Bürgerinnen und Bürgern, sich
an der Demokratie zu beteiligen. Deswegen ist es eigentlich unerhört, dass wir heute um diese Uhrzeit diskutieren.
({0})
Der Petitionsausschuss sollte nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch in den Sitzungswochen die Wertschätzung erhalten, die er verdient.
({1})
Nach meinem Dafürhalten ist der Petitionsausschuss
einer der spannendsten Ausschüsse. Das liegt auch an
dem im Bundestag nicht immer üblichen kollegialen und
konstruktiven Umgang der Kolleginnen und Kollegen
untereinander,
({2})
aber insbesondere natürlich an dem breiten Spektrum
von Themen, von der Atombombe bis zur Zahnplombe,
und den zahlreichen Vorschlägen der Petentinnen und
Petenten, die im Ausschuss beraten werden. Nicht nur
das: Es geht auch immer mehr um Petitionen, die die
politische Diskussion in der Gesellschaft mit bestimmen.
Vier Beispiele: Erstens. Die Petition „Steuer gegen
Armut“ von Pastor Jörg Alt hat die Kampagne in
Deutschland für die Finanztransaktionsteuer verstärkt
und einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Finanztransaktionsteuer ganz weit oben auf der politischen
Agenda stand und jetzt vielleicht tatsächlich kommt. Ich
freue mich auf die hoffentlich in absehbarer Zeit stattfindende Sitzung, auf der wir beschließen können: Abschluss, weil dem Anliegen entsprochen werden konnte.
({3})
Zweitens. Die Petition von Susanne Wiest zum
Grundeinkommen mit fast 60 000 Unterstützungen, die
die Idee des Grundeinkommens einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht und damit einen wichtigen Beitrag
zu einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion geleistet hat.
Drittens. Besonders erfolgreich war die Petition von
Martina Klenk vom Deutschen Hebammenverband mit
sage und schreibe rund 190 000 Unterschriften. Der Protest hat sich ausgezahlt: Freiberufliche Hebammen bekommen jetzt von den Krankenkassen tatsächlich einen
Ausgleich für die gestiegenen Haftpflichtversicherungsbeiträge. So erfreulich die Teileinigung der Hebammenverbände mit den Krankenkassen ist, so ist dies doch nur
ein Teilerfolg. Denn noch immer sind eine viel zu geringe Vergütung, der drohende Verlust der flächendeckenden Hebammenversorgung sowie eine zunehmende
Zahl an Kaiserschnitten zu beklagen. Aber ohne die Petition hätte es diesen wichtigen Teilerfolg nicht gegeben.
({4})
Viertens. Ganz aktuell ist die Petition von Tim
Wessels als Reaktion auf die Pläne von Ursula von der
Leyen zur Rentenversicherungspflicht von Selbstständigen, die von 80 000 Menschen unterstützt wurde und in
der nächsten Sitzungswoche, am 15. Oktober 2012, in
öffentlicher Sitzung behandelt wird, die wie alle öffentlichen Petitionsausschusssitzungen live im Internet auf
www.bundestag.de übertragen wird.
Vielen Dank an Susanne Wiest, Tim Wessels, Jörg
Alt, Martina Klenk und den vielen, vielen Tausenden Petentinnen und Petenten, die zeigen, wie lebendig die parlamentarische Demokratie dank des Petitionsausschusses sein kann. Vielen Dank!
({5})
Ganz besonderer Dank natürlich auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes und
- nicht zu vergessen - die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und in den Abgeordnetenbüros!
({6})
Ihrem Einsatz und ihrer Sachkenntnis ist es zu verdanken, dass die Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht
kommen.
Wir sind stolz darauf, dass das 2005 von Rot-Grün
gegen heftige Vorbehalte von CDU/CSU und FDP eingeführte Instrument der öffentlichen elektronischen Petition heute zu einem unverzichtbaren und selbstverständlichen Bestandteil der Demokratie geworden ist.
({7})
Bei aller Freude über das Erreichte bleibt weiterhin
viel zu verbessern. Wir streben deshalb einen grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten an. So
sind beispielsweise die Fristen zur Mitzeichnung zu kurz
und ist das Quorum zu hoch. Darüber hinaus sollte die
öffentliche Petition von der Ausnahme zur Regel gemacht werden, wie es auch der TAB-Bericht vorschlägt.
Wir haben zwar eben gerade gehört, dass die CDU noch
dagegen ist, aber das war bei den elektronischen Petitionen auch einmal der Fall. Ich denke, dass wir auch da
durch Diskussionen wieder vorankommen können.
Wichtig ist uns, auch die Belange der Bürgerinnen
und Bürger zu berücksichtigen, die sich nicht im Internet
bewegen wollen oder können. Wir sprechen uns dafür
aus, in den Kommunen, in den Bürgerämtern und in den
Bürgerbüros Anlaufstellen einzurichten, die den Menschen behilflich sind, ihre Eingaben einzureichen und zu
formulieren. Dort sollte es auch möglich sein, mündlich
vorgetragene Petitionen verschriftlichen zu lassen. Wir
hatten eben die Diskussion über Barrierefreiheit in der
Kultur. Wir sollten auch mehr Barrierefreiheit im Petitionsrecht schaffen.
({8})
Auch bei den Onlinepetitionen sehen wir die technischen und grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitionsrechts noch lange nicht ausgeschöpft. Wir wollen das Instrument der öffentlichen Petition zu einer offenen
Petition für die Bürgerinnen und Bürger weiterentwickeln. Petitionen sollten nicht nur, wie bisher, gemeinsam im Onlineangebot des Petitionsausschusses diskutiert, sondern auch gemeinsam erarbeitet und eingereicht
werden können. Derart gemeinsam von Bürgerinnen und
Bürgern erarbeitete und eingereichte Bitten zur Gesetzgebung bis hin zu Gesetzentwürfen sollten dann auch in
den Fachausschüssen und im Plenum des Bundestages
beraten werden können.
Mit dieser Vision schließe ich meine Rede und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat Stefanie Vogelsang für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Strengmann-Kuhn, eigentlich wollte ich über etwas ganz
anderes reden, aber als ich Ihren Beitrag gehört habe,
habe ich mir überlegt: Darauf musst du eingehen. Natürlich ist es richtig und sinnvoll, sich modernen Möglichkeiten zu stellen. Natürlich muss man jeden Einzelfall
überprüfen. Und natürlich muss man gerade im Zeitalter
von Internet und Computern und dem breiten Zugang
der Bevölkerung dazu auch darüber nachdenken, ob man
diesbezüglich nicht etwas verändert.
Aber ich habe das Gefühl, dass über die Diskussion
dieser Themen der einzelne kleine Fall des einzelnen
Bürgers, der einzelne kleine Bürger, der ganz allein von
etwas betroffen ist, ins Hintertreffen gerät.
({0})
Wir betrachten mit großem Interesse öffentliche Petitionen, die von 50 000, 70 000, 80 000, 120 000 Menschen eingereicht werden. Angesichts solcher Zahlen besteht die Gefahr, dass die Petition, die ein kleiner, aber
genauso wichtiger, großer Bürger unterschrieben hat,
hinten rüberfällt.
({1})
Ich glaube, dass das nicht richtig wäre. Herr Hagemann,
über Ihren Beitrag habe ich mich sehr geärgert,
({2})
weil er auf wesentliche Themen gar nicht zutrifft.
Ein Meinungsforschungsinstitut hat in einer repräsentativen Umfrage 1 000 Menschen in der Bundesrepublik
gefragt: Was ist das Wichtigste für euch, um im Wohlstand zu leben? - Darauf haben 80 Prozent der Befragten
geantwortet: Glücklich zu sein. - Die Meinungsforscher
waren ganz irritiert, weil sie sich gefragt haben: Was ist
denn „glücklich“? Für jeden Einzelnen doch etwas anderes. Daraufhin gab es eine weitere Umfrage, in der die
Menschen gefragt wurden: Was versteht ihr unter
„glücklich sein“? - Daraufhin haben die Befragten geantwortet: gesund zu sein. - Wir nehmen im Petitionsausschuss wahr, dass es ganz viele Petitionen gibt, die
den Gesundheitsbereich betreffen.
In dieser Legislaturperiode haben wir große Kampfansagen erlebt, unterstützt von Verbänden, die meinten,
ihrer politischen Position mit einer Petition mehr Nachdruck verleihen zu können. Es gab aber auch viele kleine
Einzelfälle, um die wir uns intensiv gekümmert haben.
Ich glaube, in den letzten Jahren sind in keinem anderen
Bereich so viele Petitionen berücksichtigt worden wie
im Gesundheitsbereich. Es gab viele Petitionen, deren
Inhalte das Ministerium und wir in der Gesetzgebung
nachvollzogen haben. So war es nicht die Petition einer
Krankenkasse, aufgrund der im Bereich der Hebammen
gesetzlich nachgebessert wurde, sondern die Petition
von Frau Klenk, aufgrund der das Ministerium im Rahmen des Versorgungsstrukturgesetzes Änderungen vorgenommen hat. Auf dieser Grundlage haben wir dann
beraten.
Ich möchte noch auf eine Petition eingehen, die mittlerweile von 800 Menschen unterstützt wird. Diese Petition wurde von einem einzelnen Ehepaar eingereicht und
befasst sich mit einem zuerst sehr tragisch anmutenden
Fall. Die Ehefrau hatte ein Kind tot zur Welt gebracht,
das weniger als 500 Gramm wog. Die Eltern haben im
Krankenhaus zur Kenntnis nehmen müssen, dass man
ihr Kind für Klinikabfall hält, weil es weniger als
500 Gramm wiegt. Die Eltern haben des Weiteren im
Standesamt zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie den
Namen ihres Kindes nicht in das Personenstandsregister
eintragen lassen können, weil es sich um eine Sache, um
Müll und nicht um menschliches Leben handelt. Um die
Petition, die diese Eltern eingereicht haben, habe ich
mich von Anfang an intensiv gekümmert. Wir haben sie
dem Ausschussdienst gegeben. Die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter haben tolle Arbeit geleistet und die Petition an das Ministerium weitergeleitet. Die erste Stellungnahme des Innenministeriums lautete: Das Gesundheitsministerium sagt, wir können das nicht ändern, weil
die WHO weltweit eine Grenze von 500 Gramm vorschreibt; diese können wir nicht unterschreiten. - Das
Familienministerium sagt: Wir können die Grenzen
nicht ändern. - Darauf erklärt das Innenministerium:
Wenn die von der WHO vorgegebene Grenze gilt, kann
der Name des Kindes nicht in das Personenstandsregister
eingetragen werden. - Wir, Herr Schwartze und ich, haben uns erneut an das Ministerium gewandt, die Petition
zurückgeschickt und gesagt: Nein, diese Antwort akzeptieren wir nicht; das wollen wir uns nicht gefallen lassen. So ging es vier-, fünf- oder sogar sechsmal hin und her.
Dann hat die Bundesregierung gesehen, dass ein parlamentarischer, von engagierten Abgeordneten erzeugter
Druck entstanden ist. Die Familienministerin hat nun einen Entwurf zur Änderung des Personenstandsrechts
vorgelegt, über den wir demnächst debattieren werden.
Dieses Personenstandsrechts-Änderungsgesetz stellt einen ersten großen Schritt dar. Ich glaube, dass wir in den
Beratungen über diesen Gesetzentwurf an der einen oder
anderen Stelle noch eine kleine Verbesserung im Sinne
der Betroffenen erzielen werden. Im Petitionsausschuss
gab es jedenfalls ein fraktionsübergreifendes Votum für
die Forderung an die Bundesregierung, diese Verbesserung in Erwägung zu ziehen. Die Bundesregierung hat
reagiert. Wir im Parlament vollziehen es nach.
Ich komme zu den neuen Medien, insbesondere zu
Facebook, zurück. Es handelt sich hier nicht um 80 000,
sondern um rund 800 Menschen. Aber wie glücklich
sind diese Menschen, dass Politik - das war zu der Zeit,
als wir über PID und den Beginn des werdenden Lebens
diskutiert haben - ihre Interessen und Begehren ernst
nimmt.
Ich komme zum Schluss. Ich denke, dass das eine
Sternstunde für den Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages war. Wir brauchen uns mit unserer Arbeit
gar nicht zu verstecken.
({3})
Frau Kollegin.
Man muss die Regierung manchmal etwas pushen.
Das können wir gemeinsam tun. Da haben Sie in Ihrem
Bereich zu arbeiten, wir machen es in unserem.
Frau Kollegin.
Dann wird das schon gut.
Danke schön.
({0})
Michael Groß hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sozusagen Novize im Ausschuss. Ich will damit sagen: Ich bin nicht
einem Orden beigetreten, sondern seit eineinhalb Jahren
ein Neuling im Ausschuss. Für mich ist es wichtig, in
den Sitzungswochen, nachdem man im Wahlkreis alle
Probleme, die die Menschen in diesem Land bewegen,
einatmen konnte, auch hier zu erleben, was die Menschen in Deutschland bewegt und welche Probleme sie
haben. Ich kann nur sagen: Alle im Ausschuss interessieren die Einzelfälle genauso wie öffentliche Petitionen,
die von vielen Hundert Menschen unterschrieben sind.
Es geht um die Lösung von Problemen. Ich glaube, das
liegt uns allen am Herzen. Dafür sollten wir weiter konstruktiv zusammenarbeiten.
({0})
Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
seitens der SPD-Fraktion danken. Ich habe dazu den
Auftrag bekommen, aber ich hätte es auch von selber gemacht. Ich habe im Jahresbericht gelesen, dass Sie auch
Eingaben bearbeiten, die nicht den Anforderungen entsprechen. Ich finde das sehr wichtig; denn wir haben gehört, dass manche Menschen der Schriftform nicht
mächtig sind und manche Leute die Regeln nicht kennen. Sie setzen sich trotzdem hin und bearbeiten diese
Eingaben. Sie kümmern sich darum, sind so etwas wie
Kümmerer bzw. ein Kummerkasten. Ich finde, das ist
eine wichtige Arbeit. Ich hoffe, dass das auch so bleibt
und Sie weiterhin Zeit dafür haben. Letztendlich ist es
wichtig, dass die Menschen eine Rückmeldung bekommen. Herzlichen Dank auch dafür.
({1})
Wichtig ist natürlich - das wurde vorhin angesprochen -, dass hier demokratische Grundrechte wahrgenommen werden. Die Menschen erleben, dass sie Einfluss auf das, was im Parlament geschieht, haben,
Einfluss auf die Gesetze und darauf, was ihr Leben beeinflusst, auch negativ beeinflusst. Ich denke, es ist auch
wichtig, dass die Leute erleben, ob sie Erfolg oder keinen Erfolg haben. Ich habe gerade die Information bekommen, dass in der 17. Wahlperiode von 12 Berücksichtigungen, für die einstimmig im Ausschuss votiert
wurde, erst 6 umgesetzt worden sind. Von 27 Erwägungen wurden 7 umgesetzt, 11 sind offen und 9 wurden abgelehnt. Da stellt sich für mich schon die Frage, warum
es so viele Ablehnungen oder nicht bearbeitete Fälle
gibt, wenn ein einstimmiges Votum vom Ausschuss vorliegt. Ich bin der Überzeugung, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Regierung einen positiven Einfluss auf
ihre Ministerien nehmen können.
({2})
Petitionen sind die älteste Form der Bürgerbeteiligung. Ich bin ganz stolz, dass aus NRW die meisten Petitionen kommen; denn das ist ein Zeichen dafür, dass die
Menschen verstanden haben, worum es geht.
({3})
Ich möchte auf eine Situation hinweisen, die mir Sorgen macht und die zeigt, woran wir arbeiten müssen. Gerade im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist es wichtig,
dass wir die zunehmenden Beschwerden der Bürger
ernst nehmen und neben den strukturierten Verfahren
auch die Petition ernst nehmen. Bei Ortsterminen beschäftigen wir uns insbesondere mit Schienenlärm und
Straßenlärm. Vor Ort kann man sehr gut erleben, unter
welchen Umständen Menschen leben müssen und warum sie sich berechtigterweise gegen Lärm wenden und
dafür den Petitionsausschuss anrufen.
Es ist wichtig, öffentlich auf das Petitionsrecht hinzuweisen. Mich wundert schon, dass der Bundesminister
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seinem neuesten Papier zum Thema Bürgerbeteiligung die Petition
noch nicht einmal genannt hat.
({4})
Es ist nicht erwähnt worden, dass die Petition ein offizieller Weg ist, den Bürgerinnen und Bürger nutzen können, um ihre Einwendungen und Bedenken zu äußern.
Ich kann nur sagen: Mir hat die Arbeit sehr viel gebracht. Ich habe sehr viel gelernt. Ich habe sehr viel über
Dinge gelesen, die mir vorher in dieser Tiefe nicht bekannt waren. Ich glaube, dass in Deutschland viele
Schätze vorhanden sind, die zu Recht bei uns landen und
mit denen auf die Gesetzgebung Einfluss genommen
werden sollte. Ich wünsche uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit.
In diesem Sinne: Glück auf!
({5})
Der Kollege Paul Lehrieder hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Kollege Hagemann, auch ich bedauere, dass wir nicht eher über unser sehr wichtiges
Thema debattieren können. Wenn man sich die heutige
Tagesordnung anschaut, so fällt auf, dass wir zu prominenterer Zeit, etwa von 12.30 bis 13.45 Uhr, über die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Koalition
aus CDU/CSU und FDP diskutieren durften, und zwar
auf Antrag der SPD. Das heißt, der Zusatzpunkt 5, Ak23470
tuelle Stunde, hat unsere Debatte nach hinten geschoben.
Dass man das dazusagt, gehört zur Ehrlichkeit.
({0})
- Doch, wir sind uns schon einig. Aber die SPD wollte
halt darüber debattieren.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich kann Sie beruhigen: Im Petitionsausschuss geht es nicht ganz so kontrovers zu, wie der Kollege Hagemann hier hat vermitteln wollen.
({1})
Lieber Klaus Hagemann, du hast heute die Ritterrüstung angezogen. Spätestens nächsten Mittwoch ziehst du
sie wieder aus. Dann reden wir wieder ganz normal über
Petitionen, um den Leuten zu helfen.
Es ist tatsächlich so: Wenn zu Beginn der Legislaturperiode Abgeordnete für den Petitionsausschuss gesucht
werden, so üben sich viele der Kolleginnen und Kollegen - ich weiß nicht, wie es in der FDP oder der SPD
ausschaut - in Schweigen. Eingezogene Köpfe, Blicke
nach unten gerichtet. Während meiner nunmehr siebenjährigen Arbeit im Petitionsausschuss habe ich schon einiges erlebt. Dass sich aber Kolleginnen und Kollegen
um einen Platz im Petitionsausschuss gestritten haben,
gehört nicht dazu.
Die Arbeit im Petitionsausschuss ist möglicherweise
nicht so prestigeträchtig. Sie mag auch weniger im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen als die in anderen Ausschüssen; wir debattieren nur einmal im Jahr
im Plenum über die Arbeit des Petitionsausschusses.
Dennoch ist sie eine der wichtigsten. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 17 unseres Grundgesetzes - „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder
in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die
Volksvertretung zu wenden“ - wird die besondere Bedeutung, die diesen Ausschuss begleitet, zum Ausdruck
gebracht.
Nachdem bereits von mehreren Vorrednern das Prinzip der grundsätzlichen Öffentlichkeit von Petitionsbehandlungen hier vorgetragen worden ist, möchte ich
schon darauf hinweisen: Es gibt Massenpetitionen, es
gibt Petitionen, die von allgemeinem öffentlichen Interesse sind - sie werden in aller Regel auch in den Fachausschüssen diskutiert und durch Anträge begleitet -,
und es gibt - darauf hat die Kollegin Vogelsang völlig zu
Recht hingewiesen - etwa die Rentnerin, die einen Badewannenlift will, aber nicht möchte, dass ihr Anliegen
in der Öffentlichkeit bekannt wird. Man muss also mit
Augenmaß an die ganze Angelegenheit herangehen.
Was wir verdient haben, ist, dass uns die Öffentlichkeit im Fokus behält, dass sie genau aufpasst, was wir
machen. Aber auch wir müssen aufpassen. Wir wollen
nämlich auch Anwälte der kleinen Leute sein. Das gilt
für alle Mitglieder des Petitionsausschusses. Ich habe
dieses Bemühen, diese Anstrengung bei vielen Kollegen
gespürt. Es tut gut - die beiden Schriftführer hinter mir
können es bestätigen; sie sind ebenfalls im Petitionsausschuss -, wenn man wie in den letzten Sitzungen, etwa
der am vergangenen Mittwoch, parteiübergreifend Einstimmigkeit zustande bringt, liebe Frau Kollegin
Steinke. Da freut sich die Vorsitzende. Wir freuen uns;
denn wir können sagen: Wir haben den Menschen gemeinsam helfen können. - Jetzt hätte ich einen Applaus
erwartet.
({2})
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist
einer der wenigen Ausschüsse, dessen Einrichtung das
Grundgesetz in Art. 45 c zwingend vorschreibt. Die Arbeit im Petitionsausschuss bietet eine Plattform für gelebte Demokratie; die Vorredner haben zum großen Teil
bereits darauf hingewiesen. Hier haben Bürgerinnen und
Bürger die Möglichkeit, aktiv am politischen Geschehen
teilzunehmen und es maßgeblich mit zu beeinflussen,
und zwar durch allgemeine Petitionen, aber auch durch
persönliche Einflussnahme. Von der so oft beschworenen Politikverdrossenheit ist hierbei zu meiner großen
Freude nichts zu verspüren. Im Gegenteil: 2011 wurden
insgesamt 15 191 Eingaben und Petitionen beim Petitionsausschuss eingereicht. Das bedeutet durchschnittlich stolze 60 Zuschriften pro Werktag. Dies erklärt womöglich auch die besagte Zurückhaltung mancher
Kolleginnen und Kollegen bei der Mitarbeit im Petitionsausschuss zu Beginn der Legislaturperiode.
Die Arbeit im Petitionsausschuss eröffnet wie kaum
eine andere die Möglichkeit, ein direktes, ungefiltertes
Feedback über unsere Arbeit im Bundestag zu erhalten
und nah am und mit den Menschen zu arbeiten. Kollege
Groß hat darauf hingewiesen. Ich sehe es genauso wie
Sie.
Wo muss gesetzlich nachgebessert werden? Wo sind
die Bürger mit Entscheidungen der Obergerichte, aber
auch mit gesetzlichen Entscheidungen und Verwaltungsentscheidungen nicht einverstanden? Wo drückt den
Bürger der Schuh?
In keinem Ausschuss ist es leichter als im Petitionsausschuss, die Befindlichkeiten, die Sorgen, die Nöte
unserer Bürger kennenzulernen. Das ist anstrengend,
aber es ist in aller Regel auch sehr befriedigend, wenn
man merkt: Jawohl, man kann etwas erreichen. - Nichts
ist für einen Abgeordneten schöner, als von einem Bürger bzw. von einer Bürgerin nach einer eingereichten Petition, im Rahmen derer man helfen konnte, ein Dankesschreiben zu erhalten, in dem steht: Prima, ihr habt das
gut gemacht.
({3})
Meine Damen und Herren, zu guter Letzt möchte ich
allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes - ähnlich wie die Kollegen vor mir - noch einmal sehr herzlich danken. Sie haben ein immenses Pensum an Arbeit zu bewältigen, und wir diskutieren schon,
ob wir mit einer Stunde für die Ausschusssitzung hinkommen. Wir werden vielleicht irgendwann dahin kommen, dass wir gegen Mitternacht anfangen, in unserem
Ausschuss zu tagen. Denn das Interesse der Bürger, uns
hier kritisch zu begleiten, wächst stetig.
({4})
Ob wir alle Petitionen hier im Plenum diskutieren
können
({5})
und ob, wenn ja, lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn,
wir das zu prominenter Zeit tun können, wage ich zu bezweifeln. Wenn wir irgendwann einmal nach Mitternacht
hier zusammensitzen, geht das Lamentieren wieder los,
dass wir eine prominentere Zeit wollen. Also, es ist
schwierig. Wir haben kontrovers, lieber Herr Kollege
Thomae, darüber diskutiert, ob es Sinn macht. Wir gucken
da noch einmal hin, aber ich habe keine große Hoffnung,
dass wir es bis zum Ende der Legislaturperiode schaffen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Drucksache 17/8319 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in
der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Somit rufe ich jetzt auf den Tagesordnungspunkt 12:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu dem von
den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf
Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und
zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei
sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen
- Drucksachen 17/3646, 17/10697 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder ({1})
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren, und als Erste hat das Wort die Kollegin Sonja
Steffen für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschen - vor allem junge Menschen und insbesondere Kinder - haben oftmals die Gabe, erlittene Gewalt
in eine innere Schublade zu stecken. Dort ruht das Erlebte oft jahrelang, bis die Bilder und das ganze Leid
manchmal aufgrund eines bestimmten Ereignisses wieder an die Oberfläche und ins Bewusstsein gelangen,
und bei Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlitten
haben, ist dies oft der Zeitpunkt, an dem sie selbst eine
Familie gründen.
Das erlittene Trauma ist nie ganz vergessen. Letztendlich muss das Missbrauchsopfer selbst entscheiden, ob
es die Konfrontation mit dem Täter sucht. Denn wer sich
der Konfrontation mit dem Täter stellen möchte, der
braucht eine sehr starke und engmaschige Unterstützung.
Meine Damen und Herren, im Jahr 2010 wurde nach
dem Bekanntwerden einer unglaublich großen Missbrauchswelle in Heimen und Internaten ein Runder
Tisch zum sexuellen Kindesmissbrauch eingerichtet.
Hier haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politik
hervorragende Arbeit geleistet. Innerhalb kürzester
Zeit - und dennoch mit besonderer Sensibilität - hat der
Runde Tisch Empfehlungen erarbeitet, um den Opfern
eine bessere Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Aber jetzt frage ich Sie: Wozu richtet man einen
Runden Tisch ein, der nach getaner Arbeit in seinem
Schlussbericht sinnvolle und fundierte Empfehlungen
abgibt, wenn diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden?
({0})
Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2010 einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich mit dem Thema Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften beschäftigt. Der Opferschutz verlangt eine
solche Verlängerung. Warum? Derzeit liegt die Frist der
strafrechtlichen Verjährung bei sexuellem Missbrauch
von Kindern bei 10 Jahren. Zwar beginnt die Frist erst
mit Vollendung des 18. Lebensjahres der Opfers zu laufen, jedoch bedeutet diese Frist Folgendes: Spätestens
wenn das Opfer Ende 20 ist, können die Täter strafrechtlich nicht mehr belangt werden.
Bei Missbrauch von jugendlichen Schutzbefohlenen
- von Internatsschülern beispielsweise - verjährt die Tat
sogar schon nach fünf Jahren, also spätestens dann,
wenn das Opfer 23 Jahre alt ist.
Es ist doch zutiefst ungerecht, wenn die Täter davon
profitieren sollen, dass ihre Opfer sie aus Scham und oft
auch wegen massiver Drohungen seitens des Täters zunächst nicht anzeigen.
In Ihrem Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, wollen Sie nur die
zivilrechtlichen Verjährungsfristen auf 30 Jahre erhöhen.
Aber das ist doch zu kurz gedacht.
({1})
Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche scheitert
oft genug an dem Mangel an finanziellen Mitteln beim
Täter. Aber was noch viel schlimmer ist: Dem Opfer ist
es doch nahezu unmöglich, ganz auf sich allein gestellt
und höchstens von seinem Anwalt begleitet, den lange
Zeit zurückliegenden Missbrauch zivilrechtlich zu beweisen.
Hier kommt der Runde Tisch übrigens zu folgendem
Ergebnis - ich zitiere -:
Aufgrund der Verlängerung der zivilrechtlichen
Verjährung
- die vom Runden Tisch vorgeschlagen wurde können die Betroffenen in Zukunft den Ausgang eines Strafverfahrens gegen den Täter abwarten, bevor sie vor dem Zivilgericht klagen.
Wem nützt denn dann die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist, wenn die strafrechtliche Verfolgung aufgrund der kurzen Verjährungsfrist gar nicht
mehr möglich ist?
({2})
Am 26. Oktober 2011, also vor fast einem Jahr, hat
eine Anhörung von Experten stattgefunden. Sie alle, zumindest all diejenigen, die bei der Anhörung dabei waren, wissen: Die Sachverständigen haben sich mehrheitlich, nämlich sechs von acht, für eine Modifizierung der
strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen.
Es ist nach der guten Arbeit des Runden Tisches überhaupt nicht zu verstehen, dass sich unser Gesetzentwurf
seit 2010 im Gesetzgebungsverfahren befindet und bis
heute keine Umsetzung erfolgt ist.
Ihr Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, sollte ursprünglich bereits Anfang
2012 in Kraft treten. Doch bis heute ist nichts passiert,
und es bedurfte der Heranziehung einer Geschäftsordnungsvorschrift, damit die heutige Debatte überhaupt
stattfinden kann, leider zu einer sehr unpopulären Zeit.
Im Namen der Opfer fordere ich Sie hiermit auf, sich
des Themas endlich anzunehmen. Die zivilrechtlichen
und die strafrechtlichen Verjährungsfristen für Kindesmisshandlungen müssen verlängert werden. Wir sind es
den Opfern schuldig.
({3})
Ansgar Heveling hat für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Geschäftsordnung sind die Ausschüsse zur baldigen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben verpflichtet, und es gehört damit zum selbstverständlichen
Recht des Parlaments, dann, wenn Aufgaben nicht kurzfristig erledigt werden können, über die Gründe zu debattieren. So beraten wir heute darüber, warum der von
der SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen noch nicht abschließend beraten worden ist.
Zunächst einmal ist es richtig, dass Handlungsbedarf
hinsichtlich der strafrechtlichen Vorschriften zum sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen
Schutzbefohlenen besteht. Das Ausmaß des sexuellen
Missbrauchs in den letzten Jahrzehnten in konfessionellen und nichtkonfessionellen pädagogischen Einrichtungen hat uns sicherlich alle aufgeschreckt. Der zu den
Vorgängen eingerichtete Runde Tisch hat hervorragende
Arbeit geleistet und viele Handlungsfelder, insbesondere
im Hinblick auf Opferschutz- und Verfahrensregeln,
identifiziert und aufgezeigt. Neben nichtlegislativen
Maßnahmen braucht es natürlich auch gesetzgeberische
Entscheidungen zur Umsetzung von vielen Vorschlägen
des Runden Tisches.
Im SPD-Gesetzentwurf wird im Wesentlichen ein Aspekt aufgegriffen, die Frage der strafrechtlichen Verjährung; dazu wird eine einzelne Regelung vorgeschlagen.
Auch wenn anzuerkennen ist, dass Handlungsdruck in
zeitlicher Hinsicht besteht, so ist dieses Vorgehen dennoch insgesamt nicht zielführend, weil die Angelegenheit doch komplexer ist.
Die Bundesjustizministerin hat deshalb richtigerweise
einen anderen Weg gewählt und mit dem Entwurf eines
Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen
Missbrauchs ein erstes Paket verschiedener Maßnahmen
vorgelegt, die sowohl zivilrechtliche wie strafrechtliche
Aspekte betreffen und auch verfahrensrechtliche Regelungen vorsehen. Diesen Gesetzentwurf beraten wir momentan intensiv in der Koalition.
({0})
Das ist der Grund, weshalb wir den SPD-Gesetzentwurf
noch nicht abschließend beraten haben.
({1})
Dabei erkennen wir, so glaube ich, in allen Fraktionen
an, dass wir über den strafrechtlichen und strafgesetzlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch ebenso reden
müssen wie über die zivilrechtlichen, insbesondere die
schadensersatzrechtlichen Fragen. Bei aller Handlungsnotwendigkeit sollten wir aber auch eines bedenken: Das
Strafgesetzbuch ist ein vielfältig ineinandergreifendes
Regelwerk von aufeinander abgestimmten Normen, dessen gesellschaftliche Akzeptanz nicht zuletzt wesentlich
darauf beruht, dass jedermann seine Systematik durchschauen kann. Alle müssen auf das System vertrauen
können. Ständige Durchbrechungen systematischer Linien sind nicht hilfreich. Das sollten wir bei der Diskussion auch bedenken. Deswegen ist der Vorschlag der
SPD, eine Sonderverjährungsvorschrift - 20 Jahre - vorzusehen, sicherlich nicht der richtige Weg. Ich will nicht
verhehlen, dass wir als CDU/CSU-Fraktion das Thema
Verjährungsfrist mit großer Sympathie sehen und da
auch unsere Überlegungen ansetzen. Wir müssen aber
noch beraten, wie wir hier weiterkommen.
({2})
Die Frage ist in diesem Zusammenhang, ob das der
einzige systematische Anknüpfungspunkt ist. Es gäbe sicherlich auch noch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, beim Strafrahmen anzusetzen, und die Frage zu klären, ob wir für die einzelnen Straftatvorschriften eine
Erhöhung des Strafrahmens vorsehen. Das könnte dazu
führen, dass einige Straftaten vom Vergehen zum Verbrechen hochgestuft werden. Das führt aber ohne Frage
auch zu weiteren systematischen Überlegungen; das
sollten wir genau bedenken.
Ein dritter Ansatzpunkt ist, zu überlegen, ob man bei
der Hemmung der Verjährung ansetzt.
({3})
Das ist bereits in den 90er-Jahren diskutiert worden. Seinerzeit hat es eine erste Regelung des Komplexes gegeben. Damals ist festgelegt worden, dass die Verjährung
bis zum 21. Lebensjahr - statt bis zum 18. Lebensjahr gehemmt ist. Auch das ist ein Ansatzpunkt, nämlich darüber nachzudenken, ob man an dieser Stelle die Hemmung der Verjährung nicht weiter hinausschiebt, weil
uns die aktuellen Fälle aus den Institutionen gezeigt haben - anders als in den 90er-Jahren, wo es um Fälle aus
dem unmittelbaren familiären Nahbereich ging -, dass
viele Opfer erst dann, wenn sie älter werden, in der Lage
sind, ihre Erlebnisse zu reflektieren und tätig zu werden.
Man muss sehr sorgsam abwägen und schauen, wie es in
die Systematik des Strafgesetzbuches passt. In diesem
Prozess befinden wir uns noch. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir eine Regelung finden werden und dann die
Beratung des Gesetzentwurfs der SPD abschließen können - sicherlich auf dem Wege, dass deren Gesetzentwurf nicht zum Tragen kommt.
Vielen Dank.
({4})
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir reden über den Bericht des Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, mit welchem die straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen verlängert werden sollen. Dieser Gesetzentwurf war ebenso wie die Gesetzentwürfe von Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregierung Gegenstand einer Anhörung im Rechtsausschuss.
Eine abschließende Beratung hat noch nicht stattgefunden; deshalb jetzt der Bericht.
Lassen Sie mich zunächst eine Bitte äußern. Lassen
Sie uns bitte zukünftig nicht von sexuellem Missbrauch
von Kindern und Schutzbefohlenen reden, sondern von
sexualisierter Gewalt. Der Begriff „Missbrauch“ legt
nämlich unbeabsichtigt nahe, es gäbe auch einen richtigen sexuellen Gebrauch von Kindern und Schutzbefohlenen,
({0})
und - ich glaube, da sind wir uns alle einig - genau den
gibt es nicht.
({1})
Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei stehen,
glaube ich, für alle Fraktionen im Haus der Schutz der
Opfer und die Wiedergutmachung im Zentrum der Debatte.
„Schutz der Opfer“ meint für uns in allererster Linie
Prävention. Es klingt abgedroschen und ist dennoch
wahr: Der beste Opferschutz ist Prävention. Deshalb
müssen die Mittel für Projekte wie „Kein Täter werden“,
die zum Beispiel in der Charité angeboten werden, erhalten bleiben und aus unserer Sicht sogar aufgestockt werden.
({2})
Unser vorrangiges Ziel muss sein, potenzielle Täter
zu erreichen, um sie von Straftaten abzuhalten. Zu Recht
wurde in der Anhörung durch den Sachverständigen
Böhm auf diesen Aspekt hingewiesen. Er forderte frühzeitig einsetzende psychotherapeutische Behandlungen;
die Rückfallraten könnten so erheblich gesenkt werden.
Es geht aber auch darum, Kinder zu stärken. Sie müssen ihre Rechte kennen, in der Lage sein und ermutigt
werden, diese wahrzunehmen. Aus der Sicht der Opfer
von sexualisierter Gewalt spricht viel dafür, die zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften zu verlängern. Soweit ich das sehe, sind sich darin alle Fraktionen einig
und greifen damit eine Empfehlung des Runden Tisches
auf; darauf wurde bereits hingewiesen. Dieses Signal der
Einigkeit sollten die Opfer sexualisierter Gewalt von der
heutigen Debatte mitnehmen; daran wäre mir sehr gelegen. Alle Fraktionen sprechen sich für die Verlängerung
der zivilrechtlichen Verjährungsfristen aus.
Die existierende Frist von drei Jahren zur Geltendmachung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer sexualisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumatisiert
sind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten in
der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen.
Dass Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche
dann nicht mehr geltend gemacht werden können, sehen
wir als erhebliches Problem an. Hier hilft die Hemmung
der Verjährung bis zum 21. Lebensjahr nicht wirklich
weiter. Die Verjährungsfristen müssen - so sieht es der
vorliegende Gesetzentwurf vor - tatsächlich verlängert
werden, um die zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer sexualisierter Gewalt zu erhalten. Wir unterstützen das
ausdrücklich.
({3})
Wir sehen auch das Problem, dass die Verjährungsfristen bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung auf
der einen Seite und die Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern auf der anderen Seite
auseinanderklaffen. Das ist der entscheidende Grund dafür, dass ein Teil unserer Fraktion zu einer Zustimmung
zum SPD-Entwurf tendiert.
Unsere gesamte Fraktion sagt sehr deutlich, dass sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern nicht zu rechtfertigen ist.
Ein anderer Teil von uns tut sich schwer mit einer
Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen.
Sosehr eine Angleichung der Verjährungsfristen auf den
ersten Blick eine innere Logik hat - dieser Teil unserer
Fraktion beurteilt das Ansinnen skeptisch. Es erscheint
diesem Teil unserer Fraktion nicht sinnvoll, für den Fall,
dass beispielsweise ein Täter innerhalb der von der SPD
vorgeschlagenen 20-jährigen Verjährungsfrist eine Therapie gemacht hat und seitdem keine erneute Straffälligkeit aufgetreten ist, noch strafrechtlich aktiv zu werden.
Dem Opfer und dem Täter ist nach Ansicht dieses Teils
unserer Fraktion damit nicht geholfen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Der Kollege Christian Ahrendt hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren die Frage, warum ein Gesetzentwurf der SPD zur Verlängerung der Verjährungsfristen
im Strafrecht und auch im Zivilrecht noch nicht abschließend im Rechtsausschuss beraten worden ist.
Wir haben im Juni zusammen mit den Grünen und bei
Enthaltung der Linken entschieden, diese Beratung noch
einmal zu vertagen. Das hat gute Gründe. Es gab eine
Sachverständigenanhörung - über die ist eben schon berichtet worden -, bei der das Bild bei weitem nicht so
klar war, wie es hier den Eindruck erweckt. Zahlreiche
Sachverständige haben gesagt, dass die Verlängerung
der Verjährungsfristen nicht unbedingt zielführend ist.
Dafür gibt es auch Gründe, die man sorgfältig erwägen
muss.
Je weiter eine Tat in der Vergangenheit liegt, desto
schwieriger ist es, diese Tat aufzuklären. Beweismittel
werden nicht gesichert. Die Zeugen, die über eine solche
Tat Auskunft geben können, verlieren an Erinnerungsvermögen. Insofern führt eine Verjährungsfrist, die es ermöglicht, dass nicht sofort in der Sache ermittelt wird,
nicht dazu, dass der Täter wirklich herangezogen wird.
Der entscheidende Aspekt ist, dass es zu einer Anzeige
kommt; der Kollege Ansgar Heveling hat es eben schon
gesagt. Deswegen kommt es uns auf ein Rechtsregime
an, das in erster Linie darauf ausgerichtet ist, dass das
Opfer die Tat früh anzeigt. Denn je früher die Tat angezeigt wird, desto früher können Beweise gesichert, Zeugen vernommen und der Täter einer Verurteilung zugeführt werden; je früher die Ermittlungen auf das
Tatgeschehen folgen, desto besser ist es möglich, das
Tatgeschehen wirklich gerichtsfest zu beweisen.
Herr Kollege, Frau Steffen würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Sie sind jetzt leider schon in Ihrem Text fortgefahren,
aber Sie haben vorhin gesagt, die meisten Sachverständigen hätten sich bei der Anhörung nicht für eine Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen. Ich habe in meiner Rede bewusst nur von
„Modifizierung“ gesprochen. Sie haben vorhin gesagt,
zahlreiche Sachverständige hätten sich nicht für eine
Verlängerung der Fristen ausgesprochen; das ist richtig.
Wir sind gerade im Gesetzgebungsverfahren; leider fangen wir eigentlich erst mit dem Verfahren an. Es gibt
verschiedene Modelle; wir werden gleich das von den
Grünen hören. So besteht etwa die Möglichkeit, bei der
Hemmung anzusetzen; Ihr Kollege hat diese Möglichkeit auch schon vorgestellt. Würden Sie mir unter diesem Aspekt recht geben, dass sich die Mehrheit der
Sachverständigen für eine Modifizierung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen hat?
Frau Kollegin, Sie sagen jetzt, dass wir die Fristen
modifizieren könnten, und haben so mit Ihrer Frage meinen weiteren Ausführungen vorgegriffen. Wenn es um
die reine Verlängerung der Verjährungsfristen geht, dann
ist das Bild bei den Sachverständigen klar; so habe ich es
gesehen. Wenn wir darüber nachdenken, möglicherweise
den Beginn der Verjährung bis zu einem bestimmten Alter zu hemmen - Sie haben in Ihrer Rede sehr ausführlich dargestellt, dass es oftmals ein Herauslösen aus dem
Familienkreis braucht, um den Mut zur Anzeige zu finden -, wenn es also um die Frage der Hemmung bis zum
18. oder 21. Lebensjahr geht, um die Frage, ob erst dann
die Frist der strafrechtlichen Verjährung beginnen soll,
und Sie das als „Modifizierung“ bezeichnen, dann bin
ich von Ihnen gar nicht so weit weg. Das ist etwas, über
das wir tatsächlich nachdenken, weil es auch sinnvoll ist.
Aber das ist etwas anderes als die pauschale Verlängerung der Verjährungsfristen und ist, wenn ich das so sagen darf - zumindest habe ich es so in Erinnerung -,
nicht Gegenstand Ihres Gesetzentwurfs.
Lassen Sie mich fortfahren. Der entscheidende Aspekt ist - darum ringen wir -, dass wir ein Rechtsregime
schaffen, bei dem es darum geht, dem Opfer frühzeitig
den Mut zu geben, die Tat anzuzeigen. Denn wir haben
die Situation, dass das Opfer nicht nur von der Tat selber
betroffen ist. Es sieht sich nachher auch in der Situation,
das, was geschehen ist, berichten zu müssen. Je öfter das
Opfer davon berichtet, desto gravierender, desto mehr
wird es mit dem Erlebten konfrontiert. Deswegen sind
wir mit dem StORMG auf dem Weg, die Opferrechte so
zu verbessern, dass es einfacher wird, die Tat anzuzeigen. Damit ist das Ziel dieses Gesetzes klar im Fokus.
Wenn wir sexuellen Missbrauch von Kindern erfolgreich bekämpfen wollen, dann müssen wir ihn dort bekämpfen, wo er beginnt. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Taten aus den Familien heraus oder von den Opfern
früh angezeigt werden. Je früher sie angezeigt werden,
desto besser können Beweismittel gesichert werden,
desto klarer ist das Erinnerungsbild der Zeugen, desto
größer ist die Chance, dass es zu einer Verurteilung
kommt. Man muss sich auch Folgendes vor Augen halten: Wenn eine Tat erst spät angezeigt wird, also erst
nach Ablauf einer größeren Zahl von Jahren, das Opfer
erst dann den Mut findet, aber die Tat vor Gericht nicht
mehr bewiesen werden kann, ein Verfahren eingestellt
wird oder es gar zum Freispruch kommt, dann hat das
Opfer nicht nur mit der Tat zu kämpfen, sondern auch
noch mit dem Problem umzugehen, dass das, was es erlebt hat, nicht vor Gericht gesühnt wird.
Deswegen ist es wesentlich sorgfältiger, daran zu arbeiten, die Opferschutzrechte so auszugestalten, dass es
zu einer frühzeitigen Anzeige kommt. Man muss in der
Tat darüber nachdenken - wir tun das in der Koalition -,
einerseits im Zivilrecht und andererseits im Strafrecht zu
einer gemeinsamen Hemmungsregelung zu kommen, die
besagt, wann die Verjährungsfrist beginnt. Meines Erachtens kann man sich sehr gut am 21. Lebensjahr orientieren, aus zwei Gründen: Wir haben hier einen klaren
Anknüpfungspunkt im Jugendstrafrecht. Ab 18 ist man
strafmündig; dann hat man noch die Zeit des Heranwachsenden bis zum 21. Lebensjahr. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass man in einem gewissen Familienverbund noch verfangen ist und deswegen möglicherweise davor zurückschreckt, eine solche Tat anzuzeigen.
Das ist der richtige Ansatz. Dann haben wir auch die
Möglichkeit, mit den Verjährungsfristen, die jetzt im
Strafgesetzbuch stehen, vernünftig auszukommen. Aber
zu sagen: „Wir verlängern jetzt einfach die Verjährungsfrist um fünf oder zehn Jahre und haben damit eine wirkliche Verbesserung für die Opfer erreicht“, den Weg halten wir für falsch. Ich glaube auch nicht, dass wir diesen
Weg gehen werden.
Wichtig ist, dass wir die Sache gut beraten, und wir
werden die Sache gut beraten. Ich gehe davon aus, dass
wir in diesem Herbst zum Abschluss kommen, und
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Ingrid Hönlinger hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle konnten uns in den schlimmsten Alpträumen
nicht vorstellen, was sich seit den 70er-Jahren und teilweise bis in die Gegenwart hinein hinter den Mauern
von kirchlichen, schulischen und anderen Einrichtungen
ereignet hat. Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs
von Kindern und Jugendlichen, schutzbefohlenen Mädchen und Jungen spielte sich jahrelang im Geheimen ab.
Bis heute sind nicht alle Fälle aufgeklärt, die Traumatisierungen der Opfer sind noch lange nicht geheilt, und
diese Untaten sind nicht ausreichend gesühnt, weder moralisch noch finanziell.
Wir wissen heute, dass Opfer von sexuellem Missbrauch oft jahrelang das Erlebte nicht in Worte fassen
können. Sie brauchen Zeit, um über das sprechen zu
können, was ihnen widerfahren ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir unsere rechtlichen Abwägungen treffen.
Das aktuelle Recht räumt den Opfern nicht ausreichend Zeit ein. Bei den Missbrauchsfällen aus den 70erund 80er-Jahren sind die Verjährungsfristen längst abgelaufen, und zwar sowohl die zivil- als auch die strafrechtlichen Fristen. Wir als Gesetzgeber müssen jetzt
den rechtlichen Rahmen dafür schaffen, dass die Menschen, deren Forderungen noch nicht verjährt sind oder
die in Zukunft Opfer sexueller Gewalt werden, ihre Ansprüche in angemessener Zeit durchsetzen können.
Heute sprechen wir über den Gesetzentwurf der SPD.
Auch wir Grünen haben einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der rechtlichen Stellung von Opfern sexuellen
Missbrauchs vorgelegt. Einig sind wir uns mit der SPD
darin, dass die Verjährungsfrist im Zivilrecht für Ansprüche von Opfern sexueller Gewalt viel zu kurz ist.
Wir Grünen wollen, genauso wie die SPD, eine Ausweitung auf 30 Jahre einführen.
Im Gegensatz zur SPD wollen wir die Hemmungsregelungen nicht nur beibehalten, sondern ausweiten. Sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht soll der Beginn der
Verjährung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres eines misshandelten Menschen gehemmt sein.
Die Hemmungstatbestände treffen den Kern der Diskussion - das Schweigen junger Menschen nach sexuellem Missbrauch. Selbst junge Erwachsene sind häufig
emotional nicht in der Lage, ihre Ansprüche wegen solcher Taten geltend zu machen; gerade hier sollten wir
ansetzen.
Nun wende ich mich an die Regierung, die ebenfalls
einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Sie, meine Damen
und Herren, wollen im Zivilrecht ebenfalls die Verjährungsfrist auf 30 Jahre anheben, aber im Gegenzug wollen Sie die Hemmung komplett streichen. Damit beginnt
die Verjährungsfrist bereits mit dem Entstehen des Anspruchs, also sofort nach der Tat und nicht erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie das nach
aktuellem Recht der Fall ist. Das ist ein völlig falsches
Signal an die Betroffenen.
({0})
Der Regierungsentwurf weist auch noch ein weiteres
Problem auf: Die Verjährungsfrist von 30 Jahren soll
nicht nur für Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gelten, sondern auch für sonstige vorsätzliche Verletzungen des Körpers und der Gesundheit. Damit unterfiele jede Beibringung einer Wunde der Verjährungsfrist
von 30 Jahren.
({1})
Sicher stimmen Sie mit mir überein, dass wir hier differenzieren müssen. Dass Sie innerhalb der Koalition noch
über den Gesetzentwurf der Regierung streiten und sich
nicht einigen können, zeigt den Zustand Ihrer Koalition
und schadet den Betroffenen. Meine Damen und Herren
von der Regierung, beschränken Sie Ihren Gesetzentwurf auf die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, verlängern Sie die Verjährungsfrist im Zivilrecht,
und schieben Sie den Verjährungsbeginn im Zivil- und
Strafrecht hinaus! Je länger Sie mit dem Inkraftsetzen
des Gesetzes warten, desto mehr Ansprüche von Opfern
verjähren. Dies sollte für die Rechtspolitik Grund genug
sein, schnell und gründlich zu handeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, dass der Ton in dieser Debatte der Ernsthaftigkeit der Problematik sehr angemessen ist. Bei allen Unterschieden, die es in Detailfragen gibt, sind wir uns alle
darüber einig, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern
und minderjährigen Schutzbefohlenen seelische Schäden
hinterlässt, die irreparabel sind und die die Betroffenen
ein Leben lang belasten. Die körperlichen Schäden, die
damit oft verbunden sind, mögen verheilen, aber die seelischen Wunden kann auch die beste psychologische Betreuung nicht wirklich heilen, auch wenn Therapien helfen, solche schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.
Opfer sexuellen Missbrauchs tragen schwer an dem, was
man ihnen angetan hat, auch noch nach Jahren, nach
Jahrzehnten, oft das ganze Leben lang.
Wir haben nun einen Gesetzentwurf in Vorbereitung,
mit dem die Schwächsten unserer Gesellschaft, Kinder
und Jugendliche, besser geschützt werden sollen. Damit
verfolgen wir einen breiten Ansatz. Ziel ist es, nicht nur
punktuell Verbesserungen für die Betroffenen zu erreichen, sondern umfassendere Lösungen zu finden. Wir
haben dabei auch auf die Empfehlungen des Runden Tisches zurückgegriffen, der wichtige Ergebnisse erarbeitet hat.
Wir wollen beispielsweise die Opfer sexuellen Missbrauchs im Gerichtsverfahren besser schützen und schonen. Das Leid, das sie erfahren haben, soll im Gerichtssaal nicht noch einmal durchlitten werden müssen. Dazu
dient beispielsweise, dass es leichter möglich sein soll,
einen Opferanwalt zu bestellen. Wir erweitern die Informationsrechte von Opfern. Wir vermeiden mehrfache
Vernehmungen. Wir ergänzen die Vorschriften zum Ausschluss der Öffentlichkeit bei Hauptverhandlungen.
Schließlich sind wir uns darin einig, dass die zivilrechtliche Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche
wegen sexuellen Missbrauchs auf 30 Jahre verlängert
werden soll. Das ist dringend notwendig. Spätestens die
in den vergangenen Monaten aufgedeckten gravierenden
Missbrauchsfälle haben deutlich gemacht, dass die Regelverjährung von drei Jahren in diesem Bereich viel zu
kurz bemessen ist. Ich finde, es ist eine wichtige und bedeutende Botschaft der heutigen Debatte, dass wir einen
fraktionsübergreifenden Konsens in der Frage der Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist festhalten können.
Bei dieser Verjährungsfrist setzt auch der Gesetzentwurf der SPD an. Allerdings beschränkt sich die SPD
ausdrücklich auf die Fragen der Verjährung. Das, finde
ich, greift entschieden zu kurz. Man wird den Opfern sexuellen Missbrauchs am ehesten helfen können, wenn
man die Reform ein bisschen breiter aufstellt, so wie das
bei uns mit einem ganzen Maßnahmenbündel angedacht
ist.
({0})
Es gibt immer wieder Fälle, in denen Opfer aufgrund
ihrer starken Traumatisierung im Kindesalter erst sehr
spät in der Lage sind, über eine solche Tat zu sprechen.
Sie sind erst nach vielen, vielen Jahren bereit und fähig,
eine Strafanzeige zu erstatten. Ich persönlich bin der
Auffassung, dass wir deshalb die Möglichkeiten, sexuellen Missbrauch auch strafrechtlich zu ahnden, erweitern
müssen. Wir sollten darauf achten, dass die Hemmung
der Verjährung und die Verjährungsfrist im Strafrecht
und im Zivilrecht nicht zu weit auseinanderfallen. Die
Hemmung der Verjährung zu erweitern und die Verjährungsfrist zu verlängern, das wäre nach meinem Dafürhalten eine unmissverständliche Regelung. Das würde
Rechtsklarheit, auch Rechtssicherheit schaffen. Das
würde auch den Besonderheiten dieser Taten Rechnung
tragen. Bei der strafrechtlichen Verfolgung wird die Beweisführung mit dem Zeitablauf sicherlich immer
schwieriger. Aber es ist ja nicht erst die strafrechtliche
Verurteilung, die eine abschreckende Wirkung auf Täter
hat, auch schon die Anklage und die Ermittlungen signalisieren möglichen Tätern: Wer das tut, muss sehr lange
damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden.
({1})
Natürlich könnte man eine Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen auch automatisch erreichen, indem man den sexuellen Missbrauch zum Verbrechen aufstuft. Ich bin durchaus der Meinung, dass eine
Strafschärfung im Grundsatz angemessen wäre, wenn
man die lebenslange und schwere Beeinträchtigung
durch sexuellen Missbrauch im Kindesalter in Rechnung
stellt. Ich nehme allerdings auch die kritischen Stimmen
zur Kenntnis, die sagen, dass durch eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr - die die Aufstufung zum Verbrechen bedeuten würde - in Grenzfällen unangemessene Härten entstehen könnten. Darüber wird man weiter
diskutieren müssen. Ich finde, wir sollten diese Fragen
weiter erörtern.
Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt eingehen: den Schutz von Schülern gegen sexuelle Übergriffe
durch Lehrer. Wir haben gesehen, dass nach der Rechtsprechung Schüler eines Vertretungslehrers diesem Lehrer unter Umständen nicht zur Erziehung anvertraut sind,
sodass in diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis ein strafbarer sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen nicht
vorliegt. Ich finde, es sollte für uns selbstverständlich
sein, dass wir jegliche sexuellen Übergriffe von Lehrkräften auf Schüler unterbinden und scharf sanktionieren. Wir können das nicht zulassen.
({2})
Ich sage das ausdrücklich auch als Vater. Wenn wir
als Eltern unsere Kinder in die Obhut einer Schule geben, dann müssen wir uns darauf verlassen können, dass
sie dort in jeder Hinsicht vor sexuellen Übergriffen
durch Lehrkräfte geschützt sind. Schüler können sich
den Lehrkräften in ihrer Schule nicht entziehen. Alle
Lehrkräfte haben eine gewisse Machtposition den Schülern gegenüber. Deshalb darf es bei der Strafbarkeit von
sexuellem Missbrauch keinen Unterschied machen, ob
es sich um Klassenlehrer, Aushilfslehrer oder Vertretungslehrer handelt.
Ich bin sehr froh, dass die Bundesländer eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben, um an ihren Schulen zunächst
einmal zu erkunden, wie die Lage ist. Wir werden das in
dieses Gesetzgebungsverfahren nicht mehr einbeziehen
können, aber ich bin auf die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe gespannt.
Ich denke, wir können festhalten: Die Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ist auf einem
guten Weg.
Herr Kollege.
Wir sind zuversichtlich, dass wir unser Verfahren
zeitnah abschließen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Marlene Rupprecht.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben heute diese Debatte, weil ein Gesetzentwurf der SPD nicht innerhalb des Zeitraums, der nach
der Geschäftsordnung vorgesehen ist, beraten wurde. Es
gibt zu diesem Thema auch einen Gesetzentwurf der Regierung, der im Juni letzten Jahres eingebracht wurde,
nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Auch dieser
Gesetzentwurf hängt irgendwo.
Ich bin jetzt lange genug im Parlament, um Ihnen zu
sagen: Es kann immer vorkommen, dass man etwas nicht
debattiert. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass
man dann mit den anderen Fraktionen redet und ihnen
sagt, dass man noch etwas in Vorbereitung hat und etwas
später darüber miteinander debattieren möchte. Diesen
Weg müsste die Regierung eigentlich gehen, um zu zeigen: Wir sind dran. So sollte man miteinander umgehen.
Das scheint nicht erfolgt zu sein. Das bedaure ich sehr,
weil wir vor allem den Menschen, die es betrifft, nämlich
den Opfern sexuellen Missbrauchs - das sage ich bewusst so; hier geht es um das Strafrecht und nicht um
Therapie, sozialpädagogische Betreuung oder Sozialpolitik -, dringend das Signal geben wollen, dass jetzt die
gesetzlichen Maßnahmen kommen. Das, was am Runden
Tisch bearbeitet wurde, wurde bereits schrittweise im
ersten Aktionsplan 2003 umgesetzt. Weiteres wird jetzt
im zweiten Aktionsplan, der auf dem Weg ist, umgesetzt.
({0})
Natürlich reicht das Strafrecht nicht; das ist ganz klar.
Das wäre eine völlige Fehleinschätzung. Zum Umgang
mit Missbrauch und mit massiver Gewalt gegen Kinder
hat der Europarat ein Übereinkommen zum Schutz von
Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch erarbeitet. Die EU hat eine Richtlinie verabschiedet, die mit in die Gesetzgebung einfließen muss. Außerdem gibt es Fakultativprotokolle der UN, die auch
einfließen müssen. Ich denke, wenn wir gut arbeiten, beachten wir das alles und sehen nicht nur durch die nationale Brille.
Beim Übereinkommen des Europarates geht es um
die vier „P“. Ich denke, wir behandeln sie schon in unserem Aktionsplan. Aber für diejenigen, die nicht so nah
an diesem Thema dran sind, sage ich, was die vier „P“
der Konvention bedeuten.
Das erste „P“ steht für Prävention. Das heißt, Bekämpfung sexueller Ausbeutung mit allen Mitteln der
Aufklärung und des Schutzes. Man tut also alles, was
machbar ist, damit es gar nicht erst zu einem Übergriff,
einem Missbrauch oder einer schweren Gewalttat
kommt.
Das zweite „P“ steht für Protektion, also für den
Schutz der Rechte von kindlichen Opfern. Das betrifft
das Gesetz, das gerade in der Pipeline ist und endlich
vorgelegt werden müsste; denn es ist dringend notwendig.
Das dritte „P“ steht für Prosekution, also für Strafverfolgung. In diesen Bereich gehört das Thema, das wir
heute debattieren. Deshalb hätte es überhaupt nicht ge23478
Marlene Rupprecht ({1})
schadet, zu sagen: Wir gehen jetzt an die Verjährungsfristen heran und ändern sie. - Daran kann man Schritt
für Schritt arbeiten. Man kann jemandem auch mit Blick
auf die Schwere der Tat - da stimme ich Ihnen zu - wirklich einen Schuss vor den Bug verpassen und deutlich
machen: Wir, die Gesellschaft, zeigen null Toleranz gegenüber solchen Straftätern.
Das vierte „P“ steht für Promotion. Das heißt, dass
wir Strategien entwickeln und in diesem Bereich national und international kooperieren, damit wir tatsächlich
etwas erreichen.
Diese vier „P“ müssen wir in das, was wir gerade machen, mit einbauen. Da sind natürlich auch wir, die Mitglieder des Familienausschusses, gefragt, vor allem
dann, wenn es um Prävention und Promotion geht. Was
die Strafverfolgung und den Schutz betrifft, wenn es also
um das Recht geht, sind allerdings vor allem die Mitglieder des Rechtsausschusses am Zuge. Das Ganze muss so
ausgestaltet werden, dass man überprüfen kann, ob die
Maßnahmen wirken. Wenn man also beispielsweise die
Verjährungsfristen verlängert oder Hemmnisse einbaut,
muss überprüft werden: Wirkt das, und wie wirkt das?
Das ist sehr wichtig.
Die europäische Kinderrechtekonferenz findet ja in
Deutschland statt. Die heutige Debatte sollte dazu führen, dass wir im März nächsten Jahres auch das Lanzarote-Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor
sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch ratifizieren - wir haben es im Jahre 2007 unterzeichnet, aber
noch nicht ratifiziert - und damit zeigen: Jawohl, wir
schließen uns an. Wir schließen uns auch der Kampagne
des Europarates an.
Frau Kollegin?
Eines von fünf Kindern ist betroffen. Ich denke, das
sollte uns so sehr aufschreien lassen,
Frau Kollegin.
- dass wir jetzt über alle Grenzen hinweg gemeinsam
an diesem Gesetz arbeiten.
Danke.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 und den Zusatzpunkt 7 auf:
18 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung der Verordnung ({0}) Nr. 236/
2012 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe
und bestimmte Aspekte von Credit Default
Swaps ({1})
- Drucksache 17/9665 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 17/10854 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Björn Sänger
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bankenunion - Subsidiaritätsgrundsatz beachten
- Drucksache 17/10781 Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren.
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden zu dieser späten Stunde über Finanzmarktthemen.
Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, über drei
Punkte zu sprechen: erstens über die Umsetzung der EULeerverkaufsverordnung, zweitens über den Antrag zur
Bankenunion und drittens - ich glaube, das bietet sich in
dieser Woche an - über das revolutionäre Papier, das uns
den Durchbruch auf den Finanzmärkten bringen wird,
des ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers
und Ministerpräsidenten sowie ehemaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück.
Fangen wir doch einfach einmal mit der EU-Leerverkaufsverordnung an. Das ist heute für uns ein freudiger
Tag, weil auf europäischer Ebene etwas umgesetzt worden ist, was wir vor zwei Jahren auf den Weg gebracht
haben. Wir sind damals belächelt worden. Man sagte: Ihr
könnt nicht vorangehen und das alleine machen. - Wir
haben es gemacht und sind vorangegangen. Am Ende
des Tages hat das dazu geführt, dass die Europäische
Kommission und der Europäische Rat im Wesentlichen
das abgeschrieben haben, was wir gemacht haben. Das
ist ein großer Erfolg für uns.
Das ist für uns heute auch deswegen ein großer Erfolg,
weil das nunmehr das 17. Finanzmarktgesetz ist, das wir
in den letzten drei Jahren hier verabschiedet haben. DaRalph Brinkhaus
runter waren wichtige Dinge wie Bankenrestrukturierung, Anlegerschutz, Vergütungen, Ratingagenturen,
Verbriefungen und ganz viele andere Dinge. Ich erwähne
das an dieser Stelle ganz besonders gerne, weil man den
Eindruck hat, dass Finanzmarktregulierung in Deutschland erst vor drei Tagen und nicht vor drei Jahren erfunden worden ist.
({0})
Nach mir wird der Herr Kollege Zöllmer von der SPD
reden und zu dem EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz
sagen: Na ja, eigentlich ist das alles ja ganz richtig, aber
eine Sache stört mich. - Dabei geht es darum: Wenn bei
Schieflagen der Handel von irgendwelchen Papieren
ausgesetzt werden muss, soll das nicht, wie bei uns vorgesehen, durch die örtlichen Börsen, sondern zentral
durch die BaFin geschehen. Wir haben das geprüft und
sind der Meinung, dass die örtlichen Behörden das besser machen können, weil sie näher dran sind. Wir sind
auch der Meinung, dass das bewährte Verfahren, bei dem
sie sich abgestimmt haben, fortgesetzt werden kann, sodass wir bundesweit eine gute Regelung erreichen haben.
Herr Zöllmer, Sie werden das gleich aber erläutern.
Man kann auch anders darüber denken. Eines muss ich
Ihnen aber sagen: Wenn Sie das gleich als Begründung
dafür nehmen, sich bei der Abstimmung über dieses Gesetz zu enthalten, dann ist das ein bisschen hochgehängt.
Überdenken Sie das also noch einmal. Ich glaube, das ist
ein gutes Gesetz. Das wird die Finanzmärkte besser und
sicherer machen. Deswegen bitte ich hier um Ihre Zustimmung.
({1})
Zweiter Punkt; die Bankenunion. Am 28. und 29. Juni
2012 fand ein Gipfel statt, auf dem vereinbart worden
ist, dass wir europäische Aufsichtsstrukturen und auch
Haftungsstrukturen zusammenführen. Als erster Schritt
sollte unter dem Dach der EZB, der Europäischen Zentralbank, eine gemeinsame Aufsicht eingerichtet werden.
Das ist gut; das begrüßen wir. Die Kommission ist zum
Arbeiten geschickt worden. In den letzten Tagen ist sie
wiedergekommen und hat ein Papier vorgelegt. Wir sind
nicht mit allem, was in diesem Papier steht, einverstanden, aber wir werden jetzt frohen Mutes in den Verhandlungsprozess hineingehen.
Damit die Bundesregierung in diesem Verhandlungsprozess ein robustes Mandat hat und auch weiß, was der
Deutsche Bundestag über dieses Papier von Herr
Barroso und Herrn Barnier denkt, werden wir der Bundesregierung einige Dinge mit auf den Weg geben.
Herr Kollege, möchten Sie Ihre üppige Redezeit noch
dadurch verlängern, dass Sie dem Kollegen Schick die
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?
Ich weiß jetzt nicht, was er dazwischenfragen möchte,
weil ich ja erst noch etwas sagen möchte, aber er kann
das gerne machen.
Das weiß ich leider auch nicht.
Bitte schön, Herr Kollege.
Bitte.
({0})
Liebe Frau Kollegin, es geht gar nicht so sehr darum,
dass ich viel Zeit habe, aber ich möchte zu Ihrem Antrag
gerne ein paar Fragen stellen, weil wir das im Ausschuss
nicht tun können, da er heute sofort zur Abstimmung
steht.
Ein paar Fragen?
Ja, in der Tat. Hier ist der einzige Ort, an dem ich die
Fragen stellen kann. Deswegen muss ich sie hier stellen.
Mich würde erstens interessieren, was bezogen auf
die Aufsichtsaufgaben der EZB mit einer „ausreichenden demokratischen Kontrolle“ gemeint ist. Soll man die
Stellenbesetzungen vom Europäischen Parlament aus
kontrollieren? Soll es da Auskunftspflichten der EZB gegenüber dem Parlament geben? Ich finde, es ist eine
wichtige Frage, wie die Kontrollmechanismen ausgestaltet sind.
Mich würde zweitens interessieren, wie das mit dem
„Netz nationaler Restrukturierungsfonds“ gedacht ist.
Soll es hier nach Ansicht der Koalitionsfraktionen eine
Überlaufregelung geben oder nicht?
({0})
Drittens würde mich interessieren, was mit „große
systemrelevante und grenzüberschreitend tätige Banken“
gemeint ist. Sind das nur die 25 systemrelevanten Banken, die in dieser Liste stehen, von der wir immer reden,
oder sind darunter auch noch größere Institute im deutschen Raum, wie zum Beispiel die Landesbank BadenWürttemberg oder andere Institute dieser Art?
Ich möchte einfach wissen, was Sie uns hier vorlegen.
An diesen Stellen ist der Antrag in der jetzigen Debatte
für mich nämlich nicht einleuchtend.
Würden Sie diesem Antrag denn zustimmen, wenn
ich Ihre Fragen zufriedenstellend beantworte?
({0})
Das werde ich nachher in meiner Redezeit gerne sagen.
Es ist nicht vorgesehen, dass eine Zwischenfrage der
Beginn eines wunderbaren Dialogs hier im Deutschen
Bundestag ist.
({0})
Herr Brinkhaus, Sie hätten jetzt die Gelegenheit, die
Fragen zu beantworten.
({1})
Ich möchte diese Fragen beantworten. Ich denke, die
erste Frage beantwortet sich im normalen Verlauf meiner
Rede. - Es geht zunächst um die Verknüpfung der nationalen Restrukturierungsfonds. Ich glaube, die erste
Herausforderung ist es, jetzt einen Restrukturierungsfonds aufzubauen, der so groß ist, dass er auch international tätige Banken umfasst. Dann stellt sich die ganz
einfache Frage: Wie gehen wir beispielsweise mit der
Deutschen Bank um? Zahlt sie dann in einen nationalen
Restrukturierungsfonds ein? Zahlt sie in einen europäischen Restrukturierungsfonds ein? Wie erreichen wir da
die Abgrenzung? Das muss also noch geklärt werden.
Wie gesagt, die anderen Fragen klären sich im Laufe
meiner restlichen Rede. Einfach wieder hinsetzen, Herr
Schick, abwarten und danach zustimmen, wenn es gut
war.
({0})
Fangen wir einmal damit an, was wir der Bundesregierung mit auf den Weg geben wollen. Der erste Punkt
ist: Wir wollen mit dem Konstrukt Europäische Zentralbank, die unabhängig ist und die Geldpolitik macht, die
zweite Säule schaffen. Diese zweite Säule ist die Aufsicht. Dann kann aber die Zentralbank nicht unabhängig
sein, sondern die Aufsicht erfolgt im Auftrag der Politik,
des Souveräns. Dementsprechend brauchen wir Mechanismen. Es kann nicht sein, dass ein Aufsichtshandeln
erfolgt und die Europäische Zentralbank sagt: Liebes
Europäisches Parlament, du hast hier nichts zu sagen,
weil wir unabhängig sind. - Das heißt, die Regelungen
zur Aufsicht müssen vernünftig formuliert werden. Wir
müssen eine personelle und organisatorische Trennung
erreichen. Das ist uns wichtig.
Ein zweiter wichtiger Punkt: Die Kommission hat
sehr schnell einen Vorschlag vorgelegt. Für uns geht
Qualität vor Schnelligkeit. Wir haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, wenn Sachen übers Knie gebrochen werden. Wir möchten aber, dass hier etwas Gutes
entsteht, weil wir uns keine Fehler und keinen zweiten
Wurf leisten können.
Der dritte für uns wichtige Punkt ist, dass sich das
Ganze nicht nur auf den Euro-Raum erstreckt, sondern
dass es eine Öffnungsklausel für die Länder gibt, die
nicht zum Euro-Raum gehören. Das heißt, es muss eine
Beitrittsmöglichkeit bestehen.
Der vierte Punkt ist allerdings sehr entscheidend. Auf
dem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni dieses Jahres hat
man unterschiedliche Vorstellungen von dem gemeinsamen Verbund gehabt. Wir als Deutsche hatten die
Vorstellung: Dieses Projekt wird in die Zukunft hineinreichen und wird für die Zukunft stabile Verhältnisse
schaffen. Ich glaube, der eine oder andere südeuropäische Regierungschef hatte so ein bisschen die Vorstellung: Für meine Problembanken soll auf europäische
Ebene eine Lösung gefunden werden, und ich muss mich
dann nicht mehr selber darum kümmern. - Hier besteht
noch eine Menge Klarstellungsbedarf.
Die Restrukturierungsfonds hatte ich bereits angesprochen.
({1})
Wir haben vor zwei Jahren ein Restrukturierungsgesetz
auf den Weg gebracht. Das Restrukturierungsgesetz war
sehr erfolgreich. In den entsprechenden Fonds fließen in
Normaljahren mehr als 1 Milliarde Euro hinein.
({2})
Die Tatsache, Herr Zöllmer - darauf werden Sie gleich
noch eingehen -, dass in den Fonds weniger Geld geflossen ist, liegt einfach daran, dass wir komischerweise
einige Staatsanleihen abschreiben mussten. Welch
Wunder, dass dabei Banken nicht die Gewinne machen,
die wir uns vorgestellt haben.
({3})
Wir wussten gleich, dass uns dieses Restrukturierungsgesetz an Grenzen bringt. Das heißt, die Rettung
der Deutschen Bank wäre auf der Grundlage des
Restrukturierungsgesetzes nicht machbar gewesen. Das
Gleiche gilt wahrscheinlich für eine mittelgroße Landesbank. Deswegen hat diese Bundesregierung, haben die
Koalitionsfraktionen immer auf eine europäische
Lösung gedrängt. Diese muss kommen.
Ein Punkt bereitet insbesondere den Sparkassen und
Volksbanken viele Sorgen. Das ist: Müssen sie jetzt ihre
Einlagensicherungssysteme in einem großen Einlagensicherungssystem auf europäischer Ebene zusammenfassen? Wir denken, das wäre momentan keine vertrauensbildende Maßnahme. Dementsprechend wollen wir die
bewährten nationalen Systeme weiter existieren lassen
und das dann mit einem Kommissionsvorschlag, der
bereits vorliegt, entsprechend abstimmen.
({4})
Am allerwichtigsten ist, dass die Aufsicht das Subsidiaritätsprinzip und das Proportionalitätsprinzip beachtet. Was bedeutet das Subsidiaritätsprinzip? Herr Schick,
bitte drehen Sie sich wieder zu mir um, ich komme jetzt
zu Ihrer letzten noch offenen Frage: Was sind systemische Banken, die europäisch überwacht werden sollen?
Das verändert sich von Jahr zu Jahr. Systemische Banken sind Banken, die ein derartiges Risiko verursachen,
dass das europäische Finanzsystem beschädigt werden
kann. Es muss von Jahr zu Jahr neu entschieden werden,
wer dazugehört. Vielleicht sind das einmal 25 Banken,
vielleicht sind das auch einmal 50 Banken.
({5})
Das ist im Prinzip das Entscheidende.
Wir wollen, dass Banken, die europäisch systemisch
sind, aber auch Banken, die dem europäischen Steuerzahler zur Last fallen, von der EZB zentral überwacht
werden. Wir wollen aber auf der anderen Seite - auch
das heißt Subsidiarität -, dass Dinge, die hier in
Deutschland erledigt werden können, weiterhin von der
nationalen Aufsicht erledigt werden. Das wollen wir der
Bundesregierung mit auf den Weg geben.
Proportionalität heißt in diesem Bereich, dass unterschiedliche Dinge auch unterschiedlich behandelt
werden. Das heißt, die Volksbank Kaunitz bei mir im
Wahlkreis muss nicht mit den gleichen Werkzeugen wie
die Deutsche Bank in Frankfurt, die Santander in Madrid
oder andere Banken überwacht werden. Auch das muss
im europäischen Verhandlungsprozess berücksichtigt
werden. Wir sind optimistisch, dass wir mit dieser Leitlinie, die wir der Bundesregierung mitgeben, erfolgreich
sein werden und ein gutes System bekommen werden.
Jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt, den ich mir
nicht verkneifen kann. Peer Steinbrück hat ein großes
Papier vorgelegt.
({6})
Ich habe großes Verständnis dafür. Peer Steinbrück will
Kanzlerkandidat der SPD werden. Er muss eine Bewerbungsmappe abgeben.
({7})
Normalerweise müsste er sich auch an der Kanzlerin
abarbeiten. Das ist aber momentan schlecht. Die Kanzlerin hat viel Vertrauen in der Bevölkerung. Deshalb hat er
sich ein einfacheres Ziel gesucht: die Banken. Das kann
ich verstehen. Sie sind momentan tatsächlich ein einfaches Ziel. Das ist in Ordnung, auch wenn es nicht besonders originell ist.
Er hat sich dann, wie ich heute gelernt habe, nach
zweijähriger Klausur entschieden, ein Sammelsurium
von Maßnahmen aufzuschreiben, das im Wesentlichen
bis auf einige wenige kleine Ausnahmen in einer Aufzählung von Maßnahmen besteht, die wir bereits umgesetzt haben,
({8})
die momentan in der Umsetzung sind oder die wir momentan intensiv international diskutieren, weil es keinen
Zweck hat, sie allein auf nationaler Ebene durchzuführen.
({9})
Wir freuen uns darüber, dass wir eine große Übereinstimmung haben. Vielen Dank. Auch das ist nicht zu
beanstanden, aber es ist ebenfalls wenig originell. Ich
beanstande es auch nicht, dass jemand, der sich in die
Finanzmarktdiskussion, in der wir alle hier in den letzten
drei Jahren hart gearbeitet und gerungen haben, nicht
eingeschaltet hat, jetzt auf einmal wie Kai aus der Kiste
kommt und sagt: Ich habe jetzt eine Lösung gefunden. Es ist schön, dass er sich wieder einbringt. Auch das ist
nicht zu beanstanden.
Trotzdem ist das Ganze in gewisser Weise auch eine
Zumutung. Es ist deswegen eine Zumutung, weil er
komplett verkennt, was in den letzten drei Jahren passiert ist. Wir haben in den letzten drei Jahren, wenn ich
alle Anträge und Gesetze zusammenzähle, über 20 Projekte gehabt. Wir haben über 50 Debatten geführt und
unglaublich viele Berichterstattergespräche, Anhörungen, Symposien und Ähnliches durchgeführt. Wo war
denn Peer Steinbrück in dieser Zeit?
({10})
Ich wende mich jetzt den Kollegen von der SPD zu.
Ganz ehrlich, irgendwie ist das für Sie doch auch ein
bisschen unangenehm. Sie mühen sich drei Jahre lang
ab, und jetzt kommt jemand, der sagt: Das ist alles nichts
gewesen; ich hab’s jetzt. - Ich würde mir ein bisschen
veralbert vorkommen.
({11})
Das muss man an dieser Stelle einfach sagen.
Was im Grunde genommen auch wenig lustig ist und
so nicht geht, ist die Tatsache, dass der gute Herr
Steinbrück aufgrund seiner guten Erkenntnisse, die er
gewonnen hat, jetzt meint, er hat den großen grünen
Knopf gefunden, und wenn er auf diesen Knopf drückt,
dann wird alles gut. Dieser große grüne Knopf sind die
Trennbanken.
Meine Damen und Herren, wir reden mit unseren
Partnern in Großbritannien und in den USA über das
Trennbankensystem. Wir haben im Übrigen auf EUEbene eine Kommission unter Führung des finnischen
Notenbankchefs Liikanen auf den Weg gebracht, der uns
dazu Vorschläge vorlegen wird. Ich will nicht sagen,
dass Trennbanken grottenfalsch sind. Aber eines ist
Fakt: Die Krise 2008 wäre durch ein Trennbankensystem nicht verhindert worden.
({12})
Fakt ist auch: Ob es die nächste Krise verhindert oder
verschärft, wissen wir ebenfalls nicht. Das heißt, man
kann über die Sache diskutieren und trefflich darüber
streiten, sie aber als Königsweg darzustellen, durch den
alles gut werden soll, halte ich für etwas zu ambitioniert.
Der letzte Punkt ärgert mich wirklich, weil es ein
bisschen zu viel Volksverdummung ist,
({13})
nämlich wenn ein Papier verfasst wird, in dem sinngemäß steht: „Wir machen jetzt das und das und das, und
dann wird alles gut“, und der Eindruck erweckt wird:
Wenn ich in der Regierung bin, dann werde ich das innerhalb von zwei oder drei Wochen umsetzen. - Das ist
doch im Grunde genommen das, was gemacht wird. Die
ganzen Mühen, die da drinstecken, wie die internationale
Abstimmung, weil wir wissen, dass Finanzmarktregulierung auf nationaler Ebene nicht läuft, werden komplett
negiert. Jetzt kommt jemand mit seinen Ideen, und es
wird so getan, als würde das sofort umgesetzt und alles,
was vorher gemacht worden ist, wäre Mist.
Wenn das dann nicht klappt, dann wissen wir, wie das
Ganze bei Herrn Steinbrück weitergeht.
({14})
- Du hast es richtig gesagt: Dann kommt die Kavallerie,
genauso wie bei der Schweiz.
So kann man keine Politik machen. Dementsprechend
kann ich Ihnen nur eines raten: Seien Sie vorsichtig mit
dem, was Sie versprechen. Sie werden es nicht halten
können.
Danke schön.
({15})
Manfred Zöllmer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der Umsetzung der EU-Leerverkaufsverordnung gehen wir grundsätzlich einen richtigen Regulierungsschritt. Denn seit der Finanzmarktkrise wissen wir, wie
schädlich Leerverkäufe sein können. Sie haben ganz wesentlich zu schweren Kurseinbrüchen beigetragen und
dienen letztendlich nichts anderem als Zockerei und sind
damit ein Brandbeschleuniger in der Finanzkrise. Die
Bundesregierung bzw. die EU setzt damit nur das endlich um, was der ehemalige Bundesfinanzminister Peer
Steinbrück, den Sie eben erwähnt haben
({0})
- ich würde da nicht lachen -, bereits 2008, auf dem
Höhepunkt der Finanzkrise, gemacht hat, als er im
Herbst 2008 ungedeckte Leerverkäufe untersagte.
({1})
Nach einem eineinhalbjährigen Verbot war es die
schwarz-gelbe Regierung, die diese Leerverkäufe dann
wieder erlaubt hat.
({2})
Erst im Mai 2010 besann man sich und verbot wieder
bestimmte hochspekulative Finanztransaktionen.
Allein dieses Beispiel, Herr Brinkhaus, belegt sehr
deutlich das ganze unentschlossene Hin und Her dieser
Bundesregierung, der schwarz-gelben Koalition, wenn
es um Fragen der Regulierung der Finanzmärkte geht.
Häufig versuchen Sie, sich einfach mit virtueller Regulierung aus der Affäre zu ziehen, in der Hoffnung, die
Menschen würden das schon nicht merken, weil wir es
hier nun wirklich mit schwer verdaulicher Kost zu tun
haben.
Sie, Herr Brinkhaus, und der Kollege Flosbach haben
sich bei der Vorstellung des Steinbrück-Papiers zur
Regulierung öffentlich echauffiert. Sie haben es hier gerade noch einmal getan. Der Kollege Flosbach hat gesagt, seit drei Jahren arbeite die Regierung an der Regulierung der Finanzmärkte.
({3})
Arbeit allein genügt aber nicht. Es müssen auch die richtigen Ziele verfolgt werden.
({4})
Wenn von Frau Merkel als Ziel Ihrer Politik ausgegeben
wird, dass Sie eine marktkonforme Demokratie wollen,
dann kann bei der Regulierung natürlich nichts Vernünftiges herauskommen.
({5})
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. In dem Teil des
vorliegenden Gesetzentwurfs, den Sie verändern durften,
sehen Sie eine geteilte Zuständigkeit für den Erlass zeitlich befristeter Leerverkaufsverbote vor. Sie haben das
dankenswerterweise ausgeführt. Der Börsenvorstand
soll für Verbote zuständig sein. Damit haben wir insgesamt ein Problem. Nicht nur der Bundesrat hat in seiner
Stellungnahme eine einheitliche Zuständigkeit der BaFin
gefordert. Auch in der Anhörung ist von den meisten
Sachverständigen genau dieser Punkt kritisch beleuchtet
worden.
({6})
Warum? Sie öffnen damit Schlupflöcher für Spekulanten. Das ist nichts anderes als Regulierung light. Denn
wenn die örtliche Börsenaufsicht die gefährliche Zockerei an einer Börse verbietet, besteht für diejenigen, die
zocken, immer noch die Möglichkeit, auf andere Börsenplätze auszuweichen. Dieses Schlupfloch haben Sie
offen gelassen. Und Sie wissen das. Damit wird der
Zweck der Leerverkaufsverbote, die Unterbindung des
Leerverkaufs, im Zweifelsfalle in einer Krisensituation
ad absurdum geführt.
({7})
Das ist Regulierung light. Sie sehen: Arbeit allein genügt
nicht. Man muss auch die richtigen Maßnahmen ergreifen.
({8})
Nun regen Sie sich über die Vorschläge zur Bankentrennung auf. Als ob die Bankentrennung das Übel wäre
und nicht die Zockerei! Sie haben doch bei Ihren Maßnahmen, die Sie selbst immer hochjubeln, weil es sonst
keiner tut, scheunentorgroße Schlupflöcher bei den Bankerboni offen gelassen. Ich erinnere an die Commerzbank-Vorstände, die sich dann bedienen konnten. Sie haben dazu gesagt: Das sieht das Gesetz nun einmal vor.
Sie haben versprochen, die Banken an den Kosten der
Krise zu beteiligen. Was ist geschehen? Nichts. Sie
wollen jetzt den Hochfrequenzhandel regulieren, habe
ich gelesen, aber ohne eine Haltefrist. Damit wird die
Regulierung wieder vollständig ausgehebelt. Denn den
Hochfrequenzhandel können Sie nur dann eindämmen,
wenn Sie auch eine Haltefrist einführen.
({9})
Restrukturierungsfonds: Sie haben eben selbst gesagt,
dass da nichts im Topf ist.
({10})
Das heißt, in einer Krisensituation haben wir keine
Munition. Das, was Sie gemacht haben, wirkt nicht.
({11})
Wir haben es Ihnen gesagt. Finanztransaktionsteuer:
Was ist daraus geworden? Bisher nichts.
Wie plan- und hilflos diese Koalitionsfraktionen häufig agieren, sieht man auch an der heutigen Tagesordnung. Wir sollten hier eigentlich eine halbe Stunde über
Leerverkäufe diskutieren. Flugs haben Sie noch einen
Antrag zur Bankenunion untergeschoben. Als ob das ein
völlig unwichtiges Thema ohne große Relevanz wäre!
({12})
Wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Relevanz dieses Themas ist klar. Es ist für die Euro-Rettung und die
zukünftige Struktur der Finanzmärkte von entscheidender
Bedeutung, wie wir diese Probleme lösen. Das scheint allen klar zu sein, nur nicht den Koalitionsfraktionen. Sie
wollen noch nicht einmal Redezeit dafür opfern und pressen das in eine halbstündige Debatte. - Lieber Herr Kollege Brinkhaus, wenigstens jetzt könnten Sie zuhören. Wie peinlich ist es eigentlich, wenn Sie dies noch nicht
einmal zu einem eigenständigen Tagesordnungspunkt
machen?
({13})
Kann man noch deutlicher machen, wie gering Ihr Gestaltungswille bei zentralen Zukunftsfragen Deutschlands und Europas eigentlich ist? Ich kann das nicht verstehen.
({14})
Warum haben Sie nicht den Versuch unternommen,
sich in wesentlichen Fragen der zukünftigen Finanzmarktpolitik in Europa mit den anderen Fraktionen wenigstens abzustimmen, wenigstens einmal ein Gespräch
zu führen, um herauszufinden, ob es nicht eine gemeinsame Positionierung gibt? Es geht doch um wichtige
Fragen. Die Sparkassen beispielsweise schalten ganzseitige Anzeigen. Es geht um fundamentale deutsche Interessen. Aber Sie versuchen, dieses Thema totzumachen.
Ich sage Ihnen: So geht es nicht.
Wir haben jetzt nicht die Gelegenheit, auf einzelne Inhalte und Punkte, die Sie angesprochen haben, einzugehen, weil Sie mit Ihrem Vorgehen eine Debatte über dieses Thema unmöglich machen. Ich sage Ihnen: Wir
werden uns in der Abstimmung über den Gesetzentwurf
zum Thema Leerverkäufe enthalten - warum, habe ich
bereits begründet - und Ihren Antrag ablehnen. In dieser
Form geht es nicht. Das erinnert mich an den ehemaligen
Trainer von Bayern München Trapattoni, der einmal gesagt hat: Flasche leer!
({15})
Ich sage Ihnen: Genau das trifft auf diese Koalition wirklich zu.
Vielen Dank.
({16})
Der Kollege Dr. Volker Wissing hat für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, die Gegenwart
und die Zukunft kann man gestalten. Mit seiner Vergangenheit muss man leben. Ich weiß, dass Sie als Sozialdemokraten gerne auf die Ära sozialdemokratischer
Finanzminister in der Form zurückblicken würden, dass
Sie mit Stolz auf deren knallharte Regulierungspolitik
verweisen könnten. Ihre Vergangenheit sieht aber anders
aus, und mit der müssen Sie leben.
({0})
Die Zeit, als die Sozialdemokratie Verantwortung für das
Finanzressort in Deutschland trug, war geprägt von einer
Politik der Deregulierung der Finanzmärkte, die zusammen mit den Grünen betrieben wurde.
({1})
Als Peer Steinbrück, der heute den Eindruck zu erwecken versucht, er sei ein Bändiger der Finanzmärkte,
Regierungsverantwortung hatte, hat er sich mit Finanzmarktregulierung nicht befasst.
({2})
Nachdem er dann die Regierungsverantwortung verloren
hatte, die Finanzkrise eskaliert war und die christlichliberale Koalition Verantwortung übernommen hat, hat
Finanzmarktregulierung in Deutschland stattgefunden.
Ratingagenturen wurden unter Aufsicht gestellt - CDU/
CSU und FDP. Leerverkäufe wurden verboten - CDU/
CSU und FDP. Gesetz zur Beschränkung des Hochfrequenzhandels - CDU/CSU und FDP.
({3})
Die Reihe können Sie fortsetzen: Bankenrestrukturierungsfonds - CDU/CSU und FDP. Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise - CDU/CSU und FDP.
Schaffung von Aufsichtsstrukturen auf europäischer
Ebene - CDU/CSU und FDP. Sie waren jedenfalls nie
dabei. Sie haben auch nie eigene Vorschläge gemacht.
({4})
Nun kommt Ihr ehemaliger Finanzminister, der Regulierungsverweigerer in Deutschland, wie Kai aus der
Kiste - so hat es der Kollege Brinkhaus zu Recht formuliert - und sagt: Wir müssen einen großen Katalog an
Regulierungsmaßnahmen auf den Weg bringen.
({5})
Dabei hat er noch nicht einmal bemerkt, dass sein Forderungskatalog genau das enthält, was CDU/CSU und FDP
umgesetzt haben; er aber nicht, als er in der Regierung
war.
({6})
Was Sie machen, ist deswegen nichts anderes als
Regulierungsklamauk. Sie legen die Menschen, die hier
sitzen oder zuschauen, herein, indem Sie ihnen die
Geschichte von der Sozialdemokratie als Finanzmarktregulierer erzählen. Dabei haben Sie mit der Regulierung der Finanzmärkte nichts, aber auch gar nichts zu
tun. Regulierungspolitik ist das Werk der christlich-liberalen Koalition.
({7})
Wir haben Verantwortung und Haftung wieder zusammengeführt. Das ist die Leistung dieser Bundesregierung.
({8})
Wie ich sehe, möchte Herr Schick eine Zwischenfrage stellen. Wenn die Uhr angehalten wird, lasse ich
sie zu. - Bitte, Herr Schick.
({9})
Danke. - Ich will es konkret machen, um die Position
der Koalition zu verstehen. Welche Banken sollen europäisch beaufsichtigt werden?
({0})
- Nein, das war nicht eindeutig. - Es geht mal um 25,
mal um 50 Banken. Es stellt sich konkret die Frage, welche es sein sollen. Das ist die große Streitfrage. Das wird
aus Ihrem Antrag nicht deutlich. Ich möchte wissen, ob
nach dem Willen der Koalitionsfraktionen Banken wie
die Landesbank Berlin mit einer Bilanzsumme von
129 Milliarden Euro, die Berlin Hyp mit einer Bilanzsumme von 38 Milliarden Euro oder die Sparkasse
KölnBonn mit einer Bilanzsumme von 29 Milliarden
Euro europäisch oder national beaufsichtigt werden sollen. Wie sollen wir den Antrag verstehen?
Meine zweite Frage ist, wie das mit den nationalen
und europäischen Restrukturierungsfonds geplant ist.
Ich habe den Kollegen Brinkhaus so verstanden, dass es
einen europäischen Restrukturierungsfonds und nationale Restrukturierungsfonds geben soll. Im Antrag ist
nur von nationalen Restrukturierungsfonds die Rede. Ich
würde gerne verstehen, was die Verhandlungslinie der
Koalition in Bezug auf dieses System von Restrukturierungsfonds ist.
Zunächst zu Ihrer Frage, welche Banken auf europäischer Ebene und welche auf nationaler Ebene beaufsichtigt werden sollen. Sie können das nicht so machen, wie
sich das Peer Steinbrück in seiner Welt vorstellt. Danach
werden alle Banken, die heute systemrelevant sind, auf
europäischer Ebene beaufsichtigt und alle anderen auf
rein nationaler Ebene; denn - das ist in der Debatte heute
schon gesagt worden - das kann sich verändern. Es gibt
Banken, die sich von nicht systemrelevanten Banken zu
systemrelevanten Banken entwickeln können.
({0})
Das war in Deutschland bei der Hypo Real Estate der
Fall. Das hätte ein früherer Finanzminister eigentlich
wissen können, aber mit den Dingen hat er sich schon
damals nicht richtig beschäftigt.
({1})
Wenn Sie sehen, dass man sich damals bei der Hypo
Real Estate monatelang in Deutschland gestritten hat, ob
die Bank systemrelevant ist oder nicht, dann erkennen
Sie auch, dass es keinen Sinn macht, dass man einen klaren Schnitt macht und sagt: Die Banken, die heute sysDr. Volker Wissing
temrelevant sind, werden europäisch beaufsichtigt, die
anderen nur national. - Denn die Instanz, die für die
Kontrolle systemrelevanter Banken zuständig ist, muss
auch die Banken im Blick haben, die jederzeit systemrelevant werden können. Genau das steht in unserem Antrag. Wir wollen die Konzentration der europäischen
Aufsicht auf die Systemrelevanz und die grenzüberschreitende Tätigkeit, wir wollen aber auch, dass sie systemische Risiken jederzeit aufgreifen kann.
Das muss jetzt - wir befinden uns ja nicht in einem
Gesetzgebungsverfahren, sondern es handelt sich bei
unserer Vorlage um einen Antrag - mit den europäischen
Partnern institutionell so auf den Weg gebracht werden,
dass es den Anforderungen des Deutschen Bundestages
genügt. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Antrag
heute beraten wird. Sie können auch einen eigenen Antrag einbringen, wenn Sie eigene Vorstellungen haben.
Peer Steinbrück hat bisher nur ein Papier für die Medien
mit viel Klamauk gemacht, aber einen eigenen Antrag
der SPD gibt es nicht. Vielleicht kommt einer von den
Grünen.
({2})
Jetzt komme ich zu der zweiten Frage, der nach den
Restrukturierungsfonds. Peer Steinbrück lässt hier von
seinen sozialdemokratischen Freunden vortragen, der
deutsche Restrukturierungsfonds sei nicht ausreichend
gefüllt. Gleichzeitig schlägt er vor, dass der Hauptzahler
in den deutschen Fonds künftig in einen europäischen
Restrukturierungsfonds einzahlen soll. Darüber müssen
Sie sich einmal mit Herrn Steinbrück unterhalten. Das
passt nämlich nicht zu dem, was Sie, Herr Zöllmer, hier
vorgetragen haben.
({3})
Dieser europäische Restrukturierungsfonds macht
doch nur dann Sinn, wenn es eine auf europäischer
Ebene exekutiv handelnde Instanz gibt, die in einer Rettungsnacht - wir wissen beide, wie so etwas abläuft; wir
waren zusammen im Untersuchungsausschuss zur Hypo
Real Estate - auch handeln kann. Einen europäischen
Fonds zu schaffen und in diesen die Hauptsummen einzuzahlen, aber am Ende niemanden zu haben, der in
einer Rettungssituation darüber entscheidet, wie restrukturiert wird, das ist Peer Steinbrücks Politik. Wir haben
da andere Vorstellungen. Wir wollen einen handlungsfähigen Staat haben, damit nicht am Ende der Steuerzahler
wieder die Zeche bezahlt, wie es bei dem Konzept von
Peer Steinbrück der Fall ist; die Zeche soll vielmehr aus
dem Restrukturierungsfonds bezahlt werden, den die
Banken gespeist haben. Das verbirgt sich hinter dem Antrag. Er dient dem Schutz der Steuerzahler, damit sie
nicht wieder sozialdemokratischer Deregulierungspolitik
preisgegeben werden.
({4})
- Man muss die Dinge klarrücken. Es hilft nichts, wenn
Sie sich die Welt schönreden. Noch einmal: Sie müssen
mit dieser Vergangenheit leben. Sie hatten die Verantwortung und haben sie leider nicht wahrgenommen.
({5})
Das, was wir in dem Bereich Leerverkaufsverbot auf
den Weg gebracht haben, ist eine Blaupause für Europa.
Jetzt geht es darum, dass die Beschlüsse, die auf europäischer Ebene gefasst worden sind, so konkretisiert werden, dass sie den Anforderungen genügen, die wir für
unser Land für wichtig und erforderlich halten. Das bedeutet für die europäische Aufsicht, dass es eine Einbeziehung der Europäischen Zentralbank geben kann, genauso wie wir national die Deutsche Bundesbank mit
ihrem Sachverstand und ihrer Kompetenz in die Beaufsichtigung einbeziehen. Aber selbstverständlich brauchen wir eine strikte Trennung zwischen Aufsichtspolitik und Geldpolitik, und das kommt in diesem Antrag
klar zum Ausdruck. Deswegen empfehle ich Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, diesem Antrag zuzustimmen.
Dieser Antrag ist wichtig. Er stellt wichtige Weichen
für eine solide, eine schlagkräftige europäische Aufsicht.
Deswegen ist keine Eile geboten, sondern Sorgfalt.
Wichtig ist auch, der Bundesregierung Rückendeckung
zu geben, sie in ihrer Haltung zu stärken, dass es nicht
darauf ankommt, jetzt ganz schnell eine europäische
Aufsicht zu schaffen, sondern darauf, eine solide, sorgfältig verhandelte europäische Aufsichtsinstanz auf den
Weg zu bringen. Darauf kommt es an.
Die weiteren Punkte sind schon genannt worden. Wir
wollen keine europäische Einlagensicherung, sondern
wir wollen nationale Verantwortung für die Einlagensicherung. Wir wollen keine Missachtung des Subsidiaritätsprinzips, zugleich jedoch die systemische Kontrolle
durch die europäische Instanz jederzeit gewährleisten.
Auch das kommt in dem Antrag zum Ausdruck. Wir lehnen außerdem - das habe ich schon deutlich gemacht die Schwächung der nationalen Restrukturierungsfonds,
wie Peer Steinbrück sie will, ab.
Ich glaube, dass wir mit diesem Konzept den richtigen Ansatz haben. Es wird nicht leicht sein, eine europäische Struktur aufzubauen; aber es ist notwendig. Wir
sind es den Menschen schuldig, die in der Vergangenheit
die Defizite der Aufsicht erlebt haben.
({6})
- Sie können ja darüber lächeln. Aber die Leute können
sich noch gut daran erinnern: Damals gab es keinen
Finanzminister, der verhindert hätte, dass die Steuerzahler einspringen müssen.
({7})
Wir stehen hinter der Bundesregierung. Wir unterstützen sie bei ihren Bemühungen auf europäischer Ebene.
({8})
Wir wissen dieses Projekt bei Bundesfinanzminister
Schäuble in guten Händen. Wir wissen, dass die Bundeskanzlerin eine außerordentlich starke Durchsetzungskraft auf europäischer Ebene hat. Nach Annahme dieses
Antrags wird sie mit voller Rückendeckung des Deutschen Bundestages auf europäischer Ebene verhandeln
können. Wir werden eine gute Aufsicht auf europäischer
Ebene bekommen, genauso wie wir mit dieser Regierung und dieser Koalition die beste nationale Finanzmarktregulierung bekommen haben, die wir jemals in
Deutschland hatten. Was Sie als Lücke hinterlassen
haben, konnten wir durch Kompetenz ausfüllen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Zöllmer hat bereits darauf hingewiesen,
dass wir durch die kurzfristige Einbringung eines neuen
Antrags auf einmal zwei völlig unterschiedliche Themenfelder zu behandeln haben. Ich will mich jetzt auf
diesen Antrag zur sogenannten Bankenunion konzentrieren, wobei ich keinen Hehl aus meiner Meinung zu diesem Begriff mache. In meiner Fraktion werde ich immer
gefragt, ob damit die bankenfreundliche Unionsfraktion
mit ihrer Lobbypolitik für Großbanken und den entsprechenden Spenden, die man bekommt, gemeint ist.
({0})
Der Begriff „Bankenunion“ ist also völlig fehl am Platz.
Mit diesem Begriff meint man aber in der Tat, dass ein
neues, gemeinsames europäisches System aus Aufsicht,
Einlagensicherung und Krisenmechanismen für die europäischen Banken gefunden werden soll.
Das Ganze ist kurzfristig verabredet worden in der
Nacht vom 28. auf den 29. Juni, als es darum ging, ob
auch spanische Banken Mittel aus dem ESM bekommen.
Da war die deutsche Verhandlungsposition: Das geht
nur, wenn es bis zum Jahresende eine europäische Bankenunion gibt. Dazu gibt es einen Vorschlag der Kommission, der in der Tat völlig unausgereift ist. Es war genau diese Bundesregierung, die auf dem nächsten Gipfel
gesagt hat: Das muss jetzt wieder weg. Das muss auf die
lange Bank geschoben werden, weil in der Tat völlig unklar ist, was hier wie in welcher Institution geregelt werden soll. - Das macht noch einmal deutlich, dass es dringend erforderlich ist, dass wir darüber im Bundestag
ausführlich diskutieren, statt uns in einer Sofortabstimmung, quasi am Finanzausschuss vorbei, mit diesem
Themenfeld zu beschäftigen.
({1})
In der Tat, wir brauchen eine solche europäische Bankenaufsicht. Aber wo die Aufsicht dann wirklich angesiedelt ist, ob sie bei der EZB oder bei der Europäischen
Bankaufsichtsbehörde, also bei der EBA, richtig angesiedelt ist, das muss man in Ruhe diskutieren. Es gibt auf
europäischer Ebene nämlich genau die gleichen Probleme wie in Deutschland. Im Koalitionsvertrag haben
Sie ja zunächst festgelegt, die nationale Bankenaufsicht
solle bei der Bundesbank angesiedelt werden. Doch
dann haben Sie andere Konsequenzen gezogen: Letztlich
haben Sie eine entsprechende Aufsicht bei der BaFin
organisiert.
Wir brauchen kurzfristig die Rekapitalisierung einiger
Banken aus gemeinsamen Mitteln, zum Beispiel über
den ESM. Aber das darf aus unserer Sicht natürlich nicht
mit völlig verfehlten Auflagen für die Staaten verbunden
sein,
({2})
und es muss in der Tat von den Verursachern der Krise
finanziert werden. Die Stichworte sind heute Morgen gefallen: Vermögensteuer, Vermögensabgabe, Finanztransaktionsteuer, Abgabe systemrelevanter Banken.
Wir müssen also dringend Maßnahmen ergreifen,
aber diese Maßnahmen werden nicht ausreichen. Neben
einem Bankenrettungsfonds müssen wir auch auf ein Zurechtstutzen der Größe der Banken abstellen und Banken
massiv verkleinern, um so das Systemrisiko herunterzufahren. Aus unserer Sicht - das wurde angesprochen ist der Vorschlag, Trennbanken einzuführen,
({3})
noch unzureichend. Ich glaube nämlich, man muss nicht
nur trennen, sondern bestimmte Geschäfte komplett unterbinden, erst entsprechend zusammenschrumpfen und
letztendlich verbieten.
({4})
Das heißt aus unserer Sicht - und das ist die Grundidee -, dass ein Finanz-TÜV einzurichten ist. Nur die
Bankgeschäfte sind dann erlaubt, die vorher genehmigt
worden sind, weil sie relevant, systematisch und sinnvoll
sind. Das muss sozusagen im Mittelpunkt stehen.
({5})
Ganz kurz zum EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz.
Natürlich ist dies vom Prinzip her eine vernünftige Aktivität - Sie haben sich auch lange genug und oft genug
dafür entsprechend gelobt -, aber das Gesetz ist unzureichend; Kollege Zöllmer hat auf viele Fehler hingewiesen. Es regelt schließlich nur einen kleinen Bruchteil des
gesamten Finanzmarktgeschäftes. Insofern gilt: Das
Haus brennt, aber Sie erlassen erst einmal Rauchverbote.
Das ist unzureichend, und deswegen werden wir uns in
diesem Fall auch enthalten. Die Grundrichtung stimmt
zwar, aber es reicht leider nicht.
Danke.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Dr. Gerhard Schick das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Punkte sind anzusprechen. Das eine ist das Thema
Leerverkäufe, das andere die Bankenunion.
Kurz zum ersten Thema: Es ist richtig, ungedeckte
Leerverkäufe zu verbieten; dieses findet jetzt bei Staatsanleihen statt. Deshalb sind weitere Schritte bei anderen
Finanzprodukten notwendig. Die Verordnung auf europäischer Ebene stellt mehr Transparenz her, und sie gibt
auch nationaler und europäischer Aufsicht entsprechende Befugnisse, um einzugreifen. Das ist richtig, und
wir Grünen haben uns im Europaparlament mit dem grünen Berichterstatter Pascal Canfin aktiv dafür eingesetzt,
dass es ein generelles Verbot ungedeckter Leerverkäufe
gibt und dass es auch klare Regeln für die Eindeckungsverfahren bei Leerverkäufen gibt, sodass Anreize für
schädliche Spekulationen verhindert werden.
Das sind wichtige Schritte, die auf europäischer
Ebene unter aktiver grüner Mitwirkung vorangebracht
worden sind. Jetzt haben wir in Deutschland die Umsetzung vor uns. Es ist wichtig, dass es jetzt vorangeht.
Aber der Fehler bleibt natürlich, dass Sie nicht die
BaFin, die Finanzaufsicht, damit beauftragen, das umzusetzen, sondern dass es den Börsen überlassen wird.
Sie machen immer wieder den Fehler, dass Sie auf die
eigeninteressierten Marktakteure vertrauen. Damit haben Sie genau das nicht aus der Krise gelernt, was in vielen Diskussionen - ich erinnere mich an einige Reden
hier - immer wieder gesagt worden ist: Die Selbstregulierung, auf die man vertraut hat, hat nicht funktioniert.
Daraus muss man Konsequenzen ziehen und muss zusehen, dass es wirklich unabhängige staatliche Aufsichtsbehörden gibt, die in den Markt eingreifen können.
({0})
Zum zweiten Punkt, der Bankenunion. Was Sie uns
heute vorgelegt haben, ist offensichtlich sehr kurzfristig
unter großer Hektik entstanden, sodass wir dieses Thema
heute in einer Art und Weise behandeln, die diesem
Thema und seiner Bedeutung nicht angemessen ist.
({1})
Es ist nicht nur so, dass es kurzfristig gemacht wurde.
Vielmehr waren beide Redner der Koalition nicht in der
Lage, die entscheidenden Fragen hier zu beantworten.
({2})
Die erste Frage, die ich gestellt habe, lautete: Wie sehen die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten für
das Europäische Parlament aus? Man muss doch eine
Verhandlungslinie haben, wenn man der Bundesregierung irgendetwas mitgibt. Das kann doch nicht ein bisschen Blubb-blubb sein. Vielmehr besteht die zentrale
Herausforderung darin, dass trotz dieser neuen Mechanismen in Europa die Demokratie nicht auf der Strecke
bleibt.
Deswegen will ich die Frage für unsere Fraktion beantworten: Wir wollen, dass das Europäische Parlament
bei den Stellenbesetzungen im Bereich Bankenaufsicht
konkrete Mitwirkungsrechte erhält. Wir wollen, dass die
Europäische Zentralbank im Bereich Bankenaufsicht
dem Europäischen Parlament Auskünfte geben muss,
also eine klare Auskunftspflicht besteht, sodass es nicht
im Ermessen der Zentralbank steht, was sie erzählt. Wir
wollen, dass es die Pflicht zur regelmäßigen Berichterstattung gibt. Das muss ganz klar festgelegt werden. Es
wäre notwendig, dies in einem solchen Antrag ganz klar
darzustellen.
({3})
- Das steht da so allgemein, dass Sie alles Mögliche darunter fassen können.
({4})
Die zweite Frage lautete: Welche Banken sind denn
drin? - An dieser Stelle ist es ganz wichtig, noch einmal
zurückzublicken. Im Jahr 2008 gab es bereits den Vorschlag, auf europäischer Ebene gemeinsam die Restrukturierung, Abwicklung oder Sanierung von Banken vorzunehmen. Die deutsche Bundesregierung, damals von
der Großen Koalition getragen, hat das abgelehnt. Das
ist einer der zentralen Fehler im Krisenmanagement gewesen.
Im Jahr 2010 hat das Europäische Parlament vorgeschlagen, den europäischen Aufsichtsbehörden klare
Durchgriffsrechte zu geben und Großbanken unmittelbar
auf europäischer Ebene zu beaufsichtigen. Die deutsche
Bundesregierung, damals schon von Schwarz-Gelb getragen, war dagegen.
Jetzt endlich sind Sie auch darauf gekommen, dass es
eine europäische Aufsicht braucht, wenn man eine Augenhöhe zwischen Großbanken und staatlicher Aufsicht
hinbekommen will. Ihre Erkenntnis kommt sehr, sehr
spät. Es ist eine 180-Grad-Wende. Hoffen wir, dass es
diesmal gelingt.
({5})
Unser Vorbild ist, dass es in den USA gelungen ist,
mehr als 450 Regionalbanken abzuwickeln, statt mit
dem Geld der Steuerzahler zu retten;
({6})
für diese Banken mussten die Steuerzahler nicht aufkommen. Das muss auch in Europa das Ziel sein. Jetzt
stehen Sie allerdings wieder auf der Bremse und machen
nicht klar, was Sie wollen. Sie sagen, es soll doch irgendwie nicht richtig europäisch sein. Nach den Antworten von Herrn Brinkhaus und Herrn Wissing ist völlig unklar geblieben, wie das Verhältnis zwischen dem
europäischen und den nationalen Restrukturierungsfonds
aussehen soll. Unsere Vorstellung ist: Es gibt einen europäischen Restrukturierungsfonds, der in der Lage ist,
auch größere Banken abzuwickeln.
Die nächste Frage lautete: Wer ist von der Aufsicht eigentlich eingeschlossen? Ich möchte die konkret gestellte Frage für unsere Fraktion beantworten: Institute
wie die Landesbanken gehören unter eine europäische
Aufsicht, weil sie eben nicht klar abgegrenzte regionale
Geschäftstätigkeiten ausüben, so wie kleine Sparkassen,
und weil sie von den hiesigen Institutssicherungen im
Zweifelsfall nicht gerettet werden könnten. Dieses genau
müssen wir tun.
Ich fordere Sie auf, mit mehr Klarheit heranzugehen
und vor allem die Perspektive für einen europäischen
Restrukturierungsfonds, für klare demokratische Kontrolle und für eine Aufsicht, die wirklich Durchgriffsrechte hat, zu unterstützen und nicht wieder wie 2008
und 2010 auf der Bremse zu stehen. Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10854, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/9665 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDPFraktion bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
({0})
- Enthaltung der Oppositionsfraktionen, Entschuldigung. Das war schon einmal der Aufmerksamkeitstest.
Wir kommen nachher noch zu sehr vielen Abstimmungen. Ich bedanke mich für den Hinweis.
Zusatzpunkt 7. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/10781 mit dem Titel „Bankenunion Subsidiaritätsgrundsatz beachten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit bekämpfen
- Drucksachen 17/5759, 17/6930 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Pascal Kober
Katrin Werner
Volker Beck ({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6930,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5759 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke,
Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Joachim Günther ({4}),
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwicklung durch Wachstum - Der Beitrag
der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der
Millenniumsziele
- Drucksachen 17/9423, 17/9892 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Sascha Raabe
Joachim Günther ({5})
Heike Hänsel
Ute Koczy
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind auch hier einverstanden.1)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9892, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf Drucksache 17/9423 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({6}), Volker Beck ({7}), Marieluise
Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen Konflikt erhalten Entwicklung der C-Gebiete in der Westbank
fördern - Abrissverfügungen für Solaranlagen
stoppen
- Drucksache 17/9981 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({10}), Volker Beck ({11}), Marieluise
Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zwei-Staaten-Perspektive für eine friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen
Konflikts retten
- Drucksache 17/10640 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben bereits vor einem Jahr über den palästinensischen Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationen
debattiert. In diesem Monat, gerade in dieser Woche, findet wiederum die UN-Generalvollversammlung statt. Zu
diesem Zeitpunkt ist dieses Anliegen völlig in den Hintergrund getreten, nicht nur, weil Iran und Syrien die
Nahostdebatte inzwischen dominieren, sondern auch
- das muss man ganz klar und generell sagen -, weil das
vergangene Jahr für eine friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes ein verlorenes Jahr
war. Es war wieder einmal ein Jahr ohne substanzielle
Friedensverhandlungen. Es war ein Jahr von weiterem
massiven Siedlungsausbau und verstärken Angriffen
durch israelische Siedler. Es war auch ein Jahr der dramatischen Verschlechterung der Wirtschaftslage in der
Westbank.
Man muss festhalten, dass es 19 Jahre nach Oslo immer noch keinen palästinensischen Staat gibt. Im Gegenteil: Das international akzeptierte Konzept von zwei
Staaten zur Regelung des Konfliktes verkommt immer
mehr zur Bedeutungslosigkeit. Alternativen sind nicht in
Sicht. Auch deshalb haben wir uns heute entschlossen,
noch einmal zwei Anträge für die Zweit-Staaten-Regelung in den Bundestag einzubringen.
({0})
Es gibt keinen palästinensischen Staat. Es gibt in Zonen geteilte palästinensische Gebiete. Es gibt den Gazastreifen, der von der Hamas beherrscht wird. Dann gibt
es die Westbank, die in drei Zonen geteilt ist: Zone A
wird komplett von den Palästinensern kontrolliert. Zone
B kontrollieren zwar die Palästinenser, aber die Israelis
sind für die Sicherheit verantwortlich. Zone C wird allein von israelischer Seite kontrolliert; sie umfasst immerhin 62 Prozent der Westbank.
Ich habe im März dieses Jahres ein palästinensisches
Dorf in der Zone C besucht. Sie kennen meine Position
zum Nahostkonflikt; ich sehe vieles durchaus auch kritisch. Aber die Lebensbedingungen der Palästinenser in
dieser Zone C sind wirklich erschütternd.
({1})
Sie sind erschütternd, und trotzdem gibt es dort Projekte,
die auch Hoffnung machen. In diesem Dorf beispiels-
weise wurde die Versorgung mit elektrischem Strom
durch ein Windrad und durch Solarpanels sichergestellt.
Es handelt sich um ein sehr kleines Projekt von wenigen
Israelis - medico international -, finanziert durch das
Auswärtige Amt.
Dieses Projekt ist wie andere Projekte diese Art, die
von der EU unterstützt werden, nun vom Abriss der ent-
sprechenden Anlagen bedroht. Warum? In den C-Gebie-
ten gibt es keine Bebauungspläne. Die Palästinenser
können keine Anträge auf Baugenehmigungen stellen;
deshalb werden solche Projekte illegal durchgeführt, und
dann kommt es eben zu jenen Abrissverfügungen.1) Anlage 4
Kerstin Müller ({2})
Warum berichte ich davon? Nach Aussage aller Experten ist völlig klar: Ohne die Entwicklung der C-Gebiete wird es keinen lebensfähigen palästinensischen
Staat oder ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum
für einen solchen noch zu gründenden Staat geben.
({3})
Deshalb habe ich mich entschlossen, hierzu einen Antrag zu erarbeiten, wenngleich die Hintergründe allgemein kaum bekannt sind. Es gibt nämlich Versorgung in
den C-Gebieten. Die findet aber nur für die jüdischen
Siedler statt, nämlich für den massiven Ausbau ihrer
Siedlungen, der dort leider betrieben wird.
Wenn wir zusammen mit der internationalen Gemeinschaft an der Zwei-Staaten-Regelung festhalten wollen,
wenn wir sagen, dass es dazu keine Alternative gibt,
dann muss der israelischen Seite unmissverständlich
klargemacht werden, dass ihre Politik in den C-Gebieten, die auf eine Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung hinausläuft - viele dieser Menschen verlassen
diese Gebiete nämlich -, absolut inakzeptabel ist.
({4})
Es muss auch hier endlich demokratische Planungsverfahren geben, die in die Verantwortung der palästinensischen Autonomiebehörde gehören. Die Abrissverfügungen müssen gestoppt werden. Eine Politik „on the
ground“, die die internationale Politik unterminiert,
muss beendet werden.
Darüber hinaus muss die EU auch endlich zu einem
gemeinsamen Handeln kommen. Die Palästinenser werden in der UN-Generalversammlung zunächst einmal die
Aufwertung ihres Status beantragen. Dafür werden sie
eine Mehrheit bekommen. Ich glaube jedoch, dass es unabhängig von dieser Mehrheit wichtig ist, dass gerade
die Europäer an dieser Stelle einmal gemeinsam Zustimmung signalisieren, weil diese natürlich noch ein ganz
anderes Gewicht in diesem Konflikt hat. Die Palästinenser warten jedenfalls darauf.
Ich hoffe, dass es weitere Initiativen gibt, dass wir
weiter in diesem Sinne handeln werden. Die Vorstellung,
in der derzeitigen Lage ließe sich wegen der Unsicherheiten im Hinblick auf den palästinensischen Konflikt
nichts machen, ist nach meiner Überzeugung ebenso
falsch wie die Vorstellung, dass Fortschritte bei der Regelung automatisch zu einer Lösung der vielfältigen
Spannungen und Konflikte führen würden. Dennoch
müssen wir daran arbeiten.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Jürgen Klimke hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum Abschluss seiner
Nahostreise im Mai dieses Jahres hat Bundespräsident
Gauck das Recht der Palästinenser auf einen eigenen
Staat betont - ich zitiere -:
Deutschland bekennt sich nachdrücklich zur ZweiStaaten-Lösung und unterstützt die Schaffung eines
eigenständigen palästinensischen Staates.
Diese Meinung unseres Staatsoberhaupts steht damit
auch in der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik.
Klar ist: Die vielfältigen Probleme das Nahen Ostens
gehören alle zusammen, doch ist für uns die Lösung der
Zwei-Staaten-Frage im Nahen Osten das wichtigste Element, um den gordischen Knoten zu zerschlagen. Unsere
Bemühungen sind immer wieder auf Wiederaufnahme
direkter Verhandlungen gerichtet, egal wie sprachlos
beide Seiten zurzeit miteinander umgehen. Ein solcher
Verhandlungsprozess steht für uns im Mittelpunkt; denn
die Lösung des Gesamtkonflikts lässt sich nur mit diesen
Mitteln erreichen.
Die Augen der Weltöffentlichkeit sind derzeit auf den
Bürgerkrieg in Syrien gerichtet. Trotzdem dürfen wir die
Sicherheit Israels, die für die CDU/CSU zur Staatsräson
gehört, niemals aus den Augen verlieren. Für dieses
Selbstverständnis gibt es viele ähnliche Formulierungen.
Ich halte nichts davon, in jeder etwas anderen Formulierung eine Verstärkung oder eine Abschwächung dieser
Aussage zu sehen. Die Aussage ist nämlich klar.
Ich bin angesichts der jüngsten Entwicklungen überzeugt: Auch der Nahostkonflikt kann und darf nicht ungelöst bleiben. Anders gesagt: Die Wiederaufnahme der
Verhandlungen duldet keinen Aufschub. Der jetzige
Stillstand hilft niemandem. Aber klar ist auch: Eine tragfähige Lösung erfordert politische Entschlossenheit; sie
erfordert schmerzhafte Kompromisse, und zwar auf beiden Seiten.
Das Ziel müssen zwei Staaten sein: ein demokratischer jüdischer Staat Israel Seite an Seite mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat. Wo immer Deutschland und Europa zusammen mit den USA diesen Prozess
unterstützen können, werden wir das tun; wir unterstützen alles, was den berechtigten Belangen des palästinensischen Volkes entspricht und Rechnung trägt.
Hier geht es um Fragen, die beantwortet werden können, wenn beide Seiten aufeinander zugehen und die
Rechte des jeweils anderen anerkennen und akzeptieren.
Es sind keine leichten Fragen; es sind aber auch keine
abstrakten Fragen. Es sind vielmehr Fragen von sehr
großer Aktualität, die uns alle unmittelbar betreffen.
Nicht alle diese Fragen können wir heute oder morgen
abschließend beantworten.
Verantwortung ist kein Automatismus. Sie bewährt
sich nicht im Falle von Ankündigungen, sondern eher in
einer konkreten Situation. Das Denken in Wenn-dannSätzen wirkt im Nahen Osten eskalierend, vor allem
auch das vorherige öffentliche Ziehen von roten Linien.
„Der Unterschied zwischen Europa und dem Nahen
Osten“, so hat es der israelische Schriftsteller Amos Oz
vor wenigen Wochen in einem Interview mit der Welt gesagt, „ist der Unterschied zwischen Frieden und Krieg.“
Damit hat er wohl recht: Der Nahe Osten ist heute eine
der explosivsten Regionen der Welt, Europa erlebt hingegen eine historisch einmalige Periode des Friedens.
Meine Damen und Herren, nur weil bei uns Frieden
herrscht, dürfen wir nicht nachlässig werden.
Die Hauptfrage ist jedoch: Wo setzen wir an? Diese
Frage stellen auch die Grünen in ihren Anträgen. Wir bedanken uns für den Beitrag. Wir setzen in diesem Bereich aber schon seit Jahren eigene Prioritäten, entsprechend der Überzeugung der Kanzlerin. Nach dieser
Überzeugung geht es um Verständigung und vor allem
um gegenseitigen Respekt. Klare Kante: Die Palästinenser verzichten auf Gewalt, und die palästinensische Führung erkennt Israel an; Israel verzichtet auf den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten.
({0})
Meine Damen und Herren, unser gemeinsames Engagement geht jedoch über diesen Grundsatz hinaus: Wir
sorgen für anhaltende humanitäre Hilfe, Verhütung des
illegalen Handels mit Waffen und Munition, dauerhafte
Öffnung der Grenzübergänge, Instandsetzung und Wiederaufbau von Infrastruktur, Förderung der innerpalästinensischen Versöhnung sowie Unterstützung der EU
Border Assistance Mission im Bereich der Grenzkontrollen.
Für die Unionsfraktion ist jedoch eines klar - hier
liegt im Übrigen der Unterschied zu den Grünen -: Einen unabhängigen demokratischen und lebensfähigen
Staat Palästina kann es nur ohne völkerrechtliches Präjudiz geben. Alle Maßnahmen, die einen palästinensischen
Staat präjudizieren, wie etwa die Aufnahme eines derzeit
nicht existenten Staates Palästina in die UNESCO im
Oktober 2011, sind deshalb abzulehnen. Deutschland hat
gemeinsam mit seinen Verbündeten gegen eine Aufnahme gestimmt.
Weitere Hinderungsgründe für das Erreichen einer
Zwei-Staaten-Lösung liegen im palästinensischen
Schisma zwischen der Hamas im Gazastreifen und der
Fatah im Westjordanland. Solange die Palästinenser
nicht mit einer Stimme sprechen, kann es keine ZweiStaaten-Lösung geben. Wenn im Antrag der Grünen gefordert wird, dass der Bundestag die Aufnahme Palästinas in die UNO unterstützen soll, so ist allein das für uns
ein Grund zur Ablehnung.
Meine Damen und Herren, der Friedensprozess im
Nahen Osten ist ein langwieriger Prozess. Deutschland
nimmt hier auf verschiedensten Kanälen seine Verantwortung wahr. Dazu gehören auch Aufforderungen der
Bundesregierung an Israel, den Bau neuer Häuser in den
Palästinensergebieten zu überdenken.
In der vorliegenden Form sind beide Anträge nicht
zustimmungsfähig, weil die Umsetzung der Forderungen
wiederum Fakten schaffen würde, anstatt einen offenen
Verhandlungsprozess zu ermöglichen.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Rolf Mützenich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass es noch immer
israelische Bürgerinnen und Bürger gibt, die auf der einen Seite eine Debatte über die Voraussetzung für eine
Zwei-Staaten-Lösung in Israel selbst führen und auf der
anderen Seite auch über die bisherigen Versäumnisse auf
dem Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung sprechen.
Ich bin beeindruckt gewesen, dass zum Beispiel ehemalige israelische Soldaten mit einer wichtigen Fotoausstellung, die bis Ende September im Willy-Brandt-Haus
hier in Berlin gezeigt wird, auf das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser aufmerksam machen.
({0})
Es gehört zum Bau einer Friedensbrücke mit dazu, dass
sich die Menschen mit wachen Augen begegnen, und dafür gilt mein Dank.
Die Rahmenbedingungen, zu einer Friedenslösung
zwischen Palästina und Israel zu kommen, sind in den
letzten Jahren in der Tat schwieriger geworden. Der
amerikanische Präsident Obama hat zumindest am Anfang seiner Amtszeit versucht, im Rahmen seiner Möglichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die
Gespräche wieder aufgenommen werden.
Die Spaltung der palästinensischen Bewegung ist ein
Hindernis auf diesem Weg, aber es hat in den letzten
Monaten nach meinem Dafürhalten durchaus den Versuch gegeben, insbesondere Präsident Abbas zu legitimieren, wieder Friedensverhandlungen zu führen.
Im Nahen und Mittleren Osten liegt der Fokus auf den
Umbrüchen in der arabischen Welt und insbesondere auf
der humanitären Katastrophe in Syrien. Dennoch hat es
unter diesen schwierigen Bedingungen Chancen gegeben. Leider hat es die Bundesregierung versäumt, diese
Chancen zu ergreifen. Ich will in diesem Zusammenhang auf drei Punkte aufmerksam machen.
Erster Punkt. Wir hatten die Chance einer Aufwertung der palästinensischen Vertretung hier in Deutschland. Ich unterstelle dem Außenminister durchaus guten
Willen, aber ich glaube, er ist am Bundeskanzleramt und
letztlich an der Bundeskanzlerin gescheitert. Es gehört
zu einer ehrlichen Debatte mit dazu, zuzugeben, dass wir
hier die große Chance verpasst haben, der deutschen
Verantwortung zumindest durch eine leichte Aufwertung
der Palästinenser gerecht zu werden und auf die Interes23492
sen beider Staaten einzugehen. Ich finde, Sie hätten dies
tun können.
({1})
Zweiter Punkt. Hierüber hat es eine Debatte gegeben.
Wir von der SPD haben dazu einen Antrag eingebracht.
Es wäre gut gewesen, in den Unterorganisationen der
Vereinten Nationen eine gemeinsame Haltung der Europäischen Union zum Status Palästinas zu erarbeiten. Das
haben Sie nicht geschafft. Sie haben zum Beispiel auch
dagegen gestimmt, dass Palästina eine wichtige Rolle in
der UNESCO wahrnimmt. Dafür hat es aber eine Mehrheit gegeben, wir waren auf der Ebene der Vereinten Nationen erneut in der Minderheit. Auch hier ist eine große
Chance aufseiten der Bundesregierung verpasst worden,
sozusagen leichte, neue Stützpfeiler für die Friedensbrücke aufzubauen.
({2})
Dritter Punkt. Nach dem Gaza-Krieg - dieser Meinung waren wir alle - gab es verschiedene Möglichkeiten, auch Möglichkeiten aufseiten der israelischen Regierung. Ich sage ganz bewusst: der israelischen
Regierung, weil ich in Israel andere Menschen, viele
Politiker, aber insbesondere eine lebhafte Zivilgesellschaft, kennengelernt habe. Das Upgrade des Assoziierungsabkommens mit der EU ist wegen der Blockade
des Gaza-Streifens und wegen des fortgeführten Baus
von Siedlungen ausgesetzt worden. Was haben wir im
Sommer erlebt? Es wurden 60 Punkte für ein neues Upgrade beschlossen. Ich finde, Sie haben damit leichtfertig ein Instrument aus der Hand gegeben, mit dem Sie
dafür hätten sorgen können, dass die israelische Regierung ihr Verhalten ändert;
({3})
denn die israelische Regierung braucht die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union.
In der Tat versperrt der Siedlungsbau alle Wege in
Richtung Frieden. Ich glaube, dass sollte vom Deutschen
Bundestag sehr deutlich gesagt werden.
({4})
Ich gönne dem Außenminister das Lob des Generalsekretärs der Arabischen Liga, das er, glaube ich, gestern
im Sicherheitsrat ausgesprochen hat. Ich habe überhaupt
keine Bedenken bei diesem Lob, aber vielleicht sollte
sich die Bundesregierung fragen, ob dies möglicherweise ein vergiftetes Lob war. Er hat nämlich Taten anstatt Worte gefordert, und genau daran mangelt es. Das
wird deutlich, wenn man an diese Fragen erinnert. Ich
glaube, der Bundesaußenminister sollte nicht immer nur
gute Worte im Munde führen, sondern er sollte sich
letztlich auch für Taten einsetzen. Daran mangelt es in
der deutschen Politik, und daran wird gerade in diesem
Zusammenhang Kritik geübt.
Wir alle wollen die Sicherheit Israels. Ich glaube,
diesbezüglich gibt es über alle Fraktionsgrenzen hinweg
überhaupt keine Differenz.
({5})
- In einem demokratischen Gemeinwesen müssen Sie
Unterschiede anerkennen. - Dennoch besteht in einem
demokratischen Parlament die Möglichkeit, dass wir bezogen auf einzelne Aspekte gemeinsame Anträge einbringen. So haben wir in den letzten Jahren hier einige
Dinge gemeinsam beschlossen. Manchmal haben wir
wortgleiche Anträge eingebracht, weil der eine oder andere nicht alle Fraktionen mit dabei haben wollte. Ich
glaube, das war ein gutes Signal des Deutschen Bundestages, aber leider hat die Bundesregierung auch diese
Chance nicht ergriffen.
Wenn wir wollen, dass die Menschen in Israel in Sicherheit leben, dann müssen wir die israelischen Partner
und die israelische Regierung fragen, mit wem sie glaubt
in Zukunft einen Frieden schließen zu können, wenn
nicht mit diesem palästinensischen Präsidenten. Sie wird
auf keinen anderen stoßen, der die Hand ausstreckt. Ich
war erschüttert über seine Rede heute vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Daraus hat Frustration, daraus hat Hilflosigkeit und auch Resignation
gesprochen. Wir werden uns noch wundern, was passiert, wenn dieser palästinensische Präsident Israel nicht
mehr die Hand reichen kann, weil er nicht mehr die
Kraft dazu hat und zurücktritt. Ich finde, die deutsche
Bundesregierung täte gut daran, den Worten Taten folgen zu lassen, damit eine der letzten Chancen möglicherweise genutzt werden kann.
({6})
Deswegen möchte ich daran erinnern, dass die tatsächliche Entwicklung auf das Ende der Zwei-StaatenLösung hinausläuft. Schon 1999 hat der damalige und
heutige Verteidigungsminister Barak geäußert, Israel
könne weder als demokratischer noch als jüdischer Staat
überleben, wenn die Zwei-Staaten-Lösung scheitert. Unklar ist mir, ob er heute noch so denkt; aber seine Mahnung ist nach wie vor angebracht und bleibt aktuell.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor zwei Stunden hat in New York Präsident Abbas gesprochen. Vor ungefähr einer Stunde hat Herr Netanjahu
gesprochen. Das Ganze findet in einem Kontext statt, der
uns allen zunehmend Angst machen muss: Kriegsrhetorik ist alltäglich geworden; es wird täglich darüber geDr. Rainer Stinner
sprochen, dass Angriffe unmittelbar bevorstehen. Aus
dem Iran hören wir zum Beispiel immer wieder, dass
dieses zionistische Regime vernichtet werden muss.
Volker Perthes hat neulich in einem Beitrag in der
Süddeutschen Zeitung eine Analogie zu 1914 gezogen.
Damals haben viele Kräfte über Krieg gesprochen. Sie
haben den Krieg quasi herbeigeredet, und dann ist dieser
furchtbare Krieg ausgebrochen. Ich glaube, das sind
Dinge, die uns gemeinsam bewegen müssen. Wir müssen sehen, in welchem Kontext über den Konflikt, über
den wir heute debattieren, gesprochen wird.
Angesichts des Tenors der beiden Anträge, in denen
vieles Richtige steht - das ist gar keine Frage -, muss ich
das wiederholen, was ich in jeder Rede zu diesem
Thema sage: Wir müssen verstehen, dass im Zentrum jeder israelischen Politik die Sicherheit des Staates Israel
stehen muss.
({0})
Wir müssen verstehen, dass die Lage in Israel außerordentlich sensitiv ist. Jeden Tag - das weiß die Öffentlichkeit nicht, weil das nicht immer in der Zeitung steht werden Raketen auf Israel abgefeuert. Und wir wissen,
dass im Südlibanon ein Arsenal von mehr als 45 000
hochmodernen Raketen vorhanden ist, die Israel bedrohen.
({1})
Das ist der Kontext, in dem Israel reagiert.
Nun stimme ich durchaus der Auffassung zu, dass die
israelische Siedlungspolitik sehr kontraproduktiv ist. Sie
ist völkerrechtswidrig. Die Bundesregierung sagt das
deutlich, und zwar nicht nur allein, sondern im europäischen Verbund und auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Es ist völlig richtig, dass die Siedlungspolitik ein
Hindernis ist.
Man muss sich fragen, was man mit solchen Anträgen
bewirkt. Glauben Sie, dass Sie mit diesen Anträgen
wirklich etwas erreichen und die Situation verbessern?
Ich glaube, das ist nicht der Fall.
({2})
Man muss diese Anträge in einen Kontext stellen,
zum Beispiel in den Kontext, den Herr Mützenich eben
richtigerweise angesprochen hat. Nach meinem Dafürhalten - ich glaube, dieses teilen viele hier in diesem
Haus, auch wenn es in den Anträgen nicht zum Ausdruck kommt - ist die Zwei-Staaten-Lösung in Gefahr,
uns zwischen den Fingern zu zerrinnen. Wir halten jetzt
hier die Schimäre aufrecht, dass das ein Ziel ist, das wir
noch erreichen können, und doch wird es von Tag zu Tag
unwahrscheinlicher, dass wir es erreichen. Wir müssen
den Gesamtkontext sehen. Diesen können wir nur betrachten, wenn wir wissen, in welcher Weise wir etwas
erreichen können.
Wir wissen - ich spreche jetzt den zweiten Antrag, in
dem es um den Status Palästinas geht, an -, dass wir
nichts erreichen können, wenn wir nur einseitig Palästina aufwerten und Palästina die Mitgliedschaft in der
UNO verschaffen wollen, wie dies in Ihrem Antrag
steht. Vielmehr müssen wir sagen, dass man nur gemeinsam etwas erreichen kann. Ich bin dafür - und das habe
ich schon vor einem Jahr hier gesagt; ich bitte die Bundesregierung, dies auch durchzusetzen -, den Status Palästinas aufzuwerten. Ich habe mich schon vor einem
Jahr für den Status ausgesprochen, den Sie leider immer
noch als Vatikan-Status bezeichnen. Das klingt etwas
verniedlichend. Das ist der Deutschland-Status, unter
dem wir jahrzehntelang gelebt haben, und das ist auch
der Schweiz-Status.
({3})
- Ja, richtig, aber diese Bezeichnung wird der Situation
nicht gerecht. - Es ist eben kein Status nur für sehr
kleine Staaten, sondern dieser Sonderstatus ist auch für
große Staaten veritabel. Ich bin dafür, dass wir als nächsten Schritt diesen Status einführen. Ich hoffe, dass die
Bundesregierung die Kraft findet, diesen Schritt zu gehen und die europäischen Staaten hier entsprechend mitzunehmen.
Ich spreche mich aber, liebe Frau Kollegin Müller, gegen Ihre weitergehenden Forderungen aus, die Sie erhoben haben. Das werden wir in den Ausschüssen beraten.
In dieser Form ist der Antrag für uns bisher nicht zustimmungsfähig.
In dem ersten Antrag, also dem Antrag zu den C-Gebieten, steht auch sehr viel Richtiges. Ich habe meine
Meinung zur Siedlungspolitik hier sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht. Das war unmissverständlich, das hat
jeder gehört und kann jeder nachlesen. Das ist gar keine
Frage. Aber ich glaube, dass Sie auch mit diesem Antrag
nichts erreichen können, weil Sie der Komplexität des
Problems und der gesamten Situation und Sicherheitslage der Region mit diesem Antrag nicht gerecht werden. Deshalb befürchte ich, dass wir auch diesen Antrag,
wenn er nach Debatten im Ausschuss nicht verändert
wird, ablehnen werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Schönen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um das auszugleichen, was Kollege
Stinner eben gesagt hat, möchte ich am Anfang ankündigen, dass wir den beiden Anträgen zustimmen werden,
weil sie politisch richtig und vernünftig sind.
({0})
Darüber sollte man auch nicht entlang von Parteigrenzen
debattieren.
Ich muss Ihnen sagen: Es hat mich unendlich traurig
gestimmt, einen völlig resignierten und verzweifelten
Präsidenten Abbas vor den Vereinten Nationen zu sehen.
Es ist mir zu Herzen gegangen, diesen Mann, der - auch
in den eigenen Reihen - so lange für einen Ausgleich
zwischen Palästinensern und Israelis gekämpft hat, in
dieser Verfassung zu sehen. Am Ende bleibt ihm eigentlich nur noch die Botschaft: Wir schmeißen alles hin. Das darf man so nicht weitertreiben.
({1})
Ich war gerade wieder einmal in Israel und Palästina.
Ich rede mir ja selber Mut zu: Meine Erfahrung ist, dass
auch die Menschen in Israel einem zu Recht erklären:
Die Zwei-Staaten-Lösung ist die beste Lösung, die man
erhalten kann. Alle Eckpunkte der Zwei-Staaten-Lösung
liegen vor, aber niemand glaubt mehr an ihre Umsetzung. Das ist das eigentliche Problem. Ich möchte, dass
wir den Glauben an die Zwei-Staaten-Lösung erneuern
und politisch untermauern; denn wir brauchen sie, um
Stabilität zu erhalten.
Deswegen nenne ich Ihnen zuerst ein positives Beispiel, das mich sehr glücklich gestimmt hat. Ich habe
zwei Jahre lang mit jüdischen Freunden aus Israel und
mit Palästinensern an einer Ausstellung von jungen
Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet, die unter dem
Namen „Wonderland“, Wunderland, in Haifa eröffnet
worden ist. Sie wird im Februar 2013 im Bundestag gezeigt. Das ist für mich ein Projekt, mit dem man praktisch nachweisen kann, dass Palästinenserinnen und Palästinenser sowie Jüdinnen und Juden an einer gemeinsamen Sache arbeiten können und dass dadurch alle reicher und klüger werden.
Ich möchte dieses Beispiel auf die staatliche Ebene
übertragen. Durch die Zwei-Staaten-Lösung gewinnen in
einem solchen Prozess alle, wenn man sie ernsthaft will
und nicht nur darüber redet. Hören Sie sich nur die Reden von Netanjahu an. Er spricht zwar von einer ZweiStaaten-Lösung. Aber schon in seinen Reden wird deutlich, dass er politisch das Gegenteil betreibt; in der politischen Praxis wird das erst recht deutlich. Was Netanjahu
vorschlägt, ist ein Israel bis an die Grenzen des Jordans,
das mithilfe von Siedlungen durchgesetzt werden soll.
Es reicht aber nicht, nur verbal gegen diese Siedlungen
zu protestieren, sondern man muss auch klarmachen,
dass diese Siedlungen das Ende der Zwei-Staaten-Lösung bedeuten.
Die Palästinenser haben angeboten, dass sie, was die
Siedlerinnen und Siedler betrifft, eine Zweistaatlichkeit
für möglich halten, dass sie also die israelische und die
palästinensische Staatsbürgerschaft haben könnten. Hier
passiert also sehr viel. Ich bin glücklich, dass die Palästinenser nicht zu einer neuen Intifada aufrufen, sondern
versuchen, das Prinzip der Gewaltfreiheit in der Politik
durchzusetzen. Wäre es nicht notwendig, dass dieses
Parlament endlich einmal sagt: „Das ist eine richtige
Entscheidung, und wir helfen euch dabei, eure Rechte zu
verteidigen“? Solche Signale brauchen wir.
({2})
Das Grundproblem ist die Besatzung. Die Besatzung
muss beendet werden. Kerstin Müller und ich waren im
gleichen Ort; Susa heißt die kleine Stadt. Wer in Hebron
an der Grenze gestanden hat, versteht, dass es so nicht
weitergehen kann. Ich finde, das müssen auch wir als
Mitglieder des Deutschen Bundestages Israel sehr deutlich sagen.
Ich erwarte von der Bundesregierung - es ist übrigens
interessant, dass niemand hierzu etwas gesagt hat -, dass
man in der Vollversammlung der Vereinten Nationen
dem minimalen Vorschlag, den Palästinensern einen Beobachterstatus zu verleihen - das ist der sogenannte Vatikan-Status -, zustimmen wird und dass man in Europa
dafür wirbt, damit man endlich einen Schritt vorankommt.
({3})
Was wollen Sie Präsident Abbas denn anbieten? Was
soll er seinen Leuten sagen, wenn es um die Gewaltfreiheit geht? Er hat doch nichts in der Tasche, und ihm ist
nichts in die Tasche gesteckt worden. Das sind die
Dinge, die geändert werden müssen. Ich möchte, dass
wir diesen Mut zusammen aufbringen.
Ich freue mich über die Ausstellung im Willy-BrandtHaus mit dem Titel „Das Schweigen brechen“. Ich war
da und muss sagen: Das ist eine sehr beeindruckende
Ausstellung. Ich finde es toll, dass das Willy-BrandtHaus der Gastgeber ist. Im Bundestag werden wir im
Rahmen der Ausstellung „Wonderland“ sehen können,
wie ein politischer Konflikt kulturell verarbeitet wird.
Ich lade Sie dazu ein und bitte Sie, solche gemeinsamen
Projekte zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon fast ein Ritual: Es ist September, in New
York tagt die Generalversammlung der Vereinten Nationen, und wir diskutieren im Deutschen Bundestag zum
wiederholten Mal über den israelisch-palästinensischen
Konflikt.
Noch vor einem Jahr hat Präsident Abbas seine Initiative gestartet, die Palästinensische Autonomiebehörde
als ordentliches Mitglied in die Vereinten Nationen aufzunehmen. Ein Unterausschuss der Vereinten Nationen
hat festgestellt, dass es nicht möglich sei, eine einstimmige Empfehlung zu diesem Antrag abzugeben. Seither
wird dieses Anliegen von palästinensischer Seite nicht
weiter forciert. Es ist auch fraglich, ob es dafür eine Zustimmung im Sicherheitsrat geben würde.
Trotzdem unternimmt die palästinensische Seite erneut den Versuch einer Internationalisierung des Konflikts, und sie unternimmt einen erneuten Anlauf auf
dem New Yorker Parkett. Der Sinn scheint mir nicht
ganz klar zu sein, auch wenn natürlich zu erwarten ist,
dass man die Anerkennung als staatliches Nichtmitglied
anstrebt. Klar ist aber, dass Deutschland einem einseitigen Vorstoß auch weiterhin nicht wird zustimmen können. Das ist die konsistente Linie der Bundesregierung,
die wir auch beibehalten wollen: keine einseitigen Manöver, sondern direkte Gespräche ohne Vorbedingungen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es würde in
der Tat Sinn machen, wenn beide Seiten Energie und
Kreativität in direkte Friedensgespräche und nicht in einseitige Schritte stecken würden, die die israelische Position im Übrigen aller Erwartung nach nicht verändern
würden. Bei einseitigen Schritten besteht auch die Gefahr, dass es zu Eskalationen kommt, die wir alle gerade
jetzt, in einer Zeit aufgeheizter Stimmung, in der wir alles tun sollten, um eine weitere Verschärfung der Lage
zu vermeiden, nicht wollen.
Der Friedensprozess stockt seit längerem, und es ist
realistischerweise wohl auch nicht mit neuer Bewegung
vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen und vor
der Bildung einer neuen US-Regierung zu rechnen, zumal Präsident Obama mit einer Grundsatzrede im Juli
und mit dem Bekenntnis zu einer Lösung, die Israel in
den Grenzen von 1967 sieht, eine Position definiert hat,
die für Israel noch immer unannehmbar scheint.
Trotzdem wäre es hilfreich, wenn es in den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern neue Bewegung geben würde. Man verheddert sich aber nach
wie vor in Bedingungen und Gegenbedingungen. Man
setzt sich nicht an einen Tisch und ist noch nicht einmal
in der Lage, sich zunächst pragmatisch um die konkreten
Probleme der Bürger zu kümmern.
({1})
Ich bin überzeugt, dass vor allem Israel von einer dauerhaften Friedenslösung profitieren würde. Das würde
Israel nämlich nicht nur aus dem Fokus der Kritik der
arabischen Straße nehmen, sondern auch Mittel für Investitionen in Wirtschaft und Gesellschaft freisetzen, die
angesichts immer wieder aufflammender sozialer Proteste in der Region dringend nötig wären.
Wir müssen aber konstatieren, dass wir auf der israelischen Seite derzeit nur wenig Interesse sehen, sich den
Verhandlungen mit den Palästinensern zu widmen. Fast
im Gegenteil: Es wird über die Gefahr eines iranischen
Nuklearschlags diskutiert. Damit wird der Fokus natürlich auf ein Thema außerhalb des Israel-Palästina-Konflikts gelenkt. Gleichzeitig geht der Siedlungsbau - das
ist angesprochen worden - unvermindert weiter. Hier
teilen wir die Position, die im Antrag der Grünen formuliert wird. Insbesondere in der Westbank ist die Lage besonders unbefriedigend, was sowohl die Europäische
Union als auch die deutsche Seite immer wieder anmerken.
Die Sorge, dass Fakten geschaffen werden, die eine
Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rücken, ist
schon begründet, zumal die wirtschaftlichen Perspektiven für die palästinensischen Gebiete nicht besser werden. Gerade weil deutsche Entwicklungsprojekte in der
Region betroffen sind, muss diese israelische Siedlungspolitik immer wieder thematisiert werden, was nach
meiner Kenntnis auch geschieht.
Es mag monoton klingen, aber eine dauerhafte Friedenslösung zur Stabilisierung der Lage im Nahen Osten
wird es nur mit Gewaltverzicht der Palästinenser einschließlich einer Anerkennung Israels geben; das ist
schon angesprochen worden.
Man wird aber auch nicht darum herumkommen, die
Hamas einzubeziehen, die im Zuge der arabischen Revolutionen stärker geworden ist und sich besser vernetzt
hat. Genauso werden wir im Übrigen in der Zukunft mit
den Muslimbrüdern als relevante Akteure auskommen
müssen. Man kann sich seine Verhandlungspartner eben
nicht immer aussuchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kernelemente einer Verhandlungslösung liegen seit langem auf
dem Tisch. Neu ist aber: Die Weichen im Nahen Osten
werden in dieser Zeit neu justiert. Kurzfristiges Denken
in Nullsummenkategorien wird es in Zukunft immer weniger geben können. Die Zeichen stehen auf Emanzipation und hoffentlich zunehmend auch auf Demokratisierung.
Deshalb wird es nicht viel weiterhelfen, wenn die eine
Seite versucht, auf internationaler Bühne immer wieder
Knalleffekte zu setzen, die am Ende wirkungslos bleiben, und die andere Seite versucht, dauerhaft rechtlich
verbindliche Abreden zu unterminieren. Beide Seiten täten besser daran, aufeinander zuzugehen und sich für
eine kluge Steuerung einzusetzen.
Deswegen dürfen wir nicht müde werden, zu appellieren: Setzt euch an einen Tisch! Dieser Konflikt braucht
direkte Gespräche ohne Vorbedingungen auf beiden Seiten.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin gehört, was Herr Stinner gesagt hat. Er hat sich dafür ausgesprochen, dass Deutschland den Antrag, den Präsident
Abbas heute in der UN-Generalversammlung angekündigt hat, unterstützt. Ich habe Herrn Silberhorn so verstanden, dass er das für falsch hält. Wir haben Vertreter
der Bundesregierung hier. Ich erwarte, dass hierzu eine
klare Aussage gemacht wird.
({0})
Der Wunsch nach Unterstützung dieses Antrages ist in
der Breite des Deutschen Bundestages sehr deutlich vorhanden.
Das ist für die Palästinensische Autonomiebehörde
vielleicht die allerletzte Chance, hier einen Erfolg zu erzielen. Diese Behörde ist im Grunde doch die einzige auf
der palästinensischen Seite, die sagt: Wir wollen Verhandlungen, wir wollen gewaltfreie Lösungen. Wer diesen Antrag, der bald in der UN-Generalversammlung
vorliegen wird, ablehnt, der bestärkt nur diejenigen, die
gewaltsame Lösungen wollen. Deshalb müssen wir dazu
beitragen, dass Abbas mit seiner Initiative einen Erfolg
erzielt.
Es wird eine klare Mehrheit in der Generalversammlung geben. Ich erwarte, dass die Bundesregierung nicht
wieder verzögert, taktiert oder sich enthält. Das ist das
Mindeste, was wir aus der heutigen Debatte lernen können.
({1})
Wünschen Sie noch einmal das Wort, Kollege
Silberhorn?
({0})
- Wir haben hier Regeln. Die Kurzintervention ist wäh-
rend der Rede des Kollegen Silberhorn angemeldet wor-
den. Da er jetzt auf eine Erwiderung verzichtet, schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9981 und 17/10640 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/10771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({2}), Arnold Vaatz, Daniela
Ludwig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick
Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schienenlärm wirksam reduzieren - Schienengüterverkehr nachhaltig gestalten
- Drucksache 17/10780 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Sobald
die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen
vorgenommen sind, kann ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wo möchten Sie lieber wohnen? An einer Autobahn
oder an einer Zugstrecke?
({0})
Jetzt werden Sie vermutlich sagen: An keinem von beidem, wenn es irgendwie geht. Wenn Sie sich aber entscheiden müssten, müssten Sie nach geltender Rechtslage erwidern: Dann lieber an einer Autobahn. Warum?
Weil man hier bei gleichem Lärm mehr Lärmschutz bekommt als an einer Zugstrecke. So jedenfalls geltendes
Recht, geregelt in der 16. Bundesimmissionsschutzverordnung. Schienenlärm darf nämlich 5 dB lauter sein
als Straßenlärm. Das nennt sich dann Schienenbonus.
Oder anders: Der Lärmpegel an der Schiene muss wesentlich lauter sein als an der Straße, bevor der Anwohner ein Recht auf Lärmschutzmaßnahmen hat. Eine derartige Bevorzugung der Schiene wird es, zumindest
wenn es nach den Koalitionsfraktionen geht, demnächst
nicht mehr geben, und das ist gut so.
({1})
Diese unterschiedliche Behandlung von Lärm wurde
in den 70er-Jahren geschaffen, weil man damals glaubte,
dass Schienenlärm als weniger störend empfunden werden würde als Straßenlärm. Das war damals vielleicht
sogar noch nachvollziehbar; denn die Frequenz der Züge
war deutlich überschaubarer als heute, und auch der Güterverkehr hielt sich noch in Grenzen, die wir uns heutzutage oftmals wünschen würden, wenn wir über Lärmbelastungen an Zugstrecken sprechen.
Wie wir alle wissen, nimmt der Schienenverkehr massiv zu. Wir bemühen uns auch von staatlicher Seite,
möglichst viel Güterverkehr auf die Schiene zu verlaDaniela Ludwig
gern. Dass dabei die Belastung der Anwohner auf schier
unerträgliche Weise steigt, ist eine wenngleich logische,
aber extrem unerfreuliche Konsequenz.
Es kann also nicht mehr davon die Rede sein, dass
Schienenlärm vielleicht nicht mehr ganz so schlimm ist
oder als nicht mehr ganz so schlimm empfunden wird.
Denn wir wissen alle: Lärm macht krank. In der Frequenz, in der ihn sehr viele Anwohner in Deutschland
aushalten müssen, ist das schlimm genug, und das müssen wir auch so festhalten.
Wir haben die fast schon absurde Situation, dass wir
nachts, wenn es am leisesten ist, den meisten Lärm haben, weil wir dann die Güterzüge über die Schienen
schicken, während tagsüber die sehr leisen hochmodernen Personenzüge auf unseren Gleisen fahren. Deswegen ist es an der Zeit, die Privilegierung des Schienenverkehrs durch einen besseren Lärmwert endlich
abzuschaffen. Ich bin ausgesprochen froh, dass es uns
nun endlich auch mit einem Gesetzentwurf und einem
sehr guten Antrag gelingt, dies anzugehen.
({2})
Dass wir Maßnahmen umsetzen wie das Lärmsanierungsprogramm, das unter Rot-Grün angestoßen wurde
- es ist ein sehr gutes Programm, das wir gerne weiterführen; die 100 Millionen Euro im Jahr sind gut investiertes Geld, um an bestehenden Strecken mehr Lärmschutz für die Anwohner zu ermöglichen -, ist gut und
richtig und muss fortgeführt werden. Es ist aber auch
richtig, dass wir versuchen, den Lärm an der Quelle zu
bekämpfen, das heißt, leisere Bremssohlen und deren
Umrüstung zu fördern. Dass ein leiser Zug weniger für
die Trassenbenutzung zahlen muss als ein lauter Zug, ist
ebenfalls richtig.
({3})
Aber auch diese Umrüstung kostet Geld und natürlich
auch Zeit. Denn Sie alle wissen, dass nicht gerade wenig
Güterzüge, nämlich 180 000, in Deutschland umgerüstet
werden müssen. Das kostet uns einige Jahre, und es kostet uns 300 Millionen Euro. Aber ich sage auch hier: Das
muss es uns wert sein, wenn wir andererseits von den
Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz für große Schienen- oder Straßenprojekte verlangen.
Deswegen sind wir hier auf einem guten Weg. Auf
diesem guten Weg passt es extrem gut ins Konzept, dass
wir endlich den Schienenbonus angehen. Wie machen
wir das? Mit der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes 2016 und dem dazugehörigen
Bedarfsplan wird er nicht mehr angewendet.
({4})
- Jetzt kann man sagen, Frau Wilms - es war mir klar;
Ihren Zwischenruf hatte ich an dieser Stelle eingeplant -:
viel zu spät. Wissen Sie, wünschenswert ist vieles. Da
bin ich sofort bei Ihnen. Wir glauben aber, dass sich die
Aufgabenträger in sinnvoller Weise auf diese neue Tatsache vorbereiten müssen. Wir haben große und langwierige Projekte, bei denen eine Umstellung innerhalb
weniger Monate oder innerhalb von zwei Jahren einigermaßen schwierig ist.
Deswegen halte ich die Abschneidegrenzen, wie wir
sie gewählt haben, für richtig für Schienenprojekte, für
die das Planfeststellungsverfahren bis dahin noch nicht
eingeleitet wurde.
({5})
Sie sind logisch und politisch richtig.
({6})
Ich glaube, es ist auch an der Zeit, dass wir das angehen. Wir tun es wenigstens. Wir reden nicht nur darüber,
sondern wir tun es auch, und das ist richtig.
Ich verhehle nicht, dass es sicherlich den einen oder
anderen Haushaltspolitiker geben mag, der jetzt vor lauter Schreck erst einmal umkippt, bildlich gesprochen,
weil er sich sagt: Oh Gott, jetzt wird alles teurer.
({7})
Meine lieben Freunde, wenn uns die Gesundheit unser
Mitbürgerinnen und Mitbürger das nicht wert ist, dann
weiß ich es nicht. Wir müssen schlicht und ergreifend
springen.
Der Schienenbonus, wie er in den 70er-Jahren entstanden ist, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Er hat sich
längst überholt, ist nicht mehr sachgerecht und wird den
massiven Belastungen unserer Bürgerinnen und Bürger
durch stark gestiegenen Verkehr nicht mehr gerecht.
Deswegen ist es höchste Zeit, dass wir endlich dieses
Projekt angehen und künftig statt des Schienenbonus leisere Zugstrecken haben.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! In diesem
Hause gibt es große Übereinstimmung, dass der Schienenlärm zurzeit die verkehrspolitische Herausforderung
ist. Millionen von Menschen sind erheblich belastet. Wir
gehen nach volkswirtschaftlichen Schätzungen von
10 Milliarden Euro an Schäden aus.
Als Rheinland-Pfälzer, der häufig im Mittelrheintal
unterwegs ist, weiß ich, was es bedeutet, wenn nachts
Güterzüge an den Häusern entlangfahren und 100 Dezibel Lärm und Erschütterungen verursachen. 100 Dezibel
entsprechen einem Presslufthammer im Vorgarten. Ich
glaube, wir stimmen darin überein, dass dies ein Ende
haben muss.
({0})
Trotzdem gibt es eine strittige Debatte hier im Plenum
und sicherlich später auch im Ausschuss. Aber diese
strittige Debatte liegt nicht an der Opposition. Bevor Sie
nachher wieder den Vorwurf bringen, wir hätten unter
Rot-Grün oder in der Großen Koalition keinen entsprechenden Antrag eingebracht, möchte ich Ihnen sagen,
dass ich mich auch nicht daran erinnern kann, dass jemals ein Antrag von der FDP gekommen wäre, den
Schienenbonus abzuschaffen, als Sie in der Opposition
waren.
({1})
Also halten Sie den Rand in dieser Frage.
Es liegen seit Frühjahr 2011 Anträge der SPD vor.
Seit über einem Jahr gibt es entsprechende Anträge von
uns und auch von den Grünen. Auf der rechten Seite dieses Hauses wurde deren Beratung immer wieder vertagt.
Wir hatten im Dezember letzten Jahres eine vielbeachtete Anhörung. Auch danach haben Sie die Beratung unserer Anträge vertagt. Wir haben dann über die
Geschäftsordnung am 27. April dieses Jahres eine
Debatte hier im Deutschen Bundestag erzwungen. Ich
will einmal zitieren - ich glaube, es ist auch für die Menschen wichtig, das noch einmal nachzuvollziehen -, was
am Schluss des Zwischenberichtes unseres Ausschussvorsitzenden Toni Hofreiter steht:
Im Obleutegespräch … wurde übereinstimmend
festgestellt, dass eine Aufsetzung der Vorlagen zur
abschließenden Beratung derzeit am Einspruch der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP scheitert, da die
Abstimmung zwischen den Koalitionsfraktionen
noch nicht abgeschlossen ist.
Drei Jahre arbeiten Sie Ihren Koalitionsvertrag ab.
({2})
Die Mövenpick-Steuer haben Sie in ganz kurzer Zeit
durchgesetzt. Da gab es keinen Zank zwischen den
Koalitionsfraktionen und kein Problem bei der Ressortabstimmung. Das haben Sie hinbekommen. Aber in einer ganz wichtigen Frage für die Menschen sind Sie zerstritten.
Interessant ist, dass mein Kollege Michael Hartmann
von Herrn Staatssekretär Ferlemann als Auskunft
bekam, dass die Ressortabstimmung am 26. April 2012
begonnen hat, also einen Tag bevor wir die Debatte hier
im Deutschen Bundestag erzwungen haben. Das ist mehr
als ein Symbol dafür, dass wir diese Koalition in Fragen
des Lärmschutzes nicht nur schieben, sondern treiben
müssen. Sie schaffen es nicht von alleine.
({3})
Ich frage mich immer, was der Kollege Fischer, den
ich seit 1998 als engagierten Verkehrspolitiker kenne
- ich weiß, dass er sich in dieser Frage sehr stark engagiert hat -, 2009 angestellt hat, dass er mit einem solchen Bundesverkehrsminister bestraft worden ist, sodass
er über die Koalitionsfraktionen dafür sorgen muss, dass
ein Stückchen des Koalitionsvertrages umgesetzt wird.
({4})
In Ihrem Koalitionsvertrag schreiben Sie noch, dass
Sie den Schienenbonus stufenweise abschaffen wollen,
und zwar in dieser Wahlperiode.
({5})
Jetzt will ich Sie einmal an Ihren eigenen Maßstäben
messen. Sie haben einen Antrag und einen Gesetzentwurf unter dem Motto vorgelegt: Wasch mich, aber
mach mich nicht nass! Ich kann mir auch erklären, warum, nämlich weil Ihr Verkehrsminister gesagt hat: Jedes
Dezibel weniger kostet mich 1 Milliarde Euro. Außerdem hat Ihr Kanzleramtsminister Pofalla gesagt - dem
wurde bisher nicht widersprochen -: in dieser Wahlperiode nicht. Und damit hat er recht; denn 2016/2017,
Frau Kollegin Ludwig, ist nicht mehr in dieser Wahlperiode. Da werden die Karten schon neu gemischt sein.
Ihren Koalitionsvertrag können Sie also nicht umsetzen.
Auch das, was Sie jetzt vorgelegt haben, ist doch nur
weiße Salbe. Frau Kollegin Ludwig, ich weiß nicht, warum Sie einen Herzinfarkt Ihrer Haushälter befürchten.
Es steht doch nirgendwo, dass es mehr Geld gibt. Im
Gegenteil: Sie machen deutlich, dass alle Maßnahmen
länger dauern werden und dass Sie im Haushalt keinen
zusätzlichen Euro bereitstellen wollen, um den Schienenlärm effektiv zu bekämpfen. Das müssen Sie den
Menschen auch deutlich sagen.
({6})
Sie sind sehr locker darüber hinweggegangen, dass
die von Ihnen vorgesehenen Maßnahmen erst mit dem
Inkrafttreten der Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes 2017 wirksam werden. Aber alle Planfeststellungsverfahren, die bis zu diesem Zeitpunkt laufen, werden noch nach altem Recht abgearbeitet. Ich
kann Ihnen aufgrund meiner allgemeinen Lebenserfahrung sagen: Es wird in den Monaten und Jahren zuvor
eine Flut von Planfeststellungsverfahren geben, die alle
noch nach altem Recht beschieden werden. Sie haben
gesagt: Demnächst wird der Schienenbonus abgeschafft.
Mit „demnächst“ meinen Sie das Jahr 2020.
({7})
So können Sie mit den Menschen, die unter Schienenlärm leiden, nicht umgehen.
({8})
Was bleibt bis dahin zu tun? Ich hätte von Ihnen etwas
mehr Engagement bei der Beschleunigung der Umrüstung erwartet. Wir werden sehr genau darauf achten,
ob das System, das Sie zu Umrüstung und Finanzierung
anbieten, also der lärmabhängige Trassenpreis, funktionieren wird.
Herr Kollege Herzog, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung des Kollegen Jarzombek?
Ja.
Kollege Herzog, Sie sind doch ein Abgeordneter aus
Rheinland-Pfalz. Durch Ihren Wahlkreis fahren verdammt viele Güterzüge. Ich hatte eigentlich erwartet,
dass Sie am heutigen Tag sagen: Es ist ein großer Erfolg
für die Menschen - auch in meinem Wahlkreis -,
({0})
dass endlich, nachdem zehn Jahre unter allen SPDVerkehrsministern nichts geschehen ist, der Durchbruch
geschafft ist und das Rheintal beruhigt wird. Warum
haben Sie nicht ein Mal gesagt: „Danke, ein toller Tag
für das Rheintal, ein toller Tag für Rheinland-Pfalz“?
({1})
Herr Kollege, als Rheinland-Pfälzer weiß ich, was
Schienenlärm bedeutet. Deswegen bin ich stolz auf die
rot-grüne Bundesregierung, dass sie überhaupt angefangen hat, Mittel für die Lärmsanierung an der Schiene in
den Verkehrshaushalt einzustellen. Das waren wir. Wir
haben damals mit 50 Millionen Euro angefangen.
({0})
Ich glaube, Sie waren noch nicht Mitglied des Bundestages, als wir dann die Mittel erhöht haben. Tun Sie also
nicht so, als ob in der Vergangenheit nichts passiert
wäre. Die ersten beiden Lärmschutzpakete haben sozialdemokratische Minister auf den Weg gebracht. Wir
haben die Sache in Bewegung gesetzt. Sie sind leider
nicht in der Lage, mit dem notwendigen Schwung und
Engagement dies zu einem vernünftigen Ende zu
bringen.
({1})
Wir als Sozialdemokraten wollen, dass umgerüstet
wird, weil allein eine schnelle Umrüstung einen hörbaren Erfolg für die Menschen bringt. Es wird spannend
sein, zu beobachten, ob Ihr System, wonach der Trassenpreis um 1 Prozent erhöht werden soll, um die Umrüstung zu finanzieren, tatsächlich funktioniert. Ich jedenfalls habe niemanden in der Wirtschaft oder bei der Bahn
getroffen, der mit Überzeugung gesagt hätte: Das, was
diese Bundesregierung vorlegt und was der Bundesverkehrsminister will, funktioniert.
Deswegen werden wir die parlamentarische Debatte
nutzen, um Sie weiterzutreiben. Wir werden Ihre Vorschläge in einer Anhörung auf den Prüfstand stellen. Der
Erfolg der Politik muss für die Menschen hörbar werden.
Mit Ihrer Politik wird uns das leider nicht gelingen.
Vielen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Oliver
Luksic das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Anliegen ist, den Lärm bei neuen Bahnprojekten durch die Abschaffung des Schienenbonus und
beim Bestand durch weitere Anreize zu reduzieren. Die
christlich-liberale Koalition will die Infrastruktur beim
Güterverkehr weiter stärken. Kollege Herzog, elf Jahre
hatten Sie Zeit. Sie haben es nicht hinbekommen. Diese
Koalition bekommt es nun hin. Es ist richtig und notwendig, dass wir das tun.
({0})
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir
den Schienenbonus schrittweise reduzieren und ihn
schließlich abschaffen.
({1})
Wir schaffen ihn jetzt ganz ab; denn er ist eine alte Privilegierung aus den 70er-Jahren.
({2})
Der Bonus beruht auf einer überholten Annahme. Es gibt
nämlich unserer Meinung nach beim Lärm keinen Unterschied zwischen Straße und Schiene. Lärm ist Lärm, und
er ist eine Bedrohung für die Gesundheit.
Kollege Herzog, die FDP-Bundestagsfraktion hat
schon 2007 einen solchen Antrag gestellt, aber damals
hat ein SPD-Verkehrsminister unsere Forderungen abgelehnt. Insofern, Herr Kollege Herzog, machen Sie sich
erst einmal schlau.
({3})
Klar ist: Steigende Mobilität verursacht hohe gesamtgesellschaftliche Kosten. Der volkswirtschaftliche Schaden durch Schienenlärm wird auf 800 Millionen Euro
beziffert. Deswegen ist es nachhaltige Verkehrspolitik,
diesen Lärm zu reduzieren. Denn sonst wird das weitere
Wachstum des Schienenverkehrs - das ist ein besonders
wichtiger Punkt, der zu Recht von Kollegin Ludwig angesprochen worden ist - beschränkt. Der Lärm droht zu
einem Haupthindernis für die Verlagerung von Transporten auf die Schiene zu werden. Lärmschutz ist uns an
dieser Stelle eine Herzensangelegenheit. Mit der vorhandenen Stichtagsregelung ist die Umstellung machbar.
Mehr Güterverkehr kann nur durch mehr Akzeptanz erreicht werden.
Wir ergreifen weitere Maßnahmen zur Stärkung der
Infrastruktur der Schiene. Ich nenne das nationale Lärmschutzkonzept und die Vereinbarung zu lärmabhängigen
Trassenpreisen. Für Lärmsanierungsmaßnahmen werden
100 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. Der
Einstieg in die leise Technik wird belohnt. Besonders
wichtig ist: Wir wollen mit dem Einstieg in lärmabhängige Trassenpreise marktwirtschaftliche Anreize zur Anschaffung leiserer Fahrzeuge setzen. Das ist ein Punkt,
der der FDP-Bundestagsfraktion besonders am Herzen
liegt.
({4})
Wir müssen dieses Thema in naher Zukunft natürlich
auch auf europäischer Ebene angehen. Hier besteht
Handlungsbedarf, weil die Güterzüge, die in Deutschland rollen, nicht nur deutsche Züge sind. Deswegen ist
das ein europäisches Thema.
Wir werden, wie gesagt, auch im Eisenbahnregulierungsgesetz weitere Anreize setzen.
({5})
Wir freuen uns, dass wir das auf den Weg gebracht
haben. Es stimmt, dass es diesbezüglich Bedenken innerhalb der Koalition gab. Aber Sie haben das in elf Jahren
nicht hinbekommen. Wir freuen uns über unseren
Erfolg. Wir haben einen wichtigen Schritt getan, um die
Infrastruktur der Schiene zu stärken. Das hat diese
Koalition hinbekommen, aber nicht die SPD. Es ist richtig, dass wir den Schienenbonus abschaffen. Leider
haben Sie, Kollege Herzog, in dieser Hinsicht wenig hinbekommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte in Erinnerung rufen, worüber wir sprechen. Die
gesundheitlichen Belastungen für die Leute im Mittelrheintal und im Rheintal überhaupt durch die Güterverkehrszüge sind nach Berechnungen von Professor
Greiser mindestens doppelt so hoch, wahrscheinlich
dreimal so hoch, wie die Belastungen von Menschen, die
in Einflugschneisen von Flughäfen wohnen. Die Vorsorgewerte, die jetzt für Neubaustrecken vorgesehen sind,
mit deren Bau nach dem Gesetzentwurf, den Sie hier
vorlegen, irgendwann nach dem Jahr 2016 begonnen
wird, werden heute um das etwa Zehnfache überschritten. Professor Greiser sagt, man müsse angesichts dieser
Werte eigentlich von aktiver Körperverletzung mit möglicher Todesfolge sprechen,
({0})
weil sich tatsächlich die gesundheitlichen Risiken enorm
summieren.
Jetzt wird am 1. Oktober unser Verkehrsminister, Herr
Ramsauer, in Bingen eine große Show veranstalten.
({1})
Er wird dort mit einem halbsanierten Güterzug auflaufen
und zeigen, wie das Programm „Leiser Rhein“ die
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bewirken soll.
Genau die gleiche Veranstaltung mit dem gleichen Vorführzug ist 2007 in Bingen schon einmal vonstattengegangen, ohne dass sich für die Leute dort irgendetwas
geändert hat.
Tatsächlich ist es mit dem Programm „Leiser Rhein“
inzwischen gelungen, 1 250 der 800 000 Güterwaggons
zu sanieren, von denen die Kollegin vorhin gesprochen
hat. Das sind 0,7 Prozent. Das hören die Leute nicht, genauso wenig wie sie hören, dass der Schienenbonus im
Jahr 2016 abgeschafft werden soll. Denn die Strecken,
die vorhanden sind, werden überhaupt nicht saniert. Es
werden keine zusätzlichen Lärmschutzmaßnahmen getroffen. Das heißt, die Menschen haben von dem, was
Sie hier heute beschließen werden, gar nichts. Sie fühlen
sich verhöhnt. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Sie
haben vor allen Dingen nicht den Eindruck, dass das
Problem Lärmbelastung ernst genommen wird, genauso
ernst, wie Sie die wirtschaftlichen Interessen derjenigen
Unternehmen nehmen, die ihre Güter durch das Rheintal
rasen lassen.
Es gibt in der Schweiz - die ist gar nicht weit entfernt ein sehr gutes Beispiel dafür, wie mit Lärmschutz an Güterverkehrstrassen umgegangen werden kann. Da wird
damit sehr systematisch umgegangen. Da wird Lärm gemessen. Da werden verschiedene Maßnahmen ergriffen.
Da wird mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam
überlegt, wie man es besser machen kann. Außerdem
werden da klare Festlegungen für das Ende der lauten
Güterzüge getroffen. Wir haben im Verkehrsausschuss
eine Anhörung durchgeführt - Sie erinnern sich sicher
daran -, und alle dort vertretenen Unternehmen haben
gesagt: Es ist für uns überhaupt kein Problem, die Güterzüge auf leise Bremsen umzurüsten; aber die Politik
muss klare Vorgaben machen. Es muss eine Deadline gesetzt werden, bis wann die Güterzüge umzurüsten sind.
({2})
Die Lärmsanierung der bestehenden Strecken würde
- das haben wir bei der Bundesregierung erfragt 1,2 Milliarden Euro kosten. Sie wollen die ganze Geschichte kostenneutral organisieren. Das wird nicht klappen. 1,2 Milliarden Euro, hört sich viel an. Aber wenn
ich bedenke, dass der Bundesverkehrsminister damit
einverstanden ist, dass ungefähr 1,6 Milliarden Euro für
die Förderung der Automobilindustrie zur Entwicklung
von Elektroautos eingesetzt werden und dass man mit
diesem Geld eigentlich die Elektromobilität auf der
Schiene vernünftig gestalten könnte, nämlich mit ordentlichem Lärmschutz, dann finde ich die Situation nachgerade skurril.
({3})
Ich möchte zum Schluss sagen, dass die Bürgerinitiativen, die im Rheintal sehr aktiv sind, eine sehr konkrete
Forderung haben, deren Umsetzung sie ganz schnell und
ganz sicher entlasten würde, nämlich ein Nachtfahrverbot für laute Güterzüge.
({4})
Dieselben Forderungen erheben die Flughafeninitiativen
im Hinblick auf den Flugverkehr. Ich kann Ihnen sagen:
Wenn Sie die Leute nicht ernst nehmen, dann werden
sich die Auseinandersetzungen dort zuspitzen. Die Bürgerinitiativen gegen Fluglärm haben es geschafft, ein
Nachtflugverbot durchzusetzen. Das ist noch nicht genug, aber es ist etwas. Flieger können von den Bürgerinitiativen nicht gestoppt werden; aber Zuggleise sind zugänglich. Die Bürgerinitiativen, die Bürgerinnen und
Bürger befinden sich an der obersten Belastungsgrenze.
Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dort noch
Ihr blaues Wunder erleben.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dr. Valerie Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns das so anhören, was die Kolleginnen und Kollegen eben schon
gesagt haben: Es ist erschütternd. Wir bekommen schon
seit langem keine vernünftigen Begründungen mehr dafür, dass der Schienenverkehr doppelt so laut sein darf
wie der Straßenverkehr. Man muss es sich auf der Zunge
zergehen lassen: Der sogenannte Schienenbonus in Höhe
von 5 Dezibel, also eine Prämie für die Schiene, geht
einher mit einer Verdopplung der Lautstärkewirkung.
Das ist etwas, worum wir uns wirklich dringend kümmern müssen.
Auf diesen Gesetzentwurf haben wir schon lange gewartet. Wir können uns fragen, warum dieser Entwurf
Ewigkeiten zwischen den Ressorts hin- und hergeschoben wurde. Das können wir aber auch sein lassen; denn
ein solches Verhalten ist ja bei allem der Fall, was diese
Regierung in ihrer Endzeitstimmung anfasst.
({0})
Im Detail hat sich im Vergleich zu den ersten Entwürfen jedenfalls nichts Wesentliches geändert. Grundsätzlich kann man sagen: Die Sache ist richtig, notwendig
und vor allem dringend. Sie ist aber nur ein Detail eines
großen Problems. So wie Sie das Ganze jetzt angelegt
haben, wird es zunächst nur ganz wenigen helfen, die
vom Verkehrslärm betroffen sind.
Erst nach dem nächsten Bundesverkehrswegeplan
sollen neue Schienenstrecken leiser gebaut werden. Das
müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:
Dieser muss eigentlich 2015 beschlossen werden. Die
Erfahrungen lehren uns allerdings, dass es, sofern es gut
geht, 2016 oder eher 2017 sein wird. Und mit dem von
Herrn Herzog schon angesprochenen kleinen Kniff kann
der Vorhabenträger besonders genial vorgehen: Dann
schiebt er alles nach hinten, indem er vorher mit der
Planfeststellung für all die Projekte, die er noch durchziehen will, beginnt, und schon haben wir 2020 und noch
später.
Jeder weiß, dass sich der Bau von Schienenprojekten
über Jahrzehnte hinziehen kann. Das ist vor allem dann
der Fall, wenn die Mittel nicht reichen. Dafür haben wir
ein besonders unrühmliches Beispiel, das wir eigentlich
bis 2020 fertigstellen sollten. Ich denke da an die Rheintalbahn. Der Entwurf hält nämlich ausdrücklich fest,
dass kein zusätzliches Geld ausgegeben werden soll.
Dann wird alles noch länger dauern.
Wer Pech hat, bekommt auch noch in vielen Jahren
eine neue Schienenstrecke in alter Lautstärke vor die
Nase gesetzt. Soll das etwa eine ernsthafte Lösung für
die von Güterzuglärm geplagten Anwohner sein? Wohl
kaum. Hinzu kommt, dass es auch nur für Neubaustrecken in ferner Zukunft gilt. Das eigentliche
Problem - beispielsweise das Mittelrheintal - sind die
bestehenden Strecken, aber die haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, im Gesetzentwurf explizit ausgeschlossen.
({1})
Alte Strecken sind laut und dürfen es Ihrer Meinung
nach bleiben.
Es wird keinen Rechtsanspruch auf Sanierung bestehender Strecken geben. Nur wenn es im Haushalt entsprechende Mittel gibt, kann überhaupt etwas passieren.
Die Koalition lehnt aber eine Erhöhung der Mittel
ab - auch das steht in Ihrem Gesetzentwurf -, und dann
schauen die Betroffenen noch lange in die Röhre.
({2})
Das alles zeigt uns: Auf die größte Frage des Problems
hat diese Koalition in der Endzeit keine Antwort.
({3})
Die Kernfrage lautet letztendlich: Wollen wir als Gemeinschaft, als Gesellschaft auf Kosten von Millionen
von Menschen weiter Krach machen? Darum geht es,
und darüber müssen wir diskutieren.
Verkehrslärm ist neben Luftverschmutzung der zweitgrößte Verursacher von Gesundheitsrisiken. Auch soziale Folgen sind spürbar, weil ärmere Menschen häufig
an lauten Orten - diese sind nämlich billiger - leben. Die
standortbedingten gesundheitlichen Probleme verstärken
sich damit weiter.
Das, Kolleginnen und Kollegen, sind die Probleme,
über die wir reden müssen. Das sind die Probleme, für
die wir eine Lösung brauchen. Aber leider hilft uns Ihr
Gesetzentwurf dabei keinen Schritt weiter.
({4})
Wir brauchen deswegen eine breite gesellschaftliche
Debatte. Lassen Sie uns darüber reden, wie lange Menschen noch unter Verkehrslärm leiden sollen. Wir müssen diskutieren, was uns das wert ist. Es geht nicht nur
allein um die Abschaffung des Schienenbonus; ich
glaube, wir sind uns alle einig, dass es dazu kommen
muss. Vielmehr muss es jetzt darum gehen, wie wir die
Mittel dafür generieren können - und zwar schleunigst
und nicht erst 2020 oder noch später.
Kollegin Wilms, achten Sie bitte auf die Zeit.
Dem müssen wir uns stellen - Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss -; denn alles andere ist nur Placebo
oder maximal eine Beruhigungspille. Die wollen Sie der
Tribüne zwar verpassen, aber sie wird die Ursache nicht
beseitigen.
({0})
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Steffen Bilger für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich mich auf den Weg ins Plenum gemacht habe,
habe ich eigentlich gedacht, uns könnte vielleicht doch
ein harmonischer Abschluss dieses Sitzungstages erwarten.
({0})
Denn im Ziel, der Abschaffung des Schienenbonus, sind
wir uns alle einig. Dann habe ich allerdings, Frau
Dr. Wilms, Ihren Twitter-Beitrag gelesen und die Rede
von Herrn Herzog gehört und festgestellt: Die Oppositionsreflexe dominieren leider auch diese Debatte.
({1})
- Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Kollege Herzog:
({2})
Wir haben nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir den Schienenbonus abschaffen, sondern
wir haben uns bereits im März 2011 in unserem Antrag
zur Rheintalbahn dazu bekannt, und ich kann Ihnen versichern, dass auch der Bundesverkehrsminister für die
Abschaffung des Schienenbonus einsteht.
({3})
Nicht zuletzt deswegen können wir heute auch diesen
Antrag vorlegen.
Schon bei unserer letzten Debatte - daran erinnern
mich einige Beiträge -, die im April 2012 - Kollege
Herzog hat es gesagt - stattgefunden hat, habe ich für
unsere Koalitionsfraktionen bekräftigen können, dass
wir den Schienenbonus abschaffen wollen, und bereits
damals - ich habe im Protokoll nachgelesen - mussten
wir uns vorwerfen lassen, wir seien eine Koalition der
Verweigerung und der Vertagung.
({4})
Wir würden nichts auf die Reihe kriegen. Das alles hat
sich nun als das erwiesen, was es auch damals schon
war, nämlich reines Oppositionspoltern.
({5})
Ich kann mich nicht nur an die Debatte erinnern, sondern auch an viel Unterstützung, die wir von den Bürgerinitiativen bekommen haben, aber durchaus auch an kritische Nachfragen, wann denn dem Lippenbekenntnis
Taten folgen würden.
Das ist heute der Fall. Die Koalition steht nach wie
vor ganz klar zu der Aussage im Koalitionsvertrag: Wir
schaffen den Schienenbonus ab. Ich will deutlich machen, dass der Schienenbonus heute nicht mehr zeitgemäß ist. Damals, als der Schienenbonus eingeführt
wurde, gab es Untersuchungen, die belegen sollten, dass
es gerechtfertigt wäre, diesen Schienenbonus einzuführen, weil bei dem Halbstundentakt, der früher üblich
war, der Schienenlärm eher verträglich sei, als es beispielsweise beim Straßenlärm der Fall sei. Heute, in Zeiten, in denen die Zugtaktung sehr viel enger ist, wissen
wir, dass dieser Schienenbonus nicht mehr zeitgemäß ist.
Damals hat man auch gedacht, dass man der Bahn etwas Gutes damit tun würde, wenn der Schienenbonus
eingeführt wird. Mittlerweile muss man sagen, dass eher
das Gegenteil der Fall ist; denn für Schieneninfrastrukturprojekte in der Zukunft wird es immer wichtiger, dass
die Akzeptanz bei der Bevölkerung gewährleistet ist.
({6})
- Zur Rheintalbahn komme ich gleich noch ausführlich,
lieber Herr Kollege.
Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass Schienenlärm eine enorme Belastung für die Bevölkerung darstellt. Deswegen wurde es auch zu einer Art Symbol für
die Bevölkerung, wenn es um den Kampf für mehr
Schutz vor dem Schienenlärm geht, den Schienenbonus
abzuschaffen. Auch und gerade deshalb ist die Abschaffung des Schienenbonus ein Zeichen, dass wir das Lärmproblem sehen und verstanden haben, dass wir uns als
Verkehrspolitiker an diese Aufgabe machen müssen.
({7})
Dabei soll es aber nicht bleiben. Es kann noch viel
mehr getan werden. Der Bund ist schon in der richtigen
Richtung unterwegs: freiwilliges Lärmsanierungsprogramm,
({8})
lärmabhängiges Trassenpreissystem und die Einführung
neuer und damit leiserer Bremsen.
Die Abschaffung des Schienenbonus ist aber nicht nur
ein Symbol, sondern sie wird massiv hörbar sein.
({9})
Wir haben es heute schon gehört: Das Privileg, auf der
Schiene 5 Dezibel mehr Lärm produzieren zu dürfen, bedeutet im Klartext - das zeigen auch Studien beispielsweise des Umweltbundesamtes -, dass der Lärmpegel
um 50 Prozent höher ist. Das gilt es zu ändern.
({10})
Die Lärmschutzmaßnahmen werden aufgrund der
Abschaffung des Schienenbonus deutlich umfassender
werden. Das sind gute Nachrichten für die Menschen,
die entlang der Bahnstrecken wohnen.
({11})
Damit wird endlich der Lärm nicht mehr abqualifiziert,
sondern als das beschrieben, was er ist, nämlich als massiver Störfaktor.
({12})
Dabei - das will ich auch deutlich sagen - ist natürlich klar, dass die Abschaffung des Schienenbonus erst
für Neubaumaßnahmen gelten wird, die ab Inkrafttreten
der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes im Jahr 2015 geplant werden.
Wir bedauern sicherlich alle, dass nicht sofort eine
Regelung für alle lärmgeplagten Anwohner gefunden
werden kann.
({13})
Aber wenn Sie einmal ehrlich sind, liebe Kollegen von
der Opposition, wenn Sie hier in der Verantwortung wären und als Regierungsfraktion einen Antrag zur Abschaffung des Schienenbonus vorlegen müssten, wäre
Ihnen auch kein anderer Weg möglich.
({14})
Schließlich geht es hier um Planungen, die über den
Haufen geworfen werden würden. Wir müssen auch daran denken, dass der Haushalt bei einer sofortigen Abschaffung des Schienenbonus infrage gestellt werden
würde. Trotzdem ruhen wir uns nicht darauf aus.
({15})
Wir müssen daran arbeiten, dass der Verkehr in Deutschland insgesamt leiser wird. Deshalb finanziert der Bund
unter anderem die Umrüstung auf leise Güterzüge.
({16})
Meine Damen und Herren, schon lange beschäftigt
uns das Thema Schienenlärm im Bundestag. Als Koalitionsfraktion haben wir uns bereits im März 2011 in unserem Antrag zur Rheintalbahn dafür eingesetzt, dass
dieses wichtige Bahnprojekt so geplant wird, als wenn
der Schienenbonus bereits abgeschafft wäre. Darauf
hatten wir uns - die Wahlkreisabgeordneten Armin
Schuster und Peter Götz können es bestätigen - mit den
anderen Beteiligten, mit den Bürgerinitiativen, mit den
Landesregierungen, mit der Bundesregierung, mit den
kommunalen Vertretern und der Deutschen Bahn verständigt. Das kann doch ein gutes Beispiel auch für andere Projekte sein.
({17})
Abschließend kann ich meine Forderung aus der letzten Debatte nur wiederholen: Es würde uns in Deutschland sehr helfen, wenn die Europäische Union mittelfristig nur noch leise Güterzüge in Europa zulassen würde.
Ein wichtiger Schritt für mehr Lärmschutz ist getan,
sobald unser Gesetzentwurf beschlossen ist. Lassen Sie
uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass weitere
Schritte folgen.
Vielen Dank.
({18})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Judith
Skudelny.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich wundere mich über den einen oder anderen Redebeitrag.
({0})
Ich spreche oft mit den Bürgerinitiativen vor Ort, die
sich seit Jahren für die Abschaffung des Schienenbonus
einsetzen.
({1})
Die meisten Parteien, die jetzt dagegen - ich sage
einmal - maulen, dass wir nicht schnell genug sind und
zehn Jahre gar nichts getan haben, müssten eigentlich
ganz froh sein über unseren Gesetzentwurf.
({2})
- Natürlich muss ich lachen, weil Sie wissen, dass es für
die Bürger im Rheintal nicht rechtzeitig kommen würde,
selbst wenn wir morgen den Schienenbonus abschaffen
würden.
({3})
Es geht darum, einen modernen, leistungsfähigen, zukunftsorientierten und menschenfreundlichen Schienenverkehr für kommende Generationen zu schaffen.
({4})
- Mehr als alle Regierungen vorher.
Jetzt bitte eine Zwischenintervention.
({5})
Diejenigen, die hier am lautesten schreien, haben in
den letzten Jahren am wenigsten gemacht.
({6})
Dieser Gesetzentwurf ist nicht wegen der Oppositionsparteien zustande gekommen, sondern wegen der
Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Region, der
Rheintalschiene. Das ist richtig. Die haben sich seit Jahren vor Ort in Bürgerinitiativen, in Kommunalräten, bei
den Bürgermeistern, aber auch bei den Bundespolitikern
dafür eingesetzt. Sie haben E-Mails geschrieben und im
Vorder- und Hintergrund gearbeitet, damit heute und hier
endlich der richtige Schritt in die richtige Richtung gemacht wird.
({7})
Der heutige Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung.
({8})
Wir haben vorhin gehört, dass Rot-Grün die Lärmsanierung mit 50 Millionen Euro eingeführt hat. Ich darf Ihnen gratulieren. Wir haben bis heute den Betrag verdoppelt.
({9})
Es ist richtig, dass Kinderlärm privilegiert ist.
({10})
- An die Zwischenblöker von links: Ich muss lachen,
weil mich die Debatte amüsiert, weil Sie so viel Quark
erzählen, dass mir kaum noch etwas anderes einfällt, außer zu lachen.
({11})
Es ist durchaus richtig, dass Kinderlärm privilegiert
ist. Auch das hat die
({12})
schwarz-gelbe Koalition gemacht. Das haben die anderen nicht geschafft. Oppositionslärm ist hinzunehmen.
Nicht hinzunehmen ist Lärm von Güterverkehr, der bisher gegenüber dem Straßenverkehr privilegiert war und
künftig nicht mehr privilegiert sein wird.
({13})
Liebe Kollegen, überlassen Sie der Kollegin
Skudelny bitte überwiegend das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren, ich beende diese lustige
Debatte damit, zu sagen, dass wir immer die richtigen
Schritte gemacht haben, die Sie nicht auf die Reihe bekommen haben. Ich freue mich auf die Debatten im Ausschuss.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/10771 und 17/10780 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a und 8 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/8233 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn,
Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung personenbeförderungs- und
mautrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 17/7046 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche
- Drucksachen 17/7487, 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({3})
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer.
({4})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Tagesordnungspunkt gibt es sicherlich
keine lustige, sondern vielmehr eine friedliche und kollegiale Debatte.
({0})
- Der Kollege von der Linksfraktion hat zu diesem Frieden nichts beigetragen.
({1})
Ich möchte mich zunächst sehr herzlich für die gute
politische Kultur unter den Kolleginnen und Kollegen
bedanken. Wir haben eine Einigung erzielt zwischen
CDU/CSU, SPD, den Grünen und der FDP. Vier Fraktionen im Deutschen Bundestag zusammen mit den Bundesländern haben für die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung in Deutschland einen guten und sehr
demokratischen kollegialen Beitrag geleistet. Herzlichen
Dank dafür.
({2})
Obwohl es jetzt 22.50 Uhr ist, wäre gerade dieses für
die Verkehrspolitik doch sehr wichtige Reformprojekt
gut dafür geeignet gewesen, dass die Medien etwas öffentlichkeitswirksamer hätten darüber berichten können, anstatt es lediglich irgendwo in einem Einspalter
darzustellen. Insbesondere angesichts der Vergabesituation in den Kommunen im Hinblick auf die Personenbeförderungsrealität hätte die Tatsache, dass jetzt auch die
Liberalisierung der Fernbuslinien verwirklicht wird,
mehr Raum in der öffentlichen Diskussion verdient gehabt.
Ich denke, dass verkehrspolitisch ein Riesenschritt
gemacht wurde, nämlich zum einen beim Schienenbonus
für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger - darüber
wurde vorhin diskutiert - und zum anderen mit Blick auf
die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung vor Ort
in den Gemeinden, in den Städten.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Dr. Seiffert?
Ja, natürlich.
({0})
- Wir haben doch Zeit.
({1})
Meine lieben Damen und Herren, Sie hätten ja den
Tagesordnungspunkt weiter nach vorne setzen können,
wenn Ihnen das jetzt zu spät ist für diese Frage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie die vier Fraktionen
gelobt haben, sind Sie bereit, zumindest einen Satz dazu
zu sagen, dass es großen Drucks aus der Behindertenbewegung in ganz Deutschland bedurfte, Sie überhaupt auf
den Gedanken zu bringen, bei der Liberalisierung des
Fernreiseverkehrs auch an barrierefreie Busse zu denken, obwohl das die UN-Behindertenrechtskonvention
als geltende Gesetzesgrundlage in Deutschland zwingend vorschreibt?
Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe jetzt noch fünf
Minuten und drei Sekunden Redezeit auf der Uhr stehen;
ich wäre schon noch dahin gekommen.
({0})
Sie hätten auch noch Ihr Lob abbekommen.
({1})
Lassen Sie mich diese fünf Minuten noch reden. Ich
hätte auch noch den Behindertenbeauftragten Hubert
Hüppe hervorgehoben. Wir hatten zahlreiche Gespräche
mit den Berichterstattern, woran sich die Linksfraktion
nicht beteiligt hat.
({2})
Wir aber haben wenigstens die Berichterstattergespräche
mit den Behindertenverbänden und dem Behindertenbeauftragten geführt. Hierzu wäre ich noch gekommen.
Wenn Sie schon diesen Punkt herausgreifen, dann lassen Sie mich sagen: Es ist ein guter Schritt, dass auch die
Verbände der Behinderten dazu bereit waren, Kompromisse einzugehen und von den Maximalforderungen abzuweichen. Dieser Gesetzentwurf wurde insgesamt sieben Jahre lang mit den verschiedenen Mehrheitsverhältnissen und in den verschiedenen Entwurfsstadien
diskutiert. Dass wir jetzt miteinander diese Lösung erzielt haben, zeigt, wie kompromissbereit dieses Haus in
den einzelnen Fraktionen ist. Es ist hervorzuheben, dass
alle Beteiligten - die vier Fraktionen, die Bundesländer,
die Verbände - ihren Beitrag zu diesem Kompromisswerk geleistet haben.
({3})
Gerade im Hinblick auf die vollständige Barrierefreiheit haben wir natürlich auch Verpflichtungen, die zu erfüllen wir uns vorgenommen haben. Aber bis dann 2020,
2022 diese Regelungen vollständig umgesetzt sein müssen, ist es zumindest ein guter Kompromiss, dass wir bei
den Fernbuslinien für die Behinderten Plätze vorgesehen
haben, und zwar jeweils mindestens zwei Plätze für die
Rollstühle sowie die notwendigen Einstiegshilfen.
Neben diesen Punkten ist natürlich auch der Schutz
des öffentlichen Nahverkehrs von besonderer Bedeutung. Im Fernbuslinienverkehr soll freier Wettbewerb
entstehen, um den Bürgerinnen und Bürgern komplette
Wahlfreiheit zu geben: Sie können jetzt natürlich nach
wie vor mit dem Pkw fahren, können aber genauso - wir
alle wünschen das - auf den Zug, auf die Schiene umsteigen; diejenigen, die vielleicht nicht auf die Uhr
schauen müssen und mehr Zeit haben oder auf den Geldbeutel schauen müssen, nämlich beispielsweise die Studenten und die Rentnerinnen und Rentner, können auf
das Fernbuslinienangebot zurückgreifen. Das ist eine
gute Botschaft. Wir haben an dieser Stelle Liberalität in
der Mobilität erreicht. Das ist ein sehr guter Schritt.
({4})
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle erlaube ich
mir, die Kolleginnen und Kollegen hervorzuheben, die
daran mitgewirkt haben: Dirk Fischer, Sören Bartol,
Patrick Döring und Toni Hofreiter, die Berichterstatter
der verschiedenen Fraktionen, unter der Moderation von
Volkmar Vogel, vor allem auch die diversen Ländervertreter, die Fraktionsmitarbeiter und die Mitarbeiter unseres Hauses. Sie haben sich, wie gesagt, mehrere Jahre
mit der nationalen Umsetzung kompliziertester Sachverhalte von europäischer Ebene beschäftigen müssen. Die
Mitarbeiter Doose und Hamburger haben großen Einsatz
gezeigt; sie mussten mit unseren Fraktionsmitarbeitern
große Schmöker bearbeiten. Wenn ein Werk gut geworden ist, dann ist es Zeit, in einer solchen Debatte die Mitarbeiter hervorzuheben, ebenso die Kompromissbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen.
Es ist eine gute Botschaft zu später Stunde, dass wir
einen weiteren positiven Beitrag zur Entwicklung der
Mobilität und der Verkehrspolitik in Deutschland geleistet haben. Ich freue mich, dass wir damit Klarheit für die
vielen mittelständischen Unternehmen in dem Bereich
schaffen, die über Jahre hinweg eine harte Zeit hatten.
Denn es gab Bedenken und Ängste, die im Zusammenhang mit der Umsetzung europäischer Vorgaben auf nationaler Ebene aufkommen mussten. Es gab in den verschiedenen Verhandlungsstadien immer wieder große
Diskussionen, Debatten, parlamentarische Abende, Anhörungen und vieles mehr. Es freut mich, dass wir heute
zu diesem Ergebnis gekommen sind.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Sören Bartol für die SPDFraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Personenbeförderungsgesetz hat nicht
nur uns Fachpolitiker seit mehreren Jahren beschäftigt:
Kommunen, Verkehrsunternehmen und ihre Beschäftigten, Gerichte und vor allen Dingen eine Vielzahl von Juristen begleitet dieses Thema schon lange. Kaum jemand
hat noch damit gerechnet, dass die Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes in dieser Legislaturperiode
kommt. Deswegen freue ich mich umso mehr - der Kollege Staatssekretär hat es schon gesagt -, dass es uns
Parlamentariern gelungen ist, einen Kompromiss zu finden, der - davon gehe ich ganz schwer aus - auch von
einer breiten Mehrheit der Länder mitgetragen wird.
Ab 2013 wird der öffentliche Nahverkehr in Deutschland einen neuen Rechtsrahmen haben, der mehr Rechtssicherheit bringt, vor allem aber ein qualitatives, hochwertiges Nahverkehrsangebot sichert. Ich möchte mich
dem Dank an die Kolleginnen und Kollegen anschließen, die daran mitgearbeitet haben, vor allen Dingen dafür, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen haben und wir sachlich und konstruktiv über Monate
hinweg an dem jetzt vorliegenden Kompromiss arbeiten
konnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war, wie
ich finde, Gesetzgebungsarbeit im besten Sinne. Zahlreiche Länder von A-, B- und neuerdings auch G-Seite haben uns mit ihrem fachlichen Rat unterstützt. Auch dafür
möchte ich mich ganz herzlich bedanken.
({0})
Leider stehen die Fernlinienbusse im Mittelpunkt der
öffentlichen Wahrnehmung; man sieht es auch an der
Kurzbezeichnung des Tagesordnungspunktes. Ich kann
es niemandem verdenken; denn der ÖPNV ist ein schwer
zugängliches Expertenthema, ein Expertenthema, das allerdings konkrete Auswirkungen hat, auf das tägliche
Leben der Menschen, die Busse und Bahnen nutzen, und
auf die Beschäftigten in den Verkehrsunternehmen. Uns
als SPD war es deshalb wichtig, dass die kommunalen
Aufgabenträger die Gestaltungshoheit über das Verkehrsangebot bekommen. Sie sind diejenigen, die für die
Daseinsvorsorge verantwortlich sind, und dieser Kompromiss setzt das auch um. Die Aufgabenträger bekommen eine klare Aufgabenbeschreibung und Handlungsinstrumente entsprechend der EU-Verordnung. Neben
einer Vergabe in einem wettbewerblichen Verfahren sind
Eigenerbringung und Direktvergabe ausdrücklich möglich. Das ist wichtig für die Kommunen und ihre Verkehrsunternehmen, aber auch für kleine und mittelständische private Unternehmen. Die Gewerkschaften, liebe
Kolleginnen und Kollegen, begrüßen diesen Erfolg doch
ausdrücklich.
Die Besonderheit des deutschen Rechts, der Vorrang
eigenwirtschaftlicher Verkehre, bleibt, auch auf Wunsch
der Länder. Dieser Vorrang wird aber dann eingeschränkt, wenn kommunale Aufgabenträger selbst aktiv
den Nahverkehr gestalten wollen. Eigenwirtschaftliche
Verkehre dürfen Qualitätsanforderungen zu Takt, Bedienzeiten und Barrierefreiheit nicht wesentlich unterschreiten, ansonsten bekommen sie keine Genehmigung.
Welche Qualitätsanforderungen unter welchen Voraussetzungen gelten, wann Abweichungen davon wesentlich sind, das haben wir in einem langen, ich gebe
zu, sehr komplizierten Paragrafen verfasst, der sicherlich
kein Lehrbuchbeispiel wird. Aber was uns am Ende gelungen ist - ich glaube, darauf kommt es an -, ist ein
System von Checks and Balances zwischen kommunaler
Verantwortung auf der einen Seite und Unternehmensinteressen auf der anderen Seite, das Rosinenpickerei auf
lukrativen Linien und die Unterschreitung von Qualitätsstandards wirkungsvoll verhindert.
An zwei weiteren wichtigen Stellen wird das ÖPNVRecht modernisiert. Erstens. Im Nahverkehrsplan wird
das Ziel vollständiger Barrierefreiheit vorgegeben.
({1})
Diese Regelung gilt ab 2022, und dann sind Ausnahmen
- und das ist wirklich neu - nur noch mit Begründung
möglich. Zweitens. Wir gehen außerdem einen ersten
Schritt, um die Genehmigung alternativer Bedienformen
zu erleichtern: Von Anrufsammeltaxen über Rufbusse
bis hin zu Linienbandbetrieb - in der Praxis hat sich eine
erfreuliche Vielfalt entwickelt, die endlich eine tragbare
rechtliche Grundlage braucht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen: Bei der
Liberalisierung der Fernbuslinien waren wir als SPD
nicht von Anfang an vollauf begeistert.
({2})
Neben den Chancen eines zusätzlichen, preisgünstigen
Mobilitätsangebots sehen wir allerdings auch die Risiken. Deswegen ist es uns besonders wichtig, dass in das
Gesetz nun eine Regelung zum Schutz des Regionalverkehrs aufgenommen wird; denn der Regionalverkehr auf
der Schiene wird mit viel öffentlichem Geld bezahlt, und
er ist für viele Pendler - das muss man einmal deutlich
sagen - alternativlos.
Wir müssen die neue Entwicklung des Fernbusmarktes aufmerksam beobachten. Im Gesetz ist deshalb eine
Berichtspflicht der Bundesregierung verankert, Anfang
2017 soll dieser Bericht dem Deutschen Bundestag vorliegen. In unserem gemeinsamen Entschließungsantrag
fordern wir die Bundesregierung noch einmal auf, das
Bundesamt für Güterverkehr personell so auszustatten,
dass es diese neuen Fernlinienbusse auch effektiv kontrollieren kann. Es geht dabei um einen fairen Wettbewerb, die Arbeitsbedingungen der Fahrer und damit
nicht zuletzt um die Sicherheit der Fahrgäste, und das
von Anfang an.
Ich freue mich besonders, dass es uns gelungen ist,
bei den Fernlinienbussen Barrierefreiheit zur Pflicht zu
machen. Ab 2016 gilt für neue Busse, dass sie mit zwei
Rollstuhlplätzen und einem Hublift ausgestattet sein
müssen. Ab Ende 2019 gilt das dann für alle Busse. Die
Hersteller und die Unternehmen werden genug Zeit haben, sich darauf einzustellen. Was wir in den letzten Tagen in der Presse gelesen haben, dass das die Unternehmen überfordert, ist im Sinne einer modernen Politik für
Menschen mit Behinderung eigentlich nicht mehr zu diskutieren.
Die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz, die
wir heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt auf dem
Weg zu mehr Rechtssicherheit und zu einem guten öffentlichen Nahverkehr. Mit den Fernlinienbussen wagen
wir uns auf Neuland, unter jetzt vernünftigen Rahmenbedingungen, auf die wir uns alle gemeinsam verständigt
haben. Dass dieser Kompromiss gelungen ist, das zeigt
auch die politische Handlungsfähigkeit jenseits von
manchmal doch recht tiefen ideologischen Gräben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
freuen uns, dass der gefundene Kompromiss beim Personenbeförderungsgesetz innerhalb und auch außerhalb
dieses Hauses breite Zustimmung findet. Es gibt nur
kleine Unzufriedenheiten und Kritikpunkte. Das zeigt,
dass es sich um einen ausgewogenen Kompromiss handelt. Er ist ein großer Erfolg aller beteiligten Fraktionen
und auch der Bundesländer. Deswegen gilt mein herzlicher Dank im Namen der FDP-Bundestagsfraktion all jenen, die an diesem Kompromiss beteiligt waren.
({0})
Unser zentrales Anliegen war und ist, den bewährten
Ordnungsrahmen für den ÖPNV in Deutschland an das
geänderte europäische Recht anzupassen, aber auch
nicht völlig umzukrempeln. Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern einen attraktiven und erfolgreichen ÖPNV. Mehr Transparenz und Wettbewerb tun
aber auch dem ÖPNV in Deutschland gut.
Dabei die Interessen der kleinen und mittelständischen, meist familiengeführten Busunternehmen zu wahren, war für die FDP ein zentrales Anliegen in den Verhandlungen. Das ist an den entscheidenden Stellen auch
gelungen. Im ÖPNV bleibt es beim Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehre. Das ist ein Thema, das uns
besonders wichtig war und bleibt. Das heißt, die Aufgabenträger können nur unter engen Voraussetzungen mit
einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag eigenwirtschaftlichen Verkehr verdrängen.
Auch im Fernverkehr haben wir nicht nur die weitgehende Liberalisierung erreicht, sondern auch das Genehmigungsverfahren entbürokratisiert. Das ist gut für Kunden, für Steuerzahler und das mittelständische Transportgewerbe. Deswegen können wir uns mit dem Ergebnis wirklich sehr gut anfreunden. Das ist auf Linie des
Koalitionsvertrages, weil wir, wie Kollege Bartol zu
Recht beschrieben hat, eine angemessene Rollenverteilung zwischen Staat und Markt im ÖPNV haben, die
kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Instrument des Nahverkehrsplans und des öffentlichen Dienstleistungsauftrages konkreter als bisher beschrieben und
gestärkt haben, es aber auch noch ausreichend Spielraum
für eigenwirtschaftlichen Verkehr gibt. Dies kann durch
verschiedene Vorgaben des Nahverkehrsplans quasi hinten herum nicht mehr ausgehebelt werden. Der eigenwirtschaftliche Genehmigungsantrag kommt, vereinfacht
gesagt, nur dann nicht zum Zug, wenn er wesentlich von
dem abweicht, was der Aufgabenträger an Verkehr bestellen will.
({1})
Wir freuen uns besonders über die wirklich überfällige Freigabe des Buslinienfernverkehrs. Diese Freigabe
bedeutet natürlich nicht, dass jeder tun und lassen kann,
was er will. Es gelten strenge gewerberechtliche Anforderungen, was Zuverlässigkeit und Sicherheit angeht.
Natürlich ist es weiterhin notwendig, eine Verkehrsgenehmigung, eine Liniengenehmigung zu beantragen. Der
Unterschied zu vorher ist, dass man diese Genehmigung
nicht mehr einfach mit der Begründung verweigern
kann, dass es andere Unternehmer bzw. die Eisenbahn
gibt. Der bisherige Wettbewerbsschutz entfällt. Das ist
unserer Meinung nach nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit bei einer Tätigkeit, die der Staat nicht bezuschussen muss und die auch nicht in das eigentliche
Tätigkeitsfeld staatlicher Aufgaben fällt.
({2})
Das heißt, wir vollziehen beim Busverkehr nichts anderes als das, was wir auf allen anderen Verkehrsmärkten
haben. Heute würde ja auch keiner mehr auf die Idee
kommen, einem Spediteur Beförderungsdienstleistungen
zu verbieten, nur weil ein anderer sie erbringt.
({3})
Wir sind der Überzeugung, dass Wettbewerb und
marktwirtschaftliche Ordnung auch im Verkehrssektor
dafür sorgen, dass Kunden und die Volkswirtschaft profitieren, dass die Preise fallen, dass Service und Qualität
sich verbessern. Das wird auch mit der Liberalisierung
im Fernverkehr der Fall sein. Deswegen ist das gut und
richtig.
({4})
Welche Angebote es nun geben wird - das wurde
eben zu Recht angesprochen -, das kann niemand voraussagen. Wir wollen Marktchancen für etablierte Unternehmen, aber auch für junge, innovative Unternehmen. Wir werden sehen, wie sich der Markt entwickelt.
Auf jeden Fall machen wir Schluss mit der Bevormundung des Bürgers, dem bis jetzt die Freiheit abgesprochen wurde, selbst zu entscheiden und auszuwählen,
welches Fernverkehrsangebot er nutzen will.
Der Fernbus ist gerade für Reisende mit geringem
Einkommen eine hervorragende Alternative. Deswegen
kann ich die Bedenken auf der linken Seite des Hauses
nicht verstehen. Im Gegenteil: Es ist sogar unsozial, dass
Sie ein solches Instrument ablehnen wollen.
({5})
Wir erhoffen uns von der Freigabe des Buslinienfernverkehrs natürlich auch, dass Bewegung in das Thema
„Monopolstellung der Bahn“ kommt. Auch 20 Jahre
nach der Bahnreform muss sich noch viel tun. Wir wissen: In den Bereichen, in denen wir Monopole haben,
haben wir steigende Preise. Das ist auch bei der Bahn
der Fall, wie wir gerade jetzt wieder merken. Deswegen
sind wir der Überzeugung, dass ein wenig Konkurrenz
auch die Bahn beflügeln wird. Vor allem wird das Verkehrsangebot breiter und besser. Von diesem neuen Angebot profitieren alle Kunden in unserem Land.
({6})
Uns war es besonders wichtig, dass wir mit dem
neuen PBefG, dem Personenbeförderungsgesetz, verlässliche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit für alle
Beteiligten, Aufgabenträger und Unternehmen, im
ÖPNV schaffen und den Fernbusmarkt liberalisieren.
Das ist ein Thema, über das seit fast zehn Jahren diskutiert wird. Deswegen freut es uns umso mehr, dass wir
am Ende einen Erfolg haben.
Vielen Dank.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, das Fotografieren einzustellen. Was soll das? Das ist eine Unsitte.
Kollege Kurth, ich habe Sie gesehen.
Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Staatssekretär Scheuer, man kann auch einen inhaltlichen Disput führen und dabei friedlich sein. Ich
denke, im Bundestag haben wir das immer so gehandhabt. Die Linksfraktion hier als nicht friedlich darzustellen, geht, finde ich, ein bisschen zu weit. Lassen Sie uns
bei den Argumenten bleiben.
Der öffentliche Nahverkehr ist eine wichtige Lebensader unserer modernen Gesellschaft. Ebenso wie Stromund Wasserversorgung sowie die Müllabfuhr ist auch der
Nahverkehr ein öffentliches Gut, zu dem jeder Zugang
haben muss. Es war die Rede davon, die EU wolle vorschreiben, dass die kommunalen Verkehrsleistungen zukünftig ausgeschrieben werden müssen. Dadurch bestünde die Gefahr, dass EU-rechtlicher Vorrang für
private Verkehrsanbieter in der Bundesrepublik geltendes Recht werden würde. Es kam anders: Die EU
schreibt nicht ausdrücklich vor, dass Nahverkehrsleistungen an private Anbieter vergeben werden müssen; sie
lässt es offen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den vier Fraktionen, die hier Gesetzentwürfe einbringen
oder unterstützen, machen das aber nun, indem Sie die
Möglichkeit einräumen, dass private Anbieter Vorrang
bekommen. Genau das lehnen wir Linke ab.
({0})
Uns reicht auch eine kleine Klausel, die im Gesetzentwurf sicherlich enthalten ist, nicht aus, durch die man
versucht, die sogenannte Rosinenpickerei zu verhindern.
Wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, wird der Alltag aller Wahrscheinlichkeit nach zeigen, dass das allein nicht
funktioniert. Die Linke ist somit die einzige Fraktion im
Deutschen Bundestag mit der Auffassung, dass Nahverkehrsleistungen primär öffentlich sein müssen. Eine gesetzliche Regelung, dass kommunale Verkehrsunternehmen den Verkehrsauftrag bekommen und dann einzelne
Leistungen an Privatunternehmen weitervergeben, war
alltagstauglich. Diese Regelung hätte fortgeschrieben
werden können, auch nach neuem EU-Recht.
Wenn Sie heute die künftige Bevorzugung privater
Unternehmen durchwinken, dann bin ich sehr gespannt
auf die Reaktionen Ihrer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, gerade der beiden großen Parteien CDU und
SPD. Ich weiß nicht, ob der Applaus da so stark sein
wird wie hier im Deutschen Bundestag. Sie drücken das
hier durch; es Durchwinken zu nennen, wäre noch geschmeichelt. Am Dienstag haben Sie sich geeinigt - ich
habe das im Ausschuss schon gesagt -, und am Mittwoch ist es im Schnellverfahren durch den Ausschuss
gebracht worden.
({1})
Jeder durfte einmal etwas dazu sagen. Heute, am Donnerstag, geht es kurz vor Mitternacht durch das Plenum.
Das ist eine sehr kurze Zeit, um einen Diskurs über Ihren
Vorschlag zu führen. Man kann schon fast froh sein, dass
das hier nicht einfach zu Protokoll gegeben wurde.
Bei der Fernbusdebatte sieht es nicht viel besser aus.
Ein Sprecher der Firma Touring - Touring ist einer der
fünf großen Player; so viel zum Thema kleine mittelständische Unternehmen auf diesem Markt - brachte es auf
den Punkt. Er hat gesagt, dass sein Unternehmen ausschließlich dort fahren wird, wo man zwischen den großen Metropolen richtig viel Geld verdienen kann. Die
anderen Unternehmen haben sich nicht anders geäußert.
Die Deutsche Bahn betreibt ja schon seit Jahren diese
Firmenpolitik.
Fernverkehrsbusse sollen eine preiswerte Alternative
zur teuren Bahn darstellen. Das wurde immer wieder gesagt. Diese Busse fahren vor allen Dingen deshalb günstiger, weil die Löhne und Gehälter der Busfahrer wesentlich niedriger sind. Sie verdienen schlichtweg weniger
als ein Lokführer. Sie sind auch deshalb günstiger, weil
diese Busse keine Streckengebühr zahlen müssen. Während die Deutsche Bahn und auch private Bahnunternehmen auf der Schiene für jeden Kilometer viel Geld zahlen und für jeden Halt extra zahlen müssen, können diese
Busse frei von zusätzlichen Kosten auf Autobahnen fahren, es sei denn - das kann man hier im Parlament noch
ändern -, Sie stimmen heute unserem Antrag zu, den wir
übrigens dankenswerterweise von der SPD übernommen
haben. Die Zulassung der Fernbusse ohne Autobahnmaut ist nichts anderes als pure Wettbewerbsverzerrung
zulasten der Bahn.
({2})
Positiv ist einzig die Entwicklung bei der Barrierefreiheit. Auch auf Druck der Linken - wir waren nicht
die Einzigen, aber wir haben ganz massiv Druck gemacht - haben Bushersteller und Verkehrsunternehmen
das Problem erkannt und bieten mittlerweile erste gute
Lösungen an. Doch Ihr Gesetzentwurf enthält nun längere Übergangsfristen, auch wenn es nur ein Jahr ist, als
die Unternehmen nach eigenen Angaben hätten realisieren können. Das wurde zumindest bei den Veranstaltungen deutlich.
Letzter Satz, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie tatsächlich wollen, dass der
Personenfernverkehr preiswerter wird, folgen Sie einfach dem Vorschlag, den ich in meiner letzten Rede gemacht habe: Senken Sie den Mehrwertsteuersatz für
Fernverkehrsfahrkarten von 19 auf 7 Prozent! Dann
würde in unser Verkehrswesen endlich europäischer Alltag einkehren.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Anton Hofreiter für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dieses Thema ist ein wunderschönes Beispiel
dafür, dass selbst völlig verfahrene Situationen, wenn
Parlamentarier die Dinge in die Hand nehmen, zu einem
vernünftigen Ergebnis gebracht werden können.
({0})
Ich glaube, wir können uns alle zu dem Verfahren und
dem Ergebnis gratulieren; das ist bereits gesagt worden,
und wir haben uns gegenseitig gedankt. Man muss insbesondere den Mitarbeitern danken: den Mitarbeitern
der Fraktionen, den Mitarbeitern des Ministeriums und
den Mitarbeitern der Landesverkehrsministerien, mit denen wir sehr konstruktiv zusammengearbeitet und die
uns sehr unterstützt haben. Außerdem können wir uns
gegenseitig für den konstruktiven Umgang miteinander
danken.
({1})
Welche sind die drei zentralen Punkte dieses Gesetzentwurfes? Es ist erstens die Regelung zum ÖPNV,
zweitens sind es die Regelungen zur Barrierefreiheit,
und drittens ist es die Regelung zum Fernverkehr.
Was haben wir im Hinblick auf den ÖPNV erreicht?
Natürlich sind wir nicht mit allen Regelungen hundertprozentig glücklich. Warum? Weil es sich um einen
Kompromiss zwischen 4 Fraktionen und 16 Bundesländern handelt. Natürlich kann angesichts dessen niemand
sagen, er habe sich zu 100 Prozent durchgesetzt. Sonst
wäre das ein unanständiger Kompromiss, weil jemand
anders über den Tisch gezogen worden wäre.
Beim ÖPNV haben wir erreicht - da irren Sie sich,
Herr Lutze -, dass die Aufgabenträger, die demokratisch
bestimmten Aufgabenträger, wenn sie es denn wollen
und wirklich Geld dafür in die Hand nehmen, jetzt einen
vernünftigen ÖPNV anbieten können.
({2})
Das ist die Neuerung, und das war ein Kompromiss. Der
Kompromiss lautet: wenn sie es wollen und ernsthaft
Geld hinterlegen. Das ist im Gesetzentwurf klar geregelt.
Des Weiteren ist geregelt, dass eine Kommune, die ein
eigenes kommunales Verkehrsunternehmen betreibt, das
gut arbeitet - auch dafür gibt es Kriterien -, direkt an
dieses Unternehmen vergeben darf.
({3})
Genau das, von dem Sie bemängelt haben, dass es nicht
im Gesetzentwurf geregelt sei, ist also im Gesetzentwurf
geregelt.
Selbstverständlich hätten wir uns beim Thema Barrierefreiheit mehr gewünscht. Ich glaube, man kann sogar
sagen, dass wir alle uns bei diesem Thema mehr wünschen würden. Hier sind aber gar nicht so sehr die Fernbusse das Problem,
({4})
sondern das zentrale Problem ist der allgemeine ÖPNV.
({5})
Aber woran liegt es? Es liegt daran, dass es U-Bahn-Systeme gibt, die zum Teil fast 100 Jahre alt sind,
({6})
und dass es Unmengen von Bahnhöfen gibt, die uralt
sind. Hier war nun einmal nichts anderes möglich, als
den Ländern - allerdings mit vollem Verständnis für die
Länder - Übergangsregelungen zuzugestehen. Schließlich können die Länder kein Geld schnitzen, um diesen
Prozess zu gestalten. Wie gesagt, wir hätten uns hier viel
mehr gewünscht. Es gab auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie schnell man etwas erreichen kann.
Es war nicht mehr drin, und die gefundene Lösung ist im
Vergleich zur bestehenden Regelung ein großer Fortschritt.
({7})
Zu den Fernbussen. Ja, wir haben den Fernbusverkehr
liberalisiert. Das Umweltbundesamt hat festgestellt, dass
ein Fernbus, wenn er vernünftig besetzt ist, unter ökologischen Aspekten ähnlich gut zu bewerten ist wie die
Bahn. Die Regelung, die wir getroffen haben, sieht vor:
Wenn jemand bereit ist, eine Buslinie, ein ökologisches
Verkehrsmittel, anzubieten, und dafür nicht einen Cent
vom Staat will, dann darf er das tun. Was ist daran
schlimm?
({8})
Seien Sie ehrlich: Was ist daran schlimm, dass jemand,
der bereit ist, seinen Kunden ein ökologisches Verkehrsmittel anzubieten, dies jetzt tun darf? Hier wäre ich mit
Kritik ganz vorsichtig. Wenn ich mir anschaue, wer zu
wessen Klientel gehört, muss ich nämlich sagen: Ich
glaube, dass dies gerade für Menschen mit geringerem
Einkommen eine hervorragende Alternative ist.
({9})
Insgesamt glaube ich, dass wir einen guten Kompromiss gefunden haben. Auf diesen Kompromiss können
wir stolz sein. Jetzt geht es darum, dieses Vorhaben möglichst schnell durch den Bundesrat zu bringen; aber da
bin ich sehr optimistisch.
Vielen Dank.
({10})
Letzter Redner ist Kollege Volkmar Vogel für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, das ist ein versöhnlicher Abschluss eines
doch auch kontroversen Plenartages. Nicht, dass ich
irgendetwas gegen kontroverse Debatten habe, ganz im
Gegenteil, das macht Demokratie aus, aber das, was wir
hier gerade auch der interessierten Öffentlichkeit gezeigt
haben,
({0})
ist vor allen Dingen eine Wertschätzung derjenigen, die
jeden Tag mit dem Bus oder als Eisenbahner die Menschen sicher und zuverlässig transportieren und befördern.
({1})
Wir sehen, dass es mittlerweile 23.20 Uhr ist. Das ist
auch ein richtiges Signal, weil es um diese Zeit gerade
die von mir eben erwähnten Mitarbeiter sind, die ihren
Dienst ordentlich tun, und wir müssen dafür sorgen, dass
die rechtlichen Grundlagen so gestaltet sind, dass das
auch in Zukunft weiter so geschehen kann.
Eines muss man nämlich auch sagen: Der ÖPNV und
der Fernverkehr in Deutschland können sich bei aller
Kritik, die wir auch üben müssen, weltweit sehen lassen.
Sie sind beispielgebend, und für uns ist es wichtig, dass
wir dieses System erhalten und ausbalancieren, damit es
ein vernünftiges Miteinander der einzelnen Strukturen
gibt, nämlich der mittelständischen Unternehmen, die
viel in unserem Land tun und viele fleißige Mitarbeiter
haben, mit den qualitativ hochstehenden kommunalen
Betrieben, die hier die notwendigen Pflichten zur
Daseinsvorsorge auch in der Praxis erfüllen.
Bei den Gesprächen über das Gewerbe stand eines
fest - das wurde uns sehr schnell klar -: Dieses Thema
taugt nicht für ideologische Auseinandersetzungen oder
für den Vermittlungsausschuss. Wir von CDU/CSU und
FDP waren uns sehr schnell im Klaren darüber, und als
wir unsere Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ansprachen, haben wir gemerkt, dass sie das genauso
sehen. Das war die Grundlage für die Verhandlungen,
die hart, aber niemals zäh waren; denn sonst würden wir
heute noch sitzen und verhandeln. Sie waren auch immer
fair; denn sonst hätten wir heute keinen so tragbaren
Kompromiss.
All den Mitarbeitern aus unseren Fraktionen, aus dem
Bundesverkehrsministerium - Herr Doose und Herr
Hamburger -, aus den Länderministerien bzw. aus den
Ländern und auch aus den Verbänden, die uns dabei unterstützt haben, gilt auch heute unser Dank. Den möchte
ich hier für meine Fraktion auch noch einmal bestärken.
({2})
Es war nicht leicht. Wir mussten einen Kompromiss
finden zwischen dem Vorrang der eigenwirtschaftlichen
Verkehre, die uns wichtig sind, weil für uns auch die
Gleichbehandlung der mittelständischen Unternehmen
in diesem Markt wichtig ist, und den Pflichten zur Daseinsvorsorge, die bei den kommunalen Aufgabenträgern liegen und bestimmte Zwänge auslösen. Wir mussten uns darüber verständigen: Wie wollen wir in Zukunft
den Nahverkehrsplan gestalten? Wie gestalten wir das
Verhältnis zwischen dem Aufgabenträger mit den Pflichten, die er hat, und den Rechten, die sich daraus für ihn
ableiten, und einer neutralen Genehmigungsbehörde, die
darüber wacht, dass das Gesetz ordnungsgemäß angewendet wird? Wir mussten auch einen Kompromiss finden zwischen dem Willen der christlich-liberalen Koalition zur Liberalisierung des Fernbusverkehres und den
Zwängen, die bestehen, um vor allen Dingen den schienengebundenen Nah- und Fernverkehr zu schützen.
Ich glaube, wir haben in all diesen Bereichen sinnvolle Regelungen geschaffen. Meine Vorredner haben
darauf hingewiesen. Ich muss das nicht noch im Einzelnen darlegen.
({3})
Trotz alledem ist es wichtig, dass wir gerade im
Bereich des Fernverkehrs einfache Lösungen gefunden
haben. Hätten wir die Freigabe des Fernverkehrs mit zu
weitreichenden Vorgaben belastet, dann wäre der Start
Volkmar Vogel ({4})
dieses neuen Marktsegmentes sicherlich schwieriger
gewesen - vielleicht nicht für die Großen am Markt, die
europaweit agieren, auf alle Fälle aber für die vielen
Kleinen, die hier neue Chancen zur Betätigung sehen
und aktiv sein wollen.
Gerade in diesem Bereich war die Barrierefreiheit
natürlich ein wichtiger Punkt, über den wir auch gemeinsam diskutiert haben. Die Barrierefreiheit ist wichtig,
weil sie jeden von uns betreffen kann. Auf der anderen
Seite hat Barrierefreiheit nicht nur für Menschen mit
körperlicher Behinderung, sondern auch für junge Familien mit Kinderwagen eine Bedeutung, die genauso entsprechende Einstiegsmöglichkeiten haben müssen.
({5})
Mit dem Kompromiss, den wir hier gefunden haben, so
denke ich, werden wir den berechtigten Anliegen der
Behinderten gerecht. Andererseits können auch die Unternehmen, vor allen Dingen die kleinen Unternehmen,
wenn es um Investitionen geht, mit den wirtschaftlichen
Zwängen leben.
Zum Abschluss lassen Sie mich noch zwei Worte zu
unserem Entschließungsantrag sagen. Ich denke, die Tatsache, dass wir einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorlegen, zeigt, dass wir an diesem Thema gemeinsam dranbleiben wollen. Die Stärkung des BAG ist ein
richtiger Ansatz, damit es auch in Zukunft die erweiterten Kontrollaufgaben, die sich mit dem Markt Fernbuslinienverkehr ergeben, realisieren kann. Daran müssen
wir arbeiten.
Abschließend muss man sagen: Barrierefreiheit heißt
natürlich auch technische Umsetzung. Wir haben in Gesprächen erfahren, dass die technischen Standards, die
aus unserer Sicht europaweit bei Fernbussen gelten müssen, noch nicht in der Schärfe vereinheitlicht sind, wie
das notwendig wäre.
Man muss auch hier sehen: Wir wollen die Barrierefreiheit und das Angebot dafür im Fernverkehr haben. Das
heißt aber für die Unternehmen, die das umsetzen müssen,
Planungssicherheit und Investitionssicherheit, sodass sie
nicht am Ende einen Bus kaufen, der zwar augenscheinlich Barrierefreiheit gewährleistet oder Plätze für
Behinderte bietet, aber dann nicht den beschlossenen
Standards entspricht.
An diesem Punkt müssen wir weiter arbeiten. Das
werden wir gemeinsam im Auge behalten. Ich denke, um
diese Zeit kann man sagen, dass wir diesen Tag zu einem
guten Abschluss gebracht haben. Ich möchte Sie darum
bitten, dass Sie alle gemeinsam, auch die Linken, unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschrif-
ten. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/8233 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
auf Drucksache 17/10858? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der Linken mit Zustimmung der übrigen vier
Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Hierzu liegt eine persönliche
Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Ilja Seifert
vor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen
die Stimmen der Linken angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge. Zunächst Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/10859. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist von den
beantragenden Fraktionen bei Enthaltung der Linken an-
genommen.
Nun Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/10860. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehr-
heitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung personenbeförde-
rungs- und mautrechtlicher Vorschriften. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/7046 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7487 mit dem Titel „Keine Liberalisierung des
Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienen-
verkehrs in der Fläche“. Wer stimmt für diese Beschluss-
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der vier
Fraktionen gegen die Stimmen der beantragenden Fraktion Die Linke angenommen.
Nun kommt eine ganze Reihe von Abstimmungen
und von zu Protokoll gegebenen Reden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Lothar Binding ({1}), Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie für die zivile Krisenprävention
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller ({2}), Marieluise Beck ({3}),
Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof
Schmidt, Omid Nouripour, Marieluise Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln
- Drucksachen 17/4532, 17/5910, 17/6351,
17/8711 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Edelgard Bulmahn
Joachim Spatz
Jan van Aken
Kerstin Müller ({6})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind einverstanden.1)
Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/8711. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4532 mit dem Titel
„Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie
für die zivile Krisenprävention“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5910 mit dem Titel „Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik
rücken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6351 mit dem Titel „Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Auch hier haben CDU/CSU, FDP und
Linke dafür gestimmt und SPD und Grüne dagegen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes
- Drucksachen 17/10744, 17/10797 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-
den zu Protokoll zu geben.2) - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/10744 und 17/10797 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Angelika Graf ({9}), Bärbel Bas, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Glücksspielsucht bekämpfen
- Drucksachen 17/6338, 17/10695 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben.
Seit Dezember 2011 wird der Entwurf zur 6. Verord-
nung zur Änderung der Spielverordnung mit Ressorts,
Ländern und Verbänden abgestimmt. Der Entwurf greift
die Vorschläge zur Verbesserung des Spieler- und Ju-
1) Anlage 5 2) Anlage 6
gendschutzes bei den Geldspielgeräten auf, die im Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Evaluation der 5. Spielverordnung enthalten
sind.
Das ist gut und richtig, denn Glücksspiel ist weit verbreitet. 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben
im vergangenen Jahr schon einmal an einem öffentlich
angebotenen Glücksspiel teilgenommen. Rund 9 Prozent
der Bevölkerung haben bereits an Geldspielautomaten in
Spielhallen und Gaststätten gespielt. Aber auch
11 Prozent der Deutschen haben ein oder mehrmals die
Spielbanken aufgesucht und dort am sogenannten großen
Spiel an den Spieltischen oder am sogenannten kleinen
Spiel an den dortigen Spielautomaten teilgenommen.
Besorgniserregend ist in der Tat - insoweit teile ich
die Grundüberlegung Ihres Antrages -, dass mittlerweile rund 1,4 Prozent der Bevölkerung in den letzten
12 Monaten risikoreich gespielt haben, 0,3 Prozent problematisch und 0,35 Prozent spielten pathologisch
Glücksspiele, wobei pathologisches Glücksspiel als eigenständige psychische Erkrankung im internationalen
diagnostischen System des CDI-10 anerkannt ist.
Die Suchtpotenziale unterscheiden sich nach Art des
Spiels. Die Teilnahme an Sportwetten, dem kleinen Spiel
in der Spielbank, Poker und Geldspielautomaten ist mit
einem erhöhten Risiko für pathologisches Glücksspiel
verbunden. Geldspielautomaten haben nach allen Untersuchungen das höchste Suchtpotenzial. Das ist auch
einleuchtend, denn zum einen erlebt der Spieler mit der
schnellen Spielefrequenz und der bislang erlaubten
Mehrfachbespielung den Verlust immer weniger. Er hat
keine Zeit, zu realisieren, dass im Augenblick des Spiels
vor dem neuen Druck auf die Taste der Einsatz weg ist.
Zum andern wird mit höherem Einsatz der Anreiz, den
Verlust auszugleichen, auch unmittelbar höher. Vor allem sind die Automatenspiele außerhalb der staatlichen
Spielbanken in Spielhallen und Gaststätten überall verfügbar. Deshalb ist es sicher richtig, dort anzusetzen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD:
Ihr Antrag ist mit dem Adressaten Bundesregierung
überwiegend an die falsche Adresse gerichtet. Mit der
Föderalismusreform im Jahr 2006 ist die Kompetenz für
die Hallen auf die Länder übergegangen, und zum
1. Juli 2012 ist auch der neue Glücksspielstaatsvertrag
der Länder in Kraft getreten. Ich gehe deshalb auch davon aus, dass Sie Ihre Forderungen und Anregungen bei
ihren jeweiligen Landesregierungen erfolgreich angebracht haben. Der Bund bleibt lediglich für die gerätebezogene Regelung zuständig. Nicht nur in diesem Teilbereich sind wir uns in der christlich-liberalen Koalition selbstverständlich unserer Verpflichtung bewusst.
Ich will hier auch darauf hinweisen, dass das BMG
seit 2007 im Rahmen eines Modellprojektes mit einer
Gesamtsumme von 1,1 Millionen Euro die Entwicklung
und Erprobung von frühen Interventionen bei pathologischem Glücksspiel fördert. Schon jetzt steht fest, dass die
Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit
dem Modellprojekt gelungen ist. Die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung ist umfassend tätig; ich
nenne als Beispiel das Beratungstelefon. Soweit Sie den
Einsatz auf europäischer Ebene anmahnen, hat
Deutschland im Rahmen der Ratsarbeit zum Glücksspiel
selbstverständlich auf die Bedeutung hingewiesen, die
dem Schutz der Allgemeinheit vor unkontrolliertem
Glücksspiel zukommt. Es geht dabei insbesondere um
den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der Spielsucht und den Schutz vor Folge- oder Begleitkriminalität.
Spielerschutz und Vorbeugung sind mir wichtige Anliegen. Die christlich-liberale Union wird alles dafür
tun, dass in ihrem Einflussbereich Spielerschutz und
Prävention zentraler Punkt jeder Neuregelung sind.
Deshalb sind natürlich neue, gerätebezogene Regelungen nach der Evaluation der 5. Spielverordnung dringend notwendig. Denn die früheren Unterhaltungsspiele, bei denen der Geldeinsatz nur dazu dienen sollte,
das Gerät zu bedienen, wie zum Beispiel bei den
Flipperautomaten, gibt es kaum noch. Das Unterhaltungselement trat im Laufe der Zeit in den Hintergrund.
Heute dominiert bei den Automaten der Gewinnaspekt.
Gerade durch die Novellierung der Spielverordnung
2006 wurden die Ereignisfrequenz, die Illusion der Beeinflussbarkeit von Einsatz und Gewinn erhöht. Es ist
vor allem festzuhalten, dass mit der folgenden zunehmenden Attraktivität des Automatenspiels nicht gleichzeitig die Schutzmaßnahmen zur Verhinderung von
Sucht angepasst wurden. Die Evaluation der 5. Spielverordnung hat ergeben, dass der damals beabsichtigte
Schutz zum Beispiel mit dem Verbot der Fungames
durchaus erreicht wurde. Allerdings konnten die Vorgaben vor allem illegale Praktiken, insbesondere bei den
Punktspielen, wie das sogenannte Vormünzen, nicht ausreichend verhindern. Der Jugendschutz in den Hallen
wurde weitestgehend eingehalten; aber in den Gaststätten liegt oder lag offenbar vieles im Argen.
Der Entwurf der 6. Spielverordnung greift nun bereits
viele Aspekte auf: Er sieht erfreulicherweise Maßnahmen zur Verbesserung des Jugend- und Spielerschutzes
vor. Zudem sollen die gerätebezogenen Regelungen generell verschärft werden. Zu diesem Zweck sollen
Spielanreize und Verlustmöglichkeiten durch die Absenkung des maximalen Durchschnittsverlustes pro Stunde
begrenzt, das sogenannte Punktspiel eingeschränkt und
die Mehrfachbespielung eingedämmt werden. Vorgesehen ist die Einführung einer Spielunterbrechung mit
Nullstellung der Geldspielgeräte nach drei Stunden. Das
sogenannte Vorheizen der Geldspielgeräte, also das
Hochladen von Punkten durch das Personal der Spielstätte, wird ausdrücklich verboten. Die Mehrfachbespielung von Geldspielgeräten wird weiter eingedämmt
durch eine Reduzierung der Geldspeicherung in Einsatz- und Gewinnspeichern und eine Verschärfung der
Beschränkung von Automatiktasten. Insgesamt soll so
der Unterhaltungscharakter der Geldspielgeräte wieder
gestärkt werden. Das bestehende Spielverbot für Jugendliche soll durch Verschärfung der Regelungen zu
Automaten in Gaststätten gestärkt werden. Um schneller
auf Fehlentwicklungen reagieren zu können, sollen die
Bauartzulassung und die Aufstelldauer für Geldspielgeräte befristet werden. Alles in allem ist das, meine ich,
eine gute Entwicklung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn wir von Mängeln und Versäumnissen reden, die
sich aus der Evaluation deutlich erkennen lassen, ist mir
aber eine differenzierte Betrachtung wichtig: Ich wehre
mich entschieden dagegen, dass eine gesamte Branche,
die nach wie vor ein zulässiges Gewerbe betreibt, Ausbildungs- und Arbeitsplätze schafft und Steuern zahlt, in
Verruf gebracht wird, um die schwarzen Schafe - die es
sicher in der Branche gibt - zu erfassen.
Selbstverständlich müssen Regeln eingehalten werden und muss jeder, der versucht, Regeln zu umgehen,
empfindlich bestraft werden. Zurzeit sind einige suchtpolitische relevante Vorgaben - wie beispielsweise das
Auslegen von Informationsbroschüren über die Risiken
des übermäßigen Spielens - noch nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet. Das geht so nicht und ist zu
ändern. Auch ist die Höhe der Bußgelder für viele Ordnungswidrigkeiten-Tatbestände zu gering. Das BMWi
will die Bußgeldandrohung bei Verstößen gegen die
Spielverordnung von 2 500 Euro auf 5 000 Euro anheben. Hier werde ich auf empfindlichere Bußgelder hinwirken.
Ich rede aber jetzt nicht nur von den Erhöhungen im
Ordnungswidrigkeitenbereich, sondern von krimineller
Energie. Nicht zuletzt hat das BMF Ergänzungen der
Spielverordnung um Regelungen zur Datenspeicherung
und zur Verbesserung des Manipulationsschutzes zur
Verhinderung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung
verlangt. Die entsprechenden Vorschläge werden aktuell
erarbeitet. Es geht um die Bauartzulassung, die künftig
nur erteilt werden soll, wenn sämtliche von der Kontrolleinrichtung in Spielgeräten erfasste Daten dauerhaft
und jederzeit verfügbar, lesbar und auswertbar sind und
wenn vor allem nachträgliche Änderungen erkennbar
bleiben. Die Umstellung erfordert insbesondere Anpassungen der technischen Richtlinien der PTB, neue
Schnittstellenstandards und Auslesetechniken sowie angemessene Übergangsfristen. Infolgedessen sind die
Vorarbeiten zur 6. Spielverordnung auch noch nicht abgeschlossen.
Ich konnte mich jedenfalls in vielen Gesprächen, denen auch Taten gefolgt sind, selbst davon überzeugen,
dass die Branche die Probleme erkannt hat und durchaus bereit ist, mitzuwirken. Deshalb setze ich mich dafür
ein, dass das Element der freiwilligen Selbstkontrolle
Teil der Regelung bleibt und dass erst dann, wenn diese
nicht funktioniert, die staatliche Repression - dann aber
auch mit aller Schärfe - einsetzt.
Noch ein Aspekt ist mir wichtig: Allein mit weiteren
technischen Vorschriften kann der Spielerschutz auf
lange Sicht nicht sichergestellt werden. Ein Gutachten
von Professor Tilmann Becker, Universität Stuttgart-Hohenheim, nimmt unter anderem zu Maßnahmen der Aufklärung und Information von Spielern und Mitarbeitern
und zum Schutz der gefährdeten Spieler Stellung. Professor Becker zeigt, dass Identitätskontrollen eine Maßnahme sind, um die soziale Verfügbarkeit zu verringern.
Er stellt dar, dass die Selbstsperre zu den effektivsten
Maßnahmen des Spielerschutzes gehört, und er erklärt,
dass eine Verpflichtung der Anbieter, Sozialkonzepte
vorzulegen, die Mitarbeiter zu schulen sowie die Spieler
aufzuklären und zu informieren, maßgeblich zur Prävention beitragen kann.
Die Studie weist nach, dass der Automatenspieler einen Spielemix in Anspruch nimmt. Neben dem Spiel in
den Spielstätten pokern 52,2 Prozent. 42,9 Prozent spielen auch in Automatensälen von Spielbanken und
39,6 Prozent nehmen am Fußballtoto teil. Im Durchschnitt werden von pathologischen Spielern 5 Spielformen genannt, die sie betreiben. In dieser Studie werden
übrigens nur von 3,4 Prozent der pathologischen Spieler
Geldgewinnspielgeräte als bedeutsamstes Spiel in den
vergangenen 12 Monaten genannt. Jedenfalls gibt es, so
die Studie, nicht den pathologischen Automatenspieler,
sondern allenfalls den pathologischen Spieler, der eben
unter anderem auch an Automaten spielt. Sollte also das
Automatenspielangebot gänzlich für ihn wegfallen, ist
zu erwarten, dass er den Automaten durch ein anderes
Angebot ersetzt. Vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass man die Spieler in den Spielhallen mit Schutzmaßnahmen, Prävention und Suchtangeboten noch am
besten erreicht, dem dortigen Alkoholverbot und den
Steuerungsmöglichkeiten der Kommunen wäre ein Ausweichen ins Internet mit gleichen Glücksspielangeboten,
wie ich es an dieser Stelle bereits beschrieben habe, sicher eine sehr schlechte Variante.
Für die Suchtentwicklung ist auf den Einzelfall, auf
den einzelnen Menschen, seinen Lebenshintergrund und
das von ihm bevorzugte Glücksspiel abzustellen. Auch
das Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie dazu
festgestellt, dass der pathologische Spieler diese fünf
unterschiedlichen Spielformen nutzt. Nicht das Spielangebot sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in
der Spielerpersönlichkeit.
Nochmals: Selbstverständlich darf der Schutz vor den
Gefahren des Automatenspiels nicht vernachlässigt werden. Maßnahmen wie die Spielerkarte gegen illegale
Spielpraktiken wie Mehrfachbespielung sind hier sicher
gut und richtig. Genau dazu wird mit der 6. Verordnung
zur Änderung der Spielverordnung vom BMWi eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Die Karte soll nur
für einen Tag und für eine Spielstätte gelten. Sie kann
nur an einem Gerät eingesetzt werden, sodass Mehrfachbespielungen ausgeschlossen werden. Die Karte
soll auch eine maximale Obergrenze für mögliche Einzahlungen beinhalten. Gewinne werden nicht auf der
Karte gespeichert, sondern müssen - ebenso wie möglicherweise verbleibende Restbeträge - bis zur Schließung der Spielhalle ausbezahlt werden.
Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass
die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den Spieler- und Jugendschutz verbessert werden und eine Sachkundeprüfung zur Voraussetzung für eine Spielhallenerlaubnis gemacht wird. Auch dazu konnte ich mich
übrigens von Fortschritten überzeugen. Es geht auch um
die Förderung von Sozialkonzepten, zum Beispiel die
Einführung von Suchtpräventionsbeauftragten.
Mir ist der kohärente Spielerschutz ein dringendes
Anliegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir für den Teilbereich Automatensucht eine gute Lösung erwarten können. Ihren Antrag lehnen wir ab.
Zu Protokoll gegebene Reden
Von der FDP haben wir in den Ausschussanhörungen
zu unserem Antrag gehört, dass Glücksspielsucht angeblich nur wenige Menschen betreffe. Das halte ich vor
dem Hintergrund von rund 500 000 pathologischen
Glücksspielern, rund 800 000 problematischen Spielern
und rund 3 Millionen Menschen, die ein oder zwei Kriterien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt haben, für äußerst zynisch. Zumal die Bundesregierung in ihrem eigenen Drogenbericht nicht nur die besonders starke
Suchtgefahr erwähnt, die es bei Geldspielautomaten
gibt, sondern auch von einer starken Steigerung der
Zahl der Süchtigen, insbesondere im Bereich junger
Männer, spricht und sich der Bruttospielertrag seit 2005
von 2,35 Milliarden Euro auf 4,14 Milliarden Euro um
über 76 Prozent dramatisch erhöht hat.
Von CDU und CSU haben wir in den Beratungen gehört, dass nicht das Spielangebot ursächlich für die
Sucht sei, sondern „krankhafte Strukturen in der Persönlichkeit der Spieler“. Das hört man in den USA auch
immer von der Waffenlobby; nicht die Waffen sind das
Problem, sondern die Menschen, die diese Waffen benutzen. Die Schlussfolgerung der Lobby in den USA: Weil
die Waffen ja nicht das Problem sind, braucht es keine
Regulierung. Beim Glücksspiel ist die schwarz-gelbe
Logik, dass man - weil ja das Problem bei den Spielsüchtigen liege - auf eine Regulierung der Geldspielautomaten weitgehend verzichten könne. Das ist auch deswegen ein Skandal, da die Bundesregierung damit den
eigenen Evaluierungsbericht der Novelle der Spielverordnung, der einen deutlichen Ausbau der Regulierung
fordert, einfach ignoriert.
Daran kann man leider sehen, dass die Automatenlobby bei der Bundesregierung vollen Erfolg hatte. Sogar die krude Theorie der Lobby, wonach eine zu starke
Regulierung der Geldspielautomaten die Menschen angeblich in die noch schlimmere Online-Glücksspielsucht
treibe, scheint inzwischen eine schwarz-gelbe Mehrheitsmeinung zu sein, und das, obwohl die einzige
Grundlage dieser Theorie eine von der Automatenlobby
selbst finanzierte Studie ist und alle seriösen Suchtexperten in der Anhörung zu unserem Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ energisch diese Theorie ins
Reich der Fantasie verwiesen haben. Das Gegenteil ist
der Fall, in der Anhörung haben wir gehört, dass sich
die Süchte sogar noch gegenseitig verstärken, eine bessere Regulierung daher dringend notwendig wäre und
die angebliche „Kanalisierung“ lediglich eine Schutzbehauptung für diejenigen ist, die keine Suchtprävention
wollen. Die Frage ist also nur, ob die Regierungsfraktionen nicht zugehört haben oder ob sie nicht zuhören
wollen.
Das endlose Gezerre um die neue Spielverordnung,
die von der Bundesregierung eigentlich schon für das
erste Halbjahr 2011 angekündigt war, vermittelt eher
den Eindruck, dass Schwarz-Gelb schlicht und ergreifend den Schutz von Süchtigen und den Jugendschutz gegenüber wirtschaftlichen Interessen der Automatenwirtschaft als nachrangig erachtet. So hatten alle bisherigen
Entwürfe des FDP-geführten Bundeswirtschaftsministeriums für die Novelle der Spielverordnung stets eines gemeinsam: viele Placebos, wenig Suchtprävention.
Nehmen wir zum Beispiel die Spielerkarte. Die SPD
fordert die Einführung eines Identifikationssystems und
eine personengebundene Spielerkarte, mit der es zum
Beispiel in Norwegen einige gute Erfahrungen gibt. Das
Prinzip ist dabei, dass jeder nur eine personalisierte
Karte erhält und Jugendliche keine erhalten. Damit
wäre auch das dringend notwendige bundesweite Sperrsystem für Süchtige möglich, für das wir uns einsetzen.
Denn Süchtige können sich bisher nur für die in Kompetenz der Länder befindlichen Glücksspielbereiche selbst
sperren lassen. Das gilt zum Beispiel für Spielcasinos,
für Geldspielautomaten in Spielhallen und gastronomischen Einrichtungen gilt es aber nicht, wodurch das
ganze Sperrsystem ausgehöhlt wird. Das müssen wir
dringend ändern.
Das Bundeswirtschaftsministerium will aber bisher
eine personenungebundene Spielerkarte einführen, die
auch von der Automatenwirtschaft befürwortet wird.
Alle Experten aus der Suchthilfe haben dagegen in der
Anhörung zu unserem Antrag erklärt, dass eine personenungebundene Spielerkarte im besten Fall ein Placebo ist und im schlechtesten Fall die Suchtgefahr noch
erhöht, nämlich dann, wenn sie eher den Charakter einer Kundenkarte hat. Das Problem mit einer Spielerkarte ohne Identifizierung ist, dass sie problemlos weitergegeben werden kann, sowohl an Süchtige, die an
mehreren Automaten gleichzeitig spielen wollen, als
auch an Minderjährige. Dies befürchtet auch der Bundesrat. Zeitliche oder finanzielle Begrenzungen als
Schutzfunktion sind zudem nicht möglich, wenn jeder
Spieler in jeder Spielhalle eine neue Karte erhalten
kann. Eine personenungebundene Spielerkarte verbessert also weder den Jugendschutz noch die Suchtprävention und hat auch keine Steuerungsfunktion.
Noch schlimmer wäre es nur, wenn diese personenungebundene Spielerkarte auch noch eine Geldkartenfunktion erhielte und damit bargeldloses Zahlen ermöglichen würde, was die Sucht fördern würde. Derzeit wird
von der Bundesregierung und interessanterweise auch
von Vertretern der Automatenwirtschaft dementiert,
dass eine Geldkartenfunktion geplant sei, Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler von der FDP hatte sich
jedoch in der Vergangenheit wohlwollend genau dazu
geäußert.
Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht wundern,
dass die Koalitionsfraktionen zu unserer Anhörung zum
Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ ausgerechnet
Herrn Gauselmann eingeladen hatten, der von „LobbyControl“ für eine „Lobbykratie-Medaille“ nominiert
wurde. Und die jetzige Debatte über verdeckte Parteispenden und die wirtschaftlichen Verflechtungen der
FDP mit der Gauselmann AG kann einen auch nicht
wirklich überraschen.
Überraschend ist für mich lediglich, dass es offensichtlich niemanden in CDU, CSU und FDP gibt, der die
Suchtprävention gegenüber wirtschaftlichen Interessen
als vorrangig betrachtet. Die gesamte Opposition hat
hier eine andere Herangehensweise.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
Die SPD hat in ihrem Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ etliche Vorschläge für die notwendige Weiterentwicklung der Suchtprävention und des Jugendschutzes sowie auch speziell für die Novelle der Spielverordnung vorgelegt. Wir haben konkrete Vorschläge
für die Entschärfung und Entschleunigung der Geldspielautomaten, mehr Transparenz für die Spieler hinsichtlich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau
von suchtfördernden Funktionen der Automaten vorgestellt. Ich freue mich darüber, dass der Antrag sowohl
mehrheitlich von den Experten in der Anhörung unterstützt wurde als auch von den anderen Oppositionsfraktionen viel Zuspruch erhalten hat. Ich freue mich zudem
darüber, dass die Bundesregierung offenbar unseren
Vorschlag aufgreifen will, den Einfluss der Kommunen
auf die Standortentscheidungen von Spielhallen auszubauen. Wir werden sehr darauf achten, dass es im Rahmen der Novelle des Baugesetzbuches dabei nicht nur
bei Ankündigungen bleibt.
Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht und dazu
auch eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern, für die wir bei der Drogenbeauftragten der Bundesregierung einen unabhängigen Beirat einsetzen wollen, der auch Empfehlungen für die Prävention abgeben
soll. Ein kohärentes System der Prävention und Bekämpfung der Glücksspielsucht ist nicht zuletzt die Voraussetzung für den Erhalt des staatlichen Glücksspielmonopols, und Letzteres dürfen wir nicht aufs Spiel
setzen, denn es bietet den bestmöglichen Rahmen für die
Suchtprävention und den Jugendschutz. Schwarz-Gelb
gefährdet daher mit der Untätigkeit im Bereich der
Geldspielautomaten das gesamte staatliche Glücksspielmonopol und mit ihm die Suchtprävention auch in anderen Glücksspielbereichen.