Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/27/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges Mitglied Friedrich Zimmermann, der nach längerer schwerer Krankheit am 16. September gestorben ist. Er wurde 87 Jahre alt. Friedrich Zimmermann wurde am 18. Juli 1925 in München geboren. Er gehörte also der Generation an, die die Schrecken nationalsozialistischer Diktatur und den Zweiten Weltkrieg aktiv miterlebt hat. Der CSU trat er schon 1948 bei und begann, unsere noch junge Demokratie mitzugestalten. In Bayern setzte er sich zunächst dafür ein, die damals „neubayerischen“ fränkischen und schwäbischen und überwiegend evangelischen Bevölkerungsteile zu integrieren und vor allem die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aufzunehmen, die etwa ein Viertel der bayerischen Bevölkerung umfassten. In seiner Partei hat Friedrich Zimmermann schon bald herausgehobene Ämter übernommen. Unter anderem war er von 1956 bis 1963 Generalsekretär und von 1979 bis 1989 stellvertretender Vorsitzender seiner Partei. 1957, also vor 55 Jahren, wurde Friedrich Zimmermann zum ersten Mal Mitglied des Deutschen Bundestages, in den er stets direkt gewählt worden ist. Er gehörte diesem Parlament nicht weniger als 33 Jahre an. Friedrich Zimmermann war unter anderem von 1965 bis 1972 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses. Seit 1961 Vorstandsmitglied der CDU/CSU-Fraktion, hatte er als CSU-Landesgruppenchef und stellvertretender Fraktionsvorsitzender von 1976 bis 1982 maßgeblichen Anteil an der Politik der damaligen Oppositionsfraktion. Über die Parteigrenzen hinweg hat sich Friedrich Zimmermann damals besonders mit seiner besonnenen und klugen Mitwirkung im Großen Krisenstab, der anlässlich der Entführung von Hanns Martin Schleyer von Bundeskanzler Helmut Schmidt eingerichtet worden war, großen Respekt und Anerkennung erworben. 1982 berief ihn Bundeskanzler Helmut Kohl als Bundesinnenminister in sein Kabinett. Er war auch hier im besten demokratischen Sinne streitfreudig und scheute während seiner Amtszeit nicht vor harten Auseinandersetzungen zurück. Einmal von ihm als richtig und wichtig erkannte Positionen vertrat er mit Nachdruck. Breite Anerkennung fand er für seine Pionierleistungen in der Umweltpolitik, wo ihm in der Europäischen Gemeinschaft ein Durchbruch mit der Einführung des Katalysators und des bleifreien Benzins gelang. 1989 übernahm er als Bundesminister das Verkehrsministerium. Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1991 schied Friedrich Zimmermann aus der Regierung und dem Bundestag aus. In seiner bemerkenswerten Abschiedsrede erklärte er nicht ohne ein Augenzwinkern: Ich bitte alle um Vergebung, denen ich im Laufe dieser Jahre auf die Füße getreten bin, aber ich habe es immer so gemeint. Friedrich Zimmermann hat über viele Jahre hinweg die Geschicke unseres Landes mitgestaltet. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Bundestages mit seinem politischen und parlamentarischen Engagement um unser Land verdient gemacht. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Seinen Angehörigen spreche ich im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus. Ich danke Ihnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 18. September hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, seinen 70. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hauses möchte ich ihm dazu herzlich gratulieren und alles Gute wünschen. ({0}) Präsident Dr. Norbert Lammert Lieber Kollege Schäuble, es gibt kein Mitglied dieses Parlaments, das dem Deutschen Bundestag so lange angehört wie Sie. Niemand hat über so viele Jahre in so vielen, so unterschiedlichen und so herausragenden Ämtern seinen Dienst für unser Land geleistet. Die große Wertschätzung, die Sie weit über die eigene Partei und Fraktion hinaus genießen, kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Deutsche Bundestag gestern, nach einer Vereinbarung aller Fraktionen, seine Ausschussberatungen vorzeitig beendet bzw. unterbrochen hat, um möglichst vielen Mitgliedern des Hauses die Teilnahme an dem Festakt zu Ihren Ehren im Deutschen Theater zu ermöglichen. Ich weise schon jetzt vorsichtshalber darauf hin, dass sich aus dieser großzügigen Regelung kein Rechtsanspruch für die Gestaltung runder Geburtstage für alle Mitglieder des Hauses ergibt. ({1}) Lieber Kollege Schäuble, ich freue mich, dass ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses noch einmal unsere guten Wünsche in einem anderen, ähnlich bedeutenden Theater in sehr viel knapperer, aber nicht weniger herzlicher Form übermitteln darf. Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre. ({2}) Ebenfalls am 18. September hat die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, unsere Kollegin Petra Merkel, ihren 65. Geburtstag sowie am 24. September der Kollege Peter Götz seinen entsprechenden Geburtstag gefeiert. Auch Ihnen alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr. ({3}) Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Wahl durchführen. Für den aus dem Beirat der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen ausscheidenden Kollegen Manfred Nink schlägt die Fraktion der SPD vor, den Kollegen Ingo Egloff als stellvertretendes Mitglied zu berufen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege hiermit in den Beirat gewählt. ({4}) - Sie wissen, dass die auf diese Weise, wie ernsthaft auch immer geäußerten Bedenken im Protokoll des Deutschen Bundestages erscheinen, ({5}) und klären das am besten bilateral mit dem gleichwohl gewählten Kollegen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratifizierung des Vertrages vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus - Drucksache 17/10767 ({6}) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Besorgnis über die Parlamentswahlen in Weißrussland ({7}) ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe - Drucksache 17/10770 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 47 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens ({9}) für die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte - Drucksache 17/10760 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken - Drucksache 17/10787 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({11}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit machen für die Kooperation mit fragilen Staaten - Drucksache 17/10791 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({12}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Bas, Angelika Graf ({13}), Dr. Marlies Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichheiten beseitigen - Versorgungslücken schließen - Drucksache 17/9059 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({14}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der CDU/CSU und FDP ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung ({15}) - Drucksache 17/10775 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP Bankenunion - Subsidiaritätsgrundsatz be- achten - Drucksache 17/10781 - ZP 8a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/8233 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungs- und mautrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/7046 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({17}) - Drucksache 17/10857 Berichterstattung: Abgeordnete Volkmar Vogel ({18}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche - Drucksachen 17/7487, 17/10857 Berichterstattung: Abgeordnete Volkmar Vogel ({20}) ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts - Drucksache 17/10774 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({21}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 10 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Konsequenzen aus dem Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 4 a, 45 und 47 h abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesordnung. Präsident Dr. Norbert Lammert Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 187. Sitzung überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss ({22}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes ({23}) - Drucksache 17/10039 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({24}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ich darf Sie fragen, ob Sie mit all diesen gerade vor- getragenen Ergänzungen und Änderungen einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das hier- mit so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln ({25}) - Drucksache 17/10485 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({26}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Halina Wawzyniak, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wohnen muss bezahlbar bleiben - Drucksache 17/10776 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({27}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Wagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mietrechtsnovelle nutzen - Klimafreundlich und bezahlbar wohnen - Drucksache 17/10120 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({28}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin für Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. ({29})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende ist eine der zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Ein großes Potenzial für Energieeffizienz liegt im Gebäudebestand. Deshalb spielt die Wohnungswirtschaft für das Umweltkonzept der Bundesregierung und für die Energiewende eine wichtige Rolle. Ein modernes, auf Klimaschutz ausgerichtetes Mietrecht kann einen eigenen Beitrag zur Energiewende leisten, ohne die soziale Ausgewogenheit aus den Augen zu verlieren. Aber es ersetzt nicht das, was an Fördermaßnahmen und Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die Sanierung im Wohnungsbestand notwendig ist. Die Vorschläge dazu liegen leider seit Monaten im Bundesrat. Ich kann nur sagen: Auch dieses Paket gehört dazu. ({0}) Um höhere Energieeffizienz des Gebäudebestandes tatsächlich zu bekommen, müssen Anreize geschaffen werden, gerade auch für Vermieter von wenigen Wohnungen, damit auch sie diese Möglichkeiten nutzen und tatsächlich die notwendigen energetischen Modernisierungen durchführen. Da setzt unser Gesetzentwurf an. Wir wollen, und zwar in sehr ausgewogener Weise, ({1}) damit ermöglichen, dass Sanierungsmaßnahmen, die im Durchschnitt - wenn es sich um Fassaden, um Fenster, um anderes handelt - in einer Zeit von drei Monaten durchgeführt werden, geduldet werden und dass für diese Zeit, wenn es zumutbar ist, keine Forderungen nach Mietminderungen erhoben werden. ({2}) Das ist ein behutsames Vorgehen mit dem Ziel, gerade die privaten Vermieter dazu zu ermuntern, zu investieren, und zwar in einer Weise, dass es auch dem Mieter zugutekommt. ({3}) Es kommt dem Mieter nämlich zugute, wenn es künftig niedrigere Nebenkosten gibt, weil der Energieverbrauch verringert wird. Genau dazu dienen die von uns zu befördernden energieeffizienzsteigernden Maßnahmen. Damit schafft der Gesetzentwurf auch mehr Rechtssicherheit. Natürlich gehört es zu den legitimen und selbstverständlichen Interessen des Mieters, zu wissen, welche energiesparenden Maßnahmen er akzeptieren muss und welche Konsequenzen sich für ihn daraus ableiten. Genau das gilt auch für den Vermieter, der investiert, der Geld in die Hand nimmt, der damit zu mehr Energieeffizienz beiträgt, aber damit eben auch den Wert seiner Mietwohnung erhöht. Wir ändern nichts an der seit vielen Jahren bestehenden Regelung, dass von den Modernisierungskosten - das gilt dann eben auch für Sanierungskosten - in keinem Fall mehr als 11 Prozent jährlich auf die Miete umgelegt werden dürfen. Wenn wir uns die Praxis anschauen, dann erkennen wir, dass diese Spanne von 11 Prozent von vielen Vermietern gar nicht ausgeschöpft wird, obwohl sie es nach geltendem Recht tun könnten. Angesichts der großen Herausforderung der Energiewende, der wir uns gegenübersehen, bedeutet dieser Gesetzentwurf eine wirklich ausgewogene Anpassung von Leistung und Gegenleistung im Mietverhältnis. ({4}) Einen weiteren wichtigen Beitrag zu Energieeffizienz und Klimaschutz kann das sogenannte Contracting leisten. Damit beschäftigt sich der Bundestag schon seit mehreren Legislaturperioden, und nie ist es in all den Jahren gelungen, endlich einmal einen Regelungsvorschlag zu unterbreiten. Wir wollen aber doch gerade, dass, wenn ein Vermieter von größeren Wohnungseinheiten von der Wärmeversorgung in Eigenregie auf gewerbliche Wärmelieferung durch einen Dritten umstellt, es zu mehr Energieeffizienz kommt, indem dann investiert wird, zum Beispiel in einen neuen Heizkessel. Eine andere Möglichkeit ist, dass ein Haus mit Mietwohnungen im Zuge dessen mit Fernwärme versorgt wird. Das wollen wir befördern, weil so Energie gespart und die Umwelt geschont wird. Der Vermieter kann sich darauf verlassen, dass die Umstellung in einem geordneten Verfahren durchgeführt wird, und der Mieter weiß, dass die Umstellung nicht nur umweltfreundlich ist, sondern für ihn auch kostenneutral bleibt. Genau das wollen wir mit den Regelungen gewährleisten, die wir jetzt im Mietrecht vorsehen. In der Haushaltsdebatte wurde von einigen Rednern darauf hingewiesen, dass die Vertreibung von Mietern aus angestammten Vierteln das soziale Wohngefüge gefährde und dass dies insbesondere ein Problem in den großen Städten sei. Dem kann ich nur zustimmen. ({5}) In München, in Hamburg, in Köln oder in Berlin - wer regiert dort, teilweise seit Jahren? ({6}) Wer nutzt die rechtlichen Möglichkeiten zum Kiez- und Milieuschutz, die gerade auf Länderebene bestehen? Ich habe davon bisher wenig gehört. Aber wir machen jetzt etwas mit diesem Gesetzentwurf! ({7}) - Wir schmeißen niemanden raus; im Gegenteil! Vielleicht haben Sie bei diesem Gesetzentwurf bemerkt, dass wir an den Kündigungsfristen nichts ändern, sondern dass es genau bei den Regelungen bleibt, wie wir sie derzeit haben. Mit unserem Gesetzentwurf werden wir Mieter künftig sogar noch besser vor Eigenbedarfskündigungen schützen. ({8}) Die Umgehung des Kündigungsschutzes bei der Umwandlung in Eigentumswohnungen nach dem sogenannten Münchener Modell wird es zukünftig nicht mehr geben. Der Schutz vor Eigenbedarfskündigungen für mindestens drei Jahre - nach Landesrecht übrigens dann für bis zu zehn Jahre - wird auch greifen, wenn eine Personengesellschaft ein Mietshaus erwirbt, um die Wohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Genau das hat doch dem Vorschub geleistet, was wir in manchen Städten erleben, nämlich dass in einer Art und Weise umgewandelt wird, bei der die derzeitigen rechtlichen Regelungen eben nicht greifen. Deshalb ist der Gesetzentwurf, den wir hier vorlegen, ausgewogen im Hinblick auf Rechte und Pflichten von Mietern und Vermietern. ({9}) Das gilt auch - erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung -, wenn es um missbräuchliches Verhalten von Mietern geht, und das gibt es; das kann man nicht leugnen. Um das festzustellen, braucht man nicht lange statistische Untersuchungen und tatsächliche Bewertungen; ({10}) da muss man sich nur einmal mit Vermietern unterhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Vermieter stehen teilweise hilflos da, wenn ihre Mietwohnungen beschädigt werden oder sich die Mieter den Zahlungsverpflichtungen entziehen. Da wissen die Vermieter nicht, wie sie ihr Eigentum, ihre Mietwohnung, wiederherrichten sollen oder entsprechend durchgreifen können. Auf der Grundlage des Berliner Räumungsmodells - das haben wir etwas weiterentwickelt - verbessern wir die Möglichkeiten des Vermieters, hier angemessen vorzugehen. ({11}) Von daher bietet der Gesetzentwurf eine gute Grundlage für die kommenden, mit Sicherheit sehr engagiert geführten Beratungen zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Egloff für die SPD-Fraktion. ({0})

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Normalerweise heißt es ja: Aller guten Dinge sind drei. - In diesem Fall, was die Mietrechtsänderung angeht, diskutieren wir, glaube ich, das vierte oder fünfte Mal. Trotz der diversen Referentenentwürfe und der Diskussionen, die wir bisher hier im Plenum und auch im Ausschuss geführt haben, kann man feststellen, dass das Ding, was hier vorgelegt worden ist, leider nicht gut geworden ist. ({0}) Immerhin haben wir jetzt einen Gesetzentwurf, mit dem wir arbeiten können. Und ich hatte bis zu Ihrer Rede, Frau Ministerin, die stille Hoffnung, dass es gelingt, Dinge noch zu verbessern. ({1}) Aber nachdem Sie hier erklärt haben, dass wir eigentlich gar keine soziale Schieflage in diesem Lande haben, was die Mietensituation angeht, ist diese Hoffnung gestorben. Darauf zu verweisen, dass in Hamburg, in München und in anderen Ballungszentren Sozialdemokraten regieren, wohl wissend, dass die Gesetzgebungskompetenz für diese Sachen beim Bund liegt, das ist mehr als billig, Frau Ministerin. ({2}) Der Gesetzentwurf, so wie er hier vorliegt, hat erhebliche Mängel: Er blendet die Frage des sozialen Gleichgewichts völlig aus, sowohl bei der energetischen Gebäudesanierung als auch bei der Frage der steigenden Mieten insgesamt. Er will die Gebäudesanierung erleichtern - das ist hier noch einmal gesagt worden -, indem er den Mietern das Recht auf Mietminderung für drei Monate abschneidet. Aber damit wird das Ziel nicht erreicht, im Gegenteil: Der Gesetzentwurf führt an dieser Stelle zu neuen Rechtsunsicherheiten, weil mit dieser Dreimonatsregelung doch nur neue Spielwiesen für Anwälte eröffnet werden: ({3}) Ist es Instandsetzung, ist es normale Modernisierung, ist es energetische Gebäudesanierung? Bei den ersten beiden Sachverhalten hat man Mietminderungsrecht, beim letzten nicht. Das öffnet doch dem Rechtsstreit Tür und Tor. Von daher, meine Damen und Herren, haben Sie hiermit denjenigen, die energetisch sanieren wollen, einen Bärendienst erwiesen, nicht aber das Problem gelöst. ({4}) Der Gesetzentwurf gibt vor, Probleme zu lösen, wo keine sind, so bei den Mietnomaden - darauf werde ich noch zurückkommen -, und insgesamt benachteiligt er alle Mieter, indem er ihnen Rechte abschneidet. Mit anderen Worten: Der Entwurf, so wie er hier vorliegt, meine Damen und Herren, ist in meinen Augen ein schlechter Entwurf. Wenn eine Untersuchung des Pestel Instituts im Auftrag der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“ feststellt, dass der Anteil der Haushalte mit einem Einkommen unter 1 500 Euro im Monat von 2002 bis 2010 von knapp 39 Prozent auf 44 Prozent gestiegen ist, und wir gleichzeitig wissen, dass es Haushalte gibt, die 40 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben müssen, dann sollte eigentlich klar sein, dass hier Handlungsbedarf auf der sozialen Seite besteht, ({5}) und zwar auf zwei Ebenen: Angesichts dieser Zahlen kann man doch unschwer feststellen, dass eine weitere Belastung dieser Haushalte mit Kosten schwer möglich ist. Das gilt auch für die energetische Gebäudesanierung. An dieser Stelle haben wir ein gesellschaftliches Problem. Angesichts der Mietenentwicklung in vielen Ballungszentren ist auch Handlungsbedarf angesagt, wenn man die soziale Spaltung der Städte und die Verdrängungswettbewerbe in den Städten nicht weiter fortschreiten lassen will. Die SPD-Fraktion hat hierzu Positionen vorgelegt. Sie waren hier auch schon Gegenstand der Debatte; trotzdem möchte ich noch einmal darauf zurückkommen: Dazu zählen die Absenkung der Umlage bei der Modernisierung von 11 auf 9 Prozent, aber auch, MietIngo Egloff erhöhungen nach § 558 Abs. 3 BGB in Zukunft nur in Höhe von 15 Prozent alle vier Jahre statt in Höhe von 20 Prozent alle drei Jahre zu gestatten. Dazu gehört auch die Forderung - dies ist eine wichtige Forderung -, bei der Neuvermietung eine Kappungsgrenze bei einem Betrag von 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete einzuführen; denn das ist es doch: Wenn die Wohnungen frei werden, dann ist der Vermieter nicht gehalten, irgendwelche Grenzen zu berücksichtigen, sondern kann die Miete nehmen, von der er meint, dass er sie erzielen kann. ({6}) Das führt dazu, dass an dieser Stelle die Verdrängungswettbewerbe einsetzen. Deswegen kommt es auch darauf an, wie die ortsübliche Vergleichsmiete berechnet wird. So, wie sie bisher berechnet wird, führt das eben auch dazu, dass Mieterhöhungen nicht verhindert werden. ({7}) Ich freue mich, dass die Grünen in ihrem Antrag eine ähnliche Überlegung angestellt haben, was diese Frage angeht. Da gibt es im Detail Unterschiede, man kann auch darüber streiten, ob man einen Referenzzeitraum von sechs Jahren oder zehn Jahren nimmt, und darüber diskutieren, welche Mieten da einfließen. Aber die Richtung ist in Ordnung. Auch Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von den Grünen, den Landesregierungen bzw. Kommunen das Recht einzuräumen, bestimmte Mietobergrenzen in Gebieten einzuführen, finde ich gut und zielführend. Das setzt an dem Vorschlag an, den das Land Berlin im Bundesrat eingebracht hat, und das würde den Kommunen helfen, in bestimmten Stadtbezirken Wildwuchs und schlechte Entwicklungen zu beseitigen. ({8}) - Ja, wer nun dafür sozusagen das Urheberrecht zu beanspruchen hat, das lasse ich jetzt einmal dahingestellt sein. Auf jeden Fall ist die Richtung richtig. Die Kollegen von den Linken legen wie üblich eine Schippe drauf. Ich finde, es schießt deutlich über das Ziel hinaus, ({9}) wenn festgeschrieben wird: Die Miete darf 30 Prozent des Nettoeinkommens nicht überschreiten, eine Obergrenze von 30 Prozent des bundesdurchschnittlichen Haushaltseinkommens darf nicht überschritten werden. Ich halte das für unpraktikabel, meine Damen und Herren, aber Sie mussten ja irgendetwas machen, was uns toppt, und so sind Sie zu diesem Vorschlag gekommen. ({10}) Das wird in der Praxis nicht funktionieren, genauso wie es nicht funktionieren wird, die Umlage auf 5 Prozent zu begrenzen. Dann machte keiner mehr energetische Gebäudesanierung. Ebenso ist Ihre Vorstellung, die normale Mieterhöhung nur bei Wohnwertverbesserung greifen zu lassen, nicht zielführend; das funktioniert in dem Markt nicht. Das führte letztendlich nur dazu, dass die Wohnungsbestände dann nicht mehr in dem Zustand wären, in dem sie sein sollten. Allerdings haben Sie wenigstens Vorstellungen, wenn auch falsche, wohin die Entwicklung gehen soll. Solche Vorstellungen hinsichtlich der sozialen Frage vermisse ich, wie ich schon gesagt habe, bei der Regierung völlig. Zwar hatte der Kollege Mayer in der Haushaltsdebatte darauf hingewiesen, dass nun auch die Regierungsfraktionen das Problem erkannt hätten - vielleicht gilt das auch nur für den christlichen Teil der Regierung -, aber anscheinend ist ja nicht daran gedacht - da können sich die Koalitionspartner wahrscheinlich wieder nicht einigen -, diese soziale Frage zu lösen. ({11}) Kommen wir zum Thema Mietminderung zurück. Warum eröffnen Sie hier eine neue Spielwiese für Anwälte, die den Gerichten zusätzliche Arbeit verschafft? Die dreimonatige Mietminderungssperre bei energetischer Gebäudesanierung wird nicht dazu führen, dass sich irgendein Eigentümer dazu veranlasst sieht, eine Sanierung durchzuführen, die er sonst nicht gemacht hätte. Das ist schlicht und ergreifend Unsinn. ({12}) Sie geben hier ohne Not das Äquivalenzprinzip auf. Die eine Seite erbringt die Leistung nicht, nämlich die Zurverfügungstellung einer ordnungsgemäßen störungsfreien Mietsache, aber die andere Seite soll dafür voll zahlen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. ({13}) Nun noch einmal zum Thema Mietnomaden. Ich habe schon in der Haushaltsdebatte gesagt: Das ist wie bei dem Scheinriesen bei Jim Knopf. Je näher man kommt, desto kleiner wird er. Und genauso ist es hier. Je näher man dem Thema kommt, desto kleiner wird es. Abgesehen von den Fällen, die die Boulevardpresse manchmal hochjubelt, haben Sie überhaupt kein belastbares Zahlenmaterial. ({14}) Der Kollege von der Linken hat in der Haushaltsdebatte danach gefragt. Vonseiten der Koalition wurde gesagt, dass man keine Zahlen habe. Man wisse aber, dass dies ein Problem sei und man irgendjemanden kennen würde, der ein solches Problem schon einmal gehabt hat. Auf dieser Basis wollen Sie ein Gesetz zulasten aller Mieter ändern! Das ist eine Sauerei, meine Damen und Herren. ({15}) Wenn Sie es nicht verstanden haben, dann lesen Sie es im Antrag der Grünen nach. Sie haben sich die Mühe gemacht, diese Frage genau zu klären. Sie können sich die ganzen Positionen auf Seite 2, in der Mitte, noch einmal durchlesen. Wichtig ist ein Satz, den Sie sich merken sollten: „Dieses ‚Phänomen‘ ist auf Einzelfälle beschränkt.“ Genau das ist es. Es gibt Einzelfälle, bei denen es passiert. Aber es ist kein gesellschaftliches Problem, das durch eine Änderung des gesamten Mietrechts gelöst werden muss. ({16}) Ein weiter Punkt. Ein Räumungsverfahren, bei dem das Gericht noch keine endgültige Entscheidung in der Hauptsache getroffen hat, ist rechtsstaatlich meines Erachtens nicht in Ordnung. ({17}) Entscheidend ist der Primärrechtsschutz und nicht der Verweis auf einen Schadenersatzanspruch, der dann hinterher eventuell gezahlt werden müsste. Wenn man draußen ist, ist man draußen. Da nützt auch kein Schadenersatzanspruch. ({18}) Darüber haben wir hier schon mehrfach diskutiert, genau wie über die Frage, ob wegen der Nichtzahlung der Kaution ohne Abmahnung gekündigt werden darf. Es bleibt die Möglichkeit nach § 543 Abs. 1 BGB. Das ist auch ausreichend. Das, was Sie hier machen, schießt deutlich über das Ziel hinaus und ist nicht erforderlich. Es schneidet die Rechte aller Mieter ab, und deshalb ist es nicht in Ordnung. Insgesamt hat dieser Gesetzentwurf viele Mängel. Positiv möchte ich vermerken, dass das Münchener Modell verhindert werden soll. Das ist der einzige wirkliche Ansatz sozialer Mietpolitik, der in diesem Entwurf enthalten ist. Was die soziale Frage angeht, können Sie alles andere vergessen. ({19}) Hoffen wir, dass wir zumindest nach der Anhörung noch einmal in eine neue Debatte eintreten können, die auf die tatsächlichen Sachverhalte ein Stück weit mehr abstellt. Wir werden uns in diesem Zusammenhang auch noch einmal darüber unterhalten müssen, wie der Bereich Contracting genau ausgestaltet werden soll. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch Sie lernfähig sind, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns gemeinsam im Interesse der Mieter daran arbeiten. ({20}) Aber mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, geht es nicht. Vielen Dank ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin Andrea Voßhoff das Wort. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Egloff, ich habe Sie schon häufiger zu dem Thema gehört. Viel Neues haben Sie heute nicht dazu beigetragen. Vor allem fehlt mir Ihr Lösungsansatz, was die Forcierung der energetischen Gebäudesanierung betrifft. Dazu haben Sie schlicht gar nichts gesagt. ({0}) Wie kaum ein anderer Bereich ist das Wohnraummietrecht durch das Sozialstaatsgebot und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums geprägt. Ja, Deutschland ist ein Land der Mieter. Das soziale Mietrecht haben wir in besonderer Weise zu schützen. Das ist völlig unstreitig. Dort sehen wir auch keinen Nachholbedarf. Wohnraum zur Miete stellt eine elementare Grundlage für die private Lebensgestaltung und Lebensentfaltung dar. Es gibt 40 Millionen Wohnungen; davon sind deutlich mehr als die Hälfte, nämlich 24 Millionen, Mietwohnungen. Die Bedeutung des Mietrechts können wir daher nicht hoch genug einschätzen. Aber, meine Damen und Herren von der SPD, auf der anderen Seite gilt ebenso: Deutschland ist auch ein Land der Vermieter. Denn der überwiegende Teil des Mietwohnangebots - 61 Prozent oder rund 14,5 Millionen Wohneinheiten - wird von privaten Kleinanbietern zur Verfügung gestellt. Private Vermieter, Freiberufler, Handwerker oder andere Gewerbetreibende bauen oder erwerben nicht selten ein Mietshaus, das ihnen zur Vermögensbildung oder zur eigenen Altersvorsorge dient. Zu nennen sind auch die Familien, die in ihrem kreditfinanzierten Wohnhaus vielleicht eine Einliegerwohnung unterhalten, um mit den Mieteinnahmen die monatlichen Zinszahlungen abzufedern. Zu nennen sind ebenfalls verwitwete Rentner, die aus dem zu groß gewordenen Wohnhaus ausziehen und es vermieten. Vergessen wir dabei nicht: Hauseigentum muss nichts mit großem Reichtum zu tun haben; es wird auch vererbt und dann von den Erben vielleicht nicht selbst genutzt, sondern vermietet. Auch das gilt es zu berücksichtigen. Deshalb hat das Mietrecht die Interessen der Mieter und Vermieter immer in Einklang zu bringen. Das tun wir mit unserem Gesetzentwurf. ({1}) Wir sehen in zwei Schwerpunktbereichen Reformbedarf; die Ministerin hat es bereits vorgetragen: Erster Bereich. Der Schutz des Vermieters - Herr Kollege Egloff, zu Ihren Ausführungen hierzu komme ich gleich noch - vor Mietbetrügern ist schlicht unzureichend. ({2}) Zweiter Bereich. Wenn wir die Energiewende wollen und die energetische Gebäudesanierung fordern, dann ist das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wir kommen um die entsprechende Gestaltung im Mietrecht nicht herum. ({3}) Kommen wir zunächst zum Problem des Mietbetruges. Sie sagen, es gebe nur eine verschwindend geringe Zahl an Mietnomaden, und diese Zahl würde - das haben Sie noch einmal wiederholt - von der Boulevardpresse maßlos aufgebauscht. Ja, das ist Gott sei Dank kein Massenphänomen. Sie kennen aber sicherlich die Studie der Uni Bielefeld, die besagt, dass es sich aber tatsächlich um ein Phänomen handelt. ({4}) Meine Damen und Herren, lieber Herr Kollege Egloff, jeder Mietbetrug ist einer zu viel. ({5}) Schauen Sie sich an - auch das weist die Studie der Uni Bielefeld aus -, in welcher Größenordnung den oft privaten Vermietern finanzielle Schäden entstehen. Herr Kollege Egloff, Sie haben einmal in einer anderen Debatte gesagt: Wenn man mit Wohnungsbaugesellschaften redet, stellt man fest, dass diese das Phänomen nicht groß beeinträchtigt. - Das ist nicht verwunderlich. Große Wohnungsbaugesellschaften haben eine Vielzahl von Mitarbeitern, gar Rechtsabteilungen, die sich mit der Thematik befassen können. Ich frage mich, Herr Kollege Egloff: Sehen das die privaten Vermieter auch so? Ich hatte bereits gesagt, dass es sich beim überwiegenden Teil der Vermieter um private Vermieter und Kleinvermieter handelt. Diese Vermieter, nicht die großen Wohnungsbaugesellschaften, sind unser Maßstab. Sie haben einen Anspruch darauf, bei der Bekämpfung des Mietbetruges Unterstützung zu erhalten. ({6}) Die Ministerin hat die Instrumente, die wir in diesem Zusammenhang anbieten, genannt. Ich halte sie für ausgewogen. ({7}) Wer die zum Schutz des Mieters eingefügten Normen im Bereich des Räumungsschutzes in dieser Weise missbraucht, wie es Mietbetrüger tun, hat unseren Schutz nicht verdient. ({8}) Wir haben Maßnahmen entwickelt, damit diese Schutzrechte nicht missbraucht werden können. Eine beschleunigte Zwangsräumung muss möglich sein, und zwar mit verschiedenen Instrumenten, die heute bereits genannt wurden. Das ist im Interesse eines ausgewogenen Mietverhältnisses sinnvoll und notwendig. ({9}) Kommen wir nun zum zweiten Schwerpunktbereich. Die energetische Gebäudesanierung ist bereits angesprochen worden. Wer immer davon redet, dass er die energetische Gebäudesanierung will, der muss auch entsprechend handeln. Da kommen wir am Mietrecht nicht vorbei. Ich finde, wir haben die Möglichkeiten, die wir nutzen konnten, sehr sorgsam und schonend genutzt, und zwar zugunsten des Mieters. Natürlich beeinträchtigt der Mietminderungsausschluss für die ersten drei Monate einer Sanierung das Äquivalenzprinzip; da haben Sie recht, Herr Egloff. Wir wissen jedoch, auch von vielen Vermietern, dass gerade die Mietminderungsansprüche der Mieter eine große Barriere für die Entscheidung zur energetischen Gebäudesanierung darstellen. Darum haben wir eine Begrenzung auf die energetische Sanierung vorgenommen, die bezogen auf die Mietsache auch nachhaltige Einspareffekte erbringt; das heißt, dass der Mieter im Umkehrschluss eine Entlastung erfährt. Das alles darf man nicht außer Acht lassen. Die Zahlen beweisen es: Der Gebäudebereich ist für 40 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs und für ein Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Hier müssen wir handeln; das gilt eben auch für das Mietrecht. Dabei gilt es, durch behutsames Vorgehen die Interessen der Mieter zu wahren. Der Gesetzentwurf enthält hierzu viele gute Ansätze. Ich denke daher, wir sollten die entsprechenden Beratungen im Rechtsausschuss unter diesem Gesichtspunkt durchführen. Sie haben die 11-Prozent-Umlage für die Modernisierungskosten kritisiert. Wir haben sie nicht verändert. Die Umlage bleibt so, wie sie ist. Es gibt viele private Vermieter, die wissen, dass sie diese Modernisierungsumlage nicht auf die Miete schlagen können, die aber froh wären, wenn einige Barrieren, die im Mietrecht vorhanden sind, abgebaut würden, damit sie überhaupt erst sanieren können. Es gibt Vermieter, die bereit sind, die Modernisierungsumlage gar nicht zugrunde zu legen, weil sie wissen, dass Angebot und Nachfrage die Höhe der Mieten steuern. Das sollten wir durchaus von der Entwicklung am Markt abhängig machen; wir sollten uns das anschauen. Ich denke aber, es ist ein guter Weg, den wir hier gehen, weil gerade private Vermieter entsprechende Sanierungsmaßnahmen bisher scheuen. Diese Bremse wollen wir lösen. ({10}) Das Thema Contracting ist erwähnt worden; auch darüber ist viel gesprochen worden. Da gibt es sicherlich an der einen oder anderen Stelle Beratungsbedarf. Aber es ist die christlich-liberale Koalition, die jetzt dem Contracting erstmals einen Rechtsrahmen gibt. Wir wollen die Kostenneutralität für den Mieter erreichen. Da gibt es im Einzelfall sicherlich noch Diskussionen. So gesehen wird die Anhörung, die wir dazu durchführen werden, sicherlich sehr zielführend und sinnvoll sein; vielleicht erhalten wir noch die eine oder andere Anregung. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, es mit der energetischen Sanierung ernst meinen, dann sollten Sie sich dem Thema auch im Mietrecht nicht verschließen. Eine ausgewogene Reform ist in diesem Entwurf erkennbar. Alle weiteren Details können wir im Beratungsverfahren sicherlich noch miteinander erörtern. Ich darf mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Mietrechtsänderungsgesetz“ - das hört sich total neutral an, ist es aber nicht. Der Titel des Gesetzentwurfs heißt nämlich korrekt: „Entwurf eines Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und“ - darauf kommt es an - „über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“. Damit ist auch klar: Es handelt sich um ein Gesetz zum Abbau von Mieterinnen- und Mieterrechten zugunsten der Vermieterinnen und Vermieter. Die energetische Modernisierung ist wichtig und richtig. Nur leistet der Gesetzentwurf keinen Beitrag zur nachhaltigen energetischen Modernisierung; er wendet sich - der Kollege Egloff hat darauf hingewiesen - den eigentlichen Problemen der Mieterinnen und Mieter überhaupt nicht zu. Was regeln Sie in diesem Gesetz eigentlich wirklich? Es ist schon gesagt worden: Bei der energetischen Sanierung wird das Recht auf Mietminderung in den ersten drei Monaten ausgeschlossen. Ein Einwand gegen die Modernisierung, dass die zu erwartende Mieterhöhung eine Härte darstellen würde, kann nicht mehr sofort geltend gemacht werden, sondern erst im Mieterhöhungsverfahren, und das dann auch nur noch einen Monat lang. Das heißt, Mieterinnen und Mieter haben keine Chance mehr, Einspruch zu erheben. Die Anforderungen an die Begründung der Modernisierung und Sanierung werden für den Vermieter gesenkt. Die Umlage von jährlich 11 Prozent der Kosten der Modernisierung wird beibehalten. So weit, so schlecht. Dann kommen Sie noch mit der Sicherungsanordnung, die die Vermieter unangemessen gegenüber Mieterinnen und Mietern schützt, die die Mietzahlungen nicht mehr leisten können. Sie schaffen Regelungen für ein vereinfachtes Räumungsverfahren, das heißt, Sie erleichtern es, Mieterinnen und Mieter einfach auf die Straße zu setzen. ({0}) Ich muss einmal sagen: Ich halte das für eine bodenlose Frechheit. ({1}) Das ist ein gnadenloses Ausspielen der Macht des wirtschaftlich Stärkeren. Das bringt mich dermaßen auf die Palme. Ich will jetzt einmal versuchen, Ihnen zu erklären, was Sie da eigentlich machen: ({2}) Erstens. Jemand befindet sich legal in einer Wohnung, beispielsweise durch einen Untermietvertrag. Jetzt gibt es einen Räumungstitel gegen den Hauptmieter. Und was machen Sie? Sie stellen fest: Den Untermieter, der sich legal in der Wohnung befindet, kann man leider nicht herausklagen. Also ermöglichen Sie eine einstweilige Anordnung, um ihn rauszuschmeißen. Das ist absurd. ({3}) Zweitens. Eine Mieterin oder ein Mieter wird wegen Zahlungsverzug verklagt. Es soll nunmehr auf Wunsch des Vermieters möglich sein, dass der Mieter oder die Mieterin, der oder die die Miete nicht zahlen kann, einen Betrag hinterlegen muss, einen sogenannten Sicherungsbetrag. Wenn man keine Miete zahlen kann, hat man möglicherweise ein existenzielles Problem, kann also auch diesen Betrag nicht hinterlegen. Und wofür sorgen Sie jetzt? Wenn man diesen Sicherungsbetrag nicht hinterlegen kann, dann droht Ordnungsgeld oder Ordnungshaft. Das heißt, Sie stecken die Leute in den Knast. Das ist doch absurd. ({4}) Dazu fallen mir, ehrlich gesagt, nur noch unparlamentarische Begriffe ein. Es geht aber noch weiter. Wenn jemand in einer existenziellen Not seine Miete nicht mehr zahlen kann und der Sicherungsanordnung keine Folge leisten kann, dann müsste man sich normalerweise Gedanken machen: Wie kann man den Menschen helfen, die in einer existenziellen Not sind und ihre Miete nicht mehr zahlen können? Stattdessen wollen Sie durch eine einstweilige Anordnung die Leute aus ihrer Wohnung rausschmeißen. Das ist so unfassbar, da fehlen mir echt die Worte. ({5}) Letzter Punkt. Sie führen einen neuen Kündigungstatbestand ein, nämlich Zahlungsverzug bei der Mietkaution. Das heißt, eine fristlose Kündigung kann ohne vorherige Absprache oder Abmahnung erfolgen. Damit stellen Sie die Mieterinnen und Mieter übrigens schlechter als Gewerbetreibende. Ich will Ihnen einmal sagen, was der Bundesrat zu Ihrem ach so tollen Gesetz geäußert hat. Der Bundesrat hat gesagt: Streichen Sie den Punkt mit der Mietminderung, streichen Sie den Punkt mit dem neuen Kündigungstatbestand „Verzug von Mietkautionszahlung“, und streichen Sie diese wirklich unsinnige Sicherungsanordnung. ({6}) Der Mieterbund spricht von zahlreichen Mietrechtsverschlechterungen. Die mit dem Mietrechtsänderungsgesetz verfolgten Ziele werden im Übrigen nicht erreicht. Ihr gesamter Gesetzentwurf hinterlässt bei mir den Eindruck: Die Notwendigkeit der energetischen Modernisierung ist eigentlich nur ein Vorwand. Vielmehr geht es doch darum, ein nur in geringem Umfang vorhandenes Problem, das sogenannte Mietnomadentum, auf Kosten von Mieterinnen und Mietern zu lösen. Darüber wurde heute schon viel gesprochen. Was heißt Mietnomadentum eigentlich? Dabei handelt es sich um eine Konstellation, in der von Anfang an, also mit Unterzeichnung des Mietvertrages, jemand die Absicht hat, niemals seine Miete zu zahlen. ({7}) Das sind die Fälle, über die wir reden. Das ist Mietnomadentum. Jetzt muss man feststellen, dass es das Problem in dieser Größenordnung überhaupt nicht gibt. ({8}) Die FDP hat in der 16. Legislaturperiode im Rahmen einer Kleinen Anfrage von den „drängendsten wohnungswirtschaftlichen und mietrechtlichen Problemen“ gesprochen. ({9}) Die Antwort der Bundesregierung, damals CDU/CSU und SPD: „Die der Bundesregierung vorliegenden Zahlen bestätigen diesen Eindruck nicht“. Der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen hat 2008 festgestellt, die Ausstände der Mitgliedsunternehmen seien seit 2003 um ein Viertel gesunken. Im Rahmen einer Studie zum Thema Mietnomaden der Universität Bielefeld, von der hier schon die Rede war, wurde Folgendes gemacht: Der Hausbesitzerverband hat seine Mitglieder - das sind Besitzer von 24 Millionen Mietwohnungen - gebeten, sich zu melden, wenn es mit dem Mietnomadentum ein Problem gibt. Rückmeldung: rund 1 400 Mitglieder, davon gab es 400 Fälle von wirklichem Mietnomadentum. Damit liegt die Zahl im Promillebereich. Der Abgeordnete Mayer - darauf wurde schon hingewiesen - hat auf eine Nachfrage meines Kollegen Bockhahn, wie hoch der Anteil der sogenannten Mietnomaden in Deutschland wirklich sei, gesagt: „Ich bin der festen Überzeugung, dass es hier kein verlässliches und auch kein belastbares Zahlenmaterial gibt …“. Er sprach von „Überzeugung“. Der Kollege Krings hat dazwischengerufen: „Darauf kommt es nicht an!“. ({10}) Hallo? Sie haben keine messbaren Zahlen, Sie sagen, es komme darauf überhaupt nicht an: Aber Sie schränken die Rechte von Mieterinnen und Mietern ein? ({11}) Das ist keine Politik, das ist verrückt. Sie jagen Phantome. ({12}) Reden wir über die tatsächlichen Probleme in Bezug auf das Mietrecht, reden wir über die tatsächlichen Probleme von Mieterinnen und Mietern, reden wir einmal über Mietsteigerungen. Der Mieterbund hat gesagt, dass ein Drittel der Mieterinnen und Mieter mehr als ein Drittel ihres Haushaltseinkommens für Miete und Energie bezahlen müssen. Mietsteigerungen bei Neuvermietungen in Großstädten betragen 20 bis 30 Prozent. Eine Anfrage meiner Kollegin Lay hat ergeben, dass 5,6 Millionen Sozialwohnungen benötigt werden, aber nur 1,6 Millionen vorhanden sind. Die Regelungen zum sogenannten Mietwucher im Wirtschaftsstrafgesetzbuch, wonach Mieterhöhung bei Neuvermietung nicht mehr als 20 Prozent der Vergleichsmiete betragen dürfen, laufen leer. Die Regelungen finden nämlich nur Anwendung, wenn eine sogenannte angespannte Marktsituation vorliegt. Das sind die Dinge, um die Sie sich wirklich kümmern müssten, tun Sie aber nicht. Wir als Linke haben das Problem gesehen und deshalb bereits im Februar 2011 einen Antrag eingebracht. Nach der heutigen Rechtslage ist es so, dass die Miete innerhalb von drei Jahren um bis zu 20 Prozent erhöht werden kann. Das ist nicht nur eine nicht hinzunehmende Mietsteigerung für Mieterinnen und Mieter, es ist auch ein Beitrag zur generellen Mietsteigerung. Der Bundesrat hat hier einen konkreten Vorschlag gemacht. Die SPD hat ihn aufgegriffen, nämlich: Mietsteigerungen in Höhe von 15 Prozent binnen vier Jahren. Wir sagen Ihnen: Auch das ist noch zu viel. Wir finden, bei bestehenden Mietverhältnissen soll ohne wohnwertverbessernde Maßnahmen eine Mietsteigerung nur im Rahmen des Inflationsausgleichs möglich sein. Jetzt brüllen Sie wahrscheinlich gleich wieder: Investitionsanreize! Investitionsanreize! - Egal. Investitionen lohnen sich langfristig, weil das Geld durch die Mieteinnahmen wieder reinkommt. Wir sagen Ihnen - das ist der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und uns -: Wohnungen sind ein Zuhause für Mieterinnen und Mieter und kein Anlageobjekt, mit dem man Geld machen will. ({13}) Sie wollen die Umlage bei 11 Prozent belassen. Wir wollen eine Umlage von 5 Prozent. Auch das rechnet sich im Übrigen rein betriebswirtschaftlich; denn die Modernisierungskosten sind im Rahmen der Abschreibungsfristen zu refinanzieren. Bisher sprachen wir übrigens noch nicht einmal darüber, dass der Mieter oder die Mieterin, nachdem die Modernisierungskosten wieder reingekommen sind, weiterhin die höhere Miete zahlen muss. Sie werden unserem Vorschlag vermutlich nicht folgen, und zwar aus absurden Gründen. Sie sollten an dieser Stelle aber zumindest dem Bundesrat folgen, der 9 Prozent vorschlägt. ({14}) - Herr Kauder, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann melden Sie sich und krakeelen Sie nicht dazwischen. Okay? ({15}) Wir Linke sagen: Mieterhaushalte, deren Einkünfte unterhalb des jährlich festzustellenden bundesdurchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens liegen, dürfen maximal 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für alle anfallenden Wohnkosten aufwenden. Das ergibt sich aus unserer sozialen Verantwortung.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Darf ich einen Augenblick um Ruhe bitten? - Ich glaube, wir können uns darauf verständigen, dass Zwischenrufe nach unserer Geschäftsordnung erstens zulässig und zweitens nachweislich nicht unüblich sind. ({0}) Es soll gelegentlich auch vorkommen, dass sie aus den Reihen Ihrer eigenen Fraktion kommen, Frau Kollegin. ({1}) Ferner entspricht es einer guten parlamentarischen Praxis, das Volumen der Zwischenrufe so zu dosieren, dass überwiegend der Redner zu Wort kommt, der gerade das Wort erteilt bekommen hat. Können wir bitte so verfahren? - Bitte schön. ({2})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir fordern Sie auf: Passen Sie das Wohngeld an die tatsächliche Miet- und Einkommensentwicklung an. Ändern Sie das Gesetz so, dass Sanierungen nur dann duldungspflichtig sind, wenn sie keine unzumutbare Härte bedeuten, und lassen Sie bitte die Finger von den vereinfachten Räumungen. Wenn Sie wirklich etwas tun wollen, dann stellen Sie gesetzlich sicher, dass eine ersatzlose Räumung von Wohnungen nach Kündigung unzulässig ist. ({0}) Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung kann die Linke unmöglich zustimmen. Wir fordern Sie auf: Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, und überarbeiten Sie ihn grundlegend. Das wäre eine richtig gute Tat. Dann können wir vielleicht auch miteinander reden, aber nicht so. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Frau Kollegin Wawzyniak, selbstverständlich darf man mit Mietwohnungen Geld verdienen, aber es muss dabei fair zugehen. Wir haben eines der besten und ausgewogensten Mietrechte im europäischen Vergleich. Das sagt der Europäische Mieterbund. Das wollen Sie, Frau Ministerin, nun ändern. Eine Ihrer wesentlichen Begründungen für eine Mietrechtsnovelle war immer - das gilt auch heute wieder - die Durchsetzung der Gebäudesanierung und der Energiewende. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Energiewende nicht vorankommt, liegt an sehr vielem, aber nicht am Mietrecht. ({0}) In diesem Zusammenhang ist, glaube ich, eher der Kollege Ramsauer gefordert als Frau Schnarrenberger; ({1}) denn hierbei geht es auch darum, die fehlende Planungssicherheit für Eigentümer zu beenden. Es geht darum, dass die Eigentümer klare Optionen auf Fördermittel haben, um eine energetische Gebäudesanierung durchführen zu können. Mit Ihrer Mietrechtsnovelle spielen Sie Mieterinnen und Mieter unter dem Vorwand der Energiewende gegeneinander aus. Wenn Ihre Vorschläge umgesetzt werden, die eins zu eins den Wünschen der Wohnungswirtschaft entsprechen, dann verschärft sich dadurch natürlich die schon heute teilweise dramatische Situation auf den Wohnungsmärkten in Ballungsgebieten. Wenigstens 30 bis 40 Prozent des Nettoeinkommens für Miete, das ist eindeutig zu viel. ({2}) Sie haben kein Gesamtkonzept für die energetische Gebäudesanierung und die Energiewende, und Sie haben Ihre bundespolitische Verantwortung für die steigenden Mieten in Boomregionen immer noch nicht anerkannt. Sie haben auch vorhin wieder auf andere verwiesen. So geht es aber nicht. Ein Schlüssel liegt natürlich im Mietrecht. Sozialer Wohnungsbau genügt schon lange nicht mehr. Wir werden in absehbarer Zeit eine Situation haben, in der sich bis weit in die Mitte der Gesellschaft Menschen ihre Wohnungen nicht mehr leisten können. Das Mietrecht ist ein zentrales Instrument, um die Lasten gerecht und fair zwischen Mietern und Eigentümern zu verteilen, aber es ist kein Instrument, um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen. Allerdings muss es in Planungssicherheit für die Akteure und in ein verlässliches Anreizsystem mit zielgruppengerechter Förderung eingebettet sein. Ihr derzeitiges Förderchaos erzeugt nur Stillstand. Wenn Sie die energetische Sanierung zum Beispiel dadurch beschleunigen wollen, dass Sie die Duldungsbestimmungen erleichtern, dann müssen Sie gleichzeitig die Mieterrechte stärken. Stattdessen bauen Sie Mieterrechte ab. Sie schränken zum Beispiel das Mietminderungsrecht ein, und Sie verändern die Regelung für Härtefallgründe zuungunsten der Mieterinnen und Mieter. So erreichen Sie bei der Mieterschaft keine Akzeptanz für die Energiewende, und Sie erreichen auch nicht, dass Hausbesitzer auch nur einen Cent mehr investieren. ({3}) Der richtige Weg ist, das Mietminderungsrecht auf nicht umgesetzte, allerdings gesetzlich vorgeschriebene Maßnahmen auszuweiten. Bei den Mieterhöhungsmöglichkeiten müssen wir die Refinanzierungszeiträume verlängern. Das heißt, wir müssen die Modernisierungsumlage von 11 auf 9 Prozent senken. Sie sagen ja selbst, dass sie überhaupt nicht mehr durchsetzbar ist. Wenn uns Hauseigentümer entgegenhalten, dass dann überhaupt keine energetische Gebäudesanierung mehr geschehen wird, dann frage ich mich - wenn das ein so bedeutender Faktor ist -, wieso bei bestehender Modernisierungsumlage in Höhe von 11 Prozent nicht schon längst alle Gebäude energetisch saniert sind. Die ortsübliche Vergleichsmiete ist ebenfalls eine entscheidende Schraube bei der Mietenentwicklung. Hier fehlen uns begrenzende Mechanismen. Die Neuvertragsmieten von heute sind die Bestandsmieten von morgen. Deswegen schlagen wir vor, in Kommunen oder in Teilgebieten von Kommunen, in denen nachgewiesener Wohnraummangel herrscht, per Landesermächtigung Obergrenzen mit dem Ziel einzuführen, dass die Neuvertragsmieten dort auf keinen Fall mehr als 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Sie sehen: Es gibt tatsächlich auch ausgewogene Vorschläge, um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen, ohne dabei die Rechte der Mieterinnen und Mieter einzuschränken. Die Energiewende im Gebäudebereich muss gelingen. Dazu müssen wir die Menschen mitnehmen. Das leistet Ihr Gesetzentwurf bei weitem nicht. Man merkt dem Gesetzentwurf auch an, dass Sie die verlorenen drei Jahre - etwa so lange kündigen Sie die Novelle bereits an - einholen müssen. Sie bauen im Hauruckverfahren einfach nur Mieterrechte ab. Dieses einseitige Vorgehen wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen, und das wird auch die Energiewende in keiner Weise beflügeln. Das sage ich Ihnen schon heute voraus. Die Mietpreisspirale wird auf jeden Fall, auf die eine oder andere Art und Weise, auszubremsen sein. Das ganze Gerede von energetischer Gebäudesanierung erscheint uns in diesem Fall vor allen Dingen ein Vorwand, um die Wünsche aus bestimmten Vermieterkreisen zu erfüllen. Wir wollen, dass es so bleibt, wie es bisher war. Wir wollen ein faires und ausgewogenes Mietrecht, das sowohl die Interessen der Mieterinnen und Mieter als auch der Hauseigentümer in den Blick nimmt. Das leistet Ihr Gesetzentwurf nicht. Ich wünsche mir daher noch sehr eingehende Beratungen im Rechtsausschuss und im Bauausschuss, und ich wünsche mir, dass es bei den Anhörungen viele Beiträge gibt, die Ihren Entwurf des Mietrechtsänderungsgesetzes verbessern helfen. Danke schön. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Jens Koeppen, der neben seinen sonstigen parlamentarischen Aufgaben auch die besonders dankbare Aufgabe der Koordination unserer Schriftführerinnen und Schriftführer wahrnimmt, feiert heute seinen 50. Geburtstag. Er beginnt die Gestaltung dieses besonderen Tages, wie es sich gehört, im Präsidium des Deutschen Bundestages. Das ist ein besonders schöner Platz, um ihm die gesammelten Glückwünsche des Deutschen Bundestages zu übermitteln, was ich hiermit gerne tue. ({0}) Präsident Dr. Norbert Lammert Ich nutze die eher seltene Gelegenheit, ihm stellvertretend für alle Schriftführerinnen und Schriftführer für die unauffälligen, aber wichtigen Dienstleistungen zu danken, die er regelmäßig für die Gestaltung unserer Plenarsitzungen erbringt. Herzlichen Dank! ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. ({2})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn man die Reden der Opposition hört, dann kann man nur froh sein, dass Sie in diesem Land nicht regieren. ({0}) Die Vorschläge der Opposition sind einfach, grotesk und schräg. Herr Kollege Egloff, Sie haben es in Ihrem letzten Satz durchblicken lassen. Da haben Sie gesagt: Lassen Sie uns an diesem Entwurf im Interesse der Mieter arbeiten; ({1}) das waren Ihre Worte. ({2}) Aber da verwechseln Sie Mietrecht und Mieterrechte. ({3}) Das Mietrecht ist ein Recht, das die Rechtsverhältnisse zwischen Mieter und Vermieter ausbalanciert regeln soll. ({4}) Genau das gelingt dem Regierungsentwurf. Schauen wir uns schlaglichtartig ein paar Vorschläge der Opposition an. ({5}) Führen wir uns Ihre Forderung zu Gemüte, dass die Höhe der Wohnkosten für angemessenen Wohnraum höchstens 30 Prozent des Nettoeinkommens eines Mieterhaushalts betragen darf. Da fragt man sich: Können Sie das eigentlich ernst meinen? ({6}) Was ist denn in Ihren Augen „angemessener Wohnraum“? Die Antwort auf diese Frage ist doch höchst subjektiv. Der eine ist bereit, für seinen Wohnraum viel Geld zu bezahlen, weil er sagt: Ich will einen schönen, großen Garten haben. Dafür fahre ich weniger häufig in Urlaub. - Der andere sagt: Ich verbringe in meiner Wohnung den großen Teil meiner Zeit, auch meiner Freizeit. Sie ist für mich nicht nur eine Schlafstätte. - Noch ein anderer sagt: Ich bin sowieso kaum zu Hause. In meiner Freizeit treibe ich Sport und fahre lieber häufiger in Urlaub. - Man muss also feststellen: Es gibt völlig unterschiedliche Lebensentwürfe. Wir nennen das Freiheit der Lebensentwürfe. Das hat für uns mit Eigenverantwortung zu tun. ({7}) Was jemand für angemessen hält, ist eine höchstpersönliche Angelegenheit. Sie wollen den Menschen ihren Lebensentwurf vorschreiben. Wir wollen Privatautonomie und Vertragsfreiheit. Das ist der Unterschied. ({8}) Schauen wir uns einen anderen Vorschlag, den Sie schon in aller Breite ausgeführt haben, an. Da heißt es, dass die höchstmögliche Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete auf 5 Prozent begrenzt werden soll. Das feiern Sie als sehr soziale Errungenschaft. ({9}) Aber was wäre die Folge eines solch abstrusen Vorschlags? Eine solche Regelung würde dazu führen, dass die Eigentümer ihre Modernisierungsinvestitionen herunterfahren und sie auf das Nötigste beschränken würden. ({10}) Würde die höchstmögliche Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete auf 5 Prozent beschränkt, müssten die Eigentümer nämlich bis zu 20 Jahre warten, bis sich ihre Investition in eine fremdgenutzte Wohnung refinanziert hat. Also werden Investitionen unterbleiben; das ist doch völlig logisch. ({11}) Das heißt, das Handwerk hätte weniger Aufträge, Arbeitsplätze im Handwerk und im Baugewerbe gingen verloren, und der Baubestand der Mietwohnungen würde an Qualität verlieren, weil Investitionen unterblieben. Somit hätte Ihr Vorschlag zur Folge, dass die Wohnund damit die Lebensqualität der Mieter sinken würden. ({12}) Das kann nicht Ihr Ernst sein. Aber so würde die Zukunft des deutschen Wohnungsmarkts, des deutschen Handwerks und des Arbeitsmarkts in Deutschland ausseStephan Thomae hen, wenn die Linke eine Chance erhalten würde, ihre Pläne zu verwirklichen. Das kann doch nicht wahr sein! ({13}) Aber: Man muss Ihnen dankbar dafür sein, dass Sie diesen Antrag eingebracht haben. Denn jetzt können die Menschen im Lande klar erkennen, was sie erwarten würde, wenn Sie an der Regierung beteiligt wären. An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen den Vorstellungen der Linken und dem, was eine bürgerliche Regierung auf die Beine stellt, deutlich. ({14}) Genauso doll ist der Antrag der Grünen. Da steht zum Beispiel, dass „die Ausweitung des Mietminderungsrechts auf nicht umgesetzte, jedoch gesetzlich vorgeschriebene Energieeffizienzstandards im Gebäudebereich“ festgeschrieben werden soll. Ganz unabhängig von der Frage, welches Streitpotenzial darin liegt, ob die Energieeffizienzstandards vom Vermieter eingehalten werden, verbunden mit allen Fragen der Beweis- und Darlegungslast und allem Pipapo, heißt das doch nicht weniger, als dass der Eigentümer mittelbar gesetzlich zu einer Investition gezwungen wird - ohne Rücksicht auf seine wirtschaftlichen Möglichkeiten. Ob der Eigentümer genügend liquides Eigenkapital hat, das er einsetzen kann, ob er überhaupt Fremdkapital aufnehmen kann, ob ihm die Bank ein Darlehen gibt: Alles egal, sagen Sie von den Grünen. - Geld regnet ja vom Himmel. - Sie sagen: Der Eigentümer muss sanieren bzw. renovieren, egal ob er es sich leisten kann oder nicht. Dabei gibt es im Land übrigens eine ganze Menge von Vermietern, die ganz schön aufs Geld achten müssen, und zwar deswegen, weil eine Immobilie auch eine enorme Belastung darstellen kann. Wie wohltuend ausgewogen ist dagegen der Entwurf der Regierung, ({15}) der die Rechte der Mieter und der Vermieter wirklich in ein gutes Verhältnis bringt. Kollege Egloff, ich kann nur sagen: Wenn Sie einmal einen Einmietbetrüger in Ihrer Wohnung haben, dann ist der Scheinriese Tur Tur, den Sie so gerne zitieren, kein Scheinriese mehr, sondern dann ist das Problem höchst real. ({16}) Frau Kollegin Wawzyniak, Sie sagen, das sei ein minimales Problem, es gebe ja kaum solche Fälle. ({17}) Na ja, dann betrifft das auch nur ganz wenige Mieter. Wir schützen den redlichen, den vertragstreuen Mieter, während Sie sich zum Anwalt der Einmietbetrüger machen. Das kann doch nicht wahr sein! ({18}) Meine Damen und Herren, man kann es nur immer und immer wieder sagen: Wir denken an beide Parteien, an Mieter und Vermieter. Unser Entwurf ist ausgewogen. Wenn man das mit Ihren Vorschlägen vergleicht, dann kann jeder vernünftige Mensch im Lande nur sagen: Wie gut, dass in diesem Land Schwarz-Gelb regiert. Vielen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Florian Pronold ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen, die in Metropolregionen leben, wie hier in Berlin, wie in München oder in Hamburg, müssen sich bei diesem kabarettistischen Auftritt, den wir gerade erlebt haben, richtig verarscht vorgekommen sein. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, so richtig parlamentarisch war die letzte Formulierung nicht.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, aber Sie wissen ja: Eine Beleidigung ist umso schlimmer, je mehr sie der Wahrheit entspricht. Insofern war die Beleidigung gegenüber dem Kollegen ziemlich schlimm. ({0}) Wir haben folgende Situation: Immer mehr Menschen in Metropolregionen haben Angst davor, dass sie ihre Heimat nicht erhalten und in ihrer Wohnung nicht bleiben können. Die energetische Sanierung ist für uns alle, die wir darüber reden, etwas Positives, weil wir wissen, dass sie notwendig ist und dass wir das tun müssen, um das Klima zu retten. Für viele Menschen ist dies aber eine Bedrohung, weil sie Angst davor haben, dass sie ihre Miete nicht mehr zahlen können. Das trifft die Krankenschwester genauso wie den Polizeibeamten und die Reinigungskraft, die alle ein sehr niedriges Einkommen haben, aber trotzdem in einer Wohnung in der Innenstadt leben wollen. Derzeit kommt es zu einer Verdrängung. Sie unternehmen mit Ihrem Gesetzentwurf nichts dagegen und schaffen keinen fairen Ausgleich zwischen Vermietern und Mietern. ({1}) Die Anzahl der Haushalte, die 40 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben müssen, hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Nicht wenige Menschen leben von 1 300 Euro netto. Sie geben 50 Prozent ihrer Nettoeinnahmen für die Miete aus. Jetzt kommen Sie, wischen das alles weg und sagen: Na ja, es gibt nur wenige Fälle, in denen das umgelegt wird und man die 11 Prozent im Rahmen einer Mieterhöhung durchsetzen kann. Genau in den Metropolregionen findet das aber statt, ({2}) weil es dort, liebe FDP, eben kein freies Spiel der Kräfte gibt, weil dort der Markt eben nicht funktioniert. Die Mieterinnen und Mieter sind die Leidtragenden, und Sie unternehmen nichts dagegen. ({3}) Ich will es einmal auf Deutsch sagen, sodass es jeder versteht: Wenn eine Wohnung für 25 000 Euro energetisch saniert wird, dann bedeutet das, dass auf den Mieter jedes Jahr Kosten von 2 750 Euro umgelegt werden können, im Monat 230 Euro. Wenn die Sanierungskosten 10 000 Euro ausmachen, sind es immer noch 1 100 Euro im Jahr, also für viele Menschen oft ein Nettomonatsgehalt. Das sind fast 100 Euro im Monat. Dass Sie nicht in diesen Kategorien denken, ist klar. Aber es gibt eine ganze Menge Menschen - die Krankenschwester, den Wachmann -, die von einem solchen Gehalt leben müssen. Wenn sie schon in der Stadt arbeiten sollen, dann sollen sie auch in der Stadt wohnen können und nicht 50 Kilometer hinausgetrieben werden. ({4}) Das ist doch das, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorhaben. Hier versagen Sie, weil Sie nämlich versuchen, die energetische Sanierung nur über das Mietrecht zu machen. Der Kollege hat darauf hingewiesen, welch große Probleme und welche zusätzliche Rechtsunsicherheit dadurch entstehen. Das bekommen wir nicht über das Mietrecht hin, sondern nur dann, wenn es einen vernünftigen Mix aus staatlicher Förderung - Sie haben die KfW-Mittel für die energetische Sanierung gekürzt und Teilung der Lasten und Nutzen von energetischer Sanierung zwischen Mietern und Vermietern gibt. Sie begrenzen die Mieterhöhung auch nicht. Es ist doch nicht so, dass die Mieterhöhung dann, wenn die energetische Sanierung abbezahlt ist, wieder zurückgenommen wird. Nein, sie läuft unendlich weiter. Das ist zutiefst ungerecht. Daran ändern Sie nichts. ({5}) Wir sind dafür, ein faires Modell zu finden, bei dem Mieter und Vermieter vernünftig an Kosten und Nutzen beteiligt werden. Wir sind dafür, dass man Mieterhöhungen begrenzt. ({6}) - Entschuldigen Sie, wir haben hier in diesem Hause fünfmal über diese Frage debattiert. ({7}) Wir Sozialdemokraten haben vor der Sommerpause zum Beispiel einen Antrag zur energetischen Sanierung vorgelegt, wo wir alles genau ausgeführt haben. Wissen Sie, Frau Ministerin, was mich besonders ärgert? Wir haben im Sommer erlebt, um wen Sie sich Sorgen machen: um Steuerflüchtlinge, die in der Schweiz ihr Geld anlegen. ({8}) Diese wollen Sie schützen. Aber für die Mieterinnen und Mieter, für die Krankenschwester, für den Wachmann haben Sie überhaupt keinen Cent übrig. Das ist der Skandal Ihres Entwurfes. ({9}) Sie sind sozial ungerecht. Das ist typisch FDP. Es ist gut, wenn Sie nicht mehr regieren. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute ein Thema mit wirklich hoher gesellschaftsrechtlicher und gesellschaftspolitischer Relevanz. Wir haben es gehört: Fast die Hälfte der Menschen in unserem Land lebt in Mietwohnungen. Das, was uns die Opposition hier darbietet und was in den Reden und Anträge zu hören und zu lesen ist, ist schon bemerkenswert: Hier wird ein Mietrechtsentwurf pauschal als schlecht abqualifiziert. Hier wird davon geredet, dass Mieterrechte geschleift werden. ({0}) Hier wird sogar davon geredet, dass wir Mieter in den Knast stecken wollen. ({1}) Ich muss wirklich sagen: Ich vermisse bei diesem Thema den angemessenen Respekt und Ernst bei der Opposition. ({2}) Den Menschen in unserem Land, denen es darum geht, sachgerechte und zielführende Lösungen zu finden, um bei der energetischen Sanierung weiterzukommen und beim Contracting voranzukommen, ({3}) und darum, dass den Vermietern gegenüber den Mietnomaden ein vernünftiger Schutz zuteilwird, werden Sie mit Ihrer Schaufensterpolitik, mit Ihren Plattitüden und mit Ihrem Populismus in keiner Weise gerecht, liebe Opposition. ({4}) Ich will eines hinzufügen - mich ärgert das wirklich, das merken Sie vielleicht auch -: Sie tun hier gerade so, als ob Sie hier das soziale Gewissen wären. ({5}) Meine Damen und Herren von der Opposition, wir als christlich-liberale Koalition haben sehr darauf geachtet, dass dieser Gesetzentwurf ausgewogen ist, sowohl für die Mieter als auch für die Vermieter. ({6}) Wir brauchen Sie nicht als soziales Gewissen. Das ist für uns eine bare Selbstverständlichkeit. ({7}) Jetzt komme ich zu dem Punkt der energetischen Sanierung. Das ist in der Tat ein wirklich wichtiger Bereich. Deswegen sage ich: Hier müssen alle an einem Strang ziehen. Das gilt für die Vermieter, das gilt für die Mieter; aber das gilt selbstverständlich auch dann, wenn es um staatliche Unterstützung geht. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich alle beteiligen müssen. Ich erinnere an den Bundesrat. Die Frau Ministerin hat es schon angesprochen: Man muss darüber reden, dass das Vorhaben schon seit Monaten im Bundesrat blockiert wird. ({8}) Wir wollen alle gemeinsam etwas für Vermieter, Mieter und vor allen Dingen für den Klimaschutz tun. ({9}) Deswegen müssen die Länder endlich aufhören, sich querzustellen, und ihre Blockade aufgeben, meine Damen und Herren. ({10}) Wenn die Linken sagen: „Mit Vermietungen darf man eigentlich kein Geld verdienen“, ({11}) frage ich Sie, liebe Frau Kollegin Wawzyniak: Bei den Problemen, die wir in den Metropolen - in Berlin, Hamburg, München und anderswo - im Zusammenhang mit Mietpreissteigerungen haben, geht es doch gerade darum, dass wir auf den Wohnungsmärkten Knappheit haben. Wie beseitigen wir die Knappheit? Wie wollen wir das denn schaffen? Indem wir mehr Angebote schaffen. Aber man kann nicht immer nach dem Staat rufen, wie es in Ihren Anträgen der Fall ist, mit denen Sie einen Rechtsanspruch auf staatliche Förderung generieren wollen. Es geht darum, dass wir für die privaten Vermieter, die an dieser Stelle investieren wollen, Anreize schaffen. Das kann nicht alles der Staat machen. ({12}) Wenn wir schon von den privaten Kleinvermietern reden - Sie beziehen sich in Ihrer ganzen Argumentation, angefangen bei den Mietnomaden bis zur energetischen Modernisierung, immer nur auf die großen Wohnungsgesellschaften -, dann muss man aber auch sagen: Tatsächlich werden 60 Prozent der Wohnungen in unserem Land von privaten Kleinvermietern angeboten. Für diese ist es in der Tat ein Problem, wenn eine energetische Sanierung durchgeführt werden soll und die Mieter daraufhin ihre Miete kürzen wollen. Deswegen haben wir uns das genau angeschaut. Wir wollen in unserem Land mehr energetische Modernisierung. Deshalb wollen wir das fördern und gezielt Anreize setzen. Es gibt viele Vermieter in unserem Land, die schon etwas älter und vielleicht schon im Ruhestand sind. Sie können nicht einfach zur Bank gehen und einen Kredit in der entsprechenden Größenordnung aufnehmen. Sie werden durch Mietminderungen durchaus wirtschaftlich belastet. Gerade diese Vermieter, die für 60 Prozent der Mietwohnungen in unserem Lande verantwortlich sind, müssen wir ermutigen, verstärkt in die energetische Modernisierung zu investieren und auch mehr Wohnungsbau zu betreiben. Deswegen wollen wir sie fördern und ihnen Anreize bieten. Diese Vermieter müssen wir stärken, und das machen wir mit unserem Gesetzentwurf. ({13}) Wir stellen die Mieter aber in keiner Weise schutzlos. Wir haben das sehr genau geprüft. Wir meinen, drei Monate auf eine Mietminderung zu verzichten, das ist ein vertretbarer und überschaubarer Zeitraum. Es ist auch nicht so, dass die Mieter nicht von einer energetischen Sanierung profitieren würden. Es geht vielmehr darum, die zweite Miete, wie man die Betriebskosten heute nennt - es geht schließlich nicht nur um die Nettomieten; gerade die Betriebskosten sind in den vergangenen Jahren angestiegen -, zu senken. ({14}) Das schaffen wir nur über energetische Modernisierung. ({15}) Deswegen glaube ich, dass es ein vertretbarer und zumutbarer Aufwand für die Mieter ist, für die ersten drei Monate zu tolerieren, dass der Wohnwert etwas beeinträchtigt wird, und auf das Minderungsrecht zu verzichten. Jetzt will ich noch darauf eingehen, was verschiedentlich angesprochen worden ist, nämlich dass wir Mieterrechte schleifen würden und wirtschaftliche Härtefallgründe nicht mehr angeführt werden könnten. Das stimmt einfach nicht. Ich frage mich immer, ob Sie unsere Gesetzentwürfe nicht lesen oder ob Sie sie nicht verstehen. Schauen Sie sich diese einmal genau an! Bei den persönlichen Härtefallgründen wird überhaupt nichts geändert; es bleibt bei der bestehenden Rechtslage. Bei den wirtschaftlichen Härten haben wir allerdings richtig gehandelt. Das ist im Übrigen der weit, weit überwiegende Teil, was eingewendet wird, die sagen: Wenn du jetzt modernisierst, lieber Vermieter, dann können wir aber hinterher die Miete nicht mehr zahlen. Bisher haben die Mieter in solchen Fällen Einspruch eingelegt, und dann ist unterm Strich im Wohnungsbestand gar nichts passiert. Das wollen wir nicht. Es soll erst einmal modernisiert werden können. Deshalb soll hier eine Duldungspflicht eingeführt werden. Aber hinterher, wenn es um die essenzielle Frage geht, ob die Miete erhöht werden kann, dann kann ein Mieter selbstverständlich einen wirtschaftlichen Härtegrund anführen. Es werden also in keiner Weise irgendwelche Rechte beschnitten, sondern diese werden lediglich nach hinten verlagert. Denn wir wollen, dass die energetische Modernisierung in unserem Land vorankommt, meine Damen und Herren. ({16}) Jetzt komme ich zum Contracting. Das ist auch ein wichtiger Baustein für die Energiewende, weil damit sehr viel an Effizienzsteigerung erreicht werden kann. Wir sehen sehr wohl, dass es ein Zugeständnis ist, das wir den Mietern an dieser Stelle abverlangen, wenn wir das Mietminderungsrecht für drei Monate ausschließen. Ich finde, wie gesagt, es ist ein vertretbares und zumutbares Zugeständnis. Aber wir sehen natürlich, dass es auch eine Belastung ist. Deswegen haben wir im Zusammenhang mit dem Contracting ganz klar gesagt: Es muss eine kostenneutrale Regelung her. Es soll keine Gewinne auf Kosten der Mieter geben. ({17}) Das ist der eine politische Punkt, der uns wichtig war. Aber es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund, wieso wir für die Kostenneutralität streiten. Wir wollen nämlich einen Anreiz setzen, dass möglichst effizient umgestellt wird, indem sich der Gewinn des Contractors aus den beiden Punkten Kostenneutralität und Einsparung von Brennkosten ergibt. Ein sehr kluger Bedingungszusammenhang ist: Je effizienter umgestellt wird und je größer die Spanne der Kostenneutralität ist, desto mehr Anreiz besteht, überhaupt umzustellen. Das ist gut für unser Klima und für die Mieter. ({18}) Deswegen bin ich auch skeptisch - darauf möchte ich als Letztes hinweisen -, wenn es darum geht, den Contractoren Gewinnzuschläge zuzubilligen. Richtig ist, dass das Contracting auch in der Praxis funktionieren muss. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wie man die Kostenneutralität berechnet. Dazu soll jetzt drei Jahre zurückgeschaut werden. Vielleicht muss man aber auch die Einsparung von Brennkosten in der Zukunft berücksichtigen. Das diskutieren wir. Wir haben noch viele Punkte, die wir in den Anhörungen klären müssen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die können aber nicht mehr vorgetragen werden.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zu Mietnomaden kann ich nichts mehr sagen, weil der Präsident mich unterbricht. Zum Schluss: Ich bin Berliner Bundestagsabgeordneter. Ich habe, da ich die Probleme des Mietrechts hier in Berlin kenne, wirklich sehr darauf geachtet, dass unsere Vorlage ausgewogen ist. Wir haben hier einen sehr guten, ausgewogenen Entwurf. Sie sollten sich einen Ruck geben, von Ihrem Populismus Abstand nehmen und diesen Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Ingrid Hönlinger, Bündnis 90/Die Grünen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den Gesetzentwurf dieser Regierung zum Bereich Mietnomaden anschaue, dann drängt sich mir der Verdacht auf, dass die damit befassten Regierungsmitglieder zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht ({0}) und sich dabei auch noch die falschen Sendungen angeschaut haben. ({1}) Meine Damen und Herren, nur weil in Spiegel TV eine reißerische Sendung mit dem Titel „Mietnomaden: Pöbeleien am Gartenzaun“ lief, müssen Sie noch lange nicht das Prozessrecht ändern! ({2}) Als Mietnomaden werden Menschen bezeichnet, die ein Mietverhältnis bereits in der betrügerischen Absicht begründen, keine Miete zu zahlen. Sie ziehen von Wohnung zu Wohnung und hinterlassen diese in einem verwahrlosten Zustand; das ist ein Problem. Aber Mieterinnen und Mieter, die nach dem Eingehen eines Mietverhältnisses zahlungsunfähig werden - sei es wegen Arbeitslosigkeit oder Krankheit -, fallen nicht in diese Kategorie. ({3}) Sehen wir uns die Fälle echter Mietnomaden an, ({4}) stellen wir fest, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt. Von einem Phänomen zu sprechen, ist der Versuch der Eskalierung, um bestimmte Interessen durchzusetzen. ({5}) Sie nennen auch gar keine konkreten Zahlen. Das hat auch seinen Grund: Das Gutachten, das von Bundesjustizministerium und Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegeben worden ist, hat in ganz Deutschland 426 Fälle von Mietnomadentum festgestellt. Frau Kollegin Voßhoff von der CDU sagt zu Recht: Deutschland ist ein Land der Mieter. - Das bestätigt auch das Statistische Bundesamt, das feststellt: Die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland lebt zur Miete. ({6}) Also stellen die Mietnomaden einen Anteil im Promillebereich dar. Und damit wollen Sie eine massive Gesetzesänderung rechtfertigen? Glaubwürdigkeit und argumentative Überzeugungskraft sehen anders aus. ({7}) Dabei sind die Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfs äußerst weitreichend. ({8}) Sie schaffen nämlich Regelungen, die alle Mieterinnen und Mieter treffen. Sie wollen ein neues Instrument in die Zivilprozessordnung einführen, die sogenannte Sicherungsanordnung. Damit kann ein Gericht schon vor dem Hauptsacheverfahren anordnen, dass der Mieter einen Geldbetrag hinterlegen muss, auf den der Vermieter möglicherweise einen Anspruch hat. Hinterlegt der Mieter das Geld nicht, so kann der Vermieter die Wohnung räumen lassen. Seinen Räumungsanspruch kann er durch eine einstweilige Verfügung durchsetzen, mit der bloßen Begründung, dass der Mieter das Geld nicht hinterlegt hat. Auf ein Verschulden des Mieters kommt es dabei gar nicht an. ({9}) So haben Sie zwei Verfahren, nämlich die Anordnung der Sicherungsleistung und das Räumungsverfahren, aber keine Beweiserhebung. Vollendete Tatsachen werden geschaffen, ohne dass jemals ein Hauptsacheverfahren durchgeführt wurde. Der Mieter sitzt auf der Straße. ({10}) Bisher kennt die Zivilprozessordnung nur Sicherheitsleistungen im Rahmen der Vollstreckung von Endurteilen. Wenn wir nun Zahlungspflichten für Mieter schaffen, die auf nur kursorischer Prüfung und prognostizierten Erfolgsaussichten einer Klage basieren, ({11}) greifen wir tief in die Systematik des Zivilprozessrechts ein. Das ist ein systematischer Bruch, den wir Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker nicht mittragen sollten. ({12}) Sie wollen das Gesetz aber noch weiter verschärfen. Die Sicherungsanordnung soll nicht nur für Mieten gelten. Sie wollen auch andere Geldforderungen - das können zum Beispiel Werklohnforderungen oder Forderungen aus Versicherungsverträgen sein - einbeziehen. Da drängt sich die Frage auf: Wieso müssen wir für Geldforderungen neue und systemwidrige Regelungen einführen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition? Sie bauen einen Buhmann auf - die Mietnomaden - und benutzen diesen als Vorwand, um das Prozessrecht für Schuldner inklusive aller Mieter zu verschlechtern und für Gläubiger inklusive aller Vermieter zu verbessern. Wir stellen fest: Diese schwarz-gelbe Koalition wird getrieben von der Durchsetzung von Vorteilen für die eigene Klientel wie keine andere Regierung zuvor. Mal sind es die Hotelbesitzer. Jetzt sind es die großen Immobilien- und Vermietungsfirmen, deren Profit gesichert werden soll. Wir als grüne Parlamentarierinnen und Parlamentarier fühlen uns dem Wohl der gesamten Bevölkerung verpflichtet. Deswegen lehnen wir diesen Teil des Gesetzes rundweg ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Dirk Fischer. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zur sozialen Absicherung des Wohnens gehören sozialer Wohnungsbau, Wohngeld und soziales Mietrecht. Das erklärte der Kanzler der deutschen Einheit, Helmut Kohl, in seiner ersten Regierungserklärung nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 30. Januar 1991. Das ist von ihm oft wiederholt worden. Für uns ist das soziale Mietrecht seit Jahrzehnten ein wichtiger Aspekt des gesamten Wohnungswesens in Deutschland. ({0}) Es war immer unser politisches Bemühen, eine angemessene Balance zwischen Vermieter- und Mieterinteressen herzustellen. Der Vermieter muss in der Lage sein, sein Eigentum ökonomisch angemessen zu nutzen. Sonst wird in diesen Sektor kein privates Kapital investiert. Es hat keinen Sinn, heute die Voraussetzungen dafür zu zerstören und morgen zu beklagen, dass zu wenig Geld in den Wohnungsbau investiert wird. Man muss wissen, was man tut. ({1}) Für die Mieter gelten besondere Schutzvorschriften; denn die Ware Wohnung ist nicht irgendeine Ware, sondern stellt eine existenzielle Voraussetzung für die Menschen dar, in Ruhe und Sicherheit zu leben. Diese bewährte Zielsetzung muss also erhalten werden. Aber natürlich muss das Mietrecht von Zeit zu Zeit überprüft werden. Wir müssen es an gesellschaftliche Veränderungen anpassen. Der Kern der von der Bundesregierung vorgelegten Mietrechtsnovelle ist die Anpassung an die Herausforderungen der Energiewende. In puncto Energieeffizienz und Klimaschutz kommt dem Gebäudebereich eine Schlüsselrolle zu. Herr Kollege Egloff, Ihre Rede hat bei mir den Eindruck erweckt, dass Sie sich von den ökologischen Zielsetzungen in Wahrheit völlig verabschiedet haben. Dann müssen Sie das auch deutlich sagen. ({2}) Wie Sie aufgrund der Statistik wissen, bietet der Gebäudesektor mit Abstand das größte Einsparpotenzial. Wenn wir das nicht nutzen, ({3}) können wir alle uns gesetzten Ziele aufgeben. Hier muss also gehandelt werden. ({4}) Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund gerade für den Gebäudesektor ein ganzes Maßnahmenbündel im Energiekonzept verankert, immer streng an das Wirtschaftlichkeitsgebot gekoppelt und ohne staatlichen Sanierungszwang. Klar ist aber auch, dass die energetische Sanierung des Gebäudebestands nicht zum Nulltarif zu haben ist, weder für die Vermieter noch für die Mieter noch für den Staat auf allen Ebenen. Hauseigentümer haben sukzessiv steigende Anforderungen zu erfüllen, wenn sie ein neues Haus errichten wollen, und haben bereits sehr hohe Anforderungen zu erfüllen, wenn sie den Bestand energetisch sanieren wollen. Derzeit befinden wir uns beim Gebäudebestand schon an der Grenze des wirtschaftlich Verkraftbaren und Vertretbaren; das müssen wir wissen. Bei noch höheren Anforderungen besteht die Gefahr, dass viele Hauseigentümer ihre Sanierungspläne verschieben oder ganz aufgeben. Das muss verhindert werden. Ergänzend zu den Anforderungen bedarf es aber auch der Förderung von Investitionen, nicht nur finanziell, sondern eben auch durch die mietrechtlichen Rahmenbedingungen. Der größte Gewinner einer energetischen Sanierung eines Gebäudes ist der Nutzer, das heißt in Deutschland vor allem der Mieter. Das hat die Vorrednerin gerade klargemacht. ({5}) Denn die Differenz zwischen den Heizkosten eines sanierten und eines unsanierten Gebäudes ist enorm. Ob das am Ende zu einer finanziellen Einsparung führt, ist neben dem Verbrauch leider auch von der allgemeinen Preisentwicklung abhängig, und wir wissen, dass Energie teurer wird. Ich sehe drei relevante Problemkreise, auf die sich die Diskussion über den Änderungsbedarf beim Mietrecht in Bezug auf die energetische Sanierung konzentriert. Dazu kommt die Frage, wie wir mit vorsätzlichen Mietschuldnern umgehen wollen. Ich komme zunächst zum Mietminderungsrecht. Wie bereits ausgeführt, ist der Nutzer einer Wohnung der Hauptgewinner einer energetischen Sanierung. Es bedarf bei einem Mietverhältnis schon besonderer Anreize, damit sich ein Hauseigentümer für eine derartige Sanierung entscheidet, vor allem, wenn sich sein Haus nicht in den nicht sehr zahlreichen, also eher überschaubaren Toplagen befindet. Wenn der Vermieter dann auch noch zusätzliche wirtschaftliche Verluste durch Mietminderungen befürchten muss, dann ist das nicht gerade ein besonderer Anreiz. Es ist doch für einen Mieter zumutbar, eine in drei Monaten zügig durchgeführte energetische Sanierung zu ertragen. Dies darf ihm nicht noch das Recht verschaffen, denjenigen, der letztlich an ihm eine gute Tat begeht, auch noch durch eine Mietminderung bestrafen zu können. ({6}) Diesen Widersinn können wir doch nicht gutheißen. Liebe Kollegen von den Grünen, welche mietrechtlichen Anreize bieten Sie den Sanierungsträgern? Überhaupt keine. Ihr Antrag geht nämlich an den berechtigten Interessen der Hauseigentümer vollständig vorbei. So ist keine Steigerung der Investitionstätigkeit zu erwarten. Wie können Sie es eigentlich mit Ihrem grünen Gewissen vereinbaren, so viele dringend notwendige Sanierungsprojekte zu behindern, ja in Wahrheit sogar masDirk Fischer ({7}) senhaft ganz zu verhindern? Das kann doch von Ihnen überhaupt nicht akzeptiert werden. ({8}) So funktioniert die Energiewende nicht, schon gar nicht mit Ihren Vorstellungen von Sanierungszwängen und Energiepolizei. ({9}) Ich komme zur Umlage. Die Koalition hat sich entschieden, an der möglichen Höhe der Modernisierungsumlage nicht zu rütteln. Ich halte auch nichts davon, die Modernisierungsumlage auf ausgewählte Modernisierungsformen zu begrenzen, nur weil jetzt die energetische Sanierung im Vordergrund steht. Wer weiß, vielleicht gerät in fünf Jahren der Wasserverbrauch in die Schlagzeilen. Für die allgemeine Verbesserung von Wohnverhältnissen sollte die Modernisierungsumlage weiterhin möglich bleiben. Zum Contracting. Der Regierungsvorschlag ist eine gute Entscheidungsgrundlage. Ob dabei das Optimum gefunden worden ist, werden wir nach der Anhörung im Rahmen der Beratungen zu prüfen haben. Aber immerhin - das hat die Bundesjustizministerin ausgeführt -: Diese Bundesregierung ist die erste, die überhaupt einmal einen vernünftigen und diskussionswürdigen Vorschlag gemacht hat. Daran muss weiter gearbeitet werden. ({10}) Zum Problem der Mietnomaden. Dabei geht es um vorsätzliche Mietschuldner, also Menschen, die mit Absicht anderen Menschen wirtschaftlichen Schaden zufügen und oftmals vorsätzlich betrügerisch handeln. Mir ist egal, wie viele Fälle das sind. Die große Masse der Mietverhältnisse funktioniert reibungslos. Die sind von den neuen Regelungen, zum Beispiel der Sicherungsanordnung, überhaupt nicht betroffen. ({11}) Der Gesetzgeber darf aber prinzipiell nicht akzeptieren, dass einige die derzeit bestehenden Regelungslücken und die oftmals viel zu langen Prozesse nutzen, um sich einen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Große Wohnungsbaugesellschaften haben einen langen Atem und können das durchstehen, aber für einen kleinen Vermieter mit ein oder zwei Wohnungen ist dies oftmals mit dem wirtschaftlichen Ruin verbunden. ({12}) Ich will am Ende meiner Rede auf Folgendes hinweisen: Für uns alle ist die Energiewende auch im Gebäudesektor eine große Herausforderung. Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht: Förderung über die mit Bundesmitteln finanzierten Programme der KfW, Konzept zur Fortentwicklung der EnEV, Mietrechtsentwurf, Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung. Der Beitrag, den die von der SPD oder von den Grünen geführten Bundesländer hierzu im Bundesrat liefern, ist alles andere als konstruktiv. Ich frage wiederum: Wie können die Freunde von den Grünen mit ihrem grünen Gewissen vereinbaren, dass so jegliche energetische Sanierung vor allem im Eigenheimsektor, dem die normalen Häuslebauer, Normalverdiener, oft ältere Menschen angehören, die darauf angewiesen sind, steuerliche Förderungen zu empfangen, konterkariert wird?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage Ihnen voraus: Ohne eine steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung werden wir die anspruchsvollen Ziele nie erreichen. Sie müssen sich in diesem Fall einen Ruck geben. Danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Groß ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt ungefähr anderthalb Stunden viel über marktliberale Philosophien gehört. Deswegen ist es wichtig, hier einen Gegenpart zu setzen. ({0}) Ich will zu Beginn deutlich machen, dass die SPD zum Thema Klimaschutz steht. Anders ausgedrückt: Wir müssen das Ziel erreichen, genug CO2 einzusparen. ({1}) Wir müssen aber auch die Energieeffizienz in den Griff bekommen. Die Wege sind allerdings unterschiedlich: Sie wollen die Mieterinnen und Mieter belasten; wir wollen sie in diesem Rahmen schützen. ({2}) Die Miete muss bezahlbar bleiben; das Wohnen muss bezahlbar bleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, vor kurzem hat der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen veröffentlicht, dass eine energetische Standardsanierung 3,50 Euro pro Quadratmeter kostet. Einzusparen sind 38 Cent. Die Frage an Sie ist: Wie wollen Sie diese Schere schließen? Die Einkommensentwicklung in Deutschland ist gerade schon beschrieben worden. Es gibt in Wachstumsregionen Menschen, die 50 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen und 15 Prozent für die Mobilität ausgeben müssen. Wovon sollen diese Menschen dann noch leben? Sie haben darauf keine Antwort. Ganz im Gegenteil: Sie sagen, wir müssten die Mieter noch mehr belasten. Sie spielen auf dem falschen Spielfeld. Sie wollen die Mietrechtsreform nutzen, um die soziale Funktion des Mietrechts auszuhöhlen. Das sieht man an dem Titel Ihres Gesetzentwurfs, in dem es sowohl „energetische Modernisierung“ als auch „vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“ heißt. Sie haben gerade nach den Antworten der SPD gefragt. Ich kann Ihnen welche geben. Sie müssen energetische Sanierung als Bestandteil der Stadtentwicklung begreifen und sich davon lösen, dass es nur um einzelne Gebäude geht. Sie müssen verstehen, dass wir viele Fragen beantworten müssen. Unsere demografische Entwicklung stellt die Menschen, aber auch die Städte vor große Probleme. Uns stellt sich die Frage des guten, bezahlbaren Wohnens in den Städten. Die energetische Sanierung kann ein Bestandteil dieser Stadtentwicklung sein. Da man den Euro nur einmal ausgeben kann, müssen wir dafür sorgen, dass Quartierskonzepte entwickelt werden, durch die die Städte in die Lage versetzt werden, vernünftig zu steuern, zu entscheiden, welche energetischen Maßnahmen richtig sind und welche wir umsetzen müssen und umsetzen können. Neben der Gebäudesanierung spielen die Fragen eine Rolle: Wie gewinnen wir Energie? Wie versorgen wir die Wohnungen mit Energie? Wie speichern wir Energie? Die Antworten darauf müssen wir mit einem Gesamtkonzept geben. Wir Sozialdemokraten haben die Vorstellung, dass wir die Stadt als soziale Stadt wiederbeleben müssen. ({3}) Dazu gehören eben auch bezahlbare Energie, Energieeinsparungen und CO2-Reduktion. ({4}) Wir haben Angst, dass sich zahlreiche Menschen in bestimmten Stadtteilen demnächst keine energetisch sanierten Wohnungen mehr leisten können, mit der Konsequenz, dass sie vertrieben werden. Das ist dem ähnlich, was im Bereich „soziale Segregation“ festzustellen ist: Es kommt zu einer Wanderungsbewegung von Menschen, die aus ihren Stadtteilen vertrieben werden, weil das Wohnen dort zu teuer wird. Das müssen wir verhindern. 6 Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Sie können sich vorstellen, was die Umlage der voraussichtlichen Investitionssummen auf die Mieter bedeutet. In Deutschland gibt es zurzeit 1,5 Millionen gebundene Sozialwohnungen. Das ist ein wichtiges Thema, das Sie überhaupt nicht angehen. ({5}) Zur Frage der sozialen Wohnraumförderung: Sie sagen nicht, dass Sie die 518 Millionen Euro bis 2019 verlängern wollen, sondern Sie halten das Thema völlig offen. Wenn der Bund überhaupt noch eine Verantwortung in der Steuerung der Wohnungspolitik übernehmen will, dann müssen Sie dort handeln. ({6}) Abschließend noch ein Satz zur Mietminderung: Ihr Vorschlag ist ungefähr so, als würden Sie ein Auto kaufen und bekämen es ohne Windschutzscheibe und ohne Heizung. Dann würde Ihnen aber versprochen werden, in fünf Monaten bekämen Sie es eingebaut, weil man gerade noch in der Entwicklung und in der Produktion sei. 100 Prozent Leistung und 100 Prozent bezahlen, das ist unser Thema, und so muss es auch sein. Dies gilt auch für die Mietminderung. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, das Mietnomadentum wurde heute schon mehrfach dargestellt. Wir haben 24 Millionen Mieter. Nach Schätzungen des GdW gibt es vielleicht 15 000 Menschen, die bewusst, zielgerichtet betrügen wollen; andere sprechen von 1 000. Sie diskriminieren die 24 Millionen Mieter in diesem Land, wenn Sie sagen, in Sachen Mietnomadentum müssten wir handeln. Ich verstehe Sie da wirklich nicht. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner Norbert Geis. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Wagner hat vorhin bei ihrem Eingangsstatement zu ihrer Rede festgestellt, dass wir in Deutschland ein ausgewogenes Mietrecht und damit wohl auch das beste Mietrecht in ganz Europa haben. Ich kann Ihnen nur beipflichten. Es ist auch notwendig; denn das Mietrecht spielt eine ganz bedeutende Rolle in unserer Rechtsordnung überhaupt und hat eine wichtige Ordnungsfunktion in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben. Wir haben es schon oft genug gehört: Es gibt in unserem Lande 24 Millionen Mieter. Von 40 Millionen Wohnungen sind 24 Millionen Wohnungen vermietet. Also ist das ein ganz großer Anteil der Bevölkerung. Es ist immer schwierig, einen Interessenausgleich zwischen dem Vermieter und dem Mieter zu finden, weil die Interessen in bestimmten Situationen ganz weit auseinandergehen können. Hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden, das ist ebenfalls nicht einfach. Ich bin aber der Meinung, dass dieser Gesetzentwurf einen guten Mittelweg darstellt. Natürlich kann man da und dort noch eine Änderung herbeiführen; aber alles in allem gesehen werden wir an diesem Gesetzentwurf in seinen Grundlinien in jedem Fall festhalten, weil wir der Meinung sind, dass er ganz sicher besser nicht gestaltet werden kann, jedenfalls in seinen Grundlinien nicht. ({0}) Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Ich sagte schon, von den 40 Millionen Wohnungen seien 24 Millionen Mietwohnungen. Diese 24 Millionen Mietwohnungen werden nicht in erster Linie von den großen Wohnungsbaufirmen gestellt, auch nicht vom sozialen Mietwohnungsbau, sondern von den kleinen Anbietern. Die kleinen Anbieter wollen mit einem ganz großen Eifer, mit einem starken Willen zur Selbstbeschränkung Eigentum durch ein Haus erwerben, das sie bauen; da ist Urlaub nicht angesagt. In diesem Haus haben sie dann zwei oder drei Mietwohnungen. Diese Vermieter stellen nicht nur einfach das Geld zur Verfügung - sie müssen auch zur Bank; denn sie werden das alles nicht so aus eigener Tasche finanzieren können -, sondern bringen auch in höchstem Maße Eigenleistungen. Auch viele Nachbarn werden helfen. Auf dem Dorf ist es üblich, dass man sich hilft und eine Wohnung mit der Hilfe vieler anderer baut. Das muss man bedenken. Diese kleinen Vermieter bilden den größten Teil der Vermieter, und all diese kleinen Vermieter haben ein größtes Interesse daran, dass das, was sie sich abgespart haben, was sie an Eigenleistung erbracht haben, in vernünftige Hände gerät und sie daraus auch einen Vorteil haben. Sie wollen einen Vorteil nicht nur für den Augenblick, sondern vor allen Dingen für ihre Altersversorgung haben. Das ist vernünftig, und dieses Wollen müssen wir auch unterstützen, ({1}) weil sie damit einen großen Beitrag leisten, um der Nachfrage nach Wohnungen gerecht werden zu können. Deswegen halte ich es schon für richtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie wir dieses Mietnomadentum bekämpfen. Das ist keine Bagatelle. Wer ein bisschen damit zu tun hat - als Anwalt hat man damit zu tun -, der weiß, wie schwierig die Situation ist. Der Vermieter bekommt keine Miete, während der andere in der Wohnung sitzt. Ich bin froh darüber, dass wir nicht so viele Mietnomaden haben. ({2}) - Nein, wir müssen es aber gesetzlich regeln. Bei 15 000 Mietnomaden - eine Zahl, die hier genannt worden ist - müssen wir eine gesetzliche Regelung finden. Wir können doch nicht einfach das Faustrecht gelten lassen. ({3}) Was will denn ein Vermieter machen, wenn der Mieter partout nicht bezahlen will? Der Vermieter hat zwar einen vollstreckbaren Titel, aber der Mieter geht zum Amtsgericht und bringt irgendeine Härte vor, die der Richter dann wahrscheinlich auch noch anerkennt. Dann sitzt er über ein halbes Jahr oder ein dreiviertel Jahr in der Wohnung, ohne einen Mietzins zu zahlen. Das können wir so nicht hinnehmen; damit verderben wir es uns mit den Kleinanbietern. Aber das wollen wir nicht, weil wir sie brauchen. ({4}) Wir alle zusammen wissen, dass die Energieeffizienz ein wichtiger Bestandteil unserer Energiewende ist. Ohne die Steigerung der Energieeffizienz werden wir die Energiewende, so wie wir sie vorhaben, nicht schaffen. Effizienzsteigerung heißt ja auch Einsparen, heißt, Maßnahmen zu treffen, damit man nicht so viel Energie verbrauchen muss. Das versuchen wir jetzt natürlich auch im Mietrecht umzusetzen. Wie wollen wir denn den Kleinanbieter dazu bringen, noch einmal Geld in die Hand zu nehmen, um jetzt auch noch diese Maßnahmen zur Effizienzsteigerung durchzuführen, ohne dass er die Ausgaben umlegen kann? Das macht doch kein vernünftiger Mensch mehr, vor allen Dingen dann nicht, wenn er kurz vor der Rente steht und eigentlich mit den Mieteinnahmen seine Rente aufbessern möchte. Also müssen wir doch dafür Sorge tragen, dass es für ihn interessant bleibt, diese Maßnahmen zur Effizienzsteigerung vorzunehmen und zu finanzieren. ({5}) Diese Möglichkeit wollen wir schaffen. Herr Fischer hat es vorhin schon erklärt: Wenn wir dem Mieter nun anbieten, dass während der Zeit, in der diese Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz durchgezogen werden, Mietminderungen möglich sind, der Vermieter also Minderungen hinnehmen muss, dann denkt der nicht im Traum daran, überhaupt eine solche Maßnahme durchzuführen. Ich sehe durchaus ein: Der Mieter muss insoweit zunächst einmal in Vorleistung treten. Er muss damit zurechtkommen, wenn im Haus im Zuge dieser Maßnahmen umgebaut wird. Das stellt zunächst einmal eine Belastung des Mieters dar. Das sehen wir. Aber wie sollen wir denn den Kleinanbieter dazu bringen, entsprechende Maßnahmen zur Effizienzsteigerung durchzuführen, wenn er dann auch noch eine Mietminderung hinnehmen muss? Wir werden ihn nicht dazu zwingen können. Deswegen müssen wir auch innerhalb des Mietrechts eine Möglichkeit des Ausgleichs schaffen. Das haben wir in diesem Entwurf so vorgesehen. Ich meine, es ist auch insoweit ein gelungener Entwurf. Lassen Sie mich noch ein Wort zum Contracting sagen. Das ist natürlich eine Sache, die immer mehr kommen wird. Im Moment haben wir in den großen Wohnanlagen die Heizungsanlagen noch irgendwo im Keller. Sie sind zum Teil sehr ineffizient. Es ist gut, dass es dieses Contracting in Zukunft geben wird, bei dem gewerbliche Wärmeanbieter in der Lage und bereit sind, die Wärme in die verschiedenen Wohnhäuser zu bringen, und zwar effektiver, als wenn die Wärme im eigenen Haus hergestellt wird. Deswegen meine ich, dass wir dies unterstützen sollten. Wir dürfen dies nicht bagatellisieren, sondern sollten Contracting insbesondere für Kleinanbieter interessant machen, damit diese bereit sind, das Geld hierfür in die Hand zu nehmen. Am Ende hat der Mieter insofern Vorteile davon, als die eigenen Aufwendungen geringer sein werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch kein Gesetz ist so aus dem Bundestag herausgekommen, wie es hineingekommen ist. Wir werden darüber beraten, dazu Anhörungen machen und gute Argumente anhören und sie umsetzen. Danke schön. ({6}) Dr. Norbert Lammert: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({7})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf die Dimensionen, insbesondere die Herausforderungen, die wir uns mit dem Energiekonzept vorgenommen haben, eingehen. Wir wollen in Deutschland bis zum Jahr 2050 den Primärenergiebedarf um 80 Prozent vermindern. Das Zwischenziel ist, dass wir bis 2020 20 Prozent gegenüber 2008 einsparen. ({0}) Über das Ziel sind wir uns einig. Alle in diesem Hause haben diesem zugestimmt. Ich arbeite noch einmal die Punkte ab, in denen wir uns einig und auch nicht einig sind. Das Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir alle Potenziale beim Energiesparen und bei der Energieeffizienz nutzen bzw. heben. Auch darüber sind wir uns einig. Hier spielt der Gebäudesektor - das ist vielfach angeklungen - eine zentrale Rolle. 40 Prozent des Endenergieverbrauches - und damit der größte Sektor in Deutschland entfallen auf die Gebäude. Wenn wir dort nicht ansetzen und nicht die richtigen Instrumente finden, dann wird das Energiekonzept - das weltweit ambitionierteste, das wir uns gemeinsam vorgenommen haben - so nicht umzusetzen sein. Beim Thema Neubau sind die Probleme mehr oder weniger gelöst. Es gibt heute Passivhäuser, Nullenergiehäuser, Plusenergiehäuser. Hier werden im Bereich moderne Haustechnik und Isolierung mit neuen Baustoffen nahezu alle Möglichkeiten genutzt. Man verbraucht hier nur noch wenig Energie. Das Problem ist, dass wir in Deutschland nur 200 000 Neubauten im Jahr verzeichnen. Zum Teil sind es sogar weniger. Das heißt, bei den bereits erwähnten 40 Millionen Wohnungen in Deutschland würden wir 200 Jahre benötigen, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Dies macht die Dimension der Herausforderung noch einmal deutlich. Wir müssen uns um den Gebäudebestand kümmern und dort die Potenziale nutzen. Hier gibt es vielfältige Möglichkeiten. Einige Zahlen möchte ich nennen. Die Haustechnik: 90 Prozent der Kessel in deutschen Kellern sind veraltet. Wenn nur diese Kessel durch neue mit hohen Wirkungsgraden ersetzt würden, dann könnten beispielsweise 55 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Von den Heizkesseln werden im Moment 180 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr emittiert. Es geht also um rund 30 Prozent. Auch vermeintlich kleine Dinge können einen Beitrag leisten. Ich nenne hier die Fenstereinheiten. Es gibt 580 Millionen Fenstereinheiten in Deutschland. Von diesen sind 30 Millionen einfachverglast. 250 Millionen sind technisch und energetisch veraltet. Hier könnten wir 27 Millionen Tonnen CO2 einsparen oder - in Heizöl ausgedrückt - 8,6 Milliarden Liter Heizöl pro Jahr. Auch hier sind wir uns einig. Wenn wir die Ziele erreichen wollen, dann müssen wir alle Instrumente nutzen. Zwang führt nicht zu den gewünschten Ergebnissen. In den Bereichen, in denen man mit Zwang und Verpflichtung gearbeitet hat, ist das Gegenteil erzielt worden. In der Großen Koalition forderte die SPD einen Zwang zur Nutzung erneuerbarer Energien bei energetischen Sanierungen. Dieses wurde auf Bundesebene nicht eingeführt, weil wir Technologievorgaben für Solarthermie machen wollten. In BadenWürttemberg wurde von der damaligen CDU-Regierung zusammen mit der FDP die Integrationspflicht für erneuerbare Energien bei der energetischen Sanierung, technologieoffen, eingeführt. Hierfür gab es noch zusätzliche Förderungen. Trotzdem zeigt die erste Bilanz nach zwei Jahren, ob es einem gefällt oder nicht, dass die Menschen in die energetische Sanierung weniger investieren, also Investitionsattentismus betreiben. Das heißt also, Zwang führt nicht zum Erfolg. Deshalb muss mit Anreizen gearbeitet werden. Es gibt das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, was erfolgreich ist, aber nicht ausreichend. Dies betrifft vor allem selbstgenutztes Eigentum. Die Marktanreizprogramme, die damit verbunden sind, haben wir ebenfalls. Dann gibt es die steuerliche Absetzbarkeit. Es ist ein Skandal, dass dies seit über einem Jahr von den Ländern im Bundesrat blockiert wird. Dadurch kommt die energetische Sanierung nicht so voran, wie es notwendig ist. Der beste Mieterschutz ist, wenn wir Instrumente finden - das ist angeklungen -, um den Mieter von den Energiepreissteigerungen abzukoppeln. Der Mieter muss die Energiepreise selber zahlen, und zwar über die Nebenkosten. Es ist das bekannte Dilemma: Der Vermieter hat kein Interesse daran, zu investieren, wenn er nichts davon hat, außer vielleicht einer Wertsteigerung. Er wird aber natürlich nicht investieren, wenn er damit rechnen muss, dass auch noch eine Mietkürzung auf ihn zukommt. Deshalb muss es einen Ausgleich geben, sodass beide Seiten etwas davon haben. Der Mieter muss mittel- und langfristig durch Energieeinsparungen bei den Nebenkosten etwas davon haben, sodass er sich dort abkoppeln kann. Dann werden die Mieter auch nicht aus der Innenstadt vertrieben. Der Kollege Pronold hat es angesprochen: Wenn in den Großstädten, in den Altstädten, in den Zentren keine energetisch sanierten Wohnungen und Gebäude vorhanden sind, dann wird nämlich genau das die Folge sein, weil die Nebenkosten in astronomische Höhen steigen. Das werden sich die Mieter nicht mehr leisten können, und dann werden sie vertrieben. So wird ein Schuh daraus. ({1}) Wir versuchen jetzt, dieses Dilemma aufzulösen. Auf der einen Seite muss die Investition getätigt werden, auf der anderen Seite müssen sowohl der Mieter als auch der Vermieter etwas davon haben. Ein entscheidender Punkt ist - das ist bereits angeklungen -, dass im Bereich des Contracting im weiteren parlamentarischen Verfahren nachgebessert werden muss. Hier kann ich nur den Gedanken des Kollegen Geis unterstützen: Kein Gesetz hat den Bundestag so verlassen, wie es hineingekommen ist. Beim Contracting übernimmt der gewerbliche Energiedienstleister im Auftrag des Vermieters beispielsweise Wärmelieferungen und Investitionen in die Technik. Hier muss die Neutralität im Hinblick auf den Zeitraum gewährleistet sein.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Investition, mit der eine Energieersparnis von 30 oder 40 Prozent erreicht werden soll, kann natürlich nicht im Laufe eines Jahres erwirtschaftet werden. Hier muss man sich Überlegungen im Hinblick auf eine intelligente Ausgestaltung machen, sodass sowohl der Mieter etwas davon hat als auch derjenige, der für das Contracting zuständig ist. Insofern freue ich mich auf gute Beratungen in den Ausschüssen, auf dass wir den bisher schon guten Gesetzentwurf noch besser machen und die Ziele, die wir uns vorgenommen haben, gemeinsam erreichen und nicht bei der Umsetzung auf der Strecke bleiben. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/10485, 17/10776 und 17/10120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich hoffe, dass dies jedenfalls nicht streitig ist. - Das ist offenkundig so. Dann sind die Überweisungen damit so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 sowie den Tagesordnungspunkt 4 b auf: ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe - Drucksache 17/10770 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss 4 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Reichtum umFAIRteilen - in Deutschland und Europa - Drucksache 17/10778 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer über Armut spricht, darf über Reichtum nicht schweigen. Deutschland ist ein reiches Land, aber Deutschland hat enorme Schulden. Reden wir also über privaten Reichtum und öffentliche Armut. In den letzten vier Jahren ist die gesamtstaatliche Verschuldung Deutschlands von 1,6 Billionen Euro auf über 2 Billionen Euro gestiegen. Das sind 81,2 Prozent des Bruttosozialprodukts, also schlechter als in Spanien. Wir verwenden heute 11 Prozent unseres Haushaltes für die Begleichung von Zinsen. Man kann es auch anders sagen: 32,8 Milliarden Euro - der zweitgrößte Haushaltstitel - fließen cash an Vermögende, und das in Zeiten historisch niedriger Zinssätze. Im gleichen Zeitraum, über den wir hier sprechen, ist der private Wohlstand in Deutschland um 1 400 Milliarden Euro, also 1,4 Billionen Euro gestiegen. Nach den Zahlen des neuen Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung beträgt das Privatvermögen heute 10 Billionen Euro, und weit mehr als die Hälfte davon gehören lediglich 10 Prozent dieser Gesellschaft. Ziehen wir also eine Bilanz der Kanzlerschaft von Frau Merkel: 500 Milliarden Euro neue Schulden für den Staat, 1 400 Milliarden Euro neuer Reichtum für die Vermögenden. Das ist die Bilanz der selbsternannten „schwäbischen Hausfrau“. Man könnte auch sagen: Das ist die Bilanz einer unverschämten schwarz-gelben Klientelpolitik. ({0}) Sie vertreten nicht das bürgerliche Lager; die politische Rechte in diesem Lande vertritt ausschließlich das besitzbürgerliche Lager. Sie werden einwenden, das habe etwas mit der Finanzkrise zu tun. Richtig. ({1}) - Sie überschätzen mich, Herr Kollege. - Sie organisierten einen Bail-out von Bankschulden, um eine Wirtschaftskrise abzuwenden. Das war übrigens notwendig. Dabei wurden aber die privaten Vermögen der Gläubiger der Banken massenhaft mit gerettet. Die Folge davon waren überall in Europa explodierende Staatsschulden. Die große Mehrheit dieses Hauses hat sich gemeinsam dazu bekannt, dass man der Neuverschuldung einen Riegel vorschieben muss. Deswegen haben wir den Fiskalpakt auf den Weg gebracht. Wir müssen aber feststellen: Neuverschuldung bedeutet nichtsdestotrotz mehr Schulden; der Prozess wird nicht gestoppt. Was müssen wir tun? Wir müssen Schulden abbauen, um die Souveränität der Demokratie wiederherzustellen. ({2}) Wir müssen Schulden abbauen, damit wir diese Lasten nicht unseren Kindern und Enkeln aufhalsen. Das heißt, es geht überhaupt nicht um die Frage, ob Schulden abgebaut werden, sondern darum, wer dafür bezahlt. Das ist die Frage, um die wir streiten. Nach Ihren Vorstellungen soll all dies über Einsparungen bei öffentlichen Leistungen erreicht werden, über Kürzungen bei Sozialleistungen, bei Personal usw. Man kann es auch anders ausdrücken: Sie wollen die Schulden durch eine Vergrößerung der öffentlichen Armut abbauen. Sie retten die Privatvermögen über staatliche Rettungspakete und lassen die Mehrheit der Bevölkerung dafür bezahlen. Sie unternehmen nichts, um die Kosten der Krise fair zu verteilen. Aus diesem Grunde legt meine Fraktion heute eine Alternative vor: die Einführung einer zweckgebundenen Vermögensabgabe zum Schuldenabbau. ({3}) Wir ziehen das Vermögen der deutschen Millionäre heran, um die Schulden abzutragen, die durch die Kosten der Bankenkrise entstanden sind. Diese Abgabe betrifft 1 Prozent der Bevölkerung. Es gibt einen Freibetrag von 1 Million Euro, 250 000 Euro für Kinder, einen Freibetrag für Betriebsvermögen von 5 Millionen Euro. ({4}) Wenn wir diese Abgabe zum Lastenausgleich zehn Jahre lang erheben, dann kommen bei einem Abgabesatz von jährlich 1,5 Prozent über 100 Milliarden Euro zusammen. Damit können wir die Schulden unter anderem des Soffin gut bewältigen. ({5}) Manche glauben, man würde plötzlich dem Sozialismus anheimfallen, wenn Millionäre pro Million pro Jahr 15 000 Euro in den Schuldenabbau investieren müssten. Ich glaube, diese Argumentation ist absurd. ({6}) Ob man es nun durch Leistung, durch Erbschaft oder durch einen Rentiersgewinn erreicht hat: Es steht doch fest - das belegt Ihr Armuts- und Reichtumsbericht -, dass sich das Leben in Deutschland zumindest für die oberen 10 Prozent der Bevölkerung lohnt. Wir wollen nur eine Minderheit davon, nämlich jene 1 Prozent der Bevölkerung heranziehen, die allein über ein Vermögen von 2,5 Billionen Euro verfügen. Meine Damen und Herren, auch Reiche wissen, dass Wohlstand etwas mit funktionierender staatlicher Infrastruktur zu tun hat. Es gibt einen oft zitierten Satz: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten.“ Ich will ausdrücklich sagen: Dieser Satz ist falsch. Seit 2008 wissen wir: Auch Reiche können sich einen armen Staat nicht leisten. ({7}) Auch Reiche brauchen einen handlungsfähigen Staat. Dafür müssen wir Staatsschulden abbauen, und dazu müssen die Vermögenden in unserem Lande einen fairen Anteil aufbringen; ({8}) dem dient die grüne Vermögensabgabe. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält das Wort nun der Kollege Christian von Stetten. ({0})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Progression in unserem Einkommensteuergesetz erreichen wir genau das, was wir wollen, nämlich dass starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Bürger mit geringen Einkommen und Personen mit besonderen Lasten, die überhaupt keine Einkommensteuer zahlen - sie sind von dieser Steuerart befreit -, auf der anderen Seite gibt es die Spitzenverdiener - also die kleine Gruppe der 10 Prozent an der Gesamtbevölkerung -, die über 50 Prozent der gesamten Einkommensteuerlast tragen. Das muss hier erwähnt werden; denn es muss ihnen zugutegehalten werden. Unser Steuersystem ist so angelegt: Wenn jemand erfolgreich ist und ein hohes Einkommen hat, dann leistet er einen höheren finanziellen Beitrag an den Staat. Herr Trittin, was Sie heute für die Grünen zum Thema Vermögensabgabe in den Bundestag eingebracht haben, hat nichts mit leistungsabhängiger und gewinnabhängiger Besteuerung zu tun. Sie wollen eine staatliche Umverteilung, das wird mittlerweile auch deutlich ausgesprochen. ({0}) - Sie können das von Ihnen bejubelte Wort „staatliche Umverteilung“ auch als „staatliche Teilenteignung“ beschreiben, ({1}) dann ist der Jubel vielleicht gar nicht mehr so groß. ({2}) Sie haben ausgeführt, dass Sie zunächst einen Freibetrag festlegen wollen. In den nächsten zehn Jahren wollen Sie dann eine Teilenteignung in Höhe von insgesamt 15 Prozent des abgabepflichtigen Vermögens durchsetzen. Dabei machen Sie überhaupt keinen Unterschied, ob der betroffene Bürger in dem betreffenden Jahr etwas verdient hat oder nicht. ({3}) Er wird seinen Beitrag auch leisten müssen, wenn er in jenem Jahr Verluste gemacht hat. Das ist eine Substanzsteuer, die wir als CDU/CSU-Fraktion für unverantwortlich halten. ({4}) - Ja, Sie sind da schon einen Schritt weiter. Die SPD diskutiert derzeit noch. Vielleicht wird Herr Gabriel heute anschließend seinen Enteignungszinssatz bekanntgeben. Die Linksfraktion ist hier schon etwas weiter. Ihr vorliegender Antrag ist zwar etwas weiter gefasst, aber ich stelle wieder einmal fest: Wir beschäftigen uns in schöner Regelmäßigkeit mit Ihrem Lieblingsthema, der Vermögensteuer. ({5}) Zum wiederholten Male fordern Sie einen Zinssatz von 5 Prozent jährlich auf den Verkehrswert. ({6}) Sie wissen: Bei 5 Prozent auf den Verkehrswert ist nach 20 Jahren - ({7}) - Herr Gysi, nach 20 Jahren ist es weg, und auch das Haus ist weg: Im ersten Jahr ist es die Diele, im zweiten Jahr das Bad, im dritten Jahr das Wohnzimmer, und nach 20 Jahren haben Sie aus einem stolzen Hausbesitzer wieder einen Mieter gemacht. ({8}) Alle drei Oppositionsparteien betonen bei diesem Thema immer wieder, dass sie nur die Vermögenden, also die Millionäre treffen wollen. In diesem Zusammenhang nennen Sie auch immer die Banken und die Euro-Krise. Sie mobilisieren gemeinsam gegen „die da oben“, gegen die Vermögenden, und erklären, dass Ihre Vorschläge letzten Endes nur 1 Prozent der Bevölkerung treffen. Aber es stellt sich die Frage: Mindert das den schädlichen Effekt der Abgabe? Ist es gut und gerecht, weil es nur wenige trifft? ({9}) Uns ist völlig klar: Sie spekulieren auf die Wählerstimmen der übrigen 99 Prozent der Bevölkerung. Ihre Politik ist volkswirtschaftlich gesehen schädlich und auch sehr gefährlich. ({10}) Mich bedrückt besonders, dass Sie - obwohl Herr Trittin ausgeführt hat, dass er hiermit die Bankenkrise bewältigen will - überhaupt nicht ausgeführt haben, wie hoch das Aufkommen sein wird. ({11}) In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass „ein großes Aufkommen realisierbar ist“. Mit solchen Initiativen leisten Sie keine große Hilfe zur Bewältigung der jetzigen Finanzkrise. ({12}) Wenn Sie in der Debatte zum Thema Mietrecht zugehört hätten, dann wäre Ihnen jetzt klar, was Sie da beschließen wollen. Sie treffen doch in der Summe nur die Bürger mit kleinen Einkommen und die Mieter. ({13}) Das gilt sowohl für den Vorschlag, 1,5 Prozent pro Jahr zu erheben, als auch für den Vorschlag, 5 Prozent zu erheben. ({14}) - Herr Kollege, nehmen Sie beispielsweise den Besitzer eines großen Mietshauses. Gehen wir davon aus, dass mit den Wohnungen eine Verzinsung von 3,5 Prozent erwirtschaftet wird. Wenn der Hausbesitzer, wie die Linkspartei es vorschlägt, pro Jahr 5 Prozent auf den Verkehrswert zahlen muss - wir können auch von den vorgeschlagenen 1,5 Prozent ausgehen -, dann wird er dieses Haus verkaufen wollen. Er wird jedoch keinen Käufer finden, weil das Haus kein Renditeobjekt mehr ist. ({15}) Was wird er machen? Er wird diese hohen Abgaben selbstverständlich auf den Mieter umlegen. Ein Vermögensteuersatz von 5 Prozent würde demnach eine glatte Verdoppelung der Miete bedeuten. 1,5 Prozent würden eine Mieterhöhung um 25 Prozent bedeuten. Diese mieterfeindliche Politik werden wir von CDU und CSU nicht mitmachen. ({16}) Zum Abschluss darf ich noch daran erinnern, dass wir die gleiche Neiddiskussion vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Reform der Erbschaftsteuer geführt haben. Damals haben Sie die gleichen Argumente vorgebracht. Gott sei Dank haben wir ein vernünftiges Erbschaftsteuergesetz mit vernünftigen Freibeträgen und guten Übergangsmöglichkeiten für die Unternehmenserben durchgesetzt. Wir haben die Abwanderung der Vermögen und der Unternehmen ins Ausland gestoppt. Was mich besonders freut, ist, dass Unternehmen mit zahlreichen Arbeitsplätzen nach Deutschland zurückgekehrt sind. Ich empfehle Ihnen, einmal mit Gewerkschaftsmitgliedern darüber zu diskutieren. Sprechen Sie einmal mit den Kollegen. Dann werden sie feststellen, dass sie froh sind, dass wir ein Erbschaftsteuerrecht auf den Weg gebracht haben, das es ermöglicht, dass die Familienunternehmen in Deutschland bleiben. Die Menschen arbeiten nämlich lieber in Familienunternehmen. Auch Gewerkschaftsmitglieder möchten wissen, wo ihr Chef wohnt, und schätzen den familiären Anschluss, den auch große Familienunternehmen bieten. Sie schätzen Unternehmen, in denen verantwortungsvoll gearbeitet wird. Sie wollen keine anonymen Chefs, die irgendwo in Chicago oder sonst wo sitzen; denn das ist problematisch, wenn sie konsultiert werden müssen, zum Beispiel, weil ein Unternehmen verkauft werden soll. ({17}) Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Das, was Sie heute vorgelegt haben, ist weit entfernt von einer vernünftigen Regelung. Deswegen sehe ich auch keine Chance für eine Umsetzung durch den Deutschen Bundestag. Herzlichen Dank. ({18})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege von Stetten. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Sigmar Gabriel. Bitte schön, Kollege Sigmar Gabriel. ({0})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege von Stetten, wenn Sie sagen, dass die Progression in der Einkommensteuer ausreicht, dann müssen Sie hinzufügen, dass die Einkommensteuer einen immer kleineren Anteil an der Lastenverteilung in Deutschland hat und die ganz normalen Menschen inzwischen einen Riesenanteil über andere Steuerarten bezahlen und die Spitzenverdiener relativ wenig zur Lastenverteilung beitragen müssen. ({0}) Sie haben sich eben versprochen. Sie haben gesagt, Sie seien von dem Thema betroffen. Ich glaube, da ist etwas dran. ({1}) Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Absicherung der Arbeitnehmer zu einer Disparität, die der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht. Gehört das Unternehmen irgendwelchen Erben, die im sonnigen Süden leben, so erhöht sich auch deren Vermögen täglich, ohne dass diese einen Handschlag tun, wenn das Unternehmen von fähigen Angestellten gut geleitet wird. Auch das unternehmerische Risiko ist in der Praxis geringer als das Risiko eines Arbeitnehmers. Der Unternehmer haftet bei Kapitalgesellschaften nur mit seiner Einlage, der Arbeitnehmer aber häufig mit seiner ganzen Existenz, vor allem wenn er älter ist. Der Staat könnte eine gemeinwirtschaftliche Entwicklung fördern, ohne einen einzigen Enteignungsakt zu vollziehen. Entscheidender Hebel ist das Steuerrecht. Ich wundere mich, warum die FDP dabei nicht applaudiert. Das stammt nämlich von Ihrem FDP-Generalsekretär, natürlich nicht von Ihrem jetzigen; der käme auf eine solche Idee nicht. Es gibt ein Buch, das Sie angesichts Ihrer derzeitigen Verfassung einmal lesen sollten. Der ehemalige Generalsekretär der FDP, KarlHermann Flach, hat das in seinem Buch mit der Überschrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ geschrieben. Wenn Sie das machen würden, hätten Sie eine. ({2}) Es gab Zeiten, in denen in Deutschland über Parteigrenzen hinaus klar war - bei der CDU/CSU, bei der FDP, bei uns -, dass die wachsende Disparität von Einkommen und die ungleiche Verteilung der Lasten gefährlich ist für die Demokratie. Klar ist übrigens auch, dass es nicht um technische Details einer vernünftigen Vermögensteuer oder -abgabe geht. Wir sind eher für eine Steuer, die Grünen sind eher für eine Abgabe. Die Grünen machen einen exzellenten Vorschlag, durch den sie dafür sorgen wollen, dass es nicht zur Substanzsteuer wird. ({3}) Das ist ein guter Vorschlag. ({4}) Insgesamt geht es darum, einmal darüber zu reden, wozu das eigentlich dient. Deswegen will ich mich ausdrücklich dafür bedanken, dass es zumindest ein Mitglied der Bundesregierung gibt, das den Mut hatte, dafür zu sorgen, dass wir heute eine Grundlage dafür haben, über eine Vermögensabgabe oder -steuer zu diskutieren. ({5}) Grundlage ist der Armuts- und Reichtumsbericht, den die Sozialministerin, Frau von der Leyen, vorgelegt hat. ({6}) - Na klar, das lese ich Ihnen gleich vor. Keine Sorge. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich den Bericht gelesen. Herr von Stetten, es geht doch nicht darum, eine ideologische Debatte über Sozialneid oder darüber, Reiche zu verfolgen, zu führen, sondern es geht um den Zusammenhalt und das Leben in Deutschland und um die Frage, wer eigentlich welche Lasten trägt. Im Bericht steht, dass inzwischen mitten in Deutschland 1,5 Millionen Menschen Schlange stehen, um sich an den Tafeln altes Brot abzuholen, um etwas zu essen zu haben. Im Bericht steht, dass es nicht nur um Altersarmut geht, sondern auch um 2,4 Millionen armutsgefährdete Kinder. In Deutschland geht es also nicht nur um Altersarmut, sondern auch um Jugendarmut, Familienarmut, die Armut der Alleinerziehenden und die Armut der Menschen, die fleißig arbeiten und trotzdem keinen anständigen Lohn erhalten. ({7}) Wir wollen in einer wohlhabenden Gesellschaft leben, aber wir wollen auch endlich, dass diejenigen, die diesen Wohlstand erarbeiten, fair und gerecht daran teilhaben und die Lasten wieder fairer verteilt werden. ({8}) - Ich kann ja verstehen, dass es Sie aufregt, dass es eine CDU-Politikerin ist, die das aufgeschrieben hat. Aber das ändert doch nichts daran, dass sie sich mit der Wirklichkeit beschäftigt. Sie können die Wirklichkeit nicht einfach ignorieren, auch dann nicht, wenn sie Ihnen nicht gefällt. Bei der ganzen Debatte geht es darum, Deutschland wieder in ein soziales Gleichgewicht zu bringen. Es geht nicht um Reichenverfolgung oder irgendwelche Ideologien, sondern es geht darum, dass wir etwas, das wir schon einmal hatten, wiederherstellen. ({9}) - Wenn hier jemand beim Thema Ideologie zurückhaltend sein sollte, dann nun wirklich Sie. ({10}) - Herr Kauder, ich weiß, das ärgert Sie, ({11}) aber ich trage nur vor, was Ihr eigenes Regierungsmitglied aufgeschrieben hat. ({12}) Der Armutsbericht deckt schonungslos auf: Jenseits einer kleinen Oberschicht mit rasant steigenden Einkommen und Vermögen hat die große Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der Steigerung des Wohlstands keinen Anteil. Das ist nicht nur sozial ungerecht, sondern es gefährdet auch die Grundlage, auf der Deutschland einmal stark und wirtschaftlich erfolgreich geworden ist. Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern ist nicht die Geschichte der sozialen Auseinanderentwicklung. Sie wussten, dass das Land und sie selber nur eine Chance haben, wenn man sich im Land gemeinsam entwickelt und nicht auseinander. Wir wollen darüber reden, wie wir das wiederherstellen. Wir haben das in Deutschland schon einmal geschafft. Darum geht es. ({13}) 50 Prozent der neuen Beschäftigungsverhältnisse sind befristet. 5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für 8 Euro die Stunde und weniger. 12 Millionen Menschen in Deutschland leben an oder unter der Armutsgrenze. Das Armutsrisiko liegt bei 15 Prozent. Das sind keine Erfindungen der SPD, der Grünen oder der Linkspartei, sondern das sind die Daten und Fakten aus dem Bericht Ihrer eigenen Regierung. ({14}) - Er sagt: Nein! Nein! Nein! Das sei nur Frau von der Leyen. Ich finde, das ist eine spannende Debatte. Erst kommt Herr Rösler, Ihr Vizekanzler, und sagt: Der ganze Bericht ist Unsinn, wir werden ihn jetzt einmal ressortabstimmen und dann verändern. Frau Merkel sagte - ich zitiere -: … jetzt wird dieser Bericht … abgestimmt in der Bundesregierung. Da ist noch nicht mal die erste Runde gelaufen. Und dann werden wir das im November im Kabinett beraten. Und ich bin ganz optimistisch, dass wir dann auch einen gemeinsamen Standpunkt finden. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Wirklichkeit lässt sich nicht ressortabstimmen, und sie lässt sich auch nicht fälschen. ({15}) Es geht auch nicht darum, dass CDU, CSU und FDP zu einem gemeinsamen Standpunkt kommen, sondern es geht darum, dass Sie einmal merken, was in Deutschland los ist, und dass wir gemeinsam hier im Haus versuchen müssen, das zu verändern. ({16}) Über Steuerpolitik allein schafft man noch keine bessere Gesellschaft, aber sie soll die Instrumente schaffen, die es ermöglichen, dass die Lasten fair verteilt werden. Auch da zeigt der Armuts- und Reichtumsbericht ein Bild der Wirklichkeit: Die vermögensstärksten 10 Prozent vereinigen mehr als die Hälfte des Nettovermögens auf sich, die unteren 50 Prozent gerade einmal 1 Prozent. So geht das weiter. Das DIW - es ist ja nicht gerade eine linkssozialistische Einrichtung ({17}) hat unlängst dargestellt, dass genau deswegen die Mittelschicht schrumpft und zwischen den Polen zerrieben wird. Das ist doch nicht ideologisch. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich haben Sozialdemokraten und Grüne in ihrer Regierungspolitik beim Thema Steuerentwicklung auch Fehler gemacht; das ist doch gar keine Frage. ({18}) Frau Kramp-Karrenbauer - sie ist übrigens eine CDUMinisterpräsidentin - hat recht, wenn sie sagt, ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent, wie ihn Gerhard Schröder eingeführt hat, sei zu niedrig. Die Frage ist nur, warum Sie diese Fehler fortsetzen wollen. Ein Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer in Höhe von 53 Prozent ab einem Einkommen von 50 000 Euro gehörte übrigens einmal zu Ihrer eigenen Steuerpolitik. Das fordern in der SPD nicht einmal mehr die Jusos, meine Damen und Herren. ({19}) Von daher: Ich glaube, es geht wirklich darum, zu merken, dass sich die Wirklichkeit verändert hat und dass wir die Lastenverteilung in Deutschland nicht mehr so unfair belassen dürfen. Ihre Ministerin ist so mutig, im Reichtums- und Armutsbericht zu schreiben, wie man das machen muss. Ich zitiere: Die Bundesregierung prüft, ob und wie über - Herr von Stetten, hören Sie genau zu die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann. Zitat Ende. Unterschrift: Frau von der Leyen. ({20}) Genau darum geht es. ({21}) Wir dürfen nicht nur über den Anteil der Einkommensteuer reden, sondern wir müssen auch über den Beitrag von hohen Vermögen, Erbschaften und Kapital sprechen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde schon den Begriff „Reichensteuer“ schlecht. ({22}) Hier geht es auch nicht um Sozialneid. ({23}) Wenn Leute wohlhabend und reich geworden sind, steckt dahinter bei den allermeisten unglaublich viel persönliche Leistung und ganz viel Anstrengung. Aber niemand wird alleine reich. Immer gehören Arbeitnehmer dazu. Ein Land muss sozial sicher sein, über Infrastruktur verfügen, gute Bildungschancen bieten, und es muss sozialer Friede herrschen. Das alles und persönliche Leistung führen zu Wohlstand und Reichtum. Wenn das Land, das mitgeholfen hat, einige Menschen sehr reich und wohlhabend werden zu lassen, Schulden abbauen und trotzdem in Bildung investieren muss, aber auch seine Städte und Gemeinden nicht verkommen lassen darf, dann ist es doch die Aufgabe derjenigen, die auch mithilfe dieses Landes wohlhabend geworden sind, etwas mehr mitzuhelfen als die, denen es nicht so gut geht. Das hat nichts mit Sozialneid zu tun. Das ist Patriotismus für unser Land, den wir einfordern - nichts anderes, meine Damen und Herren. ({24}) Ich verstehe nicht, warum Sie es sich beim Thema Vermögensteuer so schwer machen. Das ist doch keine Erfindung von Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht. Sie ist die erste Steuer, die in der Verfassung der Bundesrepublik benannt wird. Sie ist übrigens eine reine Ländersteuer; schließlich brauchen die Länder das Geld, um Ganztagsschulen zu bauen. Darum geht es bei der Vermögensteuer. ({25}) Die CDU feiert ja gerade gerne Jubiläen. Es ist übrigens nicht nur Helmut Kohl, der ein Jubiläum hat. Ich habe einmal nachgeschaut, wann das erste Mal in Deutschland eine Vermögensteuer erhoben wurde und wer es gemacht hat. Das war vor exakt 60 Jahren. Im Jahre 1952 haben der damalige Bundespräsident Heuss, FDP, Herr Bundeskanzler Adenauer, CDU - auf ihn berufen Sie sich doch gerne -, und der Bundesfinanzminister Schäffer, CSU, das Gesetz über die VermögensteuerVeranlagung unterschrieben, und sofort danach ist es in Deutschland erstmalig in Kraft getreten. Es gab also Zeiten, in denen CDU, CSU und FDP nicht so ideologisch dahergequatscht haben wie ihr letzter Redner, sondern in denen sie wussten, was Verantwortung für dieses Land bedeutet. Ich hoffe, dass das bei Ihnen wieder ein bisschen zunimmt. ({26}) Weil die FDP und insbesondere Herr Brüderle so gerne Ludwig Erhard, den Begründer der sozialen Marktwirtschaft, zitieren - obwohl er ja der CDU angehörte -, sage ich Ihnen Folgendes: Er hat am Gesetz über die Vermögensteuer-Veranlagung mitgewirkt. Ich frage mich, was er wohl heute sagen würde, wenn er erleben müsste, wie Sie soziale Marktwirtschaft definieren, und wenn er feststellen müsste, dass Sie nicht einmal bereit und in der Lage sind, den entfesselten Finanzmärkten Fesseln anzulegen, damit die soziale Marktwirtschaft nicht immer mehr zerstört wird. Sie haben nichts mit dem Erbe Ihrer Parteien gemein. ({27}) Meine Damen und Herren, wir wissen, dass es in unserem Land eine Schieflage gibt. Wir wollen Schulden abbauen, in Bildung investieren, unsere Städte und Gemeinden und unsere Heimat nicht verkommen lassen, Investitionen in Forschung, Entwicklung und Wachstum tätigen und die enormen Herausforderungen des demografischen Wandels bewältigen. Das alles versprechen alle Parteien fast jeden Tag unseren Bürgerinnen und Bürgern. In der Summe dieser Versprechungen unterscheiden wir uns praktisch überhaupt nicht. Worauf es aber ankommt, ist, auch zu sagen, wie wir das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern ständig versprechen, eigentlich bezahlen wollen. Die Leute haben doch die Nase voll davon, dass wir ihnen immer sagen: Keine Sorge, wir senken Schulden, wir senken Steuern, und wir geben mehr für Bildung und alles mögliche andere aus. Die Quadratur des Kreises glaubt uns doch kein Mensch mehr. ({28}) - Wenn Sie den Mut haben, zu sagen, was Sie davon alles nicht machen wollen, dann kommen wir in der Debatte ins Geschäft. Es wäre spannend, zu hören, was Sie nicht tun wollen. Wir sagen Ihnen: Wir wissen, wie wir eine faire Finanzierung all dieser Aufgaben hinbekommen wollen, nämlich durch den Abbau überflüssiger Steuersubventionen - damit haben wir übrigens einmal gemeinsam angefangen; warum setzen wir das eigentlich nicht gemeinsam fort? -, durch die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Einkommen von 100 000 Euro pro Person und auch durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die den Ländern bis zu 10 Milliarden Euro mehr für Ganztagsschulen, für Kindergärten und für Hochschulen verschaffen würde. ({29}) - Bei der Vermögensteuer geht es um 1 Prozent, genauso, wie wir das in der Vergangenheit debattiert haben, aber eben in der Art und Weise, dass die Betriebsvermögen herausgenommen werden. ({30}) - Sie haben doch noch nicht einmal den Gesetzentwurf der Grünen gelesen; denn sonst wüssten Sie die Antwort darauf: Die Abgabe darf nicht mehr als 35 Prozent des Jahresertrages des Betriebs betragen. Das ist doch deren vernünftiger Vorschlag - verbunden mit riesigen Freibeträgen! ({31}) Wir sollten uns einmal darauf verständigen, über die Details zu reden. Ich habe gar kein Problem damit, zu sagen, dass ich manchen von Ihnen bestimmt recht geben würde. Sie wollen aber die soziale Spaltung des Landes weiter vergrößern. Sie ignorieren die Wirklichkeit, wollen den Bericht darüber fälschen und der Öffentlichkeit sagen, man müsste hier nichts tun. ({32}) Das ist doch das, was Sie hier machen! ({33}) Ich sage Ihnen: Wir sagen, wie wir das bezahlen wollen. Sie haben keine Antwort darauf, sondern wollen die Wirklichkeit ignorieren. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({34})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Gabriel. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege Dr. Volker Wissing für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Dr. Volker Wissing. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich danke Ihnen. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Gabriel, ich finde es bedauerlich, dass Sie hier ein solches Zerrbild von unserer Gesellschaft gezeichnet haben. ({0}) Jemand, der sich hinstellt und sagt, er könnte die Republik besser regieren, während er die Realität dabei aber völlig ausblendet, ({1}) kann nicht wirklich besonders ernst genommen werden, lieber Herr Gabriel. ({2}) Sie haben aber auch etwas Kluges gesagt. Sie haben nämlich gesagt, dass die Sozialdemokraten Fehler gemacht haben. Das ist in der Tat richtig. Sie haben gravierende Fehler gemacht, und Sie machen auch heute noch gravierende Fehler. Ich will Ihnen zunächst einmal die Fehler der Vergangenheit vorhalten: Bevor Sie zuletzt Regierungsverantwortung übernommen haben, haben Sie der Öffentlichkeit erklärt, dass Sie Reiche höher besteuern wollen. Durch die Einführung der Reichensteuer haben Sie von Vermögenden ein paar Hundert Millionen Euro mehr abkassiert. Aus der Mitte der Bevölkerung haben Sie aber 25 Milliarden Euro durch eine Mehrwertsteuererhöhung herausgezogen. Die Binnennachfrage und der kleine Mann wurden geschwächt, die Empfänger unterer Einkommen und die Mitte wurden höher belastet. Das war die Realität Ihrer Politik. Deswegen glaubt Ihnen in Deutschland niemand mehr, dass es Ihnen um das Geld der Reichen geht. Sie schielen längst wieder auf die Mitte, auf die Empfänger unterer und mittlerer Einkommen, weil man da Kasse machen kann. Darum geht es Ihnen. ({3}) Sie wollen Ihre überzogene Ausgabenpolitik auf Kosten der Mitte in Deutschland finanzieren. Das ist genau die falsche Politik, um aus dieser Krise herauszukommen, weil diese Politik wachstumsfeindlich ist. ({4}) Ich bin nicht der Einzige in Deutschland, der das so sieht. Sie tun ja so, als würden Sie mit Ihren Erklärungen zur Gerechtigkeit die geballte Linke in Deutschland hier vertreten. Herr Gabriel, der Spiegel hat sich in dieser Woche unter dem Titel „Jagd auf Reiche“ mit den Vorschlägen der SPD auseinandergesetzt. ({5}) Er kommt hinsichtlich der Vermögensteuer, wie die SPD sie vorschlägt, zu dem Ergebnis - ich zitiere: Vor allem … belastet sie - die Vermögensteuer der SPD gerade jene Bevölkerungsgruppe, deren Besitz weniger aus Yachten, Wertpapieren oder Gemälden besteht, sondern vor allem aus Maschinen und Fabriken. Selbstständige mit mindestens zehn Beschäftigten verfügen über das höchste Durchschnittsvermögen aller Bundesbürger. So schreibt der Spiegel. - Das ist genau die Bevölkerungsgruppe, die die meisten Arbeitsplätze in Deutschland schafft. Genau da wollen Sie als Arbeitnehmerpartei Hand anlegen. Das ist doch absurd. Was Sie vorschlagen, würde dazu führen, alles ein bisschen schlechter zu machen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schwächen, das Wachstum in unserem Land zu schwächen und den Bundeshaushalt zu destabilisieren. Deswegen ist das keine zukunftsgerichtete Politik. Damit können Sie in Deutschland nichts verbessern. ({6}) Es ist doch keinem geholfen, wenn es allen ein bisschen schlechter geht. Dann stellen Sie sich - deswegen haben Sie ein Zerrbild gezeichnet - vor die Öffentlichkeit und sagen, wir hätten ein Problem damit, dass es in Deutschland eine Gruppe von Menschen gibt, denen es gut geht. - Was ist denn das für ein Problem, dass es Menschen gut geht? Ist es nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man in Deutschland im Wohlstand leben kann? Das Problem sind nicht die Menschen, denen es gut geht. Das Problem sind Menschen, denen es noch nicht gut geht. Zu denen haben Sie, Herr Gabriel, in Ihrer Rede äußerst wenig gesagt. ({7}) Es ist niemandem geholfen, wenn man Arbeitgebern die Substanz wegbesteuert. Es ist niemandem geholfen, wenn Sie Investitionen in Deutschland verhindern. Geholfen ist den Menschen, wenn man unseren Standort als Investitionsstandort stärkt. Was die Grünen vorschlagen, 15 Prozent des Vermögens an den Staat abzuführen, ist nicht nur absurd, sondern das ist - das sollten Sie eigentlich wissen, Herr Trittin - verfassungswidrig. ({8}) - Nein, schauen Sie einmal: Ihr Gesetzentwurf ist deswegen verfassungswidrig, weil Sie der Öffentlichkeit etwas verschwiegen haben. Sie haben nämlich der Öffentlichkeit verschwiegen, dass der Staat in Deutschland Eigentum zu schützen hat. ({9}) - Wenn Sie zuhören, Frau Roth, werden Sie heute Morgen noch etwas lernen. ({10}) Es ist nämlich so, dass man in Deutschland, wenn man in das Eigentum von Bürgerinnen und Bürgern eingreift, die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs rechtfertigen muss, Herr Trittin. Wir leben immer noch in einem Rechtsstaat mit einem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Das gilt auch für die Grünen. ({11}) Wenn Sie in einer Zeit, in der der Staat Steuereinnahmen in Rekordhöhe hat, die Öffentlichkeit glauben machen, dass wir ein Finanzierungsproblem haben, dann ist das schlicht gelogen. Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit für den Eingriff in das Privateigentum der Bürgerinnen und Bürger. ({12}) Wir haben die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte. Der Staat schafft es, den Haushalt auszugleichen. Wir werden bald einen ausgeglichenen Haushalt haben. Ihnen geht es darum, Menschen in Deutschland zu enteignen, weil Sie eine Neidgesellschaft wollen. ({13}) Sie glauben, wenn es allen gleich schlecht geht, dann wäre das Gerechtigkeit. Wir sagen: Wir müssen den Schwachen helfen und sie stärken, aber wir dürfen nicht mit Neid auf die blicken, denen es schon gut geht. ({14}) Sie sind in der Rechtfertigungspflicht. Sie sagen, der Staat bräuchte das Privateigentum der Bürgerinnen und Bürger. Wir beweisen Ihnen das Gegenteil, indem wir den Bundeshaushalt schrittweise ausgleichen. Wir werden die Regeln der Schuldenbremse vorzeitig einhalten können. Sie sollten als Partei, die sich gerne als Bürgerrechtspartei geriert, Rechtsstaat und Verfassung ernst nehmen. Was sich die Menschen an zu versteuerndem Vermögen und Einkommen aufgebaut haben, gehört ihnen. Es gehört nicht den Grünen für neue Ausgabenprogramme. ({15}) Was machen Sie denn in den Ländern? In BadenWürttemberg machen Sie neue Schulden. In RheinlandPfalz bauen Sie mit der SPD Vergnügungsparks und Freizeitparks. Dabei haben Sie 500 Millionen Euro versenkt. Das ist sozialdemokratische und grüne Politik. ({16}) Sie verschwenden Steuergelder und reden dann den Menschen ein, man müsste ihnen jetzt das Privateigentum wegnehmen. Absurd ist das! ({17}) Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin privat investiert wird. Wir glauben nicht, dass Sie mit dem Geld besser umgehen können als private Investoren und private Unternehmerinnen und Unternehmer. Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen mit Ihren Ausgabenprogrammen und einem privaten Investor ist folgender: Sie übernehmen keine Verantwortung, keine Haftung für Ihre Politik. Die Privatleute haften mit ihrem Privateigentum und fügen jedem Euro, den sie privat investieren, Verantwortung und Haftung hinzu. Das schafft Arbeitsplätze. Das schafft Wachstum. Das ist die richtige Politik für die Bundesrepublik Deutschland. ({18}) Wir werden im nächsten Jahr mit einem soliden Bundeshaushalt dastehen. ({19}) Die Bundesrepublik Deutschland hat unter dieser Koalition die höchste Beschäftigung seit Jahrzehnten. Wir haben die höchsten Steuereinnahmen seit Jahrzehnten. Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir werden dafür sorgen, dass linke Kräfte in diesem Land Sie nicht kalt enteignen. Wenn Sie wirklich etwas für die Schließung einer Gerechtigkeitslücke tun wollten, dann könnten Sie dem Abbau der kalten Progression für untere und mittlere Einkommen zustimmen. Aber weil es Ihnen genau darum geht, bei den unteren und mittleren Einkommen abzukassieren, und weil Sie auf das Geld der kleinen Leute schielen, lehnen Sie das im Bundesrat ab. Sie sind entlarvt durch Ihre frühere Politik und Ihre arbeitnehmerfeindliche Politik im Bundesrat. ({20}) Unter Schwarz-Gelb findet in Deutschland Gerechtigkeit statt. Sie wollen ein ungerechtes Land schaffen. ({21})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Wissing. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön, Kollege Dr. Gregor Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wissing, so viel ideologischen Irrsinn und juristischen Blödsinn wie das, was Sie hier verzapft haben, habe ich selten gehört - wirklich. ({0}) Es haut mich richtig um. Ich werde versuchen, im Einzelnen darauf einzugehen. Es geht um eine Vermögensabgabe und eine Vermögensteuer, und Sie machen sich Sorgen um die Reichen. Das ist überhaupt nicht auszuhalten. Wie sieht denn die Situation in Europa aus? Sie sagen: Mit der Steuergerechtigkeit ist doch alles geklärt. Nehmen wir nur die EU: Die Unternehmensteuern sind um 9 Prozent gesunken und liegen jetzt bei 23,3 Prozent. Die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer sind EU-weit im Schnitt um 7,3 Prozent gesunken. Die Reichen- und Vermögensteuern liegen EU-weit bei 2,1 Prozent, übrigens in Großbritannien bei 4,2 Prozent, in Frankreich bei 3,4 Prozent und in Deutschland nur bei 0,9 Prozent. Das ist die Realität. Selbst in den USA liegen diese Steuern bei 3,3 Prozent. Nein, Sie haben die Finanzmärkte völlig dereguliert, und es ist eine gigantische Umverteilung von unten nach oben organisiert worden. ({1}) Das ist die Hauptursache für die Banken- und Finanzkrise und damit auch für die hohen Staatsschulden. Das ist die Wahrheit. ({2}) Nein, Sie retten keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber jede Bank und jeden Hedgefonds retten Sie, und dafür zahlen Sie das ganze Geld. Das ist unverantwortlich, was hier geschieht. Damit wahren Sie übrigens auch den Reichtum. ({3}) Interessant ist auch, wo das viele Geld hinwandert. Das wird nämlich nicht mehr in die Wirtschaft investiert, sondern es fließt überwiegend in sogenannte Kapitalvernichtungssammelstellen: in Banken, Vermögensfonds, Hedgefonds und Private Equity Fonds. Ich kann nicht zu allem Stellung nehmen, aber da fließt das Geld hin. Schauen wir uns einmal die Größenordnung an. Die Vermögenswerte von Privatanlegern liegen jetzt bei 100 Billionen Euro weltweit. Die Wirtschaftsleistungen aller Staaten betragen die Hälfte davon. Das ist die Situation, mit der wir es zu tun haben. Nichts wollen Sie daran ändern. Das illusorische Ziel, aus Geld Geld zu machen, nicht dafür zu arbeiten, sondern mit Spekulationen Geld zu machen, führt zu diesen Krisen. Nichts ändern Sie daran. Das ist das Problem. ({4}) Wir haben in Deutschland einen Armuts- und Reichtumsbericht. Herr Gabriel hat recht: Sie können doch nicht im Kompromisswege die Wahrheit verschieben. Das geht nicht. ({5}) - Lieber Herr Kauder, zu Ihnen komme ich noch. - Er sagt die Wahrheit, und deshalb ist es auch öffentlich geworden. Seit 20 Jahren erleben wir eine Verdoppelung des Nettovermögens aller Haushalte in Deutschland: von 5 Billionen auf 10 Billionen Euro. Nur, das Problem ist: 0,6 Prozent der Haushalte besitzen 20 Prozent davon, das heißt 2 Billionen Euro. Die 19-Jährige, die das erbt, kann nicht so fleißig gewesen sein, wie Sie es hier schildern, ohne dass da etwas passiert. ({6}) Jetzt nehme ich zur Zahl der Euro-Millionäre in Deutschland Stellung. Wir hatten vor der Krise 799 000, jetzt sind es 830 000. Auf Dollar bezogen haben wir 922 000 Dollar-Millionäre. Und da, meinen Sie, darf man nicht einen einzigen zusätzlichen Euro kassieren? Was ist das für eine alberne Ideologie, die Sie hier vertreten! ({7}) 10 Prozent der Bevölkerung besitzen 50 Prozent des Vermögens. Das sind 5 Billionen Euro. Die untere Hälfte der Bevölkerung, auch wieder 50 Prozent, hat nur 1 Prozent des Vermögens. Das ist die Realität in Deutschland. Übrigens hatte die untere Hälfte früher wenigstens 4,5 Prozent des Vermögens. Jetzt ist es nur noch 1 Prozent. ({8}) So sieht die Schere aus, die sich ständig weiter öffnet. ({9}) Die Reallohnsenkung lag bei 4,5 Prozent. Die unteren 10 Prozent, also die, die am wenigsten verdienen, hatten sogar einen Reallohnverlust von 9 Prozent. Darf ich Ihnen eine Wahrheit zum Niedriglohnsektor verraten? In den 80er-Jahren war Deutschland mit einem Anteil des Niedriglohnsektors von 14 Prozent Schlusslicht im internationalen Vergleich. Heute sind wir mit 25 Prozent zusammen mit den USA Spitzenreiter beim Anteil des Niedriglohnsektors. ({10}) Das ist ein Skandal, mit dem Sie sich einmal auseinandersetzen müssen. ({11}) Jetzt hat Frau von der Leyen ihren ganzen Mut zusammengenommen, und dann kommt in ihrem Bericht ein Satz vor, der besagt, dass man doch prüfen müsse, welche Rolle das Vermögen finanzpolitisch für die Finanzierung der Staatsaufgaben spielen kann. Da dreht die FDP durch. Davon wollen Sie keinen Euro haben. Mein Gott! Schon eine Prüfung wollen Sie nicht hinnehmen. ({12}) Das ist doch wohl das Mindeste, was man machen darf, wenn man regiert. Aber abgesehen davon - Sie haben es selbstkritisch gesagt, Herr Gabriel, und es stimmt -: Unter Rot-Grün hat eine Steuerreform stattgefunden, die natürlich ganz entscheidend zu dem Desaster beigetragen hat. ({13}) Die Unternehmensteuern sind von 51,6 Prozent auf 29,8 Prozent nominal gesenkt worden; effektiv - das, was wirklich gezahlt wird - sind es nur 22 Prozent. Der Spitzensteuersatz ist von 53 Prozent - unter Kohl übrigens - auf 42 Prozent gesenkt und dann bei Merkel und Steinmeier für die ganz hohen Einkommen noch einmal auf 45 Prozent erhöht worden. Was ist denn in Ihrer Regierungszeit erhöht worden, Herr Lindner? Gar nichts. Nichts haben Sie erhöht. Ganz im Gegenteil: Die Einnahmeausfälle seit 2001 betragen schon 380 Milliarden Euro. Das ist eine Steuerungerechtigkeit, die als Umverteilung von unten nach oben wirkt. Herr von Stetten, Sie sagen hier, dass Sie gegen eine Umverteilung sind - Sie organisieren permanent eine Umverteilung von unten nach oben! ({14}) Machen Sie doch einmal eine von oben nach unten! Dafür wird es höchste Zeit in unserer Gesellschaft. Ich bin es auch leid, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben und an der Krise verdienen, ({15}) nicht mit einem einzigen zusätzlichen Euro herangezogen werden, sondern Leute, die nichts damit zu tun haben, das Ganze bezahlen müssen. Genau das ist nicht gerechtfertigt. ({16}) Im Übrigen, Herr Wissing, Sie sagen: Das ist Enteignung. Und: Das Grundgesetz schützt das Eigentum. Das ist ein solcher Blödsinn. Denn dann dürften Sie überhaupt keine Steuern erheben. ({17}) Da greifen Sie immer in Eigentum ein. Außerdem, Herr Wissing, steht in Art. 14 des Grundgesetzes, Eigentum soll zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Was glauben Sie, wie schwer es einem Milliardär fällt, seine Milliarde immer so einzusetzen, dass es dem Allgemeinwohl dient. Da können wir ihm doch solidarisch helfen, nehmen ihm was weg und führen es dem Allgemeinwohl zu. ({18}) Wir fordern eine Vermögensabgabe, die gegebenenfalls auch in Raten bezahlt werden kann, und zwar nach dem Vorbild des Lastenausgleichgesetzes von 1952, 23368 ({19}) auf private Vermögen von über 1 Million Euro. Für Betriebsvermögen gelten selbstverständlich Ausnahmen, um die Liquidität nicht zu gefährden. Das ist eine einmalige Abgabe. Jetzt komme ich zur Wiedererhebung der Vermögensteuer. Diesbezüglich haben Sie auch Blödsinn über unseren Antrag erzählt. ({20}) - Hören Sie zu, Herr Wissing. Es soll eine Steuer von 5 Prozent auf das erhoben werden, was man über 1 Million Euro hinaus besitzt - außer Betriebsvermögen. ({21}) Deshalb sind auch die Gewerbegrundstücke, die an Mieterinnen und Mieter vermietet werden, nicht dabei. Operieren Sie also nicht mit den Mieterinnen und Mietern. Ihr Herz gehörte denen noch nie - aber unser Herz! Deshalb haben wir sie selbstverständlich ausgenommen und geschont. ({22}) Erklären Sie mir einmal Folgendes: Wenn jemand 1 Million Euro im Jahr verdient, dann muss er darauf über 40 Prozent Steuern bezahlen. Wenn er sein Geld irgendwo anlegt und noch einmal 1 Million Euro Zinsen bekommt, dann muss er nur 25 Prozent Steuern bezahlen. Dafür waren Sie immer. Warum kann man das nicht gleich behandeln und sagen: „Zinseinnahmen sind wie Einkommen“? ({23}) Das wäre eine ganz einfache Logik. Aber die FDP sagt: Um Gottes willen, wir müssen alle Zinsen schützen bloß nicht die der Bevölkerung. ({24}) Dann kommt immer der Einwand der Steuerflucht. Das bin ich leid. Es gibt zwei Möglichkeiten, Steuerflucht zu verhindern. ({25}) - Da sieht man einmal, wie begrenzt Ihre Fantasie ist. Ich kann nichts dafür, dass Sie Anhänger der Mauer sind. Ich bin kein Anhänger der Mauer. ({26}) Es gibt zwei Wege, Steuerflucht zu verhindern. Der erste Weg ist: Wir binden die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft. Dann kann ein Deutscher etwa in Liechtenstein oder auf den Seychellen wohnen - wo auch immer -, muss aber hier angeben, was er verdient, welches Vermögen er hat und was er dafür an Steuern zu bezahlen hat. Wenn er bei uns mehr zu bezahlen hätte, dann bekommt er hinsichtlich der Differenz einen Steuerbescheid. Es gibt ein Land, das das so macht: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die machen damit gute Erfahrungen. Und Sie drücken sich davor. Der zweite Weg, Steuerflucht zu verhindern, wäre, Banken, die uns Transaktionen dieser Art nicht mitteilen, die Lizenz in Deutschland zu entziehen. Was glauben Sie, wie das funktioniert? ({27}) Es gibt also Wege. Man muss es nur wollen. Sie wollen es nicht. Das ist das Problem. Nehmen wir Griechenland als Beispiel. Die Rentner dort müssen jetzt die Medikamente selbst bezahlen, obwohl sie krankenversichert sind und ihre Beiträge zahlen. Frauen, die in Griechenland entbinden, müssen die Entbindung selbst bezahlen. Sonst bekommen sie keine ärztliche Hilfe und müssen nach Hause gehen. Eine Lehrerin in Griechenland hat ein Anfangsgehalt von 575 Euro. 2 000 Familien in Griechenland gehören 80 Prozent des Vermögens. Dann stellen Sie sich hierhin und sagen: Diese 2 000 Familien sollen nichts bezahlen. Alle anderen sollen das tragen. - Das ist unerträglich. ({28}) Wir haben in Europa 3,1 Millionen Dollar-Millionäre. Diese haben schon 10,2 Billionen Dollar als Vermögen. Solche Menschen gibt es auch in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal. Ich sage Ihnen: Auch diese müssen herangezogen werden. ({29}) - Sie sollten sich einmal mit diesen Menschen unterhalten, weil Sie ja Millionäre lieben. In Hamburg hat sich ein Verein von Millionären gegründet. Dessen Mitglieder möchten endlich eine Vermögensabgabe und Vermögensteuern zahlen. ({30}) Wissen Sie, warum diese klüger sind als Sie? Weil die es begriffen haben. Erstens werden sie ein bisschen patriotisch sein, und vielleicht wollen sie auch ein bisschen mehr soziale Gerechtigkeit. Zweitens wissen sie: Wer in der Not nicht abgibt, gefährdet sich selbst. - Die sind klüger als Sie. Jetzt müssen Sie eine Vermögensabgabe und auch eine Vermögensteuer einführen, wenn Sie den Bestand der Bundesrepublik Deutschland nicht gefährden wollen. Das ist das Entscheidende. ({31}) Nun komme ich zum Schluss. Herr Kauder, Sie sind doch Christ; deshalb versuche ich es jetzt mit der Bibel. Sie müssen einmal mit den Millionären reden. Passen Sie auf! Apostel Paulus hat seinem Weggefährten Timotheus einen guten Rat gegeben. Ich zitiere Ihnen das wörtlich: Den Reichen musst du unbedingt einschärfen, dass sie sich nichts auf ihren irdischen Besitz einbilden oder ihre Hoffnung auf etwas so Unsicheres wie den Reichtum setzen. … Sage ihnen, dass sie Gutes tun sollen und gern von ihrem Reichtum abgeben, um anderen zu helfen. So werden sie wirklich reich sein und sich ein gutes Fundament für die Zukunft schaffen, um das wahre und ewige Leben zu gewinnen. Das ist aus dem 1. Brief an Timotheus. ({32}) Jetzt zitiere ich Ihnen noch Matthäus 19,24 und Lukas 18,25: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. ({33}) - Einen Moment! - Sie müssen den Reichen doch eine Chance eröffnen, in das Reich Gottes zu kommen. Das geht nur über eine Vermögensabgabe und eine Vermögensteuer. Glauben Sie es mir! ({34})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Volker Kauder. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Gysi, ich glaube, es ist zwingend notwendig, eine richtige Bibelauslegung - ich würde mich auch bereiterklären, das zu machen - vorzunehmen und Ihre Auslegung zu korrigieren. ({0}) Im Gegensatz zu dem, was Sie zitiert haben, steht in Timotheus nicht, dass die Menschen Steuern zahlen sollen, sondern, dass sie etwas Gutes tun sollen. Genau das ist der Unterschied zu dem, was Sie formulieren. Sie wollen, dass der Staat die Menschen zur Kasse bittet. Damit provozieren Sie nur Ungerechtigkeiten. Es ist unanständig, wie Sie die Heilige Schrift im Deutschen Bundestag eingesetzt haben. ({1}) Aus der Heiligen Schrift ergibt sich kein politisches Programm. Deswegen rate ich dringend dazu, hier etwas mehr Zurückhaltung zu üben. Da ich das Wort habe, will ich noch einen Hinweis geben. Ja, es ist völlig richtig, dass wir uns alle Gedanken machen müssen, wie wir den Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, mehr von ihrem Lohn lassen können. Deswegen wundere ich mich sehr, dass die linke Seite dieses Hauses im Bundesrat einen Abbau der kalten Progression nach wie vor verhindert. ({2}) Das ist das glatte Gegenteil von dem, was Sie hier sagen. Sie können in der nächsten Sitzung des Vermittlungsausschusses dafür sorgen, dass die Menschen mehr von ihrem Lohn haben, als Sie ihnen jetzt lassen. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Wort erhält der Kollege Dr. Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich will zunächst auf Ihre letzte Bemerkung antworten. Seit Jahren fordern wir, dass der Steuerbauch, unter dem die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die Meister, übrigens auch Ärzte und andere, zu leiden haben, beseitigt wird. Das geht aber nur, wenn wir den Spitzensteuersatz erhöhen, und genau dagegen wehren Sie sich. ({0}) Wenn wir das nicht machen, kommt es zu einem reinen Verlust. Es wird höchste Zeit, den Steuerbauch abzuschaffen. Darin stimmen wir überein; denn auch ich finde, dass diese Personen zu viel Einkommensteuer bezahlen müssen. Aber die müssen nur deshalb so viel zahlen, weil wir oben so viel nachgelassen haben. Genau das ist nicht erträglich. ({1}) Nur noch eine Bemerkung, Herr Kauder. Die Bibel zu zitieren, ist jedem erlaubt, auch mir. Ich finde, ich interpretiere sie besser als Sie. Es tut mir leid. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erhält unser Kollege Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will zunächst meiner Genugtuung Ausdruck verleihen, dass auch Gregor Gysi inzwischen bei der Bibel angekommen ist. Ich halte das für einen großen Fortschritt. Zum Kollegen Kauder, weil er uns wegen der kalten Progression angegriffen hat. Herr Kollege Kauder, als Sie das erste Mal öffentlich darüber debattiert haben, habe ich Ihnen das Angebot gemacht, sofort über die Abschaffung der kalten Progression zu verhandeln, wenn wir im Gegenzug den Spitzensteuersatz erhöhen; denn zwischen diesen beiden Dingen besteht ein Zusammenhang. Sie müssen erklären, wie Sie trotzdem Schulden abbauen und in Bildung investieren wollen. Sie haben darauf nie reagiert. Es gab Einzelne aus Ihrer Fraktion, die gesagt haben, darüber könne man reden. Sie persönlich haben das Angebot nie aufgegriffen. Wir würden uns freuen, wenn man mit Ihnen ernsthaft über die Erhöhung des Spitzensteuersatzes reden könnte. Dann würden wir auch relativ schnell einig bei der von Ihnen beabsichtigten, Gott sei Dank geringen Einkommensteuersenkung. Ich will noch eine Bemerkung zu der Behauptung machen, mit der Senkung der Einkommensteuer könne man unheimlich viel für normale Beschäftigte tun. 40 Prozent der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer mehr, weil wir, anders als Herr Gysi gesagt hat, gemeinsam - wenn ich mich richtig erinnere, auch gemeinsam mit Ihnen - hier im Haus dafür gesorgt haben, dass der Eingangssteuersatz deutlich gesenkt wurde. 40 Prozent der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer, und das ist gut so. Aber das bedeutet auch, dass Ihr Versprechen, durch eine drastische Senkung der Einkommensteuer könne man den mittleren und unteren Einkommensbeziehern helfen, eine glatte Unwahrheit ist; denn wer keine Steuern zahlt, dem kann man auch keine senken. ({0}) Deswegen noch einmal ausdrücklich mein Angebot, Herr Kauder: Wir sind sofort im Gespräch, wenn Sie in der Lage sind, mit uns darüber zu sprechen, die Abschaffung der kalten Progression mit einer deutlichen Anhebung des Spitzensteuersatzes ab einem Einkommen von 100 000 Euro pro Person zu verbinden. Alles andere ist eine Milchmädchenrechnung, mit der Sie der Öffentlichkeit vormachen wollen, dass man Steuersenkungen, Mehrausgaben und Schuldenreduzierung gleichzeitig erreichen könne. Das kann man nur, wenn man die Hoffnung hat, das nie realisieren zu müssen. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Sigmar Gabriel. - Wir fahren in der Reihenfolge unserer Redner fort. Als nächster hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Hans Michelbach das Wort. Bitte schön, Kollege Hans Michelbach. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion hat ein zielführendes Konzept zur Krisenbekämpfung und zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und seiner Arbeitsplätze. Wir sind die Koalition der sozialen Marktwirtschaft. Wir sind für die Sicherung des Eigentums unserer Bürger. Wir sind für eine leistungsfähige Gemeinschaft mit allen Bürgern, und wir wollen Arbeit und Wohlstand für alle in diesem Land. ({0}) Wir können zweifellos die größeren Erfolge vorweisen. Wir haben weniger Arbeitslosigkeit und eine höhere Beschäftigung, wir konsolidieren den Haushalt und haben Wachstumsimpulse durch mehr Kaufkraft und die höhere Beschäftigung. Wir haben auch höhere Einnahmen, wie die Steuerschätzung beweist. Wir haben gegenwärtig die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten. Es gibt überhaupt keinen Grund, eine neue Steuer- und Belastungsorgie, wie sie Rot-Grün hier vorschlägt, vorzunehmen. Wir wollen nicht immer mehr Staat, weil wir glauben: Das erwirtschaftete Geld gehört zuerst den Menschen und den Betrieben. Sie können mit den Erträgen am meisten anfangen. Durch ihr Handeln entsteht ein Mehrwert daraus. Darauf kommt es in einer Volkswirtschaft an. ({1}) Nur mit Wachstum können wir unsere Vorbildfunktion in Europa erhalten. Vorrang hat jetzt die Bekämpfung der Staatsschuldenkrise. Diese Krise überwinden wir nicht durch eine Flutung der Haushalte, durch höhere Steuern. Wir müssen deutlich machen: Der richtige Weg kann nur sein, auf der einen Seite Haushaltskonsolidierung zu betreiben, die Schuldenbremse einzuhalten und auf der anderen Seite die Staatsfinanzierung zukunftsfest zu machen. Das süße Gift der Steuererhöhungen lässt diese Bemühungen bekanntlich immer wieder erlahmen. Es ist ganz vernünftig, wenn man mit dem haushalten muss, was einem die Bürger zur Verfügung stellen. ({2}) Ich weiß, meine Damen und Herren, mit Sparen hat sich Rot-Grün schon immer sehr schwergetan. Das, was im Antrag steht, ist keine Alternative zum Schuldenabbau. Wir haben darauf hinzuwirken, dass die Menschen heute den Unterschied der Positionen erkennen. Sie sollen sehen, dass der vorliegende Antrag einer Oppositionsfraktion ein ideologischer Gegenentwurf ist. Sie wollen mehr oder minder Staatssozialismus, nach dem Motto „der Staat als Raupe Nimmersatt“. Das kommt hier zum Ausdruck. Wir dagegen wollen, dass das erwirtschaftete Geld zunächst einmal in die Privatwirtschaft hineinfließt und damit letzten Endes für das Gemeinwohl arbeitet, den Arbeitsplätzen dient. Daher darf ich die Betriebe, die Menschen nicht überfordern, sonDr. h. c. Hans Michelbach dern ich muss die Marktkräfte wirken lassen. Dann hat jeder etwas davon, und wir haben Wohlstand und Arbeit für alle - das ist unser Grundprinzip. ({3}) Ich weiß, dass gegen uns die „Verteilungskeule“ geschwungen wird. Wir sehen bei der Opposition einen Neidkomplex. Man möchte mit populistischen Themen Wahlkampf bestreiten. Ich kann nur deutlich machen: Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler bestreiten 5 Prozent, die oberen 50 Prozent bestreiten 95 Prozent des Einkommensteueraufkommens. Es ist nicht richtig, dass der Einkommensteueranteil geringer wird. Herr Gabriel, wenn Sie die Steuerschätzung anschauen, dann sehen Sie, dass im Moment gerade die Einkommensteuer explodiert und so viele Einnahmen für den Staat wie noch nie generiert werden. ({4}) Das, was Volker Kauder gesagt hat, ist einfach sinnvoll: Hören Sie mit der Blockade des Abbaus der heimlichen Steuererhöhung, der kalten Progression, auf! Das dient den Menschen. ({5}) Herr Gabriel, Sie wollen sogar noch eine Hebelung vornehmen - das verstehe ich überhaupt nicht -: Sie wollen den normalen Bürgern und Steuerzahlern keine Entlastung gönnen, sofern nicht auch die Oberen belastet werden. Das muss man sich erst einmal vor Augen führen: Sie nehmen die Masse der Steuerzahler in eine Art Steuerzahlergruppenhaft. Ja, wo sind wir denn? Wir müssen die Masse entlasten. Den Menschen in Deutschland insgesamt und nicht einigen wenigen muss es gut gehen. Das ist die Situation. ({6}) Sie erwecken immer wieder den Eindruck, dass die Leistungswilligen, die Leistungsfähigen in unserem Land keine Steuern zahlen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie wollen immer wieder nur Politik über Transfer machen. Wir haben in Deutschland eine hohe Sozialleistungsquote. Darauf dürfen wir stolz sein. Das Geld für den Transfer muss zunächst einmal erwirtschaftet werden. Wenn man Geld ausgibt, muss es zunächst einmal eingenommen werden. So ist das in einer Volkswirtschaft. Was Sie machen, dazu passen die Stichworte: Perpetuum mobile, Schneeballsystem, volkswirtschaftliche Voodoo-Politik. Das führt nicht zum Ziel. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir hier dank eines klaren Konzeptes, wie wir es in dieser Koalition vertreten, eindeutige volkswirtschaftliche Erfolge feiern können. Die Vermögensteuer ist so, wie Sie sie anlegen, betriebs- und arbeitsplatzfeindlich. Die Vermögensteuer für Betriebsvermögen vernichtet eben Arbeitsplätze, ({7}) weil letzten Endes mit dem Geld, das an den Staat abgegeben wird, keine neuen Maschinen gekauft, keine neue Halle gebaut und keine Investitionen bestritten werden können. Das ist eben der falsche Ansatz, wenn Sie die Leute überfordern. Wir brauchen die Wertschöpfung für die Arbeitsplätze, für die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Die Personengesellschaften lassen sich nun einmal natürlich nicht zwischen einem Produktiv- und einem Verwaltungsvermögen aufteilen, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen. So, wie Sie das Verwaltungsvermögen darstellen, gibt es das in der Abgrenzung bei einer Personengesellschaft überhaupt nicht. Deswegen ist das ein völlig falscher Ansatz. Ich muss Ihnen sagen: Es ist ernüchternd, dass Sie letzten Endes die Grundsätze einer Steuerpolitik in Deutschland gar nicht erkennen. ({8}) Mit einem solchen Antrag zeigen Sie, dass Sie von der Steuerpolitik und dem Steuerrecht in Deutschland null Ahnung haben. ({9}) Ich darf Ihnen nur sagen: Die Verwaltungskosten lassen Sie in diesem Antrag, in dem Sie die Vermögensteuer erheben wollen, völlig außen vor. Schon 1997 hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Das ist letzten Endes kein Ertrag für den Staat. Vielmehr machen die Verwaltungskosten zwei Drittel der Einnahmen aus. - Wenn Sie daher eine solche Bürokratie entfachen wollen, dann ist das absolut kontraproduktiv. ({10}) Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ganz klar, wir müssen für die Menschen arbeiten und nicht gegen die Menschen. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt letzten Endes mit dieser Koalition in der sozialen Marktwirtschaft auf dem richtigen Weg weiter vorankommen. Das ist der Erfolgsweg, den wir beschreiten. Herzlichen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Lothar Binding. Bitte schön, Kollege Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Wissing Lothar Binding ({0}) hat mich motiviert, erst einmal etwas zu Baden-Württemberg zu sagen. Er hat irgendwie gesagt, die Rot-Grünen machten im Land eine schlechte Haushaltspolitik. Ich will nur einmal sagen, dass ich einen kleinen Streit mit Nils Schmid hatte, dem dortigen Finanzminister. Er hat einen Kassensturz gemacht und dramatische Dinge festgestellt. ({1}) Das wurde dann vergessen und von ihm, höflich und sanft wie er ist, nicht weiter thematisiert. Ich hatte gesagt: Er soll ein Bad Budget machen, er soll den Mappus-Deal auf Kosten der Staatskasse explizit ausweisen und die 2,5 Milliarden Euro als strukturelles Defizit - da geht es nicht um eine einfache Verschuldung - aufschreiben, damit die Bürger merken, was Schwarz-Gelb dort angerichtet hat. Insofern hat, wenn man es ein bisschen ändert, Hans Michelbach recht: Mit Sparen tut sich SchwarzGelb schwer. ({2}) Herr Gysi hat gesagt, was er immer vorbringt, und über Steuersätze gesprochen. Ich will das hier so erklären, wie ich es manchmal in Schulklassen mache. Dort frage ich: Hat jemand einen Garten? Manche sagen dann: Ja, meine Eltern haben einen Garten. Dann frage ich: Wie groß ist der? Dann sagen die Schüler meistens: So etwa 40 Quadratmeter. Dann frage ich: Warum haben Sie Quadratmeter gesagt, warum haben Sie nicht nur gesagt, 4 Meter? Dann sagen sie: Ich habe da doch eine Fläche. Darauf sage ich: Ja, der Gysi spricht auch immer nur vom Spitzensteuersatz. Er muss aber den Spitzensteuersatz quasi als Länge mal Bemessungsgrundlage als Breite anschauen. Wenn man beide zusammennimmt, sieht die rot-grüne Steuerpolitik, die von 1998 bis 2005 gemacht wurde, ganz anders aus, nämlich sehr gut, weil sie uns auf ein Niveau brachte, das Deutschland in Europa sehr gut dastehen lässt. Das ist ein Erfolg. ({3}) Vielleicht nur als Nebenbemerkung zu dem Stichwort „kalte Progression“. Heute haben ja Leute der Koalition uns das erklärt. Ich habe einen Brief vom Bundesfinanzministerium, in dem es heißt: Die kalte Progression hatte bisher gar keine Wirkung, weil entsprechende Anpassungen immer vorgenommen worden sind. Jeder - das hat unser Parteivorsitzender Sigmar Gabriel schon erklärt -, der sich damit befasst, weiß, dass Ihr Vorschlag starken Schultern hilft, den Reichen mehr gibt und die Armen nicht entlastet und die ganz Armen nicht entlasten kann, weil sie nichts bezahlen. ({4}) Aber in einem hat Herr Wissing recht. Herr Wissing hat von Zerrbildern gesprochen. Interessanterweise hat er auch die Mehrwertsteuer angesprochen. Es ist schon richtig: Mithilfe der FDP wurde die Mehrwertsteuer auch in dieser Legislaturperiode angepasst, um alle Fehler, die zuvor gemacht wurden, zu korrigieren. An welche Steuer ich denke, das kann sich jetzt jeder vorstellen. Ich sage auch nichts zu Hotels. Insofern ist es klar, und jeder weiß, was gemeint ist. Er hat aber tatsächlich Recht mit dem Begriff „Zerrbild“. Wir haben nämlich ein Zerrbild zwischen Arm und Reich. Der Reichtumsbericht sagt uns sehr genau, wie sich private Vermögen entwickeln, wie sie steigen, wie sie konzentriert werden, und ebenso, wie sich Einkommen entwickeln. Wir sehen, dass die Schere immer weiter auseinandergeht. Das Gute ist, dass wir uns sogar freuen, wenn Leute reicher werden. Das ist in Ordnung; denn viele von den Reichen sind sich wirklich ihrer Verantwortung bewusst. Viele wollen sich sogar stärker beteiligen und machen das auch. Viele haben auch ein Gerechtigkeitsgefühl. Aber - Joachim Poß hat das einmal in einer Rede gesagt - wenn die Konzentration des Vermögens explosionsartig zunimmt - das sind Wachstumsfunktionen, die im Zeitverlauf extrem ansteigen -, dann merkt man, dass man etwas tun muss; denn man mag sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn diese Entwicklung weiter voranschreitet. Man fragt sich, wie lange eine Gesellschaft das aushält. Schauen wir uns in der Welt um: Natürlich gibt es Gesellschaften, in denen mancher noch viel, viel reicher ist als mancher Deutscher und viele sehr viel ärmer sind. Die Frage ist aber: Wie lange würde das unsere Gesellschaft aushalten? Außerdem merkt derjenige, der die Wirtschaftsentwicklung dieser Länder mit der unseren vergleicht, dass ein gewisser Ausgleich zwischen Arm und Reich für eine prosperierende Wirtschaft sehr klug ist, alles andere aber wirtschaftsfeindlich und wachstumsgefährdend. ({5}) Diese Auseinanderentwicklung zwischen Arm und Reich ist aber ein strukturelles Problem; es geht auf viele gesellschaftliche Voraussetzungen zurück. Hier komme ich auf die Idee von den Grünen zu sprechen, die wir sehr gut finden. Die Idee, eine Vermögensabgabe zu wollen, um Gerechtigkeitslücken zu schließen, um auch ganz Reiche stärker zu beteiligen, hat den Nachteil - auch wenn die Zahlung gestreckt wird -, dass sie eine Einmalabgabe ist, die auf strukturelle Probleme nicht adäquat reagiert. Wir bevorzugen eine strukturelle Lösung und arbeiten auch an ihr, und das ist eben eine jährlich wiederkehrende Vermögensabgabe, die auf diese strukturellen Verwerfungen konstruktiv reagiert. Deshalb glauben wir, dass wir, ausgehend von einer Überlegung der Grünen, weiterentwickelt zu einer Vermögensteuer, da sehr gut gemeinsame Ideen entwickeln können, um diese Verwerfungen zu überwinden. Wir haben aber nicht nur ein Problem zwischen Arm und Reich im Privaten, im Individuellen, sondern wir haben auch ein Problem zwischen Arm und Reich im Verhältnis zwischen Öffentlichen und Privaten. Wer da genauer hinschaut, der merkt, dass wir seit vielen Jahren eine exorbitante Zunahme privaten Reichtums haben - einige haben die Zahl genannt: 10 Billionen Euro -, ({6}) Lothar Binding ({7}) aber auch eine exorbitant zunehmende öffentliche Armut, die letztendlich alle bezahlen müssen, im Notfall über Zinsen, aber noch viel schlimmer durch Verwerfungen an den Finanzmärkten, die dann interessanterweise ja nicht diejenigen bezahlen, die die Risiken eingehen, sondern die, die Steuern zahlen. Das ist auch ein Transferkanal von Arm nach Reich, wobei die Armen die Reichen noch dabei unterstützen, dass sie ihre hohen Risiken eingehen können. Auch hier sind die Verhältnisse aus dem Ruder gelaufen, und ich glaube, dass das auch deutlich macht, warum Herr Wissing recht hat, wenn er sagt: Es gibt hier große Verwerfungen und große Probleme, aber man muss es halt anpacken. Bezogen auf unser Steuersystem, beobachten wir, dass man permanent zwischen privatem und Betriebsvermögen hin- und herschieben kann und dass Bezieher hoher Einkommen diese Möglichkeiten auch nutzen. Sie schieben ihr Einkommen mal in ein unternehmerisches Vermögen, in das Betriebsvermögen; dann wieder wird es privat verwaltet, mal international, mal in Deutschland. All diese Verschiebebahnhöfe führen dazu, dass die Schere, von der ich sprach, immer weiter auseinandergeht. Deshalb glauben wir, dass das Steuersystem, das wir haben, ideal durch eine Vermögensteuer ergänzt wird, bei der genau darauf geachtet wird, den Kanal dichtzumachen, wenn jemand nur von dieser Verschiebung lebt und so sein Vermögen vergrößert. Das ist sicherlich eine sehr gute Angelegenheit. Herr Michelbach, Sie haben gesagt, wir würden damit Unternehmen ruinieren oder so. Wenn Sie die Angabe zur Größenordnung sehen, dann merken Sie, dass das gar nicht sein kann. ({8}) Außerdem: Sowohl bei den Grünen als auch bei unseren Überlegungen wird die Steuer nach oben plafondiert. Außerdem schonen wir Betriebsvermögen - das ist ja das Besondere -, ({9}) weil wir eine Steuer machen, die Arbeitsplätze sichert. Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es ist eine Ländersteuer, die dann natürlich hilft, in den Ländern Bildung und Familienförderung zu unterstützen und dort all das zu tun, was es dort zu tun gibt. ({10}) Insofern ist auch der Satz von Herrn Wissing, Arbeitgebern würde die Substanz wegbesteuert, natürlich falsch. Wer sich jetzt noch einmal ausrechnet - das kann ich aus Zeitgründen nicht mehr machen -, wie viel Prozent 10 Milliarden von 10 Billionen Euro sind, der muss erkennen, wie hoch die jetzt angedachte tatsächliche Belastung für die wirklich großen Vermögen ist. Er wird dann feststellen, wie klein die Belastung ist. Eigentlich könntet ihr euch das auch überlegen; denn es gibt auch in der Regierungskoalition Leute, die an Gerechtigkeit denken und an die öffentlichen Aufgaben, die wir erfüllen müssen. Deshalb wäre es schön, wenn auch ihr euch zu einer Vermögensteuer durchringen würdet. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Lothar Binding. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Daniel Volk. Bitte schön, Kollege Dr. Volk. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der heutigen Debatte haben wir gesehen, dass zumindest die Opposition den Wahlkampf eröffnet hat, und zwar einen Wahlkampf, der sehr stark durch unsachliche Beiträge geprägt sein wird, ({0}) der sehr stark auf Sozialneid und eine Spaltung der Gesellschaft hinauslaufen wird. Da sind mehr oder weniger kompetente Finanzpolitiker, die hier Äußerungen treffen, zum Beispiel Jürgen Trittin von den Grünen, der von den reichen Bürgern und dem armen Staat gesprochen hat, allerdings leider Gottes verschwiegen hat, dass in den Bundesländern, in denen die Grünen regieren, der Staat noch viel, viel ärmer ist als in anderen Bundesländern, in denen eine vernünftige Haushalts-, Wirtschaftsund Steuerpolitik betrieben wird. ({1}) Sigmar Gabriel als Vorsitzender der SPD malt das Bild an die Wand, dass, wenn die Steuerbelastung der Bürger erhöht würde, mehr Schulen und mehr Kindergärten usw. usf. gebaut würden, verschweigt leider Gottes aber, dass im Bundesland Baden-Württemberg nach der Übernahme durch eine grün-rote Landesregierung Lehrerstellen abgebaut werden - und das zuzeiten, in denen Steuern in einer solchen Höhe in die Staatskasse fließen wie noch nie. ({2}) Gregor Gysi von der Linkspartei stellt zwei Zahlen gegenüber: die Anzahl der Millionäre vor der Krise und die Anzahl der Millionäre nach der Krise. Für ihn ist es dann selbstverständlich, dass die zusätzlichen Millionäre nur deswegen Millionäre werden konnten, weil sie sozusagen an der Krise verdient hätten. ({3}) Möglicherweise ist das eher der erfreuliche Beweis dafür, dass während der Krise eine Regierung in Deutschland die Verantwortung übernommen hat, die mit einer vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik dafür gesorgt hat, dass die einzelnen Bürger ihr Vermögen, ihren privaten Anteil steigern konnten. Das ist ein gutes Zeichen für die Bürger dieses Landes. ({4}) Wir brauchen keine sozialspalterische Debatte, wie sie hier von der Opposition angezettelt wurde. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Dr. Volk, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sehr gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Kollege Dr. Schick.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie haben auf die Bundesländer und den Wechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün hingewiesen. ({0}) - Grün-Rot. Danke, dass Sie das präzisieren. Ich möchte zwei Fragen an Sie stellen. Die erste Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Neuverschuldung in Baden-Württemberg unter der grün-roten Landesregierung geringer ist als die Zinsausgaben, dass also, wenn die schwarz-gelbe Landesregierung unter Herrn Mappus keinen Schuldenberg zurückgelassen hätte, wir heute ein Plus im Haushalt hätten, sodass die Neuverschuldung allein auf das schwarz-gelbe Konto geht? ({1}) Die zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass BadenWürttemberg beim Zahlenverhältnis „Schüler zu Lehrer“ durch die Politik der grün-roten Landesregierung eine Spitzenposition einnimmt und dass es nicht, wie Sie sagen, andersherum ist? ({2})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum Zweiten. Dass die neue Landesregierung innerhalb eines Jahres dieses Verhältnis so entscheidend geändert hat, halte ich für absolut unwahrscheinlich. ({0}) Ich glaube, das sind eher die Vorteile, von denen die neue Landesregierung zehren kann aufgrund der hervorragenden Regierungstätigkeit der schwarz-gelben Regierung in Baden-Württemberg. ({1}) Wissen Sie, Herr Kollege: Es ist immer sehr erstaunlich, mit welcher Kreativität die Staatsverschuldungspolitiker, die eher im linken Bereich dieses Hauses anzutreffen sind, Argumente aufbringen, warum man jetzt in weitaus mehr Staatsverschuldung hineingehen kann. Was mir in diesem Zusammenhang auffällt: Wenn bürgerliche Regierungen die Regierungsverantwortung übernehmen, ({2}) geht die Staatsverschuldung immer herunter, unabhängig davon, welcher haushaltspolitische Kurs vorher gefahren wurde. ({3}) Sie sehen es in meiner Heimat, in Bayern. Bayern ist das einzige Bundesland in Deutschland, das nicht nur die Neuverschuldung herunterfährt, sondern sogar Schulden zurückzahlt. ({4}) Sie sehen es an der christlich-liberalen Bundesregierung, ({5}) die von einem Finanzminister der SPD, Peer Steinbrück, eine Neuverschuldungsplanung von 80 Milliarden Euro übernommen hat, jetzt aber auf dem Weg ist zu einem ausgeglichenen Haushalt 2013, 2014. ({6}) Der Beweis in der Praxis ist erbracht. Das sollte Ihnen zu denken geben. Das gilt vor allem angesichts Ihrer ewigen Forderung nach stärkerer Belastung der Bürger, und zwar mit dem wirklich immer sehr wohlklingenden Argument, dass das, von dem Sie erwarten, dass es zusätzlich eingenommen würde - hier werden Sie wahrscheinlich stark enttäuscht werden -, eins zu eins in den Schuldenabbau fließen würde. Ein Gegenbeispiel dazu.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich gehe davon aus, dass Sie diese Frage beantwortet haben. Es gibt nämlich noch eine weitere Frage.

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte gerne zur Beantwortung der Frage weiter ausführen. - Ein Gegenbeispiel ist die Anhebung der Umsatzsteuer von 16 auf 19 Prozent im Jahr 2007. Damals wurde gesagt: Wir müssen die Steuer anheben, weil wir dadurch die Staatsverschuldung zurückfahren. - Ein Bruchteil dieser Einnahmen ist in das Zurückfahren der Staatsverschuldung geflossen. Der Rest ist in allgemeine Haushaltsausgaben geflossen. Insofern kann ich den einzelnen Bürger nur davor warnen, zu glauben, dass eine höhere steuerliche Belastung des Bürgers automatisch zum Abbau der Staatsverschuldung führt. Das Gegenteil ist in der Vergangenheit bewiesen worden. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Andreas Scheuer? ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön.

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Volk, da wir gerade beim Thema BadenWürttemberg sind, ({0}) nutze ich die Gelegenheit, um auf die neue Politik dort hinzuweisen. Würden Sie auch mit Besorgnis bestätigen ({1}) die Antwort könnte mit Ja oder Nein abgehandelt werden -, dass, seitdem Grün-Rot in Baden-Württemberg regiert, die laufenden Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur so erhebliche Kostensteigerungen erfahren, dass der Bund zurzeit keine neuen Maßnahmen mehr in Angriff nehmen kann, ({2}) weil im Koalitionsvertrag von Grün-Rot steht, dass erst die laufenden Maßnahmen abgearbeitet werden, was als wirtschaftspolitische Ausrichtung für die Bauindustrie in Baden-Württemberg ein fatales Signal bedeutet? ({3})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Scheuerle, ich bestätige diese Ansicht mit größter Besorgnis. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Scheuer. Andreas Scheuer.

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann nur noch ergänzen, dass die größte Gefahr für ein Land wie Baden-Württemberg, das über Jahrzehnte hervorragend regiert wurde, ({0}) darin besteht, dass es in der Zukunft erheblich von der Substanz leben wird. Was das Leben von der Substanz für ein Land bedeutet, kann man auch in anderen Regionen der Republik beobachten. ({1}) In den nächsten Jahren wird es Baden-Württemberg insofern wahrscheinlich nicht besonders gut gehen. Wir werden jedoch sehen, ob sich die Landesregierung möglicherweise eines Besseren besinnen wird.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, es gibt eine weitere Zwischenfrage. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich würde jetzt gerne meine Ausführungen fortsetzen. ({0}) - Herr Gysi wollte eine Zwischenfrage stellen? Herrn Gysi lasse ich natürlich zu.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sehen Sie: Hier wird also differenziert; nicht jeder darf. Bitte schön, Kollege Dr. Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, ich habe eine Frage. Sie haben gesagt, dass es das Verdienst der klugen Politik der Bundesregierung ist, dass selbst in der Krise die Zahl der Vermögensmillionäre in Deutschland zugenommen hat. ({0}) Ist es dann auch ein Verdienst der klugen Politik der Bundesregierung, dass in derselben Zeit der Vermögensanteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung von 4,5 Prozent auf 1 Prozent zurückgegangen ist? ({1})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Wissen Sie, was das ganz große Verdienst dieser christlich-liberalen Regierung in der Krise ist? Dass es uns gelungen ist, die Arbeitslosenzahlen noch einmal deutlich zu senken, dass es uns gelungen ist, gerade die unteren Lohngruppen und die Familien mit einer Steuerentlastung zum 1. Januar 2010 zu unterstützen! ({0}) Das ist das Verdienst dieser christlich-liberalen Koalition. Ich weiß, dass Sie gerne mit Statistiken arbeiten. Aber gehen Sie einmal hinaus und fragen Sie die Leute! Fragen Sie den kleinen Arbeitnehmer, wie froh er über diese Regierungspolitik ist, ({1}) wie froh er ist, dass er keine Angst um seinen Arbeitsplatz haben muss, dass er bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen entlastet wurde! Das ist das Verdienst dieser christlich-liberalen Koalition. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte hier einen weiteren Aspekt anführen. Ich habe mich sehr über den bereits zitierten Artikel aus dem Spiegel dieser Woche gefreut, in dem, wie ich finde, sehr kenntnisreich dargelegt wird, wo denn auf der einen Seite überhaupt das Missverständnis derjenigen liegt, die glauben, über eine Vermögensteuer oder eine Vermögensabgabe deutlich mehr Einnahmen des Staates erzielen zu können, und wo auf der anderen Seite die großen Schwierigkeiten einer solchen Vermögensteuerbelastung liegen. Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie hier in Ihren Redebeiträgen immer das Bild an die Wand malen: Na ja, wir reden doch nur über die oberen 0,5 Prozent oder 1 Prozent der Bevölkerung mit einem Vermögen von 1 Million oder von 2 Millionen Euro - es kommt auf die Höhe des Grundfreibetrages an -, die durch eine entsprechende Steuererhebung belastet werden würden. - Ja, glaubt denn irgendjemand von Ihnen, dass es für diejenigen, die ein Vermögen von weniger als 1 Million Euro haben, also unterhalb der Freibeträge liegen, ausreicht, einfach ein Schreiben an das Finanzamt zu schicken: „Liebes Finanzamt, vielen Dank, aber ich kann Ihnen versichern, dass mein Vermögen niedriger ist als das, was zu versteuern ist“? Das wird nicht passieren. Wenn man eine Vermögensteuer einführt, gibt es in Deutschland 82 Millionen potenziell Steuerpflichtige, die jeweils ihre Vermögenssituation darlegen müssen, mit dem entsprechenden Veranlagungsverfahren, mit dem Bewertungsverfahren. Sie nehmen hier einen Bürokratieaufbau vor und belasten die Bürger mit Bürokratie, obwohl Sie - das folgt aus Ihrer eigenen Argumentation - vielleicht nur 0,5 Prozent der Bevölkerung treffen wollen. Ich glaube, das ist auch vor diesem Hintergrund nicht besonders sinnvoll. ({3}) Ich glaube, dass man in der Zeit der höchsten Steuereinnahmen dieses Staates eher darauf achten sollte, sich mit den Steuermitteln, die in dieser Zeit zur Verfügung stehen, auf die Aufgaben zu konzentrieren, die für dieses Land und seine Bürger wirklich wichtig sind. ({4}) Sie sollten in Baden-Württemberg eben nicht Lehrerstellen abbauen und im Gegenzug andere Beamtenstellen aufbauen. Sie sollten in Nordrhein-Westfalen eben nicht verpassen, ausreichend Kinderbetreuungsstätten zu errichten. Sie sollten sich mit dem Geld, das dem Staat momentan aufgrund einer hervorragenden Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung zur Verfügung steht, auf die wesentlichen Punkte konzentrieren: Bildung, steuerliche Entlastung des Mittelstandes, damit sich Arbeit auch wieder lohnt, Schaffung von Arbeitsplätzen. ({5}) Das sind die Herausforderungen für dieses Land. Bitte kommen Sie uns nicht weiter mit der Chimäre einer Vermögensabgabe oder Vermögensteuer! ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Lisa Paus.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Volk, Sie sagen, wir sollten Schulden zurückzahlen. Ich sage: Warum tun Sie es dann nicht? ({0}) Warum bringen Sie in diesem Jahr wiederum einen Haushalt in den Bundestag ein, der eine Nettoneuverschuldung vorsieht? ({1}) Herr Scheuer - Sie sind Staatssekretär im Verkehrsministerium und haben eben eine Zwischenfrage gestellt -, allein das Verkehrsministerium muss in diesem Jahr Mehrausgaben in Höhe von 320 Millionen Euro gewärtigen, weil der Bund an dem Desaster „Flughafen BER“ in Berlin beteiligt ist. Sie sehen Mehrausgaben vor und bauen eben nicht die Verschuldung ab. ({2}) Wir reden seit über einer Stunde über dieses Thema, und ich muss feststellen: Bisher hat es noch keiner von Ihrer Seite gewagt, sich mit unserem Gesetzentwurf konkret auseinanderzusetzen. ({3}) Offenbar ist er so gut, dass Sie sich gar nicht trauen, sich mit der Sache zu beschäftigen. ({4}) - Doch, habe ich; auch Sie haben zu unserem Gesetzentwurf nichts Konkretes gesagt. ({5}) Ich werde Ihnen unseren Gesetzentwurf erklären. Wir legen ihn heute vor, um Schulden tatsächlich abzubauen. Wir wollen eine einmalige Vermögensabgabe, weil wir der Überzeugung sind: Dieses Land braucht endlich eine Antwort auf die Frage: Wer zahlt die Kosten der Krise? ({6}) Wir werben seit 2009 dafür. Die Vermögensabgabe ist das richtige Instrument. Wir freuen uns, dass wir inzwischen nicht mehr alleine sind, sondern dass quer durch die Lager alle - von Attac bis zu Paul Kirchhof, von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Boston Consulting bis hin zur IG Metall - unseren Vorschlag unterstützen, und das ist gut so. ({7}) Es ist einfach richtig, dass der Staat, der in der Krise in Vorleistung gegangen ist, der mit Rettungsschirmen und Konjunkturpaketen die privaten Vermögen vor Entwertung geschützt hat, das Geld von denjenigen einfordert, die davon am stärksten profitiert haben und die deswegen auch einen höheren Beitrag zum Abbau der Verschuldung leisten können. ({8}) Ein Herr Ackermann oder ein Herr Winterkorn von VW mit einem Jahresgehalt von 17 Millionen Euro leben nicht auf einem anderen Planeten, sie leben auf dieser Welt, sie haben einen Wohnsitz in diesem Land, und dieser Staat hat unter anderem auch ihr Vermögen gerettet und sich dafür verschuldet. ({9}) Mit unserem Gesetz wollen wir die Kosten der Krise von bisher geschätzten mindestens 100 Milliarden Euro finanzieren und die daraus entstandenen Schulden tilgen, also Schulden abbauen. Die grüne Vermögensabgabe belastet nicht die Armen und auch nicht den Mittelstand, sondern ganze 330 000 Privatpersonen in Deutschland, das heißt - auch wenn Sie noch so sehr daran herumdeuteln wollen -: 99 Prozent der Menschen in diesem Lande sind nicht betroffen. ({10}) Die wenigen, die unter die Abgabepflicht fallen, haben zehn Jahre Zeit, die Abgabe zu zahlen, jährlich 1,5 Prozent. Wir sagen: Das ist nun wirklich leistbar. ({11}) - Sie müssen aber nicht zahlen, Herr Volk, das wissen Sie. ({12}) Unser Gesetzentwurf sieht außerdem großzügige Verschonungsregelungen für Betriebsvermögen vor. So muss zum Beispiel ein Einzelunternehmer einen jährlichen Gewinn von über 500 000 Euro haben, um in den Kreis der Abgabepflichtigen aufgenommen zu werden. Auch das finden wir hinnehmbar. Durch die grüne Vermögensabgabe wird auch niemand aus diesem Land vertrieben - auch wenn die Kanzlerin etwas anderes behauptet -; denn es zählt der Stichtag 1. Januar 2012. Es gibt also keinen Grund, wegzuziehen; denn auch dadurch kann sich niemand der Abgabe nachträglich entziehen. Es ist vielmehr ein Grund, in diesem Land zu bleiben; denn durch die Schuldentilgung bekommen wir wieder einen handlungsfähigen Staat, der in die Energiewende, in Bildung und in Gerechtigkeit investieren kann. ({13}) Ich komme zum Schluss. Es bleibt noch Ihr Schreckgespenst der Substanzbesteuerung. Das trifft unseren Gesetzentwurf nicht - wenn Sie ihn lesen, werden Sie es feststellen; Sie wissen es eigentlich -; denn durch unsere zusätzliche 35-Prozent-Regelung, die Verschonungsregelung, ist die Substanzbesteuerung von Betriebsvermögen zu 100 Prozent vollständig ausgeschlossen. ({14}) Deswegen können Sie das Gespenst in den Schrank stecken. ({15}) Nehmen Sie die Ergebnisse Ihres Armuts- und Reichtumsberichtes endlich ernst. Unser Gesetz ist mit einfacher Mehrheit in diesem Hause zu beschließen. Schließen Sie sich unserem Gesetzesvorschlag an! Wenn Sie es nicht tun, dann wird es die Bundestagswahl im nächsten Jahr regeln. ({16})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Frank Steffel. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gabriel, Sie haben das dialektisch geschickt gemacht, wie ich fand. Sie haben manche Zusammenhänge hergestellt, die man so, glaube ich, nicht herstellen sollte. Aber natürlich enthielt Ihre Rede vieles, über das wir in diesem Land in der Tat nachdenken müssen und auch nachdenken sollten. Auch für uns geht es - ich sage das in aller Deutlichkeit - um eine permanente Überprüfung von Steuerpolitik und Sozialpolitik sowie um eine kontinuierliche Weiterentwicklung unseres weltweit einmaligen Erfolgsmodells „soziale Marktwirtschaft“. Das ist die Kernfrage. Da müssen wir uns natürlich mit der Frage beschäftigen, wie viel Freiheit wir brauchen, weil das die eine Seite der Medaille, die eine Seite des Erfolgsmodells von Ludwig Erhard ist. Die Freiheit des Individuums fängt bei denen an, die sich die Freiheit herausnehmen, nie zu arbeiten, die wir trotzdem nicht verhungern lassen, die trotzdem eine medizinische Versorgung erhalten, die trotzdem ein Dach über dem Kopf haben. Es geht um die Freiheit von Menschen, mit ihrem Eigentum das zu tun, was sie wollen, in Deutschland oder anderswo. ({0}) - Frau Roth, natürlich geht es auch darum, dass Eigentum verpflichtet. Meine Damen und Herren, über diesen Satz muss in diesem Hause doch niemand ernsthaft streiten. ({1}) Das ist doch selbstverständlich. Wir ringen also um die Frage, wie wir diese soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln. Für uns als CDU/ CSU ist es eine Selbstverständlichkeit, dass starke Schultern deutlich mehr tragen als schwache Schultern. Wer will das angesichts der Fakten in Deutschland denn infrage stellen? Ich will das sehr deutlich sagen: Eine Familie, zwei Erwachsene und zwei Kinder, zahlt in diesem Land bis zu einem Jahreseinkommen von knapp 40 000 Euro nicht einen Cent Lohn- und Einkommensteuer. Weniger als null geht nun mal nicht. ({2}) 10 Prozent der Steuerzahler erbringen 55 Prozent des Lohn- und Einkommensteueraufkommens. 56 Prozent des Bundeshaushalts, der von dieser christlich-liberalen Koalition verantwortet wird, wird für Soziales aufgewendet. Das ist doch der Versuch, die Balance zu wahren. Wir brauchen starke Schultern. Wir müssen diese Menschen, diese Unternehmen motivieren, in Deutschland zu bleiben und zu investieren. Kapital ist leider - das wissen wir - nicht nur ein schwieriges, sondern auch ein sehr scheues Reh. Wenn es woanders Rahmenbedingungen findet, die deutlich besser sind, macht das die Sache nicht leichter. Ich will auch etwas zu dem Spitzensteuersatz sagen. Über den können wir übrigens miteinander ringen. Natürlich müssen wir das immer wieder miteinander tun. Herr Gabriel, Herr Trittin, ich spare mir den Hinweis, dass die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder und Fischer die deutlichste Steuerentlastung der Wohlhabenden in diesem Land im Bereich von Spitzensteuern, Einkommensteuern und Körperschaftsteuern vorgenommen hat. Das war die deutlichste Steuerentlastung für Reiche, die es jemals in der Geschichte der Republik gab. Auch das gehört zur Wahrheit. ({3}) Sie haben das damals auch getan, weil Sie der Auffassung waren, dass wir die Rahmenbedingungen anpassen müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu verbessern. Ich will Ihnen gar nichts anderes unterstellen. Wie hoch ist der Spitzensteuersatz? Das sollten wir gerade den jungen Menschen, die heute zuhören, einmal kurz vorrechnen: Ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent und 3 Prozent Reichensteuer macht 45 Prozent. Jetzt kommt der Solidaritätszuschlag dazu. Damit sind wir bei 47,48 Prozent. 55 Millionen Deutsche sind in einer der großen Kirchen. 61 Prozent der Steuerzahler zahlen Kirchensteuer. Inklusive Kirchensteuer zahlen diese Menschen einen Spitzensteuersatz von 51 Prozent auf ihr Einkommen. Das ist mehr als die Hälfte! Ich will das gar nicht verfassungsrechtlich beurteilen. Ich will nur feststellen: Wenn man hier den Eindruck erweckt, diese Menschen würden wenig oder fast gar nichts zu unser aller Gemeinwohl beitragen, wird man diesen Menschen nicht gerecht, die in der Regel auch von Montag bis Freitag oder von Montag bis Samstag oder von Montag bis Sonntag, wenn ich an manch einen kleinen Mittelständler denke, arbeiten und gerne in diesem Land Steuern zahlen. Auch das gehört zur Wahrheit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte. Gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Kollege Dr. Schick.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Manchmal muss man für die Öffentlichkeit ein bisschen zur Verständlichkeit beitragen. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bemühe mich darum.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte zwei Fragen stellen. Erstens. Wenn der Steuertarif gesenkt worden ist und der Anteil, der von den oberen 10 Prozent gezahlt wird, steigt, heißt das doch, dass sich die Verteilung von Einkommen immer stärker verändert hat und auf wenige Personen konzentriert. Würden Sie mir also zustimmen, dass das Argument, das Sie gebracht haben, zeigt, dass wir dringend etwas für mehr Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland tun müssen? ({0}) Zweitens. Wollen Sie der Bevölkerung vielleicht noch einmal darlegen, wie die Verhandlungen zur Steuerreform verlaufen sind? Die Opposition hatte im Bundesrat einen Steuersatz von weit unter 40 Prozent gefordert, ({1}) und wir als rot-grüne Koalition sind damals mit der Forderung von 45 Prozent in die Verhandlungen eingetreten und haben gesagt: Ein noch niedrigerer Steuersatz wäre unverantwortlich, weil man dann zu viele Schulden machen müsste. Man hat sich dann auf einen Kompromiss von 42 Prozent geeinigt. Die Kritik an der Steuersenkung vonseiten der CDU/CSU ist also ziemlich wohlfeil, weil Sie den Steuersatz damals noch stärker senken wollten. Wir haben das nicht mitgemacht; denn das wäre nicht verantwortungsvoll gewesen. ({2})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schick, ich habe doch eben gesagt: Wir werden in einem Land, in einer Welt, die sich heute noch schneller verändert als in den letzten 60 Jahren - auch das ist eine Lehre der letzten fünf Jahre -, immer darum ringen müssen, wie wir das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln. Das ist, wie ich glaube, eine sehr komplizierte Frage. Übrigens hat dies auch verfassungsrechtlich sehr enge Grenzen. Ich weiß nicht, ob Ihr Vorschlag verfassungsfest ist. Er ist durchaus durchdacht; das muss man fairerweise sagen. Der Vorschlag der Grünen ist - das muss man sagen, egal ob man ihn ablehnt oder gut findet - im Ergebnis relativ durchdacht. Meine Sorge wäre, dass die Freigrenzen den Eindruck erwecken: Hier wird eine Lex, ein Gesetz für eine sehr kleine Minderheit gemacht. Eigentlich ist das nicht im Einklang mit unserer Verfassung. Ich bin kein Verfassungsjurist; das haben mir jedoch Fachleute dazu gesagt. Übrigens, die entscheidende Fragestellung, mit der wir uns beschäftigen müssen, ist: Wählen wir eine Substanzbesteuerung oder eine Ertragsbesteuerung? ({0}) Es ist doch Konsens in diesem Saal, dass jemand, der Wohnungen hat, diese vermietet und Mieterträge hat, auf diese Mieterträge natürlich Steuern zahlen muss. Die Frage ist doch nur: Wie schaffe ich die Anreize, dass immer noch Immobilien gebaut werden, dass Menschen immer noch in Immobilien investieren? Die gleiche Frage stellt sich bei Kapitalerträgen. Wir alle wissen, wie unser Mittelstand, unsere kleinen Unternehmen ächzen, wenn sie 50 Prozent des Jahresgewinns an das Finanzamt abführen müssen, obwohl sie dieses Geld eigentlich gerne im Betrieb investieren würden. ({1}) Gleichzeitig sagen wir alle: Natürlich wollen wir, dass breite Schultern, dass große Vermögen mehr tragen als kleine. Jetzt sind wir bei einer Verfassungsfrage. Das fängt übrigens beim Eigenheim an. Der Großteil des Wohneigentums in Deutschland besteht doch nicht aus Millionen- oder Milliardenvillen, sondern das sind kleine Eigenheime. Deren Besitzer haben sie in der Regel gebaut oder angeschafft, weil sie der staatlichen Rente nicht mehr hinreichend vertrauen, weil sie glauben, dass sie ihr Eigenheim brauchen, damit sie im Alter sorgenfrei leben können. ({2}) Nun müssen wir uns mit der Frage beschäftigen: Gehen wir an die Substanz, oder gehen wir an die Erträge?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich gehe davon aus, dass die Beantwortung der Frage beendet ist. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, bleiben Sie ganz gelassen. - Ich habe mit dem ersten Satz gesagt: Natürlich müssen wir das weiterentwickeln. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich der rot-grünen Bundesregierung von damals unterstelle, dass sie sich bemüht hat, zum Wohle des Wirtschaftsstandortes Deutschland die im historischen Kontext richtige Entscheidung zu treffen. Es gibt ja nicht wenige bei Ihnen, die der Meinung sind, dass sie aufgrund der damaligen Politik der Vater oder die Mutter des jetzigen Aufschwungs sind.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, geben Sie mir die Chance, Sie zu fragen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen.

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte. Gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Manfred Grund.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Es geht in dieser Debatte ja um Vermögen und Einkommen. Es gibt einen Koeffizienten, mit dem die Einkommensverteilung in Volkswirtschaften bzw. Staaten gemessen wird, und zwar einen weltweit anerkannten Koeffizienten. Dieser Koeffizient zur Einkommensverteilung bzw. zur Einkommensgerechtigkeit ({0}) - die Frage, um die es eben ging, betraf die Einkommen hat einen Wert zwischen 0 - gleiches Einkommen - und 1. Bis 2005/2006 ist dieser Koeffizient, was die Situation in Deutschland betrifft, angestiegen. Jetzt meine Frage: Herr Kollege, können Sie bestätigen, dass dieser Koeffizient im Hinblick auf Deutschland seit 2006 stabil bei 0,29 liegt, was bedeutet, dass sich die Einkommensverteilung in Deutschland in den letzten Jahren nicht dramatisch verändert hat?

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese Zahlen und dieser Koeffizient sind in der Tat zutreffend, Herr Kollege. Ich bin für Ihre Frage und Ihren Hinweis dankbar. Ich will diesen Hinweis gern damit verbinden, auf Folgendes hinzuweisen: Da Sie uns ja tendenziell weniger glauben als anderen - das ist in der Politik manchmal so -, mache ich Sie auf den Spiegel von dieser Woche aufmerksam; er wurde schon zitiert. Meine Damen und Herren, die Überschrift eines Artikels im Spiegel, in dem es um Ihre Konzepte geht, lautet: „Jagd auf Reiche“. Der Spiegel kommt zu vielen Ergebnissen, die am Ende übrigens alle das Gleiche zum Inhalt haben: Die geplante Abgabe schröpft nicht nur reiche Müßiggänger, sondern vor allem investierende Unternehmer. ({0}) Sie gefährdet Betriebe, die in der Krise stecken. ({1}) Und sie gilt international als Auslaufmodell. Von den 27 EU-Ländern hat nur Frankreich eine dauerhafte Abgabe … Die Vermögensteuer hat nämlich einen entscheidenden Nachteil: Sie ist unter Finanzbeamten als besonders ineffizient bekannt. Einem geringen Ertrag steht ein hoher Aufwand gegenüber. Jedes Jahr müssen die Behörden den Besitz von Millionären und Firmen bewerten … Maschinen, Häuser, Hallen, Gemälde oder Schmuck. … Am Ende könnte die Vermögensteuer vor allen Dingen ein Beschäftigungsprogramm für Juristen und Steuerberater werden. Vor allem aber belastet sie … Maschinen und Fabriken. Sie belastet die Unternehmerinnen und Unternehmer, die wir in diesem Land ganz dringend brauchen. Das zeigt das Dilemma. Ich rate uns: Lassen Sie uns über die Ertragsteuern diskutieren! Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wir sicherstellen können, dass auch in den nächsten zehn Jahren starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern! Lassen Sie uns über den Sozialstaat diskutieren! Aber wir sollten nicht den komplizierten Versuch unternehmen, die Substanz zu besteuern und jemandem, der ein Gemälde besitzt, sagen: Du musst jetzt jedes Jahr 10 000 Euro zahlen, weil du ein teures Gemälde besitzt. ({2}) Dieser Versuch hört sich schön an, und man kann ihn rhetorisch wunderbar verpacken. Aber er wird die Probleme in Deutschland nicht lösen. ({3}) Ich empfehle uns: Wir sollten über den richtigen Weg diskutieren. Wir dürfen aber keine Neiddebatten oder Missgunstdebatten führen. Erst recht, lieber Herr Gysi, sollten wir nicht solche Modelle befördern, die in Deutschland schon einmal gescheitert sind. Denn eines ist klar: Wir brauchen auch starke Schultern und Investitionen in Deutschland, insbesondere Unternehmen, die investieren, und wir brauchen unseren Mittelstand, wenn wir die Entwicklung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, in den kommenden Jahren fortsetzen wollen. Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert Schindler. Bitte schön, Kollege Norbert Schindler. ({0})

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einen schönen guten Morgen bzw. guten Tag, auch den Gästen auf der Tribüne!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Es ist 12.38 Uhr. ({0})

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Ordnung. Dann sage ich: Guten Tag! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man sich vor Augen führt, wie sehr wir 1997 bei der Abschaffung der Vermögensteuer gerungen haben ({0}) und wie dankbar uns die Finanzbeamten waren, weil die Effizienz dieser Steuer - ({1}) - Alle, die dazwischenrufen, haben davon so viel Ahnung wie eine Kuh vom Eierlegen. Reden Sie mit der Finanzverwaltung vor Ort! Ich muss das einmal so deutlich und treffend sagen. Damals hatten die Bundesländer Einnahmen in Höhe von 4 Milliarden D-Mark, und die Verwaltungskosten betrugen über 2 Milliarden D-Mark. Die Vermögensteuer war die uneffektivste Steuer, die es in dieser Republik jemals gab. Wer war davon betroffen? Erfasst wurden Leute, die ein Vermögen über 120 000 D-Mark hatten. Es war genau wie beim Lastenausgleich; er ist von den Linken heute Morgen ja schon als Modell ins Gespräch gebracht worden. Die Grünen schlagen eine Steuer vor, die, über zehn Jahre verteilt, mit jährlich 1,5 Prozent die Reichsten der Reichen abschöpfen soll. ({2}) - Wenn es nur so wäre, Herr Trittin. Durch all die Ausnahmen, die in Ihrem Gesetzeswerk enthalten sind, wird das komplizierte Verfahren, das es bis 1997 gab, noch viel komplizierter. ({3}) Vergleichen Sie das damalige Gesetz mit Ihrem heutigen Gesetzentwurf! Auf was zielt man ab? Man zielt darauf ab, 200 000 bis 300 000 Leute zu erfassen, von denen man sagt: Das sind die Reichsten der Reichen. Wenn Fußballspieler, bekannte Filmschauspieler oder Industriellenfamilien irgendwo in den Alpenrepubliken einen Wohnsitz haben, dann geht in der medialen Landschaft jeder zur Tagesordnung über; sie werden trotzdem bejubelt. Wenn jemand von uns einen Wohnortwechsel und einen Steuerstandortwechsel vornehmen würde, dann wäre der Teufel los. Ich stelle das nur fest; ich beklage das nicht. Vorhin wurden die Begriffe „Staatsangehörigkeit“ und „Steuerpflicht“ als Argument genannt. Vergessen Sie bitte nicht: Eben diese genannten Personen sind durch die Doppelbesteuerungsabkommen geschützt, die wir mit unseren Nachbarstaaten abgeschlossen haben. Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die linke Seite dieses Hauses mit einer Neidkampagne den Wahlkampf beginnen will. Wer Neid sät, wird Hass ernten. ({4}) - Es ist so. Wer Neid sät, wird Hass ernten. ({5}) Es wird kritisch darauf geschaut, welche Steuereinnahmen wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten. Wir haben - das ist auch schon einige Male gesagt worden; ich muss das wiederholen - kein Problem der Staatseinnahmen - sie sind die besten von allen Seiten -, sondern wir haben ein Problem der Staatsausgaben. Ihre Vertreter in den Ausschüssen fordern, dass die Regierung noch viel mehr für den Sozialbereich und vieles andere ausgeben soll. Gleichzeitig hören wir hier heute in der Fensterdebatte andere Töne. Das passt einfach nicht zusammen. ({6}) Ich sage für die Koalitionsparteien: Das, was wir seit 2008 auch mit dem roten Koalitionspartner, vor allem aber in unserer christlich-liberalen Koalition an kluger Finanzpolitik geleistet haben - auch hinsichtlich der Bankensicherung und der Steuerabkommen mit unseren Nachbarstaaten -, war nicht selbstverständlich. Warum haben wir die Probleme? Die linke Seite hat am Anfang der Debatte durch Herrn Gysi behauptet, wir seien sogar schuld an dem Schlendrian des griechischen Staates. Bei einer solchen Schuldzuweisung trotz unserer guten Regierungspolitik frage ich mich: Wer hat denn hier Fieber in diesem Haus? ({7}) Liebe Barbara, da kriege ich einen dicken Hals. ({8}) Wir sind an allem schuld, auch an der Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, nur weil wir in Deutschland erfolgreich und tüchtig waren, weil wir der größte Nettoeinzahler in der Europäischen Union sind, weil wir den europäischen Gedanken auch bei jeder Nachtsitzung betonen und weil wir den Einspruch des Parlaments zu Hause zu Recht in harte Sparbeschlüsse umsetzen? Wir sind auch daran schuld, dass sie da unten aufgrund der Sünden der Vergangenheit zu Recht demonstrieren? Das ist doch nicht das Ergebnis unserer Politik. Wir haben Deutschland stabil gemacht, nicht nur hinsichtlich der Steuereinnahmen. Wir haben auch die Fähigkeit, die Europäische Union mitzufinanzieren. Welcher Staat in Europa könnte derzeit die Kraft aufbringen, dies so durchzuhalten? ({9}) Das wird auch durch die große Mehrheit in diesem Parlament getragen. Liebe Freunde, Sie fangen pünktlich zum Wahljahr 2013 mit einer Neiddebatte an. Erinnern Sie sich einmal an den Ärger, den die Finanzverwaltung hatte! Nach dem Gesetzentwurf der Grünen ist abgegebenes Vermögen an Dritte vermögensteuerpflichtig. Nur 30 Prozent der Flächen, die die Bauern bewirtschaften, befinden sich noch in ihrem Eigentum. Die restlichen 70 Prozent sind gepachtet. Das heißt aus der Sicht der ländlichen Regionen: All diese Eigentümer belastet ihr in Zukunft mit der Vermögensteuer. Sie müssen erfasst werden, sie werden dann wieder befreit, (Jürgen Trittin ({10}): Die superreichen Bauern! und sie werden alle Jahre wieder kontrolliert. So ergeht es jedem Immobilienbesitzer. Dadurch wird eine Neiddebatte eröffnet, die Sie gerne führen wollen. Durch all die Ausnahmen in Ihrem Antrag, die Sie abwägen, wird er sehr kompliziert. Deswegen könnte man sagen: Er ist durchdacht. Aber er ist in der politischen Richtung verkehrt. ({11}) Im Zusammenhang mit der kalten Progression in unserem Steuersystem - darauf hat Volker Kauder vorhin mit Recht hingewiesen - verweigern Sie sich, den kräftigen Zugriff des Staates bei Lohnzuwächsen zu beenden. Das ist die größte Ungerechtigkeit, die wir seit sechs oder sieben Jahren haben. ({12}) Sie sind nicht bereit, hier zu mehr Gerechtigkeit beizutragen. Nein, Sie wollen ablenken und sprechen stattdessen ein anderes Thema an. ({13}) Leute, das werden wir seitens der Koalition mit Erfolg verhindern. Deswegen ist das Thema Vermögensteuer in Deutschland erledigt. Es muss auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten erledigt bleiben, sonst hätten wir mit der Einführung einer neuen Steuer für noch mehr Steuerungerechtigkeit gesorgt. Diesen Vorschlag werden die Wählerinnen und Wähler in einem Jahr mit Sicherheit entsprechend quittieren. Danke schön. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Norbert Schindler. - Letzte Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Bettina Kudla. Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Bettina Kudla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004084, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich als letzter Redner der Debatte ({0}) hier noch einmal die wichtigen Punkte zusammenfassen. Uns liegen zwei Vorschläge vor: ein Gesetzentwurf von der Fraktion der Grünen und ein Antrag von der Fraktion der Linken. Der Gesetzentwurf der Grünen wird damit begründet, man wolle die hohen Staatsschulden tilgen. In dem Gesetzentwurf wird auf den Anstieg der Staatsschulden in den letzten Jahren verwiesen, auch aufgrund der Finanzkrise und der Konjunkturprogramme. Wohlgemerkt: Die Einzahlungen in den ESM werden beispielsweise nicht erwähnt. ({1}) In dem Gesetzentwurf wird auch eine Parallele zum Lastenausgleich gezogen; das wurde mehrfach angesprochen. Die Grünen wissen hier offenbar recht wenig von der Geschichte. ({2}) Offenbar wollen Sie auch nichts davon wissen. Deswegen sind Sie stets gegen die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. ({3}) Der Vergleich mit dem Lastenausgleich ist hier einfach nicht zutreffend. Den damaligen Lastenausgleich hat die gesamte deutsche Bevölkerung getragen, nicht nur ein kleiner Teil der Menschen, obwohl es der Bevölkerung damals sehr schlecht ging. ({4}) Schließlich muss man feststellen, dass die Staatsschulden seit Jahrzehnten unter Regierungen jeder Couleur erhöht wurden, allerdings unter den CDU-geführten Regierungen wesentlich geringer als unter den rot-grüngeführten Regierungen. ({5}) Was den Bundeshaushalt betrifft - das hat Bundesfinanzminister Schäuble vergangene Sitzungswoche eindrucksvoll dargelegt -: Das riesige Finanzloch von Peer Steinbrück aus dem Jahr 2008 mit 100 Milliarden Euro ist auf ein sehr kleines Finanzloch geschrumpft. ({6}) - Herr Trittin, zu Ihren Zwischenrufen kann ich jetzt nur sagen: Als Sie vorher über Finanzen gesprochen haben, musste ich an Atomkraft denken. ({7}) Eigentlich habe ich nicht an Atomkraftwerke gedacht, sondern an den Super-GAU. Bleiben Sie bei den Themen, die zu Ihnen passen! ({8}) Zum Antrag der Linken. Die Linken nehmen Bezug auf den Armutsbericht der Bundesregierung und fordern eine Enteignung vermögender Personen im Rahmen einer Vermögensabgabe. In beiden Vorschlägen wird die Einführung einer Vermögensteuer von 1,5 bzw. 5 Prozent gefordert. ({9}) Lassen Sie mich auf drei Schwerpunkte eingehen: Erstens. Löst eine Vermögensabgabe die Probleme der öffentlichen Haushalte? ({10}) Zweitens. Was sind die Folgen einer Vermögensabgabe und einer zu hohen Besteuerung? Drittens. Ein paar Ausführungen zum Armutsbegriff: Wie wird der Armutsbegriff eigentlich verwendet? Zum Ersten, der Vermögensabgabe: Kann man die öffentlichen Haushalte sanieren, indem man nur an der Einnahmenschraube dreht? Antwort: ein klares Nein. ({11}) Die Sanierung eines öffentlichen Haushaltes allein über die Einnahmenseite ist nicht möglich. Sobald es höhere Einnahmen gibt, steigen die Ausgabenwünsche. Hier zeigt sich auch die fehlende Logik der Anträge der Fraktionen der Grünen und der Linken. Wenn Sie die Mehreinnahmen wirklich zur Schuldentilgung verwenden wollten, dann dürften Sie doch nicht permanent gegen die Schuldenbremse wettern. ({12}) Die Sanierung der öffentlichen Haushalte - auch das haben die Redner betont - kann nur durch strukturelle Maßnahmen auf der Ausgabenseite erreicht werden. Dem Bundeshaushalt geht es auch deswegen besser, weil der Ausgabenanstieg gestoppt werden konnte. ({13}) Verbunden mit höheren Einnahmen aufgrund von Wirtschaftswachstum wurde durch eine umsichtige Politik unserer Bundesregierung der Weg der Konsolidierung gestärkt. Der Bundeshaushalt erfüllt die verfassungsmäßigen Vorgaben der Schuldenbremse, ({14}) und im Rahmen des Fiskalvertrages sind auch die anderen europäischen Länder gehalten, eine Trendumkehr in ihrer Haushaltspolitik einzuleiten. Zum Zweiten. Was wären die Folgen einer übermäßigen Steuerbelastung? Würden die Bürger übermäßig durch eine Vermögensabgabe belastet, ({15}) würde der Schutz des Eigentums, den unser Grundgesetz garantiert, infrage gestellt. Dann würden die wohlhabenden Bürger ihren Wohn- oder Firmensitz eben ins Ausland verlegen. Das sieht man jetzt schon bei Spitzensportlern, Schauspielern und bedeutenden Unternehmern. Die Leistungen dieser Menschen würden in unserem Land fehlen. Gerade ihre Beiträge zu Wohlstand und sozialer Sicherung wären im Inland gefährdet. Dies hat auch der Kapitalabfluss, der in den vergangenen Jahren in Deutschland besonders stark war, gezeigt. Zum Dritten. Nun noch ein paar Sätze zum Armutsbegriff: Geld ist für den Bürger immer knapp. Jemand, der SGB II bezieht, muss sicherlich jeden Euro zweimal umdrehen, bevor er ihn ausgibt. Das gilt aber für einen Familienvater, der 2 000 Euro brutto durch seine eigene Arbeitskraft verdient, vermutlich auch. ({16}) Aber man muss auch sehen, dass über 50 Prozent des Bundeshaushaltes für Sozialleistungen ausgegeben werden. Der Mensch steht in der Politik der Bundesregierung im Vordergrund, ({17}) aber das System an sich muss funktionieren. Der Armutsbegriff wird einfach am verfügbaren Haushaltseinkommen festgemacht. Dabei wird keine Unterscheidung getroffen, ob es sich um ein Arbeitseinkommen oder um ein Transfereinkommen handelt. Soziale Errungenschaften, zum Beispiel dass jemand, der - aus welchen Gründen auch immer - kein eigenes Arbeitseinkommen hat und trotzdem sein Leben lang krankenversichert ist, blenden Sie in Ihren Anträgen völlig aus.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wenn Sie bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin. ({0})

Bettina Kudla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004084, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Gleiche gilt beispielsweise für die Grundsicherung, welche die Menschen, die keine eigene Rente erwirtschaften konnten, ihr Leben lang absichert. Ziel unserer Politik muss immer sein, die soziale Ausgewogenheit weiterhin zu erhalten. Vielen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/10770 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10778 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen die Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Die Linke wünscht die Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei- sungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Feder- führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt für diesen Überwei- sungsvorschlag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind alle anderen Fraktionen des Hauses. Enthaltungen? - Keine. Somit ist der Überwei- sungsvorschlag abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs- vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? - Das sind alle anderen Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 47 a bis 47 g und 47 i bis 47 r sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf: 47 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen - Drucksache 17/10486 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- rung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivil- prozess - Drucksache 17/10490 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister und zur Änderung anderer Gesetze - Drucksache 17/10749 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 17/10750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Innenausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Groß- herzogtum Luxemburg zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu- ern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/10751 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem König- reich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Vizepräsident Eduard Oswald Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Drucksache 17/10752 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/10753 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die weitere Bereinigung von Übergangsrecht aus dem Einigungsvertrag - Drucksache 17/10755 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Globa- len Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt über den Sitz des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt - Drucksache 17/10756 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwi- schen der Europäischen Union und ihren Mit- gliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits - Drucksache 17/10757 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Freihandelsabkommen vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits - Drucksache 17/10758 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Rechtsausschuss m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung ({5}) Nummer 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euroraums - Drucksache 17/10759 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung n) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes und der Schiffsregisterordnung - Drucksache 17/10772 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln - Drucksache 17/9426 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Koch, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausbau des Truppenübungsplatzes Altmark sofort stoppen - Colbitz-Letzlinger Heide zivil nutzen - Drucksache 17/10684 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({9}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für einen wirksamen Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der Europäischen Union und in Deutschland - Drucksache 17/10786 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({10}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsident Eduard Oswald r) Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über den Vollzugsaufwand bei der Gewährung von Unterhaltsvorschuss und Wohngeld an Kinder mit Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende - Drucksache 17/10322 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({11}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 4a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens ({12}) für die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte - Drucksache 17/10760 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({13}) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken - Drucksache 17/10787 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({14}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit machen für die Kooperation mit fragilen Staaten - Drucksache 17/10791 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({15}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Bas, Angelika Graf ({16}), Dr. Marlies Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichheiten beseitigen - Versorgungslücken schließen - Drucksache 17/9059 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({17}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10322 - Tagesordnungspunkt 47 r - soll federführend beim Haushaltsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 48 a bis 48 m auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 48 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Statistik im Produzierenden Gewerbe - Drucksache 17/10493 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({18}) - Drucksache 17/10850 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({19}) Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10850, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10493 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? Keine. Stimmenthaltungen? - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 b: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Vizepräsident Eduard Oswald eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Bermuda über den Auskunftsaustausch in Steuersachen - Drucksache 17/10043 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Montserrat über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/10044 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({20}) - Drucksache 17/10847 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Lothar Binding ({21}) Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 3. Juli 2009 mit der Regierung von Bermuda über den Auskunftsaustausch in Steuersachen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10043 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 28. Oktober 2011 mit der Regierung von Montserrat über die Unterstützung in Steuer- und Strafsachen durch Informationsaustausch. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10044 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Das sind die Fraktion von Bündnis 90/ Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({22}) zu der Verordnung der Bundesregierung Vierundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 17/10542, 17/10707 Nr. 2.1, 17/10851 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10851, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/10542 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber die Gegenprobe! - Keine. Stimmenthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 48 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 463 zu Petitionen - Drucksache 17/10671 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 463 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 464 zu Petitionen - Drucksache 17/10672 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Keiner. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 464 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 465 zu Petitionen - Drucksache 17/10673 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/ Die Grünen. Sammelübersicht 465 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 466 zu Petitionen - Drucksache 17/10674 23388 Vizepräsident Eduard Oswald Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 466 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 467 zu Petitionen - Drucksache 17/10675 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 467 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 468 zu Petitionen - Drucksache 17/10676 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 468 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 469 zu Petitionen - Drucksache 17/10677 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 469 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 470 zu Petitionen - Drucksache 17/10678 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Somit ist Sammelübersicht 470 angenommen. Tagesordnungspunkt 48 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 471 zu Petitionen - Drucksache 17/10679 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/ Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Sammelübersicht 471 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 48 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 472 zu Petitionen - Drucksache 17/10680 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 472 ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zum Zusatzpunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der CDU/CSU und FDP Das Wort als Erster in unserer Aktuellen Stunde hat für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Thomas Oppermann. Bitte schön, Kollege Thomas Oppermann. ({33})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Vor drei Wochen hat die Bundesregierung das Euro-Krisenmanagement an die Europäische Zentralbank abgetreten. Seitdem muss sich die Bundesregierung wieder mit innenpolitischen Fragen befassen. Das staunende Publikum stellt fest: Nichts hat sich verändert. Überall herrscht Streit. Egal ob Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn oder Rente, ({0}) in keinem Bereich kann diese Regierung sich einigen. In allen wichtigen innenpolitischen Fragen ist diese Bundesregierung handlungsunfähig. ({1}) Frau von der Leyen will die Quote. Frau Schröder lehnt sie ab. Frau Schröder hat einen Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld vorgelegt, den sie selber eigentlich gar nicht will. Frau von der Leyen hat dagegen eine Rentenreform vorgelegt, die aber die Kanzlerin verhindern will. Die Kanzlerin hofft dabei auf die Unterstützung von Herrn Rösler. Der ist aber damit beschäftigt, gegen die Energiewende, gegen das Betreuungsgeld und gegen den Reichtums- und Armutsbericht zu kämpfen. So wird das nichts, meine Damen und Herren. ({2}) In dieser Regierung kämpf jeder gegen jeden, und niemand kümmert sich darum, die Probleme in diesem Lande zu lösen. Der vergangene Freitag war ein schwarzer Freitag für diese Bundesregierung. Mehrere Ministerpräsidenten haben im Bundesrat den Aufstand gewagt. Sie wollen sich nicht mehr mit dem Stillstand abfinden. Sie spüren genau: Die Zeit dieser Regierung läuft ab. Sie haben gemerkt, dass die Bevölkerung hinter den Forderungen der Opposition steht. ({3}) - Lachen Sie nur, Sie werden dafür noch die Quittung bekommen. ({4}) 76 Prozent der Bürger sind für den gesetzlichen Mindestlohn. 69 Prozent sind gegen das Betreuungsgeld. 56 Prozent der Frauen befürworten eine Quote in den Aufsichtsräten und Vorständen von Unternehmen. Deshalb, meine Damen und Herren, haben einige CDU-Ministerpräsidenten bei Mindestlohn und Frauenquote gegen Frau Merkel gestimmt. Sie handeln nach dem Motto: Rette sich, wer kann! Die Kanzlerin muss jetzt die Abtrünnigen zu einem Krisengipfel einladen. Ich glaube nicht, dass das hilft. Wer übrigens glaubt, dass es nicht schlimmer als am letzten Freitag, diesem schwarzen Freitag kommen konnte, der sieht sich getäuscht. Es kam noch schlimmer. ({5}) Nach dem schwarzen Freitag folgte der Knall am Montag. Die FDP sabotiert das Betreuungsgeld. ({6}) In dieser Koalition funktioniert nichts mehr, weil jeder nur noch an sich selber denkt. ({7}) Obwohl diese Koalitionspartner, diese drei Koalitionsparteien eigentlich miteinander fertig sind, haben Sie noch ein gemeinsames Interesse, das sie verbindet: ({8}) Sie wollen den Machterhalt in den letzten zwölf Monaten dieser Wahlperiode sichern. Deshalb beginnt in diesen Tagen ein großer Kuhhandel. Die FDP sagt: Wir halten das Betreuungsgeld für grundfalsch, wir lehnen es entschieden ab, aber wir würden zustimmen, wenn wir dafür eine extra Gegenleistung bekämen. ({9}) Es wird über die Reduzierung des Soli und über die Streichung der Praxisgebühr verhandelt. Herr Kauder hat schon die Währungseinheit dieser Verhandlungen in ein oder zwei Porsche Cayenne definiert. Ich weiß gar nicht, was im Augenblick der Kurs bei Ihnen, Herr Kauder, ist. ({10}) - Kamele, genau, das glaube auch ich, aber davon haben Sie selber in der Fraktion genug. Damit sind Sie reich gesegnet. ({11}) Im Ernst: Die Gegenleistung mag noch so bedeutend sein, ({12}) das falsche Betreuungsgeld wird doch dadurch nicht richtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({13}) Es bleibt doch dabei, dass das Betreuungsgeld der Rückmarsch in das Familien- und Frauenbild der 50er-Jahre ist. Ich will hier nicht gegen den Kompromiss reden. Der Kompromiss gehört zur Demokratie. Der Kompromiss ist eine demokratische Tugend, aber der Kompromiss muss aus der Sache heraus begründet sein. Was Sie hier vorhaben, ist ein sachfremder Kuhhandel nach dem Motto „Schenkst du meiner Tante etwas, kriegt auch deine Tante etwas“. ({14}) So machen Sie Politik. Sie sind jetzt drei Jahre an der Regierung. Das ist die peinlichste Regierung, die das demokratische Deutschland je hatte. ({15}) Dazu gibt es eine gute Nachricht: In zwölf Monaten ist die Zeit dieser Regierung abgelaufen. Und es gibt eine schlechte Nachricht: Jeder Tag bis dahin ist ein verlorener Tag für Deutschland. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer das Wort. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele von Ihnen erinnern sich sicherlich an das Buch Momo von Michael Ende und den darin beschriebenen Kampf gegen die Zeitdiebe. Die grauen Männer von heute, die uns die Zeit stehlen wollen, ({0}) kommen gerade von der SPD. ({1}) Anstatt mit uns darüber zu diskutieren, was die wirklichen Probleme des Landes sind und wie wir sie lösen können, versuchen Sie, eine Show zu initiieren. Doch für Show fehlt uns die Zeit. Die Lösung der Probleme, die dieses Land hat, gerade im internationalen Kontext, ist zu wichtig. ({2}) Deswegen werden wir diese Debatte auch nicht unnötig verlängern. Ich denke, das ist gut für unser Land. ({3}) Wir nehmen die Verantwortung wahr, die uns die Menschen mit der Wahl aufgegeben haben. Wir werden diese für Deutschland bis zum Ende der Legislaturperiode und gern auch darüber hinaus mit Freude tragen. ({4}) Es gibt zum heutigen Zeitpunkt kaum einen anderen Ort auf der Welt, an dem die Menschen sicherer und mit größerer Stabilität leben können, als die Bundesrepublik Deutschland. Dass das so ist, das hat diese Koalition, das hat diese Regierung maßgeblich mitzuverantworten. ({5}) Wir werden auch in Zukunft um die Bewältigung der großen Herausforderungen für dieses Land ringen. Wir werden auch über Themen wie Betreuungsgeld, Frauenquote, Mindestlohn ernsthaft debattieren, ({6}) und zwar nicht in einer Aktuellen Stunde mit der Dauer von einer Stunde, sondern in einer breiten Diskussion. Denn das sind Themen, die die Gesellschaft bewegen, die in jeder Familie, die bei den Gewerkschaften, die an den Stammtischen ({7}) und die natürlich auch in den politischen Parteien intensiv und auch kontrovers diskutiert werden. Es wäre schlimm, wenn über solche Themen nicht diskutiert werden würde, wenn es nur eine Einheitsmeinung geben würde; denn das würde bedeuten, dass es keine Ideen, keinen Diskurs gibt. Aber gerade das macht die Demokratie aus: dass es einen Streit um die besten Ideen gibt. ({8}) Streit in der Sache ist das eine; das bringt uns voran. Zerrissenheit in einer Partei in Personalfragen ist das andere. Genau das erleben wir bei der SPD: Sie kann sich nicht einigen, mit welcher von drei Personen sie bei der nächsten Bundestagswahl antreten will. Bei den Grünen sind es sogar 15 Personen, die für eine Spitzenkandidatur gegeneinander kämpfen, nach dem Motto: „Wer sind wir und wenn ja, wie viele?“ Meine Damen und Herren, so wird es nichts! Deshalb gehen wir mit Freude in die Diskussion über die angesprochenen Themen und an die Arbeit im kommenden Jahr. Wir freuen uns auf eine Bundestagswahl, bei der wir darum ringen, unseren Kurs fortzusetzen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Yvonne Ploetz das Wort. ({0})

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erbärmlich, welches miserable Bild die Bundesregierung abgibt. Das schreibt das Westfalen-Blatt. Und weiter: Das einstige Wunschbündnis hat schon jetzt den Eintrag in die Geschichtsbücher als „schwarz-gelbe Koalition des Dauerstreits“ sicher. Sehr treffend, wie ich finde. Aktuell streiten sie sich wieder um das Betreuungsgeld. Gerade dieses Thema ist beispielhaft für das, was ich gleich ausführen werde: Sie schaffen es nämlich nur noch mit den größten Anstrengungen gegen gesellschaftliche Stimmungen, gegen rebellierende Bürgerinnen und Bürger und jetzt auch gegen den Widerstand des Bundesrats zu regieren - auch wenn Sie es immer wieder versuchen. Wir kommen nun zum Versagen der Bundesregierung, belegt an vier Beispielen. Erstens: das Meldegesetz. Der Aufschrei war groß, als der Bundestag bzw. das, was von ihm noch übrig war, eine Neufassung des Meldegesetzes beschlossen hatte. Hier passierte das, was wir von der Koalition schon seit Monaten oder Jahren geboten bekommen: Sie legt einen Entwurf vor, streitet, streitet, wartet ein bisschen, streitet noch einmal, um irgendwann die Änderung des Entwurfs oder die Änderung der Änderung des Entwurfs durch den Bundestag zu peitschen. So war es auch beim Meldegesetz. Es gab einen Änderungsantrag, mit dem Sie den Datenschutz in den Meldeämtern de facto abschaffen wollten. Wie Sie die Daten der Menschen an den prächtig blühenden Adresshandel zu Werbezwecken verhökern wollten, ist an Dreistigkeit wirklich nicht zu überbieten. ({0}) Heute tut CSU-Ministerin Aigner so, als habe sie damit nichts zu tun. Angela Merkel wünscht sich Überarbeitungen durch den Bundesrat, und die einstige Bürgerrechtspartei FDP ist ein Totalausfall. ({1}) Was ist passiert? Ihr Gesetz traf nach der Verabschiedung hier im Haus auf die gesellschaftliche Realität und auf den weit verbreiteten Wunsch nach Datenschutz, neuerdings auch auf den Widerstand im Bundesrat und auf rebellierende Bürgerinnen und Bürger. Sie macht das nervös; mich macht der Widerstand unglaublich stolz. ({2}) Nächstes Thema: Frauenquote. Bis heute sind Männer ein bisschen gleichberechtigter: mehr Geld, mehr Aufstieg, mehr Aufsichtsrat. Nachdem Sie alle von uns hier im Bundestag gestellten Anträge abgeschmettert haben, hat nun die Hamburger SPD einen Antrag in den Bundesrat eingebracht, in dem es um eine 40-prozentige Quote für Frauen in Aufsichtsräten geht, und sie hat die Unterstützung von einem CDU-Ministerpräsidenten und einer CDU-Ministerpräsidentin bekommen. Und damit auch gleich zu den Happenings hier in der Koalition rund um die Quotendebatte: Frauenministerin Schröder darf mit ihrer Flexi-Quote schon lange nicht mehr mitspielen, und das ist auch gut so. Volker Kauder mahnt panisch zur Geschlossenheit, und die Unionsfrauen im Bundestag drängen auf eine Abstimmung ohne Fraktionszwang, damit die Abgeordneten ihrem frauenpolitischen Gewissen folgen können. Liebe Unionsfrauen, bei solchen Bitten zucke ich innerlich immer zusammen. Stehen Sie doch einfach einmal zu Ihrer Meinung! ({3}) Aber was bringt Sie so ins Schleudern? Es ist, dass immer mehr Menschen der Meinung sind, dass Frauen in Kontrollgremien wichtig sind, zum einen, weil es geschlechtergerecht ist, und zum anderen, weil sie darüber vielleicht auch andere Frauen motivieren und fördern können. Es gibt immer mehr Menschen, die für die Quote streiten, und der Bundesrat beschließt sie einfach. Schwarz-Gelb ist verdutzt; mir zaubert es ein Lächeln auf die Lippen. Nun eiert die Koalition beim Betreuungsgeld herum, das bekanntermaßen bis heute wirklich niemand will. Für eine Zustimmung fordert die FDP Gegenleistungen von der Union: Dabei könne es zum Beispiel um die Abschaffung der Praxisgebühr gehen. Nichts gegen die Abschaffung der Praxisgebühr; aber es ist unfassbar, wie tief Ihre Schamgrenze ist. Dieses unwürdige Geschacher rund um das Betreuungsgeld ist wirklich für niemanden mehr zu ertragen. ({4}) Der FDP-Haushaltspolitiker Koppelin sagte vor drei Tagen, das Betreuungsgeld sei nur ein „Steckenpferd von Herrn Seehofer und ein, zwei anderen“. Ich will festhalten: Steckenpferde sind tot, so tot wie dieses Projekt. Also steigen Sie endlich von Ihrem toten Gaul ab und investieren Sie das Geld in den Ausbau der Kitabetreuung! ({5}) Abschließend haben wir noch die abstrusen Vorgänge rund um den Armuts- und Reichtumsbericht: Da legt von der Leyen einen Entwurf vor, der belegt: Die Reichen werden reicher, die Armen rutschen immer mehr ab. Und: Nötig wäre eine höhere Besteuerung von Millionärsvermögen. Diese Passage treibt Philipp Rösler auf die Barrikaden. Er verweigert dem Bericht einfach seine Zustimmung. Man staunt wirklich nicht schlecht, wie der Lobbyismus Sie vor sich her treibt. Dennoch: Wissen Sie, was mich auch hier wieder freut? Die Rebellion der Bürgerinnen und Bürger steht bereits in den Startlöchern. Spätestens die Kampagne „UmFAIRteilen“ wird den Frust über die krassen Ungerechtigkeiten, die Sie hier alle mit zu verantworten haben - SPD, Grüne, Union und FDP -, auf die Straße bringen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Nicole Bracht-Bendt. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Ploetz, ich gehöre zu den Frauen, die auch ohne Freigabe des Fraktionszwanges zu ihrer Meinung stehen. Es wird Ihnen vielleicht nicht so gefallen, wie ich zur Quote stehe; aber ich habe eine Meinung. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie alle wissen, dass es bei uns zu wenige Frauen in Führungspositionen in Unternehmen gibt. Niemand streitet ab, dass in der Vergangenheit viele Spitzenjobs in Männerrunden gekungelt wurden. Ich frage mich aber, warum gerade jetzt der Streit um die Einführung einer Frauenquote so eskaliert und diese Quote schließlich auch im Bundesrat eine Mehrheit findet. ({0}) Der Ruf nach dem Gesetzgeber wird ausgerechnet zu einem Zeitpunkt immer lauter ({1}) - hören Sie bitte einmal zu -, an dem endlich Bewegung in die Sache gekommen ist. Laut der Beratungsgesellschaft Egon Zehnder International spiegelt sich das auch in ganz aktuellen Zahlen wider. Untersucht wurden rund 350 der größten europäischen Unternehmen in 17 Ländern. Die dabei befragten 41 deutschen Unternehmen hatten zwischen Mai 2011 und Mai 2012 insgesamt 81 Führungsposten neu zu besetzen, von denen 41 Prozent an Frauen gingen. Das ist zwar in der Tat ausbaufähig, aber der Trend ist eindeutig. Im Übrigen liegt Deutschland damit über dem europäischen Durchschnitt. Demnach wurden rund 33 Prozent der vakanten Positionen mit Frauen besetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen Sie doch einmal mit Personalberatern. Sie werden Ihnen bestätigen, dass ihre Kunden explizit Kandidatinnen suchen. Als überzeugte Quotengegnerin kann ich der öffentlichen Debatte über eine Frauenquote aber dennoch etwas Positives abgewinnen: ({2}) Die Unternehmen sind sensibilisiert. Mittlerweile gilt es doch als imagefördernd, Frauen im Vorstand zu haben. Hinzu kommt: Frauen machen heute durchschnittlich bessere Universitätsabschlüsse. ({3}) Auch das ist den Unternehmen natürlich nicht entgangen. Insofern gibt es aus meiner Sicht keinen Grund für eine staatliche Reglementierung. Die FDP setzt auf Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Die Telekom hat es vorgemacht. Mit einer selbst auferlegten Frauenquote für Führungspositionen kann man wunderbar als attraktiver Arbeitgeber punkten. Ich möchte nun auf die mittelständischen Unternehmen zu sprechen kommen. Was in DAX-Unternehmen noch eher die Ausnahme ist, ist in mittelständischen und familiengeführten Unternehmen heute schon fast selbstverständlich: Der Anteil leitender Mitarbeiterinnen und Geschäftsführerinnen ist dort mit über 20 Prozent wesentlich höher als in börsennotierten Unternehmen. Deshalb bin ich dafür, dass die Frauenpolitik, statt weiter über eine Quote für die vergleichsweise kleine Zahl an Vorständen und Aufsichtsratsposten zu streiten, ({4}) wieder die wirklich wesentlichen Punkte in den Fokus nehmen sollte. ({5}) Erstens möchte ich noch einmal klarstellen: Der Staat hat kein Recht, die Wirtschaft zu dirigieren. ({6}) Und Frau Reding hat schon einmal gar kein Recht, sich in die Belange deutscher Wirtschaft einzumischen. ({7}) Das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen. Ich finde Frau Redings Einmischungen unerträglich. ({8}) Zweitens ist es Aufgabe des Staates - das ist für mich als frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion das Entscheidende -, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Das beginnt schon im Kleinkindalter. Wir sind uns alle einig: Die gläserne Decke muss weg. Aber hierbei hat sich der Staat herauszuhalten. Hier ist, wie gesagt, nicht der Staat, sondern hier sind die Tarifpartner in der Pflicht. ({9}) Die Aufsichtsräte und Vorstände, aber auch die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren nicht genügend Frauen im mittleren Management auf Führungsaufgaben vorbereitet. In anderen Ländern gibt es viel mehr Nachwuchsprogramme in den Unternehmen. Kreativität ist vonnöten - überall. Nächstes Jahr werden viele Aufsichtsratsmandate und Vorstandsposten neu zu besetzen sein. Ich bin optimistisch, dass bis dahin die Unternehmen nach vollmundigen Ankündigungen auch Taten folgen lassen. ({10}) Die FDP-Fraktion sieht jedenfalls keinen Anlass, von ihrer Position abzurücken. Wir lehnen eine staatliche Einmischung als unverhältnismäßigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Wirtschaft ab. Wenn Ergebnisgleichheit wichtiger als Rechtsfreiheit ist, dann ist das Planwirtschaft, und das werden wir auf jeden Fall verhindern. Ganz herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Renate Künast das Wort. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Lindner. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist irgendwie schon eine ganz tolle Art seitens der Koalition, eine solche Debatte ernst zu nehmen. Herr Kretschmer erzählt hier über die grauen Männer, die uns die Zeit stehlen. Ich sage einmal: Herr Kretschmer, Sie im dunkelblauen Anzug haben diesem Land drei Jahre gestohlen. Das ist noch viel schlimmer. ({0}) Da stellt er sich hier hin und sagt, natürlich würden er und die anderen ernsthaft über Quoten und über die Situation von Kindern diskutieren. Gucken Sie doch einRenate Künast mal auf die Zettel auf Ihren Plätzen, wer in dieser Aktuellen Stunde überhaupt Redezeit angemeldet hat! Drei mögliche Redebeiträge seitens der CDU/CSU-Fraktion sind gar nicht angemeldet; Sie nehmen 15 Minuten Redezeit gar nicht wahr. Warum denn? Weil sich bei Ihnen außer Herrn Kretschmer keiner traut, oder wie? ({1}) Oder weil Sie keine Frau finden, die sagt, ich stelle mich hier oben hin und erkläre die unsinnige schwarz-gelbe Politik? Herr Kretschmer, wahr ist: Sie haben es drei Jahre lang zerredet. Sie haben drei Jahre lang die Sorgen der Menschen in diesem Land überhaupt nicht wahrgenommen, weder die Sorgen im Alltag noch die Situation in diesem Land. Frau Bracht-Bendt, ich habe meine Schublade aufgezogen und bin fast geneigt, Ihnen von der FDP das Grundgesetz, mein Grundgesetz, zu geben, nachdem Sie sagten, der Staat habe kein Recht, sich einzumischen. In meinem Grundgesetz, Art. 3 - Gleichheit vor dem Gesetz - Abs. 2, steht: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. ({2}) Erstes Semester bei der Ausbildung von Juristinnen und Juristen: Sie haben eine Pflicht. Daraus leitet sich eine staatliche Pflicht ab. Frau Reding leitet ihre Zuständigkeit aus der Zuständigkeit für den Arbeitsmarkt ab. So einfach ist das, meine Damen und Herren. Sie hat festgestellt, dass quer durch Europa Frauen und Männer am Arbeitsmarkt nicht gleichgestellt sind. Wir blicken auf drei Jahre ganz großes Kino zurück: Erst kommt Frau Schröder und sagt: Flexi-Quote, so ein bisschen, die Wirtschaft macht das schon selber. - Wir gucken und gucken und sehen nichts. Dann kommt Frau von der Leyen, breitet die Arme weit aus - eine typische Handbewegung - und ({3}) erzählt uns etwas. Früher hat sie uns erzählt: Jedes Kind in Deutschland wird eine Chipkarte haben. Mit dieser Chipkarte wird das Mittagessen, der Sport, der Musikunterricht und vieles andere bezahlt. - Fragen Sie doch einmal, wer eine Chipkarte hat. Keiner hat eine Chipkarte. Die meisten haben aber auch keinen Nachhilfeunterricht. So machen Sie Politik. Genau so reden Sie über die Quote. Die eine so, die andere so. Was kommt dabei heraus? Gar nichts kommt dabei heraus. Die Eltern in diesem Land, die wenig Geld haben, fragen sich: Wo ist die gute Ausbildung mit individueller Förderung für mein Kind? Gerade die Eltern mit wenig Geld fragen sich: Wird der Nachhilfeunterricht in Mathe für mein Kind bezahlt, oder wird er in der Schule durchgeführt? Null. Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer fragen: Kann ich bei einem Vollzeitjob von meinem Lohn leben? Die Antwort wäre: Mindestlohn. Sie sagen gar nichts. Frauen fragen sich: Kann ich erwerbstätig sein? Wo ist die Betreuung meiner Kinder möglich? Sie sagen am Ende auch nichts dazu; denn Sie haben mit Herrn Röttgen voran in der Föderalismuskommission dem Bund quasi verboten, den Kommunen Geld für die Bildung zu geben. Das alles ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ob Frauenquote, Bildung, Mindestlohn oder Betreuungsgeld: Es wird immer ein großes Theater gemacht, aber für die Menschen kommt dabei nichts, gar nichts heraus. ({4}) Deshalb verstehe ich, dass auch den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der CDU/CSU so langsam die Sicherungen durchbrennen und sie sagen: Das lassen wir nicht mehr zu. Ich verstehe, dass Frau Merkel die Gefolgschaft von Frau Kramp-Karrenbauer und von Herrn Haseloff versagt wird, zum Beispiel als es um die Abstimmung über den Hamburger Antrag auf Einführung einer Frauenquote ging. Ich sage Ihnen noch eines ganz klar: Nicht wir Frauen müssen begründen, warum Frauen, die gut ausgebildet und eine Berufsqualifikation haben, in die Vorstände und Aufsichtsräte wollen. Nein, wir leben im Jahr 2012. Vor dem Hintergrund des genannten Grundgesetzartikels müssen die Männer erklären, warum die Vorstände und Aufsichtsräte ein letzter Ort reiner Männerherrlichkeit sein sollen. Sie können es nicht begründen. ({5}) So wird ein Schuh daraus. Ich erwarte, dass sich dieser Bundestag damit auseinandersetzt. Wenn Sie sich nicht trauen dürfen, helfen wir Ihnen, die Abstimmung vom Bundesrat zu wiederholen, und zwar mit einer namentlichen Abstimmung. Verzeiht mir, liebe CDUFrauen: Dann will ich nicht nur Tränen sehen, sondern Hände, die hochgehen; ({6}) denn nur dann kann man euch glauben. Ich, meine Damen und Herren, weiß eines: Diese Regierung kreist um sich selbst und kreist nicht um die Probleme der Menschen. Ich finde es richtig, dass der Bundesrat den Vorschlag von Frau Schavan zum Thema Kooperationsverbot nicht mitmacht. Sie tut ja so, als gäbe es wieder eine Kooperationsmöglichkeit bei der Bildung. Dabei lässt die grundgesetzliche Regelung nur den Zusammenschluss von Eliteeinrichtungen zu. Das sind aber nicht die Probleme des Landes. Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zu den Bereichen anführen, in denen Sie am Land vorbeiregieren: Das Betreuungsgeld wird spätestens in Karlsruhe gekippt. Warten wir einmal auf die Ministerpräsidenten. Es kann nicht sein, dass die Kommunen am Ende kein Geld haben, um die Betreuung weiter auszubauen, Sie aber für die Propagierung des altmodischen Gesellschaftsbildes der 50er-Jahre Geld ausgeben. Dieses Land braucht eine andere Regierung, und zwar eine, die nicht um sich selbst kreist, sondern die die Alltagsprobleme der Menschen löst. Die wird nächstes Jahr kommen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Dagmar Ziegler. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer, Herr Kretschmer, Sie selbsternannter Hüter des Zeitmanagements, wer klaut hier eigentlich wem die Zeit? Das Versagen der Regierung Merkel hat viele Namen, unter anderem ist da das „Betreuungsgeld“ zu nennen. Da verwundert es natürlich nicht, wenn sich bei der CDU/CSU nur einer traut, jetzt hier zu reden. Das Betreuungsgeld steht für den Komplettausfall des Politikmanagements im Bundeskanzleramt. Herr Pofalla ist zwar ausnahmsweise hier; ({0}) aber man denkt, es gäbe ihn gar nicht mehr. Das Betreuungsgeld steht für eine Koalition, die sich um die wichtigen Probleme im Lande nicht wirklich schert, die keine Antwort auf den Armuts- und Reichtumsbericht gibt, der nichts einfällt, um die soziale Kluft in unserem Land zu schließen. Stattdessen reibt sich die Koalition dabei auf, so etwas Sinnvolles wie die Frauenquote zu verhindern, für die es eine Mehrheit gibt, und mit Brachialgewalt das Betreuungsgeld einzuführen, wofür aus gutem Grund die Mehrheit fehlt. Das Betreuungsgeld steht für die schlimmste Altherrenpolitik, bei der nur entscheidend ist, was Horst Seehofer in Bayern für seine Stammtischhoheit zu brauchen glaubt, und bei der bessere Bildungschancen von Kindern, eine bessere Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und kontinuierliche Erwerbsverläufe von Frauen gewissenlos geopfert werden. Das Betreuungsgeld steht für eine realitätsblinde, arrogante und bürgerfeindliche Bundesregierung, die gegen den Widerstand der Menschen, gegen den Widerstand von Kinderverbänden, Bildungsforschern, Arbeitgebern und Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und Kirchen eine Leistung durchdrücken will, die keinem nützt, aber vielen schadet. Wer, Herr Kretschmer, klaut hier eigentlich wem die Zeit? ({1}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben sich mit dem Betreuungsgeld zum Gespött gemacht. Den wievielten Anlauf haben Sie jetzt eigentlich unternommen, um das Betreuungsgeld in Ihren eigenen Reihen mehrheitsfähig zu machen? Es ist uns schwergefallen, die vielen Versuche noch nachzuvollziehen. Jetzt sollen die Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und die Riester-Förderung herhalten. Das ist eine völlig sachfremde Verknüpfung, die nicht retten kann, was doch nicht zu retten ist. Sie verkündeten am vergangenen Freitag schon die große Einigung beim Betreuungsgeld, hatten dabei aber leider vergessen, dass Sie noch einen kleinen Koalitionspartner fragen müssen. Nur wegen Ihres Problembären in Bayern gibt es im Bundestag jetzt wieder Kauderwelsch und singt die Union in Richtung FDP „Ihr Brüderle kommet“, um ihr unsinniges Betreuungsgeld doch noch durchzusetzen. ({2}) Herr Kretschmer, wer klaut hier eigentlich wem die Zeit? ({3}) Meine verehrten Damen und Herren von der FDP, lassen Sie sich nicht kaufen, ({4}) gehen Sie keinen Kuhhandel ein! In der Causa Betreuungsgeld schaut das ganze Land sehr aufmerksam zu. Sie haben gesagt, das Betreuungsgeld sei möglicherweise verfassungswidrig. Sie haben gesagt, es sei nicht zu finanzieren. Sie haben ferner gesagt, es setze falsche Anreize. Sie haben in jedem dieser Punkte recht. Deshalb lassen wir auch Ihnen keinen Deal in dieser Frage durchgehen. Denn beispielsweise der Wegfall der Praxisgebühr macht das Betreuungsgeld in keiner Weise richtiger. Lassen Sie es sein, geben Sie das Projekt auf! Der Schaden, den Sie verursacht haben, ist so oder so angerichtet. Gesichtswahrend kommen Sie aus dieser Nummer nicht mehr heraus. ({5}) Die Bundeskanzlerin ruft die Abweichler in Sachen Frauenquote - eine Ministerpräsidentin und einen Ministerpräsidenten - zum Fahnenappell ins Bundeskanzleramt. Für die Gesamtheit der Ablehner des Betreuungsgelds wird der Platz im Kanzleramt nicht ausreichen. In diesem Falle braucht die Bundeskanzlerin einfach nur vor die Tür zu treten; dann steht sie sofort inmitten der Ablehnung. Machen Sie endlich das, was zu tun Sie ja immer vorgaukeln: Packen Sie es endlich an, und packen Sie den Gesetzentwurf ein! Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich das Thema der Aktuellen Stunde wörtlich nehme, kann ich mich eigentlich kurzfassen. Das Thema lautet nämlich: unterschiedliche Auffassungen innerhalb der CDU/CSU und FDP. Ich kann vermelden: Innerhalb der FDP gibt es keine unterschiedlichen Auffassungen ({0}) zu den Themen Frauenquote, Mindestlohn und Betreuungsgeld, ebenso wenig zum Thema Rente, ({1}) das Sie, Herr Kollege Oppermann, dankenswerterweise mit in die Debatte eingeführt haben; ich komme nachher gerne darauf zurück. ({2}) Wenn Sie allerdings das Miteinander in der Koalition meinen, dann muss ich Sie warnen. Sie haben versucht, ein bisschen Endzeitstimmung zu verbreiten, so wie es der eine oder andere Redner bereits in der Haushaltsdebatte versucht hat. ({3}) Ich kann Ihnen nur sagen: Totgesagte leben länger. Ich verstehe die Debatten in der Koalition eher als ein lebendiges Miteinander. ({4}) Sie werden sehen, dass wir am Ende mit guten Lösungen aus dieser Diskussion herauskommen. ({5}) Damit wäre nach einer Minute eigentlich schon alles zu diesem Thema gesagt. Aber ich bedanke mich für die Gelegenheit, Herr Oppermann, den Ball zurückzuspielen und einmal auf die unterschiedlichen Auffassungen in der SPD, zum Beispiel beim Thema Rente, einzugehen. ({6}) Herr Kollege Oppermann, Sie erinnern sich: In der letzten Sitzungswoche stand hier Herr Steinmeier am Rednerpult. Er hat der Koalition vorgeworfen, einen Haushalt mit einem Defizit von 18 Milliarden Euro zu präsentieren; wohlgemerkt, wir haben ihn mit 70 Milliarden Euro Defizit von Ihnen übernommen. ({7}) Er sagte, wir müssten unsere Anstrengungen verstärken und härter rangehen. Fast zeitgleich präsentierte der SPD-Bundesvorstand ein Rentenkonzept mit Kosten von 35 Milliarden Euro, darunter 25 Milliarden Euro, die über Steuern zu finanzieren sind, also mehr, als wir überhaupt als Defizit für das kommende Jahr vorgesehen haben. Das ist absolut unseriöse Politik. ({8}) Das ist bei dieser Geschichte aber noch nicht der Gipfel. Jetzt geht der Kuhhandel im SPD-Bundesvorstand erst so richtig los: Damit das Ganze mit den Vorstellungen der Linken kompatibel werden kann, soll jetzt der Zugang zur Rente für langjährig Versicherte erleichtert werden. So kommen 6 Milliarden Euro zu den 35 Milliarden Euro hinzu. ({9}) Die Reaktion der Linken in Richtung von Herrn Gabriel: Das reicht uns aber nicht, was hier vorgelegt wird. Jetzt soll auch noch die Absenkung des Netto-Standardrentenniveaus vor Steuern rückgängig gemacht werden. Damit will sich die SPD vollkommen von der Rente mit 67 verabschieden. ({10}) Da kann ich nur sagen, Herr Oppermann: Wer im Glashaus sitzt, muss seine Steine, seine Stones, zusammenhalten. ({11}) Das ist genau das Problem, das Sie auch in der aktuellen Debatte haben. Dann schauen wir uns einmal die Grünen an. Frau Kollegin Künast, Sie haben gesagt, es habe die Ansage gegeben, eine Bildungskarte einzuführen, aber am Ende sei keine Bildungskarte herausgekommen. ({12}) Ich kann mich an die Verhandlungen, die wir dazu geführt haben, noch relativ gut erinnern; denn ich war nächtelang dabei. ({13}) In diesen Verhandlungen haben sich die Grünen, wo immer es ging, quergelegt. ({14}) Als es am Schluss zum Schwur kam, sind Sie in der allerletzten Verhandlungsrunde ausgestiegen und wollten mit dem Ganzen überhaupt nichts mehr zu tun haben. ({15}) So kann man das doch nicht machen, Frau Kollegin Künast. Es ist doch Wahnsinn, wie Sie dieses Geschäft betreiben. Wenn Ihnen dieses Beispiel noch nicht reicht, dann schauen wir doch einmal nach Baden-Württemberg: Frauenquote, Parité-Gesetz, wenn Ihnen das etwas sagt. Da haben sich die Grünen mächtig aufgebockt: Sie wollten ein Gesetz vorlegen, nach dem bei der Kommunalwahl nur noch Listen zum Zuge kommen dürfen, auf denen Männer und Frauen gleichberechtigt erscheinen. ({16}) - Würden Sie mir bitte einmal Ihre Aufmerksamkeit schenken, Frau Kollegin Künast? ({17}) Ich höre von diesem Parité-Gesetz gar nichts mehr. Vielleicht können Sie nachher noch kurz erklären, wann es denn kommen wird. Nach meinen Informationen ist auch dieses Thema abgehakt. Auch bei Ihnen also nichts als heiße Luft. ({18}) Ich finde, es ist in einer Demokratie normal, dass man in einer Regierung miteinander streitet. Es gehört zum Meinungsbildungsprozess dazu, dass man sich über unterschiedliche Positionen austauscht. Aber dass es die Opposition nicht einmal schafft, ihren internen Klärungsprozess einigermaßen reibungsfrei zu gestalten, das finde ich dann doch bemerkenswert. Insofern hat sich die Aktuelle Stunde heute doch gelohnt. Ich bedanke mich, Herr Oppermann, für Ihren entsprechenden Antrag. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hubertus Heil das Wort. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kolb, wir sollten uns eines nicht wechselseitig unterstellen - ich sage das in aller Ernsthaftigkeit - ({0}) - Hören Sie doch erst einmal zu und seien Sie nicht gleich so nervös. ({1}) Herr Kolb, wir kennen uns ein bisschen und schätzen uns durchaus persönlich, aber eines will ich Ihnen sagen: Keiner von uns sollte die Tatsache, dass zwischen Ressorts, zwischen Koalitionspartnern und innerhalb demokratischer Parteien diskutiert wird, für Diffamierungen nutzen. ({2}) - Moment! Hören Sie gut zu! - Das tut niemand; das sollte auch niemand tun, weil dann ein falsches Bild entsteht. Hier geht es nicht um Kasernenhöfe, hier geht es um demokratische Parteien. Aber eines ist auch klar: Wer regiert, der sollte nicht nur diskutieren, sondern der muss auch irgendwann auf den Punkt kommen! ({3}) Das möchten wir heute ansprechen: Sie kommen in dieser Koalition nicht auf den Punkt, Herr Kolb. Da können Sie uns nichts vormachen. ({4}) Lassen Sie mich an einem Beispiel Folgendes verdeutlichen: Als wir mit Rot-Grün an der Regierung waren, haben wir diskutiert, manchmal sogar heftig gestritten; das will ich gerne einräumen. Beim Thema Energiepolitik beispielsweise war zwischen Werner Müller und Jürgen Trittin nicht immer eitel Sonnenschein - gar keine Frage. Da gab es unterschiedliche Ressortlogiken in den Bereichen Umwelt und Wirtschaft. Aber es gab einen Unterschied zu Ihrer Regierung: Am Ende des Tages wurden Entscheidungen gefällt, gerade weil man diskutiert und dann entschieden hat. Vom damaligen Kanzleramt wurde eine koordinierende Funktion wahrgenommen. ({5}) Das fehlt dieser Koalition: politische Führung. ({6}) Sie machen nichts anderes als Selbstblockade und Klientelpolitik. Das ist der Unterschied zu unserer Arbeit, meine Damen und Herren. In einer Demokratie müssen Sie es sich gefallen lassen, von der Opposition darauf angesprochen zu werden. ({7}) Drei Jahre lang herrschte Stillstand. Wenn es einmal vorangegangen ist, lief das wie beim Basarhandel: Jeder darf sich einen Keks aus der Schublade nehmen. Die FDP hat sich die Hotelsteuer gegriffen und die CSU das Betreuungsgeld. Das ist aber keine ordentliche RegieHubertus Heil ({8}) rungsführung, das ist Basarhandel und nicht das, was unser Land braucht. ({9}) Ich wiederhole: Kein Mensch diskreditiert das Ringen um gute Lösungen in Parteien, Koalitionen oder zwischen Ministerien - das gehört zur Demokratie dazu -, aber es muss Ihnen doch bewusst sein, dass Sie auch noch nach drei Jahren um dieselben Themen und Begriffe kreisen und es trotzdem nicht schaffen, eine anständige Gesetzgebung hinzubekommen. Herr Kolb, Sie haben die Verhandlungen angesprochen, die wir nächtelang geführt haben. Dabei ging es um drei Themen: Es ging um das Bildungspaket, es ging um die Regelsätze, und es ging um Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Zum Thema Mindestlohn. Wir haben eine Bundesministerin, nämlich Frau von der Leyen - dass ich diesen Punkt anspreche, werden Sie sich schon gefallen lassen müssen -, der es in der Debatte möglicherweise mehr um den öffentlichen Effekt geht als um die Sache. Dass dieser Begriff ständig im Mund geführt wird, ohne dass tatsächlich Fortschritte beim gesetzlichen Mindestlohn zu verzeichnen sind, das enttäuscht viele Menschen in unserem Land. Dass es dazu nicht kommt, dafür tragen Sie von CDU/CSU und FDP die Verantwortung. Ein Jahr vor der Wahl hören Sie gänzlich auf, Politik zu machen. In der Koalition geht es Ihnen nur noch um das Profil von FDP, CDU oder CSU. Thomas Oppermann hat es vorhin so beschrieben: eine Zeit, die diesem Land gestohlen wird. Wir haben Ihnen die Regierung in einer Zeit übergeben, in der wir schwierige Aufgaben gelöst hatten, auch im Streit und durch Konflikte miteinander, und wir haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Aber am Ende sind wir immer in der Lage gewesen, zu politischen Ergebnissen zu kommen. Sie aber verweigern die politische Arbeit, weil die einzelnen Koalitionspartner nur noch an das Überstehen der nächsten Wahl denken, aber nicht mehr an den Fortschritt in unserem Land. ({10}) Das Thema Frauenquote ist ein Beweis dafür: Die einen reden so und die anderen reden so, und es kommt nichts dabei heraus. Das Thema Mindestlohn ist ein weiterer Beweis dafür: Die einen reden so und die anderen reden so. Auch beim Thema Betreuungsgeld gilt: Die einen reden so und die anderen reden so. - Beim letzten Punkt ist Ihnen wirklich zu wünschen, dass dabei nichts herauskommt. In diesem Zusammenhang wäre eine Blockade einmal eine gute Sache. Aber ob Sie den Mut haben, die Mehrheit, die es im Volk gegen diesen Unsinn gibt, zu einer Mehrheit hier im Hause zu machen, ist zu bezweifeln. Am Ende des Tages wird sich jeder wieder einen Keks aus der Schublade nehmen. Am Ende muss die Bundeskanzlerin die Verantwortung dafür tragen, dass das alles nicht zusammengeführt wurde. Ich sage Ihnen: Eine Bundeskanzlerin, die so tut, als hätte sie mit ihrer eigenen Regierung nichts zu tun, hat Deutschland noch nicht gesehen. Frau Merkel trägt die Verantwortung dafür, dass unser Land drei Jahre lang durch Führungslosigkeit gelähmt wurde. Wir werden das nächstes Jahr ändern. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise ist der Schluss einer Aktuellen Stunde ein bevorzugter Rednerplatz, weil man auf die vorgetragenen Argumente eingehen und sich ein bisschen daran reiben kann. Es ist ja auch Sinn einer Aktuellen Stunde, dass nicht jeder vorgefertigte Reden hält. Heute fällt das ein bisschen schwer, weil ich nicht so richtig weiß, auf welche Argumente ich eingehen soll. Von Ihnen sind heute so gut wie keine Argumente vorgetragen worden, weil Sie bei den einzelnen Fragen zerstritten sind wie die Kesselflicker. Das Ganze eskaliert darin, Beschimpfungen auf SPD, Grüne oder Linke zu lenken. Der Blick auf die Themen, die doch eigentlich so wichtig sind - Herr Kretschmer, Sie haben es selbst gesagt -, lässt die Zerrissenheit der Koalition deutlich werden. Zu diesen Themen habe ich aber von Ihnen so gut wie kein einziges Wort gehört. Das eine oder andere Thema möchte ich jetzt ansprechen. Sie haben gesagt, Herr Kretschmer, wir müssten über Betreuungsgeld und Frauenquote ausführlicher diskutieren. Dazu hätten Sie heute die Gelegenheit gehabt. Sie hätten drei weitere Redner ins Rennen schicken können. Dann hätten wir einmal darüber reden können, welche sachlichen Argumente gegen eine Quote sprechen. Dann wäre schnell herausgekommen, dass es diese sachlichen Argumente nicht gibt. Deswegen stand ja auch beispielsweise Frau Winkelmeier-Becker heute nicht am Rednerpult. Sie hätte nämlich etwas ganz anderes gesagt. Hier wurden keine sachlichen Argumente angeführt, die tatsächlich begründen, warum wir auf eine Quote verzichten sollten. Frau Bracht-Bendt, Sie haben gesagt, dass Sie eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft wollen und dass das Ihr Kurs ist. Dazu kann ich nur sagen: Damit sind Sie elf Jahre zu spät dran. Bereits im Jahr 2001, also vor elf Jahren, gab es eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft - man kann beklagen, dass wir das damals so gemacht haben -, und auch damals wurde gesagt: Führt die Quote nicht ein, wir regeln das alleine, wir klären das, wir sorgen dafür, dass Frauen in entsprechende Führungspositionen kommen. - Jetzt schauen wir uns doch einmal die Bilanz an. Wie sieht es heute aus? 85 Prozent der Aufsichtsräte und 97 Prozent der Vorstände sind weiterhin Männer. Jetzt frage ich mich: Was hat diese Selbstverpflichtung in den letzten elf Jahren gebracht? ({0}) Nichts! Und darauf wollen Sie weiter setzen. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. ({1}) Herr Kolb, Sie haben gesagt, dass alle in der FDP einer Meinung sind. Sie sollten einmal Ihre Sitznachbarin fragen. Frau Laurischk sieht das nämlich ganz anders. Sie ist eine Unterstützerin der Berliner Erklärung. Sie unterstützt die Forderung nach einer Quote. Sie ist nicht irgendwer, sondern Vorsitzende eines der wichtigsten Ausschüsse, nämlich des Ausschusses für Frauen, Familie, Jugend und Senioren. ({2}) Vielleicht klären Sie erst einmal in Ihrer eigenen Fraktion, ob man tatsächlich geschlossen gegen die Quote ist. Selbst in solchen Beiträgen wird deutlich, dass Sie total zerstritten sind. Ich möchte noch auf ein Argument von Frau BrachtBendt eingehen. Sie hat gesagt, jetzt werde alles besser werden, das entwickle sich alles, die Frauen sollten nur noch ein bisschen Geduld haben. Wir müssen feststellen, dass Frauen mindestens genauso gut ausgebildet sind wie Männer, dass Frauen mindestens genauso gute Qualifikationen mitbringen, aber dennoch - ich habe die Zahlen genannt - 85 bzw. 97 Prozent der Führungspositionen an Männer gehen. Da stellt man sich doch die Frage: Wird wirklich nach Qualität entschieden? Ich zitiere den Personalvorstand der Telekom. Er hat auf die Frage, ob die Qualität entscheidet, ziemlich freimütig geantwortet - das kann man nachlesen -: Entscheidungen fallen ebenso durch Seilschaft, Treuebonus, Netzwerke, strategisches Platzieren von Vertrauten und Vitamin B wie durch Qualität. Das wollen Sie weiterhin so haben. Sie wollen akzeptieren, dass Entscheidungen weiterhin so gefällt werden. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. ({3}) Deswegen kann ich sehr gut verstehen, dass den Kolleginnen und Kollegen, insbesondere den Kolleginnen, im Bundesrat die Hutschnur geplatzt ist und dass sie gesagt haben: Uns reicht es jetzt. Es gibt keine Sachargumente gegen eine Quote, und deswegen lassen wir uns nicht länger an die Leine nehmen. Wir lassen uns nicht länger verpflichten, gegen ein sinnvolles Instrument zu stimmen. - Deswegen gab es dieses Abstimmungsverhalten. Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen aus der CDU/CSU-Fraktion, vielleicht auch Frau Laurischk, sich im anstehenden Verfahren verhalten. Frau Winkelmeier-Becker hat in einer Debatte im Dezember letzten Jahres erklärt: Wer glaubt, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode abwarten, ohne dass sich an dieser Stelle etwas tut, der hat den Schuss nicht gehört. Damit hat sie recht. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass sie sich heute hier hingestellt und sich den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundesrat angeschlossen hätte. Es wird spannend werden, zu beobachten, wie Sie mit der Zerrissenheit in Ihren eigenen Reihen - jeder gegen jeden - umgehen werden: die Bundesländer gegen die Bundestagsfraktion, und innerhalb der Bundestagsfraktion gibt es auch eine große Gruppe, die anderer Auffassung ist. Dann haben Sie einen Koalitionspartner, der der Meinung war, dass Sie alle auf Linie sind, wenn es um die Quote geht. Jetzt muss er aber feststellen, Herr Kolb, dass einige doch anders denken. Ich bin gespannt, wie Sie mit dieser Zerrissenheit umgehen werden. Vielleicht holen Sie ja die Keule „Fraktionsdisziplin“ heraus. Ich bin gespannt, ob selbstbewusste Abgeordnete sich das gefallen lassen, ob sie sich in so einer Frage an die Leine nehmen lassen, ob sie sich einen Maulkorb verpassen lassen und gegen ihre Überzeugung stimmen. Wir werden diese Abstimmung sehr genau verfolgen. ({4}) Herr Kretschmer, Sie haben gesagt, dass Sie Ihren Kurs innerhalb der Koalition fortsetzen werden. ({5}) Dazu muss ich zum Schluss sagen: Die Menschen empfinden so eine Ansage als Drohung. Dass Sie diesen Zickzackkurs, diese Geisterfahrt weiter fortsetzen wollen, kann in diesem Land nur als Drohung empfunden werden. Ich freue mich darauf, wenn damit endlich Schluss ist. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie Zusatzpunkt 6 auf: 5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2013 ({0}) - Drucksache 17/10743 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rentenbeiträge nicht absenken - Spielräume für Leistungsverbesserungen nutzen - Drucksache 17/10779 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Haushaltsausschuss ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung ({3}) - Drucksache 17/10775 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht darüber Einvernehmen? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. ({5})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen heute den Entwurf des Beitragssatzgesetzes 2013 ein. Die vorgesehene Senkung der Beiträge entspricht der Rechtslage und ist auch eine Frage von Verlässlichkeit. In einem solchen Umlagesystem wie dem unseren, einem System einer solidarischen Rentenfinanzierung, muss sich die einzahlende Generation darauf verlassen können, dass sie nur so stark belastet wird, wie es die Renten der aktuellen Rentnergeneration tatsächlich erforderlich machen, und nicht darüber hinaus. ({0}) Es geht um eine Entlastung um voraussichtlich 5,4 Milliarden Euro. Die Rücklage der Rentenkasse läuft - untechnisch gesprochen - gewissermaßen über, und zwar dank der guten Konjunktur. Die aktuelle Debatte dreht sich aber nicht darum, sondern eher um ein strukturelles Problem in der Rentenversicherung, nämlich um die Frage: Wie können wir die Gerechtigkeitslücke im Rentensystem, die sich für Geringverdiener immer weiter auftut, schließen? Gerade auch für Geringverdiener, die jahrzehntelang Vollzeit gearbeitet und eingezahlt haben, muss die goldene Regel einer solidarischen Rentenversicherung gelten: Leistung muss sich auch im Rentensystem lohnen, sonst verliert das Rentensystem seine Legitimation. Ich finde, auch zusätzliche Vorsorge muss sich zum Schluss auszahlen. Es ist gut, dass das Problem inzwischen erkannt worden ist; sonst wäre die Debatte nicht so breit. Es geht um das Problem, dass, wenn wir jetzt nichts tun, bei sinkendem Rentenniveau ({1}) eine Situation eintritt, dass Geringverdiener nach 35, 40 oder 45 Jahren Beitragszahlungen zum Sozialamt gehen und dort Grundsicherung beantragen müssen, statt eine auskömmliche Rente aus dem Rentensystem zu bekommen. ({2}) Wenn es nach langem Arbeitsleben für den Lebensunterhalt nicht reicht, werden wir - nur so kann eine Lösung aussehen - durch Steuermittel aufstocken müssen. Die Frage ist - das ist eine Gretchenfrage -: Wo? Für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist es erst einmal irrelevant, ob die Steuermittel in die Grundsicherung gehen oder in das Rentensystem. Aber für die Menschen, die jahrzehntelang eingezahlt haben und die immer unabhängig von Leistungen des Staates waren, macht es einen himmelweiten Unterschied, ob sie am Ende eines arbeitsreichen Lebens den Gang zum Sozialamt antreten müssen und Grundsicherung bekommen oder ob sie ihre eigene Rente aus der Rentenversicherung bekommen. Das ist auch eine Frage von Würde und Wert von Arbeit. ({3}) Deshalb steht hier auch die Legitimität des Rentensystems auf dem Prüfstand. Wenn wir nichts tun und wenn in den kommenden Jahren Geringverdiener nach 40 oder 45 Jahren Arbeit und Beitragszahlungen zunehmend in der Grundsicherung landen, dann blutet das solidarische Rentensystem langsam, aber sicher von unten aus. Deshalb finde ich, dass wir hier in einer grundsätzlichen Debatte und auch an einer Wegscheide sind. Es muss einen Unterschied machen, ob man ein Leben lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet und Pflichtbeiträge gezahlt hat und dann im Alter eine eigene Rente aus der Rentenversicherung bekommt, oder nicht. Es kann nicht sein, dass man dann im Alter in die Grundsicherung fällt wie diejenigen, die keinen Cent eingezahlt haben und keinen einzigen Tag gearbeitet haben. ({4}) Das entwertet nicht nur Arbeit, sondern das entwertet auch Leistung. Für mich gilt immer noch das Prinzip, dass sich Lebensleistung und Arbeit auch in der Rente auszahlen müssen, meine Damen und Herren. ({5}) Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Was das Prinzip der Solidarrente betrifft, haben Sie die richtige Entscheidung getroffen, nämlich die Entscheidung, nach einer Lösung im Rahmen der Rentenversicherung zu suchen; das macht die Solidarrente ja der Zuschussrente so ähnlich. Aber was für eine Enttäuschung sind die letzten 14 Tage gewesen, als Sie angefangen haben, Ihr Rentenkonzept zu präzisieren! Ihnen ist innerhalb von 14 Tagen plötzlich der Mut abhandengekommen, zu Ihren eigenen Reformvorschlägen zu stehen. ({6}) Jetzt schlagen Sie vor, man solle nach 45 Versicherungsjahren - nicht Beitragsjahren, sondern Versicherungsjahren - abschlagsfrei in Rente gehen können. Das ist die klare Absage an „Arbeiten bis 67“. Sie machen eine Rolle rückwärts. ({7}) Dass Sie von Versicherungsjahren sprechen, hat zur Folge, dass auch Zeiten des Studiums, Zeiten von Krankheit, die Schulzeit, Zeiten der Kindererziehung und der Pflege berücksichtigt werden. Für Akademikerinnen und Akademiker wie mich - ich habe acht Jahre studiert - bedeutet dies, dass die Zeit des Studiums als Versicherungszeit mitgezählt wird. ({8}) Abschlagsfrei nach 45 Jahren in Rente gehen zu können, ganz egal, wie alt man ist, bedeutet: Dann können sehr viele frühzeitig in Rente gehen und unbegrenzt hinzuverdienen. Ihr System hätte zur Folge, dass man 8 bis 10 Milliarden Euro obendrauf benötigen würde. Wer muss das zahlen? ({9}) Die junge Generation. ({10}) Diese Rechnung geht nicht auf. Die Lebenserwartung unserer Generation ist in den letzten 50 Jahren um durchschnittlich zehn Lebensjahre gestiegen. Unsere Generation hat allerdings nur relativ wenige Kinder bekommen. Diese Kinder werden später unsere Renten zahlen müssen. Es kann doch nicht sein, dass Sie mitten in dieser Zeit eine Rolle rückwärts machen und sagen: Ihr könnt früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Ich bin dafür, dass Menschen, die körperlich am Ende sind, aus dem Arbeitsleben ausscheiden können - für sie müssen wir einen Übergang organisieren -, ({11}) aber ich bin nicht dafür, dass Leute, die topfit sind, nach 45 Jahren einfach Tschüss sagen können. Das, meine Damen und Herren, geht nicht. Wenn man sich Ihr Rentenkonzept anschaut, dann sieht man, dass Sie bei den Beitragsmitteln auf einen Betrag von bis zu 25 Milliarden Euro zusätzlich kommen, den Sie der jungen Generation mal eben vor die Füße werfen. ({12}) Hinzu kommen Steuermittel in Höhe von 8 bis 10 Milliarden Euro. Deshalb, meine Damen und Herren von der Opposition: Wer das Rad der Reformen zurückdrehen will, der schließt keine Gerechtigkeitslücke.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau von der Leyen?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Stellen Sie sich dieser Lücke, ohne eine Rolle rückwärts zu machen. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Bulling-Schröter. ({0}) - Das Unterbrechen einer Rede ist manchmal nicht so leicht, wenn keine Pause zum Luftholen gemacht wird. ({1}) Der nächste Redner ist der Kollege Josip Juratovic von der SPD-Fraktion. ({2})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Nach Ihrem Vortrag habe ich das Gefühl, Sie haben sich in der Tagesordnung vertan. ({0}) Sie haben gerade zu einem völlig anderen Thema als zu dem gesprochen, das wir laut Tagesordnung jetzt zu behandeln haben. ({1}) In der Tagesordnung steht, dass es in dieser Debatte um die Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2013 geht. Aber Sie haJosip Juratovic ben über eine Rentenreform gesprochen und einen Rundumschlag gemacht. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, hier wird ja oft und gerne die schwäbische Hausfrau zitiert, wenn es um die Haushaltspolitik geht. Für mich als Schwaben gilt die Weisheit: Man muss in guten Zeiten sparen, um in schlechten Zeiten etwas zu haben. ({2}) Diese Weisheit muss auch im Hinblick auf die Rentenversicherung gelten. ({3}) Wir müssen in konjunkturell guten Zeiten etwas zurücklegen, damit wir davon zehren können, wenn die Wirtschaft nicht so gut läuft, wenn viele Renten ausgezahlt werden müssen und es weniger Beitragszahler gibt, sei es aufgrund höherer Arbeitslosigkeit oder aufgrund des demografischen Wandels. ({4}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie planen das Gegenteil dessen, was die schwäbische Hausfrau machen würde. ({5}) Sie wollen jetzt die Ersparnisse der Rentenversicherung ausbezahlen und die Beitragssätze später schnell und kräftig erhöhen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, dass Sie sich schon jetzt überlegen müssen, wie Sie den Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Jahre 2020 erklären wollen, dass die Beiträge zur Rentenversicherung ziemlich abrupt stark steigen werden. ({7}) - Möglicherweise werdet ihr nicht regieren. ({8}) Wir Sozialdemokraten wollen dagegen einen stabilen Beitragssatz von 19,6 Prozent, der bis 2025 gesichert ist. Wir wollen kein Hickhack wie die Bundesregierung, die die Beiträge jetzt wahrscheinlich aus wahltaktischen Gründen senken will, um sie später massiv zu erhöhen. ({9}) In unserem SPD-Gesetzentwurf wird zudem das Sparen erlaubt, indem die Regelung aufgehoben wird, dass die Rentenversicherung maximal bis zum Eineinhalbfachen ihrer monatlichen Ausgaben ansparen darf. Die schwäbische Logik, dass man in guten Zeiten spart, wird auch von den allermeisten Menschen in unserem Land geteilt. ({10}) Knapp 80 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger sind dafür, jetzt bei der Rentenversicherung Geld zu belassen, anstatt später mit einem hohen Anstieg der Beiträge konfrontiert zu werden. Ich freue mich, dass auch einige junge CDU-Abgeordnete dies so sehen. ({11}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, man muss keine Politik nach Umfrageergebnissen machen, aber wenn eine derart breite Mehrheit gegen die eigenen Pläne ist, dann sollte man schon noch einmal darüber nachdenken, ob die Menschen in unserem Land nicht vernünftiger sind, als es ihnen einige hier zutrauen. ({12}) Herr Kolb, Sie sagen öffentlich: Die Rentenversicherung ist keine Sparkasse, deswegen muss das überschüssige Geld ausbezahlt werden. ({13}) Gleichzeitig nutzt Ihre Regierung die Rentenversicherung im aktuellen Haushalt aber als Sparkasse, und zwar zum Abheben. ({14}) Mit dem sogenannten Konsolidierungsbeitrag und dem Vorwegabzug bedient sich die Bundesregierung munter mit über 2 Milliarden Euro jährlich aus der Rentenkasse. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, wenn Sie sagen, dass Sie der Rentenversicherung das Ansparen von Geld verbieten, weil sie keine Sparkasse sei, dann dürfen Sie die Rentenversicherung auch nicht als Sparkasse zum Abheben benutzen. ({16}) Sie kennen mich hier im Plenum des Bundestages als einen Verfechter von guten Löhnen für gute Arbeit. Das ist eines der wichtigsten Elemente, um Altersarmut in Zukunft zu vermeiden. Nur wer einen guten Lohn hat, bekommt später auch eine gute Rente. ({17}) Frau von der Leyen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich endlich auch einmal dafür einsetzen würden, dass wir einen flächendeckenden Mindestlohn bekommen, ({18}) und Sie nicht immer nur von Armut reden und nicht immer nur die Menschen bemitleiden und der Welt erklären würden, wie schlimm es mit den Armen aussieht. Man muss auch etwas dagegen tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, lesen Sie unseren Gesetzentwurf sorgfältig, und handeln Sie mit uns Sozialdemokraten und damit mit 80 Prozent unserer Gesellschaft, die vernünftigerweise dagegen sind, den Beitragssatz zu senken. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Juratovic, um mit Ihrer Bemerkung zur Sparkasse anzufangen: Ja, die Nachhaltigkeitsrücklage hat in der Tat eine Liquiditätsausgleichsfunktion. Das hat man an dem früheren Namen „Schwankungsreserve“ noch deutlicher erkennen können, aber auch bei der Nachhaltigkeitsrücklage geht es schlicht und einfach darum, unterjährige Schwankungen der Liquidität der Rentenversicherung, ({0}) aber auch kurzfristigere Schwankungen der Liquidität im Konjunkturzyklus auszugleichen. ({1}) Ich will zunächst einmal sehr deutlich darauf hinweisen, dass das auch nach der von uns beabsichtigten Beitragssenkung so sein wird. ({2}) Am Ende des Jahres 2013 wird die Nachhaltigkeitsrücklage trotz Beitragssenkung 28 Milliarden Euro betragen und damit den höchsten Stand in der jüngeren Geschichte der Rentenversicherung haben. Das heißt, hier sind ausreichend Mittel und Reserven vorhanden, um auch künftig solche Ausgleiche darstellen zu können. ({3}) Der Gesetzgeber hat 1992 Bandbreiten festgelegt, die immer wieder einmal variiert wurden. Auch die SPDFraktion hat hieran zu ihrer Regierungszeit kräftig mitgewirkt. Aber es bestand immer Konsens darüber, dass es erstens darum geht - ich könnte Ihnen dazu Zitate liefern, ich habe sie dabei -, mit möglichst niedrigen Rentenbeiträgen dämpfend auf die Lohnnebenkosten einzuwirken. Das hat hier Herr Riester betont. Das hat Frau Mascher, als sie noch Staatssekretärin war, in diesem Hause erklärt. ({4}) - Ich weiß, Frau Kollegin Ferner, das spielt für die SPD keine entscheidende Rolle mehr. ({5}) Für uns ist das zweitens weiterhin ein Argument, weil es darum geht, in einer globalen Wirtschaft wettbewerbsfähig zu sein und dafür zu sorgen, dass in Deutschland ein möglichst hohes Maß an Beschäftigung erhalten wird. Dann spielen auch solche Fragen eine Rolle. Es geht hier drittens schlicht und einfach um die Entlastung der Beitragszahler in einer Größenordnung von 6 Milliarden Euro. ({6}) Das ist deren Geld. Es muss den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmen auch zurückgegeben werden, weil sie es in die Kasse eingebracht haben. Wenn es derzeit nicht gebraucht wird, dann ist es gut investiertes Geld. Ich will Ihnen das einmal vor Augen führen. Wenn wir zu der Entlastung von 6 Milliarden Euro das Entlastungsvolumen von 6,5 Milliarden Euro durch die Beseitigung der kalten Progression hinzufügen, was Sie derzeit im Vermittlungsausschuss blockieren, dann ist das ein recht schönes, ansehnliches Konjunktur- und Wachstumspaket von 12,5 Milliarden Euro, mit dem man gerade in der jetzigen Situation, in der wir nicht so recht wissen, wie es mit der Konjunktur weitergeht, einen nachhaltigen Effekt erzielen könnte. Sie wollen das nicht. Sie marginalisieren das. Sie sagen: Das sind vielleicht 3,50 Euro oder 4 Euro pro Beitragszahler. Für einen Durchschnittsverdiener, einen Arbeitnehmer, ist das immerhin eine Entlastung von 100 Euro. ({7}) - Nein, im Jahr. - Sie sagen vielleicht: Das ist wenig. Für die betroffenen Menschen ist das aber wirklich Geld. Ich glaube, sie sind dankbar, wenn sie es zurückbekommen. Aber es ist längst nicht nur das - das vergessen Sie nämlich in der Debatte immer -: Es werden noch andere entlastet. ({8}) Durch den abgesenkten Beitrag werden zum Beispiel die Länder und Kommunen entlastet, in denen nicht nur Beamte, sondern auch Angestellte tätig sind, für die Rentenbeiträge entrichtet werden müssen. Von der Absenkung des Rentenbeitrags profitieren am Ende auch die Rentner, die im folgenden Jahr eine um 0,8 Prozentpunkte höhere Rentenanpassung bekommen werden, weil wir zum 1. Januar 2013 den Rentenbeitrag senken. Diese Mechanismen in der Rentenversicherung sind nicht immer für jeden durchschaubar. Aber das ist ein Argument. Ich glaube, die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande werden uns sehr dankbar dafür sein, dass wir durch die Ausnutzung von Spielräumen positiv auf ihre Renten einwirken. ({9}) Schließlich komme ich auf Ihre Idee zu sprechen: Man möge doch auf die Beitragssenkung verzichten und das Geld ansammeln, dann sei genug da, um das Rentenniveau bis 2030 zu stabilisieren. Die Wahrheit, die dahintersteckt, ist folgende: Wer das wirklich will, der muss den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel abschaffen. ({10}) Da warne ich aber Neugierige. Herr Kollege Juratovic, Sie erinnern sich noch: Die SPD war schon einmal auf einem solchen Trip. Die Koalition Kohl/Kinkel hatte einen demografischen Faktor eingeführt. Schröder hat damit Wahlkampf gemacht, dass er ihn beseitigen werde. Fünf Jahre nach seiner ersten Wahl hat er in diesem Haus, an diesem Podium einräumen müssen: Es war ein Fehler gewesen, dass wir diesen demografischen Faktor abgeschafft haben. Er hat den Nachhaltigkeitsfaktor - er sollte mit einem anderen Namen ein bisschen besser aussehen, ist aber wirkungsgleich - wieder eingeführt. Nur wenn Sie diesen Nachhaltigkeitsfaktor abschaffen, können Sie die Absenkung des Rentenniveaus verhindern, die im Übrigen nicht im Gesetz steht. Auch da denken Sie falsch, an dieser Stelle liegen Sie nicht richtig. Es steht nicht im SGB VI: Das Rentenniveau wird auf 43 Prozent abgesenkt. - Dort ist nur von einer Überwachungsmarke die Rede. Sollte das Niveau in diese Größenordnung absinken, muss der Gesetzgeber tätig werden. Aber die Entwicklung ist durchaus differenziert zu sehen. Im letzten Jahr hat der Nachhaltigkeitsfaktor sogar rentensteigernd gewirkt. ({11}) Das ist also kein Automatismus. Wir sind derzeit deutlich besser unterwegs, als man es vermuten konnte. Das Rentenniveau wird nach allem, was wir wissen, auch im Jahr 2025 noch deutlich über 46 Prozent liegen. Das ist auch ein Erfolg der guten Beschäftigungspolitik dieser Bundesregierung. ({12}) Wenn Sie jetzt wissen wollen: „Was kann man tun?“, dann empfehle ich Ihnen den Kommentar von Peter Thelen in der heutigen Ausgabe im Handelsblatt. Er sagt: Es geht jetzt darum, die Erwerbstätigenquote möglichst hoch zu halten. Es war richtig, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen. Er schreibt, wir sollten versuchen, mehr Teilzeitbeschäftigung in Vollzeitbeschäftigung umzuwandeln, weil das - das ist im SGB VI geregelt und kompliziert - zu mehr Äquivalenzrentnern und Äquivalenzbeitragszahlern führt, also über den Nachhaltigkeitsfaktor positiv auf das Rentenniveau wirkt. Er schreibt, der Effekt wäre auch dann positiv, wenn es uns gelingt, mehr über 60-Jährige als bisher in Beschäftigung zu halten. Dafür werben wir seit Jahren mit flexiblen Übergängen vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Schädlich, schreibt er, wären Mindestlöhne. Denn diese würden wahrscheinlich dazu führen, dass in Deutschland viele Arbeitsplätze von Beschäftigten verloren gingen, ({13}) die heute mit in unsere Sozialkassen einzahlen. Deswegen: Sie sollten von Ihren Plänen Abstand nehmen. Das Fairste und Gerechteste wäre es, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jetzt das zurückzugeben, was ihnen zusteht, nämlich das, was zu viel an Beiträgen in der Rentenkasse vorhanden ist. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Matthias Birkwald. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundesministerin von der Leyen hat gesagt: „Wir müssen heute handeln, damit uns diese Welle der Altersarmut nicht eines Tages überrollt.“ Sie hat völlig recht. Doch was tut sie? Ihre Zuschussrente gleicht dem Versuch, eine Flutwelle mit Regenschirmen bekämpfen zu wollen. Aber die Mehrheit von CDU/CSU und FDP gönnt den Menschen nicht einmal die Regenschirme. Das ist bitter, und das ist schäbig. Doch das ist SchwarzGelb, und genau das muss sich ändern. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und FDP wollen nichts Wirksames gegen die Rentenarmut tun. Das ist schlimm genug. Aber schlimmer noch: Union und Liberale sind dabei, mit der Beitragssatzsenkung weiter Öl ins Feuer zu gießen. Das ist ungeheuerlich. Alle drei Vizekanzlerkandidaten der SPD spielen dieses böse Spiel auch noch mit, wenn sie an der Absenkung des Rentenniveaus weiterhin festhalten wollen. ({1}) Das müssen alle wissen, wenn wir heute auch über den Gesetzentwurf der SPD reden. Denn dieser Gesetzentwurf sieht keine Leistungsverbesserungen vor, weder für die heutigen Rentnerinnen und Rentner noch für die zukünftigen. Ich sagen Ihnen: Wir brauchen keinen Demografiefonds. Wir brauchen einen Rentenarmutsverhinderungsfonds, um es mal auf Von-der-Leyisch zu sagen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union, FDP und SPD, Sie wollen über Rentenarmut reden - gut. Aber eine zentrale Ursache dafür wollen Sie unangetastet lassen, nämlich das Rentenniveau. Es soll weiter bis zum Jahr 2030 beständig sinken, und zwar - ich formuliere korrekt, Herr Kollege Kolb - im schlimmsten Fall von heute knapp 50 Prozent auf magere 45 oder sogar nur 43 Prozent. Wenn sich daran nichts ändert, werden in Zukunft Millionen von fleißigen Menschen, Frau Ministerin, mit Armutsrenten in der Altersarmut landen. Darum sagen wir Linken Ihnen: Das Rentenniveau muss wieder angehoben werden, und zwar so, dass der Lebensstandard wieder gesichert wird, ({3}) und so, wie es vor dem Rentenkahlschlag von SPD und Grünen gewesen war. Das Mindeste ist, das Rentenniveau jetzt nicht weiter zu senken. Darum dürfen auch die Rentenversicherungsbeiträge nicht weiter gesenkt werden. ({4}) Meine Damen und Herren, der Deutsche Gewerkschaftsbund hat recht. Das Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach hat gestern gesagt: „Wer den Rentenbeitrag senkt, erhöht das Altersarmutsrisiko der jungen Generationen.“ So ist es. Darum ist es kein Wunder, dass 86 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dafür sind, Frau Ministerin, die Beiträge jetzt nicht zu senken. Das ist der größte Wert in der gesamten Bevölkerung. Das ist auch verständlich. Denn wer 2 000 Euro brutto im Monat verdient, würde für den Rentenbeitrag nur 6 Euro weniger zahlen. Für Beschäftigte mit Durchschnittsverdienst wären es gerade einmal 8 Euro. Was aber sind 8 Euro weniger im Vergleich zu den drastischen Rentenkürzungen, die mit dem sinkenden Rentenniveau zu erwarten sind? Was ist, Herr Straubinger, noch nicht einmal eine Maß Bier auf dem Oktoberfest im Vergleich zu den drastischen Kürzungen durch die Rente erst ab 67? ({5}) Die jungen Beschäftigten haben das verstanden, und genau deshalb dürfen die Beiträge im Interesse der jungen Generation, Frau Ministerin, nicht abgesenkt werden. Wenn Union und FDP heute die Beiträge senken wollen, dann müssen sie auch sagen, dass den heute jungen Beschäftigten morgen, im Rentenalter, die Rechnung dafür präsentiert wird. Die Rechnung wird für die jungen Beschäftigten heute heißen: niedrige Renten und massenhaft Armutsrenten. Das darf nicht sein. Ihnen das zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, CSU und FDP, dazu sind Sie aber leider zu feige. Wir brauchen wirklich jeden Cent, um Altersarmut zu vermeiden. Dazu gehört: Die Rente erst ab 67 abschaffen! Dazu gehört auch, die ungerechten Abschläge für Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen - oder weil sie schlicht nicht mehr arbeiten können - vorzeitig in die Erwerbsminderungsrente gehen müssen, abzuschaffen. Dazu gehört, endlich die Rehaleistungen nach dem tatsächlichen Bedarf und nicht nach der Kassenlage zu finanzieren. ({6}) Meine Damen und Herren, Sie sehen: Eine andere, eine bessere Rentenpolitik ist nötig, und sie ist machbar. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, wir haben im Moment ja eine ganze Reihe von Baustellen in der Rentenversicherung: Dabei geht es um die Altersarmut und die soeben zu Recht angesprochene Erwerbsminderungsrente. Wir müssen etwas beim Rehadeckel ändern, und die bessere Absicherung von Selbstständigen sowie die Angleichung der Renten in Ost und West müssten eigentlich angegangen werden. Die Liste ließe sich noch weiter verlängern. In so einer Situation sind zwei Dinge wichtig: Erstens. Man muss all diese Projekte zusammendenken. Zweitens. Man muss langfristig herangehen. Denn die Rente braucht vor allen Dingen eines: Verlässlichkeit. In beiden Punkten versagt diese Bundesregierung, insbesondere die Ministerin, weil die einzelnen Aspekte nicht zusammengedacht werden. Es wird alle paar Wochen wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Gestern war es die Riester-Rente, vor ein paar Wochen war es die Altersarmut und vor ein paar Monaten waren es die Selbstständigen, die sich zu Recht dagegen gewehrt haben, was ihnen in diesem Zusammenhang vorgeschlagen worden ist. Man muss die Dinge wirklich zusammendenken. ({0}) Das geschieht aber nicht. Außerdem muss man langfristig denken. Damit bin ich bei dem Beitragssatz. Es hat bisher noch niemand deutlich gesagt, dass die jetzige Beitragssatzsenkung in bereits wenigen Jahren eine um so stärkere Beitragssatzsteigerung bedeutet. ({1}) Das kann man den Berechnungen der Bundesregierung entnehmen und im letzten Rentenversicherungsbericht nachlesen, Herr Straubinger. Spätestens 2019 soll der Beitragssatz wieder stärker ansteigen. Das ist auch logisch; denn wir brauchen aufgrund der demografischen Entwicklung in der Zukunft ja einen höheren Beitrag. Wenn wir jetzt weiter heruntergehen, muss der Beitragssatz später umso stärker ansteigen. Auch von daher wäre es das Beste, eine möglichst konstante Beitragssatzentwicklung zu haben. Das ist insbesondere für die Wirtschaft, die Ökonomie, aber auch für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger besser, weil sie sich darauf verlassen können. ({2}) Also, das Ganze ist Stückwerk und sehr kurzfristig gedacht. Das ist vielleicht verständlich; denn die Regierung plant nur noch bis September nächsten Jahres, weil es dann eine neue Regierung geben soll. Jetzt, da so viel grundsätzlich über die Rente diskutiert wird, wäre der richtige Zeitpunkt, über diesen Anpassungsmechanismus nachzudenken. Wir haben jetzt sinkende Renten und sinkende Beitragssätze, und das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. In der Haushaltsdebatte gab es zum Beispiel einen Vorschlag des Kollegen Karl Schiewerling aus Ihrer Fraktion, über den man nachdenken könnte, nämlich die Nachhaltigkeitsrücklage auf drei Monatsausgaben zu erhöhen. Es ist wichtig, die Dinge einmal zusammenzudenken und zu schauen: Was brauchen wir, wie soll es finanziert werden, und wie bekommen wir das mit stabilen Beitragssätzen hin? Ich möchte zum Schluss noch auf das Rentenniveau eingehen. Dazu hatte Herr Kolb tatsächlich etwas Richtiges gesagt. ({3}) Er hat gesagt, die Senkung des Rentenniveaus stehe in keinem Gesetz und sei auch von niemandem - auch nicht von Rot-Grün - beschlossen worden. Wir haben damals vielmehr gesagt, dass wir die Rente umstellen und eine konstante Beitragssatzentwicklung wollen. Das ist eine sehr vernünftige Sache. Das Rentenniveau entwickelt sich dann nach der Rentenformel. In der Rentenformel gibt es zwei wesentliche Punkte, nach denen sich das Rentenniveau bestimmt. ({4}) Der erste ist die Lohnhöhe, und der zweite sind die Menschen, die in die Rentenversicherung einzahlen. Bei beiden Punkten gibt es noch sehr viel Luft nach oben. Punkt eins. Wir brauchen bessere Löhne. Wir brauchen einen Mindestlohn, branchenspezifische Mindestlöhne und eine stärkere Tarifbindung. Insgesamt brauchen wir höhere Löhne. Allein dadurch würde das Rentenniveau steigen. ({5}) Punkt zwei. Auch bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist noch Luft nach oben, und zwar deutlich. Es wird gerühmt, dass wir zurzeit mit ungefähr 29 Millionen relativ hoch liegen. Aber es gibt insgesamt 40 Millionen Erwerbstätige. Die Lücke zwischen der Zahl der Erwerbstätigen und der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war selten so groß wie heute. Das heißt, wir müssen dazu kommen, dass diejenigen, die erwerbstätig sind und nicht in die Rentenversicherung einzahlen, wieder rentenversicherungspflichtig werden. Auch das ist eine Möglichkeit, um langfristig das Rentenniveau zu erhöhen, und zwar bei einer stabilen Beitragsentwicklung. Aber dafür muss man nachhaltig agieren und die Dinge zusammendenken. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Max Straubinger. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strengmann-Kuhn, die Lücke zwischen der Zahl der möglichen Erwerbstätigen - das sind 50 Millionen - und den tatsächlich Erwerbstätigen - das sind 41 Millionen - war noch nie so klein. Früher war das anders. Als noch Rot-Grün regiert hat, gab es nur 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Nun sind es 29 Millionen. Das ist der große Erfolg der Bundesregierung. ({0}) Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der Rentenversicherung wider. Die Koalition steht für Verlässlichkeit in der Rentenpolitik. Unter Rot-Grün wurde die Nachhaltigkeitsrücklage auf 1,5 Monatsausgaben festgesetzt. Möglicherweise hat damals niemand von Rot-Grün daran gedacht, dass diese Rücklage jemals erreicht werden wird. ({1}) Nun haben wir es erreicht. Das führt automatisch dazu, dass wir die Rentenversicherungsbeiträge zu senken haben. Das tun wir auch. Unser Ansinnen ist nicht wahlkampftaktisch geprägt. Vielmehr kommen wir dem gesetzlichen Auftrag nach, die Rentenversicherungsbeiträge zu senken. Dies ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Betriebe in unserem Land sowie der Rentnerinnen und Rentner. Aufgrund der Nettolohnbezogenheit werden höhere Rentenanwartschaften im nächsten Jahr erworben. Dies ist die positive Botschaft, die aus unserer Rentengesetzgebung resultiert. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald von der Fraktion Die Linke?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank, Herr Straubinger, dass Sie meine beiden Zwischenfragen zulassen. - Die erste Frage lautet: Sie haben eben gesagt, es sei gesetzlich festgelegt, dass die Nachhaltigkeitsrücklage ab einer bestimmten Größenordnung gesenkt werden müsse. Stimmen Sie mir zu, dass wir als Gesetzgeber das Gesetz ändern könnten? Meine zweite Frage lautet: Sie stellen das alles so dar, als ob Einigkeit in der Union herrschte. Mir liegt ein Antrag vor, der vom Saarland - dessen Ministerpräsidentin ist Ihre CDU-Kollegin mit dem schönen, langen Namen Kramp-Karrenbauer - im Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik des Bundesrates eingebracht wurde. Sie hat etwas sehr Vernünftiges eingebracht. Ich zitiere: Der Bundesrat lehnt die sich aus der aktuellen Gesetzeslage voraussichtlich ergebende Senkung des Beitragssatzes für die gesetzlichen Rentenversicherung ab. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung stattdessen auf, dafür Sorge zu tragen, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Ausbau der Nachhaltigkeitsrücklage zu einer Generationen-Reserve zügig begonnen wird. Thüringen und Sachsen-Anhalt finden das auch gut. Was sagen Sie denn dazu?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zu Ihrer ersten Frage. Natürlich könnten wir als Gesetzgeber das ändern. Aber wir wollen das nicht ändern, ({0}) weil es im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Betriebe sowie der Rentnerinnen und Rentner ist, wenn der Beitragssatz zum 1. Januar nächsten Jahres auf 19 Prozent abgesenkt wird. Dann haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld in der Tasche. Sie werden bei den Beiträgen entlastet. Ich bin schon verwundert: Die SPD und vor allen Dingen die Linken sagen immer, die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse gestärkt werden. Wir stärken die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber Sie stellen sich dagegen. Das verstehe ich nicht. ({1}) Wir machen das auch generationengerecht. Das Rentenniveau hängt von der Beschäftigungslage ab. Das Beschäftigungsniveau ist zurzeit sehr hoch. Ich bin zuversichtlich, dass wir es auch in Zukunft hoch halten bzw. sogar ausbauen werden, insbesondere wenn Union und FDP weiterhin gemeinsam regieren. ({2}) Frau Ferner, da täuschen Sie sich gewaltig. Zu Ihrer zweiten Frage. Sicherlich gibt es auch Stimmen in der Union, die für eine höhere Nachhaltigkeitsrücklage sind. Ich frage mich aber, ob das auch gut angelegtes Geld ist. Die gesetzliche Rentenversicherung verfügt derzeit über eine Rücklage von 28 Milliarden Euro. Die Anlagemöglichkeiten für die Rentenversicherung sind bekanntermaßen sehr begrenzt. ({3}) Sie beschränken sich auf den Kauf von Staatsanleihen Deutschlands - das ist in Ordnung und richtig so - und vielleicht noch anderer Länder, die auch als sicher gelten. Diese erwirtschaften aber in der Regel einen Ertrag, der so gering ist, dass er durch die Inflation wieder aufgezehrt wird und somit eine negative Rendite erwirtschaftet wird. ({4}) - Herr Birkwald, bleiben Sie stehen. Sie haben mich gefragt, und so viel Anstand müssen Sie schon aufbringen. ({5}) Das bedeutet: Wenn wir die Nachhaltigkeitsrücklage noch erhöhen würden, ({6}) was Sie in Ihrem Antrag fordern und was auch im Gesetzentwurf der SPD beabsichtigt ist, würden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Verluste erleiden. Das können wir diesen nicht zumuten. ({7}) Mit unserem Gesetzentwurf schaffen wir die gesetzliche Grundlage. Ich bin überzeugt - das habe ich schon zum Ausdruck gebracht -, dass damit letztendlich den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betrieben und den Rentnerinnen und Rentnern gedient ist. Angesichts der Tatsache, dass die konjunkturellen Aussichten nicht mehr ganz so positiv sind wie in der Vergangenheit, setzen wir mit unserer Maßnahme einen konjunkturellen Impuls. Kollege Kolb hat darauf hingewiesen: Es handelt sich um eine Entlastung von knapp 6 Milliarden Euro für die Betriebe bzw. die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie blockieren zusätzlich im Bundesrat eine steuerliche Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Abschaffung bzw. Abflachung der kalten Progression. Insgesamt wäre das eine Entlastung von 12 Milliarden Euro. Dies würde wirtschaftsMax Straubinger politisch einen kräftigen Impuls darstellen und für mehr Arbeitsplätze und damit mehr Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in unserem Land sorgen. ({8}) Deshalb sollten Sie von der Opposition sich diesem Ansinnen der Bundesregierung nicht entziehen. Im Gegenteil, Sie sollten den Gesetzentwurf der Bundesregierung unterstützen. Das wäre meines Erachtens die bessere Position. Die SPD hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der zum Ziel hat, die Begrenzung der Nachhaltigkeitsrücklage auf 1,5 Monatsrenten abzuschaffen und von jeglicher Begrenzung abzusehen. Sie von der SPD bleiben natürlich die Antwort schuldig, wie hoch eine Nachhaltigkeitsrücklage überhaupt sein soll. Möglicherweise ist das gar nicht vorgesehen, weil Ihr Rentenkonzept darauf abzielt - die Kollegen haben schon darauf hingewiesen -, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ständig zu belasten, damit Sie die Rente mit 67 wieder rückgängig machen können - die Frau Bundesministerin hat darauf hingewiesen ({9}) und um andere rentenpolitische Entscheidungen, die notwendig waren, um eine dauerhafte Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Rentenversicherung in Zukunft zu erreichen, zu revidieren. Möglicherweise wollen Sie weitere Ausgaben damit finanzieren. Das ist das einzige Ansinnen der SPD - Herr Kollege Juratovic, Sie schütteln mit dem Kopf -, das in dem Gesetzentwurf, der in den Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, zum Ausdruck kommt. Sie wollen letztendlich Finanzmittel bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abkassieren, um sich eigene Wünsche zu erfüllen und sich den Gewerkschaften wieder anzunähern. Das ist das Ansinnen Ihres Gesetzentwurfes und Ihrer Politik.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Straubinger, der Kollege Ernst würde Ihnen auch gern die Gelegenheit geben, auf eine Zwischenfrage zu antworten.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dem bin ich so in Herzlichkeit verbunden, da kann ich nicht ablehnen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Straubinger, danke. - Würden Sie mir zustimmen, dass die Gelder, die jetzt in der Rentenkasse sind, den Rentnern dann zugutekommen, wenn sie in irgendeiner Form ausgezahlt werden? Würden Sie mir auch zustimmen, dass, wenn man dieses Geld jetzt durch eine Beitragssenkung verbrät, dies den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die irgendwann Rentnerin und Rentner werden, nur zur Hälfte zugutekommt, weil die andere Hälfte ja den Arbeitgebern zugutekommt? Würden Sie unter dieser Bedingung tatsächlich den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen der SPD, die Rentenbeiträge jetzt nicht zu kürzen, ein Griff in die Tasche der Menschen ist, die diese Beiträge erwirtschaftet haben, also die abhängig Beschäftigten? Ist es nicht vielmehr eigentlich im Interesse gerade der jungen Generation, jetzt durch eine vernünftige Verwendung der Rentenbeiträge zu einer Sicherung des Rentenniveaus beizutragen, damit sie später nicht in Altersarmut geschickt wird? ({0}) Meine letzte Frage: Würden Sie unter all diesen Bedingungen den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen, den Rentenbeitrag jetzt nicht zu kürzen, darauf abzielt, in die Tasche der Menschen zu greifen, die in den Betrieben arbeiten? ({1})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich ist das Ganze ein Griff in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch der Betriebe. Vor allen Dingen, Herr Kollege Ernst, ist Ihr Ansinnen ja nicht, eine Demografierücklage zu bilden. ({0}) Ihr Ansinnen ist, mehr Leistungsversprechen zu erfüllen. ({1}) Genau das ist nicht im Sinne der jungen Generation. Herr Kollege Ernst, derzeit sind in Deutschland 50 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl wird sich bis zum Jahr 2030 auf 42 Millionen vermindern. Die Prognosen besagen, dass es in Deutschland im Jahr 2060 nur noch 32 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter geben wird. Angesichts dessen würde man den künftigen Generationen, gerade denen, die heute jung sind - Sie glauben, ihnen dadurch helfen zu können, dass Sie dafür eintreten, dass der Beitragssatz hoch bleibt -, eine gewaltige Last aufbürden, eine Last, die sie nicht mehr tragen könnten. ({2}) Das ist es, und das wollen Sie nicht wahrhaben. Sie wollen Menschen in irgendeiner Art und Weise zusätzlich beglücken. ({3}) Aber wir stehen für eine langfristige Politik, weil wir auch langfristig Regierungsverantwortung tragen. Das ist entscheidend. ({4}) Wir können das verantworten. Sie in der Opposition denken von heute auf morgen, und damit ist die Sache für sie erledigt. ({5}) Wir bringen zielorientierte rentenpolitische Entscheidungen zustande. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur empfehlen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in zweiter und dritter Lesung zuzustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die Kollegin Bettina Hagedorn von der SPD-Fraktion. ({0})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das, was uns die Koalition hier gerade an Redebeiträgen geboten hat, ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten. ({0}) Da sagt die Ministerin, sie fühle sich der einzahlenden Generation verpflichtet, und vergisst dabei, zu erwähnen, dass sie das auf dem Rücken der künftig einzahlenden Generationen tut, die sie in ihren Sonntagsreden sonst immer so gerne vor sich herträgt. Herr Kolb deklariert die 5,4 Milliarden Euro, die durch diese Beitragssatzsenkung den Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegeben werden sollen, quasi als eine karitative Veranstaltung. Er sagt: Die Betroffenen werden uns dankbar sein. ({1}) Genau das ist Ihr Kalkül. Das, was Sie hier machen - eine Rentenbeitragssatzsenkung -, ist der Kitt, der Ihre Koalition ein Jahr vor der Bundestagswahl zusammenhalten soll. Das Ganze ist eigentlich ein Wahlgeschenk. Es soll ein Wahlkampfschlager werden. ({2}) - Genau. Die Leute wollen es gar nicht. Sie sind vernünftiger, als Sie denken. - Wissen Sie was? Dieses Vorgehen ist unverantwortlich. Vor allen Dingen versuchen Sie zu kaschieren, dass die Bundesregierung bei dieser ganzen Nummer, mit dieser Senkung, den eigenen Haushaltsentwurf frisiert, und zwar um exakt 2 Milliarden Euro. Das tun Sie auf dem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Sie tun so, als könnten Sie im Schlafwagen die Schuldenbremse einhalten. Diese Frisiernummer machen Sie nicht nur bei der Rente, die machen Sie auch beim Gesundheitsfonds, die machen Sie auch bei der Bundesagentur für Arbeit und auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen, und das im milliardenschweren Bereich. Das ist einfach unverantwortlich. ({3}) „Beitrag zur Konsolidierung“ nennt Herr Schäuble - der Stuhl des Finanzministers ist bei dieser Debatte erstaunlicherweise leer - seinen „Vorwegabzug“ zulasten der Rentenkasse. Das sind 1 Milliarde Euro im Jahr 2013 und 1,25 Milliarden Euro jeweils bis 2016, sprich 4,75 Milliarden Euro bis zum Ende des Finanzplanraums, die er von der Rentenkasse zugunsten seines Bundesetats umschaufelt. Ab 2017 soll dann paradoxerweise diese Maßnahme wieder umgekehrt werden, 2017, wenn wir unter einem verschärften Konsolidierungszwang aufgrund der Schuldenbremse stehen werden. Hinzu kommt, dass wir noch nicht wissen, ob die ganzen Steuerquellen und Beitragsquellen dann genauso sprudeln werden, wie es in der jetzigen konjunkturellen Lage der Fall ist. Aber dann wollen Sie das Rad zurückdrehen. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Noch eine zweite Stellschraube nutzen Sie - das ist genau die, die wir hier jetzt diskutieren -, um Ihren Haushalt zu frisieren. Das ist diese Beitragssatzsenkung. Etwas ist ja ganz erstaunlich: dass der Finanzminister die 1 Milliarde Euro, von der hier noch nicht die Rede war, die der Bund bei dieser Nummer „spart“, schon im Juli in seinen Haushaltsentwurf eingerechnet hat. Das heißt, er hat schon im Juli seinen Haushaltsentwurf um 2 Milliarden Euro schöngerechnet. ({4}) Wissen Sie, was? Das sind insgesamt 9,5 Milliarden Euro während des Finanzplanraumes, die er hier einkassiert hat. Dann will ich noch einmal daran erinnern, dass diese Regierung ja auch schon 2011 1,8 Milliarden Euro zulasten der Rentenkasse „konsolidiert“ hat, wie sie es so schön nennt, nämlich zulasten der Langzeitarbeitslosen. ({5}) Wenn ich das noch einmal dazurechne, dann sind das bis 2013 5,4 Milliarden Euro und 10,8 Milliarden Euro bis zum Ende des Finanzplanraums. Bei diesen Zahlen wird deutlich, dass Sie Ihre Schuldenbremse bis 2016 nur deshalb angeblich erreichen können, weil Sie einen schamlosen Griff in die Sozialkassen machen. ({6}) In Europa baut man den Popanz Deutschlands als Supersparregierung auf, und in der Realität bedient man sich vor allem an den Sozialkassen, und das in konjunkBettina Hagedorn tureller Boomphase. Das ist genau das, was mein Kollege über die schwäbische Hausfrau gesagt hat. Wir haben jetzt - wir sagen ausdrücklich: glücklicherweise eine Zeit, in der die Steuereinnahmen und die Beitragseinnahmen sprudeln. Aber was machen Sie? Sie schöpfen den konjunkturell entstandenen Rahm auf den Sozialkassen ab, um so zu tun, als würden Sie sparen. Aber Sie tun es gar nicht. Sie machen keine Strukturveränderung, wie Sie es einmal zugesagt haben, Sie bauen keine Subventionen und all diese Dinge ab, und vor allen Dingen machen Sie es wieder nur auf dem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wissen Sie, was? Ich empfehle Ihnen dringend: Stimmen Sie dem Antrag der SPD zu, einen Demografiefonds aufzubauen! Das ist die richtige Antwort in dieser Zeit, und das ist das, was die Menschen auch von uns erwarten. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/10743, 17/10779 und 17/10775 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({1}), Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern - zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich machen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinderund Jugendhilfe in Deutschland - 13. Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksachen 17/3178, 17/3863, 16/12860, 17/4754 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Tauber Marlene Rupprecht ({2}) Miriam Gruß Katja Dörner b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die jugendfreundlichste Kommune Deutschlands - Drucksachen 17/9397, 17/7846, 17/9840 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Tauber Florian Bernschneider Katja Dörner Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion. ({4})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz gut, dass wir uns wieder einmal Zeit nehmen, über die Kinder- und Jugendpolitik in diesem Land zu reden, und dass wir uns bei dieser Gelegenheit mit dem Kinder- und Jugendbericht und mit den Anträgen aus dem Hause, die vorliegen, beschäftigen und uns ein bisschen die aktuelle Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland vor Augen führen. Ich wage die Prognose - auch wenn ich der erste Redner in der Debatte bin -, dass das Bild der Situation der Kinder und Jugendlichen in diesem Land, das die Vertreter der Opposition zeichnen werden, eines sein wird, bei dem man sich fragen muss: Lohnt es sich, in diesem Land Kind oder Jugendlicher zu sein? Deshalb möchte ich mit Blick auf die aktuelle Situation an den Anfang meiner Rede eher die positiven Aspekte stellen: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Während der Durchschnitt bei mehr als 20 Prozent liegt, sind in Deutschland nur knapp 8 Prozent der Jugendlichen ohne Job. Wir haben fast 200 000 freie Ausbildungsplätze in diesem Land. Das ist eine Entwicklung, die sensationell ist, wenn man sich die Situation von vor zehn Jahren vor Augen führt. Damals war ich noch ehrenamtlicher Stadtverordneter in meiner Heimatgemeinde. Seinerzeit sind alle Stadtverordneten quer durch die Fraktionen zu den Unternehmen gepilgert, um auf Knien darum zu bitten, Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Unternehmer haben alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und haben gesagt: Jetzt kommt ihr noch, wir leiden schon unter der rot-grünen Bundesregierung; wir können keine Ausbildungsplätze bereitstellen. - Die gibt es heute im Übermaß. Fast jeder junge Mensch, der einen Schulabschluss hat, findet den Ausbildungsplatz, den er sich wünscht. ({0}) Das heißt, in nur einem Jahr ist die Jugendarbeitslosigkeit um 14 Prozent gesunken, während sie anderswo in Europa steigt. Das ist eine wirklich gute Nachricht für die jungen Menschen in diesem Land. Dasselbe gilt, wenn auch nur eingeschränkt, für die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Hartz IV angewiesen sind. Diese ist immer noch viel zu hoch, aber auch sie sinkt, und auch das ist eine gute Nachricht. Man sollte bei dieser Gelegenheit durchaus einmal in den Blick nehmen, dass in Berlin 33 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf Hartz IV angewiesen sind, in Bayern aber nur 6,2 Prozent. ({1}) Jetzt kann man sich durchaus die Frage stellen: Hat das etwas mit Politik zu tun? Hat das etwas mit Familienbildern zu tun, die gelebt werden? Ich glaube, ja. ({2}) - Nein, ich werfe das niemandem vor, Frau Kollegin. Ich bin für Ihren Zwischenruf sehr dankbar. Vielleicht kleiden Sie ihn beim nächsten Mal in eine Frage; ich greife ihn jetzt trotzdem auf. Ich werfe das niemandem vor. Aber ich frage mich schon, welche Familienbilder man vorlebt und vorgibt ({3}) und welche Rahmenbedingungen man setzt, damit Familie gelebt werden kann. Offensichtlich sind diese in Bayern nun einmal ein bisschen besser als in Berlin. Das zeigen zumindest die Zahlen. ({4}) Wir haben Weiteres geleistet. Wir haben das Deutschlandstipendium auf den Weg gebracht, wir haben in das BAföG investiert. Erstmals stehen für das BAföG mehr als 3 Milliarden Euro zur Verfügung. Mehr als 900 000 Menschen profitieren davon. Auch das ist eine gute Nachricht. Die weitere gute Nachricht ist, dass die Zahl der Schulabbrecher deutlich gesunken und die Zahl der Gymnasiasten deutlich gestiegen ist. Wir machen also ernst mit der Bildungsrepublik. Das sind gute Nachrichten für die jungen Menschen in diesem Land. ({5}) Was tun wir darüber hinaus? Wir haben in die Schulsozialarbeit investiert, weil wir wissen, dass junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen Hilfesysteme brauchen. Der Bund ist hier in die Finanzierung eingestiegen, obwohl das eigentlich Aufgabe der Länder und der Schulträger ist. Wir haben das Bildungs- und Teilhabepaket auf den Weg gebracht. Von den Klassenfahrten über die Schülerbeförderung über die Nachhilfe bis hin zur Mitgliedschaft in Vereinen - wir leisten einen Beitrag dazu, dass junge Menschen in diesem Land Perspektiven haben. ({6}) Wir haben die Jugendfreiwilligendienste in einem Maße ausgebaut, von dem Sie zu Beginn der Legislaturperiode nur geträumt haben. Die Botschaft, die wir damit den jungen Menschen mit auf den Weg geben, ist eine ganz klare: Ihr werdet gebraucht. Wir wollen, dass ihr in dieser Gesellschaft Verantwortung übernehmt, dass ihr Erfahrungen sammelt. - Mehr als 90 000 Menschen engagieren sich in den verschiedenen Säulen der Freiwilligendienste. Das ist eine Leistung dieser Politik, aber vor allem der jungen Menschen, die einen solchen Freiwilligendienst leisten. ({7}) Wir haben die Förderung des Kinder- und Jugendplans konstant gehalten, um selbstständige Jugendarbeit zu ermöglichen. Das ist die Grundlage für die Verbände, das ist die Grundlage für die ehrenamtliche Betätigung von jungen Menschen in diesem Land, und das trotz der Vorgaben der Schuldenbremse. Auch das ist ein klares Bekenntnis zu einer eigenständigen Kinder- und Jugendpolitik. Dieses Thema kann man jetzt weiter ausführen. Ich nenne die Verbesserung der Mobilität. Für Jugendliche im ländlichen Raum ist der Führerschein ab 17 interessant. Erstmals unterscheiden wir zwischen Kinder- und Jugendpolitik, weil wir anerkennen, dass Jugendliche andere Bedürfnisse haben als Kinder. Mit 13 Jahren ist es nicht mehr sexy, in den Streichelzoo zu gehen. Dann hat man andere Wünsche, was die eigene Freizeitgestaltung betrifft. Das symbolträchtige Thema Kinderlärm und die Tatsache, dass man dagegen nicht mehr klagen kann - es war ein wichtiger Schritt, dass wir das auf den Weg gebracht haben. ({8}) Neben den positiven Beispielen und Zahlen, sollte man auch das in den Blick nehmen, was schwierig ist. Es gibt Kinder und Jugendliche in unserem Land, die unsere Hilfe brauchen, weil sie sie in ihrer Familie nicht in ausreichendem Maße bekommen, weil sie es nicht schaffen, ihren Weg zu gehen. Das ist eine zusätzliche Aufgabe, die sich für uns stellt. Natürlich müssen wir uns um diese jungen Menschen kümmern. Die Probleme sind vielfältig. Mit Blick auf meine Generation könnte man sagen: Junge Leute sind heute ein bisschen langweiliger als wir früher. Sie sind zumindest sehr viel vernünftiger, als es vielleicht meine Generation war. Die Zahl derer, die exzessiv trinken, die rauchen und kiffen, geht deutlich zurück. Ob es vor diesem Hintergrund vorbildlich ist, wenn führende grüne Spitzenpolitiker darüber räsonieren, welche Farben die Drachen haben, die sie im Drogenrausch gesehen haben, sei dahingestellt. ({9}) Wir erkennen, dass die Zahl junger Menschen, die suchtgefährdet sind, deutlich zurückgeht. Wir erkennen aber auch neue Herausforderungen: Glücksspiel, Onlineabhängigkeit, Internetsucht. Wir haben die Aufgabe, präventive Angebote zu machen und für Aufklärung zu sorgen. Ich habe einleitend gesagt, dass in diesem Land die Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, noch viel zu hoch ist. Das ist eine Aufgabe, die wir angehen müssen. Wir müssen uns aber auch fragen, ob wir das allein mit staatlichen Hilfesystemen schaffen. Am Ende müssen wir Eltern ermutigen und in die Lage versetzen, ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Wir Politiker können zwar viele Dinge wollen, wir brauchen aber Menschen, die sich dieser Herausforderung stellen. Dies sind am Ende des Tages in erster Linie immer die Eltern. Es bleibt dabei, dass der demografische Wandel eine große Herausforderung für unser Land ist. Wenn man auf meine eingangs gestellte Frage zurückkommt und sich überlegt, ob in diesem Land Kinder und Jugendliche Chancen haben, groß zu werden, ihre Ideen und Wünsche zu verwirklichen, sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen, dann kann man zu dem Ergebnis kommen, dass es wahrscheinlich wenig Länder auf diesem Globus gibt, in denen junge Menschen solche Chancen haben. Wenn wir - ohne die Probleme beiseiteschieben zu wollen - das nicht stärker in den Mittelpunkt rücken, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn junge Paare sagen: Warum soll ich in diesem Land Kinder in die Welt setzen? Es ist viel zu gefährlich. - Ich bleibe dabei: Sie zeichnen hier oft ein Bild, das nicht der Lebenswirklichkeit entspricht. ({10}) Gleich können Sie wieder das Leben von jungen Menschen in den schwärzesten Farben beschreiben. Die Lebenswirklichkeit sieht jedoch ein bisschen anders aus. Deswegen brauchen junge Menschen keine Angst vor einem Land zu haben, wie Sie es beschreiben. Sie müssten vielleicht Angst vor einem Land haben, das Sie regieren. Das ist der entscheidende Unterschied. Ich freue mich auf die weitere Debatte. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Marlene Rupprecht. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der Anlass unserer heutigen Debatte ist der 20. September, nämlich der Weltkindertag. An diesem Tag lassen wir in Deutschland - in anderen Ländern geschieht das an anderen Tagen - Revue passieren, was für Kinder getan worden ist bzw. getan wird. Hierzu gibt es aus den unterschiedlichen Fraktionen einige Anträge, die dem Parlament zum Teil schon länger vorliegen. Man sieht, dass einiges von dem, was in diesen Anträgen steht, bereits abgearbeitet wurde. Ich ziehe es vor, keine Bierzeltrede zu halten. Ebenso ziehe ich es vor, keine Konfrontationspolitik zu betreiben, weil Eltern und Kinder davon die Nase voll haben. Sie wollen nämlich ganz schlicht und ergreifend, dass ihre Situation wahrgenommen wird und dass wir alles tun, um die Lebensbedingungen möglichst so zu verändern, dass sie lebenswert sind. In unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht, geht es darum, wie Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Behindertenhilfe besser vernetzt und verzahnt werden können, sodass Kinder nicht zwischen den Rastern der Systeme - die für sich gesehen gut sind hindurchfallen. Das heißt: Die einzelnen Hilfen stehen zwar zur Verfügung, jedoch wird nicht immer optimal zusammengearbeitet. Seit 21 Jahren ist gesetzlich vorgeschrieben - in § 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes -, dass sich alle rund um das Kind Beteiligten zusammensetzen und absprechen sollen. Das wird leider nicht gemacht. Es geht darum, dass Eltern, wie es in Art. 6 des Grundgesetzes festgeschrieben ist, ihre Aufgabe gut wahrnehmen können. Dazu brauchen sie alle diese Systeme. Wenn ein Kind in die Schule geht, braucht es dort ein entsprechendes Umfeld, in dem es gesund aufwachsen kann. Das Gleiche gilt, wenn ein Kind in den Kindergarten geht. Wenn das Kind behindert ist, soll es ohne Ansehen der Behinderung auch dort unterrichtet oder betreut werden. In diesem Bereich gibt es in Deutschland nach wie vor ein großes Defizit, obwohl internationale Marlene Rupprecht ({0}) Konventionen unterzeichnet worden sind. In unserem Antrag findet sich einiges zu diesem Thema. Inklusion muss für alle Orte und bei allen Planungen von vornherein berücksichtigt werden, sodass Kinder - egal aus welcher sozialen Schicht sie kommen - so angenommen werden, wie sie sind, und es eben kein Muster gibt, wie sie sein sollen. Es ist die große Aufgabe der Politik, darauf hinzuwirken. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt, weil wir noch gelernt haben, dass es „normale“ und „nicht normale“ Kinder gibt, und dass die nicht normalen Kinder ausgesondert werden. Dieser Weg ist ein Lernprozess. Wir müssen endlich lernen, dass Kinder eigene Rechtspersönlichkeiten, eigene Rechtssubjekte sind. Auch wenn die Eltern die vornehme Pflicht und das Recht haben, sie zu erziehen, haben sie nicht das Recht, die Kinder so zu verformen oder zu verändern, dass sie Schaden nehmen. Ich erinnere hier nur an die derzeitige Diskussion über die Beschneidung; ich kann es nicht lassen. Hierbei zeigt sich ganz klar, wie wichtig es ist, sich wirklich für die Kinderinteressen einzusetzen und Kinder als Rechtssubjekte zu sehen, die von niemandem, egal welchen Auftrag sie haben, auch nur berührt werden dürfen, um sie dauerhaft zu verändern. Diese Diskussion müssen wir hier führen. In diesem Haus wird sie leider immer nur aus Erwachsenensicht geführt und nicht aus Kindersicht. Uns liegen Anträge vor, bei denen das Kindeswohl und das Wohlergehen beim Aufwachsen im Mittelpunkt stehen. Grundlage unserer Anträge war der 13. Kinderund Jugendbericht. Hierin ging es um die Verzahnung von Kinder- und Jugendhilfe sowie Gesundheitsförderung. Der Titel lautete: „Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen - Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“. Lassen Sie mich sagen, wie schwer es uns schon hier im Hause fällt, zusammenzuarbeiten. Es ist äußerst schwierig, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und den Gesundheitsausschuss unter ein Dach zu bringen. Wenn wir beispielsweise die Mitarbeiter des Gesundheitsausschusses bitten, sich etwas für den präventiven Bereich zu überlegen, dann heißt es: Was habt ihr uns schon vorzuschreiben? Dann denke ich: Wenn wir, die wir täglich miteinander umgehen, schon nicht zusammenkommen können, wie soll das dann erst draußen gelingen? Es ist unsere Aufgabe, das in Angriff zu nehmen. Das kann man nicht schlechtreden oder schönreden, sondern man muss schlicht zugeben, dass wir unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht haben. Gestern waren zwei Fachleute in der Kinderkommission, die uns gesagt haben, sie könnten keine Daten über psychisch kranke Kinder erfassen, weil es eine Richtlinie gebe, die das verbietet. Keiner jedoch konnte erklären, warum es diese Richtlinie noch gibt. Könnt ihr mir mal erklären, warum wir es hier nicht auf die Reihe bringen, dass wir wirklich alle Dinge für Kinder so regeln, dass es vom Kind, von der Familie aus gedacht ist, nicht von der Institution aus? Wir haben es hier im Deutschen Bundestag immer noch nicht geschafft, die Kinderrechte ins Grundgesetz zu bringen, damit eindeutig nachzulesen ist, dass die Kinder Rechtssubjekte sind. Ich wünsche mir, dass an drei Stellen des Grundgesetzes Änderungen vorgenommen werden: In Art. 2, in dem es um das Individuum geht, sollte das Recht auf die Entwicklung - das steht dort nämlich nicht - und die freie Entfaltung aufgenommen werden. In Art. 6 sollten die gemeinsamen Rechte von Eltern und Kindern gestärkt werden, um kindgerechte Lebensverhältnisse zu garantieren. Zudem hätte ich gern eine Änderung an Art. 45. Dort ist geregelt, dass es für die 180 000 Soldaten - Wehrpflichtige gibt es jetzt nicht mehr - einen Wehrbeauftragten mit fast 40 Mitarbeitern gibt. Wenn man das hochrechnet, dann kommt man für die 12 Millionen Kinder und Jugendlichen auf ein Amt mit über 2 000 Beschäftigten. Mir würden 40 Mitarbeiter reichen, wenn hier im Bundestag, neben dem Stuhl, auf dem unser Wehrbeauftragter sitzt, ein Kinderbeauftragter sitzen und die Interessen der Kinder wahrnehmen würde. Mit 40 Mitarbeitern wäre ich ganz zufrieden. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Florian Bernschneider das Wort. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir alle sind froh, dass wir heute zu einer recht prominenten Tageszeit die Gelegenheit haben, über Jugendpolitik zu diskutieren. Entsprechend verantwortungsvoll sollten wir diese Debatte führen. ({0}) Bevor ich zu den Punkten komme, wo wir uns nicht einig sind - ich verspreche Ihnen: auch dazu komme ich -, möchte ich vielleicht erst einmal eine Gemeinsamkeit herausstellen. Wir sind uns in einem Punkt einig: Die christlich-liberale Koalition geht mit der Etablierung einer Eigenständigen Jugendpolitik einen richtigen und wichtigen Schritt in die Zukunft. ({1}) Ich betone diese Gemeinsamkeit auch deswegen, weil ich der festen Überzeugung bin, dass die eigenständige Jugendpolitik nur dann gelingen kann, wenn wir alle an einem Strang ziehen. Denn wir alle wissen: Das ist kein Projekt für eine oder zwei Legislaturperioden, sondern eine langfristige Ausrichtung der Jugendpolitik. Wir alle wissen auch, dass nicht die Politik allein die Eigenständige Jugendpolitik gestalten wird, sondern es darauf ankommt, verschiedenste Akteure - Jugendverbände, Bildungsträger, Unternehmen, Medien - mitzunehmen. Deswegen ist es so wichtig und richtig, dass das Ministerium eine Allianz für Jugend etabliert hat, um all diese Akteure zusammenzubringen. Das alles, meine Damen und Herren, reicht natürlich nicht aus. Ich sage auch offen, dass wir uns als christlich-liberale Koalition natürlich daran messen lassen wollen, was wir mit konkreten politischen Handlungen für junge Menschen in diesem Land erreichen. Ich glaube, wir brauchen uns, was unsere Bilanz an dem Punkt angeht, nicht zu verstecken. Wir alle sind uns einig, dass es bei der Eigenständigen Jugendpolitik auch zählt, über die Ressortgrenze des BMFSFJ hinaus zu denken. Wenn man sich einmal anschaut, was wir da geschafft haben, erkennt man: Das ist keine schlechte Bilanz. Wir haben uns mit der Einführung des Führerscheins ab 17 verstärkt dem Aspekt der sicheren Mobilität Jugendlicher gewidmet. Wir haben mit dem Deutschlandstipendium und der Sommerferienjobregelung dafür gesorgt, dass sich Leistung eben auch für junge Menschen lohnt. Wir haben das BAföG erhöht und mit der Weiterführung des Programms „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ dafür gesorgt, dass auch diejenigen Jugendlichen mitgenommen werden, die es nicht immer ganz leicht haben. Das alles sind Punkte - man könnte das fortführen -, an denen man deutlich machen kann, dass in dieser Legislaturperiode schon viel passiert ist und viel auf den Weg gebracht wurde. Wir alle miteinander wollen nicht so tun, als ob das in jeder bisherigen Legislaturperiode auch so gut gelaufen wäre. ({2}) Wenn ich an jugendrelevante Diskussionen aus bisherigen Legislaturperioden denke, dann fallen mir die Diskussionen über Killerspielverbote, Alkoholverbotszonen, Alkopopsteuer usw. ein. All das hat doch mit dazu beigetragen, dass in unserem Land ein Bild von der Jugend von heute herrscht ({3}) - da muss Politik auch einmal ganz selbstkritisch sein nach dem Motto: Die sitzen zu lange vor dem Computer, die trinken zu viel Alkohol und überhaupt sind sie nicht in der Lage, Verantwortung für sich und erst recht nicht für das Land zu übernehmen. Ich finde, die Koalition hat mit dem Freiwilligendienstkonzept den besten Gegenbeweis zu diesem falschen Bild ermöglicht - der Kollege Tauber hat es gesagt -: ({4}) Wir hatten im Jahr 2009 im Durchschnitt 68 000 Zivildienstleistende; heute haben wir über 80 000 Freiwillige, die einen großen Dienst erweisen, und das ohne jeden Zwang. Das zeigt im Übrigen nicht nur, dass das Konzept Freiwilligendienst funktioniert, es zeigt auch, dass junge Menschen in unserem Land sehr wohl bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Nehmen wir den Bereich Partizipation, der in den Anträgen eine wesentliche Rolle spielt. Ehrlich gesagt: Von der Opposition höre ich dazu zu wenig. Ja, die Linken bringen zwar einen Antrag zum Thema „jugendfreundlichste Kommune“ ein - das Thema Kommune spielt in Bezug auf die Partizipation tatsächlich eine wichtige Rolle -, aber seien wir ehrlich: Das reicht nicht aus. Von SPD und Grünen höre ich den Klassiker: Absenkung des Wahlrechtalters. Es ist nicht nur so, dass ich immer noch nicht verstanden habe, wie man den jungen Menschen erklären soll, dass man zwar mit 16 zur Bundeswahl gehen soll, aber keinen Handyvertrag abschließen kann, auch allein die Tatsache, dass ich, wenn ich im falschen Jahrgang geboren wurde, von der Absenkung des Wahlalters überhaupt nicht profitieren würde, zeigt doch, dass das kein sinnvoller Schritt zur Partizipation junger Menschen sein kann. Deswegen ist die Förderung, die wir Ihnen in unserem Antrag vorschlagen, nämlich der U-18-Wahl - anders als die Kollegin Deligöz zu Protokoll gegeben hat - kein Feigenblatt, sondern tatsächlich ein guter Schritt, um junge Menschen an politischen Prozessen partizipieren zu lassen, egal wie alt sie sind: ob 14, 15 oder 17 Jahre und 364 Tage. Aber auch hier bleiben wir nicht bei Sonntagsfloskeln, die wir alle meiner Meinung nach viel zu lange und viel zu häufig benutzt haben, wenn es um das Thema Partizipation ging, sondern wir machen weitere konkrete Vorschläge, zum Beispiel zum Kinder- und Jugendplan. Es ist doch schlicht nicht zu erklären, warum es beim größten monetären Förderinstrument, das wir in der Kinder- und Jugendpolitik haben, für die jungen Menschen kaum Möglichkeiten gibt, dieses in irgendeiner Form beeinflussen zu können. Es ist so intransparent und in seinem Antragsverfahren so schwierig, dass es junge Menschen einfach abhängt. Deswegen ist die Reform, die wir hier vorschlagen, auch im Sinne von Partizipation wichtig. ({5}) Ich habe alle Anträge und auch die zu Protokoll gegebenen Reden sehr aufmerksam gelesen. Der Höhenflug, den die Grünen an Kreativität beim Thema Partizipation hatten, war die Forderung nach der Festschreibung von Beteiligungsinstrumenten in den Kommunalordnungen. Das ist vielleicht gut gemeint, aber man muss so ehrlich sein und sagen: Das können wir hier im Bundestag nicht entscheiden, das müssen die Bundesländer machen. Sie können gerne dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen, mit gutem Beispiel vorangehen. Ich will noch kurz auf den 13. Kinder- und Jugendbericht eingehen, besonders unter dem Aspekt der Eigenständigen Jugendpolitik. Unsere Eigenständige Jugendpolitik soll sich dadurch auszeichnen, dass wir zeigen, dass wir die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir stehen, ernst nehmen, dass wir aber auch den „ganz normalen“ Jugendlichen in unserem Land berücksichtigen. Der Kinder- und Jugendbericht zeigt deutlich, dass der überwiegende Teil junger Menschen und Kinder in unserem Land gesund und wohlbehütet aufwächst. Das sollten wir in der Politik betonen. ({6}) Trotzdem - Frau Rupprecht, Sie haben natürlich recht darf man die Augen nicht vor den Herausforderungen verschließen. Es ist schlicht nicht akzeptabel, dass die sozialen und finanziellen Verhältnisse des Elternhauses über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen entscheiden. Wir alle wissen um die Herausforderungen, die uns der Kinder- und Jugendbericht aufträgt. Wir alle - zumindest wir Familienpolitiker - sind der festen Überzeugung, dass eine große Lösung sicherlich die beste Lösung wäre. ({7}) Wir alle wissen auch, wie schwierig diese große Lösung ist. Deswegen bin ich Frau Rupprecht sehr dankbar, dass wir nicht anfangen, gegenseitig mit dem Finger aufeinander zu zeigen und zu sagen: Warum hast du nichts erreicht?, sondern gemeinsam versuchen, weiter konstruktiv an einer großen Lösung zu arbeiten. Als Koalition haben wir vielleicht nicht die große Lösung, aber in vielen kleinen Bereichen einiges auf den Weg gebracht haben. Ich will mir keine Tatenlosigkeit vorwerfen lassen. Wir haben das Teilhabepaket auf den Weg gebracht, wir haben das Bundeskinderschutzgesetz - mit deutlichem Akzent auf dem Thema Prävention, zum Beispiel durch Familienhebammen - und die Offensive „Frühe Chancen“ - bis zu 4 000 Schwerpunktkitas zum Thema „Sprache und Integration“ - auf den Weg gebracht. Vieles andere mehr ließe sich noch aufführen. Sie sehen: Auch in diesem Bereich geht die Koalition voran. Ich finde, wir können stolz auf die bisherige Bilanz unserer Kinderpolitik und der Eigenständigen Jugendpolitik sein. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in Ihren Anträgen statt auf blumige Worte auf konkrete Forderungen konzentrierten. Lassen Sie uns gemeinsam konkret an der weiteren Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen arbeiten. Beide Gruppen hätten es verdient. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Tauber, ich bin ein Stück weit verwundert über Ihre Aussage. Sie haben einen Vergleich zwischen Bayern und Berlin angestellt, dabei wissen Sie sehr genau, dass sich die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung in Berlin deutlich von der in Bayern unterscheidet. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es Familienkonstellationen gibt, Alleinerziehende zum Beispiel, die im Durchschnitt deutlich stärker von Sozialleistungen abhängig und von Armut betroffen sind. Den Alleinerziehenden das zum Vorwurf zu machen und an die Berliner Politik zu appellieren, für bessere Vorbilder zu sorgen, finde ich, gelinde gesagt, ziemlich arrogant. ({0}) Das hat mit einem Politikansatz, der danach fragt, wie man den Betroffenen helfen kann, überhaupt nichts zu tun. Schön finde ich aber, dass Sie zumindest zur Kenntnis nehmen, dass wir in unserem Land ungleiche Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche haben. Wir wissen aus diversen Untersuchungen - das wissen wir nicht erst seit diesem Kinder- und Jugendbericht, der sich auch mit der Kindergesundheit beschäftigt -, dass sich diese ungleichen Lebensbedingungen auf die psychische, die körperliche und die soziale Entwicklung von Kindern auswirken. Die Expertenkommission, die diesen Kinder- und Jugendbericht erarbeitet hat, hat nicht ohne Grund gesagt, dass Armut und soziale Benachteiligung die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gefährden. Nun ist die Frage, wie man mit solchen Erkenntnissen umgeht. Es ist bestimmt nicht sinnvoll, die Debatte über diesen Bericht immer wieder zu vertagen. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass aufgrund der Anträge der Opposition heute endlich über diesen Bericht diskutiert wird. Sinnvoll war mit Sicherheit auch das nicht, was diesbezüglich in der Bundespolitik in den letzten Jahren passiert ist. Ich will das kurz nennen: Die Regelsätze für Kinder und Jugendliche sind nach wie vor nicht nach ihrem Bedarf bemessen. Es tut mir leid, das hier noch einmal feststellen zu müssen, aber der Paritätische Wohlfahrtsverband hat schon vor Jahren eine Expertise vorgelegt, die belegt, dass diese Regelsätze deutlich unterbewertet sind. Allein in der Altersgruppe der 6- bis unter 14-Jährigen liegt der Regelsatz monatlich 86 Euro unter dem tatsächlichen Bedarf, und das hat eine Unterversorgung in den Bereichen Nahrung, Kleidung und Bildung zur Folge. Die Bundespolitik schaut seit Jahren zu, obwohl sie weiß, dass einige Eltern gar keine Chance haben, ihre Kinder gesund zu ernähren, sie ausreichend zu kleiden und zu fördern. Diesbezüglich ist in den letzten Jahren nichts passiert. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil hatte bezüglich der Kinderregelsätze keinerlei Konsequenz. Man muss es sogar als Gunst der christlich-liberalen Koalition verstehen, dass die Sätze nicht abgesenkt wurden. Das wurde uns hier häufig genug erzählt. Das kann nicht sein. Ich sage immer noch und immer wieder: Kinder sind keine kleinen Erwerbslosen, und deshalb muss endlich ein kindgerechter Regelsatz berechnet werden. ({1}) Weitere Stichworte möchte ich hier kurz nennen. Das Stichwort Präventionsprogramme ist in der Debatte schon gefallen. Von einem Präventionsgesetz sind wir meilenDiana Golze weit entfernt. Was es gibt, sind bunte Broschüren und Projekte, die in der Realität aber nicht helfen. Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde angesprochen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass das Geld nicht einmal bei der Hälfte der berechtigten Jugendlichen ankommt. Natürlich kann man den Eltern vorwerfen, dass sie die Anträge nicht stellen. Wer aber ein so kompliziertes Konstrukt erfindet, in dem Wissen, dass das Geld bei den Kindern und Jugendlichen nicht ankommt, muss sich doch an die eigene Nase fassen und hier endlich etwas ändern. Das setzt aber voraus - Marlene Rupprecht hat angesprochen, dass wir gestern in der Kinderkommission über Beteiligung gesprochen haben -, dass man Kindern und Jugendlichen gegenüber eine gewisse Haltung hat. Das setzt voraus, dass man Kinder und Jugendliche endlich als eine eigene Bevölkerungsgruppe mit eigenständigen Ansprüchen an die Gesellschaft begreift. Damit bin ich bei dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu einer Eigenständigen Jugendpolitik. Ich wusste, dass Sie das Deutschlandstipendium nennen. Die Zielgruppe dieses Stipendiums ist so klein, dass das für mich kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik ist. Auch aufgrund der unübersehbaren Zahl an Prüfaufträgen habe ich nicht die Hoffnung, dass Sie in dieser Regierungszeit zu einem Ende der Prüfungen, geschweige denn zu wirklichen Verbesserungen kommen. Dass Sie in diesem Zusammenhang die Privilegierung des Kinderlärms nennen, verstehe ich überhaupt nicht. Ich bitte Sie! Sie schließen den Jugendlärm damit explizit aus. Das ist doch kein Beispiel für eine Eigenständige Jugendpolitik. Das ist hier völlig fehl am Platz. Es bleibt dabei: Die Tatsache, dass man eine Eigenständige Jugendpolitik in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben hat, bringt noch nichts. Dass Sie die Fachgespräche mit den Verbänden aufgenommen haben, ist löblich, aus meiner Sicht aber selbstverständlich und kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik. Das heißt zusammenfassend: Wenn wir diesen Kinder- und Jugendbericht und die Kinder- und Jugendberichte der letzten Jahre ernst nehmen, dann müssen wir uns den Kindern und Jugendlichen als eigenständige Bevölkerungsgruppe nähern. Wir müssen den Vorrang des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor den anderen Sozialgesetzbüchern - das ist der allererste und wichtigste Schritt - endlich in der Realität durchsetzen. Wir müssen ein Aufwachsen in Armut verhindern. Diesbezüglich ist noch eine ganze Menge zu tun. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben einen sehr aufschlussreichen Bericht mit durchaus spannenden und bemerkenswerten Handlungsvorschlägen vorgelegt bekommen. Erstmals hat sich ein Kinder- und Jugendbericht dezidiert mit der gesundheitsbezogenen Prävention und der Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen befasst, und erstmals - auch das finde ich sehr bemerkenswert wurde die Situation von Kindern mit Behinderung ausdrücklich aufgenommen und mit in den Blick genommen. Mich irritiert aber sehr - das muss ich sagen -, dass die Regierungsfraktionen zum gesamten Bericht wenig beizutragen und nichts zu sagen haben. Sie haben sich offensichtlich nicht mit den Handlungsvorschlägen auseinandergesetzt, und sie befinden es auch nicht für notwendig, der Regierung einen klaren Auftrag im Sinne eines Forderungskatalogs, beispielsweise in Form eines Antrags, zum 13. Kinder- und Jugendbericht mitzugeben. ({0}) Diese Geringschätzung eines so wichtigen Themas das muss ich sagen - lässt eine gewisse Fassungslosigkeit bei mir aufkommen. Denn es ist bei weitem nicht so, als wäre alles in Butter. Der 13. Kinder- und Jugendbericht, aber auch viele Studien belegen, dass die Kinder in Deutschland sehr unterschiedliche Chancen haben, gut und gesund aufzuwachsen. Die Gesundheitsrisiken konzentrieren sich bei ungefähr 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Betroffen sind insbesondere diejenigen aus sozial schwächeren Familien und diejenigen mit Migrationshintergrund. Diese Ungerechtigkeit darf uns doch nicht kalt lassen. Wir wissen auch, dass es eine Verlagerung innerhalb des Krankheitsspektrums gegeben hat, und zwar von den akuten zu den chronischen Erkrankungen, von den somatischen zu den psychischen Störungen. Die Ursachen dafür liegen unter anderem im Bewegungsmangel, in falscher Ernährung, aber eben auch in einem zunehmenden Verlust von Sicherheit und von sozialer Einbindung. All das zeigt, wie wichtig es ist, heute konsequent zu handeln. Man darf sich vor diesen Problemen nicht einfach wegducken, wie diese Bundesregierung und die Regierungsfraktionen es tun. ({1}) Es wurde nach konkreten Vorstellungen und Forderungen gefragt. Diese möchte ich hier gerne anbringen. Wir brauchen beispielsweise ein Präventionsgesetz, das alle Akteure zusammenbringt und in dem verbindlich geregelt wird, wie die Zusammenarbeit und die Finanzierung zu gestalten sind. Wir müssen beispielsweise die Bundesländer darin unterstützen, in den Schulen gesundheitsförderliche Lernbedingungen zu schaffen. Die Vermittlung von Gesundheits- und Ernährungskompetenzen, Bewegungsangebote und eine ausgewogene Ernährung gehören unbedingt dazu. Wir haben eine Reihe ungelöster Schnittstellenprobleme; sie sind eben schon angesprochen worden. Diese müssen wir uns auch dringend vorknöpfen. Ich erwähne als Beispiel die Komplexleistung Frühförderung. Dies betrifft insbesondere auch die Aufsplitterung der Leistungen für Kinder mit Behinderung zwischen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe; auch das ist hier schon angesprochen worden. Ich freue mich, dass hier offensichtlich ein breiter Konsens besteht, dass wir aus kinder- und familienpolitischer Perspektive eine große Lösung anstreben sollten. Ich bin froh, dass dieser Vorschlag in der Stellungnahme der Bundesregierung zum 13. Kinder- und Jugendbericht explizit gemacht wird. Wir brauchen viel mehr Vernetzung zwischen den Angeboten aus dem Gesundheitsbereich und der Kinderund Jugendhilfe. Aber das darf man von der Bundesebene aus nicht immer nur von den anderen einfordern und erwarten, sondern man muss da selber auch mit gutem Beispiel vorangehen. Doch davon ist leider bei dieser Bundesregierung überhaupt nichts zu spüren. Bei ganz zentralen Aufgaben der letzten Monate und Jahre war das leider sehr eindeutig. Ich nenne als Beispiel nur das Programm „Frühe Hilfen“ und die Familienhebammen. Es ist sehr offensichtlich, dass der Gesundheitsminister die Familienministerin ziemlich schnöde hat auflaufen lassen. Wir alle haben das Programm unterstützt; wir alle fanden, dass das ein richtiges Programm ist. Angedacht war jedoch eine notwendige Vernetzung von Gesundheits- und Familienpolitik mit einem gemeinsamen Konzept und strukturell verankerter Finanzierung und nicht ein kleines Progrämmchen im Familienministerium. Hier hat - auch das muss man einmal sagen - das Gesundheitsministerium offensichtlich die Zeichen der Zeit und auch die Notwendigkeiten der Zeit nicht erkannt. Vielleicht hat die Koalition ja auch deshalb keinen eigenen Antrag zum 13. Kinder- und Jugendbericht vorgelegt. Ich finde jedenfalls, dass das ein Armutszeugnis für die schwarz-gelbe Politik ist. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Antrag betont die Eigenständigkeit der Jugendpolitik. Das setzt voraus, dass die Jugendzeit tatsächlich eine eigenständige Zeit ist. Das hat die Politik nicht immer erkannt. Es gab ja eine Zeit, in der wir die Jugend- und die Kinderpolitik als einen Politikbereich angesehen haben. Wir wollen die Selbstständigkeit der Jugendpolitik. Das haben Sie, Herr Bernschneider, betont, und das kann man nur unterstreichen; denn die Jugendzeit ist eine selbstständige Zeit. Sie hat ihren Sinn in sich. Sie ist eine Zeit, in der der Jugendliche zwar noch nicht Erwachsener ist, in der er aber nicht mehr Kind ist. Die Jugendzeit ist ihre Zeit, genauso wie die Kindheit ihre Zeit ist. Jeder Abschnitt hat seinen Sinn in sich. Deswegen ist es richtig, eine Eigenständige Jugendpolitik zu betonen. Wer dies nicht tut, nimmt die Jugend eigentlich nicht ernst genug. Natürlich wollen wir dabei nicht nur die Problemgruppen betrachten; das haben wir früher vielleicht zu oft getan. Wir haben manchmal nur die Problemgruppen gesehen, nicht aber die Gesamtheit der Jugendlichen; darauf kommt es uns aber an. Wir wollen die Interessen aller Jugendlichen erkennen und versuchen, sie zu vertreten. Es kommt natürlich entscheidend darauf an, dass wir den Jugendlichen die Chance geben, sich zu entwickeln. Wir dürfen sie aber nicht bevormunden. Wir müssen sie fördern, dürfen ihnen aber keinen Lebensentwurf vorschreiben. Zugleich müssen wir es schaffen, den Jugendlichen beizubringen - und zwar so, dass sie es in sich aufnehmen und dafür eintreten -, dass dieser Staat auf gewissen Voraussetzungen beruht, die man nicht einfach preisgeben darf und für die man kämpfen muss, die der Staat aber, wie Böckenförde gesagt hat, nicht selber garantieren kann. Die Jugendlichen und die anderen Menschen, die in einem Staat leben, können diese Grundlagen garantieren. Geben wir diese Grundlagen auf, dann geben wir unser ganzes Staatsgebilde auf. Dies deutlich zu machen, ist, wie ich meine, ein wichtiger Auftrag der Jugendpolitik. ({0}) Ein Weiteres scheint mir wichtig zu sein: Es kommt immer wieder vor, dass der Übergang von der Bildungszeit zur Berufszeit schwierig wird. Die Entscheidung für einen bestimmten Beruf erfordert Mut. Die ganz breite Perspektive, dass einem Jugendlichen die Welt gewissermaßen offensteht, wird in dem Augenblick verengt, in dem er sich entscheidet, einen bestimmten Beruf zu ergreifen. Diese Entscheidung ist allerdings eine Zukunftsentscheidung, in der die Zukunft zugleich Gestalt annimmt. Wenn sich nämlich jemand entscheidet, Schlosser, Schreiner, Arzt oder Anwalt zu werden, dann ist das eine Verengung, aber zugleich die Gestaltung der Zukunft. Wir wissen aus den Informationen, die uns vorliegen, dass gerade diese Phase für Jugendliche schwierig ist, weil die Entscheidung für einen bestimmten Beruf Mut erfordert. Viele bringen diese Entscheidung nicht zustande, und sie tauchen ab. Deswegen gibt es in manchen Kommunen - nicht in allen; aber eigentlich sollte sie in allen Kommunen eingeführt werden - eine Stelle, die sich um die Jugendlichen kümmert, die fragt: „Was ist eigentlich aus dem und dem, der sein Abitur oder seine mittlere Reife gemacht hat, geworden?“ und dem nachgeht. Dafür stellt das Ministerium Geld bereit. Es muss nur in Anspruch genommen werden. Ich meine, es ist auch notwendig, dass wir den Jugendlichen einen vernünftigen Umgang mit den Medien zu vermitteln versuchen. Die Medien sind eine hervorragende Einrichtung. Gerade für Jugendliche aus nicht sehr wohlhabenden Familien und für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist der Laptop eine Möglichkeit, an Wissen heranzukommen, an das sie sonst nicht so schnell kommen würden. Insofern ist das Internet, sind die Medien eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit für die Jugendlichen. Aber zugleich bergen sie Gefahren; das darf man nicht übersehen. Wir müssen dafür sorgen - das scheint mir auch Auftrag der Politik zu sein -, dass die Jugendlichen Medienkompetenz erlangen, dass sie nicht einfach alles in sich aufnehmen, sondern auch lernen, Inhalte einzuordnen und Abstand zu nehmen; das ist wichtig. Hier ist die Kommunalpolitik gefordert. ({1}) Aber noch viel mehr sind an dieser Stelle die Schulen gefordert. Dafür zu sorgen, ist ein wichtiger Auftrag der Schule. Wir haben die Verpflichtung, den Schulen dies mitzuteilen. Es kommt darauf an, dass gerade in den Schulen die Medienkompetenz gestärkt wird. ({2}) Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich die Jugend für die Öffentlichkeit engagiert und sich für die Aufgaben in der Öffentlichkeit interessiert. Es gibt Politikverdrossenheit - das stellen wir immer wieder fest -, und zwar in allen Schichten. Woher kommt sie? Eine Ursache mag sein, dass die Jugend nicht richtig informiert ist bzw. vielleicht auch gar nicht richtig informiert wird, weil die Jugendlichen, wenn sie abends den Fernseher einschalten, zu jedem Thema diese und jene Meinung hören und oft nur Streit wahrnehmen. Das alles mag richtig sein, aber das bringt uns ja nicht weiter und nützt ja nichts. Wir müssen die Jugend trotzdem an die Öffentlichkeit heranführen. Hier scheint es mir wichtig zu sein, sich die Gedanken zu machen, die Sie, Herr Bernschneider, hier vorgetragen haben. Wir müssen die Frage stellen: Wie können wir die Jugendlichen stärker teilhaben lassen und die Partizipation der Jugendlichen an der Öffentlichkeit und an den Aufgaben der Öffentlichkeit verstärken? Ich weiß nicht, ob es der richtige Weg ist, dass man jetzt das Wahlalter senken und Volksentscheide herbeiführen will. Wenn sie nicht zur Bundestagswahl gehen, dann gehen sie über kurz oder lang auch nicht zu Volksentscheiden. Das scheint nicht der richtige Weg zu sein. Ich glaube auch, dass die plebiszitären Elemente mit etwas mehr Vorsicht diskutiert werden müssen; denn durch die plebiszitären Elemente wird in einer Massendemokratie die Verantwortung ausgeschaltet. Ich kann das Volk für eine falsche Entscheidung nicht verantwortlich machen, aber ich kann eine Partei oder eine Regierung für eine falsche Entscheidung verantwortlich machen. Das Prinzip der Verantwortung gehört zu einer Massendemokratie. Ich glaube, dass die Jugendpolitik ein sehr wichtiger Ansatz in der Politik insgesamt ist. Deshalb freue ich mich über diese Diskussion heute. Sie soll unterstreichen, wie wichtig uns dieses Anliegen ist. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Stefan Schwartze für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Stefan Schwartze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Eckpunkte der Bundesregierung für eine Eigenständige Jugendpolitik liegen uns jetzt seit über einem Jahr vor, aber erst durch unsere Kleine Anfrage ist das Parlament darüber informiert worden, was die Bundesregierung eigentlich plant. Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen im Dialog mit verschiedenen Akteuren Leitlinien für eine Eigenständige Jugendpolitik erarbeitet und dem Kabinett vorgelegt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Absicht, Jugendpolitik wieder sichtbar zu machen. Wenn in den letzten Jahren über Jugendpolitik diskutiert worden ist, dann sehr oft defizitorientiert: über Jugendkriminalität, über Alkohol oder über Jugendarbeitslosigkeit. Wer redet aber eigentlich über die große Mehrheit der Jugendlichen, die ihren Weg geht? ({0}) Wer hat eigentlich über die Probleme der Jugendlichen in Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf diskutiert? Wer hat darüber diskutiert, dass junge Menschen Zeit zur Orientierung, Zeit für die eigene Entwicklung und Zeit für das Meistern von Übergängen brauchen? Wir brauchen ein Klima der Anerkennung und des Respekts gegenüber den Jugendlichen, und wir müssen wieder einen eigenständigen Politikbereich für die Jugend begründen. Ziel muss eine jugendpolitische Gesamtstrategie sein, wie sie leider schon lange nicht mehr sichtbar ist. Das sage ich an dieser Stelle auch ganz selbstkritisch. Jede neue politische Maßnahme und jedes neue Gesetz müssen im Hinblick auf die Gesamtstrategie überprüft werden. Wir brauchen einen Jugendpolitik-TÜV. ({1}) Es ist wichtig, dass die Leitlinien einer Eigenständigen Jugendpolitik auch ressortübergreifend diskutiert werden. Das Jugendministerium muss zumindest eine Koordinationsfunktion für alle Politikfelder bekommen, die für die Jugend relevant sind. Dabei darf es keine Ressortstreitereien geben. Ich weiß, Ihre Kernkompetenz von Schwarz-Gelb ist eigentlich der Streit miteinander, aber den müssen Sie an dieser Stelle einmal unter den Tisch fallen lassen. ({2}) Die SPD hat die Jugendpolitik zum Thema ihres ersten Parteikonvents gemacht, und wir haben im Juni einen Leitantrag zur Eigenständigen Jugendpolitik verabschiedet. Das war ein wichtiger und gut beachteter Impuls für die Jugendpolitik. ({3}) Wo bleibt aber eigentlich Ihr Impuls? ({4}) Die Koalition schreibt den Antrag der Linken zum Thema „Jugendfreundlichste Kommune“ ab. ({5}) Von uns kopieren Sie den Antrag zum Erhalt des Projekts der U-18-Wahlen. Herzlichen Glückwunsch! Das hat die SPD schon für den letzten Haushalt gefordert. Gut, dass Sie diesen Weg jetzt mitgehen. Gegen die einzelnen hier geforderten Maßnahmen ist nicht viel zu sagen: ({6}) ob das die Ausschreibung eines Preises für ein Praxishandbuch zur kulturellen Bildung ist oder der Preis für die jugendfreundlichste Kommune. Aber das kann doch an dieser Stelle nicht wirklich alles sein. Jugendpolitik muss die Interessenvertretung für alle jungen Menschen sein. ({7}) Die SPD will weder eine defizit- noch eine elitefixierte Politik. ({8}) Wir wollen alle befähigen, ihre Talente zu entdecken und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. ({9}) Im Bildungssystem brauchen junge Menschen auch zweite und dritte Chancen. Man muss Fehler machen dürfen. ({10}) Junge Leute brauchen diese Freiräume. ({11}) Sie brauchen Unterstützung beim Übergang von Schule in Beruf. Sie brauchen einen Rechtsanspruch auf einen Schulabschluss und auf eine Berufsausbildung. ({12}) Was tun Sie gegen die prekäre Beschäftigung, die besonders oft die jungen Menschen nach der Ausbildung trifft? Wir dürfen an dieser Stelle keinen jungen Menschen zurücklassen. Wir brauchen eine echte Partizipation von jungen Menschen. Wir brauchen das Wahlrecht ab 16 Jahren auch auf der Bundesebene. ({13}) Dazu findet sich in Ihren Anträgen kein Wort. Eine Eigenständige Jugendpolitik ist eindeutig mehr als das, was Sie hier auf den Tisch legen. Sie brauchen eine Gesamtstrategie und das notwendige Geld. Beides spielt in Ihren Anträgen leider keine Rolle. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/4754. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des 13. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung auf Drucksache 16/ 12860, unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3178 mit dem Titel „Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3863 mit dem Titel „Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/ 10777. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9840. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktion der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9397 mit dem Titel „Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen für Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse junge Menschen in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7846 mit dem Titel „Die jugendfreundlichste Kommune Deutschlands“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung - Drucksache 17/10773 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bringen heute einen Gesetzentwurf ein, mit dem die Geringfügigkeitsgrenzen von 400 Euro auf 450 Euro und die Grenze für das monatliche Gleitzonenentgelt ebenfalls um 50 Euro auf 850 Euro angehoben werden sollen. Wir sind der Meinung, dass diese Erhöhung angemessen und notwendig ist, weil wir seit 2003 eine starke Lohnentwicklung feststellen können, aber die starre Entgeltgrenze bei geringfügiger Beschäftigung bei 400 Euro geblieben ist. Dies wollten wir ändern. ({0}) Ich möchte zunächst anmerken, dass eine Geringfügigkeitsgrenze notwendig ist. SPD und Grüne haben in ihrer Regierungszeit die Möglichkeit der geringfügigen Beschäftigung stark eingeschränkt, um nicht zu sagen: letztendlich ad absurdum geführt, und zwar dadurch, dass sozialversicherungspflichtig Beschäftigte keine zusätzliche geringfügige Beschäftigung als bezahlte Arbeit aufnehmen konnten. Infolgedessen musste festgestellt werden, dass es vermehrt Schwarzarbeit gab. Die jüngste dazu durchgeführte Umfrage zeigt das sehr deutlich. ({1}) - Zu den Haushalten wurde angegeben, Frau Kollegin Ferner, dass 10 Prozent Hausarbeiten grundsätzlich in Schwarzarbeit verrichten. ({2}) - Doch, das ist sogar heute noch der Fall. ({3}) 18 Prozent haben erklärt, dass sie, wenn sie Arbeit anzubieten hätten, diese ebenfalls in Schwarzarbeit verrichten lassen. Deshalb ist es meines Erachtens notwendig, dass wir die Geringfügigkeitsgrenze regeln, weil es um Beschäftigung unsteter Art geht, die freundlich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auszugestalten ist, nämlich indem sie brutto für netto ausgezahlt bekommen. Das ist der Sinn. ({4}) Das bedeutet auch, Frau Kollegin Ferner, dass es damit mehr Rechtstreue auf dem gesamten Arbeitsmarkt gibt. ({5}) - Natürlich geht es um Rechtstreue. - Darüber hinaus ist auch mit wesentlich stärkeren Sozialversicherungsbeiträgen für unsere sozialen Sicherungssysteme zu rechnen. Die Arbeitgeber sind bei einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis verpflichtet, eine pauschale Umlage von 30,88 Prozent abzuführen. Davon erhalten die gesetzliche Rentenversicherung 15 Prozent und die gesetzliche Krankenversicherung 13 Prozent. ({6}) 2 Prozent fließen in die Arbeitslosenversicherung. Hinzu kommen die pauschale Lohnsteuer bzw. die Kirchensteuer. Frau Kollegin Ferner, es wird immer wieder unterstellt, dass Arbeitgeber in ihrer Gesamtheit ein Interesse daran haben, Aufgaben zu stückeln und möglichst viele geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Das kann nicht im Interesse eines Arbeitgebers sein. Denn die 30,88 Prozent muss der Arbeitgeber alleine tragen, ({7}) während er bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nur den hälftigen Satz zu tragen hat, nämlich rund 19 Prozent. Sehr deutlich ist auch, dass es ein großes Interesse der Bürgerinnen und Bürger an diesen Beschäftigungsver23420 hältnissen gibt. Darüber hinaus können damit unregelmäßig vorkommende Arbeitsspitzen bewältigt werden. Das hilft dem Betriebsinhaber. Die Tankstelle, an der ich zu tanken pflege, wird vom Betriebsinhaber und seiner Ehefrau betrieben. Sie sagen: Wir brauchen ab und zu eine Entlastung beim Kassieren. - Die Tankstelle ist bis 10 Uhr abends geöffnet. Deshalb werden Schüler und Studenten eingesetzt, die froh sind, in einem solchen Beschäftigungsverhältnis arbeiten zu können und damit eine Zuverdienstmöglichkeit zu haben, ({8}) weil sie als Schüler oder Studenten nicht Vollzeit erwerbstätig sein können. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bieten diese Möglichkeit. ({9}) Deshalb schlagen wir die Erhöhung vor. Zusätzlich schlagen wir vor, dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zukünftig generell rentenversicherungspflichtig sind. ({10}) Wenn wir zum 1. Januar des nächsten Jahres den Beitragssatz absenken, bedeutet das für den Einzelnen einen Beitragsaufwand von 4 Prozent. Bei 450 Euro sind das 22 Euro Eigenbeitrag bei voller Leistung aus der Rentenversicherung - ob im Erwerbsunfähigkeitsfall oder im Alter. Dafür plädieren wir. Leider ist eine Opt-out-Regelung vereinbart, die es ermöglicht, dass man sich letztendlich wieder davon verabschiedet. ({11}) Ich bin davon überzeugt, dass Sie das nicht tun werden. Ich appelliere auch an unseren Koalitionspartner, nochmals über eine generelle Rentenversicherungspflicht nachzudenken, weil das weniger Bürokratie in den Betrieben bedeuten würde ({12}) und im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dann versichert sind, ist. Auch die Arbeitgeberverbände - der HDE und die Gebäudereinigerverbände plädieren für eine generelle Rentenversicherungspflicht für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Es wird immer insinuiert, geringfügige Beschäftigung sei prekäre Beschäftigung. ({13}) Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind aber ganz reguläre Arbeitsverhältnisse ({14}) mit Anspruch auf Urlaubsgeld und mit Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. ({15}) Das ist alles gesetzlich geregelt, werte Kolleginnen und Kollegen aus den linken Reihen dieses Hauses. Wir müssen vielleicht daran arbeiten, dass dies noch stärker durchgesetzt wird. In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit und bitte um Ihre Unterstützung unseres Gesetzes. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Bei diesem Gesetzentwurf zeigen Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Ihr wahres Gesicht. Sie sind sich selbst für den gröbsten Unfug nicht mehr zu schade. ({0}) - Entweder wissen Sie nicht, was Sie beschließen, oder Sie kennen die Realität nicht. Eines von beidem muss es sein. Wer sich nämlich die Zahlen zu den Minijobstrukturen anschaut, kann einen solchen Gesetzentwurf nicht ernsthaft zur Abstimmung stellen. Denn anstatt prekäre Beschäftigung abzubauen, vergrößern Sie sie noch. Sie sollten wissen, Herr Straubinger, was unter prekärer Beschäftigung zu verstehen ist. Ich will deshalb die Zahlen noch einmal ein bisschen deutlicher machen. Minijobs sind weiblich. Mehr als zwei Drittel der Minijobs werden von Frauen ausgeübt. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass zwei Drittel gerne mehr arbeiten würden, als sie es in einem Minijob oder auch in Teilzeit tatsächlich tun. Aber insbesondere die Frauen sind in den Minijobs gefangen. Sie verfestigen mit dieser Minijobvariante in Verbindung mit der beitragsfreien Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, dem Ehegattensplitting und der Steuerklasse V auch noch die Rolle der Ehefrauen als Zuverdienerinnen der Familie. Das kann ja wohl niemand ernsthaft bestreiten, auch bei Ihnen nicht. ({1}) Über 5 Millionen Menschen haben nur einen Minijob, sonst keinen. Wenn man sich anschaut, welche Rentenansprüche daraus entstehen - darauf komme ich noch zurück - und dass gerade in der Gruppe der 40- bis 55-Jährigen 1,4 Millionen Menschen nur einem Minijob - keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Elke Ferner nachgehen, dann kann man sagen, dass heute die Grundlagen für die Altersarmut von morgen gelegt werden. Sie verschärfen dieses Problem mit Ihrem Gesetzentwurf noch. ({2}) Sie erhöhen die Einkommensgrenzen, bis zu denen Menschen ohne eigenständige soziale Absicherung arbeiten. Das ist absurd, und das ist vor dem Hintergrund der Debatte, die Frau von der Leyen eben in Bezug auf den Rentenversicherungsbeitrag noch einmal geführt hat, auch scheinheilig. Frau von der Leyen beklagt in Sonntagsreden die Altersarmut, insbesondere die von Frauen, und werktags lässt sie ihr Ministerium eine Formulierungshilfe für einen Gesetzentwurf schreiben wie den, den Sie heute einbringen, mit dem die Altersarmut noch vergrößert wird. Die Wahrheit ist: Sie erhöhen die ungeschützte Beschäftigung, statt sie zu verringern, und verringern die geschützte Beschäftigung, statt sie zu erhöhen. Das ist die Folge dessen, was Sie machen. ({3}) Herr Straubinger, Sie haben zu Recht auf die gesetzlichen Regelungen verwiesen. Aber in Wahrheit - das wissen wir alle - sind die ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse, also Minijobs und geringfügige Beschäftigung - das suggeriert der Name schon -, in der Realität Arbeitsverhältnisse nicht zweiter, sondern dritter Klasse. Die Beschäftigten wissen häufig nicht um ihre Rechte. Sie wissen nicht, dass sie einen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben. Sie wissen in der Regel nicht um ihr Recht auf bezahlten Urlaub. Und sie wissen auch nicht um ihr Recht auf gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit. Die Arbeitgeber enthalten ihnen diese Rechte vor; denn nur so lohnt sich das für die Arbeitgeber, Herr Straubinger. Ich möchte den Arbeitgeber kennenlernen, der freiwillig 30 Prozent zahlt, wenn er nur 20 Prozent Sozialversicherungsabgaben zahlen muss. Die Arbeitgeber sparen an anderen Stellen. Sie zahlen zwar 28 Prozent Sozialabgaben plus Pauschalsteuer, sparen das aber ein, indem sie den Minijobberinnen und Minijobbern das vorenthalten, was ihnen gesetzlich zusteht. Sie, Herr Straubinger, haben eben gesagt, dass Sie Gesetzestreue einfordern. Da frage ich mich: Wo enthält denn Ihr Gesetzentwurf Maßnahmen, die dazu dienen, den Missbrauch, der Tag für Tag bei den Minijobs stattfindet, zu bekämpfen? ({4}) Die Minijobberinnen werden in der Regel schlechter bezahlt. Zwei Drittel aller Minijobberinnen arbeiten für Stundenlöhne in Höhe von weniger als 8,50 Euro. Sie erhalten häufig weniger Geld als die Teilzeitkollegin oder der Vollzeitkollege, obwohl sie die gleiche Arbeit machen. Sie erhalten kein Geld, wenn sie krank werden, und auch keinen bezahlten Urlaub. Es gibt auch ganz Schlaue, die die Gesetze formal einhalten; das hören wir ja immer wieder. Zuerst wird eine niedrige Stundenzahl vereinbart. Dann gibt es regelmäßig Mehrarbeit. Wenn die Menschen dann krank werden oder bezahlten Urlaub machen wollen, dann werden die Lohnersatzleistung und das Urlaubsgeld auf Basis der geringen Stundenzahl berechnet. Das hat doch nichts mit Gesetzestreue zu tun. Das kann auch niemand ernsthaft wollen. So kann man auf keinen Fall sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde Beschäftigung schaffen. Vor diesem Hintergrund kann ich, ehrlich gesagt, nicht verstehen, warum Sie einen solchen Vorschlag machen, der vor allem zulasten der Frauen geht. Von der FDP erwartet man eigentlich nichts anderes. Aber dass die Union einen solchen Gesetzentwurf unterstützt, ist mir ein Rätsel. Herr Straubinger, Sie begründen diesen groben Unfug mit dem Hinweis, dass es nun endlich einen Inflationsausgleich geben muss. Das ist schon sehr bemerkenswert. Ich finde das, was Sie da machen, ziemlich schräg. Sie erdreisten sich sogar, das in die Begründung des Gesetzentwurfs aufzunehmen. Einen Inflationsausgleich bekommen die Beschäftigten, um die es hier geht, nicht dadurch, dass man die Grenzen anhebt. Das bringt noch keinen Cent mehr in die Taschen. Eigentlich müsste ein Inflationsausgleich bzw. eine Lohn- oder Gehaltserhöhung parallel zur Entwicklung bei den regulär Beschäftigten erfolgen. ({5}) Herr Weiß, Sie suggerieren den Menschen: Weil wir die Grenze auf 450 Euro erhöhen, bekommt ihr ab 1. Januar nächsten Jahres statt 400 Euro 450 Euro. - Das stimmt aber nicht. Wenn die Arbeitszeit gleichbleibt, gibt es nicht 50 Euro mehr. Was Sie hier machen, ist mehr als schräg. Das Schlimmste ist, dass Sie mehr Menschen in ungeschützte Beschäftigung drängen, als wir heute ohnehin schon haben. Schauen wir uns einmal an, wie sich das Ganze auswirkt. Wer heute 450 Euro brutto verdient, bekommt nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen in der Steuerklasse V 314 Euro netto; nach der Gleitzonenvariante sind es ungefähr 350 Euro. Jetzt brauche ich doch nicht lange zu raten, wie sich Menschen, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, verhalten werden, damit ihnen 450 Euro netto ausbezahlt werden können. Denn die Ehefrau ist beim Ehemann beitragsfrei mitversichert, die hohen Steuern in der Steuerklasse V fallen auch nicht an, und der Splittingvorteil erhöht sich sogar noch, welch Wunder. Man muss schon sehr willensstark sein, wenn man diesen Verlockungen widersteht. Es werden viele in dem Einkommenssegment die Minijobvariante wählen und damit aus der Sozialversicherung ausscheiden; denn diese Option besteht immer noch. Das scheint Ihrem Kalkül zu entsprechen. ({6}) Ich muss sagen: Dieser Gesetzentwurf ist das Papier nicht wert, auf dem er steht. Ich hoffe, dass er nicht beschlossen wird. Am besten würden Sie, Herr Straubinger, diesen Gesetzentwurf einfach zurückziehen; denn er wird nicht gebraucht. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minijobs - das ist der Grund, warum wir als Koalitionsfraktionen diesen Gesetzentwurf hier vorlegen - sind ein Teil des erfolgreichen deutschen Arbeitsmarkts; ({0}) sie werden von den Menschen nicht nur gebraucht, sondern sie sind auch beliebt - und das hat Gründe. ({1}) Sie leisten einen positiven Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit - Kollege Straubinger hat es ausgeführt -, gerade in den privaten Haushalten. Frau Kollegin Ferner, Sie haben sich eben nicht vorstellen können, warum auch Unternehmen Interesse an Minijobs haben. Der Kollege Straubinger hat ein Beispiel aus der Praxis gebracht, nämlich das des Tankstellenbetreibers; denn Unternehmen brauchen zum Beispiel Flexibilität. ({2}) Vor allem leisten Minijobs einen positiven Beitrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt; denn sie ermöglichen ganz vielen unterschiedlichen Menschen in diesem Land, die aus den unterschiedlichsten Altersgruppen kommen und sich in den unterschiedlichsten Lebenssituationen befinden, sich unkompliziert etwas dazuzuverdienen, und das ist richtig. Deshalb ist es auch richtig, dass wir uns zu den Minijobs bekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({3}) In Minijobs ist die vielfältigste Gruppe beschäftigt, die wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben. Da ist die Studentin, die sich neben ihrem Studium mit Kellnern etwas dazuverdient; da ist der Feuerwehrmann, der am Wochenende gerne beim Cateringservice ein paar Stunden aushilft; da ist die Seniorin, die noch bei einer Nachbarin ein paar Stunden im Haushalt tätig sein will. Das sind nur drei Beispiele, die ich aus meinem persönlichen Bekanntenkreis nennen will. All diese Menschen üben Minijobs aus. Sie können die Minijobs nicht auf wenige Fälle, wo wir möglicherweise Probleme haben, reduzieren. Das wird diesem Instrument einfach nicht gerecht. Es gibt 7 Millionen Minijobber in diesem Land, Frau Kollegin Ferner. ({4}) Weil Minijobs ein beliebter Teil des erfolgreichen deutschen Arbeitsmarkts sind, ist es auch richtig, dass wir den Minijobbern zum ersten Mal seit zehn Jahren einen Inflationsausgleich ermöglichen. Immerhin ein Drittel der Minijobber arbeitet an der Grenze zu 400 Euro. ({5}) Es gibt viele, denen der Arbeitgeber gerne eine Gehaltserhöhung geben würde. Früher waren die Minijobs sogar indexiert. Da ist die Grenze automatisch gestiegen. Es ist richtig, dass wir jetzt, nach zehn Jahren, eine Erhöhung vornehmen und die Grenze von 400 auf 450 Euro anheben. ({6}) Es ist auch richtig, dass wir im Bereich der Rentenversicherung ein System von Opt-out einführen; ({7}) denn wir reden darüber, bei Menschen mehr Bewusstsein zu schaffen, damit sie sich mehr Gedanken über ihre rentenrechtliche Absicherung machen. Auch wenn Minijobs oft nur für eine kurze Zeit im Leben das Instrument der Wahl sind, ist es richtig, dass derjenige, der sich keine Gedanken macht, automatisch die vollen Beiträge in die Rentenversicherung einzahlt und dadurch Vorteile erwirbt. Gleichzeitig muss niemand, der das nicht will, weil er etwa als Student noch nichts einzahlen will, mehr einzahlen als heute. Deshalb ist Opt-out eine gute Lösung, der auch Sie eigentlich zustimmen könnten. ({8}) Ich will in der zweiten Hälfte meiner Redezeit, ({9}) weil die Argumente, warum man das dringend machen muss, eigentlich auf der Hand liegen, darauf eingehen, was Sie den Minijobs vorwerfen. Was haben wir eben wieder gehört? Es würde eine Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch die Minijobs stattfinden. ({10}) Da hilft es, sich einfach einmal die Fakten anzuschauen. Ich zitiere jetzt die offiziellen Zahlen der Minijobzentrale, also der zuständigen Behörde. Drei Viertel der Arbeitgeber, die Minijobber beschäftigen, beschäftigen nur bis maximal drei Minijobber. ({11}) Wenn Sie eine Vollzeitstelle durch Minijobs ersetzen wollten - und das wird immer wieder behauptet -, Johannes Vogel ({12}) bräuchten Sie schon vier. Das kann schon einmal nicht aufgehen. ({13}) - Ich antworte gerne auf eine Zwischenfrage.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie sind schon zu einer Zwischenfrage eingeladen, Frau Kollegin Zimmermann.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine Frage von der Kollegin Zimmermann, der Ausschussvorsitzenden, immer gern. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Vogel; danke, Herr Präsident. Herr Vogel, stimmen Sie mir zu oder ist Ihnen bekannt - fragen wir lieber so -, dass es gerade im Handel durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten einen Verdrängungseffekt bei Vollzeitarbeitsplätzen gibt und dass dort aus Vollzeitarbeitsplätzen ein, zwei oder drei Minijobs entstanden sind? Ist Ihnen das bekannt?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mir sind die Zahlen im Handel sehr gut bekannt, denn auch sie kann man bei der Minijobzentrale erfragen. Dabei kommt Folgendes heraus: Erstens. Für den gesamten Arbeitsmarkt gilt, was ich eben gesagt habe: Drei Viertel der Arbeitgeber beschäftigen gar nicht so viele Minijobber, dass sie auch nur eine Vollzeitstelle ersetzen könnten. ({0}) - Ich komme gleich zum Handel. Zweitens. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen, die ja in diesen Monaten in Deutschland Rekordwerte erreicht, wächst erheblich stärker als die Zahl der Minijobber in Deutschland insgesamt. ({1}) Das heißt, offensichtlich findet hier keine Ersetzung statt. ({2}) Das führt dazu, dass der Anteil von Minijobs im Verhältnis zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen seit 2003, seitdem die rot-grüne Regierung die heutige Regelung eingeführt hat, gar nicht zugenommen hat. ({3}) Es sind also im Verhältnis nicht mehr Minijobs entstanden, sondern eine Zunahme erfolgte zugunsten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Das, Frau Kollegin Zimmermann, gilt genauso für den Handel und übrigens ebenso für das Gaststättengewerbe. Eine Ersetzung müsste ja dazu führen, dass der Anteil der Minijobber im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zunimmt. ({4}) Das Gegenteil ist der Fall, Frau Kollegin Zimmermann. Ersetzung sieht bei aller Liebe anders aus. Sie ist einfach nicht festzustellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Kommen wir zu dem zweiten Argument, das ich immer wieder höre, Minijobs würden bedeuten, die Menschen in den Niedriglohn abzuschieben. ({6}) Jetzt muss man berücksichtigen, dass den Minijob aus Sicht des Arbeitnehmers ja gerade ausmacht, dass er sein Gehalt brutto für netto bekommen kann. Das heißt, hier ist es nicht fair, das Bruttogehalt zu vergleichen; ({7}) vielmehr müssen wir uns das Nettogehalt anschauen. ({8}) Dann schauen wir uns einmal das durchschnittliche Nettogehalt von Minijobbern an. Wir sind uns, glaube ich, alle einig: Minijobber sind in der Regel nicht Raketenwissenschaftler; ({9}) vielmehr handelt es sich natürlich eher um einfache Tätigkeiten. Trotzdem liegt das Nettodurchschnittsentgelt ({10}) von Minijobbern über der Niedriglohngrenze, auf netto bezogen, sogar 2 Euro darüber. Das heißt, im Durchschnitt wird bei einem Minijob netto deutlich über dem Niedriglohnsektor verdient. Dass also die Minijobs per se Niedriglohn bedeuten würden, kann am Ende, netto für den Beschäftigten in der Tasche, auch nicht stimmen, und Sie sollten hier keine Unwahrheiten verbreiten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({11}) Kommen wir zum letzten Aspekt, einem ernsten Aspekt, über den wir uns Gedanken machen sollten. Sie haben nämlich die Frage angesprochen, Frau Kollegin Ferner: Wie sorgen wir dafür, dass Frauen, die nur einen Minijob machen und gern mehr arbeiten wollen, aus dem Minijob herauskommen können? - Ich glaube, das Johannes Vogel ({12}) ist ein Ziel, das wir alle teilen. Jetzt muss man natürlich nur - ({13}) - Hören Sie doch kurz zu, wenn wir uns ernsthaft darüber unterhalten wollen; vielleicht folgen Sie dann auch meinem Gedankengang ein wenig. ({14}) Jetzt muss man sich in meinen Augen auch einmal anschauen: Liegt das wirklich an den Minijobs, oder hat das andere Ursachen? In diesem Zusammenhang muss man sich erst einmal vergegenwärtigen, dass ausweislich aller Umfragen drei Viertel aller Minijobber gar nichts anderes als einen Minijob machen wollen. In der Gruppe derjenigen, die gern mehr arbeiten wollen, sind in der Tat viele Frauen. Ich glaube, Sie haben die wahren Gründe dafür auch benannt. Natürlich ist die Steuerklasse V hier ein Hindernis; natürlich geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und um Betreuung. Deshalb ist es richtig, dass wir uns dem Ausbau von Betreuung widmen. Deshalb würde ich auch sagen: Lassen Sie uns darüber diskutieren, ob die Steuerklasse V nicht verzichtbar ist. ({15}) Nur hat dies mit dem Minijob an sich überhaupt nichts zu tun. Der Minijob ist nicht die Ursache dieser Probleme. Deshalb den Minijob jetzt kaputtmachen zu wollen oder ihn zu diffamieren, das ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn Sie, falls Sie einen Motorschaden am Auto haben und sich nicht leisten können, den Motor zu reparieren, einfach das Getriebe austauschen, weil das Auto nicht mehr fährt. ({16}) Das bringt nichts. Das bringt Ihrem Auto nichts, ({17}) und das löst auch das Problem nicht. Deshalb ist es auch falsch, hier die Minijobs anzugehen, wenn die Ursachen der Probleme in Wahrheit woanders liegen. Es ist übrigens vor allem auch unfair gegenüber denjenigen, die eben gar nicht mehr wollen als einen Minijob. Die größte Alterskohorte derjenigen, die einen Minijob machen, liegt im Alter zwischen 20 und 25 Jahren. Das gilt für Männer wie für Frauen; das sind die Studenten. All denen würden Sie einen Bärendienst erweisen, wenn Sie hier den Minijob diffamieren. ({18}) Ich kann nur sagen: Die Kritikpunkte -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. Der letzte Satz: Die Kritikpunkte am Minijob halten einer Faktenüberprüfung nicht stand. Ich freue mich, wenn wir das in der zweiten und dritten Lesung noch vertiefen können. Auf der bisherigen Grundlage kann ich nur sagen: Dann sollte man den Minijobs aber auch nicht über die Inflation langsam die Luft abschnüren, sondern muss eine Anhebung der Grenze vornehmen, so wie wir das hier machen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und deshalb ist das auch richtig für die Minijobber in diesem Land. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich darf Ihnen von der Koalition erst einmal ein ganz großes Kompliment aussprechen: Sie schaffen es immer wieder - Herr Kober lächelt schon -, den Menschen im Lande Ihre Arbeitsmarktpolitik unter dem Label „hohe Zuverlässigkeit und hohe Konstanz“ zu verkaufen. Ich will es Ihnen auch erklären. Konstant und zuverlässig können die Beschäftigten im Niedriglohnsektor erwarten, dass sie von Ihrer Arbeitsmarktpolitik keine Verbesserungen bekommen werden. ({0}) Konstant und zuverlässig dürfen sie damit rechnen, dass Sie diesen Niedriglohnsektor weiter ausbauen werden. Das beweisen Sie heute mit Ihrem Gesetzentwurf einmal mehr. ({1}) Durch die Anhebung der Entgeltgrenze bei geringfügig entlohnter Beschäftigung auf 450 Euro bauen Sie den Niedriglohnsektor weiter aus - das ist heute des Öfteren schon gesagt worden - und setzen den Weg fort, den die SPD unter Kanzler Schröder mit der Deregulierung der Minijobs 2003 begonnen hatte. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird dargelegt, dass noch nie so viele Menschen in Beschäftigung waren wie heute. Dies ist heute ja schon öfter von Ihrer Seite gefallen. Sie verschweigen aber, dass noch nie so viele Menschen in prekärer Arbeit wie heute waren. Wir müssen doch feststellen, dass in den letzten Jahren der Niedriglohnbereich stark angewachsen ist. Dazu geht die sozialSabine Zimmermann versicherungspflichtige Beschäftigung in Vollzeit beständig zurück und wird von Teilzeit und Minijobs abgelöst. Immer mehr Menschen finden keine existenzsichernde Arbeit, und das ist der Skandal, meine Damen und Herren. ({2}) Dies ist ein spezifisch deutsches Problem. In keinem anderen europäischen Land ist der Niedriglohnbereich so rasant gewachsen wie bei uns. Deutschland ist in Europa zum Motor der Niedriglohnbeschäftigung geworden. Dies wollen Sie jetzt auch noch über den Fiskalpakt zum Exportschlager für Europa machen. ({3}) Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, und darüber sollten Sie vielleicht einmal nachdenken. ({4}) Viele Arbeitgeber haben in den letzten Jahren reguläre Beschäftigung in Minijobs umgewandelt, um flexibel zu bleiben und Geld einzusparen. In manchen Bereichen ist die geringfügige Beschäftigung kurz davor, zur Regelbeschäftigung zu werden, zum Beispiel in der Gastronomie, Herr Vogel. Lieber Herr Vogel, sosehr ich Sie als Kollege schätze, so wenig - das muss ich Ihnen sagen - kann ich Ihre arbeitsmarktpolitischen Überlegungen nachvollziehen. In der vergangenen Woche haben Sie in den Medien darüber gesprochen, dass Minijobs eine beliebte Möglichkeit seien, sich etwas dazuzuverdienen. Vorhin haben Sie das ja hier auch gesagt. Ich sage Ihnen: Die Leute wollen aber keine Minimalbeschäftigung zu Hungerlöhnen. ({5}) Sie wollen eine Arbeit, von der sie ihre Familie ernähren können und von der sie auch noch etwas für ihre Rente ansparen können. ({6}) Darüber sollten Sie nachdenken. Hinzu kommt, dass Sie die Anhebung der Entgeltgrenze der Minijobs als eine Art Lohnerhöhung darstellen - Frau Kollegin Ferner ist schon darauf eingegangen -, da Sie anscheinend davon ausgehen, dass die Arbeitgeber sogleich die 50 Euro mal eben obendrauf aufschlagen. Hätten Sie sich aber vorher einmal sachkundig gemacht, wüssten Sie, dass ein Minijobber im Schnitt nur 260 Euro verdient, nein, bekommt - er verdient das ja nicht, er bekommt es - und eben nicht die 400 Euro. Somit ist Ihre Argumentation doch ein totaler Unsinn, oder man muss feststellen, dass Sie die Öffentlichkeit bewusst täuschen wollen. ({7}) Von einem besonderen Zynismus zeugt die Begründung des Gesetzentwurfes, dass die nun einzuführende Rentenversicherungspflicht das Bewusstsein der geringfügig Beschäftigten für ihre Alterssicherung stärken solle. Glauben Sie denn wirklich, dass die Menschen nicht wissen, dass sie in die Altersarmut reingehen, wenn sie einen Minijob haben, und dass sie damit auch gar keine nennenswerten Rentenansprüche erarbeiten? Da ist doch Altersarmut vorprogrammiert. Meine Damen und Herren der Regierung, ich sage Ihnen: Verlassen Sie endlich diesen Irrweg der Niedriglohnpolitik, tun Sie etwas für gute Arbeit, für einen guten Lohn, damit die Menschen auch etwas für ihre Rente ansparen können. In diesem Sinne: Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die negativen Auswirkungen von Minijobs sind allenthalben bekannt, außer bei Herrn Vogel natürlich. ({0}) Die Stichworte sind genannt worden: Niedriglohnfalle; 84 Prozent aller Minijobberinnen arbeiten im Niedriglohnbereich; berufliche Sackgasse für die Frauen; Einnahmeverluste für die Sozialversicherung; Altersarmut. Mit anderen Worten: Die Ausweitung der Minijobs ist eine Politik, die in die völlig falsche Richtung geht. ({1}) Herr Vogel, daran ändert das Feigenblatt der Opt-outRegelung wirklich gar nichts, und zwar deshalb nicht, weil diese Regelung nicht wirkt. Sie ist unwirksam. Wenn Sie einmal die Begründung in Ihrem eigenen Gesetzentwurf lesen, dann stellen Sie das fest. Sie selber gehen davon aus, dass sich 90 Prozent aller Minijobber und Minijobberinnen von der Pflicht befreien lassen, in die Rentenversicherung einzuzahlen. Das heißt, für einen minimalen Effekt von zehn Prozent erzeugen Sie einen maximalen bürokratischen Aufwand ({2}) für die Betroffenen selbst. ({3}) Sie selber gehen davon aus, dass ein Antrag auf Optout bei dem Betroffenen 40 Minuten Zeit in Anspruch nimmt, bei dem Betrieb 15 Minuten. Sie selber gehen davon aus, dass 3 150 000 Opt-out-Anträge gestellt werden. 3 150 000 Anträge verursachen einen Zeitaufwand von 787 500 Stunden. Das entspricht 22 Millionen Euro Lohnkosten in den Betrieben. ({4}) Meine Damen und Herren, das ist kafkaesk. Ich fordere Sie auf: Stoppen Sie diesen Wahnsinn! ({5}) Ich frage mich wirklich, wo in dieser Debatte eigentlich die Arbeitsministerin ist. ({6}) Noch vor einem Jahr hat die Arbeitsministerin der Wochenzeitung Die Zeit ins Blatt diktiert - ich zitiere -: ... ich bin eine entschiedene Gegnerin der Ausweitung von Minijobs. ({7}) Aus dieser entschiedenen Gegnerin ist jetzt aber eine Handlangerin geworden. Frau Ferner hat schon darauf hingewiesen: Dieser Gesetzentwurf ist im Bundesarbeitsministerium entstanden. ({8}) Die Autorin dieses Gesetzentwurfs ist diese Gegnerin der Ausweitung von Minijobs. Frau Ministerin von der Leyen warnt intensiv vor Altersarmut und tut so, als wollte sie die Altersarmut bekämpfen. Die Ausweitung von Minijobs ist die Ausweitung von Altersarmut, meine Damen und Herren, ({9}) insbesondere die Ausweitung der Altersarmut von Frauen. Nun vergeht zumindest gefühlt kein einziger Tag, an dem diese Bundesarbeitsministerin nicht den Eindruck erweckt, als sei sie die Speerspitze der Frauenbewegung. Ganz besonders groß ist ihr Engagement, wenn es um den Zuständigkeitsbereich ihrer Kabinettskollegin geht. ({10}) Zur Frauenquote, zum Betreuungsgeld, zur Altersarmut von Frauen - Frau von der Leyen hat eine dezidierte Auffassung, und damit hält sie auch nicht hinterm Berg. Sie weiß wirklich alles, und im Zweifel weiß sie es auch besser, zumindest besser als die Frauenministerin. Nun werden Sie sagen: Das ist keine Kunst. ({11}) Aber, meine Damen und Herren, wenn es um ihre originäre Zuständigkeit geht, dann lässt diese Speerspitze der Frauenbewegung die Frauen im Stich. ({12}) Aus der Vorkämpferin für Frauenrechte wird dann ein Duckmäuschen. ({13}) Meine Damen und Herren, Sie kennen wahrscheinlich alle die von breiten Kreisen getragene Kampagne „Nicht meine Ministerin“. Diese Kampagne richtet sich noch gegen Frauenministerin Schröder. Frau von der Leyen muss aufpassen, dass nicht auch sie bald Gegenstand dieser Kampagne wird. Ich danke Ihnen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Heute Nachmittag muss man sich ernsthafte Sorgen um unsere Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion und aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen machen. ({1}) Wenn ich die Debattenbeiträge des heutigen Nachmittags Revue passieren lasse, frage ich mich: Wer hat Regierungsverantwortung getragen, als in das Gesetz geschrieben wurde: „Bei einer Nachhaltigkeitsrücklage von 1,5 Monatsausgaben muss automatisch der Rentenversicherungsbeitrag gesenkt werden“? ({2}) Welcher Partei gehörte jener Finanzminister an, der schon einmal zur Haushaltskonsolidierung befristet den allgemeinen Bundeszuschuss zur Rente abgesenkt hat? Wer hat am 1. April 2003 dieses Land regiert, als das heute gültige Minijobgesetz in Kraft getreten ist? ({3}) - Es war nicht die CDU/CSU. Es war nicht die FDP. Es waren auch nicht die Linken. Wer hat denn unser Land in dieser Zeit regiert? Es war Rot-Grün! ({4}) Alles, was Rot-Grün in der heutigen Debatte als Konsequenz der eigenen Gesetzgebung beklagt, kann sie nicht bei der heutigen Regierungsbank abladen. Das muss sie bei sich selber abladen. ({5}) Peter Weiß ({6}) Alle Finger, mit denen auf diese Regierungsbank gezeigt wird, zeigen automatisch auf euch, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, zurück. ({7}) Genauso ist es bei der Grenze von 400 Euro bei einem Minijob. ({8}) Der Kollege Straubinger hat zu Recht vorgetragen: Wenn heute bei den Minijobs eine Grenze von 450 Euro vorgeschlagen wird, dann ist das exakt die Nachholung der Lohnsteigerung, der Inflation, der Preissteigerung, in den letzten zehn Jahren, nichts anderes. ({9}) Wenn heute 450 Euro falsch sind, dann waren 400 Euro im Jahr 2003 erst recht falsch. Das ist einfache Mathematik. ({10}) Deswegen ist alle Kritik, die Sie hier an dem Betrag vortragen, völlig falsch und völlig fehlgeleitet. Es fällt auf Sie zurück. ({11}) Es gibt einen wichtigen Punkt, den ich herausheben will. Es ist schon eine entscheidende Frage, ob die Masse der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ohne Ansprüche an die Sozialversicherung bleibt oder nicht. Deswegen ist es ein entscheidender Schritt, den wir heute vorschlagen, ({12}) dass künftig auch eine Minijobberin oder ein Minijobber in die Rentenversicherung einzahlt und damit Rentenversicherungsansprüche begründet. ({13}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man Altersarmut verhindern will, dann muss der Grundsatz gelten: Ab dem ersten Euro, der verdient wird, Beiträge in die Rentenversicherung! ({14}) Den Grundsatz setzen wir heute durch. ({15}) Natürlich, aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis oder einem anderen Beschäftigungsverhältnis, bei dem man nicht sehr viel verdient, erwachsen nicht massenhaft Rentenansprüche. Für einen Schüler oder Studenten zum Beispiel, der einen 400-Euro-Job hat, ist es aber doch gut, erste Ansprüche in der Rentenversicherung zu erwerben, ({16}) auf die er später hoffentlich mit einem guten Gehalt aufbauen kann. Es ist doch für jemanden, der zusätzlich zu seinem normalen Job noch einmal 400 oder 450 Euro verdient, gut, wenn er auch hieraus Rentenansprüche erwirbt und nicht nur aus seinem eigentlichen Gehalt. ({17}) Selbst für denjenigen, der zeitweise oder auch für etliche Jahre nur einen Minijob hat, ist doch diese Ergänzung für die Rente wichtig. ({18}) Es ist wichtig, dass er auch in dieser Zeit Rentenansprüche erwirbt. Im Übrigen ist nicht nur die Frage wichtig, „Wie viel Entgeltpunkte habe ich in der Rentenversicherung durch konkrete Beitragszahlungen angesammelt?“, sondern die Frage ist auch: „Habe ich die Anwartschaftszeiten in der Rente erfüllt?“ Dass die Zeit, in der ein Minijob ausgeübt wird, mitzählt, ist ebenfalls ein wichtiger Gewinn für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land. ({19}) Heute wird gegenüber dem Gesetz aus rot-grüner Zeit nichts verschlechtert, sondern etwas Entscheidendes verbessert, indem Rentenbeiträge für Minijobber zur Regel werden. Das ist der eigentliche große Erfolg, den wir in dieser Koalition schaffen. Wir verbessern das, was in rot-grüner Zeit nur schlecht gemacht worden ist. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der Grünen? Ich habe jetzt nicht aufgepasst.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, wenn die Debatte verlängert werden soll, bitte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Pothmer, bitte.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Weiß, ich frage Sie, ob Sie die Begründung Ihres Gesetzentwurfes gelesen haben ({0}) und ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass Sie selber - sozusagen die Autorinnen und Autoren des Gesetzentwurfes - davon ausgehen, dass diese Opt-out-Regelung dazu führen wird, dass 90 Prozent aller Minijobberinnen und Minijobber eben nicht die Rentenbeiträge zahlen, sondern einen Antrag stellen werden, um sich davon zu befreien? ({1}) Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es über diesen Weg unmöglich zu erreichen sein wird, dass alle Minijobberinnen und Minijobber Beiträge in die Rentenversicherung zahlen?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin Pothmer, es gibt einen entscheidenden Unterschied zur heutigen Situation. Wer heute einen Minijob annimmt, muss von sich aus tätig werden ({0}) und einen Antrag stellen, dass er gerne einen Beitrag in die Rentenversicherung zahlen will. Künftig - das ist der entscheidende Unterschied - ist man automatisch in der Rentenversicherung versichert, muss seinerseits aktiv werden ({1}) und eine Erklärung abgeben: Ich möchte keinen Rentenversicherungsbeitrag zahlen. Frau Kollegin Pothmer, es wird auch an uns selber liegen, ob wir als Abgeordnete zum Beispiel in unseren Wahlkreisen bei den Betroffenen dafür werben, diese gesetzliche Regelung zu akzeptieren und zu praktizieren ({2}) und nicht die Ausnahmeregelung für sich in Anspruch zu nehmen. ({3}) Ich gebe ehrlich zu - damit möchte ich zum Abschluss kommen -, dass die Arbeitgeber zu Recht darauf hinweisen, dass eine solche Opt-out-Regelung zusätzliche Bürokratie für sie bedeutet. ({4}) Deswegen bin ich der Auffassung, dass es gut wäre, wenn wir noch einmal über diese Opt-out-Regelung nachdächten. ({5}) Aber, Frau Kollegin Pothmer, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, ist immerhin eine deutliche Verbesserung gegenüber dem, was heute im Gesetz steht. Wir sind also auf dem richtigen Weg: für mehr Sozialversicherung, auch für Minijobber, und damit für mehr Ansprüche in der Rentenversicherung. ({6}) Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10773 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden - Drucksachen 17/8608, 17/9999 Berichterstattung: Abgeordnete Jens Koeppen Marco Bülow Eva Bulling-Schröter Hans-Josef Fell Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir haben einen Antrag vonseiten der Linken zum Thema Energieintensive Industrie vor uns liegen. Ich möchte ganz offen für diesen Antrag danken, weil er noch einmal deutlich macht, welche Wahlkampfstrategie Sie schon jetzt für die nächsten Monate einleiten. Sie möchten im Zuge der Energiedebatte, die für unser Land sehr wichtig ist, im Wahlkampf eine reine Verteilungsdebatte führen. Ihnen geht es nicht mehr darum, wie wir die Energiewende gemeinsam meistern, wie wir es schaffen, die Energiewende für jeden bezahlbar zu machen, sondern Sie fragen nur noch, wer diese Energiewende bezahlt. Ich glaube, dass die Debatte, die Sie anstoßen - übrigens auch mit Unterstützung der Grünen und der SPD oftmals -, uns auf einen Irrweg führt und Sie damit eine Zündschnur an die Energiewende legen. Sie sind damit eine große Gefahr für die Energiewende. ({0}) Wir sind der Auffassung: Die Energiewende muss für alle bezahlbar sein. Jeder muss Gewinner der Energiewende sein. Deshalb sollten wir andere Debatten führen. Ich nehme Ihren Antrag jedoch gerne zum Anlass, dass wir einmal sehr grundsätzlich über die Frage diskutieren, wie wir die energieintensiven Industrien schützen, weil wir damit auch Arbeitsplätze schützen. Ich unterstütze gerne deutsche Arbeitsplätze und innovative Unternehmen in unserem Land. ({1}) Deshalb ist es richtig, sich die energieintensiven Industrien einmal genau anzuschauen. Wir haben in Deutschland 5,7 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie, die wiederum 45 Prozent des Stroms verbraucht. Knapp 1 Million Arbeitsplätze gibt es in den energieintensiven Industrien; 53 Milliarden Euro werden in diesen Industrien erwirtschaftet. Dazu gehören die Papierindustrie, die Glasindustrie, die Chemieindustrie. Die wichtigen Werkstoffe Aluminium, Kupfer und Zink werden hier produziert. Diese Werkstoffe bilden die Grundlage unserer Energiewende. Beispielsweise braucht man für den Bau einer Offshorewindanlage allein 30 Tonnen Kupfer. Das zeigt, dass wir diese Werkstoffe brauchen, dass wir günstige und bezahlbare Werkstoffe brauchen, um die Energiewende tatsächlich zu meistern. ({2}) Wir brauchen in Deutschland wettbewerbsfähige Energiepreise. ({3}) Wenn man sich die Preise anschaut, dann bereitet das schon Sorge. Die Stromkunden aus der Industrie zahlen in Deutschland bereits heute 10 Eurocent je Kilowattstunde. In Frankreich sind es nur 5,6 Cent je Kilowattstunde. In den USA liegen die Preise bei 4 bis 5 Cent je Kilowattstunde. ({4}) Da zeigt sich, dass wir bereits heute einen erheblichen Wettbewerbsnachteil haben und dafür sorgen müssen, dass dieser Nachteil nicht noch ausgeweitet wird. Deshalb müssen wir großes Augenmerk auf diese Preise legen. Eine mittelständische Chemiefirma hat heute schon 500 000 Euro bis 1 Million Euro mehr Energiekosten als eine vergleichbare Firma in Frankreich. ({5}) Die Zahlen allein zeigen schon, lieber Herr Krischer, dass das arbeitsplatzgefährdend sein kann. ({6}) Es ist deshalb richtig - jetzt ist auch mal ein Lob für Rot-Grün fällig -, dass Rot-Grün diese damals neuen Kosten für die energieintensiven Industrien zum Anlass genommen hat, diese Industrien zu entlasten. ({7}) Sie haben damals, im Jahr 2000, die EEG-Befreiung auf den Weg gebracht. Nur war es damals falsch, dass Sie von Rot-Grün nur die großen Konzerne mit einem Verbrauch von mehr als 10 Gigawattstunden entlastet haben. Wir haben in der jetzigen Koalition dafür gesorgt, dass auch der industrielle Mittelstand entlastet wird, ({8}) der in einem enormen Wettbewerb steht; er muss stärker im Fokus stehen. ({9}) Das haben wir in der jetzigen Koalition entsprechend angepasst. Wir haben klare Kriterien eingeführt. ({10}) Wir haben gesagt: Internationaler Wettbewerb und Energieintensität müssen vorliegen, und der Verbrauch muss mehr als 1 Gigawattstunde betragen. Das sind klare Kriterien, die Willkür verhindern und klar regeln, wer Nutznießer ist. ({11}) Beim Netzentgelt haben wir an das angeknüpft, was Rot-Grün gemacht hat, und sind sogar noch weiter gegangen, indem wir gesagt haben, dass wir auch die Systemrelevanz als Grundlage sehen müssen, angefangen beim großen Pumpspeicherkraftwerk, das wir für die Energiewende brauchen, bis hin zu kleinen Wärmepum23430 pen und Nachtspeichern. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Auch das muss der Wahrheit halber gesagt werden. ({12}) Auch beim Spitzenausgleich führen wir fort, was RotGrün begonnen hat. Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter als Rot-Grün: ({13}) Wir zahlen den Spitzenausgleich ab 2013 nur noch dann, wenn in dem Unternehmen wirklich ein Energiemanagementsystem eingeführt wird ({14}) und wenn ganz klar und deutlich eine Energieeffizienzsteigerung zu erkennen ist. Auch da gehen wir sogar noch weiter als Rot-Grün. ({15}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entlastungen sind notwendig. Ich will den Vorwurf ausräumen, dass die energieintensiven Industrien nichts zahlen. Die chemische Industrie allein zahlt 720 Millionen Euro EEG-Umlage. Das sind pro Arbeitsplatz 1 800 Euro EEG-Umlage. ({16}) Wenn Sie diese Zahl noch nicht überzeugt, dann rate ich gerade Ihnen von den Linken zu Gesprächen mit den Gewerkschaften, die vehement für Entlastungen für die energieintensiven Industrien kämpfen. Vor wenigen Tagen hat die Kanzlerin, wie man in der Zeitung liest, ein Schreiben von den Gewerkschaften bekommen. Herr Vassiliadis schreibt hier: Eine der wichtigsten Standortbedingungen für die energieintensive Chemieproduktion ist die Gewährung von Entlastungsregelungen, beispielsweise bei EEG, Ökosteuer und Emissionshandel. In diesem Sinne packen wir die Energiewende an, entlasten diejenigen, die es brauchen, ({17}) und sichern damit Arbeitsplätze. Ich denke, wir machen dort weiter, wo Rot-Grün aufgehört hat. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion. ({0})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen hier doch einmal die Wahrheit auf den Tisch bringen. ({0}) Heute hat der Herr Kollege Bareiß gesprochen. In der ersten Lesung am 29. März dieses Jahres hat der CDUKollege Koeppen über den Titel des Antrags der Linken - ich will ihn noch einmal nennen: „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden“ - gesprochen. Der Herr Kollege bemühte an dieser Stelle den Duden. Er hat gesagt: „Unberechtigt“ heißt rechtswidrig, heißt ungesetzlich, heißt illegal oder auch, wenn man es weitertreiben würde, kriminell. Mal ganz abgesehen davon, dass „kriminell“ im Duden nicht als Synonym für „unberechtigt“ geführt wird, ist das ja nur eine der Bedeutungen. ({1}) „Unberechtigt“, so sagt der Duden, kann ebenfalls „grundlos“ oder „unbegründet“ heißen, aber die Begriffe „grundlos“ und „unbegründet“ sind weniger spektakulär, und - was noch viel wichtiger ist - darauf kann man keine billige Polemik aufbauen. ({2}) Ich persönlich halte diese Art des Umgangs mit dem Duden für bezeichnend für die Regierungskoalition. ({3}) Sie sehen immer nur die halbe Wahrheit. Was Ihnen nicht passt, das blenden Sie einfach aus. ({4}) Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir alle uns in einem Punkt sehr einig sind, nämlich dass die energieintensiven Unternehmen, die auch im internationalen Wettbewerb stehen, nicht zusätzlich belastet werden sollen. Dazu stehen wir als SPD, und so hatten wir es damals unter Rot-Grün bei der Ökosteuer festgeschrieben. Ausnahmeregelungen müssen begründet sein; auch dazu stehen wir. Genau diese Regelung - das gehört ebenfalls zur Wahrheit - hat Schwarz-Gelb in diesem Jahr entscheidend geändert. Früher galt, dass ein Unternehmen ab einem Stromverbrauch von 10 Gigawattstunden pro Jahr als energieintensives Unternehmen geführt wurde. Heute reicht ein Jahresverbrauch von 1 Gigawattstunde. Waltraud Wolff ({5}) Was - meine Damen und Herren hier oben, Sie wissen es bestimmt nicht - bedeutet das denn? ({6}) Das bedeutet, dass heute statt 540 Unternehmen - ich beziehe mich jetzt auf Zahlen der Bundesregierung 1 600 oder mehr Unternehmen entlastet werden. Mit anderen Worten: Statt 2,1 Milliarden Euro werden künftig bis zu 3,2 Milliarden Euro an Erneuerbarer-EnergienUmlage von kleinen Unternehmen und von den Privathaushalten bezahlt. Das ist doch wieder eine richtige Entscheidung à la FDP. Irgendwie hat mich das an die Steuergeschenke an die Hoteliers erinnert. ({7}) Da fragt sich natürlich auch der kleine Handwerker, weshalb er eigentlich für ein großes Kaufhaus die EEGUmlage zahlen soll, und auch die Rentnerin fragt sich, wieso sie eigentlich die Kosten schultern soll, damit ein Hotel entlastet werden kann. Diese besondere Ausgleichsregel ist einzig und allein für die energieintensiven Unternehmen geschaffen worden, weil wir die Arbeitsplätze und Deutschland als Industriestandort erhalten wollen. Es muss die Frage erlaubt sein: Ist die massive Ausweitung, die diese Koalition jetzt vorgenommen hat, überhaupt begründbar? Die Bundesnetzagentur hat im März dieses Jahres einen Bericht vorgelegt, in dem sie zu dieser Frage Stellung explizit genommen. Sie hat gefragt, ob das wirklich noch die richtige Balance ist. Es wird ausgeführt, dass im Jahr 2012 die begünstigten Unternehmen zwar 18 Prozent des gesamten Stroms verbraucht haben, aber - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen sage und schreibe nur einen Anteil von 0,3 Prozent an der Erneuerbaren-Energien-Umlage bezahlt haben. Mit anderen Worten: Die Umlage, die uns demnächst ins Haus steht, nämlich 3,59 Cent je Kilowattstunde, läge ohne dieses Privileg bei genau 3 Cent pro Kilowattstunde. Ich sage es noch einmal: Wir als SPD stehen zu einer Ausnahmeregelung. Die Bundesnetzagentur hat doch völlig recht, wenn sie infrage stellt, ob hier noch die richtige Balance gewahrt wird und ob kleine Unternehmen und Privathaushalte an dieser Stelle in die Bresche springen sollten für Unternehmen, die neuerdings zu den intensiven Energieverbrauchern gehören sollen. Übrigens klagte Schwarz-Gelb die ganze Zeit - auch das ist sehr bezeichnend - über die hohen Kosten, die mit der Erneuerbaren-Energien-Umlage für die privaten Haushalte verbunden sind. Bei dieser Geschenkerunde jetzt sagt aber niemand von Ihrer Seite, dass die Privathaushalte und die kleinen Unternehmen die Zeche dafür bezahlen. Das ist doch die Wahrheit. ({8}) Sie selber mit Ihrer Gesetzgebung sind die Kostentreiber bei der Umlage für erneuerbare Energien. Ich bin Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Wir sind lange der Frage nachgegangen, wie wir unseren Wohlstand erhalten und trotzdem den unsäglich großen Verbrauch unserer Umwelt begrenzen können. Ist es möglich, diese Prozesse zu entkoppeln und unser Klima zu schützen? Ein Baustein - das ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg unstrittig - ist der sparsame Umgang mit Energie. Wird der Strom teurer, sieht jeder zu, dass er Strom sparen kann. Das machen auch Unternehmen. Diesen Fakt haben besonders die Unionspolitiker und die FDP-Politiker betont. Klar ist aber, dass die Ausweitung dieser Ausnahmeregelung diesem Ansatz widerspricht. Damit kommt man nicht zu Einsparungen, und so verbessert man auch nicht die Energieeffizienz. Was spräche eigentlich gegen ein verpflichtendes Energiemanagement als Voraussetzung für die Begünstigung bei der Energiesteuer? Darüber sollte man einmal nachdenken. Ein Energiemanagement, das nicht nur den Energieverbrauch und die Einsparpotenziale bewertet, sondern auch die Umsetzung von empfohlenen Maßnahmen vorschreibt, wäre eine Möglichkeit, um in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für diese Begünstigung zu erreichen. Ein Teil unserer Industrie, an dem Arbeitsplätze und Wohlstand hängen, ist stromintensiv, keine Frage. Niemand will die Produktion aus Deutschland verbannen. Fakt ist aber, dass bis 2020 - nach Schätzungen - 20 bis 40 Prozent des Energieverbrauchs in der Industrie durch einen wirtschaftlicheren Einsatz eingespart werden könnten. Dieses Potenzial müssen wir heben. Hier muss man ansetzen und nicht entlasten, wenn mehr verbraucht wird. ({9}) Entlastungen dürfen nur dort erfolgen, wo sie notwendig sind. Zum Schluss: Viele Fragen, die in Ihrem Antrag, im Antrag der Linken, gestellt werden, sind richtig. Ihr Antrag enthält aber viele pauschale Äußerungen in Bezug auf Industrie und Standortfragen, die Arbeitsplätze betreffen. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Meine Fraktion wird sich der Stimme enthalten. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wolff, Sie sollten sich vielleicht nicht nur mit Professoren in Enquete-Kommissionen beschäftigen, sondern als Sozialdemokratin auch einmal in die Betriebe in Deutschland gehen und sich den industriellen Mittelstand anschauen. ({0}) Sie sollten sich anschauen, wie die Arbeitswirklichkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der chemischen Industrie aussieht. Die meisten Unternehmen in der chemischen Industrie sind nämlich nicht so groß wie die BASF. ({1}) Man muss sich einmal genau anschauen, was Sie gerade gesagt haben. Sie haben, wie ich unserem sogenannten Parlamentsbuch entnommen habe, einen Abschluss als Unterstufenlehrerin für Mathematik. In der Unterstufe lernt man ja schon Prozentrechnung. ({2}) Das scheint bei Ihnen nicht mehr so ganz präsent zu sein, Frau Wolff. ({3}) Sie haben uns hier erzählt, das Kriterium für Energieintensität sei der Energieverbrauch. Den Schwellenwert, den Sie angesprochen haben - 1 Gigawattstunde oder 10 Gigawattstunden -, den gibt es. Das Kriterium dafür, ob ein Unternehmen zu den energieintensiven Unternehmen zählt oder nicht, ist aber ein Prozentsatz: 14 Prozent der Wertschöpfung. Das ist das Kriterium, das die SPD eingeführt hat. Diese Koalition hat es nicht geändert. ({4}) Den Schwellenwert haben wir in der Tat geändert. Sie haben nur die Großunternehmen befreit, nur die Thyssens und die BASFs dieser Republik. Es ist an ihrer Politik unschwer erkennbar. Sie sind die Genossen der Bosse. Wir sind diejenigen, die für den industriellen Mittelstand und für die Arbeiter in diesen Unternehmen stehen. ({5}) Den Grünen ist die Wertschöpfung ja egal. Man fährt im Porsche Cayenne zum Bioladen, und die Arbeiter in der Chemieindustrie sind einem egal. ({6}) Aber von Sozialdemokraten würde ich einen anderen Ansatz erwarten und nicht, dass Sie hier so tun, als seien die Industrieunternehmen im Mittelstand nicht im internationalen Wettbewerb. ({7}) Sie wollen das deutsche Volk täuschen, indem Sie sagen: Alle Kostensteigerungen gibt es nur deswegen, weil wir hier jetzt irgendwelche Unternehmen begünstigen. ({8}) Nein, die Wahrheit ist, dass wir an dieser Stelle Arbeitsplätze in Deutschland, die im internationalen Wettbewerb stehen, schützen. ({9}) Dazu stehen wir. Wir sind stolz auf die Arbeiterinnen und Arbeiter in diesem Land. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja bitte, er hat wahrscheinlich wieder keine Redezeit von seiner Fraktion bekommen. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich werde als stellvertretender Fraktionsvorsitzender in meiner Fraktion laufend unterdrückt, was die Redezeit angeht. ({0}) Ich fand es übrigens nicht gut - eine kurze Bemerkung dazu möchte ich machen -, über die Berufe anderer herzuziehen. Vor allem sollte man, wenn man selber auch noch nie in der freien Wirtschaft gearbeitet hat, das nicht jemandem anders vorwerfen. ({1}) Meine Frage: Sie nennen die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen als Kriterium - das ist eines der drei Kriterien, die auch wir in unseren Anträgen nennen - und benennen dann erst einmal Firmen, die schon zu Regierungszeiten der SPD diese Ausnahmen bekommen haben und von denen wir sagen, dass sie auch beibehalten werden sollen. Ich möchte Sie hinsichtlich ein paar Unternehmen, die auch schon in der Öffentlichkeit genannt wurden, fragen, ({2}) was dort die internationale Wettbewerbsfähigkeit ausmacht. Der Deutsche Wetterdienst, eine Behörde, ist jetzt durch Sie von der EEG-Umlage befreit. Der Flughafen Stuttgart lagert alles, was mit Energie zu tun hat, in einen neuen Konzern mit einem Mitarbeiter aus und lässt diesen von der EEG-Umlage befreien. Glauben Sie, dass dieser eine Mitarbeiter gefährdet wäre, wenn der Flughafen Stuttgart weiter EEG-Umlage zahlen müsste? Sie und auch ich lieben ein gepflegtes Bier. NordrheinWestfalen ist ja das wirkliche Hauptland der Bierbrauerei. Glauben Sie, dass sich niemand mehr für unsere Biere entscheiden würde, wenn Sie die Brauereien in Deutschland nicht von der EEG-Umlage befreien würden? Wo sehen Sie da die internationale Wettbewerbsfähigkeit? Sie weiten doch im Augenblick die Ausnahmen mit der Gießkanne zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher aus.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kelber, ich wiederhole es: Wir haben das Energieintensitätskriterium nicht geändert. Die Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Bahn, die in Ihrer Zeit bereits als energieintensives Unternehmen eingestuft wurde, ist im internationalen Wettbewerb zumindest auf den deutschen Strecken auch nicht gefährdet. Wenn Sie also das kritisieren, dann gebe ich diese Kritik gerne an Sie zurück. ({0}) Die Frage ist in der Tat, ob wir uns ganz sachlich und unemotional anschauen müssen, ob man die unterschiedlichen Kriterien, die wir bei den Bereichen Emissionshandel, Energiesteuer und EEG für die Ausnahme- und Reduktionstatbestände anwenden, besser angleichen könnte. Da können wir gerne zusammenarbeiten, um solche Beispiele, wie Sie sie - ({1}) - Herr Krischer, Sie kommen noch dran. Das können Sie dann gleich alles erzählen. ({2}) Herr Kelber, wir können gerne seriös darüber sprechen, wie man diese Stilblüten, die Sie hier vortragen, zum Beispiel den Deutschen Wetterdienst, dort wieder herausbekommt. Aber ich sage noch einmal ganz deutlich: Am Energieintensitätskriterium der SPD haben wir nichts geändert. Wir haben nur die Schwellenwerte abgesenkt, damit Chemieunternehmen in Chemieparks und Zulieferer, zum Beispiel im Sauerland - Sie haben gerade auf NRW verwiesen -, die auch energieintensiv sind, genau die gleichen Rechte haben wie Thyssen, BASF, Lanxess oder andere Großunternehmen in dieser Republik. ({3}) Herr Präsident, der Kollege möchte eine Zwischenfrage stellen. - Ja, gerne.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie haben schon voreilig Ja gesagt. - Also, bitte schön, Herr Kollege. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte in der Tat eine Nachfrage stellen, ganz im Sinne von Herrn Kelber. ({0}) Sie stimmen mir doch sicher zu, dass wir keine einzelbetriebliche Regelung getroffen, sondern Kriterien festgelegt haben, nach denen sich die Unternehmen melden können. ({1}) Wir haben bei dieser Reform die Unternehmen, die Sie befreit hatten, die aber, wie wir festgestellt haben, nicht dem europäischen oder dem weltweiten Wettbewerb unterliegen, sofern sie identifiziert werden konnten, herausgenommen. ({2}) Ein Beispiel, von dem ich leider persönlich betroffen bin - genau -, ist der Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung. Dieses Unternehmen ist ein energieintensives. Das führt - im Übrigen nicht zur Freude derjenigen, die insbesondere in der Region Stuttgart betroffen sind zu einer rund 10-prozentigen Wasserpreiserhöhung. Aber in der Tat: Beim Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Unternehmen nach Hongkong oder nach Paris auswandert, relativ gering. Deshalb ist das Unternehmen bei der letzten Reform, als es als energieintensives Unternehmen erkannt wurde, herausgenommen worden. ({3}) Ich gehe davon aus, dass wir uns mit diesem Thema gemeinsam mit der FDP und mit Herrn Kauch, sobald die entsprechenden Erkenntnisse vorliegen, befassen und die Regelung verändern werden. ({4}) Aber wir sollten jetzt nicht versuchen, uns gegenseitig mit Einzelbeispielen, die die energieintensive Industrie insgesamt in ein falsches Licht rücken, vorzuführen. ({5})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Pfeiffer hat völlig recht; er sieht das richtig. Die FDP wird gerne mit Ihnen darüber diskutieren, wie wir die Ausnahmeregelungen treffsicher gestalten. ({0}) Unser gemeinsames Anliegen ist, Arbeitsplätze in energieintensiven Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, zu befreien, damit es nicht zu Verzerrungen im internationalen Wettbewerb kommt; da sind wir ganz einer Meinung. Meine Damen und Herren, noch einmal: Wir müssen die unterschiedlichen Reduktions- und Befreiungstatbestände möglichst einheitlich und treffsicher gestalten und sie zusammenführen. Das ist auch im Interesse der Unternehmen, für die unterschiedliche Vorgaben gelten, was den Emissionshandel, die Energiesteuer und das EEG angeht. Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie schaffen wir es, dafür zu sorgen, dass nicht immer mehr auf immer weniger Schultern lastet? Das ist ja der Ausgangspunkt dieser Debatte. Wie können wir verhindern, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher, also die Privathaushalte, am Schluss allein die Zeche zahlen? ({1}) An dieser Stelle sage ich ganz klar in Richtung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie: Es ist keine gute Lobbyarbeit, kein gutes Vorschlagsmanagement, wenn vonseiten der Industrie ständig die Forderung nach weiteren Befreiungen erhoben wird. Es darf nicht so weit gehen, dass wir die gesamte deutsche Wirtschaft von EEG-Umlage, Energiesteuer usw. befreien; das ist völlig klar. ({2}) Am Schluss muss Energie für alle Bürgerinnen und Bürger bezahlbar sein. ({3}) Ihre Strategie, Ihre Ablenkungsstrategie, wird nicht verfangen. Es ist ja ganz klar, was Sie mit Blick auf den 15. Oktober dieses Jahres machen. Am 15. Oktober wird die EEG-Umlage um voraussichtlich 50 Prozent steigen. ({4}) Ihre Antwort ist ganz einfach: ({5}) Das liegt nur an der Befreiung der energieintensiven Unternehmen. - Das ist doch Volksverdummung, was Sie hier betreiben. ({6}) Zu einem großen Teil liegt diese Steigerung der EEGUmlage nämlich am unkoordinierten Ausbau der Photovoltaik in der Vergangenheit. ({7}) Diese Koalition aus FDP und Union hat diesen Missstand beseitigt. Wir als FDP gehen noch weiter: Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Energiewende auf Dauer nicht überlastet werden

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- und dass bei jedem Cent, den wir den Bürgerinnen und Bürgern hier aufbürden, möglichst viel an erneuerbaren Energien herauskommt. Deshalb sollten Sie nicht ablenken, sondern gemeinsam mit uns an einer wirklichen Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes arbeiten. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist eine interessante Debatte. ({0}) Ich habe das Gefühl, wir haben eine empfindliche Stelle getroffen. Inzwischen haben die Medien ja schon sehr viel über das Thema berichtet. Sie ist auch deshalb empfindlich, weil bei den Kosten der Energiewende bzw. der Energiepolitik sehr oft die Unwahrheit gesagt und auch geheuchelt wird. ({1}) Wenn es um die Kostenrechnung geht, dann machen Sie Stimmung; denn es geht Ihnen darum, regenerative Energien zurückzudrängen. Das Stichwort von Herrn Kauch war „unkoordinierter Ausbau“. Stellen Sie sich vor: Jetzt bauen die einfach unkoordiniert regenerative Energien aus! Frechheit! Herr Rösler und Herr Altmaier übersehen geflissentlich - das muss man den Wählerinnen und Wählern sagen -, was die Kosten von Kohle- und Atomstrom sind. Darüber haben wir heute noch gar nicht gesprochen. Wir reden hier über Kosten von 1 Euro pro Kilowattstunde. Die Wählerinnen und Wähler sind nicht so dumm, wie Sie glauben. Es geht natürlich um Umverteilung; das ist richtig. Sie haben richtig erkannt, dass es uns, den Linken, um Umverteilung geht, nämlich um die Umverteilung der Energiekosten. Es kann eben nicht sein, dass immer mehr ausgenommen wird und dass Otto Normalverbraucher und der Mittelstand das alles dann bezahlen müssen. Das wird ihnen übergestülpt, und sie sollen dann schauen, wie sie damit zurechtkommen. Es wird dann immer das Argument Wettbewerbsprobleme genannt. Das haben wir rauf und runter gehört. Darüber, ob sie tatsächlich existieren oder herbeifantasiert werden, reden wir nicht. Wir müssten eine Debatte darüber führen, aber die Lobby der Firmen - die kennen wir ja alle -, die viel verbrauchen, schafft es einfach immer wieder, Gesetze zu beeinflussen, sodass sie sauber dabei herauskommen, manchmal sogar mit einem leistungslosen Gewinn. Die privaten Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen das dann. Wir halten das für unsozial und auch für wirtschaftsfeindlich. Ich sage Ihnen: Ich war letzten Samstag beim Technischen Hilfswerk, der Helferorganisation, in Bayern. Dort waren auch drei CSU-Abgeordnete; einer sitzt hier. ({2}) Das THW hat sich auch über die Stromkosten beschwert, weil es immer mehr bezahlen muss. Sie haben uns gebeten, den Haushalt für das THW zu erhöhen, weil sie die Energiekosten nicht mehr bezahlen können. So läuft eins ins andere. Jetzt noch einmal zu unserem Antrag. Es geht um die Privilegien beim EEG, bei der Energie- und bei der Stromsteuer. Der Spitzenausgleich bei der Ökosteuer soll bis 2022 verlängert werden. Auch hier werden Unternehmen im zweistelligen Milliardenbereich entlastet. Das ist jetzt neu und wird demnächst erst beschlossen. Es geht um Netzentgelte usw. In der Summe macht das 9 Milliarden Euro im Jahr aus. Den größten Teil davon würden wir anders verwenden, nämlich zur Abfederung der Kosten der Energiewende, nicht nur im privaten Bereich, sondern auch zur Begleitung von Strukturbrüchen, also für Umschulung, Weiterbildung, Umzugsfinanzierung und einen gut abgesicherten Vorruhestand, worum es heute bei der Debatte um die Rente auch ging. ({3}) Ich meine, das sind wir den Kohlekumpels und vielen anderen, um deren Lebensleistung es hier nämlich geht, auch wirklich schuldig; denn zum Teil werden Arbeitsplätze vor Ort verloren gehen, ob mit oder ohne Privilegierung. Wir müssen in neue Zukunftsbranchen investieren; das ist dringend notwendig. ({4}) Noch einmal: Es geht uns nicht darum, energieintensive Unternehmen niederzumachen. Das ist eine Lüge, die verbreitet wird. ({5}) Bei dieser Lüge - die Gewerkschaften wurden angesprochen - mischen auch einige Kollegen von den Grünen und der SPD mit, die mir geschrieben haben. Sie müssten es eigentlich besser wissen; denn Ihre Kollegen hier wissen es besser. ({6}) Es geht uns darum, zu unterstützen und zu gucken, wer wirklich im Wettbewerb steht. Ich meine, hier können wir gemeinsam mit den kleinen Firmen kämpfen, die die steigenden Energiepreise zum Teil eben nicht überleben werden. Wir kämpfen für Menschen mit niedrigem Einkommen. Das macht nicht die FDP. Das machen wir. ({7}) Wir wollen eine lebenswerte Zukunft und zukunftsfeste Arbeitsplätze. Noch eine Information: Ich bin von Beruf Schlosserin. Das habe ich gelernt. Ich war bis zu meiner Wahl in den Bundestag als Schlosserin tätig. ({8}) Ich war acht Jahre im Bundestag und habe dann wieder drei Jahre an der Basis gearbeitet. Ich kenne die Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Job gemacht. Ich besuche meine Kolleginnen und Kollegen auch. ({9}) Im Gegensatz zu Ihnen habe ich schon meine Schaufel in der Hand gehabt, wie das Polt, der Kabarettist, sagen würde. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist völlig klar: Es gibt in Deutschland energieintensive Branchen, die im internationalen Wettbewerb stehen. ({0}) Diese brauchen Ausnahmen bei Umlagen und Steuern, weil sie sonst im internationalen Wettbewerb keine Chance haben. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass es in Deutschland niedrigere Industriestrompreise und vor allen Dingen fallende Industriestrompreise gibt. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Wir waren neulich bei der Firma Bayer MaterialScience. Dort wurde uns eine schöne Grafik aufgelegt, und es hieß: Ja, in Deutschland ist das Niveau der Industriestrompreise günstiger als beispielsweise in Frankreich, günstiger als in Teilen des osteuropäischen Auslands. - Fragen Sie bei Bayer MaterialScience nach, nicht unbedingt verdächtig, eine den Grünen besonders nahestehende Organisation zu sein. Ein weiteres Beispiel: Norsk Hydro, ein Alukonzern, verlagert seine Produktion nach Deutschland, weil hier die Industriestrompreise niedrig sind, gefallen sind, unter anderem gesenkt durch den Ausbau der erneuerbaren Energien, den Sie abbremsen wollen. Das ist die Realität. Der bekannteste Aluhersteller, der größte private Stromverbraucher in Deutschland, die Firma Trimet in Essen - Herr Kauch, Sie kennen sie - meldet einen Verlust, aber - jetzt hören Sie zu! - nicht wegen gestiegener Strompreise, sondern wegen gefallener Strompreise. Die Firma hatte darauf gewettet, dass die Strompreise steigen werden, hatte dafür entsprechende Versicherungen abgeschlossen, und jetzt muss sie zahlen. Das ist Realität in Deutschland, nicht das Bild, das Sie hier zeichnen. ({1}) Unser Problem - das ist schon eine Reihe von Malen angesprochen worden - ist: Wir haben überbordende Ausnahmeregelungen. Das beste Beispiel dafür - ich meine, Sie haben es eben eine Stilblüte genannt, Herr Kauch - ist der Deutsche Wetterdienst. Ihr Minister, das wirtschaftspolitische Schwergewicht Herr Rösler, hat in der letzten Sitzungswoche hier gestanden und auf meine Zwischenfrage geantwortet: Der Deutsche Wetterdienst braucht diese Ausnahmeregelungen, weil er leistungsfähige Computer hat. - Meine Damen und Herren, auf diesem Niveau arbeiten Sie. Erklären Sie mir bitte einmal, warum die Rechenzentren von Telekommunikationsunternehmen in Deutschland von den Netznutzungsentgelten befreit werden. Keine Erklärung! Es ist niemandem zu erklären, warum Sie das wollen und warum Sie das machen. Sie können auch überhaupt niemandem erklären, warum RWE und Vattenfall bei der Braunkohlenförderung von der EEGUmlage befreit sind. Das ist eine Absurdität im Quadrat. Sie müssen tagtäglich daran arbeiten, das zu ändern. Es kommt hinzu, dass diese ganzen Regelungen völlig intransparent sind. Bei der EEG-Umlage ist es 1 Gigawatt, beim Netznutzungsentgelt haben Sie 10 Gigawatt festgelegt. Bei der Haftungsumlage Offshore, die Sie als Protokolldebatte einbringen, sind es plötzlich 100 000 Kilowattstunden. Dann gibt es noch ein Eigenstromprivileg für Unternehmen mit Kraftwerken. Das führt zu der Absurdität, dass die Bundesregierung selber nicht mehr sagen kann, welche Industriezweige welche Befreiungen haben. Das können Sie niemandem erklären. Das können Sie draußen niemandem mehr verständlich machen. ({2}) Diese ganzen Subventionen summieren sich inzwischen auf über 10 Milliarden Euro. Über diesen Betrag reden wir. Diesen müssen am Ende die privaten Verbraucher zahlen. Herr Kauch, wenn Sie hier den BDI kritisieren, dann müssen Sie einmal mit dem Kollegen Pfeiffer von der Wirtschafts-AG der CDU/CSU - Pfeiffer mit drei f - in einen Dialog eintreten. Er schickt nämlich ein Papier herum, in dem steht: Die Befreiungstatbestände sind noch lange nicht ausreichend. Wir wollen noch viel mehr. Er sagt offen und ehrlich und deutlich: Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen die Energiewende, dann sollen sie sie auch bezahlen. - Das ist das Credo von Herrn Pfeiffer und weiten Teilen Ihrer Koalition. ({3}) So kann es ja nun nicht laufen, dass auf der einen Seite die Industrie durch Aufträge und sinkende Preise von der Energiewende profitiert und auf der anderen Seite die privaten Verbraucher nur bezahlen. Das werden wir nicht hinnehmen. Das muss ordentlich debattiert und am Ende geändert werden. ({4}) Der Antrag der Kollegen der Linken benennt die Probleme in der Tat richtig. Aber wenn es an die Lösung geht, wird es reichlich nebulös. ({5}) Dazu finde ich keinen guten Vorschlag. Deshalb werden wir uns an dieser Stelle enthalten. Ich kann Ihnen ankündigen - das steht schon auf der Tagesordnung -: Wir werden in der nächsten Woche einen Antrag einbringen, in dem wir konkrete Vorschläge machen, wie wir das Problem am Ende regeln werden. Es kann nur in der Weise sein, dass wir klare Grenzen ziehen, was Energieintensität und Außenhandelsintensität von Unternehmen angeht. Ich sage bewusst „und“, nicht „oder“; denn das sind die Kriterien. Wir müssen vor allen Dingen die absurden Schwellen und Stufenwerte abschaffen, die dazu führen, dass einzelne Unternehmen ihren Energieverbrauch künstlich hochschrauben, damit sie über eine bestimmte Schwelle hinauskommen. Dafür müssen wir Lösungen schaffen. Dazu sind Debattenbeiträge gefordert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden sie liefern. Von Ihnen höre ich leider nur, dass es immer noch mehr werden soll. Das wird nicht funktionieren. Das zerstört die Akzeptanz der Energiewende. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Krischer, wenn das alles überhaupt kein Problem ist und die Industrie über die Strompreise so wettbewerbsfähig ist, wie Sie es beschreiben, dann stellt sich mir die dringende Frage, warum Rot-Grün seinerzeit bei der Einführung des EEG zu genau dem Härtefallmechanismus gekommen ist, den wir jetzt ausgeweitet haben. ({0}) Aber warum denn? Ich möchte das einmal sagen. Wir lagen damals bei Differenzkosten von 0,2 Cent. Bei 0,2 Cent haben Sie gesagt: Es gibt in Deutschland eine Industrie, die man von dieser Umlage befreien muss, weil sie sonst in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefährdet ist. Wir sind jetzt - ich ziehe ausdrücklich das ab, was tatsächlich auf die Umlage entfällt - in etwa bei 3 Cent Umlage. Das ist das Fünfzehnfache. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass man sehr genau fragt, ob man die Befreiung für die energieintensive Industrie nicht ausweiten und auch dafür Sorge tragen muss, dass gerade der industrielle Mittelstand davon profitiert. Das ist ganz klar. Das haben wir getan. Wenn man allgemeine Regelungen schafft, kann man kritisieren, dass das eine oder andere nicht so trennscharf geschieht. Man kann auch kritisieren, dass es den einen oder anderen Gestaltungsmissbrauch gibt. Aber das spricht nicht gegen die Regelung. ({1}) Es spricht vielleicht dafür, dass man im Nachgang noch einmal darüber nachdenkt, wie man den Gestaltungsmissbrauch unterbinden kann. Aber wir haben bewusst gesagt: Wer einen Stromkostenanteil von 14 Prozent an der Bruttowertschöpfung hat, ist aus unserer Sicht ab einer bestimmten Schwelle energieintensiv. 14 Prozent der Kosten sind - Sie können Kaufleute danach fragen - eine ganze Menge. Deshalb war die Entscheidung richtig. ({2}) Weil man Ihnen das offenbar immer wieder sagen muss, will ich noch einmal unterstreichen: Wir sind das letzte verbliebene wirkliche Industrieland in der Europäischen Union. Unsere Industrie hat uns in der Krise stabilisiert. Gerade der industrielle Mittelstand hat uns stabilisiert. Deshalb ist es richtig und wichtig, ein besonderes Augenmerk darauf zu richten. Wer das kritisiert, soll - das richte ich bewusst an die Linke - mir bitte nicht morgen mit Sozialtarifen und anderen Ideen kommen, was man noch alles tun sollte, um von der unteren Seite letztendlich dafür Sorge zu tragen, dass nur die Mittelschicht die Mehrkosten der Energiewende zahlen wird. Das wird nicht gehen. ({3}) Wenn man schon an dieser Stelle über Schuldfragen diskutiert: ({4}) Letztendlich geht es Ihnen nur darum, ein Ablenkungsmanöver zu starten. Von was wollen Sie ablenken? Sie wollen davon ablenken, dass die jetzige Höhe der EEGUmlage insbesondere darin begründet liegt, dass Sie mit der Photovoltaik zu früh und viel zu teuer an den Markt gegangen sind und sie viel zu früh und zu hoch subventioniert haben ({5}) und dass Sie uns immer wieder gebremst haben, wenn wir das auf ein normales Niveau zurückführen wollten. ({6}) Das haben Sie getan, und das müssen Sie sich letztendlich anrechnen lassen. ({7}) - Nein. ({8}) - Es liegt mir völlig fern, irgendwelche SchwarzerPeter-Spielchen, die Sie hier gerne spielen wollen, mitzuspielen. Aber man muss schon einmal sagen, wo welche Kosten herkommen. Es wäre mir persönlich sehr viel lieber, wenn wir die Energiewende endlich weniger problem- und stärker lösungsorientiert diskutieren würden. ({9}) Wir sollten uns einmal ernsthaft Gedanken darüber machen, welchen Beitrag wir alle miteinander dazu leisten können, dass dieses schwierige Experiment gelingt. ({10}) Sie haben seinerzeit nur einen Beitrag zum Aufbau teurer Kapazitäten geleistet. Jetzt geht es darum, wie man aus den teuer aufgebauten Kapazitäten eine Versorgung aufbaut. ({11}) Dazu höre ich relativ wenig Konstruktives von Ihrer Seite. Wenn es um die Netze geht, höre ich von Ihnen mehr Widerstand als Unterstützung zu dem, was man da reduzieren kann. Ich sage Ihnen jetzt schon, dass wir bei der Speicherförderung etwas auf den Weg bringen werden. Wir müssen schauen, wie wir schneller und mehr Marktnähe hinbekommen. Auch da sind wir seit der letzten EEG-Novelle auf einem ausgesprochen guten Weg.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. - Ich hätte zwei kurze Fragen an Sie. Erstens. Wie erklären Sie sich, dass der Strompreis zwischen 2002 und 2012 von 14 Cent auf etwa 26 Cent pro Kilowattstunde gestiegen ist, obwohl die EEG-Umlage nur um 3,5 Cent pro Kilowattstunde gestiegen ist? Wo kommt der restliche Anstieg her? Zweitens. Wissen Sie, dass die Hauptwiderstandskraft gegen den Neubau eines Pumpspeicherwerkes, das wir für die Energiewende dringend brauchen, ein ehemaliger Landesminister der CDU in Thüringen, Herr Trautvetter, ist? Was sagen Sie dazu? Wer steht hier der Energiewende im Weg?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigung, Herr Kollege, den letzten Teil habe ich akustisch nicht verstanden.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In Thüringen ist ein Pumpspeicherwerk geplant, das wir für die Energiewende brauchen. Ein ehemaliger Landesminister der CDU, Herr Trautvetter, ist die Speerspitze des Widerstandes gegen dieses Pumpspeicherwerk. Was sagen Sie dazu?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst einmal kann ich nicht für ehemalige Landesminister sprechen und Ihnen auch nicht erklären, was sie denken. Das ist etwas, was man sie selber fragen muss. Das ist das eine. ({0}) Das andere kann ich Ihnen erklären. Die Anstiege der Strompreise sind auch bedingt durch die Ökosteuer und die Stromsteuer - ein Werk der linken Seite dieses Hauses -, die dafür gesorgt haben, dass der Strom deutlich teurer wird. Das muss man in dieser Klarheit einfach einmal sagen. Ein Haushalt zahlt momentan, bezogen auf den Preis einer Kilowattstunde Strom, 8 Prozent Ökosteuer und 16 Prozent Mehrwertsteuer. Das ist eine ganze Menge. Irgendwann wird man auch darüber diskutieren müssen, wie genau man da einen Ausgleich hinbekommt. Das sage ich ganz offen und ehrlich. Ich glaube, dass eine Haltet-den-Dieb-Diskussion uns nichts bringt. Wir dürfen nicht einseitig nur auf die EEG-Thematik schauen, sondern müssen auch einmal in Augenschein nehmen, was beispielsweise Ihre Ökosteuer den Verbraucher kostet, und darüber nachdenken, wie man da einen Ausgleich hinbekommt. Auch das gehört zur Wahrheit. Ich weiß aber auch, wie unsere Haushalte aussehen und wie problematisch es ist, solche Steuern zu kürzen. Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir in dieser Debatte ein bisschen ehrlicher, konstruktiver und zielorientierter miteinander umgehen und Sie nicht jede Woche mit derselben Leier und denselben Vorwürfen kommen, ({1}) statt endlich konstruktiv darüber zu reden, wie man die Energiewende voranbringt. Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen auch dazu eine Idee. Das wäre zur Abwechslung gar nicht schlecht. Danke. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9999, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8608 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2011 ({0}) - Drucksache 17/8400 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({1}) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus. ({2}) Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Bitte erlauben Sie mir, als Erstes einen herzlichen Gruß nach Bosnien-Herzegowina zu schicken. In diesen Minuten wird im EUFOR-Hauptquartier in Sarajevo die deutsche Flagge eingeholt. Damit endet der bislang längste Auslandseinsatz der Bundeswehr. Mehr als 63 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten waren dort seit 1996 im Einsatz. Beim Besuch dort habe ich mich selbst von der hervorragenden und auch erfolgreichen Arbeit unserer Soldaten überzeugen können. Mein Dank gilt allen Soldatinnen und Soldaten, die durch ihren Dienst in Bosnien-Herzegowina maßgeblich zur Stabilisierung der Region beigetragen haben. ({3}) Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle aber auch ihren Angehörigen, die viel zu häufig vergessen werden und manche Entbehrung und Belastung tragen mussten. Und: Ich gedenke in Trauer der Soldaten, die bei diesem Einsatz wie auch bei den anderen Einsätzen ihr Leben lassen mussten oder die gesundheitlichen oder seelischen Schaden erlitten haben. Ihre Opfer werden uns stets mahnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, bitte erlauben Sie mir vorab zwei weitere kurze Anmerkungen zu aktuellen Fragen. Erstens. Auch wenn es immer wieder bedauerliche Einzelfälle gibt, die zu Recht hart geahndet wurden: Der Wehrbeauftragte hat keine Erkenntnisse darüber, dass es allgemeine rechtsradikale Tendenzen in der Bundeswehr gibt. Bei noch immer beinahe 200 000 Soldatinnen und Soldaten liegen jedenfalls die bekanntgewordenen Vorfälle glücklicherweise hinsichtlich Anzahl und Schwere unterhalb der Durchschnittswerte in der Gesellschaft. Dies gilt zweitens auch für die beklagenswerten sexuellen Übergriffe und Sexualdelikte, von denen wir lesen mussten. Ich möchte diese Vorfälle nicht bagatellisieren. Aber man darf sie auch nicht verallgemeinern. Auch die entsprechenden Zahlen hierfür liegen unter dem statistischen Mittel der allgemeinen Kriminalitätsstatistik. Dennoch ist jede dieser schändlichen Taten eine zu viel. Ich werde diesen beiden Bereichen auch in Zukunft besondere Aufmerksamkeit widmen. ({4}) Nun zum Jahresbericht. Mehr denn je bestimmt weiterhin die laufende Neuausrichtung die Diskussion über die Bundeswehr. Über die Probleme, die beim Übergang von der Wehrpflicht zum Freiwilligendienst in den Streitkräften aufgetreten sind, habe ich berichtet. Sie sind inzwischen größtenteils gelöst. Dennoch ist die Stimmung unter den Soldatinnen und Soldaten und mehr noch unter ihren Angehörigen noch immer schlecht. Die jüngsten Erhebungen der TU Chemnitz, im Auftrag des Deutschen BundeswehrVerbandes erstellt, und des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr haben nun auch wissenschaftlich belegt, was bereits Tenor meines Jahresberichts in diesem Punkt war. Die Soldaten vermissen ein klar umrissenes Ziel der Reform und bezweifeln, dass die jetzt eingeleiteten Umstrukturierungen Bestand haben können. Vor allem kritisieren sie die Umsetzung der Reform. Ich bin dem BundeswehrVerband und seinem Vorsitzenden Oberst Kirsch - ich sehe ihn jetzt nicht; er wollte eigentlich anwesend sein; aber andere Vertreter des Verbandes sind da - sehr dankbar für die klare Positionierung in diesem Punkt. Meine Damen und Herren, es gibt eben zu viele Baustellen, und zu wenige Lösungen prägen die Situation. Dazu einige Beispiele. Frauen steht der Dienst in den Streitkräften in allen Verwendungsreihen offen. Ihr Anteil ist auf zurzeit 9,6 Prozent gestiegen. Zweifellos ist das ein großer Erfolg; denn ohne die Frauen wird die Bundeswehr angesichts der demografischen Entwicklung in Zukunft noch weniger auskommen als heute. Frauen aber bekommen erfreulicherweise Kinder, die meisten jedenfalls. Dieses Hohe Haus hat eine ganze Reihe von Gesetzen beschlossen, um Frauen dazu zu ermutigen und es ihnen auch zu erleichtern, sich für ein Kind zu entscheiden. In der Bundeswehr aber fehlt es vielfach noch an einem solchen ermutigenden Klima. Stattdessen wird häufig Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus darauf verwiesen, dass in der Zeit der Schwangerschaft, des Mutterschutzes oder auch der Elternzeit der Soldatin oder auch des Soldaten andere deren Arbeit miterledigen müssten. Das ist wahr und leider unter den derzeitigen Gegebenheiten auch unvermeidbar. Gerade deshalb ist es aber die Aufgabe des Dienstherrn, Strukturen zu schaffen, die dieses Problem lösen. Bis heute fehlt es an dem dazu notwendigen personellen Vorhalten zur Kompensation familienbedingter Abwesenheiten. Hier muss bald etwas geschehen, übrigens nicht nur für die Mütter, sondern auch für die Väter, damit sie den vom Gesetz her besonders geförderten Anspruch auf Elternzeit auch wahrnehmen können. ({5}) Auch bei der Kinderbetreuung gibt es kaum Fortschritte. Für die Bundeswehrkrankenhäuser in Ulm, Koblenz und Berlin sollen jetzt zwar eigene Kindergärten eingerichtet werden. Ohne solche Einrichtungen wären die Krankenhäuser nach Aussage des Ministeriums im Wettbewerb um die Gewinnung qualifizierten medizinischen Personals nicht konkurrenzfähig. Das ist wahr. Wahr ist aber auch, dass das nicht nur für die Krankenhäuser gilt. Angesichts des von der demografischen Entwicklung angetriebenen Wettbewerbs mit der Wirtschaft um den Nachwuchs werden sich bald alle Bereiche der Streitkräfte einem solchen scharfen Wettbewerb stellen müssen. Hier muss also an flächendeckenden Angeboten gearbeitet werden, bevor es zu spät ist. Bei Besoldung und Betreuung gibt es dagegen durch die Übernahme des Tarifabschlusses für die Soldaten spürbare Verbesserungen. Das wird in der Truppe auch anerkannt. Die Angebote bei einem früheren Ausscheiden aus dem Dienst nach dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz werden indessen insbesondere von Portepeeunteroffizieren als nicht ausreichend empfunden. Die Entwicklung in diesem Bereich werde ich natürlich weiter verfolgen. Meine Damen und Herren, erhebliche Sorgen bereitet mir weiterhin der Sanitätsdienst; denn die sanitätsdienstliche Versorgung in der Fläche ist weiteren Einschränkungen ausgesetzt. Die Zahl der regionalen Sanitätseinrichtungen wird nahezu halbiert. Dieser Verlust soll durch einen stärkeren Rückgriff auf niedergelassene Ärzte kompensiert werden, was aber nicht überall gelingen kann. Deshalb muss gerade dort eine stärkere Präsenz des Sanitätsdienstes gesichert bleiben, wo bereits die ärztliche Regelversorgung zu stark ausgedünnt ist. Weiterer Anstrengungen bedarf auch die Behandlung und Betreuung einsatzgeschädigter, insbesondere traumatisierter Soldatinnen und Soldaten. Ziel muss hier die Versorgung aus einer Hand auch über das Ende der Dienstzeit hinaus sein. Positiv hervorzuheben sind die durch den Deutschen Bundestag beschlossenen Verbesserungen bei der Versorgung durch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz und das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz. Das sind Maßnahmen, die die Situation der Betroffenen deutlich verbessert haben. Den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, die diese Verbesserungen, die übrigens weit über die Vorstellungen der beteiligten Ministerien hinaus gingen, für unsere Soldatinnen und Soldaten durchgesetzt haben, gilt mein besonderer Dank. ({6}) Meine Damen und Herren, auch Ausstattung und Ausrüstung im Einsatz sowie in der einsatzvorbereitenden Ausbildung wurden weiter verbessert. Das ist anzuerkennen. Aber es sind noch weitere erhebliche Anstrengungen nötig, die ich dem Verteidigungs- und dem Haushaltsausschuss bereits gesondert dargestellt habe. Dabei sollten übrigens bei der Beschaffung bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. Nicht immer muss für den Einsatz neuer Systeme jede zivile verkehrstechnische oder arbeitsrechtliche Anforderung erfüllt sein, insbesondere dann nicht, wenn dadurch im militärischen Einsatz andere Einschränkungen der Sicherheit hingenommen werden müssen. Entscheidend ist doch, dass die Truppe Systeme erhält, die den Anforderungen des Einsatzes gerecht werden und den Schutz der Soldatinnen und Soldaten verbessern. Das muss die Richtschnur zukünftiger Beschaffungs- und Entwicklungsverfahren sein. Inakzeptabel war im Berichtsjahr das Fehlen von Munition für Handfeuerwaffen und die dadurch bedingte unzureichende Schießausbildung. Die Stellungnahme des Ministeriums dazu erschöpft sich in einer Erklärung, wie es zu dem Missstand gekommen ist, und sie gibt lediglich einen Ausblick, wann die ergriffenen Maßnahmen voraussichtlich greifen werden. Das reicht in einer Einsatzarmee für die Behebung eines so eklatanten Mangels nicht aus. Unsere Soldaten brauchen jeden Tag ihre erforderliche Munition, sie brauchen jeden Tag die entsprechende Ausrüstung. Ich bin froh, dass der Inspekteur der Streitkräftebasis nun eine neue Initiative zur Verbesserung der Situation ergriffen hat. Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf die Kritik eingehen, die jüngst auch von Abgeordneten an einigen meiner Äußerungen vorgebracht wurde. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages ist nicht für konkrete Beschaffungsentscheidungen und deren haushalterische Legitimation zuständig; dessen bin ich mir bewusst. Es ist aber meine Aufgabe, soweit erforderlich, auf Fähigkeitslücken hinzuweisen, auch wenn es natürlich Stimmen gibt, die das anders sehen. Dies haben übrigens auch meine Vorgänger bereits zu Recht so gehalten, und so wird es auch anderswo gesehen. Im Vereinigten Königreich haben sich schon Gerichte mit Vorwürfen über unzureichende Ausrüstung und Bewaffnung im Einsatz befassen müssen. So weit muss es bei uns hoffentlich nicht kommen. Meine Damen und Herren, ich wiederhole gerne, was ich an dieser Stelle schon einmal gesagt habe: Die Grundrechte unserer Soldatinnen und Soldaten, insbesondere der Anspruch auf den Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit, würden verletzt, wenn andere Gesichtspunkte wie etwa Fragen der politischen Opportunität, industriepolitische Gesichtspunkte oder Kostengründe Vorrang vor den Schutzansprüchen der Soldatinnen und Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus Soldaten fänden. Ich bedauere aber, dass mein Hinweis auf eine anerkannte Fähigkeitslücke vereinzelt als das Abwürgen einer ethischen Debatte empfunden wurde. Das war nicht meine Absicht, und es steht ja auch gar nicht in meiner Macht. Frau Präsidentin, wenn ich darf - ich sehe, dass meine Zeit abgelaufen ist -, ({7}) würde ich gerne noch einen Dank sagen. Abschließend bedanken möchte ich mich zuallererst natürlich bei unseren Soldatinnen und Soldaten, die einen hervorragenden Dienst leisten, sowie selbstverständlich bei ihren Familien. ({8}) Ich danke auch Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Ihre stets wohlwollende Begleitung meiner Arbeit. Danken möchte ich auch dem Minister, dem Ministerium, militärischen Dienststellen und allen, die mit meinem Amt zusammenarbeiten, für die zumeist konstruktive Zusammenarbeit. Ein besonders herzlicher Dank gilt aber natürlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt des Wehrbeauftragten. Sie sind hier durch die Führungskräfte vertreten. Sie alle haben in dieser Zeit des Umbruchs viele zusätzliche Belastungen hervorragend gemeistert. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Meine Damen und Herren, Ihnen bin ich dankbar für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich im Namen des gesamten Hauses dem Wehrbeauftragten und natürlich seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2011 und ebenso für ihr Engagement danken. ({0}) Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière. ({1})

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist heute eine Debatte des Dankes, aber das ist ja auch richtig so. Herr Königshaus, ich möchte deshalb gerne die Gelegenheit nutzen, Ihren Mitarbeitern, aber auch Ihnen selbst für Ihre Arbeit zu danken. Wir mussten uns auch erst ein bisschen aneinander gewöhnen, als ich ins Amt kam und Sie ins Amt kamen. ({0}) - So wechselseitig. - Wir hatten auch Debatten über Aktenzugänge und all das; da hat es auch manchmal ein bisschen gerumst. Aber das ist alles, glaube ich, einvernehmlich gelöst. Ich bedanke mich auch für die differenzierte Art und Weise, in der Sie vorgehen, in der Sie hier vorgetragen haben. Es gefällt einem Minister nicht immer, wenn man in die Ecken guckt, wo vielleicht ein bisschen Staub ist. Aber das gehört dazu, und deswegen herzlichen Dank dafür. Ich möchte auf ein paar einzelne Punkte eingehen, die Sie angesprochen haben, und auch auf einen Punkt hinweisen, den Sie in Ihrem Bericht aufgeführt hatten, aber heute nicht angesprochen haben. Zunächst: In der Haushaltsdebatte hatten wir schon darüber debattiert, dass es infolge der Neuausrichtung der Bundeswehr, insbesondere in einer Phase, in der die Umsetzungsschritte noch nicht für jeden Mitarbeiter, für jeden Soldaten und jede Soldatin, für jede Mitarbeiterin klar sind, zu Unsicherheit kommt. Das ist verständlich, und wir müssen daran arbeiten, dass diese Unsicherheit schnell abgebaut wird. Das tun wir, und dazu gehört natürlich auch, den Dienst in der Bundeswehr attraktiv zu halten. Es war gestern vorgesehen, dazu im Verteidigungsausschuss umfangreich vorzutragen. Dazu kam es nicht; das wird dann sicherlich in der nächsten Sitzung erfolgen. Aber ich glaube, in dieser Hinsicht ist doch einiges passiert, auch im Bereich der Kinderbetreuung. Dazu will ich gern eine Ergänzung anbringen; ich weiß nicht, ob wir uns da unterscheiden. Sie haben von einem flächendeckenden Angebot gesprochen. - So weit, so gut. Ich bin aber nicht der Auffassung, dass es sich um ein flächendeckendes Angebot der Bundeswehr handeln sollte. Das hängt nämlich von den Umständen vor Ort ab. Es mag manchmal nicht nur billiger, sondern für das Aufwachsen der Kinder auch besser sein, dass vor Ort mit Belegungsrechten und in anderer Weise dafür Sorge getragen wird, dass die Kinder von Soldatinnen und Soldaten anständig betreut werden. ({1}) Es kann sogar ein Fehler sein, Kindergärten einzurichten, in denen nur Soldatenkinder sind. Ich habe in Amerika Großstandorte besucht. Da ist alles von der Armee belegt: die Häuser, die Schulen, die Kindergärten, die Sportplätze. Ich möchte das in Deutschland nicht, sondern ich möchte, dass die Soldatinnen und Soldaten und ihre Angehörigen Teil der Gesellschaft sind und Kinderbetreuung für sie stattfindet, ganz gleich wo. Das heißt, durch uns organisierte Kinderbetreuung wird es nur an Großstandorten geben. Selbst in Ulm - Sie haben das Beispiel erwähnt - soll zusammen mit der Universitätsklinik ein Kindergarten eingerichtet werden, in dem die Kinder zusammen aufwachsen und spielen. Wenn wir unter Kinderbetreuung also verstehen, dass jeder ein Angebot haben soll, aber es kein bundeswehreigenes Angebot sein muss, dann sind wir, glaube ich, einig. Zur Sanität vor Ort: Ich hatte schon im Ausschuss und hier bei verschiedener Gelegenheit vorgetragen, dass die Realisierungsplanung bis auf die Standortschießplätze und damit zusammenhängende Fragen und bis auf Sanität abgeschlossen ist. Warum? Weil Sanität akzessorisch ist; Sanitätsversorgung muss ja da sein, wo Menschen sind. Deswegen muss sich die Sanitätsversorgung etwa an die zeitliche Abfolge der Schließung von Standorten anpassen und ihr nachlaufen. Nun wird überlegt - das ist im Grunde unser Anspruch -, dass wir jedem Soldaten eine sanitätsdienstliche Versorgung von uns zur Verfügung stellen. Nur, in kleinen Standorten ist dann diese Versorgung, wenn sie denn stattfindet, nicht nur teuer, sondern schlechter; denn wir können gar nicht so viel Sanitäts- und ärztlichen Sachverstand in kleinen Standorten vorhalten, dass es dort für die Fülle der denkbaren Krankheitsbilder eine gute Versorgung gibt. Es kann nicht im Interesse der Soldatinnen und Soldaten liegen, dass sie vor Ort zu wenig Ärzte haben, die etwas von der Sache verstehen, oder für eine vielleicht harmlose Krankheit eine Stunde zu einem Sanitätsversorgungszentrum fahren müssen, sondern es kann viel eher im Interesse der Soldatinnen und Soldaten sein, dass wir mit dem Hausarzt um die Ecke oder dem Internisten um die Ecke einen Vertrag abschließen und sie zu ihm gehen können und die Kosten erstattet bekommen, sodass nur dann, wenn es um Dinge geht, die in besonderer Weise sanitätsdienstlich für uns von Interesse sind, eine spezielle Versorgung in einem Sanitätsversorgungszentrum erfolgt. Ich glaube, das ist im Interesse der Soldatinnen und Soldaten sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade an kleinen Standorten, wenn wir diese vertragsärztliche Versorgung ausbauen können. Das Konzept kommt demnächst. ({2}) Nun zur Ausrüstung: Das ist, wie Sie ja wissen, wie wir alle wissen, ein ständiger, wenn Sie so wollen, mahnender Zeigefinger, den Sie erheben. Durch Sie, aber auch durch die Haushälter, durch den Verteidigungsausschuss und durch meine Vorgänger ist in diesem Bereich sehr viel passiert. Sicherlich ist manches zu spät gewesen, was Afghanistan angeht. Aber ich würde einmal die Behauptung aufstellen, dass heute die Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr sowohl hinsichtlich ihrer Ausrüstung wie auch bei der Fortbewegung und bei anderen Formen im Schnitt besser geschützt sind als unsere Verbündeten. Das ist so. Ich will jetzt nicht die Staaten miteinander vergleichen, weil sich das nicht gehört. Aber wenn man mit den Soldaten vor Ort spricht und wenn man manche Folgen von Anschlägen sieht, dann stellt man fest, dass das inzwischen so ist. Dies ist auch Ihr Verdienst, und das ist gut so. Dass Sie weiterhin in diese Richtung drängen, versteht sich von selbst. Eine Bemerkung will ich mir nicht verkneifen, die Sie natürlich auch kennen: Nicht immer liegt das Abstellen von Mängeln am Ministerium oder am Geld, sondern manchmal liegt es auch an dem, der etwas liefern sollte. Das ist ein leidgeprüftes Thema, das ich jetzt auch nicht an Beispielen vertiefen will. Aber auch das gehört zur Wahrheit. Herr Königshaus, Sie haben in Ihrem schriftlichen Bericht einen Punkt angesprochen, auf den ich und viele unserer Kollegen auch bei jedem Truppenbesuch angesprochen werden: Das ist das Thema Weiterverpflichtung. Viele Zeitsoldaten fragen: Warum können wir nicht weiterverpflichtet werden, obwohl wir jetzt erfahren sind, gut sind und gut ausgebildet sind? Stattdessen werden heurige Hasen eingestellt, die keine Ahnung haben. Wie kann das gehen in einem Einsatz? - Das ist, glaube ich, ein zentraler Punkt. Ich will dazu gern zwei Dinge sagen. Zunächst muss es immer eine richtige Mischung zwischen sehr Erfahrenen, mittelmäßig Erfahrenen und Anfängern geben. Wir würden unseren Nachfolgern ja keinen Gefallen tun, wenn wir jetzt alle erfahrenen Leute weiter verpflichten. Denn wenn diese in fünf oder sechs Jahren auf einmal ausscheiden, sind überhaupt keine erfahrenen Kräfte mehr da. Deswegen muss es immer eine Mischung geben. Nun ist der Eindruck erweckt worden - nicht von Ihnen, aber von manchen in der Truppe -, das sei alles viel zu wenig, da finde nichts statt. Deswegen habe ich mir für die heutige Debatte die Zahlen besorgen lassen, wie hoch die Zahl der Weiterverpflichtungen von Zeitsoldaten ist, die als Z 4, Z 8 oder Z 12 angefangen haben, denen es dann gefallen hat oder bei denen der Vorgesetzte gesagt hat: „Junge, bleib doch bei uns“, und bei denen die Prüfung der Weiterverpflichtung zu einem positiven Ergebnis gekommen ist. Wie viele dieser Weiterverpflichtungen hat es also gegeben? Es waren im Jahr 2010 3 180, es waren im Jahr 2011 - in dem Jahr, in dem die Wehrpflicht ausgesetzt worden ist und in dem die Lücke natürlich besonders groß war - 6 340, davon allein fast 5 000 beim Heer, wo das Problem am größten war, und es sind im Jahr 2012 bisher fast 2 800. Das wird also schon gemacht. Natürlich wird jeder Fall, der abgelehnt wird, besonders betont, während die Fälle, die bewilligt werden, als selbstverständlich angesehen werden. Wir bleiben dabei. In diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal auf den Bundeshaushalt, für den wir die Höherbewertung von rund 5 000 Stellen gerade für Mannschaftsdienstgrade beantragt haben in der Hoffnung, dass sie bewilligt wird. Einem Zeitsoldaten geht es ja nicht nur darum, länger zu bleiben; vielmehr verbindet er mit dem Wunsch, länger zu bleiben, auch die Erwartung, befördert zu werden. Dafür braucht man dann auch die entsprechenden Stellen. Wir brauchen hier Augenmaß und wir brauchen Verständnis für beide Positionen, nämlich die Weiterverpflichtung von Erfahrenen und das Bemühen um die Rekrutierung von Neuen, die später die Erfahrenen sein werden. Das ist der Sinn und Zweck einer Armee, die eben keine Berufsarmee, sondern eine Freiwilligenarmee ist, die zu zwei Dritteln aus Zeitsoldaten und zu einem Drittel aus Berufssoldaten besteht. Meine Damen und Herren, das Ministerium wird weiterhin die Arbeit des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konstruktiv begleiten. Wenn es einmal knirscht, werden sich immer Wege finden, auf denen wir das abzustellen versuchen. - Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute den Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragten im Plenum behandeln können. Wir haben eine Bundeswehr, die Hervorragendes leistet. Das hat der Herr Wehrbeauftragte eben schon ausführlich gewürdigt. Ich möchte nicht nur als Verteidigungspolitikerin, sondern auch im Namen meiner Fraktion allen Diensttuenden für ihren Einsatz und für ihr Engagement bei der Bundeswehr herzlich danken. ({0}) Ich wünsche mir natürlich, dass die im Bericht aufgezeigten Defizite und Mängel zügig behoben werden, damit unsere Soldaten auch in Zukunft erfolgreich und sicher ihren Dienst leisten können. Herr Wehrbeauftragter Königshaus, auch wenn wir von der SPD noch in der Opposition sind, ({1}) möchte ich für Ihren Bericht nicht mit Lob sparen. Er spricht offen und mutig Missstände an, die es schnell abzustellen gilt. Der Bericht zeigt, wo angesetzt werden muss. Das verdient unser Lob. Wir schließen ausdrücklich Ihre Mitarbeiter darin ein. ({2}) Ich denke, dass wir Dinge anpacken müssen, Dinge aus der Welt schaffen müssen, die immer noch die Qualität und Sicherheit der Arbeit unserer Streitkräfte gefährden. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den Bedürfnissen und Sorgen unserer Soldatinnen und Soldaten in der besonderen Weise nachzukommen, wie auch sie für unser Land in ganz besonderer Weise Belastungen tragen. Lassen Sie uns Lösungen finden, damit sich vor allen Dingen in Zukunft Dienst und Familie besser vertragen. ({3}) Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass Mütter mit Kindern unter zwei Jahren nicht in einen Auslandseinsatz geschickt werden. ({4}) Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Bundeswehr mehr Anstrengungen unternimmt, Kinderbetreuung zu ermöglichen. Herr Minister, ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass Sie gesagt haben, dass Weiteres folgen soll. Auch die Kooperation mit den Kommunen ist sicherlich sinnvoll. Das passt aber sehr oft nicht zusammen. Die Bundeswehr kauft sozusagen Plätze, aber die Öffnungszeiten der Einrichtungen entsprechen nicht den Schichtdiensten der Soldaten. Schon stehen diese Eltern wieder ohne eine adäquate Betreuung da. Ich finde, da könnte man noch eine Schippe drauflegen. Das wäre sehr schön. Die Bundeswehr will doch ein attraktiver Arbeitgeber sein. Ein attraktiver Arbeitgeber muss auch für vernünftige Kinderbetreuung sorgen. ({5}) Ein für meine Fraktion ganz wichtiges Thema ist die Belastung von Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen. Das muss besser werden. Das muss in einem erträglichen Rahmen bleiben. Drei Auslandseinsätze in zwei Jahren sind zu viel für einen Soldaten oder eine Soldatin. Ich denke zum Beispiel an das deutsch-österreichische ORF-Bataillon in Bruchsal. Wir sind es den Soldatinnen und Soldaten schuldig, realistische Ruhezeiten zwischen den Einsätzen sicherzustellen und die Belastung auf ein erträgliches Maß zu bringen. ({6}) Auch der Einwand, dass diese zusätzlichen Belastungen freiwillig übernommen werden, überzeugt mich nicht. Das ist doch dann eher freiwilliger Zwang. Natürlich lässt man seine Kameraden, mit denen man in mehreren Einsätzen zusammen war, nicht im Stich, wenn sie sagen: Du willst doch unsere Truppe nicht alleine gehen lassen. - Was nützt es, wenn diese Soldaten, die sehr oft junge Familienväter sind, zurückkommen und vor den Trümmern ihrer Ehe stehen bzw. ihre Familie daran zerbrochen ist? Dieses Thema muss man viel ernster nehmen. Auch dieses Thema trägt zur Attraktivität der Bundeswehr bei. Herr Wehrbeauftragter, eines muss ich noch anmerken, auch wenn Sie es schon angesprochen haben: Über eine Sache haben wir uns in den letzten Tagen etwas gewundert: Uns von der Opposition ist vielleicht entgangen, dass der Wehrbeauftragte neuerdings auch Einkaufsberater der Bundeswehr ist. Anders können wir uns Ihre Kaufempfehlung für bewaffnete Drohnen nicht erklären. Dabei ist Ihr Ansinnen sicherlich honorig: Die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz soll gesteigert werden. Das sehen wir auch nicht anders. In der Frankfurter Rundschau vom Montag werden Sie allerdings mit den Worten zitiert: „Hätten unsere Soldaten bewaffnete Drohnen zur Verfügung, müssten sie nicht mehr hilflos zuschauen, wenn unsere eigenen Leute bedroht werden“, … ({7}) Herr Königshaus, wenn Sie es ernst meinen mit der Sicherheit unserer Soldaten, dann lesen Sie doch bitte noch einmal in Ihrem Bericht nach, was dort zur Ausrüstung unserer Truppen geschrieben steht. Aus den Zeilen … im zehnten Jahr des Afghanistan-Einsatzes bestanden zahlreiche … Mängel im Bereich der Ausrüstung fort geht doch eindeutig hervor, wo nachgebessert werden muss. Die von Ihnen im Bericht ebenfalls beschriebenen Mängel an Handwaffen und Munition geben zusätzlichen Aufschluss. Jetzt auf ein schussbereites fliegendes Auge zu setzen, trägt eventuell in einigen Jahren zu mehr Sicherheit bei. Aber diese Diskussion hilft doch nicht unseren Truppen, die heute im Auslandseinsatz sind. ({8}) Verstehen Sie mich bitte richtig: Wir finden wirklich, dass Sie ordentliche Arbeit leisten. Aber nehmen Sie bitte Ihre gesetzlichen Aufgaben als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrollen wahr. Das operative Geschäft und die Materialund Waffenbeschaffung fallen unserer Meinung nach in ein anderes Ressort. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht des Wehrbeauftragten von 2011 zeigt, wo gehandelt werden muss. Verteidigungsministerium und Bundeswehrführung sind gefordert, den Rahmen so zu gestalten, dass unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst bestmöglich und mit möglichst geringer Gefährdung tun können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Christoph Schnurr hat nun für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Am 24. Januar 2012 haben Sie, Herr Königshaus, uns den aktuellen Bericht vorgelegt. Sie haben damit neue Maßstäbe gesetzt, was die zeitliche Unterrichtung des Deutschen Bundestages betrifft. ({0}) Manchmal wäre man froh, wenn der eine oder andere Bericht ebenfalls zeitnah vorläge. Wenn das dann, wie jetzt beim Wehrbericht, einmal der Fall ist, Herr Kollege Koch, dann muss man das auch positiv erwähnen. In diesem Zusammenhang möchte ich im Namen meiner Fraktion insbesondere Ihrem Hause meinen Dank aussprechen; denn ohne Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wäre diese schnelle Umsetzung sicherlich nicht gelungen. Ich möchte gleichzeitig aber auch all denjenigen danken, die die unterschiedlichsten Eingaben - ob es nun Briefe, E-Mails, Faxe oder teilweise auch Telefonate waren - Ihnen zukommen ließen, auf deren Grundlage Sie diesen Bericht verfasst haben. Im Grunde sind die Petenten die eigentlichen Verfasser dieses Berichtes. Sie schildern ihre Erfahrungen mit diversen Missständen und leider teilweise auch mit dem gelegentlichen Fehlverhalten von Kameraden. Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten wird eben auch von denjenigen Menschen in Deutschland gelesen, die sich eine Karriere bei der Bundeswehr vorstellen können. Das Interesse an diesem Jahresbericht 2011 ist vorhanden. Seit der Übergabe wurde er über 36 000-mal heruntergeladen. Das zeigt, dass er nicht nur eine von vielen Drucksachen ist, die sicherlich in der Bundeswehr interessiert zur Kenntnis genommen wird, sondern dass dieser Bericht auch in der Breite der Gesellschaft Beachtung findet. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Der Bericht und die darin beschriebenen Missstände sind entscheidend dafür, wie die Bundeswehr im Lande wahrgenommen wird. Ich möchte auf drei wesentliche Punkte eingehen, die Herr Königshaus und der Minister zu Beginn schon angesprochen haben. Erstens. Ein wichtiger Punkt ist die wesentliche Verbesserung von Ausstattung und Ausrüstung über die letzten Jahre hinweg. Hierzu gehört auch - wenn ich das an dieser Stelle ergänzen darf - die immer besser werdende einsatzvorbereitende Ausbildung. Hier sind viele finanzielle Mittel geflossen, damit unsere Soldatinnen und Soldaten eben nicht erst im Einsatz die entsprechenden Fahrzeuge oder Systeme bedienen müssen, ohne sie vorher erprobt zu haben. Sie sollen schon hier in Deutschland bestmöglich ausgerüstet werden. Momentan haben wir über 1 000 geschützte Fahrzeuge; das ist ein sehr hoher Stand. Es ist nur richtig, dass diese Fahrzeuge, die derzeit wieder aus dem Auslandseinsatz zurückgeführt werden, unmittelbar für die einsatzvorbereitende Ausbildung genutzt werden. Damit wird sichergestellt, dass die Fahrer einen routinierten Umgang mit den jeweiligen Fahrzeugen erlernen können. Hier sind wir auf einem guten Weg. Natürlich gab es in der Vergangenheit immer wieder einzelne Probleme. Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass wir auch die Erfahrungen, die wir bei den unterschiedlichsten Gesprächen im Rahmen von Truppenbesuchen im Inland oder im Ausland gesammelt haben, in den Verteidigungsausschuss oder in den Haushaltsausschuss einbringen konnten. An dieser Stelle geht mein expliziter Dank an unsere Haushälter dafür, dass für wichtige Investitionen, für wichtige Beschaffungsvorhaben, für Ausrüstung und für Ausbildung die jeweils benötigten finanziellen Mittel bereitgestellt wurden. Wenn wir über den Schutz im Einsatz sprechen, dann darf der Tiger nicht unerwähnt bleiben. Ich glaube, dass wir recht gut in der Zeit liegen, und hoffe, dass es in diesem Zusammenhang keine weiteren Verschiebungen mehr gibt. Zweitens. Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir im Deutschen Bundestag schon einmal diskutiert haben, ist die Betreuungskommunikation. Es gab einen interfraktionellen Antrag, der eine sehr starke Wirkung hatte. Einiges aus diesem Antrag ist bereits umgesetzt worden. So sind die praktischen Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre durchgeführt worden. Die Erhöhung der Bandbreite für die Internetnutzung sollte zeitnah erfolgen und bald auch abgeschlossen sein. Selbstverständlich - darauf möchte ich an dieser Stelle noch einmal hinweisen - erwarten wir auch weiterhin die volle Umsetzung des kompletten Antrags, den wir im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Das gilt insbesondere für das zum Ende dieses Jahres angekündigte Umsetzungskonzept zur kostenfreien Nutzung des Internets. ({1}) Dazu gehört auch, dass wir uns nicht nur die Bereiche anschauen, die oft im Fokus der politischen und gesellschaftlichen Diskussion stehen, wie beispielsweise der Einsatz in Afghanistan. Wir müssen uns vielmehr auch den Bereich der Marine im Einzelnen vornehmen; denn auch hier gibt es vermehrt Baustellen, was die Telekommunikationsmöglichkeiten auf Schiffen anbelangt. ({2}) Drittens: die Neuausrichtung. Die Frage der Attraktivität der Bundeswehr wurde immer wieder gestellt; sie begleitet uns seit Jahren und wird uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Denn die Bundeswehr ist natürlich ein Arbeitgeber, der um die qualifiziertesten und fähigsten jungen Männer, aber auch Frauen wirbt. Wir haben hier einen guten Weg eingeschlagen; die ersten Maßnahmen sind beschlossen und auch umgesetzt. Aber ich glaube, dass dies nicht das Ende sein darf. Die Zahlen sprechen für sich: Am 1. Oktober, kommenden Montag, werden 3 500 Freiwillige ihren Dienst antreten und circa 3 000 Soldaten auf Zeit ihren Dienst beginnen. Das zeigt doch, dass die Bundeswehr nach der Aussetzung der Wehrpflicht durchaus noch attraktiv ist. Wir haben erreicht, dass die Bundeswehr weiterhin in unserer Demokratie verankert ist, und wir konnten sie als attraktiven Arbeitgeber positionieren und darstellen. Wenn ich es in der heutigen Meldung richtig gelesen habe, haben sogar mehr als 50 Prozent derjenigen, die am kommenden Montag ihren freiwilligen Wehrdienst bei der Bundeswehr beginnen werden, Abitur. Die ursprüngliche Befürchtung, dass keiner mehr zur Bundeswehr gehen will, wenn die Wehrpflicht ausgesetzt ist, hat sich nicht bestätigt. Insofern glaube ich, dass wir auch in diesem Punkt auf einem guten Weg sind. ({3}) Ich sehe, dass meine Redezeit rasant schwindet. Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der ebenfalls zum Thema Neuausrichtung gehört. Frau Präsidentin, ich verspreche Ihnen: Es geht schnell. Herr Wehrbeauftragter, ich glaube, Sie haben schon viele Gespräche zum Thema Neuausrichtung geführt. Wir dürfen nicht vergessen: Es geht hier nicht nur um eine strategische Frage, die sicherheitspolitisch abgeleitet wird, sondern es geht bei dieser ganzen Reform auch um Menschen; es geht um unsere Soldatinnen und Soldaten und um die zivilen Angestellten. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns unter anderem die Studie des Deutschen BundeswehrVerbandes sehr detailliert anschauen. Darin steht nicht nur Negatives, allerdings auch nicht nur Positives. Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: Ich glaube, nicht alles ist perfekt. Aber für uns ist klar: Reformen bedeuten Veränderungen. Wer diese Veränderungen nicht haben will, der sollte nicht nach Reformen rufen. Mein Dank gilt den Angehörigen der Bundeswehr, unseren Soldatinnen und Soldaten, den Zivilisten, aber auch den Reservisten und ganz besonders den Familien. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Harald Koch hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Wir reden heute über den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2011, also über all diejenigen Probleme, Verfehlungen, Mängel und Unzufriedenheiten, wegen denen sich die Soldatinnen und Soldaten im letzten Jahr an Sie gewandt haben. Dabei ist ein Phänomen zu beobachten, nämlich dass die aufgezählten Defizite Jahr für Jahr nahezu identisch sind. Wir sprechen jedes Jahr aufs Neue über die unzureichende medizinische Versorgung und Absicherung der Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz verwundet oder traumatisiert werden. Wir sprechen jedes Jahr wieder über grobes Fehlverhalten von Vorgesetzten oder über unangemessene und herabwürdigende Aufnahmerituale. Auch die ausbleibenden Fortschritte bei der Vereinbarkeit von Dienst und Familie und die daraus resultierenden Trennungs- und Scheidungsquoten unter den Soldatinnen und Soldaten von zum Teil über 80 Prozent sind immer wieder ein Thema, ganz zu schweigen von der kritischen Personalsituation im Sanitätsdienst oder der Unzufriedenheit über die halbherzigen Entschädigungsanstrengungen gegenüber den Radarstrahlenopfern. Herr Königshaus, verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist gut und richtig, dass Sie all diese Mängel und Probleme Jahr für Jahr auflisten und zur Sprache bringen. Es ist aber äußerst bedenklich, dass dies anscheinend gar nichts an der Situation ändert. Da muss ich in Richtung des Ministers die Frage stellen: Wie lange soll das noch so weitergehen? ({0}) Sie sprechen in Ihrem Bericht von schlechter Stimmung und tiefgreifender Verunsicherung in der Truppe. Dies wurde mittels der Studie des Deutschen BundeswehrVerbandes nun auch wissenschaftlich belegt. Ich sage Ihnen: Das Ganze kommt nicht von ungefähr, es hat hausgemachte Ursachen. Zum einen wird in der Bundeswehr alles der uneingeschränkten Einsatzfähigkeit untergeordnet. Wenn das Geld nach der Beschaffung von millionenschweren Kriegsgeräten ausgegangen ist oder es in den Augen der Einsatzleitung nötig ist, dass Soldatinnen und Soldaten sechs Monate oder länger am Stück im Einsatz sind, dann fallen die Interessen der Betroffenen hinten herunter und werden als nicht so wichtig erachtet. Das spüren die Soldatinnen und Soldaten auch. Das ist für die Linke nicht hinnehmbar und muss dringend überdacht werden. ({1}) Zum anderen wurde von Anfang an vergessen, die Soldatinnen und Soldaten bei der Reform der Bundeswehr mitzunehmen. Stattdessen wird jetzt versucht, ein unausgegorenes und falsch konstruiertes Konzept von oben herab überzustülpen. Dass da massive Unzufriedenheiten entstehen und gut 90 Prozent der Befragten - das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: 90 Prozent - im Rahmen der Studie des BundeswehrVerbandes der Meinung sind, dass diese Reform nicht von Dauer sein wird und Korrekturen unumgänglich sind, kann ich nur zu gut nachvollziehen. Daher kann ich dem Verteidigungsminister nur raten, diese Probleme nicht länger abzutun bzw. zu ignorieren. Nehmen Sie die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten endlich ernst und ändern Sie etwas. Es wird höchste Zeit. ({2}) Eines möchte ich dennoch betonen: Der Wehrbeauftragte - ich schließe seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ein - macht eine sehr gute Arbeit. Er trägt dazu bei, dass Verfehlungen nicht unter den Teppich gekehrt werden, dass aufgeklärt wird und dass manchmal auch unangenehme Fragen auf der Tagesordnung stehen. Dafür möchte ich ihm und seinen Mitarbeitern danken. ({3}) Herr Königshaus, was aber meines Erachtens gar nicht geht - das ist heute schon mehrfach angesprochen worden -, ist, dass Sie sich zum Gehilfen der Rüstungslobby machen und nun bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr fordern. Als Begründung führen Sie an - das haben Sie noch einmal gesagt -, dass das die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen erhöhen würde. Aber was ist mit der Sicherheit der vielen unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten, die durch bewaffnete Drohnen ums Leben kommen? Ist die weniger wichtig? Was ist mit der moralischen und ethischen Dimension des Ganzen? ({4}) Was ist mit dem Herabsinken der Schwelle für Gewaltanwendung, der drohenden Abstumpfung, wenn der potenzielle Gegner von weit weg per Knopfdruck ausgeschaltet wird? Ist das auch nur um einen Deut besser? Für mich definitiv nicht. ({5}) Herr Königshaus, Ihre Aufgabe ist es, die Rechte der Soldatinnen und Soldaten zu schützen sowie dem Bundestag bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte behilflich zu sein. Verwenden Sie daher Ihre Energie lieber darauf, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr endlich beendet werden. ({6}) Das bedeutet Sicherheit für die Soldatinnen und Soldaten. ({7}) Das würde zeigen, dass die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten ernst genommen werden. Konzentrieren Sie sich auf Ihre eigentliche Aufgabe und lassen Sie die Finger von Drohnen und anderem Kampfgerät. Damit ist den Soldatinnen und Soldaten am meisten geholfen. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Omid Nouripour hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt gute und es gibt schlechte Routinen. Zu den guten Routinen gehört, dass wir immer wieder zusammenkommen, um über den jährlichen Bericht des Wehrbeauftragten zu sprechen. In diesem Zusammenhang gehört es dazu, Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gute Arbeit, die Sie leisten, herzlich zu danken. Der Wehrbeauftragte ist eine Institution, die international einmalig und für eine Parlamentsarmee zwingend notwendig ist. ({0}) Keine Routine ist der Bericht selbst, der in der Regel sehr gründlich und sehr gut strukturiert vorliegt. Sie haben vorhin gesagt, dass ich Ihnen in Bezug auf das Thema Kampfdrohnen das Abwürgen der Debatte vorgeworfen habe. Dazu möchte ich ein paar Sätze sagen. Wir brauchen bei diesem Thema Zeit für eine Diskussion, die sowohl die ethischen als auch die rechtlichen Aspekte berücksichtigt. ({1}) Den Zeitdruck, der hier immer wieder herbeigeredet wird, indem gesagt wird, dass wir jetzt schnell entscheiden müssen, gibt es schlicht nicht. Wenn Sie diesem Zeitdruck sozusagen das Wort reden, dann würgen Sie damit die Debatte ab. Das habe ich gemeint. Helfen Sie uns bitte, dass wir diese Debatte führen können. ({2}) Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, ich kann nur festhalten: Der Kollege Ernst-Reinhard Beck von der CDU/ CSU hat in der letzten Haushaltsdebatte gesagt, dass es durchaus möglich und kein Problem wäre, den Einsatz von Heron 1 erst einmal zu verlängern. Dann hätten wir ausreichend Zeit, um diese Debatte zu führen. Natürlich ist es Ihr gutes Recht und es ist auch Teil Ihrer Aufgabe, auf Fähigkeitslücken hinzuweisen. Das ist unbestritten. Lassen Sie mich aber drei Gründe nennen - und das sind nicht die einzigen -, warum wir diese Debatte brauchen: Erstens. Es gibt unglaublich viele Großinvestitionen bei der Bundeswehr, bei denen erst beschafft und dann diskutiert wurde. Das wissen Sie selbst. ({3}) Es gibt so viele Investitionsruinen. Das hat mit dem Schutz der Soldatinnen und Soldaten nichts zu tun. Zweitens. Wenn wir über den Schutz der Soldatinnen und Soldaten reden, dann sollten wir auch darüber reden, dass in den US-Streitkräften die Suizidrate bei denjenigen, die Kampfdrohnen steuern, höher ist als bei denjenigen, die Bomber fliegen. ({4}) Drittens. Wenn Sie betonen, dass der Schutz der Soldatinnen und Soldaten gewährleistet sein muss, dann müssen wir natürlich auch solche Aspekte, die die ethische Grundlage eines solchen Einsatzes berühren, berücksichtigen. Der Minister hat, sofern das gestern in der Stuttgarter Zeitung richtig zitiert wurde, gesagt: Gezieltes Töten ist ein Fortschritt. Es vermindert Kollateralschäden und sorgt für weniger nicht gewollte Opfer und Geschädigte. Dass es einen Fortschritt bringen soll, wenn man auf Gerichtsverfahren verzichtet, ist etwas, worüber man hier unter ethischen Geschichtspunkten einmal ganz dringend diskutieren muss. ({5}) Wir brauchen ganz dringend ausreichend Zeit, um die Debatte führen zu können. In dieser Debatte gibt es auch eine schlechte Routine. Zur schlechten Routine gehört, dass wir gewisse Punkte Jahr für Jahr im Bericht des Wehrbeauftragten finden. Lassen Sie mich auch hier einige Beispiele anführen: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schon mehrfach genannt worden. Es hilft einfach nicht, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es 300 Eltern-KindZimmer gibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie besonders häufig genutzt werden und dass sie besonders hilfreich sind. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist aber von zentraler Bedeutung, wenn es um das Thema Attraktivität geht und wenn es um die Frage geht, wen man für die Bundeswehr gewinnen kann. Der Sanitätsdienst ist ein immer wiederkehrendes Thema. Das gilt auch für die psychologische Betreuung. Dabei geht es insbesondere um die Betreuung derjenigen, die zu Schaden gekommen sind, und um die Betreuung der Angehörigen der Versehrten. Das ist natürlich ein sehr wichtiges Thema. Die Tatsache, dass die Hälfte der Dienstposten in diesem Feld nicht besetzt ist - auch das liest man in Ihrem Bericht -, stellt ein erhebliches Problem dar. Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bitte äußern, die Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, nicht neu ist; wir haben sie in den letzten Jahren immer wieder formuliert. Wenn man sich anschaut, wer sich freiwillig zur Bundeswehr meldet, dann stellt man fest, dass über 25 Prozent der Bewerber einen Migrationshintergrund haben. Das bringt langfristig eine massive Veränderung des Charakters der Bundeswehr mit sich. ({6}) Ich glaube, dass das auch große Veränderungen für die Gesellschaft mit sich bringen kann. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie sich in Ihrem Bericht eingehend mit diesem Thema beschäftigen würden, mit den Chancen und den Problemen, die damit verbunden sein können. Ich glaube, dass uns das in den nächsten Jahren sehr stark beschäftigen wird. Herr Wehrbeauftragter, herzlichen Dank für den Bericht, den Sie vorgelegt haben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anita Schäfer das Wort. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Ihr Bericht für das Jahr 2011 ist eine Besonderheit; denn er umfasst erstmals einen Zeitraum nach der Aussetzung der Wehrpflicht im vergangenen Sommer. Das war der größte Umbruch in der Geschichte der Bundeswehr, und das bei weiterlaufenden, auch sehr gefährlichen Einsätzen. Das entspricht, wie der Bundesverteidigungsminis23448 Anita Schäfer ({0}) ter es damals bei der Vorstellung der Reform bemerkt hat, in etwa einer „Operation am offenen Herzen bei einem Patienten, der noch die Straße entlangläuft“. Angesichts dieser Umstände können wir feststellen, dass der Patient das erste Jahr nach der Operation bemerkenswert gut überstanden hat. Dabei will ich nicht verschweigen, dass es im Zusammenhang mit der Umsetzung der Reform noch einige Beschwerden gibt, die sich im Bericht des Wehrbeauftragten, aber auch in der kürzlich vom BundeswehrVerband vorgestellten Befragung militärischer Führungskräfte wiederfinden. Uns als Regierungskoalition muss es also vor allem darum gehen, die Soldaten und zivilen Mitarbeiter dabei mitzunehmen. Deswegen wird es eine wesentliche Aufgabe des Verteidigungsministeriums, aber auch von uns Abgeordneten bleiben, die Kommunikation mit der Truppe auf allen Ebenen weiterzuführen, die Reformbemühungen zu vermitteln und die Rückmeldungen, Beschwerden und Vorschläge der Soldaten aufzunehmen. Trotz der gegenwärtig noch schwierigen Situation ist das Bewerberaufkommen aber weiterhin hervorragend, obwohl die Bundeswehr nun auf einem Markt mit den niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit 20 Jahren um ihren gesamten Nachwuchs werben muss. Es kommen also nicht einfach diejenigen, die sonst nichts finden, wie von manchen prophezeit. Neben der Rekrutierung von Zeitsoldaten erfüllt auch der neue freiwillige Wehrdienst die Erwartungen, wobei es allerdings eine Abbrecherquote von etwa 27 Prozent in den ersten zwei Monaten des Dienstes gibt. Das kann uns zwar nicht befriedigen, entspricht aber ziemlich genau den Erfahrungen der Wirtschaft. Selbst so verbleiben mehr als ausreichend freiwillig Wehrdienstleistende. Von denen, die ihren Dienst jetzt im Oktober antreten, hat über die Hälfte Abitur, fast ein Drittel die mittlere Reife und jeder Neunte bereits einen Berufsabschluss. Es sind also junge Männer und Frauen, die durchaus alle Möglichkeiten haben, die sich aber für eine gewisse Zeit für unser Land und unsere Gesellschaft engagieren wollen, wobei wir ja beispielsweise auch schon den Fall einer 41-jährigen Mutter von drei erwachsenen Kindern hatten, die kurzerhand diese Möglichkeit wahrgenommen hat. Insgesamt - auch das muss man sagen - ist allerdings der Frauenanteil unter den freiwillig Wehrdienstleistenden mit 6 bis 8 Prozent relativ gering. Da gibt es also noch Potenzial, das man ausschöpfen kann. Ein wichtiger Punkt bei der Nachwuchsgewinnung ist die Attraktivität des Dienstes. Für engagierte Staatsbürger war die Bundeswehr schon immer attraktiv, aber wir müssen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen, die auch vor Soldaten nicht haltmachen, wie zum Beispiel die zunehmende Zahl von Beziehungen zwischen berufstätigen Partnern, mehr Pendler etc. Deswegen freut es mich besonders, dass die über 40 Maßnahmen aus dem Attraktivitätspaket des Bundesministeriums der Verteidigung im Haushalt 2013 voll abgedeckt sind. Wir müssen jungen Menschen ein Angebot machen, das ihnen die Entscheidung für die Bundeswehr erleichtert. Dazu gehört nach meiner Überzeugung auch eine weitere Verbesserung des Standards der Unterkünfte. Kürzlich war ich mit dem Verteidigungsminister bei seinem Besuch am Standort Zweibrücken in meinem Wahlkreis einig: Es müssen ja keine Hotelzimmer sein, aber die alten Sechsbettstuben werden es künftig auch nicht mehr tun. Das Gleiche gilt für die Modernisierung der Ausrüstung. Hier wollen wir trotz knapper Kassen alles Mögliche tun, damit das bestmögliche Gerät die Soldaten auf dem schnellstmöglichen Weg erreicht. ({1}) Den hierzu vorgesehenen neuen integrierten Planungsprozess begrüße ich deshalb ausdrücklich. Es wird nun darauf ankommen, diesen Prozess in den neuen Strukturen des Bundesministeriums der Verteidigung und seines nachgeordneten Bereichs mit Leben zu erfüllen und zu einem Erfolg vor allem für die Menschen im Einsatz zu bringen. Wir von der Koalition werden diesen Prozess aufmerksam begleiten und, wo immer wir gefordert sind, tatkräftig unterstützen. Ich möchte noch einen Einzelpunkt aus dem Bericht herausgreifen, weil sich Soldaten im Gespräch mit mir recht häufig dazu äußern. Es handelt sich dabei um das seit 2007 geltende Beurteilungssystem. Bekanntlich wurde es eingeführt, um der Inflation von Bestnoten unter dem vorherigen System entgegenzuwirken. Diese wurde mit der Quotierung von Bewertungsstufen innerhalb der Vergleichsgruppen abgestellt. Wie sich aber gezeigt hat, bringt das neue Verfahren seine eigenen Probleme mit sich. Weil Bestnoten nur noch begrenzt vergeben werden dürfen, teilen wohlmeinende Vorgesetzte sie häufig denjenigen Soldaten zu, die sie für weitere Beförderungen oder die Übernahme zum Berufssoldaten brauchen, was natürlich ungerecht gegenüber ebenso leistungsstarken Kameraden ist, für die aber keine guten Noten mehr übrig sind. Ein wesentlicher Grund für diese unbeabsichtigten Folgen ist der immer wieder angesprochene Beförderungsstau. Ich hoffe, dass das künftig flexiblere Verpflichtungssystem dieses Problem an der Wurzel packt, da hiermit der Anteil an Berufssoldaten, die vorhandene Planstellen für lange Zeit besetzen, verringert wird. Auch die demografische Entwicklung wird sicher einiges dazu beitragen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Dienst scheiden. Dann sollten wir ein fertiges Konzept zur weiteren Verbesserung des Beurteilungssystems haben; denn auch gute Karriereaussichten gehören zur Attraktivität des Dienstes. Letztlich gehört dazu auch die gesellschaftliche Anerkennung im Hinblick auf den Wert dieses Dienstes. Ich habe den Mangel daran hier oft beklagt, sodass ich jetzt auch einmal ein Lob aussprechen möchte; denn langsam ändert sich etwas. Das sehen wir gerade an der wachsenden Zahl von Repräsentanten nicht nur aus der Politik, sondern auch aus der Kunst und der Unterhaltung, die sich dafür engagieren. Wir brauchen all diese Formen. Ich möchte allen danken, die sich auf verschiedenste Art dafür engagieren. Denn unsere Soldaten leisten ihren Dienst für uns alle, und sie sollten dafür auch den entsprechenden Rückhalt in der Gesellschaft finden. Daran sollten wir alle arbeiten. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Wolfgang Hellmich das Wort. ({0})

Wolfgang Hellmich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich beim Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages für den sehr ausführlichen Bericht für das Jahr 2011 herzlich bedanken. Ausdrücklich möchte ich das Bemühen des Wehrbeauftragten hervorheben, die Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten deutlich zu verbessern. Damit steht er in der guten Tradition seiner Vorgänger; das ist auch in der Truppe angekommen. ({0}) Die Frage ist: Trifft dieser Bericht die Realität? Die Messlatte ist schließlich der Alltag unserer Truppe, die alltägliche Situation der Soldatinnen und Soldaten. Meine Damen und Herren, verunsicherte Soldatinnen und Soldaten sind keine gute Werbung für die Bundeswehr. Der Reformprozess und der damit verbundene Um- und Abbau sowie die Reduzierungen und Schließungen drücken auf die Stimmung in unserer Truppe; das ist schon an vielen Stellen erwähnt worden. Dass die Kommunikation über die Neuausrichtung der Bundeswehr erheblich verbessert werden muss, ist zwischen allen Fraktionen dieses Hauses Konsens. Die Vielzahl der Veränderungen verstärkt die Aufstiegsunsicherheit innerhalb der Bundeswehr. Wie geht es wo in welcher Verwendung und mit welchen Karriereoptionen weiter? Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Soldaten beschäftigen, nicht nur diejenigen, die hierzulande ihren Dienst tun, sondern auch diejenigen, die im Ausland im Einsatz und von diesen Entscheidungen noch weiter entfernt sind als diejenigen, die hier sind. Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Soldaten beschäftigen, und das in einer Truppe, die strukturell und personell so ausgedünnt ist, dass sie ihre Aufgaben im Alltag manchmal kaum noch erfüllen kann. Die Frage, die sich einige stellen - manchmal wird sie eher ironisch gestellt -, lautet: Wann haben wir den Punkt erreicht, an dem die Offiziere die Wache übernehmen müssen? Gerne hätte ich vonseiten des Ministers etwas zu der Frage gehört, warum Soldatinnen und Soldaten in immer dichterer Folge lange Auslandseinsätze absolvieren müssen. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit ist keine Antwort, weil es in einer modernen Armee die Aufgabe des Arbeitgebers ist, sich um seine Soldatinnen und Soldaten, seine Beschäftigten, zu kümmern. Den einen oder anderen muss man dabei schlichtweg vor seiner eigenen Entscheidung schützen. Freiwilligkeit ist kein Argument. ({1}) Hierzu hätte ich, wie gesagt, gerne etwas gehört, damit an dieser Stelle auch den Soldatinnen und Soldaten klar wird, in welche Richtung es gehen soll. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Unseren Soldatinnen und Soldaten wie auch den zivilen Beschäftigten stehen Planungssicherheit und Teilhabe bei Strukturentscheidungen zu. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist die Aufgabe des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, sich aktiv in die Bundeswehrreform einzuschalten, und das zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten. Fürsorge und Betreuung sind das eine. Die Evaluierung eines Reformprozesses aber muss im Interesse der Soldatinnen und Soldaten reformbegleitend angelegt und organisiert werden, und zwar jetzt, damit uns dann, wenn wir in der Lage sind, Korrekturen vorzunehmen, das nötige Material zur Verfügung steht. Meine Damen und Herren, Betroffene wie Vorgesetzte beklagen, dass der Dienstherr Bundeswehr mehr auf Neueinstellungen anstatt auf bereits ausgebildete Bewerber aus der Truppe setzt. Ich denke, es muss auch darüber gesprochen werden, dass die Binnenwerbung eindeutig verstärkt und anders angegangen werden muss. Eine moderne Armee braucht eine besser organisierte Weiterbildung in den Bereichen Sprache, Führungskompetenzen und berufliche Qualifizierung und eine zukunftsorientierte Personalentwicklung im Bestand. Das wird die Attraktivität des Dienstes steigern. Das Soldatengesetz verpflichtet den Bund, seiner Fürsorgeverantwortung gegenüber den Soldaten selbst nachzukommen. Das steht deutlich im Bericht und ist dort hervorgehoben. Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, wenn ich Ihnen mitteile, dass Auslandseinsätze mit hohen physischen und psychischen Belastungen verbunden sind. Das ist auch eine Konsequenz daraus, wie sie organisiert sind. Posttraumatische Belastungsstörungen sind für 2 bis 4 Prozent aller im Einsatz befindlichen Kräfte leider Realität, wie im Deutschen Ärzteblatt jüngst veröffentlichte Studien noch einmal aufweisen, wobei man sagen muss: Die wissenschaftliche Begleitung dieses Faktors und dieser Umstände ist in der Bundesrepublik im Vergleich zu allen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern weit unterdurchschnittlich entwickelt. Hier muss dringend nachgearbeitet werden. ({2}) Der Begriff des sogenannten Einsatzunfalls wurde durch das Einsatzversorgungsgesetz, das am 27. Dezember 2004 im Bundesgesetzblatt verkündet wurde und rückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft trat, in das Soldatenversorgungsgesetz eingefügt. Mit dem am 13. Dezember 2011 in Kraft getretenen Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz wird unter anderem der Stichtag für die Anwendbarkeit des Einsatz-Weiterverwendungsgesetzes zurückdatiert. Die rückwirkende Veränderung der Anspruchsvoraussetzungen war jedoch nicht Gegenstand dieses Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetzes. Somit wurde die Stichtagsregelung zur Gewährung einer entsprechenden Entschädigungszahlung nicht geändert. Worauf will ich hinaus? Innerhalb der Bundeswehr gibt es noch zwei verschiedene Gruppen von Entschädigungszahlungen bei auslandsgeschädigten Soldaten mit PTBS - je nachdem, wann das schädigende Ereignis stattgefunden hat. Soldaten, die bis zum 30. November 2002 geschädigt wurden, erhalten keine Entschädigung. Soldaten, die vom 1. Dezember 2002 bis zum 12. Dezember 2011 geschädigt wurden, erhielten erst 80 000 Euro und nach der Verabschiedung des Reformbegleitgesetzes noch einmal 70 000 Euro, insgesamt also 150 000 Euro. Diese erhalten ebenso Soldaten, die ab dem 13. Dezember 2011 geschädigt wurden. Hierbei handelt es sich nicht um zwingend vorgegebene Daten, sondern um eine rein politische Entscheidung, die allein an den Absturz des CH-53 im Dezember 2002 in Kabul anknüpft. Das hat zur Folge, dass 36 Soldatinnen und Soldaten, die in IFOR-, SFOR- und KFOR-Einsätzen waren und vor dem 1. Dezember 2002 geschädigt wurden, keine Entschädigung erhalten. Daneben gibt es eine Dunkelziffer von circa 20 Fällen. Das ist eine grobe Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit, die man aufheben muss. Ein im Kosovo-Einsatz geschädigter Soldat wandte sich mit diesem Anliegen an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. In dem Antwortschreiben eines Mitarbeiters vom August 2012 findet sich folgendes Zitat: Ich sehe zurzeit jedoch keine Möglichkeit, mich im parlamentarischen Raum mit Aussicht auf Erfolg für eine weitergehende Ausweitung im Sinne einer rückwirkenden Änderung der Tatbestandsvoraussetzungen hinsichtlich des Anspruchs auf Einmalentschädigung für die vor dem 1. Dezember 2002 geschädigten Soldatinnen und Soldaten einzusetzen. Sehr geehrter Herr Königshaus, ich kenne diese Initiative nicht - und auch keine Anfrage in dieser Richtung. Würden Sie eine in dieser Richtung starten, wäre ich gerne dabei und würde Sie dabei unterstützen, um diesen 56 Soldatinnen und Soldaten Gerechtigkeit in ihrer Lage zukommen zu lassen. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke mich an dieser Stelle für Ihre freundliche Aufmerksamkeit und hoffe, dass das noch lange so bleiben wird. Vielen Dank und Glück auf! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hellmich, diese Rede wird im Protokoll des Deutschen Bundestages als Ihre erste Rede vermerkt sein. Ich gratuliere Ihnen dazu recht herzlich und wünsche Ihnen, sicherlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, viel Erfolg für Ihre Arbeit. ({0}) Es sei mir allerdings auch der Hinweis erlaubt, dass man, egal wer hier vorne gerade präsidiert, seine Redezeit tatsächlich nur einmal um fast die Hälfte überziehen kann. Ich bitte Sie also, in Zukunft auf das Signal auf dem Redepult zu achten. ({1}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt ({3}), Doris Barnett, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kultur für alle - Für einen gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation - Drucksachen 17/8485, 17/10030 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Ulla Schmidt ({4}) Dr. Rosemarie Hein Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die Unionsfraktion. ({5})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat vor einiger Zeit einen Antrag vorgelegt, in dem sie feststellt, dass nur durch den gleichberechtigten Zugang auch zu kulturellen und medialen Angeboten und durch barrierefreie Informationen dem Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention Genüge getan wird. Diese Feststellung ist richtig. Dieser Feststellung schließen wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich an. ({0}) Die größte Behinderung ist nicht die körperliche Behinderung, sondern es sind die vielen kleinen und großen Barrieren in unserem Alltag, die Menschen mit Behinderung tagtäglich im Wege sind und ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren. Im kulturellen LeMaria Michalk ben sieht das genauso aus. Ein Beispiel: Ein Mensch in einem Rollstuhl möchte ins Kino gehen, doch es gibt keinen barrierefreien Eingang, keine Möglichkeit, den Rollstuhl im Vorführsaal zu platzieren, weil dafür gar kein Platz vorgesehen ist. Die Barriere ist also nicht der Rollstuhl an sich, sondern die bauliche Gegebenheit. Sie schließt ihn von dem aus, was er in seiner freien Zeit gerne machen möchte, was alle Menschen tun, mit oder ohne Behinderung. Menschen mit Behinderung wollen im Grunde genau das tun, was alle anderen, wir alle, selbstverständlich tun. Sie wollen vor allem keine Sonderaufführungen im Theater oder im Kino, keine Sonderlesungen oder -konzerte, keine Sonderfernsehprogramme. Sie wollen Spielfilme, Talkshows, Kochsendungen, Serien, die auf den regulären Kanälen angeboten werden, anschauen und ihnen folgen können. Wir müssen weg von der Vorstellung, dass für Menschen mit Behinderung ganz besondere, ganz spezielle Angebote bereitgehalten werden, irgendwo da, wo wir alle nicht hinkommen. Das ist nicht die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie wir sie verstehen. Das ist erst recht nicht der Grundgedanke der Inklusion. ({1}) Wir müssen hin zu der Haltung, dass das Thema Behinderung immer und bei allen Entscheidungen von uns allen mitgedacht wird. So wie wir ganz persönlich, jeder von uns, eine grundsätzliche Haltung zu Sprache, Kultur und Kunst haben, so müssen wir uns eine ganz persönliche Haltung zu dieser grundsätzlichen Teilhabe, zu Inklusion auch im kulturellen Leben unserer Gesellschaft für Menschen mit Behinderung angewöhnen, sie uns einverleiben. Das muss eine Selbstverständlichkeit werden. ({2}) Es muss das Prinzip des universellen Designs gelten. Das heißt, alles muss so aufbereitet, konstruiert, gebaut, gedacht werden, dass es von allen Menschen genutzt werden kann. Dies ist ein sehr hoher Anspruch; denn wir kommen aus einer Welt, in der wir immer meinten, Gutes zu tun, wenn wir Sonderangebote geschaffen haben. Wir müssen uns angewöhnen, alles gemeinsam zu tun. ({3}) In dem vorliegenden Antrag wird gefordert, mehr Angebote in leichter Sprache bereitzuhalten. Ja, nicht nur Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit Lernschwäche würden davon profitieren. Wir alle sind doch - seien wir einmal ganz ehrlich - selber froh, wenn wir verständliche, kurze, prägnante Informationen in die Hand bekommen und nicht erst dreimal den Text lesen müssen, bevor er im Kopf ankommt. Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag anlässlich unseres gemeinsamen Projektes „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“, das im Oktober stattfinden wird, die Idee aus dem Antrag aufgegriffen hat und wir jetzt in der Realisierungsphase sind. Die leichte Sprache ist jedoch nur ein Teil dessen, was Barrierefreiheit insgesamt ausmacht. Für ein umfangreiches Angebot an Information für alle Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen sind sehr viel mehr Dinge zu bedenken. Für Blinde und Sehbehinderte ist es wichtig, dass zum Beispiel Fernsehprogramme eine Audiountertitelung haben, dass Internetseiten oder PDF-Dokumente barrierefrei gestaltet sind, dass Broschüren in Brailleschrift angeboten werden und vieles mehr. Sie sind zudem auf Blindenleitsysteme in Kinos, Theatern, öffentlichen Einrichtungen, Museen, bei Denkmälern usw. angewiesen. Nehmen wir als weiteres Beispiel die gehörlosen Menschen. Sie brauchen Gebärdendolmetscher, wenn sie einer Theateraufführung folgen wollen. Vor Ort gibt es Gott sei Dank sehr viele praktische und persönliche Initiativen, durch die man diese Teilhabe über Spenden und ehrenamtliches Engagement zusätzlich verbreitert. Das sollten wir einmal positiv hervorheben und den Menschen, die sich vor Ort in diesem Bereich engagieren, sehr herzlich danken. Denn sie tun das in der Regel ehrenamtlich. ({4}) Art. 30 der auch von Deutschland ratifizierten UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet uns alle, dafür zu sorgen, dass Kunst und Kultur ohne Abstriche auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind. ({5}) Nach der Erarbeitung und Beschlussfassung zum nationalen Aktionsplan fußt die Umsetzung der Konvention auf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Insofern ist der Antrag durchaus eine Gelegenheit, wieder und wieder über diese Themen zu sprechen. Manche reden den Aktionsplan leider gerne schlecht. Ich bin nicht derselben Meinung und bin davon überzeugt, dass dieser Aktionsplan und all die Aktivitäten in den unterschiedlichsten Lebensbereichen - dazu gehören Kultur und Kunst -, die sich entwickeln, unsere Gesellschaft durchdringen. Denn Barrierefreiheit ist kein Geschenk für Menschen mit Behinderung, sondern sie erleichtert unser aller Leben, ({6}) vor allem mit Blick auf die kulturelle Teilhabe. Wer Kultur anbietet - um einmal von der Angebotsseite auszugehen -, wird künftig an alle diese Menschen denken müssen. Denn in unserer älter werdenden Gesellschaft sind Menschen mit Behinderung auch eine wichtige Kundengruppe. Immerhin leben zurzeit 7,3 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung. 1,5 Millionen davon sind entweder blind, sehbehindert, schwerhörig oder taub. Die Zahl wird steigen, weil wir Gott sei Dank älter werden und es unserem menschlichen Körper immanent ist, dass wir zunehmend auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Selbst in einem Lebensbereich, in dem man vielleicht selber weder künstlerische Aktivitäten bestreiten noch Kultur aktiv konsumieren kann, sind kulturelle Ange23452 bote wichtig, zum Beispiel dass älteren kaum noch handlungsfähigen Personen aus guten Büchern vorgelesen wird und sie vielleicht ein Fernsehprogramm sehen können, das die wunderbaren Denkmäler Deutschlands zeigt, damit auch diese Menschen an unserem kulturellen Gut in Deutschland teilhaben können. Deshalb lassen die Fernsehmacher die Menschen mit Behinderung längst nicht mehr links liegen: Sie haben sie als Zielgruppe entdeckt. Manche Sender schaffen neue Angebote, um auch diese Zuschauer für ihr Programm zu gewinnen. Ein wirklich gutes Beispiel, wie Teilhabe über das Fernsehen gelingen kann, haben wir im Deutschen Bundestag am 18. März bei der Wahl unseres Bundespräsidenten erlebt, als die Übertragung auf Phoenix erstmals live mit Einblendungen in Gebärdensprache stattgefunden hat. Kompliment dafür an die Initiatoren und Macher! Solchen guten Beispielen sollten andere folgen. Sie fordern in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stärker in die Pflicht zu nehmen, was barrierefreie Angebote betrifft. Ist das wirklich nötig? ({7}) Unsere Rundfunkräte, in denen auch Sie vertreten sind, haben mit der neuen Gebührenordnung ab Januar des nächsten Jahres große Erwartungen geweckt; da sind wir uns einig. Es ist klar: Wenn auch von dieser Personengruppe höhere Gebühren eingezogen werden, dann sind bessere Angebote notwendig. Aber ich denke, dass die Herren und Damen in den Anstalten jetzt auf dem Weg sind, das zu organisieren und die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Hinsichtlich derer, die noch nicht daran gedacht haben, ist hier ein entsprechender Appell durchaus angebracht. ({8}) Denn Barrierefreiheit ist ein Prozess, der nur dann vorankommt, wenn viele Impulse aus vielen Richtungen gegeben werden. ({9}) Das zeigt zum Beispiel auch die Filmförderung. Durch den Einsatz aller Fraktionen hat die Filmförderungsanstalt eine barrierefreie Fassung der Förderungsbedingungen der Filmschaffenden erstellt. Sie will darüber hinaus Barrierefreiheit in die Richtlinien des Deutschen Filmförderfonds verpflichtend aufnehmen. Dies ist eine gute Initiative, die wir ausdrücklich begrüßen. ({10}) Damit hat sich eine weitere Forderung Ihres vorliegenden Antrags erledigt. Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag weiter die Umsetzung der BITV 2.0. Diese ist vor ziemlich genau einem Jahr in Kraft getreten. Diesbezüglich können auch wir nur hoffen, dass nach Veröffentlichung des Leitfadens, der jetzt noch in Arbeit ist, die Umsetzung auch mit Unterstützung der Länder zügig geschieht, sodass auch im Internet Barrierefreiheit erreicht wird. Denn wir wollen, dass auf jedem Kulturfeld eine nachhaltige Lösung gefunden wird. Deshalb geht das nicht schnell und über Nacht, sondern muss systematisch und vor allen Dingen nachhaltig angegangen werden. Ein Teil des bunten Straußes an Forderungen aus Ihrem Antrag ist also, wie gesagt, schon realisiert bzw. auf einem guten Weg, und nicht alle haben einen originären kultur- oder medienpolitischen Hintergrund. Deshalb freue ich mich immer wieder, wenn ich kreativen Menschen begegne, die mit ihrer und trotz ihrer Behinderung kulturelle Meisterwerke hervorbringen - für Menschen mit Behinderung und mit ihnen. Es kommt darauf an, dass wir das Kunst- und Kulturschaffen dieser Menschen würdigen und es auch als Menschen ohne Behinderung in einer würdigen Form bewerten, als Kulturgut anerkennen sowie konsumieren und entsprechend verbreiten. ({11}) Ich möchte, dass die eigene Kreativität auch bei Preisverleihungen eine stärkere Rolle spielt. Auch da gibt es gute Beispiele. Ich denke etwa an den Deutschen Hörfilmpreis. Das ist seit vielen Jahren eine gute Initiative, die Jahr für Jahr zeigt, welche qualitativen Verbesserungen sich da entwickeln. Dies alles muss wachsen. Klar, wir sind ungeduldig. Auch in unserem Herzen sind wir ungeduldig. Aber wenn wir es schaffen, dass diese Form der kulturellen Teilhabe kein Thema für Experten oder behindertenpolitische Sprecher bleibt, sondern Herzenswunsch von uns allen wird, dann haben wir einen guten Beitrag für unsere Kulturgemeinschaft geleistet. Ich danke für die heutige Debatte. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses hat deutlich gezeigt, dass wir bereits viele Dinge auf den Weg gebracht haben und diesen Weg weitergehen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich für diesen großen und wichtigen Bereich engagieren. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Ulla Schmidt hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Michalk, ich mache Ihnen einen einfachen Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antrag zu. ({0}) Ulla Schmidt ({1}) Wenn alles schon erledigt oder auf einem guten Weg ist, dann weiß ich nicht, warum die CDU/CSU-Fraktion und die FDP diesen Antrag ablehnen. Ich kann Ihnen den Grund aber nennen. Der steht in Ihrer Beschlussempfehlung. Da heißt es, dass zweifelsohne vieles auf dem Weg ist. Es sei aber auch unbestritten, dass noch viel zu tun sei. ({2}) Aber im Hinblick auf andere Anliegen und die begrenzten Finanzmittel müsse endlich anerkannt werden, dass mehr im Moment nicht erledigt werden könne. ({3}) Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben da eine andere Auffassung. Die UN-Behindertenrechtskonvention zu ratifizieren, ist das eine. Sie umzusetzen und dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in diesem Land, egal ob behindert oder nicht behindert, ob alt oder jung, ob zugewandert oder hier geboren, das Recht hat und die Chance erhält, das Beste aus seinem Leben zu machen, ist das andere. Wir müssen die in der UN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Rechtsansprüche erfüllen. Bei dieser Aufgabe ist das Bohren dicker Bretter, wie es Max Weber formuliert hat, notwendig. ({4}) Sie haben recht: Es muss etwas in der Gesellschaft, in den Köpfen der Menschen verändert werden. Aber es ist auch klar: Wenn wir Bundestagsabgeordnete als Gesetzgeber nicht für entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen sorgen und die Strukturen, in denen wir leben, nicht so verändern, dass die Teilhabe und das Mitmischen aller garantiert sind, dann bleibt die UN-Behindertenrechtskonvention reines Wunschdenken und wird in diesem Land nicht gelebte Realität. ({5}) Wir wollen mehr und haben deshalb als SPD-Fraktion eine Reihe von Anträgen eingebracht. Wir wollen, dass über dieses Thema hier im Bundestag diskutiert wird und dass wir uns damit auseinandersetzen. Sie haben recht: Das ist nicht allein eine Aufgabe der Behindertenbeauftragten der Fraktionen und des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. Vielmehr geht es um eine große gesellschaftspolitische Aufgabe. Wir sollten uns zum Ziel setzen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts entscheidende Schritte voranzukommen, und zwar in allen wichtigen Bereichen wie Verkehr, Mobilität, Bildung, Arbeitswelt, politische Teilhabe und gesundheitliche Versorgung. Wir fordern in unserem Antrag, die Barrierefreiheit im gesamten Bereich von Kultur und Medien zu garantieren. Das ist wichtig; denn durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention erkennen wir an, dass es um die Verwirklichung von Rechtsansprüchen jedes einzelnen Menschen und nicht um ein Goodwill geht. Es spielt als keine Rolle, ob wir das machen wollen oder nicht. Wir müssen es machen. ({6}) Wir wollen alles unternehmen, um dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen und darüber zu debattieren. Uns ist die Barrierefreiheit gerade im Bereich von Kultur und Medien wichtig, weil es darum geht, dass sich in den Köpfen - darauf haben Sie zu Recht hingewiesen - vieles verändert. Wir in Deutschland neigen dazu, Menschen bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten zuzuschreiben. Das geht oft mit dem Ausschluss von bestimmten Aufgaben einher. Gerade Kultur und Medien, die daran mitwirken, dass sich die Gesellschaft verändert und dass es keine kritische Auseinandersetzung ohne diejenigen gibt, die betroffen sind, kommt eine ganz wichtige Aufgabe zu, wenn es darum geht, die Teilhabe aller zu garantieren. Wir haben große Chancen, unsere Ziele im Bereich von Kultur und Medien zu erreichen. Es geht nicht nur um passive Teilhabe. Wir fördern viele Bereiche und wollen erreichen, dass die aktive Teilhabe behinderter Menschen genauso selbstverständlich ist wie die nicht behinderter Menschen. Ich habe viele Theaterstücke gesehen und Musicals besucht, an denen Behinderte und Nichtbehinderte mitgewirkt haben. Die Nichtbehinderten haben gesagt: Nach einer gewissen Zeit haben wir gar nicht mehr bemerkt, wer behindert ist und wer nicht. Wir alle haben unser Bestes eingebracht. - So etwas verändert mehr in den Köpfen als viele andere Aktionen. Es nutzt aber nichts, allein Postulate aufzustellen und ständig nur darüber zu reden, was wir wohl noch machen könnten. Wir sagen in unserem Antrag ganz klar: Die rechtlichen Voraussetzungen für Barrierefreiheit müssen geschaffen werden. Das bedeutet im Bereich von Kultur und Medien, dass wir uns darauf verständigen müssen, dass kein einziger Euro mehr - das gilt auch für die Filmförderung - in Projekte fließt, wenn die Barrierefreiheit nicht gesichert ist. Das kann der Bundestag beschließen. Dann wird wirklich etwas geschehen. ({7}) Es geht darum, bei der Unterstützung kultureller Projekte Barrierefreiheit einzufordern und alle dazu zu verpflichten, sich für Barrierefreiheit einzusetzen. Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Damit setzen wir Signale, so wie wir es mit unserem Antrag gemacht haben. Ich weiß sehr wohl, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist. Das spreche ich hier an, weil auch das etwas mit kultureller Bildung zu tun hat. Inklusion ist vor allen Dingen da wichtig, wo es um die gemeinsame Erziehung und Beschulung geht. Dafür brauchen wir Geld. Wir brauchen die entsprechenden Rahmenbedingungen, damit Inklusion erfolgreich ist. Im Bereich der Kultur und der Medien können wir mit dem, was wir derzeit auf den Weg bringen, Verbesserungen erreichen. Ulla Schmidt ({8}) Wir können etwas verändern. Deshalb war es uns wichtig, einen Weg aufzuzeigen und ein Signal zu senden. Das Ziel meiner Fraktion ist eine Gesellschaft, an der alle gleichberechtigt teilhaben und in der alle mitmachen können. Das gilt für Menschen mit Behinderung, die in ihrem Umfeld auf Barrieren stoßen, aber auch für Menschen ohne Behinderung oder diejenigen, die teilweise Einschränkungen haben. Das gilt für lernschwache und lernstarke Menschen, Ältere und Jüngere, Zugewanderte und für diejenigen, die hier geboren wurden. Sie alle können von der Inklusion profitieren. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Schmidt.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hoffe, dass es uns gelingt, dies perspektivisch umzusetzen. Ich weiß, dass wir dafür Zeit brauchen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schmidt, der Kollege Kurth will Ihnen durch eine Bemerkung oder Frage die Gelegenheit geben, Ihre Redezeit zu verlängern. Deswegen versuche ich die ganze Zeit, Sie zu unterbrechen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, herzlichen Dank. - Wir alle setzen uns für Barrierefreiheit ein. Bitte richten Sie dringend meinen Gruß an Ihre famose Landesregierung in NordrheinWestfalen aus. Sie hat neulich die Teilnehmer der Paralympics in Nordrhein-Westfalen auf einer Bühne begrüßt, die für Rollstuhlfahrer nicht geeignet war.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kurth, ich bin sehr froh, dass die jetzige Regierung von SPD und Grünen ({0}) die schwarz-gelbe Regierung abgelöst hat. Mit dem Koalitionsvertrag, aber auch schon vorher, ist Inklusion überhaupt erst zu einem wichtigen Thema in NordrheinWestfalen geworden. ({1}) Bedauerlich ist, dass es heute noch Bühnen gibt, die für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind. ({2}) - Das ist bedauerlich. Das muss man kritisieren. Ich richte das gerne aus. ({3}) Aber, Herr Kollege Kurth, wir können darauf hinwirken, dass Barrierefreiheit beim Bau berücksichtigt wird, damit so etwas der Vergangenheit angehört. Das muss in die Köpfe aller Beteiligten. Ich habe am Wochenende in Marburg erlebt - das habe ich bedauert -, dass eine Bühne für Menschen mit einer Gehbehinderung nicht so umgebaut war, dass sie für diese zugänglich gewesen wäre. Das zeigt, Frau Kollegin Michalk, dass wir noch vieles zu tun haben und es durchaus nicht so ist, als habe sich das alles schon von allein erledigt. Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich war am Wochenende in Marburg und habe dort erlebt, was geschieht, wenn Menschen, auch solche mit einer geistigen Behinderung, dauerhaft zu Partizipation, zu Teilhabe angeregt werden. Ich habe die Diskussionen verfolgt und gesehen, wie die behinderten Menschen ihre Rechte wahrgenommen haben. Das ist für geistig Behinderte eine besondere Herausforderung. Dafür bedarf es einer leichten, einfachen Sprache, und dazu bedarf es Informationen. Sie haben in die Debatten eingegriffen, für ihre Rechte gekämpft und waren in der Lage, auf alle Beiträge, die dort geleistet wurden, einzugehen. Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, damit endlich Teilhabe für alle möglich ist. Das ist unabhängig davon, ob sie blind oder sehbehindert sind, ob sie taub oder schwerhörig sind, ob sie körperlich oder geistig behindert sind. Das ist völlig egal. Diese Menschen gehören in unsere Mitte, sie gehören zu uns, und sie haben das Recht auf Teilhabe wie alle anderen Menschen auch. Dafür werben wir als SPD-Fraktion. Ich würde mir wünschen, Sie würden das unterstützen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt - ich zitiere -: Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann. Mit diesem Ausspruch wollte Altbundespräsident von Weizsäcker uns für die Belange von Menschen mit Behinderung sensibilisieren und deutlich machen, dass uns die Belange dieser Menschen auch deshalb nicht gleichgültig sein können, da es jeden von uns jederzeit betreffen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir ehrlich sind, dann ist es doch häufig so, dass wir im alltäglichen Leben - am Wohnort, am Arbeitsort, im Freizeitvergnügen - nicht an Barrieren denken, die sich auf unseren täglichen Wegen für Menschen mit Behinderung auftun. Wir nehmen unser quasi barrierefreies Leben als selbstverständlich hin. Für Menschen mit Behinderung gibt es dieses Selbstverständnis der Barrierefreiheit nicht. Sie sind mit Barrieren konfrontiert, die aufgrund baulicher oder räumlicher Aspekte sofort sichtbar sind, aber auch mit Barrieren, die nicht sofort zu erkennen sind, wie zum Beispiel im Internet, bei Filmangeboten oder im Kommunikationsbereich. Thomas Hänsgen, der Stiftungsratsvorsitzende und Geschäftsführer von „barrierefrei kommunizieren!“, sagte im Fachgespräch des Unterausschusses Neue Medien am 19. September 2011 - ich zitiere -: Barrierefreiheit ist eine Vision. Bisher haben wir es im besten Falle mit barrierearmen Angeboten zu tun. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns, Politik und Gesellschaft, die Bedürfnisse von behinderten Menschen vergegenwärtigen und Barrieren sowie Hindernisse abbauen. Menschen mit Behinderung haben wie jeder Bürger in Deutschland das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, und dies umfasst ganz selbstverständlich auch das Recht auf Nutzung von kulturellen und medialen Angeboten. Schon in der ersten Lesung und auch in den Beratungen im Ausschuss für Kultur und Medien habe ich den Kolleginnen und Kollegen von der SPD für die Anregungen gedankt, die sie mit ihrem Antrag unterbreitet haben. Ihr Antrag enthält eine ganze Reihe von Punkten, die wir durchaus mittragen, daneben andere, über die man nachdenken kann, und viele, die inzwischen schon in der Umsetzung sind. Ich könnte mir durchaus vorstellen, die Denkmalförderung an Kriterien der Barrierearmut, nicht aber der Barrierefreiheit zu knüpfen. Allerdings gibt es einen konkreten Punkt, weshalb wir nicht zustimmen können: das Vergaberecht, denn es ist nicht der geeignete Weg, Ausschreibungen mit der Erfüllung von Beschäftigungsquoten für Menschen mit Behinderung zu verknüpfen. Nicht jedem kleinen und mittelständischen Unternehmen wird es möglich sein, die Voraussetzungen für barrierefreie Arbeitsplätze zu schaffen; damit würden aber diese Unternehmen von der Auftragsvergabe ausgeschlossen. Uns Liberalen kommt es darauf an, dass wir Wege finden, die allen Interessen weitgehend gerecht werden. Es ist uns wichtig, dass wir den Weg des gesellschaftlichen Umdenkens, des Bewusstmachens der Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung, konsequent weitergehen. Allerdings müssen wir auch so realistisch sein, um zu erkennen, dass wir nicht alles durch Gesetze erzwingen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was unser Haus selbst angeht, so wird im Oktober im Bundestag eine Broschüre vorgestellt werden, die in Leichter Sprache über die Arbeit dieses Hohen Hauses informiert. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Inklusion, den wir Liberale durchaus begrüßen. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Dr. Rosemarie Hein das Wort. ({0})

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Professor soll zu seinen Studierenden einmal gesagt haben: Ich bin Professor; mit mir müssen Sie einfach reden. - Das war ein kluger Mann. Wir denken nicht selten, wir seien besonders klug, wenn unsere Reden mit möglichst vielen Fremdwörtern gespickt sind und wir Fachbegriffe verwenden. Das ist falsch. Wer klug ist, kann Kompliziertes einfach erklären. Da nehme ich mich selbst aus der Kritik nicht aus. Die SPD hat mit der Übersetzung ihres Antrags in eine einfache Sprache ein Beispiel gegeben: So geht es auch. Manche und mancher meint immer noch, dass man mit einer einfachen Sprache Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Behinderungen abwertet. Das ist falsch. Mit der Verwendung einer einfachen Sprache zeigt man vielmehr, dass man sie ernst nimmt. Umgekehrt bedeutet man ihnen mit einer Sprache, die sie nicht verstehen können, dass man sie für dumm hält, was sie nicht sind. ({0}) Darum halte ich es für wichtig, politische Entscheidungen auch in einer einfachen Sprache zu veröffentlichen. Ebenso wichtig ist es - das ist hier heute schon gesagt worden -, sie für Gehörlose in Gebärdensprache oder Schriftsprache anzubieten. ({1}) Vielleicht ist Ihnen ja an der Tür unseres Plenarsaales das kleine blaue Bildchen mit der Abbildung eines Ohres und einem „T“ aufgefallen. Das ist das Zeichen dafür, dass hier im Sitzungssaal eine Hörschleife liegt. Das heißt, alle Menschen mit einer Hörhilfe können sich über eine gesonderte Schalterstellung an ihrem Hörgerät in die Lage versetzen, das besser zu hören und zu verstehen, was hier im Saal gesagt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob dies alle wussten. Ich kenne die Einschränkungen von Hörgeschädigten seit meiner Kindheit durch meine Mutter gut. Ich weiß, was sie braucht, um am kulturellen Leben teilnehmen zu können. Aber wirklich gut kenne ich eben nur die Besonderheiten dieser Beeinträchtigungen. Es gibt aber unendlich viel mehr Barrieren beim Zugang zu Kultur und Medien: zum Beispiel der Zugang zur Stadtbücherei über eine Treppe. Wenn dann noch die einzige öffentliche Bibliothek aus Geldmangel geschlos23456 sen wird, wie es zum Ende dieses Jahres in der Stadt Calbe in meinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt vorgesehen ist, wird für viele auch der Zugang zu guter Literatur abgeschnitten werden. Übrigens ist die Leiterin dieser Bibliothek schwerbehindert. Oder nehmen wir die Haltestelle vorm Zoo in meiner Stadt Magdeburg: Man kann zwar in die Straßenbahn möglicherweise barrierefrei einsteigen und zum Zoo fahren, aber man kommt an Ort und Stelle alleine im Rollstuhl nicht wieder heraus. Zum Zoo hat man dann sehr weite Wege. Die Aufzählungen lassen sich nahezu unbegrenzt fortsetzen. Hier sind heute auch schon einige weitere Beispiele genannt worden. Der Antrag der SPD kann helfen, das Verständnis dafür zu schärfen und das Problembewusstsein zu entwickeln. ({2}) Die meisten von uns haben sicherlich mit großer Bewunderung die Leistungen der Sportlerinnen und Sportler mit Handicaps bei den Paralympics in London verfolgt. Mir scheint, noch in keinem Jahr wurde so umfassend davon berichtet. Auch das ist ein Fortschritt. ({3}) Da konnte man auch sehen, was alles möglich ist, wenn entsprechende Hilfen gewährt werden: nahezu alles. Die Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen sind darum auch Vorreiterinnen und Vorreiter; denn noch lange nicht allen Menschen mit Handicaps werden diese Hilfen gewährt. Dies erfährt man sehr schnell, wenn man plötzlich in die Lage versetzt ist, dass man sich um Angehörige kümmern muss, die pflegebedürftig werden. Wir haben eine Verantwortung dafür, dass Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen am öffentlichen Leben uneingeschränkt teilnehmen können; denn wir machen die Gesetze. Aber von den notwendigen Gesetzesveränderungen ist im Nationalen Aktionsplan gerade bei dem Thema Zugang zu Kultur und Informationen eben nichts zu lesen, und darum ist Nachbesserung angesagt. Wenigstens für öffentliche Einrichtungen könnten wir diese Regelungen schaffen. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass Städte und Gemeinden finanziell so ausgestattet werden, dass sie ihre einzige kulturelle Einrichtung nicht schließen müssen. Kultur ist eben nicht Luxus und freiwillig, sondern sie gehört zum Leben in den Städten und Dörfern dazu, und zwar für alle. ({4}) Wir können mit gutem Beispiel vorangehen, indem zum Beispiel die Internetseite dieses Parlaments so gestaltet wird, dass man auch erfährt, welche Barrieren nicht mehr vorhanden sind. Auch könnte diese Internetseite selbst barrierefrei gestaltet werden. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses empfiehlt nun aber leider als Lösung, diesen Antrag abzulehnen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Hein, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin sofort fertig. - Es steht in dieser Beschlussempfehlung, es gebe keine Alternativen. Nach dem, was ich heute gehört habe, bin ich da sehr enttäuscht; denn Sie haben davon gesprochen, dass Sie das alles als wichtig ansehen. Nun bitte ich Sie: Lehnen Sie die Beschlussempfehlung ab; denn Alternativen bietet der Antrag der SPD sehr wohl. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ein kleiner geschäftsleitender Hinweis sei uns gestattet: Bis vor zwei Sekunden konnten wir Sie im Saal nicht sehen, da wir hier den Platz an der Sonne hatten. Wir haben der Rednerin eben und auch ihrem Vorredner zugestanden, dass sie wahrscheinlich das Signal nicht erkennen konnten. Ich bitte aber jetzt darum, die Signale aus dem Präsidium zu beachten. Sollten wir eine Meldung aus dem Saal aufgrund der Verhältnisse hier übersehen, bitte ich, es uns irgendwie akustisch noch anzuzeigen. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Krumwiede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004082, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Barrierefreiheit beginnt hier im Parlament. Wenn Gesetze und Anträge so formuliert sind, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen können, worum es geht, läuft etwas falsch. Verklausulierte Sprache führt zur Ausgrenzung und verstärkt die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung. Die Anregung der SPD zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung, bei zentralen Debatten die Leichte Sprache zu berücksichtigen, unterstützen wir daher ausdrücklich. ({0}) Wir begrüßen den Antrag der SPD, weil er konkrete Vorschläge macht für mehr Barrierefreiheit in Kultur, Medien und Politik - ganz im Gegensatz zum Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung. Dieser verliert sich nämlich in vagen Kannbestimmungen. Ende 2012 laufen viele Maßnahmen des Aktionsplans auch schon wieder aus, ohne dass sich im Bereich Inklusion Entscheidendes verändert hat. Ab 2013 ist beispielsweise die Förderung für das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit nicht mehr gesichert. So kommen wir in Deutschland bei der Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte der Menschen mit Behinderung nicht weiter. Meine Fraktion denkt bei ihren Anträgen Barrierefreiheit immer mit. Unser Antrag zum Aufbau der Deutschen Digitalen Bibliothek enthält auch die Forderung, die Bedürfnisse hörgeschädigter, gehörloser und taubstummer Menschen bei der Bereitstellung digitaler Kulturgüter mit einzubeziehen. Seit einem Jahr steht unsere Forderung nach einem Sofortprogramm „Barrierefreier Film“ im Raum. Auch in den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten müssen mehr Angebote für hör- und sehbeeinträchtigte Menschen geschaffen werden. ({1}) Nicht nur Verbesserungen beim substanziellen Zugang zu unserer medialen und kulturellen Infrastruktur für Menschen mit Behinderung sind notwendig. Es geht auch darum, wie wir ihre Mitgestaltung individuell fördern können. Ansonsten geht unserer Gesellschaft viel kreatives Potenzial verloren. Was wäre unsere Musiklandschaft ohne die Stimme eines Thomas Quasthoff? Seine Karriere hätte beinahe geendet, bevor sie begonnen hat: vor den Türen der Musikhochschule, die ihn nicht aufgenommen hat, weil er aufgrund seiner Conterganschädigung nicht Klavier spielen kann. Ohne das Pflichtfach Klavier ist an unseren Musikhochschulen auch heute noch offiziell kein Gesangsstudium möglich. Alle Ausbildungseinrichtungen im Bereich Kultur und Medien müssen sich auf die Besonderheiten von Menschen mit Behinderung einstellen. Ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial muss sich entfalten können - das fordert auch die UN-Behindertenrechtskonvention. ({2}) In meinem Wahlkreis Ingolstadt gibt es an einer Förderschule eine Tanzgruppe mit besonderen Kindern. Einmal in der Woche kommt eine Tänzerin, um mit ihnen zu arbeiten. Vor der Sommerpause habe ich dort eine Aufführung besucht. Es war berührend und beeindruckend, wie sich diese Kinder mit teilweise schwersten Behinderungen zur Musik bewegten. Durch die Musik und den Tanz wurden ihre Persönlichkeiten sichtbar. Und ich rede hier von Kindern, die für uns oft nicht sichtbar sind. Ich wünsche mir, dass vielfältige künstlerische Angebote für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderung gleichermaßen selbstverständlich werden. Es geht um die Entfaltung von Fantasie und Empathie, um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass Barrierefreiheit in Kunst und Kultur für alle Menschen nicht nur ein Wunsch auf dem Papier bleibt, sondern umgesetzt wird. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inklusion geht uns alle an, nicht nur als breite gesellschaftliche Initiative. Insbesondere uns hier in diesem Hause sollte sie ein ganz besonderes Anliegen sein. Frau Kollegin Schmidt, Sie haben es in der letzten Debatte auf den Punkt gebracht: Wenn wir Volksvertreter sein wollen, dann müssen wir für alle Menschen Klartext reden und Klartext schreiben. Diese Äußerung möchte ich ausdrücklich zitieren. ({0}) Den Antrag der SPD-Fraktion können wir zwar, wie mein Kollege Reiner Deutschmann ausgeführt hat, nicht in allen Punkten mittragen. Ich möchte aber den Impuls des Antrags gerne aufgreifen, weil das gesellschaftliche Umdenken jetzt beschleunigt werden muss. ({1}) Nach den Empfehlungen des Vereins „Mensch zuerst Netzwerk People First Deutschland e. V.“ habe ich Teile meiner Homepage in Leichte Sprache übersetzt. Ich bin dem Beispiel meiner Kollegin Gabi Molitor gefolgt, weil ich der Auffassung bin, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten meine parlamentarische Arbeit verfolgen sollen. Liebe Gabi, das machst du genau richtig. Alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Hause sollten deinem Beispiel folgen. ({2}) Und wie Sie, Frau Schmidt, stand ich vor der Herausforderung, im Wortsinne unübersetzbare Begriffe allen Besuchern zugänglich zu machen. Es ist nicht einfach, sich in Leichter Sprache auszudrücken. Es ist aber notwendig, und deshalb werbe ich bei allen Kolleginnen und Kollegen, sich damit zu beschäftigen und den zusätzlichen Aufwand, den die Übersetzung in Leichte Sprache mit sich bringt, bei der Bearbeitung der Homepage auf sich zu nehmen. Bei der Übersetzung fiel mir auf, was die Koalition schon geleistet hat. Vor noch nicht einmal einem Jahr haben wir den Antrag zur Ausweitung des barrierefreien Filmangebotes beschlossen. Die Koalitionsfraktionen haben die Bundesregierung aufgefordert, das Kriterium des barrierefreien Zugangs zu Filmen bei der Filmförderung stärker zu berücksichtigen. Nun wurden die Förderrichtlinien des Deutschen Filmförderfonds entsprechend angepasst und treten zu Beginn des nächsten Jahres in Kraft. Damit haben wir einen Anreiz für mehr barrierefreie Filmangebote gesetzt, von denen viele hör- und sehbehinderte Menschen profitieren werden. Als Beispiel für die Umsetzung der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung möchte ich auf das Auswärtige Amt verweisen. Auf dessen Website finden sich zum Beispiel sehr informative Texte in Leichter Sprache zur Menschenrechtspolitik und Videos mit Gebärdensprache. Außerdem möchte ich die Bemühungen des Verteidigungsministeriums - gerade war der Wehrbeauftragte hier - hervorheben. Die Komplexität sicherheitspolitischer Begriffe in Leichter Sprache wiederzugeben, ist wirklich eine anerkennenswerte Leistung. ({3}) Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns nach alledem auf einem guten Weg: Ein Antrag der SPD, mein Beispiel einer Homepage oder der Beschluss des Ältestenrates, zum Beispiel bei www.bundestag.de, sind erste Schritte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir diesen Weg konsequent gemeinsam weiter, dann wird die Inklusion in allen Bereichen gelingen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Kultur für alle - Für einen gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10030, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8485 abzulehnen. ({0}) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: a) Bericht des Petitionsausschusses Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2011 - Drucksache 17/9900 - b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({1}) Elektronische Petitionen und Modernisierung des Petitionswesens in Europa - Drucksache 17/8319 Überweisungsvorschlag: Petitionsausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsitzende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten Steinke. ({3})

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Der Petitionsausschuss war auch im Jahr 2011 wieder Anlaufpunkt für viele Menschen, die sich Hilfe erhofften. Zwei Zahlen prägten die Arbeit des Petitionsausschusses im Jahr 2011: 15 191 Petitionen wurden im vergangenen Jahr eingereicht, und 1,1 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich auf der Internetseite des Petitionsausschusses angemeldet, um Petitionen auf elektronischem Weg einzureichen oder öffentliche Petitionen mitzuzeichnen oder zu diskutieren. Ein Drittel aller Eingaben, also circa 5 000, wurden per E-Mail eingereicht. Knapp ein Viertel der Gesamteingaben, nämlich 3 364 Vorgänge, fielen auf das Ressort Arbeit und Soziales. Damit belegt es, wie auch in den Vorjahren, den Spitzenplatz unter den betroffenen Bundesministerien. Allein zum ALG II gab es 937 Petitionen. Hier ging es zum Beispiel um Fehler bei der Berechnung, um die Aussetzung von Leistungen, um Sanktionen oder Sonderregelungen für unter 25-Jährige, um die Verrechnung mit anderen Einkommen wie Ferienjobs oder Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeit. Zahlreiche Beschwerden gingen beim Petitionsausschuss ein, weil bei der Anrechnung einer Verletztenrente aus einer gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Ost und West unterschiedliche Freibeträge galten. Die Petenten forderten die Abschaffung dieser Ungleichbehandlung. Dieser Forderung schloss sich der Petitionsausschuss einstimmig an, blieb aber im ersten Anlauf erfolglos. Doch es wäre nicht unser Petitionsausschuss, wenn er die Erfolglosigkeit einfach so akzeptieren würde. Es wurde ein weiteres Gespräch mit Regierungsvertretern geführt und um eine Lösung gerungen. Das Ergebnis: Seit dem 1. Juli des vergangenen Jahres gelten für Ost und West einheitliche Freibeträge. ({0}) Das Bundesministerium der Justiz mit 1 885 Eingaben bzw. 12 Prozent der Gesamteingaben lag auch im vergangenen Jahr auf dem zweiten Rang der Eingabenstatistik. Adoptionsrecht, Unterhaltsrecht, Mietrecht und Verbraucherschutz sind nur einige Themen aus diesem Bereich, mit denen sich die Bürgerinnen und Bürger an uns wenden. Neben seinen 22 regulären Sitzungen hat der Ausschuss 32 Berichterstattergespräche mit einzelnen Ministerien geführt, um Lösungen für schwierige Fälle zu finden. Hier wurden beispielsweise das Verbot von ActionComputerspielen, der Lärmschutz im Luftverkehr und an Schienenwegen, die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts und die wohnortnahe Versorgung mit Hebammenhilfe thematisiert. Hervorzuheben sind vier öffentliche Sitzungen, in denen zehn Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen wurden. Themen waren unter anderem: die Verankerung des Klimaschutzes als Staatsziel im Grundgesetz, das Verbot des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, die nukleare Ver- und Entsorgung, die Ambulante Kodierrichtlinie, die Finanztransaktionsteuer und die Kopfpauschale zur Finanzierung der GKV. In drei Fällen führte der Ausschuss Ortstermine durch. Besprochen wurden gemeinsam mit den Petenten und den Vertretern der zuständigen Verwaltungen die Trassenführung der S-Bahn bei Fürth, die Nutzung der Ferienanlage Prora auf Rügen sowie der Bau einer Ortsumgehung bei Ratzeburg. Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass sich die Mitglieder des Petitionsausschusses mit großem Engagement darum bemühen, die bestmögliche Lösung für jede Petentin und jeden Petenten zu erreichen und dabei in vielen Fällen eine über die Fraktionsgrenzen hinausgehende konstruktive Zusammenarbeit praktizieren. Selbstverständlich ist aber auch, dass es zu manchen Themen sehr unterschiedliche Sichten gibt und somit unterschiedlich von den Fraktionen votiert wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere mithilfe des Internets eröffnen sich den Bürgerinnen und Bürgern seit 2005 völlig neue Arten der Beteiligung. Die Möglichkeit, Petitionen im Internet zu veröffentlichen und online zu unterstützen, erlaubt es den interessierten Menschen, sich zusammenzutun und sich gemeinsam für ein Anliegen starkzumachen. Ziel der öffentlichen Petition ist es, der Öffentlichkeit Themen von allgemeinem Interesse vorzustellen und zu diskutieren. Auf diese Weise wird die Informationsbasis des Ausschusses, die die Grundlage seiner Empfehlungen an das Plenum des Deutschen Bundestages bildet, erheblich erweitert. Seit 2005 besteht die Möglichkeit, Petitionen per Internet einzureichen, öffentlich zu stellen und mitzudiskutieren. Und die Zahlen beweisen: Die Entscheidung für das Internet war richtig, und wir tun gut daran, das Angebot immer weiter zu verbessern. ({1}) Neben den bereits erwähnten 1,1 Millionen registrierten Nutzern auf der Internetseite wurden auch die 650 im Berichtsjahr veröffentlichten Petitionen insgesamt 1 Million Mal mitgezeichnet und 66 000-mal kommentiert. Eine weitere Zahl ist imposant: 4 bis 5 Millionen Seitenaufrufe pro Monat zeigen das rege Interesse der Bevölkerung an diesem Angebot des Petitionsausschusses. Unser Internetportal ist damit klarer Spitzenreiter unter den Internetangeboten des Deutschen Bundestages. Die am häufigsten über das Internetportal mitgezeichneten öffentlichen Petitionen im Berichtsjahr waren die Petition zum Verbot der Vorratsdatenspeicherung mit über 64 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern und zum Verbot des Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen mit über 43 000 elektronischen Mitzeichnungen. Ich bin der festen Überzeugung: Insbesondere das Instrument der öffentlichen Petitionen kann helfen, die Demokratie zu stärken und Mitwirkung auf eine breitere Basis zu stellen. Doch bei all den Möglichkeiten, die das Petitionsrecht in Verbindung mit dem Internet bringt, dürfen wir eines nicht vergessen: die sehr persönlichen Sorgen und Nöte des einzelnen Bürgers, die quasi das Kerngeschäft des Petitionsausschusses sind und auch den Kernanteil unserer Arbeit ausmachen. Bei all den persönlichen Bitten und Beschwerden, etwa wegen falscher Berechnung der Rente, Nichtfinanzierung eines Rollstuhls oder Ablehnung eines Besuchervisums, geht es für den Einzelnen, der sich an uns wendet, um existenzielle Probleme. Diese Eingaben eignen sich aber nicht für Diskussionsforen und öffentliche Beratungen. Doch auch diese Beschwerden zeigen, wo in der Politik etwas nicht funktioniert. Der Petitionsausschuss wird täglich mit diesen Einzelschicksalen konfrontiert, bei denen Bürgerinnen und Bürger in die Mühlen der Bürokratie geraten sind und nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen. Hier ein Beispiel: Eine Petentin, die an einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems leidet, wandte sich an uns, damit die Deutsche Rentenversicherung Bund die Kosten der Wartung der Rollstuhlladehilfe an ihrem Pkw übernehme; denn trotz ihrer Erkrankung war es der Dame mit dem entsprechend ausgestatteten Pkw möglich, am Berufsleben teilzunehmen. Durch eine verzögerte Bearbeitung durch die Deutsche Rentenversicherung Bund war sie jedoch gezwungen, die Wartungskosten selbst zu übernehmen, wenn sie weiter dem Beruf nachgehen wollte. Durch die vom Petitionsausschuss eingeleitete Ermittlung konnte der Frau dann doch geholfen werden. Der Petentin wurden die Wartungskosten erstattet und die Finanzierung eines Kraftverstärkers am Rollstuhl bewilligt, um ihr auch weiterhin die Teilnahme am aktiven Leben zu ermöglichen. Ja, die Lösung solcher Probleme ist zeitaufwändig und in aller Regel auch wenig öffentlichkeitswirksam. Aber diese Anfragen sind genauso wichtig wie die Petitionen mit Hunderttausenden Unterschriften. ({2}) Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Der Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung, der heute auch auf der Tagesordnung steht, kommt zu der Einschätzung: Der Petitionsausschuss ist für die Bürger relativ einfach erreichbar, gleichzeitig aber in der Durchsetzung von Bürgerinteressen schwach. So weit, so gut bzw. so schlecht. Ich frage mich allerdings, wie wir diese Einschätzung ins Gegenteil kehren wollen, wenn wir nicht einmal die Anerkennung des Parlaments, geschweige denn ausreichend Gehör zur Durchsetzung im Parlament finden. ({3}) Wie sonst soll ich es bewerten, dass der Tagesordnungspunkt so aufgesetzt wurde, dass unsere Debatte erst zu dieser späten Uhrzeit stattfindet? Die Obleute aller Fraktionen haben sich gemeinsam dafür stark gemacht, diesen Tagesordnungspunkt zu einer früheren Tageszeit im Plenum aufzurufen, und sind den Kompromiss eingegangen, den Jahresbericht nicht im Juni, sondern im September zu debattieren. Das Ergebnis der Bemühungen - und damit die mangelnde Akzeptanz und Würdigung unserer Arbeit - wurde heute wieder sichtbar. ({4}) Doch seien Sie sicher: Wir werden uns nicht entmutigen lassen und immer wieder anmahnen, unsere Arbeit und ihre Ergebnisse zu achten, aber vor allem ernst zu nehmen. Denn bei unserer Arbeit geht es um die Menschen in unserem Land, um ihre Rechte, ihre Fragen, ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Vorschläge und Anregungen. Es geht also um die Ausübung und Achtung eines demokratischen Rechts, des Petitionsrechts. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die heutige Debatte auch dazu nutzen, mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes ganz herzlich zu bedanken. Sie sorgen trotz stetigen Wechsels und dünner Personaldecke für einen kontinuierlichen Zustrom an beratungsreifen Petitionen, arbeiten konstruktiv mit den Abgeordneten zusammen und stehen uns Abgeordneten stets unterstützend zur Seite. Dafür ganz herzlichen Dank! ({5}) Darüber hinaus möchte ich mich natürlich bei den Ausschussmitgliedern aller Fraktionen ganz herzlich für ihr Engagement und für die gute Zusammenarbeit bedanken. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das kommende Jahr wünsche ich mir von den Mitgliedern unseres Parlaments, des Petitionsausschusses und den Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes eine weiterhin konstruktive und respektvolle Zusammenarbeit, um unsere Bemühungen für die Bürgerinnen und Bürger noch effektiver zu gestalten. Georg Christoph Lichtenberg sagte einmal: Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen. Ich sehe unseren Petitionsausschuss als Fackelträger. Wenn bei unserer Tätigkeit der eine oder andere Bart versengt wird, können Sie gesichert davon ausgehen, dass dies immer im Sinne der Petentinnen und Petenten geschieht. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Günter Baumann hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stellen oft fest, dass sich in unserem Land ein gewisses Maß an Politikverdrossenheit breit macht. Besonders stellen wir das bei Wahlen fest, da manchmal nur 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen. Der ehemalige

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„Wir dürfen nicht müde werden, uns zu fragen, was wir tun können, um unsere Demokratie attraktiv, aktuell und lebendig zu erhalten.“ Mein persönlicher Eindruck ist: Der Petitionsausschuss wird nicht müde, sich Tag für Tag mit den Problemen der Menschen zu beschäftigen und zu versuchen, Abhilfe zu schaffen. Nach dem Wahlrecht bietet der Petitionsausschuss den Bürgerinnen und Bürgern die wichtige Möglichkeit, sich direkt an der Politik beteiligen. Die Bürgerinnen und Bürger haben nach meiner Ansicht Vertrauen in unsere Arbeit, und das, obwohl es neben uns in Behörden und Institutionen eine Vielzahl von Beauftragten gibt. Trotzdem kommen seit vielen Jahren 15 000 bis fast 20 000 Petitionen pro Jahr zusammen. Auch im letzten Jahr, 2011, belegen das die Zahlen in eindrucksvoller Weise; die Vorsitzende hat darauf hingewiesen. Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss richten. Wir pflegen ein kollegiales Miteinander. Wir haben nicht immer die gleiche Meinung - das ist normal -, aber trotzdem geht es kollegial zu und wir versuchen gemeinsam, Lösungen zu finden. Wir danken unseren MitarbeiGünter Baumann terinnen und Mitarbeitern, die uns zuarbeiten, um die Berge von Akten zu bewältigen. Ohne sie wäre unsere Arbeit nicht möglich. Ein herzliches Dankeschön gilt natürlich auch dem Ausschussdienst, der uns mit sehr hohem Sachverstand zuarbeitet, sonst könnten wir unsere Aufgaben nicht packen. Meine Damen und Herren, ich möchte behaupten: Die Arbeit im Ausschuss ist erfolgreich, auch wenn wir an manchen Stellen etwas zu kritisieren haben. Wir können auf unsere Arbeit ein Stück stolz sein, auch wenn wir heute Abend erst um 19 Uhr hier im Plenum sprechen dürfen. Wenn wir als Delegationen in verschiedene Länder der Welt reisen, stellen wir fest, dass Bürgerprobleme teilweise anders behandelt, teilweise ignoriert werden. Wir können daher stolz darauf sein, wie das bei uns läuft. Die eindrucksvollen Zahlen hat die Vorsitzende genannt. Es gab reichlich 15 000 Petitionen. Zur Ergänzung ist zu erwähnen: Das sind immerhin fast 60 Petitionen pro Tag, die im Bundestag eingehen. Die müssen erst einmal bearbeitet werden, der Aufwand ist also groß. 500 000 Mitzeichnungen im Internet sind ebenfalls eine eindrucksvolle Zahl. Wir haben im Ausschuss 728 Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen, das heißt, wir hatten sie in den Büros, in den Arbeitsgruppen zu bearbeiten. Das war ein riesiger Aufwand. Eine Zahl noch, die die Vorsitzende nicht genannt hat: Immerhin konnten wir bei rund 6 500 Petitionen, also rund 43 Prozent, den Petenten helfen, in welcher Form auch immer. Auffällig ist, dass auch 22 Jahre nach der deutschen Einheit prozentual immer noch die meisten Petitionen, auf die Einwohner bezogen, aus den neuen Bundesländern kommen. Aus Berlin, Brandenburg, Sachsen und Thüringen sind das zwischen 200 und fast 500 Petitionen pro Land. Im Vergleich dazu Bayern: 137. Das heißt nicht - das sage ich jedes Jahr wieder -, dass die Ossis am meisten meckern, sondern es gibt im Osten eine Reihe von Problemen - bedingt durch die Geschichte und durch die Erwerbsbiografien der Menschen -, und nicht alles konnte durch den Einigungsvertrag komplett geregelt und aufgearbeitet werden. Einige Herausforderungen liegen noch immer vor uns: Ich denke an offene Vermögensfragen, an das Sachenrechtsbereinigungsgesetz, an Rentenfälle und die Zusatzversorgung, wo immer noch die berühmten „Ostfälle“ bei uns aufschlagen. Wir nutzen unsere besonderen Befugnisse im Ausschuss sehr stark, um höhere Sachkenntnis für die einzelne Petitionsbearbeitung zu erreichen und die Fachministerien einzubeziehen. Die Vorsitzende sprach bereits von 32 Berichterstattergesprächen zu den Themen Gesundheit, Verkehr, Lärmschutz, Vermögensfragen, Renten, Asyl und Spätaussiedler. Wir haben im Zuge der Gespräche für eine Reihe von Petitionen Lösungen finden können, nicht immer komplett im Interesse des Petenten, aber zumindest Teillösungen wurden erzielt. Ich möchte die Verhandlungen mit dem BMVBS und der Flugsicherung über das Thema Südabkurvung am Flughafen Leipzig ansprechen. Dabei ging es um Lärmschutz. Wir haben nach mehreren Gesprächen erreicht, dass die Trassen verändert wurden. Das Problem wurde nicht vollkommen gelöst, heute sind aber wesentlich weniger Bürger durch Lärm belästigt als vor den Verhandlungen. Das ist ein Erfolg des Petitionsausschusses. Ich möchte erwähnen, dass wir im letzten Jahr durch Härtefallregelungen Spätaussiedler in bereits genehmigte Fälle einbeziehen konnten. Damit konnten wir einer Reihe von Bürgerinnen und Bürgern helfen. Wir nutzen die Möglichkeit von Ortsterminen. Die Vorsitzende hat das schon erwähnt. In Prora auf Rügen haben wir uns nicht um eine Ferieneinrichtung gekümmert, sondern wir haben uns bemüht, ein kulturhistorisches, geschichtsträchtiges Museum zu erhalten. Ich denke, das war eine ganz gute Aktion. Wir haben einen Kompromiss ausgehandelt, sodass das Museum erst einmal erhalten bleibt. Jetzt müssen wir schauen, wie es dort weitergeht. Ich möchte auch die Lärmbelästigung durch abgestellte Züge in der Nähe von Wünsdorf auf der Eisenbahnstrecke Dresden-Berlin erwähnen. Wir haben dazu eine Reihe von Stellungnahmen des Ministeriums erhalten, auch von der Deutschen Bahn, die uns nicht befriedigt haben. Man hat das Thema nicht ernst genommen. Erst nach dem Ortstermin kam Bewegung in die Sache. Nach einer langen Verhandlungszeit haben wir nun erreicht, dass die Lärmsanierung für 2015 im Plan steht. Die Bürger sind nun ein ganzes Stück zufriedener. ({0}) Der schönste Erfolg für uns im Petitionsausschuss ist, wenn Bürger uns schreiben und sich dafür bedanken, dass etwas erreicht worden ist. Ich freue mich immer über solche Briefe. Im letzten Jahr haben uns mehrere Briefe erreicht, in denen die Bürger einfach geschrieben haben: Danke. Durch Ihre Arbeit habe ich wieder Mut gefunden. Mein Problem konnte gelöst werden. Auch der TAB-Bericht steht heute zur Diskussion. Es ist ein Novum, dass wir heute in der Zeit, in der wir sonst nur über den Petitionsbericht debattiert haben, zwei Berichte bereden müssen. Also haben wir nur sehr wenig Zeit dafür. Daher nur einige kurze Bemerkungen dazu: In dem Bericht, der am 15. März 2012 veröffentlicht wurde, wird empfohlen, dass öffentliche Petitionen von der Ausnahme zur Regel erklärt werden. Ich möchte für meine Fraktion deutlich sagen: Diese Einschätzung teilen wir nicht. Petitionen können elektronisch eingereicht werden. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie im Internet veröffentlicht werden. Wir haben einvernehmlich Kriterien festgelegt, an die wir uns halten. Petitionen, die nicht elektronisch eingereicht wurden, müssen nicht im Internet veröffentlicht werden. Das Instrument der öffentlichen Petitionen, das 2005 als Modellprojekt eingeführt wurde, hat sich als ständige Einrichtung auf der Internetseite des Deutschen Bundestages bewährt. Inzwischen werden monatlich zwischen 30 und 80 Petitionen neu eingestellt. Das ist also ein gutes System. Die Veröffentlichung hat allgemeines Interesse gefunden. In dem Bericht wird ferner bemängelt, dass nur ein Siebtel aller Petitionen, die öffentlich sind, bei uns zugelassen wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, nicht dass Sie denken: „Ossis meckern doch“, ({0}) aber ich muss Ihnen sagen: Ihre Redezeit ist zu Ende.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay. Ich nehme den Hinweis sehr gerne ernst. - Ich glaube, über den TAB-Bericht müssen wir noch einmal sprechen. Die Zeit reicht dafür heute absolut nicht aus.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ja.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein letzter Satz, wenn Sie gestatten. - Wir wollen, dass alle Petitionen gleich behandelt werden, egal ob sie öffentlich oder nichtöffentlich sind, ob sie von einem oder von 50 Leuten eingereicht werden. Für uns ist jeder Petent gleich. Daran wollen wir festhalten und dieses System in der Form weiter ausbauen. Recht vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Klaus Hagemann hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich zwar in jeder Sitzungswoche hier im Plenum mit Petitionen, aber es wird nur über Listen abgestimmt, und zwar ohne Debatte. Einmal im Jahr haben wir die Möglichkeit - das ist der Höhepunkt -, hier über das Petitionswesen und das Thema Petitionen öffentlich zu diskutieren. Heute diskutieren wir zu einer Uhrzeit - Frau Vorsitzende, diesbezüglich stimme ich Ihnen vollkommen zu -, wie ich es noch nie erlebt habe, seitdem ich Mitglied des Petitionsausschusses bin. In der Zeit von Rot-Grün haben wir festgelegt, dass wir in der Kernzeit miteinander diskutieren. Ich verstehe nicht, warum die Fraktionsführungen der Koalitionsfraktionen diese Debatte so weit nach hinten geschoben haben. Es gibt doch gar keinen Grund, unsere Arbeit zu verstecken. Auch ihr von den Koalitionsfraktionen müsst eure Arbeit nicht verstecken. Ihr müsst doch nicht versteckt werden. Ihr macht, genauso wie wir, gute Petitionsarbeit. Deswegen habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass man den Tagesordnungspunkt zeitlich so weit nach hinten geschoben hat. ({0}) Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, stelle ich fest, dass es dieses Jahr eine deutliche Verstärkung gibt. Kompliment an die Herren Staatssekretäre. Aber ich muss rügen, dass der Staatssekretär, der eben noch hier gewesen ist und dem die meisten Petitionen zugeleitet werden, nämlich der aus dem Bereich Arbeit und Soziales, nicht mehr anwesend ist. Dieses Ministerium ist nicht vertreten. Das will ich hier rügen. ({1}) Ich muss sagen, dass es so aussieht, als wollten die Fraktionsführungen hier nicht zuhören. Mein stellvertretender Fraktionsvorsitzender ist anwesend; das freut mich. ({2}) - Entschuldigung. - Damit signalisiert man den Petenten, dass man ihnen nicht zuhören will. Das schließe ich daraus, dass man die Debatte auf eine derart späte Tageszeit verschoben hat. Ihre Nervosität zeigt, dass ich gar nicht so falsch liege. Liebe Frau Piltz, das ist wohl der Grund, und diesen musste ich hier herausstellen. ({3}) - Passen Sie auf, es zeigen immer drei Finger auf einen selbst zurück, wenn man mit dem Finger auf andere zeigt. ({4}) Wenn ich mir den Koalitionsvertrag ansehe, der von Schwarz-Gelb vor drei Jahren geschlossen worden ist, dann sehe ich, dass dort steht - ich hatte die Hoffnung, dass es auch weiterentwickelt wird -: Das Petitionswesen soll weiterentwickelt und verbessert werden. - Was ist geschehen? Bisher nichts. Dort steht: Das Anhörungsrecht soll verbessert werden. - Was ist geschehen? Bisher nichts. Vom Kollege Thomae wurde in der Presse vorgeschlagen - das finde ich ganz toll; wir haben uns dem auch angeschlossen -, mehr Petitionen hier im Plenum zu behandeln und nicht nur einmal im Jahr über das Thema zu diskutieren. Was ist geschehen? Ich weiß es nicht, lieber Kollege Thomae, ich vermute, nicht viel; sonst würde es hier schon Vorlagen geben. Hier muss also noch etwas mehr Butter bei die Fische gegeben werden. Petitionsrecht ist nicht nur der Kummerkasten der Nation. Unsere Frau Vorsitzende hat darauf hingewiesen. Das ist wichtig und die Hauptsache. Aber Petitionswesen bedeutet auch, die Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen im Deutschen Bundestag teilnehmen zu lassen. Nach unserem Grundgesetz ist das die einzige Möglichkeit der Bürger, auf das politische Geschehen hier im Parlament, aber auch auf die Regierung direkt Einfluss zu nehmen. Das hat man nicht genügend herausgestellt. Wir haben im Jahre 2005 - Kollege Baumann hat darauf hingewiesen; er musste damals ein bisschen zum Jagen getragen werden ({5}) unter Rot-Grün eine Reform durchgeführt. Sie war gut. Wir haben die elektronischen Petitionen eingeführt. Wir haben die öffentlichen Petitionen eingeführt. Wir haben die Diskussionsforen eingeführt. Unsere Frau Vorsitzende hat deutlich gemacht, wie stark diese Möglichkeiten wahrgenommen werden und dass wir auf einem guten Weg sind. Der TAB-Bericht, also die wissenschaftliche Untersuchung, die das evaluiert, belegt, dass wir auf einem guten Weg sind. Von dieser Innovation, die wir damals im Petitionswesen gestartet haben - lieber Josef Winkler, liebe Gabriele Lösekrug-Möller, wir haben hier an einem Strang gezogen -, leben wir noch heute; aber es folgt nichts, es kommt nichts nach. Deswegen bitte ich darum, dass wir uns dieses Thema noch einmal zusammen ansehen. Was ist bei den öffentlichen Anhörungen nicht alles besprochen worden? Wir haben öffentlich über Internetsperren diskutiert. Das Gesetz wurde zwischenzeitlich aufgehoben. Das Thema ACTA ist zu den Akten gelegt worden; auch damit haben wir uns im Petitionsausschuss beschäftigt. Zur Finanztransaktionsteuer liegt immer noch nichts vor; darüber wird immer noch beraten. Stichwort „Hebammen“: 200 000 Unterschriften waren eingegangen. Was ist geschehen? Bisher noch nichts. Es ist noch nichts Konkretes vorgelegt worden. Ich denke auch an das Beispiel Vorratsdatenspeicherung, an die Diskussion, die wir dazu geführt haben. 65 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger hatten diese öffentliche Petition unterschrieben. Dreimal haben wir von der Opposition versucht, das Thema hier auf die Tagesordnung zu setzen, aber Sie haben dem nicht zugestimmt, obwohl der Rechtsanspruch gegeben war; denn die Koalition war zerstritten, und dies wollten Sie nicht zeigen. Ähnliches gilt auch im Hinblick auf das Thema „Generation Praktikum“. Wir haben dazu eine Anhörung durchgeführt. Fünf, sechs Jahre hat es gedauert, bis ein paar Konsequenzen gezogen worden sind. ({6}) Schließlich hat man eine Broschüre vorgelegt - Frau Piltz, es ist nun einmal so; die Wahrheit tut manchmal weh -, ({7}) die man „Leitfaden für die Generation Praktikum“ nennt. 100 000 junge Menschen haben hier unterschrieben, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Die jungen Menschen sind enttäuscht worden. Das ist der falsche Weg. Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, aber meine Redezeit ist leider zu Ende. ({8}) - Es ist schwierig, die Wahrheit zu ertragen, Herr Kollege, nicht wahr? Wie sieht es im Hinblick auf die Beschlüsse zu Berücksichtigungen oder Erwägungen aus, die wir gemeinsam gefasst haben? ({9}) Nur die Hälfte von ihnen ist von der Regierung bisher erledigt worden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege?

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zu meinem letzten Satz. - Das muss konsequenter aufgearbeitet werden; denn Petitionsrecht ist auch Teilhabe an der Politik. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Otto Fricke.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hagemann, es ist ja immer möglich, ein Thema auf eine billige parteipolitische Ebene zu schieben. Aber ich glaube, dafür ist das Thema Petitionen zu schade. ({0}) Sie haben gerade behauptet - das bekommen die Bürger dann ja auch mit -, die Koalitionsfraktionen hätten diesen Tagesordnungspunkt auf diese Uhrzeit gelegt. Ich darf Sie darauf hinweisen - ich habe mich extra noch einmal informiert -, dass sich die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen darauf geeinigt haben, diese Debatte zu diesem Zeitpunkt durchzuführen. Man sollte eher sagen - dafür plädiert meine Fraktion -: Lasst uns alle noch einmal auf die Parlamentarischen Geschäftsführer zugehen, um dafür zu sorgen, dass das beim nächsten Mal nicht wieder passiert! Wir sollten daraus nicht eine parteipolitische Sache machen, sondern im Interesse der Petenten und im Interesse des Petitionsverfahrens handeln. Da Sie darauf hingewiesen haben, wie viele Abgeordnete hier anwesend sind, muss ich Ihnen entgegnen: Ich werde den Linken nicht vorwerfen, dass nur drei von ihnen hier sind; denn auch sie machen noch ihre Arbeit. Ich werde auch Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie, obwohl Ihre Fraktion etwas größer ist als unsere, nicht in der Lage sind, mehr Leute als unsere Fraktion hier aufzubieten. Wir sollten wirklich versuchen, Herr Kollege Hagemann, beim wichtigen Thema Petitionen, bei der Anknüpfung von Bürgern ans Parlament, nicht auf parteipolitischer Ebene, sondern gemeinschaftlich zu agieren. Das wäre sehr schön. Herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Hagemann, bitte. ({0})

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wahlkampf brauche ich nicht mehr zu machen, weil ich nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidiere. ({0}) Insofern, meine Damen und Herren, war dieser Zwischenruf falsch. Erstens, lieber Kollege Otto Fricke. Es geht nicht darum, irgendjemanden anzugreifen, ({1}) sondern ich habe, um das deutlich zu machen, die Realitäten geschildert, um auch den Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Fraktion und aus der Unionsfraktion, mit denen wir gemeinsam an einem Strang ziehen, den Rücken zu stärken. Zweitens: zum Termin. Das Aufsetzungsrecht haben die Koalitionsfraktionen. ({2}) Wir haben versucht, um auch das noch einmal zu sagen, den Termin in eine andere Sitzungswoche zu verschieben, damit wir dann die Möglichkeit haben, früher zu tagen. Ich könnte Ihnen Kollegen, die mit dabei waren, als Zeugen nennen; das geschah sogar auf Anregung des Kollegen Baumann. ({3}) Aber man hat sich nicht durchgesetzt. Meine Fraktion wäre dazu bereit gewesen. Dann hätten wir zu früherer Stunde über dieses Thema diskutieren können. ({4}) Lieber Otto Fricke, im Petitionsausschuss ziehen wir bei allen Tagungen gemeinsam an einem Strang; das möchte ich betonen. Aber man muss auch die Schwachstellen deutlich machen. Petitionswesen heißt nämlich auch: Lieber Petent, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir wollen Ihr bzw. dein Interesse ernst nehmen. Das muss man deutlich machen, und das muss man auch zeigen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn Sie gestatten, kehre ich, ohne das Gespräch über die Terminierung der heutigen Veranstaltung zu kommentieren, zur Sache zurück und knüpfe an das an, was der Herr Bundestagspräsident anlässlich der Eröffnung des Internetportals getan hat. Er hat unseren Ausschuss nämlich als den fleißigsten und öffentlichkeitswirksamsten bezeichnet und für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr viel Lob übriggehabt. ({0}) Das ist für mich der Anknüpfungspunkt: Lieber Herr Hagemann, ich kenne Sie auch aus den Ausschusssitzungen als einen sehr konstruktiven Kollegen und bin ganz überrascht, dass Ihnen das heute so schwerfällt. ({1}) Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist im Grunde genommen tatsächlich Ihr Ausschuss. Über den Petitionsausschuss kommunizieren wir mit den Bürgerinnen und Bürgern. Jeder von ihnen darf und soll sich mit Petitionen an uns wenden. So viel zum Werbeblock! Ich sage Ihnen: Wir haben durchaus damit zu tun, dem nachzukommen. Es ist uns aber jede Anstrengung recht, um dieser Verpflichtung nachzukommen - frei nach Schiller, Herr Hagemann: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“. ({2}) Die Zahlen sind sehr beeindruckend; sie sind vorgetragen worden. Ich will sie hier nicht noch einmal wiederholen. Eines will ich aber schon sagen: Der Trend ist positiv. Wir haben die Bürger in den vergangenen Jahren offensichtlich zunehmend erreicht. Es wurden viele neue Fragen gestellt - unabhängig von Geschlecht und Alter und insbesondere auch von dem sozialen Umfeld der Petenten. Wir freuen uns darüber, dass sich so viele Menschen an den Deutschen Bundestag wenden und uns Abgeordneten zutrauen, dass wir ihnen wirklich helfen wollen. Wir werten das als einen großen Vertrauensbeweis. Das Interesse an der Ausübung des Petitionsrechts ist in einer Zeit, in der sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht an Wahlen beteiligen, eine Chance für die Demokratie. Die Ausschussmitglieder bearbeiten die Eingaben mit großem Engagement. 2011 haben wir in 26 Sitzungen über 700 Petitionen behandelt. Das ist ein ordentliches Pensum. Ich werde oft gefragt, wie das funktionieren kann, wenn 25, 30 oder noch mehr Petitionen auf der Tagesordnung stehen. Ich will dazu eine kurze Ausführung machen: Verstehen Sie den Petitionsausschuss vielleicht so ähnlich wie den Hausarzt bei den Medizinern, der oft Eingangsarzt ist. Er wird die Therapie mit der Untersuchung des Patienten auch nicht beenden, sondern er ist häufig genötigt, ihn zu anderen Ärzten zu schicken. So ist es bei uns auch. Das heißt, wir legen mit unseren verschiedenen Voten fest, was wir zur Weiterbearbeitung dieser Petition empfehlen. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass eine Gesetzesänderung geplant ist, dann geben wir diese Petition dem betreffenden Ministerium oder Ausschuss zur Beachtung und zur Einarbeitung. Wir sind dann sicher, dass die Petition dort nicht abgeschmettert, sondern in Ruhe und mit hoher Sachkompetenz bearbeitet wird. Die Bearbeitung der Petition liegt zunächst einmal in den Händen von über 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - ein Teil der Führungskräfte ist hier anwesend -, die die Petitionen dann den Berichterstattern zuleiten und für den weiteren Verfahrensweg zuständig sind. Ich muss Ihnen sagen: In den vergangenen Jahren ist hier ein sehr enges und gutes Vertrauensverhältnis entstanden auch dadurch, dass Mitarbeiter des Ausschussdienstes uns auf den Auslandsreisen begleitet haben. Auf vielerlei Weise konnten wir uns von deren Kompetenz überzeugen. Wir sind unsererseits natürlich daran interessiert, die Mitarbeiter, auch unsere eigenen, durch gute Rahmenbedingungen zu motivieren und in die Lage zu versetzen, diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden. Ich sage hier aber auch: Wir schieben zurzeit einen Berg von Petitionen vor uns her, es gibt einen regelrechten Stau. Herr Hagemann, das sollten wir auch sagen. Wir haben noch keinen Terminkalender, nach dem wir diesen Berg abarbeiten. Fangen wir doch bei uns einmal an, Herr Hagemann, bevor wir andere bitten, uns ernst zu nehmen. ({3}) Uns ist es bislang nicht gelungen, zu konzipieren, wie wir diesen Stau auflösen. Das ist unsere Sache. Da bin ich der Auffassung: Das sollten wir selber machen. Wir bemühen uns - das ist erfreulich, auch wenn es heute so aussieht, als sei das untypisch - bei der Bearbeitung von Petitionen um Übereinstimmung. Das ist ein gutes Zeichen, ein Ausdruck dessen, dass wir nicht die Widersprüche suchen, sondern dass wir froh und dankbar darüber sind, wenn wir das eine oder andere fraktionsübergreifend besprechen und in Übereinstimmung behandeln können. Petitionen machen uns Abgeordnete auf die Sorgen und die Probleme aufmerksam, mit denen Bürgerinnen und Bürger zu tun haben, wo sie Ungerechtigkeit erfahren und wo die Gesetze unzulänglich sind. Wir müssen allerdings auch sagen: Wir können nicht in jedem Fall helfen. Wir können also nicht immer versprechen, dass das Anliegen im nächsten Gesetzgebungsverfahren aufgenommen wird. Aber auf eines haben wir Einfluss, nämlich darauf, dass die Fristen eingehalten werden und dass unsere Antwort, wie immer sie auch ausfällt, vom Petenten verstanden wird. Er soll merken, dass wir uns nicht nur um den Inhalt bemühen, sondern auch darum, dass er unsere Antwort versteht. Er soll nicht das Gefühl haben, mit uns auf Distanz gewesen zu sein, sondern es soll deutlich werden: Der Bundestagsabgeordnete hat mich verstanden, der Ausschussdienst hat ihm ordentlich zugearbeitet. Er kann mir vielleicht nicht helfen, aber er ermuntert mich, am Ball zu bleiben und mein Anliegen gegebenenfalls auf anderem Weg weiter zu verfolgen. ({4}) Ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen. Frau Präsidentin, weil ich das sehr respektiere, bedanke ich mich sehr freundlich für den Hinweis und wünsche der Veranstaltung einen guten Verlauf. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dazu trägt jetzt die Kollegin Sabine Stüber für die Fraktion Die Linke bei. ({0})

Sabine Stüber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004171, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter des Ausschussdienstes! Ein Parlament ist laut politi- scher Theorie eine Volksvertretung. Wir sind also hier versammelt, um die politischen Meinungen der deut- schen Wahlbevölkerung zu vertreten und zu repräsentie- ren. Tun wir das in einer Art und Weise, die von der Wahl- bevölkerung akzeptiert wird? Wenn ich mir allein die zahlreichen Beschwerden vieler Menschen anschaue, die dem Petitionsausschuss jeden Monat zugehen, beschlei- chen mich gewisse Zweifel. Da wird bei politischen Entscheidungen mangelnde Bürgerbeteiligung beklagt. Uns Abgeordneten wird vorgeworfen, abgehoben und intransparent nur unsere eigenen Ziele zu verfolgen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Wie also können wir das ändern? Ein erster Schritt wäre es, die bereits vorhandenen Mitwirkungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger, zum Beispiel den Petitionsausschuss hier im Bundestag, einfach ernster zu nehmen. Die individuellen Anliegen von Petentinnen und Petenten werden in der Regel von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss- dienstes in einem ersten Schritt sorgfältig geprüft. Manchmal können sie dabei schon durch eine Nachfrage bei zuständigen Behörden etwas für diejenigen bewegen, die sich an den Ausschuss gewandt haben. Das ist tatsächlich Arbeit in deren Sinn. Wir Abgeordneten bewerten die Anliegen darüber hinaus politisch. Wenn sich bestimmte Beschwerden wiederholen oder in den Fachausschüssen ein Problem noch gar nicht behandelt worden ist, können wir parla- mentarisch aktiv werden. In diesem Bereich läuft die Arbeit des Ausschusses meiner Meinung nach gut. Im Bereich der öffentlichen Petitionen sehe ich aller- dings erheblichen Verbesserungsbedarf. Alle reden von einem notwendigen Liquid Feedback an die Politik, also von fließenden Übergängen zwischen repräsentativer und direkter Demokratie. Wir erleben, dass Menschen ihre Anliegen selbst vorbringen wollen. Jedoch werden sie durch bürokratische Hürden und unverständliche Hi- erarchien meist daran gehindert. Würden wir den Peti- tionsausschuss als bereits vorhandenes Instrument rich- tig nutzen und optimieren, könnten wir a) mehr über die Zustände in Deutschland erfahren als aus manch hoch- wissenschaftlicher Studie und b) dazu beitragen, dass Menschen ihre Anliegen auch besser selbst vortragen könnten. Ein Beispiel dafür ist für mich die öffentliche Ausschusssitzung zum Thema Finanztransaktionsteuer im Februar 2011. Über 66 000 Bürgerinnen und Bürger haben diese Forderung unterschrieben. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es nun schon über anderthalb Jahre dauert, das Anliegen des Petenten im Ausschuss voranzubringen. ({0}) Denn die Bürgerinnen und Bürger sind ja nicht blind. Sie sehen: Unser Nachbarland Frankreich beispielsweise hat den ersten Schritt gemacht und am 1. August eine Finanztransaktionsteuer eingeführt. Deutschland hat sich dem bisher nicht angeschlossen und trotz Ankündigung die zu erwartenden Einnahmen noch nicht einmal in den Haushaltsentwurf 2013 eingestellt. Das Anliegen der Petentinnen und Petenten wird also gerade nicht vorangebracht. Ihrem Anliegen wird nicht einmal teilweise entsprochen. Wir müssen uns also nicht wundern, wenn sich zunehmend mehr Menschen von dieser Art und Weise des Politikmachens nicht mehr vertreten fühlen. Die Regierungsmehrheit erweist damit sowohl dem Anliegen des Petitionsausschusses als auch der Demokratie insgesamt einen Bärendienst. ({1}) Ich fordere Sie auf, diese politische Praxis zu ändern. Gelegenheit dazu haben Sie ausreichend. Laut Koalitionsvertrag soll im kommenden Jahr ein Petitionsgesetz zur Behandlung von Massenpetitionen dem Plenum und den Fachausschüssen vorgelegt werden. Ich bin gespannt darauf. Die Linke wird im Oktober einen Antrag im Plenum einbringen. Darin werden unsere Positionen zusammengefasst. Die Menschen werden sich in diesem Lande besser mit ihren Anliegen vertreten fühlen. Abschließend bedanke ich mich sehr herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für die gute Zusammenarbeit und freue mich auf ein weiteres Jahr im Petitionsausschuss. Danke schön. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie ist kein Zuschauersport. Der Petitionsausschuss ermöglicht allen Bürgerinnen und Bürgern, sich an der Demokratie zu beteiligen. Deswegen ist es eigentlich unerhört, dass wir heute um diese Uhrzeit diskutieren. ({0}) Der Petitionsausschuss sollte nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch in den Sitzungswochen die Wertschätzung erhalten, die er verdient. ({1}) Nach meinem Dafürhalten ist der Petitionsausschuss einer der spannendsten Ausschüsse. Das liegt auch an dem im Bundestag nicht immer üblichen kollegialen und konstruktiven Umgang der Kolleginnen und Kollegen untereinander, ({2}) aber insbesondere natürlich an dem breiten Spektrum von Themen, von der Atombombe bis zur Zahnplombe, und den zahlreichen Vorschlägen der Petentinnen und Petenten, die im Ausschuss beraten werden. Nicht nur das: Es geht auch immer mehr um Petitionen, die die politische Diskussion in der Gesellschaft mit bestimmen. Vier Beispiele: Erstens. Die Petition „Steuer gegen Armut“ von Pastor Jörg Alt hat die Kampagne in Deutschland für die Finanztransaktionsteuer verstärkt und einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Finanztransaktionsteuer ganz weit oben auf der politischen Agenda stand und jetzt vielleicht tatsächlich kommt. Ich freue mich auf die hoffentlich in absehbarer Zeit stattfindende Sitzung, auf der wir beschließen können: Abschluss, weil dem Anliegen entsprochen werden konnte. ({3}) Zweitens. Die Petition von Susanne Wiest zum Grundeinkommen mit fast 60 000 Unterstützungen, die die Idee des Grundeinkommens einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht und damit einen wichtigen Beitrag zu einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion geleistet hat. Drittens. Besonders erfolgreich war die Petition von Martina Klenk vom Deutschen Hebammenverband mit sage und schreibe rund 190 000 Unterschriften. Der Protest hat sich ausgezahlt: Freiberufliche Hebammen bekommen jetzt von den Krankenkassen tatsächlich einen Ausgleich für die gestiegenen Haftpflichtversicherungsbeiträge. So erfreulich die Teileinigung der Hebammenverbände mit den Krankenkassen ist, so ist dies doch nur ein Teilerfolg. Denn noch immer sind eine viel zu geringe Vergütung, der drohende Verlust der flächendeckenden Hebammenversorgung sowie eine zunehmende Zahl an Kaiserschnitten zu beklagen. Aber ohne die Petition hätte es diesen wichtigen Teilerfolg nicht gegeben. ({4}) Viertens. Ganz aktuell ist die Petition von Tim Wessels als Reaktion auf die Pläne von Ursula von der Leyen zur Rentenversicherungspflicht von Selbstständigen, die von 80 000 Menschen unterstützt wurde und in der nächsten Sitzungswoche, am 15. Oktober 2012, in öffentlicher Sitzung behandelt wird, die wie alle öffentlichen Petitionsausschusssitzungen live im Internet auf www.bundestag.de übertragen wird. Vielen Dank an Susanne Wiest, Tim Wessels, Jörg Alt, Martina Klenk und den vielen, vielen Tausenden Petentinnen und Petenten, die zeigen, wie lebendig die parlamentarische Demokratie dank des Petitionsausschusses sein kann. Vielen Dank! ({5}) Ganz besonderer Dank natürlich auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes und - nicht zu vergessen - die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und in den Abgeordnetenbüros! ({6}) Ihrem Einsatz und ihrer Sachkenntnis ist es zu verdanken, dass die Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht kommen. Wir sind stolz darauf, dass das 2005 von Rot-Grün gegen heftige Vorbehalte von CDU/CSU und FDP eingeführte Instrument der öffentlichen elektronischen Petition heute zu einem unverzichtbaren und selbstverständlichen Bestandteil der Demokratie geworden ist. ({7}) Bei aller Freude über das Erreichte bleibt weiterhin viel zu verbessern. Wir streben deshalb einen grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten an. So sind beispielsweise die Fristen zur Mitzeichnung zu kurz und ist das Quorum zu hoch. Darüber hinaus sollte die öffentliche Petition von der Ausnahme zur Regel gemacht werden, wie es auch der TAB-Bericht vorschlägt. Wir haben zwar eben gerade gehört, dass die CDU noch dagegen ist, aber das war bei den elektronischen Petitionen auch einmal der Fall. Ich denke, dass wir auch da durch Diskussionen wieder vorankommen können. Wichtig ist uns, auch die Belange der Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen, die sich nicht im Internet bewegen wollen oder können. Wir sprechen uns dafür aus, in den Kommunen, in den Bürgerämtern und in den Bürgerbüros Anlaufstellen einzurichten, die den Menschen behilflich sind, ihre Eingaben einzureichen und zu formulieren. Dort sollte es auch möglich sein, mündlich vorgetragene Petitionen verschriftlichen zu lassen. Wir hatten eben die Diskussion über Barrierefreiheit in der Kultur. Wir sollten auch mehr Barrierefreiheit im Petitionsrecht schaffen. ({8}) Auch bei den Onlinepetitionen sehen wir die technischen und grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitionsrechts noch lange nicht ausgeschöpft. Wir wollen das Instrument der öffentlichen Petition zu einer offenen Petition für die Bürgerinnen und Bürger weiterentwickeln. Petitionen sollten nicht nur, wie bisher, gemeinsam im Onlineangebot des Petitionsausschusses diskutiert, sondern auch gemeinsam erarbeitet und eingereicht werden können. Derart gemeinsam von Bürgerinnen und Bürgern erarbeitete und eingereichte Bitten zur Gesetzgebung bis hin zu Gesetzentwürfen sollten dann auch in den Fachausschüssen und im Plenum des Bundestages beraten werden können. Mit dieser Vision schließe ich meine Rede und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Stefanie Vogelsang für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Strengmann-Kuhn, eigentlich wollte ich über etwas ganz anderes reden, aber als ich Ihren Beitrag gehört habe, habe ich mir überlegt: Darauf musst du eingehen. Natürlich ist es richtig und sinnvoll, sich modernen Möglichkeiten zu stellen. Natürlich muss man jeden Einzelfall überprüfen. Und natürlich muss man gerade im Zeitalter von Internet und Computern und dem breiten Zugang der Bevölkerung dazu auch darüber nachdenken, ob man diesbezüglich nicht etwas verändert. Aber ich habe das Gefühl, dass über die Diskussion dieser Themen der einzelne kleine Fall des einzelnen Bürgers, der einzelne kleine Bürger, der ganz allein von etwas betroffen ist, ins Hintertreffen gerät. ({0}) Wir betrachten mit großem Interesse öffentliche Petitionen, die von 50 000, 70 000, 80 000, 120 000 Menschen eingereicht werden. Angesichts solcher Zahlen besteht die Gefahr, dass die Petition, die ein kleiner, aber genauso wichtiger, großer Bürger unterschrieben hat, hinten rüberfällt. ({1}) Ich glaube, dass das nicht richtig wäre. Herr Hagemann, über Ihren Beitrag habe ich mich sehr geärgert, ({2}) weil er auf wesentliche Themen gar nicht zutrifft. Ein Meinungsforschungsinstitut hat in einer repräsentativen Umfrage 1 000 Menschen in der Bundesrepublik gefragt: Was ist das Wichtigste für euch, um im Wohlstand zu leben? - Darauf haben 80 Prozent der Befragten geantwortet: Glücklich zu sein. - Die Meinungsforscher waren ganz irritiert, weil sie sich gefragt haben: Was ist denn „glücklich“? Für jeden Einzelnen doch etwas anderes. Daraufhin gab es eine weitere Umfrage, in der die Menschen gefragt wurden: Was versteht ihr unter „glücklich sein“? - Daraufhin haben die Befragten geantwortet: gesund zu sein. - Wir nehmen im Petitionsausschuss wahr, dass es ganz viele Petitionen gibt, die den Gesundheitsbereich betreffen. In dieser Legislaturperiode haben wir große Kampfansagen erlebt, unterstützt von Verbänden, die meinten, ihrer politischen Position mit einer Petition mehr Nachdruck verleihen zu können. Es gab aber auch viele kleine Einzelfälle, um die wir uns intensiv gekümmert haben. Ich glaube, in den letzten Jahren sind in keinem anderen Bereich so viele Petitionen berücksichtigt worden wie im Gesundheitsbereich. Es gab viele Petitionen, deren Inhalte das Ministerium und wir in der Gesetzgebung nachvollzogen haben. So war es nicht die Petition einer Krankenkasse, aufgrund der im Bereich der Hebammen gesetzlich nachgebessert wurde, sondern die Petition von Frau Klenk, aufgrund der das Ministerium im Rahmen des Versorgungsstrukturgesetzes Änderungen vorgenommen hat. Auf dieser Grundlage haben wir dann beraten. Ich möchte noch auf eine Petition eingehen, die mittlerweile von 800 Menschen unterstützt wird. Diese Petition wurde von einem einzelnen Ehepaar eingereicht und befasst sich mit einem zuerst sehr tragisch anmutenden Fall. Die Ehefrau hatte ein Kind tot zur Welt gebracht, das weniger als 500 Gramm wog. Die Eltern haben im Krankenhaus zur Kenntnis nehmen müssen, dass man ihr Kind für Klinikabfall hält, weil es weniger als 500 Gramm wiegt. Die Eltern haben des Weiteren im Standesamt zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie den Namen ihres Kindes nicht in das Personenstandsregister eintragen lassen können, weil es sich um eine Sache, um Müll und nicht um menschliches Leben handelt. Um die Petition, die diese Eltern eingereicht haben, habe ich mich von Anfang an intensiv gekümmert. Wir haben sie dem Ausschussdienst gegeben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben tolle Arbeit geleistet und die Petition an das Ministerium weitergeleitet. Die erste Stellungnahme des Innenministeriums lautete: Das Gesundheitsministerium sagt, wir können das nicht ändern, weil die WHO weltweit eine Grenze von 500 Gramm vorschreibt; diese können wir nicht unterschreiten. - Das Familienministerium sagt: Wir können die Grenzen nicht ändern. - Darauf erklärt das Innenministerium: Wenn die von der WHO vorgegebene Grenze gilt, kann der Name des Kindes nicht in das Personenstandsregister eingetragen werden. - Wir, Herr Schwartze und ich, haben uns erneut an das Ministerium gewandt, die Petition zurückgeschickt und gesagt: Nein, diese Antwort akzeptieren wir nicht; das wollen wir uns nicht gefallen lassen. So ging es vier-, fünf- oder sogar sechsmal hin und her. Dann hat die Bundesregierung gesehen, dass ein parlamentarischer, von engagierten Abgeordneten erzeugter Druck entstanden ist. Die Familienministerin hat nun einen Entwurf zur Änderung des Personenstandsrechts vorgelegt, über den wir demnächst debattieren werden. Dieses Personenstandsrechts-Änderungsgesetz stellt einen ersten großen Schritt dar. Ich glaube, dass wir in den Beratungen über diesen Gesetzentwurf an der einen oder anderen Stelle noch eine kleine Verbesserung im Sinne der Betroffenen erzielen werden. Im Petitionsausschuss gab es jedenfalls ein fraktionsübergreifendes Votum für die Forderung an die Bundesregierung, diese Verbesserung in Erwägung zu ziehen. Die Bundesregierung hat reagiert. Wir im Parlament vollziehen es nach. Ich komme zu den neuen Medien, insbesondere zu Facebook, zurück. Es handelt sich hier nicht um 80 000, sondern um rund 800 Menschen. Aber wie glücklich sind diese Menschen, dass Politik - das war zu der Zeit, als wir über PID und den Beginn des werdenden Lebens diskutiert haben - ihre Interessen und Begehren ernst nimmt. Ich komme zum Schluss. Ich denke, dass das eine Sternstunde für den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages war. Wir brauchen uns mit unserer Arbeit gar nicht zu verstecken. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man muss die Regierung manchmal etwas pushen. Das können wir gemeinsam tun. Da haben Sie in Ihrem Bereich zu arbeiten, wir machen es in unserem.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann wird das schon gut. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Groß hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sozusagen Novize im Ausschuss. Ich will damit sagen: Ich bin nicht einem Orden beigetreten, sondern seit eineinhalb Jahren ein Neuling im Ausschuss. Für mich ist es wichtig, in den Sitzungswochen, nachdem man im Wahlkreis alle Probleme, die die Menschen in diesem Land bewegen, einatmen konnte, auch hier zu erleben, was die Menschen in Deutschland bewegt und welche Probleme sie haben. Ich kann nur sagen: Alle im Ausschuss interessieren die Einzelfälle genauso wie öffentliche Petitionen, die von vielen Hundert Menschen unterschrieben sind. Es geht um die Lösung von Problemen. Ich glaube, das liegt uns allen am Herzen. Dafür sollten wir weiter konstruktiv zusammenarbeiten. ({0}) Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seitens der SPD-Fraktion danken. Ich habe dazu den Auftrag bekommen, aber ich hätte es auch von selber gemacht. Ich habe im Jahresbericht gelesen, dass Sie auch Eingaben bearbeiten, die nicht den Anforderungen entsprechen. Ich finde das sehr wichtig; denn wir haben gehört, dass manche Menschen der Schriftform nicht mächtig sind und manche Leute die Regeln nicht kennen. Sie setzen sich trotzdem hin und bearbeiten diese Eingaben. Sie kümmern sich darum, sind so etwas wie Kümmerer bzw. ein Kummerkasten. Ich finde, das ist eine wichtige Arbeit. Ich hoffe, dass das auch so bleibt und Sie weiterhin Zeit dafür haben. Letztendlich ist es wichtig, dass die Menschen eine Rückmeldung bekommen. Herzlichen Dank auch dafür. ({1}) Wichtig ist natürlich - das wurde vorhin angesprochen -, dass hier demokratische Grundrechte wahrgenommen werden. Die Menschen erleben, dass sie Einfluss auf das, was im Parlament geschieht, haben, Einfluss auf die Gesetze und darauf, was ihr Leben beeinflusst, auch negativ beeinflusst. Ich denke, es ist auch wichtig, dass die Leute erleben, ob sie Erfolg oder keinen Erfolg haben. Ich habe gerade die Information bekommen, dass in der 17. Wahlperiode von 12 Berücksichtigungen, für die einstimmig im Ausschuss votiert wurde, erst 6 umgesetzt worden sind. Von 27 Erwägungen wurden 7 umgesetzt, 11 sind offen und 9 wurden abgelehnt. Da stellt sich für mich schon die Frage, warum es so viele Ablehnungen oder nicht bearbeitete Fälle gibt, wenn ein einstimmiges Votum vom Ausschuss vorliegt. Ich bin der Überzeugung, dass die Kolleginnen und Kollegen von der Regierung einen positiven Einfluss auf ihre Ministerien nehmen können. ({2}) Petitionen sind die älteste Form der Bürgerbeteiligung. Ich bin ganz stolz, dass aus NRW die meisten Petitionen kommen; denn das ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen verstanden haben, worum es geht. ({3}) Ich möchte auf eine Situation hinweisen, die mir Sorgen macht und die zeigt, woran wir arbeiten müssen. Gerade im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist es wichtig, dass wir die zunehmenden Beschwerden der Bürger ernst nehmen und neben den strukturierten Verfahren auch die Petition ernst nehmen. Bei Ortsterminen beschäftigen wir uns insbesondere mit Schienenlärm und Straßenlärm. Vor Ort kann man sehr gut erleben, unter welchen Umständen Menschen leben müssen und warum sie sich berechtigterweise gegen Lärm wenden und dafür den Petitionsausschuss anrufen. Es ist wichtig, öffentlich auf das Petitionsrecht hinzuweisen. Mich wundert schon, dass der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seinem neuesten Papier zum Thema Bürgerbeteiligung die Petition noch nicht einmal genannt hat. ({4}) Es ist nicht erwähnt worden, dass die Petition ein offizieller Weg ist, den Bürgerinnen und Bürger nutzen können, um ihre Einwendungen und Bedenken zu äußern. Ich kann nur sagen: Mir hat die Arbeit sehr viel gebracht. Ich habe sehr viel gelernt. Ich habe sehr viel über Dinge gelesen, die mir vorher in dieser Tiefe nicht bekannt waren. Ich glaube, dass in Deutschland viele Schätze vorhanden sind, die zu Recht bei uns landen und mit denen auf die Gesetzgebung Einfluss genommen werden sollte. Ich wünsche uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit. In diesem Sinne: Glück auf! ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Paul Lehrieder hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Hagemann, auch ich bedauere, dass wir nicht eher über unser sehr wichtiges Thema debattieren können. Wenn man sich die heutige Tagesordnung anschaut, so fällt auf, dass wir zu prominenterer Zeit, etwa von 12.30 bis 13.45 Uhr, über die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Koalition aus CDU/CSU und FDP diskutieren durften, und zwar auf Antrag der SPD. Das heißt, der Zusatzpunkt 5, Ak23470 tuelle Stunde, hat unsere Debatte nach hinten geschoben. Dass man das dazusagt, gehört zur Ehrlichkeit. ({0}) - Doch, wir sind uns schon einig. Aber die SPD wollte halt darüber debattieren. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich kann Sie beruhigen: Im Petitionsausschuss geht es nicht ganz so kontrovers zu, wie der Kollege Hagemann hier hat vermitteln wollen. ({1}) Lieber Klaus Hagemann, du hast heute die Ritterrüstung angezogen. Spätestens nächsten Mittwoch ziehst du sie wieder aus. Dann reden wir wieder ganz normal über Petitionen, um den Leuten zu helfen. Es ist tatsächlich so: Wenn zu Beginn der Legislaturperiode Abgeordnete für den Petitionsausschuss gesucht werden, so üben sich viele der Kolleginnen und Kollegen - ich weiß nicht, wie es in der FDP oder der SPD ausschaut - in Schweigen. Eingezogene Köpfe, Blicke nach unten gerichtet. Während meiner nunmehr siebenjährigen Arbeit im Petitionsausschuss habe ich schon einiges erlebt. Dass sich aber Kolleginnen und Kollegen um einen Platz im Petitionsausschuss gestritten haben, gehört nicht dazu. Die Arbeit im Petitionsausschuss ist möglicherweise nicht so prestigeträchtig. Sie mag auch weniger im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen als die in anderen Ausschüssen; wir debattieren nur einmal im Jahr im Plenum über die Arbeit des Petitionsausschusses. Dennoch ist sie eine der wichtigsten. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 17 unseres Grundgesetzes - „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden“ - wird die besondere Bedeutung, die diesen Ausschuss begleitet, zum Ausdruck gebracht. Nachdem bereits von mehreren Vorrednern das Prinzip der grundsätzlichen Öffentlichkeit von Petitionsbehandlungen hier vorgetragen worden ist, möchte ich schon darauf hinweisen: Es gibt Massenpetitionen, es gibt Petitionen, die von allgemeinem öffentlichen Interesse sind - sie werden in aller Regel auch in den Fachausschüssen diskutiert und durch Anträge begleitet -, und es gibt - darauf hat die Kollegin Vogelsang völlig zu Recht hingewiesen - etwa die Rentnerin, die einen Badewannenlift will, aber nicht möchte, dass ihr Anliegen in der Öffentlichkeit bekannt wird. Man muss also mit Augenmaß an die ganze Angelegenheit herangehen. Was wir verdient haben, ist, dass uns die Öffentlichkeit im Fokus behält, dass sie genau aufpasst, was wir machen. Aber auch wir müssen aufpassen. Wir wollen nämlich auch Anwälte der kleinen Leute sein. Das gilt für alle Mitglieder des Petitionsausschusses. Ich habe dieses Bemühen, diese Anstrengung bei vielen Kollegen gespürt. Es tut gut - die beiden Schriftführer hinter mir können es bestätigen; sie sind ebenfalls im Petitionsausschuss -, wenn man wie in den letzten Sitzungen, etwa der am vergangenen Mittwoch, parteiübergreifend Einstimmigkeit zustande bringt, liebe Frau Kollegin Steinke. Da freut sich die Vorsitzende. Wir freuen uns; denn wir können sagen: Wir haben den Menschen gemeinsam helfen können. - Jetzt hätte ich einen Applaus erwartet. ({2}) Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist einer der wenigen Ausschüsse, dessen Einrichtung das Grundgesetz in Art. 45 c zwingend vorschreibt. Die Arbeit im Petitionsausschuss bietet eine Plattform für gelebte Demokratie; die Vorredner haben zum großen Teil bereits darauf hingewiesen. Hier haben Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, aktiv am politischen Geschehen teilzunehmen und es maßgeblich mit zu beeinflussen, und zwar durch allgemeine Petitionen, aber auch durch persönliche Einflussnahme. Von der so oft beschworenen Politikverdrossenheit ist hierbei zu meiner großen Freude nichts zu verspüren. Im Gegenteil: 2011 wurden insgesamt 15 191 Eingaben und Petitionen beim Petitionsausschuss eingereicht. Das bedeutet durchschnittlich stolze 60 Zuschriften pro Werktag. Dies erklärt womöglich auch die besagte Zurückhaltung mancher Kolleginnen und Kollegen bei der Mitarbeit im Petitionsausschuss zu Beginn der Legislaturperiode. Die Arbeit im Petitionsausschuss eröffnet wie kaum eine andere die Möglichkeit, ein direktes, ungefiltertes Feedback über unsere Arbeit im Bundestag zu erhalten und nah am und mit den Menschen zu arbeiten. Kollege Groß hat darauf hingewiesen. Ich sehe es genauso wie Sie. Wo muss gesetzlich nachgebessert werden? Wo sind die Bürger mit Entscheidungen der Obergerichte, aber auch mit gesetzlichen Entscheidungen und Verwaltungsentscheidungen nicht einverstanden? Wo drückt den Bürger der Schuh? In keinem Ausschuss ist es leichter als im Petitionsausschuss, die Befindlichkeiten, die Sorgen, die Nöte unserer Bürger kennenzulernen. Das ist anstrengend, aber es ist in aller Regel auch sehr befriedigend, wenn man merkt: Jawohl, man kann etwas erreichen. - Nichts ist für einen Abgeordneten schöner, als von einem Bürger bzw. von einer Bürgerin nach einer eingereichten Petition, im Rahmen derer man helfen konnte, ein Dankesschreiben zu erhalten, in dem steht: Prima, ihr habt das gut gemacht. ({3}) Meine Damen und Herren, zu guter Letzt möchte ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes - ähnlich wie die Kollegen vor mir - noch einmal sehr herzlich danken. Sie haben ein immenses Pensum an Arbeit zu bewältigen, und wir diskutieren schon, ob wir mit einer Stunde für die Ausschusssitzung hinkommen. Wir werden vielleicht irgendwann dahin kommen, dass wir gegen Mitternacht anfangen, in unserem Ausschuss zu tagen. Denn das Interesse der Bürger, uns hier kritisch zu begleiten, wächst stetig. ({4}) Ob wir alle Petitionen hier im Plenum diskutieren können ({5}) und ob, wenn ja, lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn, wir das zu prominenter Zeit tun können, wage ich zu bezweifeln. Wenn wir irgendwann einmal nach Mitternacht hier zusammensitzen, geht das Lamentieren wieder los, dass wir eine prominentere Zeit wollen. Also, es ist schwierig. Wir haben kontrovers, lieber Herr Kollege Thomae, darüber diskutiert, ob es Sinn macht. Wir gucken da noch einmal hin, aber ich habe keine große Hoffnung, dass wir es bis zum Ende der Legislaturperiode schaffen. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Drucksache 17/8319 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Somit rufe ich jetzt auf den Tagesordnungspunkt 12: Beratung des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu dem von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen - Drucksachen 17/3646, 17/10697 Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Kauder ({1}) Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren, und als Erste hat das Wort die Kollegin Sonja Steffen für die SPD-Fraktion. ({2})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen - vor allem junge Menschen und insbesondere Kinder - haben oftmals die Gabe, erlittene Gewalt in eine innere Schublade zu stecken. Dort ruht das Erlebte oft jahrelang, bis die Bilder und das ganze Leid manchmal aufgrund eines bestimmten Ereignisses wieder an die Oberfläche und ins Bewusstsein gelangen, und bei Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlitten haben, ist dies oft der Zeitpunkt, an dem sie selbst eine Familie gründen. Das erlittene Trauma ist nie ganz vergessen. Letztendlich muss das Missbrauchsopfer selbst entscheiden, ob es die Konfrontation mit dem Täter sucht. Denn wer sich der Konfrontation mit dem Täter stellen möchte, der braucht eine sehr starke und engmaschige Unterstützung. Meine Damen und Herren, im Jahr 2010 wurde nach dem Bekanntwerden einer unglaublich großen Missbrauchswelle in Heimen und Internaten ein Runder Tisch zum sexuellen Kindesmissbrauch eingerichtet. Hier haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politik hervorragende Arbeit geleistet. Innerhalb kürzester Zeit - und dennoch mit besonderer Sensibilität - hat der Runde Tisch Empfehlungen erarbeitet, um den Opfern eine bessere Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Aber jetzt frage ich Sie: Wozu richtet man einen Runden Tisch ein, der nach getaner Arbeit in seinem Schlussbericht sinnvolle und fundierte Empfehlungen abgibt, wenn diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden? ({0}) Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2010 einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich mit dem Thema Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften beschäftigt. Der Opferschutz verlangt eine solche Verlängerung. Warum? Derzeit liegt die Frist der strafrechtlichen Verjährung bei sexuellem Missbrauch von Kindern bei 10 Jahren. Zwar beginnt die Frist erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres der Opfers zu laufen, jedoch bedeutet diese Frist Folgendes: Spätestens wenn das Opfer Ende 20 ist, können die Täter strafrechtlich nicht mehr belangt werden. Bei Missbrauch von jugendlichen Schutzbefohlenen - von Internatsschülern beispielsweise - verjährt die Tat sogar schon nach fünf Jahren, also spätestens dann, wenn das Opfer 23 Jahre alt ist. Es ist doch zutiefst ungerecht, wenn die Täter davon profitieren sollen, dass ihre Opfer sie aus Scham und oft auch wegen massiver Drohungen seitens des Täters zunächst nicht anzeigen. In Ihrem Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, wollen Sie nur die zivilrechtlichen Verjährungsfristen auf 30 Jahre erhöhen. Aber das ist doch zu kurz gedacht. ({1}) Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche scheitert oft genug an dem Mangel an finanziellen Mitteln beim Täter. Aber was noch viel schlimmer ist: Dem Opfer ist es doch nahezu unmöglich, ganz auf sich allein gestellt und höchstens von seinem Anwalt begleitet, den lange Zeit zurückliegenden Missbrauch zivilrechtlich zu beweisen. Hier kommt der Runde Tisch übrigens zu folgendem Ergebnis - ich zitiere -: Aufgrund der Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährung - die vom Runden Tisch vorgeschlagen wurde können die Betroffenen in Zukunft den Ausgang eines Strafverfahrens gegen den Täter abwarten, bevor sie vor dem Zivilgericht klagen. Wem nützt denn dann die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist, wenn die strafrechtliche Verfolgung aufgrund der kurzen Verjährungsfrist gar nicht mehr möglich ist? ({2}) Am 26. Oktober 2011, also vor fast einem Jahr, hat eine Anhörung von Experten stattgefunden. Sie alle, zumindest all diejenigen, die bei der Anhörung dabei waren, wissen: Die Sachverständigen haben sich mehrheitlich, nämlich sechs von acht, für eine Modifizierung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen. Es ist nach der guten Arbeit des Runden Tisches überhaupt nicht zu verstehen, dass sich unser Gesetzentwurf seit 2010 im Gesetzgebungsverfahren befindet und bis heute keine Umsetzung erfolgt ist. Ihr Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sollte ursprünglich bereits Anfang 2012 in Kraft treten. Doch bis heute ist nichts passiert, und es bedurfte der Heranziehung einer Geschäftsordnungsvorschrift, damit die heutige Debatte überhaupt stattfinden kann, leider zu einer sehr unpopulären Zeit. Im Namen der Opfer fordere ich Sie hiermit auf, sich des Themas endlich anzunehmen. Die zivilrechtlichen und die strafrechtlichen Verjährungsfristen für Kindesmisshandlungen müssen verlängert werden. Wir sind es den Opfern schuldig. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ansgar Heveling hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Geschäftsordnung sind die Ausschüsse zur baldigen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben verpflichtet, und es gehört damit zum selbstverständlichen Recht des Parlaments, dann, wenn Aufgaben nicht kurzfristig erledigt werden können, über die Gründe zu debattieren. So beraten wir heute darüber, warum der von der SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen noch nicht abschließend beraten worden ist. Zunächst einmal ist es richtig, dass Handlungsbedarf hinsichtlich der strafrechtlichen Vorschriften zum sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen besteht. Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in den letzten Jahrzehnten in konfessionellen und nichtkonfessionellen pädagogischen Einrichtungen hat uns sicherlich alle aufgeschreckt. Der zu den Vorgängen eingerichtete Runde Tisch hat hervorragende Arbeit geleistet und viele Handlungsfelder, insbesondere im Hinblick auf Opferschutz- und Verfahrensregeln, identifiziert und aufgezeigt. Neben nichtlegislativen Maßnahmen braucht es natürlich auch gesetzgeberische Entscheidungen zur Umsetzung von vielen Vorschlägen des Runden Tisches. Im SPD-Gesetzentwurf wird im Wesentlichen ein Aspekt aufgegriffen, die Frage der strafrechtlichen Verjährung; dazu wird eine einzelne Regelung vorgeschlagen. Auch wenn anzuerkennen ist, dass Handlungsdruck in zeitlicher Hinsicht besteht, so ist dieses Vorgehen dennoch insgesamt nicht zielführend, weil die Angelegenheit doch komplexer ist. Die Bundesjustizministerin hat deshalb richtigerweise einen anderen Weg gewählt und mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ein erstes Paket verschiedener Maßnahmen vorgelegt, die sowohl zivilrechtliche wie strafrechtliche Aspekte betreffen und auch verfahrensrechtliche Regelungen vorsehen. Diesen Gesetzentwurf beraten wir momentan intensiv in der Koalition. ({0}) Das ist der Grund, weshalb wir den SPD-Gesetzentwurf noch nicht abschließend beraten haben. ({1}) Dabei erkennen wir, so glaube ich, in allen Fraktionen an, dass wir über den strafrechtlichen und strafgesetzlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch ebenso reden müssen wie über die zivilrechtlichen, insbesondere die schadensersatzrechtlichen Fragen. Bei aller Handlungsnotwendigkeit sollten wir aber auch eines bedenken: Das Strafgesetzbuch ist ein vielfältig ineinandergreifendes Regelwerk von aufeinander abgestimmten Normen, dessen gesellschaftliche Akzeptanz nicht zuletzt wesentlich darauf beruht, dass jedermann seine Systematik durchschauen kann. Alle müssen auf das System vertrauen können. Ständige Durchbrechungen systematischer Linien sind nicht hilfreich. Das sollten wir bei der Diskussion auch bedenken. Deswegen ist der Vorschlag der SPD, eine Sonderverjährungsvorschrift - 20 Jahre - vorzusehen, sicherlich nicht der richtige Weg. Ich will nicht verhehlen, dass wir als CDU/CSU-Fraktion das Thema Verjährungsfrist mit großer Sympathie sehen und da auch unsere Überlegungen ansetzen. Wir müssen aber noch beraten, wie wir hier weiterkommen. ({2}) Die Frage ist in diesem Zusammenhang, ob das der einzige systematische Anknüpfungspunkt ist. Es gäbe sicherlich auch noch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, beim Strafrahmen anzusetzen, und die Frage zu klären, ob wir für die einzelnen Straftatvorschriften eine Erhöhung des Strafrahmens vorsehen. Das könnte dazu führen, dass einige Straftaten vom Vergehen zum Verbrechen hochgestuft werden. Das führt aber ohne Frage auch zu weiteren systematischen Überlegungen; das sollten wir genau bedenken. Ein dritter Ansatzpunkt ist, zu überlegen, ob man bei der Hemmung der Verjährung ansetzt. ({3}) Das ist bereits in den 90er-Jahren diskutiert worden. Seinerzeit hat es eine erste Regelung des Komplexes gegeben. Damals ist festgelegt worden, dass die Verjährung bis zum 21. Lebensjahr - statt bis zum 18. Lebensjahr gehemmt ist. Auch das ist ein Ansatzpunkt, nämlich darüber nachzudenken, ob man an dieser Stelle die Hemmung der Verjährung nicht weiter hinausschiebt, weil uns die aktuellen Fälle aus den Institutionen gezeigt haben - anders als in den 90er-Jahren, wo es um Fälle aus dem unmittelbaren familiären Nahbereich ging -, dass viele Opfer erst dann, wenn sie älter werden, in der Lage sind, ihre Erlebnisse zu reflektieren und tätig zu werden. Man muss sehr sorgsam abwägen und schauen, wie es in die Systematik des Strafgesetzbuches passt. In diesem Prozess befinden wir uns noch. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir eine Regelung finden werden und dann die Beratung des Gesetzentwurfs der SPD abschließen können - sicherlich auf dem Wege, dass deren Gesetzentwurf nicht zum Tragen kommt. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über den Bericht des Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, mit welchem die straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen verlängert werden sollen. Dieser Gesetzentwurf war ebenso wie die Gesetzentwürfe von Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregierung Gegenstand einer Anhörung im Rechtsausschuss. Eine abschließende Beratung hat noch nicht stattgefunden; deshalb jetzt der Bericht. Lassen Sie mich zunächst eine Bitte äußern. Lassen Sie uns bitte zukünftig nicht von sexuellem Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen reden, sondern von sexualisierter Gewalt. Der Begriff „Missbrauch“ legt nämlich unbeabsichtigt nahe, es gäbe auch einen richtigen sexuellen Gebrauch von Kindern und Schutzbefohlenen, ({0}) und - ich glaube, da sind wir uns alle einig - genau den gibt es nicht. ({1}) Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei stehen, glaube ich, für alle Fraktionen im Haus der Schutz der Opfer und die Wiedergutmachung im Zentrum der Debatte. „Schutz der Opfer“ meint für uns in allererster Linie Prävention. Es klingt abgedroschen und ist dennoch wahr: Der beste Opferschutz ist Prävention. Deshalb müssen die Mittel für Projekte wie „Kein Täter werden“, die zum Beispiel in der Charité angeboten werden, erhalten bleiben und aus unserer Sicht sogar aufgestockt werden. ({2}) Unser vorrangiges Ziel muss sein, potenzielle Täter zu erreichen, um sie von Straftaten abzuhalten. Zu Recht wurde in der Anhörung durch den Sachverständigen Böhm auf diesen Aspekt hingewiesen. Er forderte frühzeitig einsetzende psychotherapeutische Behandlungen; die Rückfallraten könnten so erheblich gesenkt werden. Es geht aber auch darum, Kinder zu stärken. Sie müssen ihre Rechte kennen, in der Lage sein und ermutigt werden, diese wahrzunehmen. Aus der Sicht der Opfer von sexualisierter Gewalt spricht viel dafür, die zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften zu verlängern. Soweit ich das sehe, sind sich darin alle Fraktionen einig und greifen damit eine Empfehlung des Runden Tisches auf; darauf wurde bereits hingewiesen. Dieses Signal der Einigkeit sollten die Opfer sexualisierter Gewalt von der heutigen Debatte mitnehmen; daran wäre mir sehr gelegen. Alle Fraktionen sprechen sich für die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen aus. Die existierende Frist von drei Jahren zur Geltendmachung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer sexualisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumatisiert sind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten in der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Dass Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche dann nicht mehr geltend gemacht werden können, sehen wir als erhebliches Problem an. Hier hilft die Hemmung der Verjährung bis zum 21. Lebensjahr nicht wirklich weiter. Die Verjährungsfristen müssen - so sieht es der vorliegende Gesetzentwurf vor - tatsächlich verlängert werden, um die zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer sexualisierter Gewalt zu erhalten. Wir unterstützen das ausdrücklich. ({3}) Wir sehen auch das Problem, dass die Verjährungsfristen bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung auf der einen Seite und die Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern auf der anderen Seite auseinanderklaffen. Das ist der entscheidende Grund dafür, dass ein Teil unserer Fraktion zu einer Zustimmung zum SPD-Entwurf tendiert. Unsere gesamte Fraktion sagt sehr deutlich, dass sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern nicht zu rechtfertigen ist. Ein anderer Teil von uns tut sich schwer mit einer Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen. Sosehr eine Angleichung der Verjährungsfristen auf den ersten Blick eine innere Logik hat - dieser Teil unserer Fraktion beurteilt das Ansinnen skeptisch. Es erscheint diesem Teil unserer Fraktion nicht sinnvoll, für den Fall, dass beispielsweise ein Täter innerhalb der von der SPD vorgeschlagenen 20-jährigen Verjährungsfrist eine Therapie gemacht hat und seitdem keine erneute Straffälligkeit aufgetreten ist, noch strafrechtlich aktiv zu werden. Dem Opfer und dem Täter ist nach Ansicht dieses Teils unserer Fraktion damit nicht geholfen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Christian Ahrendt hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren die Frage, warum ein Gesetzentwurf der SPD zur Verlängerung der Verjährungsfristen im Strafrecht und auch im Zivilrecht noch nicht abschließend im Rechtsausschuss beraten worden ist. Wir haben im Juni zusammen mit den Grünen und bei Enthaltung der Linken entschieden, diese Beratung noch einmal zu vertagen. Das hat gute Gründe. Es gab eine Sachverständigenanhörung - über die ist eben schon berichtet worden -, bei der das Bild bei weitem nicht so klar war, wie es hier den Eindruck erweckt. Zahlreiche Sachverständige haben gesagt, dass die Verlängerung der Verjährungsfristen nicht unbedingt zielführend ist. Dafür gibt es auch Gründe, die man sorgfältig erwägen muss. Je weiter eine Tat in der Vergangenheit liegt, desto schwieriger ist es, diese Tat aufzuklären. Beweismittel werden nicht gesichert. Die Zeugen, die über eine solche Tat Auskunft geben können, verlieren an Erinnerungsvermögen. Insofern führt eine Verjährungsfrist, die es ermöglicht, dass nicht sofort in der Sache ermittelt wird, nicht dazu, dass der Täter wirklich herangezogen wird. Der entscheidende Aspekt ist, dass es zu einer Anzeige kommt; der Kollege Ansgar Heveling hat es eben schon gesagt. Deswegen kommt es uns auf ein Rechtsregime an, das in erster Linie darauf ausgerichtet ist, dass das Opfer die Tat früh anzeigt. Denn je früher die Tat angezeigt wird, desto früher können Beweise gesichert, Zeugen vernommen und der Täter einer Verurteilung zugeführt werden; je früher die Ermittlungen auf das Tatgeschehen folgen, desto besser ist es möglich, das Tatgeschehen wirklich gerichtsfest zu beweisen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Frau Steffen würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sind jetzt leider schon in Ihrem Text fortgefahren, aber Sie haben vorhin gesagt, die meisten Sachverständigen hätten sich bei der Anhörung nicht für eine Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen. Ich habe in meiner Rede bewusst nur von „Modifizierung“ gesprochen. Sie haben vorhin gesagt, zahlreiche Sachverständige hätten sich nicht für eine Verlängerung der Fristen ausgesprochen; das ist richtig. Wir sind gerade im Gesetzgebungsverfahren; leider fangen wir eigentlich erst mit dem Verfahren an. Es gibt verschiedene Modelle; wir werden gleich das von den Grünen hören. So besteht etwa die Möglichkeit, bei der Hemmung anzusetzen; Ihr Kollege hat diese Möglichkeit auch schon vorgestellt. Würden Sie mir unter diesem Aspekt recht geben, dass sich die Mehrheit der Sachverständigen für eine Modifizierung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen hat?

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie sagen jetzt, dass wir die Fristen modifizieren könnten, und haben so mit Ihrer Frage meinen weiteren Ausführungen vorgegriffen. Wenn es um die reine Verlängerung der Verjährungsfristen geht, dann ist das Bild bei den Sachverständigen klar; so habe ich es gesehen. Wenn wir darüber nachdenken, möglicherweise den Beginn der Verjährung bis zu einem bestimmten Alter zu hemmen - Sie haben in Ihrer Rede sehr ausführlich dargestellt, dass es oftmals ein Herauslösen aus dem Familienkreis braucht, um den Mut zur Anzeige zu finden -, wenn es also um die Frage der Hemmung bis zum 18. oder 21. Lebensjahr geht, um die Frage, ob erst dann die Frist der strafrechtlichen Verjährung beginnen soll, und Sie das als „Modifizierung“ bezeichnen, dann bin ich von Ihnen gar nicht so weit weg. Das ist etwas, über das wir tatsächlich nachdenken, weil es auch sinnvoll ist. Aber das ist etwas anderes als die pauschale Verlängerung der Verjährungsfristen und ist, wenn ich das so sagen darf - zumindest habe ich es so in Erinnerung -, nicht Gegenstand Ihres Gesetzentwurfs. Lassen Sie mich fortfahren. Der entscheidende Aspekt ist - darum ringen wir -, dass wir ein Rechtsregime schaffen, bei dem es darum geht, dem Opfer frühzeitig den Mut zu geben, die Tat anzuzeigen. Denn wir haben die Situation, dass das Opfer nicht nur von der Tat selber betroffen ist. Es sieht sich nachher auch in der Situation, das, was geschehen ist, berichten zu müssen. Je öfter das Opfer davon berichtet, desto gravierender, desto mehr wird es mit dem Erlebten konfrontiert. Deswegen sind wir mit dem StORMG auf dem Weg, die Opferrechte so zu verbessern, dass es einfacher wird, die Tat anzuzeigen. Damit ist das Ziel dieses Gesetzes klar im Fokus. Wenn wir sexuellen Missbrauch von Kindern erfolgreich bekämpfen wollen, dann müssen wir ihn dort bekämpfen, wo er beginnt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Taten aus den Familien heraus oder von den Opfern früh angezeigt werden. Je früher sie angezeigt werden, desto besser können Beweismittel gesichert werden, desto klarer ist das Erinnerungsbild der Zeugen, desto größer ist die Chance, dass es zu einer Verurteilung kommt. Man muss sich auch Folgendes vor Augen halten: Wenn eine Tat erst spät angezeigt wird, also erst nach Ablauf einer größeren Zahl von Jahren, das Opfer erst dann den Mut findet, aber die Tat vor Gericht nicht mehr bewiesen werden kann, ein Verfahren eingestellt wird oder es gar zum Freispruch kommt, dann hat das Opfer nicht nur mit der Tat zu kämpfen, sondern auch noch mit dem Problem umzugehen, dass das, was es erlebt hat, nicht vor Gericht gesühnt wird. Deswegen ist es wesentlich sorgfältiger, daran zu arbeiten, die Opferschutzrechte so auszugestalten, dass es zu einer frühzeitigen Anzeige kommt. Man muss in der Tat darüber nachdenken - wir tun das in der Koalition -, einerseits im Zivilrecht und andererseits im Strafrecht zu einer gemeinsamen Hemmungsregelung zu kommen, die besagt, wann die Verjährungsfrist beginnt. Meines Erachtens kann man sich sehr gut am 21. Lebensjahr orientieren, aus zwei Gründen: Wir haben hier einen klaren Anknüpfungspunkt im Jugendstrafrecht. Ab 18 ist man strafmündig; dann hat man noch die Zeit des Heranwachsenden bis zum 21. Lebensjahr. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass man in einem gewissen Familienverbund noch verfangen ist und deswegen möglicherweise davor zurückschreckt, eine solche Tat anzuzeigen. Das ist der richtige Ansatz. Dann haben wir auch die Möglichkeit, mit den Verjährungsfristen, die jetzt im Strafgesetzbuch stehen, vernünftig auszukommen. Aber zu sagen: „Wir verlängern jetzt einfach die Verjährungsfrist um fünf oder zehn Jahre und haben damit eine wirkliche Verbesserung für die Opfer erreicht“, den Weg halten wir für falsch. Ich glaube auch nicht, dass wir diesen Weg gehen werden. Wichtig ist, dass wir die Sache gut beraten, und wir werden die Sache gut beraten. Ich gehe davon aus, dass wir in diesem Herbst zum Abschluss kommen, und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ingrid Hönlinger hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle konnten uns in den schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen, was sich seit den 70er-Jahren und teilweise bis in die Gegenwart hinein hinter den Mauern von kirchlichen, schulischen und anderen Einrichtungen ereignet hat. Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen, schutzbefohlenen Mädchen und Jungen spielte sich jahrelang im Geheimen ab. Bis heute sind nicht alle Fälle aufgeklärt, die Traumatisierungen der Opfer sind noch lange nicht geheilt, und diese Untaten sind nicht ausreichend gesühnt, weder moralisch noch finanziell. Wir wissen heute, dass Opfer von sexuellem Missbrauch oft jahrelang das Erlebte nicht in Worte fassen können. Sie brauchen Zeit, um über das sprechen zu können, was ihnen widerfahren ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir unsere rechtlichen Abwägungen treffen. Das aktuelle Recht räumt den Opfern nicht ausreichend Zeit ein. Bei den Missbrauchsfällen aus den 70erund 80er-Jahren sind die Verjährungsfristen längst abgelaufen, und zwar sowohl die zivil- als auch die strafrechtlichen Fristen. Wir als Gesetzgeber müssen jetzt den rechtlichen Rahmen dafür schaffen, dass die Menschen, deren Forderungen noch nicht verjährt sind oder die in Zukunft Opfer sexueller Gewalt werden, ihre Ansprüche in angemessener Zeit durchsetzen können. Heute sprechen wir über den Gesetzentwurf der SPD. Auch wir Grünen haben einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der rechtlichen Stellung von Opfern sexuellen Missbrauchs vorgelegt. Einig sind wir uns mit der SPD darin, dass die Verjährungsfrist im Zivilrecht für Ansprüche von Opfern sexueller Gewalt viel zu kurz ist. Wir Grünen wollen, genauso wie die SPD, eine Ausweitung auf 30 Jahre einführen. Im Gegensatz zur SPD wollen wir die Hemmungsregelungen nicht nur beibehalten, sondern ausweiten. Sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht soll der Beginn der Verjährung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres eines misshandelten Menschen gehemmt sein. Die Hemmungstatbestände treffen den Kern der Diskussion - das Schweigen junger Menschen nach sexuellem Missbrauch. Selbst junge Erwachsene sind häufig emotional nicht in der Lage, ihre Ansprüche wegen solcher Taten geltend zu machen; gerade hier sollten wir ansetzen. Nun wende ich mich an die Regierung, die ebenfalls einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Sie, meine Damen und Herren, wollen im Zivilrecht ebenfalls die Verjährungsfrist auf 30 Jahre anheben, aber im Gegenzug wollen Sie die Hemmung komplett streichen. Damit beginnt die Verjährungsfrist bereits mit dem Entstehen des Anspruchs, also sofort nach der Tat und nicht erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie das nach aktuellem Recht der Fall ist. Das ist ein völlig falsches Signal an die Betroffenen. ({0}) Der Regierungsentwurf weist auch noch ein weiteres Problem auf: Die Verjährungsfrist von 30 Jahren soll nicht nur für Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gelten, sondern auch für sonstige vorsätzliche Verletzungen des Körpers und der Gesundheit. Damit unterfiele jede Beibringung einer Wunde der Verjährungsfrist von 30 Jahren. ({1}) Sicher stimmen Sie mit mir überein, dass wir hier differenzieren müssen. Dass Sie innerhalb der Koalition noch über den Gesetzentwurf der Regierung streiten und sich nicht einigen können, zeigt den Zustand Ihrer Koalition und schadet den Betroffenen. Meine Damen und Herren von der Regierung, beschränken Sie Ihren Gesetzentwurf auf die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, verlängern Sie die Verjährungsfrist im Zivilrecht, und schieben Sie den Verjährungsbeginn im Zivil- und Strafrecht hinaus! Je länger Sie mit dem Inkraftsetzen des Gesetzes warten, desto mehr Ansprüche von Opfern verjähren. Dies sollte für die Rechtspolitik Grund genug sein, schnell und gründlich zu handeln. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass der Ton in dieser Debatte der Ernsthaftigkeit der Problematik sehr angemessen ist. Bei allen Unterschieden, die es in Detailfragen gibt, sind wir uns alle darüber einig, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen seelische Schäden hinterlässt, die irreparabel sind und die die Betroffenen ein Leben lang belasten. Die körperlichen Schäden, die damit oft verbunden sind, mögen verheilen, aber die seelischen Wunden kann auch die beste psychologische Betreuung nicht wirklich heilen, auch wenn Therapien helfen, solche schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten. Opfer sexuellen Missbrauchs tragen schwer an dem, was man ihnen angetan hat, auch noch nach Jahren, nach Jahrzehnten, oft das ganze Leben lang. Wir haben nun einen Gesetzentwurf in Vorbereitung, mit dem die Schwächsten unserer Gesellschaft, Kinder und Jugendliche, besser geschützt werden sollen. Damit verfolgen wir einen breiten Ansatz. Ziel ist es, nicht nur punktuell Verbesserungen für die Betroffenen zu erreichen, sondern umfassendere Lösungen zu finden. Wir haben dabei auch auf die Empfehlungen des Runden Tisches zurückgegriffen, der wichtige Ergebnisse erarbeitet hat. Wir wollen beispielsweise die Opfer sexuellen Missbrauchs im Gerichtsverfahren besser schützen und schonen. Das Leid, das sie erfahren haben, soll im Gerichtssaal nicht noch einmal durchlitten werden müssen. Dazu dient beispielsweise, dass es leichter möglich sein soll, einen Opferanwalt zu bestellen. Wir erweitern die Informationsrechte von Opfern. Wir vermeiden mehrfache Vernehmungen. Wir ergänzen die Vorschriften zum Ausschluss der Öffentlichkeit bei Hauptverhandlungen. Schließlich sind wir uns darin einig, dass die zivilrechtliche Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche wegen sexuellen Missbrauchs auf 30 Jahre verlängert werden soll. Das ist dringend notwendig. Spätestens die in den vergangenen Monaten aufgedeckten gravierenden Missbrauchsfälle haben deutlich gemacht, dass die Regelverjährung von drei Jahren in diesem Bereich viel zu kurz bemessen ist. Ich finde, es ist eine wichtige und bedeutende Botschaft der heutigen Debatte, dass wir einen fraktionsübergreifenden Konsens in der Frage der Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist festhalten können. Bei dieser Verjährungsfrist setzt auch der Gesetzentwurf der SPD an. Allerdings beschränkt sich die SPD ausdrücklich auf die Fragen der Verjährung. Das, finde ich, greift entschieden zu kurz. Man wird den Opfern sexuellen Missbrauchs am ehesten helfen können, wenn man die Reform ein bisschen breiter aufstellt, so wie das bei uns mit einem ganzen Maßnahmenbündel angedacht ist. ({0}) Es gibt immer wieder Fälle, in denen Opfer aufgrund ihrer starken Traumatisierung im Kindesalter erst sehr spät in der Lage sind, über eine solche Tat zu sprechen. Sie sind erst nach vielen, vielen Jahren bereit und fähig, eine Strafanzeige zu erstatten. Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir deshalb die Möglichkeiten, sexuellen Missbrauch auch strafrechtlich zu ahnden, erweitern müssen. Wir sollten darauf achten, dass die Hemmung der Verjährung und die Verjährungsfrist im Strafrecht und im Zivilrecht nicht zu weit auseinanderfallen. Die Hemmung der Verjährung zu erweitern und die Verjährungsfrist zu verlängern, das wäre nach meinem Dafürhalten eine unmissverständliche Regelung. Das würde Rechtsklarheit, auch Rechtssicherheit schaffen. Das würde auch den Besonderheiten dieser Taten Rechnung tragen. Bei der strafrechtlichen Verfolgung wird die Beweisführung mit dem Zeitablauf sicherlich immer schwieriger. Aber es ist ja nicht erst die strafrechtliche Verurteilung, die eine abschreckende Wirkung auf Täter hat, auch schon die Anklage und die Ermittlungen signalisieren möglichen Tätern: Wer das tut, muss sehr lange damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden. ({1}) Natürlich könnte man eine Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen auch automatisch erreichen, indem man den sexuellen Missbrauch zum Verbrechen aufstuft. Ich bin durchaus der Meinung, dass eine Strafschärfung im Grundsatz angemessen wäre, wenn man die lebenslange und schwere Beeinträchtigung durch sexuellen Missbrauch im Kindesalter in Rechnung stellt. Ich nehme allerdings auch die kritischen Stimmen zur Kenntnis, die sagen, dass durch eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr - die die Aufstufung zum Verbrechen bedeuten würde - in Grenzfällen unangemessene Härten entstehen könnten. Darüber wird man weiter diskutieren müssen. Ich finde, wir sollten diese Fragen weiter erörtern. Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt eingehen: den Schutz von Schülern gegen sexuelle Übergriffe durch Lehrer. Wir haben gesehen, dass nach der Rechtsprechung Schüler eines Vertretungslehrers diesem Lehrer unter Umständen nicht zur Erziehung anvertraut sind, sodass in diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis ein strafbarer sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen nicht vorliegt. Ich finde, es sollte für uns selbstverständlich sein, dass wir jegliche sexuellen Übergriffe von Lehrkräften auf Schüler unterbinden und scharf sanktionieren. Wir können das nicht zulassen. ({2}) Ich sage das ausdrücklich auch als Vater. Wenn wir als Eltern unsere Kinder in die Obhut einer Schule geben, dann müssen wir uns darauf verlassen können, dass sie dort in jeder Hinsicht vor sexuellen Übergriffen durch Lehrkräfte geschützt sind. Schüler können sich den Lehrkräften in ihrer Schule nicht entziehen. Alle Lehrkräfte haben eine gewisse Machtposition den Schülern gegenüber. Deshalb darf es bei der Strafbarkeit von sexuellem Missbrauch keinen Unterschied machen, ob es sich um Klassenlehrer, Aushilfslehrer oder Vertretungslehrer handelt. Ich bin sehr froh, dass die Bundesländer eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben, um an ihren Schulen zunächst einmal zu erkunden, wie die Lage ist. Wir werden das in dieses Gesetzgebungsverfahren nicht mehr einbeziehen können, aber ich bin auf die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe gespannt. Ich denke, wir können festhalten: Die Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ist auf einem guten Weg.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sind zuversichtlich, dass wir unser Verfahren zeitnah abschließen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben heute diese Debatte, weil ein Gesetzentwurf der SPD nicht innerhalb des Zeitraums, der nach der Geschäftsordnung vorgesehen ist, beraten wurde. Es gibt zu diesem Thema auch einen Gesetzentwurf der Regierung, der im Juni letzten Jahres eingebracht wurde, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Auch dieser Gesetzentwurf hängt irgendwo. Ich bin jetzt lange genug im Parlament, um Ihnen zu sagen: Es kann immer vorkommen, dass man etwas nicht debattiert. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass man dann mit den anderen Fraktionen redet und ihnen sagt, dass man noch etwas in Vorbereitung hat und etwas später darüber miteinander debattieren möchte. Diesen Weg müsste die Regierung eigentlich gehen, um zu zeigen: Wir sind dran. So sollte man miteinander umgehen. Das scheint nicht erfolgt zu sein. Das bedaure ich sehr, weil wir vor allem den Menschen, die es betrifft, nämlich den Opfern sexuellen Missbrauchs - das sage ich bewusst so; hier geht es um das Strafrecht und nicht um Therapie, sozialpädagogische Betreuung oder Sozialpolitik -, dringend das Signal geben wollen, dass jetzt die gesetzlichen Maßnahmen kommen. Das, was am Runden Tisch bearbeitet wurde, wurde bereits schrittweise im ersten Aktionsplan 2003 umgesetzt. Weiteres wird jetzt im zweiten Aktionsplan, der auf dem Weg ist, umgesetzt. ({0}) Natürlich reicht das Strafrecht nicht; das ist ganz klar. Das wäre eine völlige Fehleinschätzung. Zum Umgang mit Missbrauch und mit massiver Gewalt gegen Kinder hat der Europarat ein Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch erarbeitet. Die EU hat eine Richtlinie verabschiedet, die mit in die Gesetzgebung einfließen muss. Außerdem gibt es Fakultativprotokolle der UN, die auch einfließen müssen. Ich denke, wenn wir gut arbeiten, beachten wir das alles und sehen nicht nur durch die nationale Brille. Beim Übereinkommen des Europarates geht es um die vier „P“. Ich denke, wir behandeln sie schon in unserem Aktionsplan. Aber für diejenigen, die nicht so nah an diesem Thema dran sind, sage ich, was die vier „P“ der Konvention bedeuten. Das erste „P“ steht für Prävention. Das heißt, Bekämpfung sexueller Ausbeutung mit allen Mitteln der Aufklärung und des Schutzes. Man tut also alles, was machbar ist, damit es gar nicht erst zu einem Übergriff, einem Missbrauch oder einer schweren Gewalttat kommt. Das zweite „P“ steht für Protektion, also für den Schutz der Rechte von kindlichen Opfern. Das betrifft das Gesetz, das gerade in der Pipeline ist und endlich vorgelegt werden müsste; denn es ist dringend notwendig. Das dritte „P“ steht für Prosekution, also für Strafverfolgung. In diesen Bereich gehört das Thema, das wir heute debattieren. Deshalb hätte es überhaupt nicht ge23478 Marlene Rupprecht ({1}) schadet, zu sagen: Wir gehen jetzt an die Verjährungsfristen heran und ändern sie. - Daran kann man Schritt für Schritt arbeiten. Man kann jemandem auch mit Blick auf die Schwere der Tat - da stimme ich Ihnen zu - wirklich einen Schuss vor den Bug verpassen und deutlich machen: Wir, die Gesellschaft, zeigen null Toleranz gegenüber solchen Straftätern. Das vierte „P“ steht für Promotion. Das heißt, dass wir Strategien entwickeln und in diesem Bereich national und international kooperieren, damit wir tatsächlich etwas erreichen. Diese vier „P“ müssen wir in das, was wir gerade machen, mit einbauen. Da sind natürlich auch wir, die Mitglieder des Familienausschusses, gefragt, vor allem dann, wenn es um Prävention und Promotion geht. Was die Strafverfolgung und den Schutz betrifft, wenn es also um das Recht geht, sind allerdings vor allem die Mitglieder des Rechtsausschusses am Zuge. Das Ganze muss so ausgestaltet werden, dass man überprüfen kann, ob die Maßnahmen wirken. Wenn man also beispielsweise die Verjährungsfristen verlängert oder Hemmnisse einbaut, muss überprüft werden: Wirkt das, und wie wirkt das? Das ist sehr wichtig. Die europäische Kinderrechtekonferenz findet ja in Deutschland statt. Die heutige Debatte sollte dazu führen, dass wir im März nächsten Jahres auch das Lanzarote-Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch ratifizieren - wir haben es im Jahre 2007 unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert - und damit zeigen: Jawohl, wir schließen uns an. Wir schließen uns auch der Kampagne des Europarates an.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin?

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eines von fünf Kindern ist betroffen. Ich denke, das sollte uns so sehr aufschreien lassen,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- dass wir jetzt über alle Grenzen hinweg gemeinsam an diesem Gesetz arbeiten. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 und den Zusatzpunkt 7 auf: 18 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der Verordnung ({0}) Nr. 236/ 2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps ({1}) - Drucksache 17/9665 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 17/10854 Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Björn Sänger ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bankenunion - Subsidiaritätsgrundsatz beachten - Drucksache 17/10781 Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden zu dieser späten Stunde über Finanzmarktthemen. Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, über drei Punkte zu sprechen: erstens über die Umsetzung der EULeerverkaufsverordnung, zweitens über den Antrag zur Bankenunion und drittens - ich glaube, das bietet sich in dieser Woche an - über das revolutionäre Papier, das uns den Durchbruch auf den Finanzmärkten bringen wird, des ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers und Ministerpräsidenten sowie ehemaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück. Fangen wir doch einfach einmal mit der EU-Leerverkaufsverordnung an. Das ist heute für uns ein freudiger Tag, weil auf europäischer Ebene etwas umgesetzt worden ist, was wir vor zwei Jahren auf den Weg gebracht haben. Wir sind damals belächelt worden. Man sagte: Ihr könnt nicht vorangehen und das alleine machen. - Wir haben es gemacht und sind vorangegangen. Am Ende des Tages hat das dazu geführt, dass die Europäische Kommission und der Europäische Rat im Wesentlichen das abgeschrieben haben, was wir gemacht haben. Das ist ein großer Erfolg für uns. Das ist für uns heute auch deswegen ein großer Erfolg, weil das nunmehr das 17. Finanzmarktgesetz ist, das wir in den letzten drei Jahren hier verabschiedet haben. DaRalph Brinkhaus runter waren wichtige Dinge wie Bankenrestrukturierung, Anlegerschutz, Vergütungen, Ratingagenturen, Verbriefungen und ganz viele andere Dinge. Ich erwähne das an dieser Stelle ganz besonders gerne, weil man den Eindruck hat, dass Finanzmarktregulierung in Deutschland erst vor drei Tagen und nicht vor drei Jahren erfunden worden ist. ({0}) Nach mir wird der Herr Kollege Zöllmer von der SPD reden und zu dem EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz sagen: Na ja, eigentlich ist das alles ja ganz richtig, aber eine Sache stört mich. - Dabei geht es darum: Wenn bei Schieflagen der Handel von irgendwelchen Papieren ausgesetzt werden muss, soll das nicht, wie bei uns vorgesehen, durch die örtlichen Börsen, sondern zentral durch die BaFin geschehen. Wir haben das geprüft und sind der Meinung, dass die örtlichen Behörden das besser machen können, weil sie näher dran sind. Wir sind auch der Meinung, dass das bewährte Verfahren, bei dem sie sich abgestimmt haben, fortgesetzt werden kann, sodass wir bundesweit eine gute Regelung erreichen haben. Herr Zöllmer, Sie werden das gleich aber erläutern. Man kann auch anders darüber denken. Eines muss ich Ihnen aber sagen: Wenn Sie das gleich als Begründung dafür nehmen, sich bei der Abstimmung über dieses Gesetz zu enthalten, dann ist das ein bisschen hochgehängt. Überdenken Sie das also noch einmal. Ich glaube, das ist ein gutes Gesetz. Das wird die Finanzmärkte besser und sicherer machen. Deswegen bitte ich hier um Ihre Zustimmung. ({1}) Zweiter Punkt; die Bankenunion. Am 28. und 29. Juni 2012 fand ein Gipfel statt, auf dem vereinbart worden ist, dass wir europäische Aufsichtsstrukturen und auch Haftungsstrukturen zusammenführen. Als erster Schritt sollte unter dem Dach der EZB, der Europäischen Zentralbank, eine gemeinsame Aufsicht eingerichtet werden. Das ist gut; das begrüßen wir. Die Kommission ist zum Arbeiten geschickt worden. In den letzten Tagen ist sie wiedergekommen und hat ein Papier vorgelegt. Wir sind nicht mit allem, was in diesem Papier steht, einverstanden, aber wir werden jetzt frohen Mutes in den Verhandlungsprozess hineingehen. Damit die Bundesregierung in diesem Verhandlungsprozess ein robustes Mandat hat und auch weiß, was der Deutsche Bundestag über dieses Papier von Herr Barroso und Herrn Barnier denkt, werden wir der Bundesregierung einige Dinge mit auf den Weg geben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie Ihre üppige Redezeit noch dadurch verlängern, dass Sie dem Kollegen Schick die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß jetzt nicht, was er dazwischenfragen möchte, weil ich ja erst noch etwas sagen möchte, aber er kann das gerne machen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das weiß ich leider auch nicht.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Kollege.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte. ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Kollegin, es geht gar nicht so sehr darum, dass ich viel Zeit habe, aber ich möchte zu Ihrem Antrag gerne ein paar Fragen stellen, weil wir das im Ausschuss nicht tun können, da er heute sofort zur Abstimmung steht.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein paar Fragen?

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, in der Tat. Hier ist der einzige Ort, an dem ich die Fragen stellen kann. Deswegen muss ich sie hier stellen. Mich würde erstens interessieren, was bezogen auf die Aufsichtsaufgaben der EZB mit einer „ausreichenden demokratischen Kontrolle“ gemeint ist. Soll man die Stellenbesetzungen vom Europäischen Parlament aus kontrollieren? Soll es da Auskunftspflichten der EZB gegenüber dem Parlament geben? Ich finde, es ist eine wichtige Frage, wie die Kontrollmechanismen ausgestaltet sind. Mich würde zweitens interessieren, wie das mit dem „Netz nationaler Restrukturierungsfonds“ gedacht ist. Soll es hier nach Ansicht der Koalitionsfraktionen eine Überlaufregelung geben oder nicht? ({0}) Drittens würde mich interessieren, was mit „große systemrelevante und grenzüberschreitend tätige Banken“ gemeint ist. Sind das nur die 25 systemrelevanten Banken, die in dieser Liste stehen, von der wir immer reden, oder sind darunter auch noch größere Institute im deutschen Raum, wie zum Beispiel die Landesbank BadenWürttemberg oder andere Institute dieser Art? Ich möchte einfach wissen, was Sie uns hier vorlegen. An diesen Stellen ist der Antrag in der jetzigen Debatte für mich nämlich nicht einleuchtend.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Würden Sie diesem Antrag denn zustimmen, wenn ich Ihre Fragen zufriedenstellend beantworte? ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das werde ich nachher in meiner Redezeit gerne sagen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es ist nicht vorgesehen, dass eine Zwischenfrage der Beginn eines wunderbaren Dialogs hier im Deutschen Bundestag ist. ({0}) Herr Brinkhaus, Sie hätten jetzt die Gelegenheit, die Fragen zu beantworten. ({1})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte diese Fragen beantworten. Ich denke, die erste Frage beantwortet sich im normalen Verlauf meiner Rede. - Es geht zunächst um die Verknüpfung der nationalen Restrukturierungsfonds. Ich glaube, die erste Herausforderung ist es, jetzt einen Restrukturierungsfonds aufzubauen, der so groß ist, dass er auch international tätige Banken umfasst. Dann stellt sich die ganz einfache Frage: Wie gehen wir beispielsweise mit der Deutschen Bank um? Zahlt sie dann in einen nationalen Restrukturierungsfonds ein? Zahlt sie in einen europäischen Restrukturierungsfonds ein? Wie erreichen wir da die Abgrenzung? Das muss also noch geklärt werden. Wie gesagt, die anderen Fragen klären sich im Laufe meiner restlichen Rede. Einfach wieder hinsetzen, Herr Schick, abwarten und danach zustimmen, wenn es gut war. ({0}) Fangen wir einmal damit an, was wir der Bundesregierung mit auf den Weg geben wollen. Der erste Punkt ist: Wir wollen mit dem Konstrukt Europäische Zentralbank, die unabhängig ist und die Geldpolitik macht, die zweite Säule schaffen. Diese zweite Säule ist die Aufsicht. Dann kann aber die Zentralbank nicht unabhängig sein, sondern die Aufsicht erfolgt im Auftrag der Politik, des Souveräns. Dementsprechend brauchen wir Mechanismen. Es kann nicht sein, dass ein Aufsichtshandeln erfolgt und die Europäische Zentralbank sagt: Liebes Europäisches Parlament, du hast hier nichts zu sagen, weil wir unabhängig sind. - Das heißt, die Regelungen zur Aufsicht müssen vernünftig formuliert werden. Wir müssen eine personelle und organisatorische Trennung erreichen. Das ist uns wichtig. Ein zweiter wichtiger Punkt: Die Kommission hat sehr schnell einen Vorschlag vorgelegt. Für uns geht Qualität vor Schnelligkeit. Wir haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, wenn Sachen übers Knie gebrochen werden. Wir möchten aber, dass hier etwas Gutes entsteht, weil wir uns keine Fehler und keinen zweiten Wurf leisten können. Der dritte für uns wichtige Punkt ist, dass sich das Ganze nicht nur auf den Euro-Raum erstreckt, sondern dass es eine Öffnungsklausel für die Länder gibt, die nicht zum Euro-Raum gehören. Das heißt, es muss eine Beitrittsmöglichkeit bestehen. Der vierte Punkt ist allerdings sehr entscheidend. Auf dem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni dieses Jahres hat man unterschiedliche Vorstellungen von dem gemeinsamen Verbund gehabt. Wir als Deutsche hatten die Vorstellung: Dieses Projekt wird in die Zukunft hineinreichen und wird für die Zukunft stabile Verhältnisse schaffen. Ich glaube, der eine oder andere südeuropäische Regierungschef hatte so ein bisschen die Vorstellung: Für meine Problembanken soll auf europäische Ebene eine Lösung gefunden werden, und ich muss mich dann nicht mehr selber darum kümmern. - Hier besteht noch eine Menge Klarstellungsbedarf. Die Restrukturierungsfonds hatte ich bereits angesprochen. ({1}) Wir haben vor zwei Jahren ein Restrukturierungsgesetz auf den Weg gebracht. Das Restrukturierungsgesetz war sehr erfolgreich. In den entsprechenden Fonds fließen in Normaljahren mehr als 1 Milliarde Euro hinein. ({2}) Die Tatsache, Herr Zöllmer - darauf werden Sie gleich noch eingehen -, dass in den Fonds weniger Geld geflossen ist, liegt einfach daran, dass wir komischerweise einige Staatsanleihen abschreiben mussten. Welch Wunder, dass dabei Banken nicht die Gewinne machen, die wir uns vorgestellt haben. ({3}) Wir wussten gleich, dass uns dieses Restrukturierungsgesetz an Grenzen bringt. Das heißt, die Rettung der Deutschen Bank wäre auf der Grundlage des Restrukturierungsgesetzes nicht machbar gewesen. Das Gleiche gilt wahrscheinlich für eine mittelgroße Landesbank. Deswegen hat diese Bundesregierung, haben die Koalitionsfraktionen immer auf eine europäische Lösung gedrängt. Diese muss kommen. Ein Punkt bereitet insbesondere den Sparkassen und Volksbanken viele Sorgen. Das ist: Müssen sie jetzt ihre Einlagensicherungssysteme in einem großen Einlagensicherungssystem auf europäischer Ebene zusammenfassen? Wir denken, das wäre momentan keine vertrauensbildende Maßnahme. Dementsprechend wollen wir die bewährten nationalen Systeme weiter existieren lassen und das dann mit einem Kommissionsvorschlag, der bereits vorliegt, entsprechend abstimmen. ({4}) Am allerwichtigsten ist, dass die Aufsicht das Subsidiaritätsprinzip und das Proportionalitätsprinzip beachtet. Was bedeutet das Subsidiaritätsprinzip? Herr Schick, bitte drehen Sie sich wieder zu mir um, ich komme jetzt zu Ihrer letzten noch offenen Frage: Was sind systemische Banken, die europäisch überwacht werden sollen? Das verändert sich von Jahr zu Jahr. Systemische Banken sind Banken, die ein derartiges Risiko verursachen, dass das europäische Finanzsystem beschädigt werden kann. Es muss von Jahr zu Jahr neu entschieden werden, wer dazugehört. Vielleicht sind das einmal 25 Banken, vielleicht sind das auch einmal 50 Banken. ({5}) Das ist im Prinzip das Entscheidende. Wir wollen, dass Banken, die europäisch systemisch sind, aber auch Banken, die dem europäischen Steuerzahler zur Last fallen, von der EZB zentral überwacht werden. Wir wollen aber auf der anderen Seite - auch das heißt Subsidiarität -, dass Dinge, die hier in Deutschland erledigt werden können, weiterhin von der nationalen Aufsicht erledigt werden. Das wollen wir der Bundesregierung mit auf den Weg geben. Proportionalität heißt in diesem Bereich, dass unterschiedliche Dinge auch unterschiedlich behandelt werden. Das heißt, die Volksbank Kaunitz bei mir im Wahlkreis muss nicht mit den gleichen Werkzeugen wie die Deutsche Bank in Frankfurt, die Santander in Madrid oder andere Banken überwacht werden. Auch das muss im europäischen Verhandlungsprozess berücksichtigt werden. Wir sind optimistisch, dass wir mit dieser Leitlinie, die wir der Bundesregierung mitgeben, erfolgreich sein werden und ein gutes System bekommen werden. Jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt, den ich mir nicht verkneifen kann. Peer Steinbrück hat ein großes Papier vorgelegt. ({6}) Ich habe großes Verständnis dafür. Peer Steinbrück will Kanzlerkandidat der SPD werden. Er muss eine Bewerbungsmappe abgeben. ({7}) Normalerweise müsste er sich auch an der Kanzlerin abarbeiten. Das ist aber momentan schlecht. Die Kanzlerin hat viel Vertrauen in der Bevölkerung. Deshalb hat er sich ein einfacheres Ziel gesucht: die Banken. Das kann ich verstehen. Sie sind momentan tatsächlich ein einfaches Ziel. Das ist in Ordnung, auch wenn es nicht besonders originell ist. Er hat sich dann, wie ich heute gelernt habe, nach zweijähriger Klausur entschieden, ein Sammelsurium von Maßnahmen aufzuschreiben, das im Wesentlichen bis auf einige wenige kleine Ausnahmen in einer Aufzählung von Maßnahmen besteht, die wir bereits umgesetzt haben, ({8}) die momentan in der Umsetzung sind oder die wir momentan intensiv international diskutieren, weil es keinen Zweck hat, sie allein auf nationaler Ebene durchzuführen. ({9}) Wir freuen uns darüber, dass wir eine große Übereinstimmung haben. Vielen Dank. Auch das ist nicht zu beanstanden, aber es ist ebenfalls wenig originell. Ich beanstande es auch nicht, dass jemand, der sich in die Finanzmarktdiskussion, in der wir alle hier in den letzten drei Jahren hart gearbeitet und gerungen haben, nicht eingeschaltet hat, jetzt auf einmal wie Kai aus der Kiste kommt und sagt: Ich habe jetzt eine Lösung gefunden. Es ist schön, dass er sich wieder einbringt. Auch das ist nicht zu beanstanden. Trotzdem ist das Ganze in gewisser Weise auch eine Zumutung. Es ist deswegen eine Zumutung, weil er komplett verkennt, was in den letzten drei Jahren passiert ist. Wir haben in den letzten drei Jahren, wenn ich alle Anträge und Gesetze zusammenzähle, über 20 Projekte gehabt. Wir haben über 50 Debatten geführt und unglaublich viele Berichterstattergespräche, Anhörungen, Symposien und Ähnliches durchgeführt. Wo war denn Peer Steinbrück in dieser Zeit? ({10}) Ich wende mich jetzt den Kollegen von der SPD zu. Ganz ehrlich, irgendwie ist das für Sie doch auch ein bisschen unangenehm. Sie mühen sich drei Jahre lang ab, und jetzt kommt jemand, der sagt: Das ist alles nichts gewesen; ich hab’s jetzt. - Ich würde mir ein bisschen veralbert vorkommen. ({11}) Das muss man an dieser Stelle einfach sagen. Was im Grunde genommen auch wenig lustig ist und so nicht geht, ist die Tatsache, dass der gute Herr Steinbrück aufgrund seiner guten Erkenntnisse, die er gewonnen hat, jetzt meint, er hat den großen grünen Knopf gefunden, und wenn er auf diesen Knopf drückt, dann wird alles gut. Dieser große grüne Knopf sind die Trennbanken. Meine Damen und Herren, wir reden mit unseren Partnern in Großbritannien und in den USA über das Trennbankensystem. Wir haben im Übrigen auf EUEbene eine Kommission unter Führung des finnischen Notenbankchefs Liikanen auf den Weg gebracht, der uns dazu Vorschläge vorlegen wird. Ich will nicht sagen, dass Trennbanken grottenfalsch sind. Aber eines ist Fakt: Die Krise 2008 wäre durch ein Trennbankensystem nicht verhindert worden. ({12}) Fakt ist auch: Ob es die nächste Krise verhindert oder verschärft, wissen wir ebenfalls nicht. Das heißt, man kann über die Sache diskutieren und trefflich darüber streiten, sie aber als Königsweg darzustellen, durch den alles gut werden soll, halte ich für etwas zu ambitioniert. Der letzte Punkt ärgert mich wirklich, weil es ein bisschen zu viel Volksverdummung ist, ({13}) nämlich wenn ein Papier verfasst wird, in dem sinngemäß steht: „Wir machen jetzt das und das und das, und dann wird alles gut“, und der Eindruck erweckt wird: Wenn ich in der Regierung bin, dann werde ich das innerhalb von zwei oder drei Wochen umsetzen. - Das ist doch im Grunde genommen das, was gemacht wird. Die ganzen Mühen, die da drinstecken, wie die internationale Abstimmung, weil wir wissen, dass Finanzmarktregulierung auf nationaler Ebene nicht läuft, werden komplett negiert. Jetzt kommt jemand mit seinen Ideen, und es wird so getan, als würde das sofort umgesetzt und alles, was vorher gemacht worden ist, wäre Mist. Wenn das dann nicht klappt, dann wissen wir, wie das Ganze bei Herrn Steinbrück weitergeht. ({14}) - Du hast es richtig gesagt: Dann kommt die Kavallerie, genauso wie bei der Schweiz. So kann man keine Politik machen. Dementsprechend kann ich Ihnen nur eines raten: Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie versprechen. Sie werden es nicht halten können. Danke schön. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Manfred Zöllmer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Umsetzung der EU-Leerverkaufsverordnung gehen wir grundsätzlich einen richtigen Regulierungsschritt. Denn seit der Finanzmarktkrise wissen wir, wie schädlich Leerverkäufe sein können. Sie haben ganz wesentlich zu schweren Kurseinbrüchen beigetragen und dienen letztendlich nichts anderem als Zockerei und sind damit ein Brandbeschleuniger in der Finanzkrise. Die Bundesregierung bzw. die EU setzt damit nur das endlich um, was der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, den Sie eben erwähnt haben ({0}) - ich würde da nicht lachen -, bereits 2008, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, gemacht hat, als er im Herbst 2008 ungedeckte Leerverkäufe untersagte. ({1}) Nach einem eineinhalbjährigen Verbot war es die schwarz-gelbe Regierung, die diese Leerverkäufe dann wieder erlaubt hat. ({2}) Erst im Mai 2010 besann man sich und verbot wieder bestimmte hochspekulative Finanztransaktionen. Allein dieses Beispiel, Herr Brinkhaus, belegt sehr deutlich das ganze unentschlossene Hin und Her dieser Bundesregierung, der schwarz-gelben Koalition, wenn es um Fragen der Regulierung der Finanzmärkte geht. Häufig versuchen Sie, sich einfach mit virtueller Regulierung aus der Affäre zu ziehen, in der Hoffnung, die Menschen würden das schon nicht merken, weil wir es hier nun wirklich mit schwer verdaulicher Kost zu tun haben. Sie, Herr Brinkhaus, und der Kollege Flosbach haben sich bei der Vorstellung des Steinbrück-Papiers zur Regulierung öffentlich echauffiert. Sie haben es hier gerade noch einmal getan. Der Kollege Flosbach hat gesagt, seit drei Jahren arbeite die Regierung an der Regulierung der Finanzmärkte. ({3}) Arbeit allein genügt aber nicht. Es müssen auch die richtigen Ziele verfolgt werden. ({4}) Wenn von Frau Merkel als Ziel Ihrer Politik ausgegeben wird, dass Sie eine marktkonforme Demokratie wollen, dann kann bei der Regulierung natürlich nichts Vernünftiges herauskommen. ({5}) Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. In dem Teil des vorliegenden Gesetzentwurfs, den Sie verändern durften, sehen Sie eine geteilte Zuständigkeit für den Erlass zeitlich befristeter Leerverkaufsverbote vor. Sie haben das dankenswerterweise ausgeführt. Der Börsenvorstand soll für Verbote zuständig sein. Damit haben wir insgesamt ein Problem. Nicht nur der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme eine einheitliche Zuständigkeit der BaFin gefordert. Auch in der Anhörung ist von den meisten Sachverständigen genau dieser Punkt kritisch beleuchtet worden. ({6}) Warum? Sie öffnen damit Schlupflöcher für Spekulanten. Das ist nichts anderes als Regulierung light. Denn wenn die örtliche Börsenaufsicht die gefährliche Zockerei an einer Börse verbietet, besteht für diejenigen, die zocken, immer noch die Möglichkeit, auf andere Börsenplätze auszuweichen. Dieses Schlupfloch haben Sie offen gelassen. Und Sie wissen das. Damit wird der Zweck der Leerverkaufsverbote, die Unterbindung des Leerverkaufs, im Zweifelsfalle in einer Krisensituation ad absurdum geführt. ({7}) Das ist Regulierung light. Sie sehen: Arbeit allein genügt nicht. Man muss auch die richtigen Maßnahmen ergreifen. ({8}) Nun regen Sie sich über die Vorschläge zur Bankentrennung auf. Als ob die Bankentrennung das Übel wäre und nicht die Zockerei! Sie haben doch bei Ihren Maßnahmen, die Sie selbst immer hochjubeln, weil es sonst keiner tut, scheunentorgroße Schlupflöcher bei den Bankerboni offen gelassen. Ich erinnere an die Commerzbank-Vorstände, die sich dann bedienen konnten. Sie haben dazu gesagt: Das sieht das Gesetz nun einmal vor. Sie haben versprochen, die Banken an den Kosten der Krise zu beteiligen. Was ist geschehen? Nichts. Sie wollen jetzt den Hochfrequenzhandel regulieren, habe ich gelesen, aber ohne eine Haltefrist. Damit wird die Regulierung wieder vollständig ausgehebelt. Denn den Hochfrequenzhandel können Sie nur dann eindämmen, wenn Sie auch eine Haltefrist einführen. ({9}) Restrukturierungsfonds: Sie haben eben selbst gesagt, dass da nichts im Topf ist. ({10}) Das heißt, in einer Krisensituation haben wir keine Munition. Das, was Sie gemacht haben, wirkt nicht. ({11}) Wir haben es Ihnen gesagt. Finanztransaktionsteuer: Was ist daraus geworden? Bisher nichts. Wie plan- und hilflos diese Koalitionsfraktionen häufig agieren, sieht man auch an der heutigen Tagesordnung. Wir sollten hier eigentlich eine halbe Stunde über Leerverkäufe diskutieren. Flugs haben Sie noch einen Antrag zur Bankenunion untergeschoben. Als ob das ein völlig unwichtiges Thema ohne große Relevanz wäre! ({12}) Wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Relevanz dieses Themas ist klar. Es ist für die Euro-Rettung und die zukünftige Struktur der Finanzmärkte von entscheidender Bedeutung, wie wir diese Probleme lösen. Das scheint allen klar zu sein, nur nicht den Koalitionsfraktionen. Sie wollen noch nicht einmal Redezeit dafür opfern und pressen das in eine halbstündige Debatte. - Lieber Herr Kollege Brinkhaus, wenigstens jetzt könnten Sie zuhören. Wie peinlich ist es eigentlich, wenn Sie dies noch nicht einmal zu einem eigenständigen Tagesordnungspunkt machen? ({13}) Kann man noch deutlicher machen, wie gering Ihr Gestaltungswille bei zentralen Zukunftsfragen Deutschlands und Europas eigentlich ist? Ich kann das nicht verstehen. ({14}) Warum haben Sie nicht den Versuch unternommen, sich in wesentlichen Fragen der zukünftigen Finanzmarktpolitik in Europa mit den anderen Fraktionen wenigstens abzustimmen, wenigstens einmal ein Gespräch zu führen, um herauszufinden, ob es nicht eine gemeinsame Positionierung gibt? Es geht doch um wichtige Fragen. Die Sparkassen beispielsweise schalten ganzseitige Anzeigen. Es geht um fundamentale deutsche Interessen. Aber Sie versuchen, dieses Thema totzumachen. Ich sage Ihnen: So geht es nicht. Wir haben jetzt nicht die Gelegenheit, auf einzelne Inhalte und Punkte, die Sie angesprochen haben, einzugehen, weil Sie mit Ihrem Vorgehen eine Debatte über dieses Thema unmöglich machen. Ich sage Ihnen: Wir werden uns in der Abstimmung über den Gesetzentwurf zum Thema Leerverkäufe enthalten - warum, habe ich bereits begründet - und Ihren Antrag ablehnen. In dieser Form geht es nicht. Das erinnert mich an den ehemaligen Trainer von Bayern München Trapattoni, der einmal gesagt hat: Flasche leer! ({15}) Ich sage Ihnen: Genau das trifft auf diese Koalition wirklich zu. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Volker Wissing hat für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, die Gegenwart und die Zukunft kann man gestalten. Mit seiner Vergangenheit muss man leben. Ich weiß, dass Sie als Sozialdemokraten gerne auf die Ära sozialdemokratischer Finanzminister in der Form zurückblicken würden, dass Sie mit Stolz auf deren knallharte Regulierungspolitik verweisen könnten. Ihre Vergangenheit sieht aber anders aus, und mit der müssen Sie leben. ({0}) Die Zeit, als die Sozialdemokratie Verantwortung für das Finanzressort in Deutschland trug, war geprägt von einer Politik der Deregulierung der Finanzmärkte, die zusammen mit den Grünen betrieben wurde. ({1}) Als Peer Steinbrück, der heute den Eindruck zu erwecken versucht, er sei ein Bändiger der Finanzmärkte, Regierungsverantwortung hatte, hat er sich mit Finanzmarktregulierung nicht befasst. ({2}) Nachdem er dann die Regierungsverantwortung verloren hatte, die Finanzkrise eskaliert war und die christlichliberale Koalition Verantwortung übernommen hat, hat Finanzmarktregulierung in Deutschland stattgefunden. Ratingagenturen wurden unter Aufsicht gestellt - CDU/ CSU und FDP. Leerverkäufe wurden verboten - CDU/ CSU und FDP. Gesetz zur Beschränkung des Hochfrequenzhandels - CDU/CSU und FDP. ({3}) Die Reihe können Sie fortsetzen: Bankenrestrukturierungsfonds - CDU/CSU und FDP. Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise - CDU/CSU und FDP. Schaffung von Aufsichtsstrukturen auf europäischer Ebene - CDU/CSU und FDP. Sie waren jedenfalls nie dabei. Sie haben auch nie eigene Vorschläge gemacht. ({4}) Nun kommt Ihr ehemaliger Finanzminister, der Regulierungsverweigerer in Deutschland, wie Kai aus der Kiste - so hat es der Kollege Brinkhaus zu Recht formuliert - und sagt: Wir müssen einen großen Katalog an Regulierungsmaßnahmen auf den Weg bringen. ({5}) Dabei hat er noch nicht einmal bemerkt, dass sein Forderungskatalog genau das enthält, was CDU/CSU und FDP umgesetzt haben; er aber nicht, als er in der Regierung war. ({6}) Was Sie machen, ist deswegen nichts anderes als Regulierungsklamauk. Sie legen die Menschen, die hier sitzen oder zuschauen, herein, indem Sie ihnen die Geschichte von der Sozialdemokratie als Finanzmarktregulierer erzählen. Dabei haben Sie mit der Regulierung der Finanzmärkte nichts, aber auch gar nichts zu tun. Regulierungspolitik ist das Werk der christlich-liberalen Koalition. ({7}) Wir haben Verantwortung und Haftung wieder zusammengeführt. Das ist die Leistung dieser Bundesregierung. ({8}) Wie ich sehe, möchte Herr Schick eine Zwischenfrage stellen. Wenn die Uhr angehalten wird, lasse ich sie zu. - Bitte, Herr Schick. ({9})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Ich will es konkret machen, um die Position der Koalition zu verstehen. Welche Banken sollen europäisch beaufsichtigt werden? ({0}) - Nein, das war nicht eindeutig. - Es geht mal um 25, mal um 50 Banken. Es stellt sich konkret die Frage, welche es sein sollen. Das ist die große Streitfrage. Das wird aus Ihrem Antrag nicht deutlich. Ich möchte wissen, ob nach dem Willen der Koalitionsfraktionen Banken wie die Landesbank Berlin mit einer Bilanzsumme von 129 Milliarden Euro, die Berlin Hyp mit einer Bilanzsumme von 38 Milliarden Euro oder die Sparkasse KölnBonn mit einer Bilanzsumme von 29 Milliarden Euro europäisch oder national beaufsichtigt werden sollen. Wie sollen wir den Antrag verstehen? Meine zweite Frage ist, wie das mit den nationalen und europäischen Restrukturierungsfonds geplant ist. Ich habe den Kollegen Brinkhaus so verstanden, dass es einen europäischen Restrukturierungsfonds und nationale Restrukturierungsfonds geben soll. Im Antrag ist nur von nationalen Restrukturierungsfonds die Rede. Ich würde gerne verstehen, was die Verhandlungslinie der Koalition in Bezug auf dieses System von Restrukturierungsfonds ist.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst zu Ihrer Frage, welche Banken auf europäischer Ebene und welche auf nationaler Ebene beaufsichtigt werden sollen. Sie können das nicht so machen, wie sich das Peer Steinbrück in seiner Welt vorstellt. Danach werden alle Banken, die heute systemrelevant sind, auf europäischer Ebene beaufsichtigt und alle anderen auf rein nationaler Ebene; denn - das ist in der Debatte heute schon gesagt worden - das kann sich verändern. Es gibt Banken, die sich von nicht systemrelevanten Banken zu systemrelevanten Banken entwickeln können. ({0}) Das war in Deutschland bei der Hypo Real Estate der Fall. Das hätte ein früherer Finanzminister eigentlich wissen können, aber mit den Dingen hat er sich schon damals nicht richtig beschäftigt. ({1}) Wenn Sie sehen, dass man sich damals bei der Hypo Real Estate monatelang in Deutschland gestritten hat, ob die Bank systemrelevant ist oder nicht, dann erkennen Sie auch, dass es keinen Sinn macht, dass man einen klaren Schnitt macht und sagt: Die Banken, die heute sysDr. Volker Wissing temrelevant sind, werden europäisch beaufsichtigt, die anderen nur national. - Denn die Instanz, die für die Kontrolle systemrelevanter Banken zuständig ist, muss auch die Banken im Blick haben, die jederzeit systemrelevant werden können. Genau das steht in unserem Antrag. Wir wollen die Konzentration der europäischen Aufsicht auf die Systemrelevanz und die grenzüberschreitende Tätigkeit, wir wollen aber auch, dass sie systemische Risiken jederzeit aufgreifen kann. Das muss jetzt - wir befinden uns ja nicht in einem Gesetzgebungsverfahren, sondern es handelt sich bei unserer Vorlage um einen Antrag - mit den europäischen Partnern institutionell so auf den Weg gebracht werden, dass es den Anforderungen des Deutschen Bundestages genügt. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Antrag heute beraten wird. Sie können auch einen eigenen Antrag einbringen, wenn Sie eigene Vorstellungen haben. Peer Steinbrück hat bisher nur ein Papier für die Medien mit viel Klamauk gemacht, aber einen eigenen Antrag der SPD gibt es nicht. Vielleicht kommt einer von den Grünen. ({2}) Jetzt komme ich zu der zweiten Frage, der nach den Restrukturierungsfonds. Peer Steinbrück lässt hier von seinen sozialdemokratischen Freunden vortragen, der deutsche Restrukturierungsfonds sei nicht ausreichend gefüllt. Gleichzeitig schlägt er vor, dass der Hauptzahler in den deutschen Fonds künftig in einen europäischen Restrukturierungsfonds einzahlen soll. Darüber müssen Sie sich einmal mit Herrn Steinbrück unterhalten. Das passt nämlich nicht zu dem, was Sie, Herr Zöllmer, hier vorgetragen haben. ({3}) Dieser europäische Restrukturierungsfonds macht doch nur dann Sinn, wenn es eine auf europäischer Ebene exekutiv handelnde Instanz gibt, die in einer Rettungsnacht - wir wissen beide, wie so etwas abläuft; wir waren zusammen im Untersuchungsausschuss zur Hypo Real Estate - auch handeln kann. Einen europäischen Fonds zu schaffen und in diesen die Hauptsummen einzuzahlen, aber am Ende niemanden zu haben, der in einer Rettungssituation darüber entscheidet, wie restrukturiert wird, das ist Peer Steinbrücks Politik. Wir haben da andere Vorstellungen. Wir wollen einen handlungsfähigen Staat haben, damit nicht am Ende der Steuerzahler wieder die Zeche bezahlt, wie es bei dem Konzept von Peer Steinbrück der Fall ist; die Zeche soll vielmehr aus dem Restrukturierungsfonds bezahlt werden, den die Banken gespeist haben. Das verbirgt sich hinter dem Antrag. Er dient dem Schutz der Steuerzahler, damit sie nicht wieder sozialdemokratischer Deregulierungspolitik preisgegeben werden. ({4}) - Man muss die Dinge klarrücken. Es hilft nichts, wenn Sie sich die Welt schönreden. Noch einmal: Sie müssen mit dieser Vergangenheit leben. Sie hatten die Verantwortung und haben sie leider nicht wahrgenommen. ({5}) Das, was wir in dem Bereich Leerverkaufsverbot auf den Weg gebracht haben, ist eine Blaupause für Europa. Jetzt geht es darum, dass die Beschlüsse, die auf europäischer Ebene gefasst worden sind, so konkretisiert werden, dass sie den Anforderungen genügen, die wir für unser Land für wichtig und erforderlich halten. Das bedeutet für die europäische Aufsicht, dass es eine Einbeziehung der Europäischen Zentralbank geben kann, genauso wie wir national die Deutsche Bundesbank mit ihrem Sachverstand und ihrer Kompetenz in die Beaufsichtigung einbeziehen. Aber selbstverständlich brauchen wir eine strikte Trennung zwischen Aufsichtspolitik und Geldpolitik, und das kommt in diesem Antrag klar zum Ausdruck. Deswegen empfehle ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem Antrag zuzustimmen. Dieser Antrag ist wichtig. Er stellt wichtige Weichen für eine solide, eine schlagkräftige europäische Aufsicht. Deswegen ist keine Eile geboten, sondern Sorgfalt. Wichtig ist auch, der Bundesregierung Rückendeckung zu geben, sie in ihrer Haltung zu stärken, dass es nicht darauf ankommt, jetzt ganz schnell eine europäische Aufsicht zu schaffen, sondern darauf, eine solide, sorgfältig verhandelte europäische Aufsichtsinstanz auf den Weg zu bringen. Darauf kommt es an. Die weiteren Punkte sind schon genannt worden. Wir wollen keine europäische Einlagensicherung, sondern wir wollen nationale Verantwortung für die Einlagensicherung. Wir wollen keine Missachtung des Subsidiaritätsprinzips, zugleich jedoch die systemische Kontrolle durch die europäische Instanz jederzeit gewährleisten. Auch das kommt in dem Antrag zum Ausdruck. Wir lehnen außerdem - das habe ich schon deutlich gemacht die Schwächung der nationalen Restrukturierungsfonds, wie Peer Steinbrück sie will, ab. Ich glaube, dass wir mit diesem Konzept den richtigen Ansatz haben. Es wird nicht leicht sein, eine europäische Struktur aufzubauen; aber es ist notwendig. Wir sind es den Menschen schuldig, die in der Vergangenheit die Defizite der Aufsicht erlebt haben. ({6}) - Sie können ja darüber lächeln. Aber die Leute können sich noch gut daran erinnern: Damals gab es keinen Finanzminister, der verhindert hätte, dass die Steuerzahler einspringen müssen. ({7}) Wir stehen hinter der Bundesregierung. Wir unterstützen sie bei ihren Bemühungen auf europäischer Ebene. ({8}) Wir wissen dieses Projekt bei Bundesfinanzminister Schäuble in guten Händen. Wir wissen, dass die Bundeskanzlerin eine außerordentlich starke Durchsetzungskraft auf europäischer Ebene hat. Nach Annahme dieses Antrags wird sie mit voller Rückendeckung des Deutschen Bundestages auf europäischer Ebene verhandeln können. Wir werden eine gute Aufsicht auf europäischer Ebene bekommen, genauso wie wir mit dieser Regierung und dieser Koalition die beste nationale Finanzmarktregulierung bekommen haben, die wir jemals in Deutschland hatten. Was Sie als Lücke hinterlassen haben, konnten wir durch Kompetenz ausfüllen. Ich danke Ihnen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Zöllmer hat bereits darauf hingewiesen, dass wir durch die kurzfristige Einbringung eines neuen Antrags auf einmal zwei völlig unterschiedliche Themenfelder zu behandeln haben. Ich will mich jetzt auf diesen Antrag zur sogenannten Bankenunion konzentrieren, wobei ich keinen Hehl aus meiner Meinung zu diesem Begriff mache. In meiner Fraktion werde ich immer gefragt, ob damit die bankenfreundliche Unionsfraktion mit ihrer Lobbypolitik für Großbanken und den entsprechenden Spenden, die man bekommt, gemeint ist. ({0}) Der Begriff „Bankenunion“ ist also völlig fehl am Platz. Mit diesem Begriff meint man aber in der Tat, dass ein neues, gemeinsames europäisches System aus Aufsicht, Einlagensicherung und Krisenmechanismen für die europäischen Banken gefunden werden soll. Das Ganze ist kurzfristig verabredet worden in der Nacht vom 28. auf den 29. Juni, als es darum ging, ob auch spanische Banken Mittel aus dem ESM bekommen. Da war die deutsche Verhandlungsposition: Das geht nur, wenn es bis zum Jahresende eine europäische Bankenunion gibt. Dazu gibt es einen Vorschlag der Kommission, der in der Tat völlig unausgereift ist. Es war genau diese Bundesregierung, die auf dem nächsten Gipfel gesagt hat: Das muss jetzt wieder weg. Das muss auf die lange Bank geschoben werden, weil in der Tat völlig unklar ist, was hier wie in welcher Institution geregelt werden soll. - Das macht noch einmal deutlich, dass es dringend erforderlich ist, dass wir darüber im Bundestag ausführlich diskutieren, statt uns in einer Sofortabstimmung, quasi am Finanzausschuss vorbei, mit diesem Themenfeld zu beschäftigen. ({1}) In der Tat, wir brauchen eine solche europäische Bankenaufsicht. Aber wo die Aufsicht dann wirklich angesiedelt ist, ob sie bei der EZB oder bei der Europäischen Bankaufsichtsbehörde, also bei der EBA, richtig angesiedelt ist, das muss man in Ruhe diskutieren. Es gibt auf europäischer Ebene nämlich genau die gleichen Probleme wie in Deutschland. Im Koalitionsvertrag haben Sie ja zunächst festgelegt, die nationale Bankenaufsicht solle bei der Bundesbank angesiedelt werden. Doch dann haben Sie andere Konsequenzen gezogen: Letztlich haben Sie eine entsprechende Aufsicht bei der BaFin organisiert. Wir brauchen kurzfristig die Rekapitalisierung einiger Banken aus gemeinsamen Mitteln, zum Beispiel über den ESM. Aber das darf aus unserer Sicht natürlich nicht mit völlig verfehlten Auflagen für die Staaten verbunden sein, ({2}) und es muss in der Tat von den Verursachern der Krise finanziert werden. Die Stichworte sind heute Morgen gefallen: Vermögensteuer, Vermögensabgabe, Finanztransaktionsteuer, Abgabe systemrelevanter Banken. Wir müssen also dringend Maßnahmen ergreifen, aber diese Maßnahmen werden nicht ausreichen. Neben einem Bankenrettungsfonds müssen wir auch auf ein Zurechtstutzen der Größe der Banken abstellen und Banken massiv verkleinern, um so das Systemrisiko herunterzufahren. Aus unserer Sicht - das wurde angesprochen ist der Vorschlag, Trennbanken einzuführen, ({3}) noch unzureichend. Ich glaube nämlich, man muss nicht nur trennen, sondern bestimmte Geschäfte komplett unterbinden, erst entsprechend zusammenschrumpfen und letztendlich verbieten. ({4}) Das heißt aus unserer Sicht - und das ist die Grundidee -, dass ein Finanz-TÜV einzurichten ist. Nur die Bankgeschäfte sind dann erlaubt, die vorher genehmigt worden sind, weil sie relevant, systematisch und sinnvoll sind. Das muss sozusagen im Mittelpunkt stehen. ({5}) Ganz kurz zum EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz. Natürlich ist dies vom Prinzip her eine vernünftige Aktivität - Sie haben sich auch lange genug und oft genug dafür entsprechend gelobt -, aber das Gesetz ist unzureichend; Kollege Zöllmer hat auf viele Fehler hingewiesen. Es regelt schließlich nur einen kleinen Bruchteil des gesamten Finanzmarktgeschäftes. Insofern gilt: Das Haus brennt, aber Sie erlassen erst einmal Rauchverbote. Das ist unzureichend, und deswegen werden wir uns in diesem Fall auch enthalten. Die Grundrichtung stimmt zwar, aber es reicht leider nicht. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick das Wort.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Punkte sind anzusprechen. Das eine ist das Thema Leerverkäufe, das andere die Bankenunion. Kurz zum ersten Thema: Es ist richtig, ungedeckte Leerverkäufe zu verbieten; dieses findet jetzt bei Staatsanleihen statt. Deshalb sind weitere Schritte bei anderen Finanzprodukten notwendig. Die Verordnung auf europäischer Ebene stellt mehr Transparenz her, und sie gibt auch nationaler und europäischer Aufsicht entsprechende Befugnisse, um einzugreifen. Das ist richtig, und wir Grünen haben uns im Europaparlament mit dem grünen Berichterstatter Pascal Canfin aktiv dafür eingesetzt, dass es ein generelles Verbot ungedeckter Leerverkäufe gibt und dass es auch klare Regeln für die Eindeckungsverfahren bei Leerverkäufen gibt, sodass Anreize für schädliche Spekulationen verhindert werden. Das sind wichtige Schritte, die auf europäischer Ebene unter aktiver grüner Mitwirkung vorangebracht worden sind. Jetzt haben wir in Deutschland die Umsetzung vor uns. Es ist wichtig, dass es jetzt vorangeht. Aber der Fehler bleibt natürlich, dass Sie nicht die BaFin, die Finanzaufsicht, damit beauftragen, das umzusetzen, sondern dass es den Börsen überlassen wird. Sie machen immer wieder den Fehler, dass Sie auf die eigeninteressierten Marktakteure vertrauen. Damit haben Sie genau das nicht aus der Krise gelernt, was in vielen Diskussionen - ich erinnere mich an einige Reden hier - immer wieder gesagt worden ist: Die Selbstregulierung, auf die man vertraut hat, hat nicht funktioniert. Daraus muss man Konsequenzen ziehen und muss zusehen, dass es wirklich unabhängige staatliche Aufsichtsbehörden gibt, die in den Markt eingreifen können. ({0}) Zum zweiten Punkt, der Bankenunion. Was Sie uns heute vorgelegt haben, ist offensichtlich sehr kurzfristig unter großer Hektik entstanden, sodass wir dieses Thema heute in einer Art und Weise behandeln, die diesem Thema und seiner Bedeutung nicht angemessen ist. ({1}) Es ist nicht nur so, dass es kurzfristig gemacht wurde. Vielmehr waren beide Redner der Koalition nicht in der Lage, die entscheidenden Fragen hier zu beantworten. ({2}) Die erste Frage, die ich gestellt habe, lautete: Wie sehen die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten für das Europäische Parlament aus? Man muss doch eine Verhandlungslinie haben, wenn man der Bundesregierung irgendetwas mitgibt. Das kann doch nicht ein bisschen Blubb-blubb sein. Vielmehr besteht die zentrale Herausforderung darin, dass trotz dieser neuen Mechanismen in Europa die Demokratie nicht auf der Strecke bleibt. Deswegen will ich die Frage für unsere Fraktion beantworten: Wir wollen, dass das Europäische Parlament bei den Stellenbesetzungen im Bereich Bankenaufsicht konkrete Mitwirkungsrechte erhält. Wir wollen, dass die Europäische Zentralbank im Bereich Bankenaufsicht dem Europäischen Parlament Auskünfte geben muss, also eine klare Auskunftspflicht besteht, sodass es nicht im Ermessen der Zentralbank steht, was sie erzählt. Wir wollen, dass es die Pflicht zur regelmäßigen Berichterstattung gibt. Das muss ganz klar festgelegt werden. Es wäre notwendig, dies in einem solchen Antrag ganz klar darzustellen. ({3}) - Das steht da so allgemein, dass Sie alles Mögliche darunter fassen können. ({4}) Die zweite Frage lautete: Welche Banken sind denn drin? - An dieser Stelle ist es ganz wichtig, noch einmal zurückzublicken. Im Jahr 2008 gab es bereits den Vorschlag, auf europäischer Ebene gemeinsam die Restrukturierung, Abwicklung oder Sanierung von Banken vorzunehmen. Die deutsche Bundesregierung, damals von der Großen Koalition getragen, hat das abgelehnt. Das ist einer der zentralen Fehler im Krisenmanagement gewesen. Im Jahr 2010 hat das Europäische Parlament vorgeschlagen, den europäischen Aufsichtsbehörden klare Durchgriffsrechte zu geben und Großbanken unmittelbar auf europäischer Ebene zu beaufsichtigen. Die deutsche Bundesregierung, damals schon von Schwarz-Gelb getragen, war dagegen. Jetzt endlich sind Sie auch darauf gekommen, dass es eine europäische Aufsicht braucht, wenn man eine Augenhöhe zwischen Großbanken und staatlicher Aufsicht hinbekommen will. Ihre Erkenntnis kommt sehr, sehr spät. Es ist eine 180-Grad-Wende. Hoffen wir, dass es diesmal gelingt. ({5}) Unser Vorbild ist, dass es in den USA gelungen ist, mehr als 450 Regionalbanken abzuwickeln, statt mit dem Geld der Steuerzahler zu retten; ({6}) für diese Banken mussten die Steuerzahler nicht aufkommen. Das muss auch in Europa das Ziel sein. Jetzt stehen Sie allerdings wieder auf der Bremse und machen nicht klar, was Sie wollen. Sie sagen, es soll doch irgendwie nicht richtig europäisch sein. Nach den Antworten von Herrn Brinkhaus und Herrn Wissing ist völlig unklar geblieben, wie das Verhältnis zwischen dem europäischen und den nationalen Restrukturierungsfonds aussehen soll. Unsere Vorstellung ist: Es gibt einen europäischen Restrukturierungsfonds, der in der Lage ist, auch größere Banken abzuwickeln. Die nächste Frage lautete: Wer ist von der Aufsicht eigentlich eingeschlossen? Ich möchte die konkret gestellte Frage für unsere Fraktion beantworten: Institute wie die Landesbanken gehören unter eine europäische Aufsicht, weil sie eben nicht klar abgegrenzte regionale Geschäftstätigkeiten ausüben, so wie kleine Sparkassen, und weil sie von den hiesigen Institutssicherungen im Zweifelsfall nicht gerettet werden könnten. Dieses genau müssen wir tun. Ich fordere Sie auf, mit mehr Klarheit heranzugehen und vor allem die Perspektive für einen europäischen Restrukturierungsfonds, für klare demokratische Kontrolle und für eine Aufsicht, die wirklich Durchgriffsrechte hat, zu unterstützen und nicht wieder wie 2008 und 2010 auf der Bremse zu stehen. Danke schön. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10854, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9665 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDPFraktion bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. ({0}) - Enthaltung der Oppositionsfraktionen, Entschuldigung. Das war schon einmal der Aufmerksamkeitstest. Wir kommen nachher noch zu sehr vielen Abstimmungen. Ich bedanke mich für den Hinweis. Zusatzpunkt 7. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/10781 mit dem Titel „Bankenunion Subsidiaritätsgrundsatz beachten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit bekämpfen - Drucksachen 17/5759, 17/6930 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Pascal Kober Katrin Werner Volker Beck ({2}) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1) Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6930, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5759 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Günther ({4}), Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Entwicklung durch Wachstum - Der Beitrag der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der Millenniumsziele - Drucksachen 17/9423, 17/9892 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Petra Pau Dr. Sascha Raabe Joachim Günther ({5}) Heike Hänsel Ute Koczy Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind auch hier einverstanden.1) Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 17/9892, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9423 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({6}), Volker Beck ({7}), Marieluise Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen Konflikt erhalten Entwicklung der C-Gebiete in der Westbank fördern - Abrissverfügungen für Solaranlagen stoppen - Drucksache 17/9981 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({9}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({10}), Volker Beck ({11}), Marieluise Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Zwei-Staaten-Perspektive für eine friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts retten - Drucksache 17/10640 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({13}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben bereits vor einem Jahr über den palästinensischen Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationen debattiert. In diesem Monat, gerade in dieser Woche, findet wiederum die UN-Generalvollversammlung statt. Zu diesem Zeitpunkt ist dieses Anliegen völlig in den Hintergrund getreten, nicht nur, weil Iran und Syrien die Nahostdebatte inzwischen dominieren, sondern auch - das muss man ganz klar und generell sagen -, weil das vergangene Jahr für eine friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes ein verlorenes Jahr war. Es war wieder einmal ein Jahr ohne substanzielle Friedensverhandlungen. Es war ein Jahr von weiterem massiven Siedlungsausbau und verstärken Angriffen durch israelische Siedler. Es war auch ein Jahr der dramatischen Verschlechterung der Wirtschaftslage in der Westbank. Man muss festhalten, dass es 19 Jahre nach Oslo immer noch keinen palästinensischen Staat gibt. Im Gegenteil: Das international akzeptierte Konzept von zwei Staaten zur Regelung des Konfliktes verkommt immer mehr zur Bedeutungslosigkeit. Alternativen sind nicht in Sicht. Auch deshalb haben wir uns heute entschlossen, noch einmal zwei Anträge für die Zweit-Staaten-Regelung in den Bundestag einzubringen. ({0}) Es gibt keinen palästinensischen Staat. Es gibt in Zonen geteilte palästinensische Gebiete. Es gibt den Gazastreifen, der von der Hamas beherrscht wird. Dann gibt es die Westbank, die in drei Zonen geteilt ist: Zone A wird komplett von den Palästinensern kontrolliert. Zone B kontrollieren zwar die Palästinenser, aber die Israelis sind für die Sicherheit verantwortlich. Zone C wird allein von israelischer Seite kontrolliert; sie umfasst immerhin 62 Prozent der Westbank. Ich habe im März dieses Jahres ein palästinensisches Dorf in der Zone C besucht. Sie kennen meine Position zum Nahostkonflikt; ich sehe vieles durchaus auch kritisch. Aber die Lebensbedingungen der Palästinenser in dieser Zone C sind wirklich erschütternd. ({1}) Sie sind erschütternd, und trotzdem gibt es dort Projekte, die auch Hoffnung machen. In diesem Dorf beispiels- weise wurde die Versorgung mit elektrischem Strom durch ein Windrad und durch Solarpanels sichergestellt. Es handelt sich um ein sehr kleines Projekt von wenigen Israelis - medico international -, finanziert durch das Auswärtige Amt. Dieses Projekt ist wie andere Projekte diese Art, die von der EU unterstützt werden, nun vom Abriss der ent- sprechenden Anlagen bedroht. Warum? In den C-Gebie- ten gibt es keine Bebauungspläne. Die Palästinenser können keine Anträge auf Baugenehmigungen stellen; deshalb werden solche Projekte illegal durchgeführt, und dann kommt es eben zu jenen Abrissverfügungen.1) Anlage 4 Kerstin Müller ({2}) Warum berichte ich davon? Nach Aussage aller Experten ist völlig klar: Ohne die Entwicklung der C-Gebiete wird es keinen lebensfähigen palästinensischen Staat oder ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum für einen solchen noch zu gründenden Staat geben. ({3}) Deshalb habe ich mich entschlossen, hierzu einen Antrag zu erarbeiten, wenngleich die Hintergründe allgemein kaum bekannt sind. Es gibt nämlich Versorgung in den C-Gebieten. Die findet aber nur für die jüdischen Siedler statt, nämlich für den massiven Ausbau ihrer Siedlungen, der dort leider betrieben wird. Wenn wir zusammen mit der internationalen Gemeinschaft an der Zwei-Staaten-Regelung festhalten wollen, wenn wir sagen, dass es dazu keine Alternative gibt, dann muss der israelischen Seite unmissverständlich klargemacht werden, dass ihre Politik in den C-Gebieten, die auf eine Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung hinausläuft - viele dieser Menschen verlassen diese Gebiete nämlich -, absolut inakzeptabel ist. ({4}) Es muss auch hier endlich demokratische Planungsverfahren geben, die in die Verantwortung der palästinensischen Autonomiebehörde gehören. Die Abrissverfügungen müssen gestoppt werden. Eine Politik „on the ground“, die die internationale Politik unterminiert, muss beendet werden. Darüber hinaus muss die EU auch endlich zu einem gemeinsamen Handeln kommen. Die Palästinenser werden in der UN-Generalversammlung zunächst einmal die Aufwertung ihres Status beantragen. Dafür werden sie eine Mehrheit bekommen. Ich glaube jedoch, dass es unabhängig von dieser Mehrheit wichtig ist, dass gerade die Europäer an dieser Stelle einmal gemeinsam Zustimmung signalisieren, weil diese natürlich noch ein ganz anderes Gewicht in diesem Konflikt hat. Die Palästinenser warten jedenfalls darauf. Ich hoffe, dass es weitere Initiativen gibt, dass wir weiter in diesem Sinne handeln werden. Die Vorstellung, in der derzeitigen Lage ließe sich wegen der Unsicherheiten im Hinblick auf den palästinensischen Konflikt nichts machen, ist nach meiner Überzeugung ebenso falsch wie die Vorstellung, dass Fortschritte bei der Regelung automatisch zu einer Lösung der vielfältigen Spannungen und Konflikte führen würden. Dennoch müssen wir daran arbeiten. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Jürgen Klimke hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum Abschluss seiner Nahostreise im Mai dieses Jahres hat Bundespräsident Gauck das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat betont - ich zitiere -: Deutschland bekennt sich nachdrücklich zur ZweiStaaten-Lösung und unterstützt die Schaffung eines eigenständigen palästinensischen Staates. Diese Meinung unseres Staatsoberhaupts steht damit auch in der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik. Klar ist: Die vielfältigen Probleme das Nahen Ostens gehören alle zusammen, doch ist für uns die Lösung der Zwei-Staaten-Frage im Nahen Osten das wichtigste Element, um den gordischen Knoten zu zerschlagen. Unsere Bemühungen sind immer wieder auf Wiederaufnahme direkter Verhandlungen gerichtet, egal wie sprachlos beide Seiten zurzeit miteinander umgehen. Ein solcher Verhandlungsprozess steht für uns im Mittelpunkt; denn die Lösung des Gesamtkonflikts lässt sich nur mit diesen Mitteln erreichen. Die Augen der Weltöffentlichkeit sind derzeit auf den Bürgerkrieg in Syrien gerichtet. Trotzdem dürfen wir die Sicherheit Israels, die für die CDU/CSU zur Staatsräson gehört, niemals aus den Augen verlieren. Für dieses Selbstverständnis gibt es viele ähnliche Formulierungen. Ich halte nichts davon, in jeder etwas anderen Formulierung eine Verstärkung oder eine Abschwächung dieser Aussage zu sehen. Die Aussage ist nämlich klar. Ich bin angesichts der jüngsten Entwicklungen überzeugt: Auch der Nahostkonflikt kann und darf nicht ungelöst bleiben. Anders gesagt: Die Wiederaufnahme der Verhandlungen duldet keinen Aufschub. Der jetzige Stillstand hilft niemandem. Aber klar ist auch: Eine tragfähige Lösung erfordert politische Entschlossenheit; sie erfordert schmerzhafte Kompromisse, und zwar auf beiden Seiten. Das Ziel müssen zwei Staaten sein: ein demokratischer jüdischer Staat Israel Seite an Seite mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat. Wo immer Deutschland und Europa zusammen mit den USA diesen Prozess unterstützen können, werden wir das tun; wir unterstützen alles, was den berechtigten Belangen des palästinensischen Volkes entspricht und Rechnung trägt. Hier geht es um Fragen, die beantwortet werden können, wenn beide Seiten aufeinander zugehen und die Rechte des jeweils anderen anerkennen und akzeptieren. Es sind keine leichten Fragen; es sind aber auch keine abstrakten Fragen. Es sind vielmehr Fragen von sehr großer Aktualität, die uns alle unmittelbar betreffen. Nicht alle diese Fragen können wir heute oder morgen abschließend beantworten. Verantwortung ist kein Automatismus. Sie bewährt sich nicht im Falle von Ankündigungen, sondern eher in einer konkreten Situation. Das Denken in Wenn-dannSätzen wirkt im Nahen Osten eskalierend, vor allem auch das vorherige öffentliche Ziehen von roten Linien. „Der Unterschied zwischen Europa und dem Nahen Osten“, so hat es der israelische Schriftsteller Amos Oz vor wenigen Wochen in einem Interview mit der Welt gesagt, „ist der Unterschied zwischen Frieden und Krieg.“ Damit hat er wohl recht: Der Nahe Osten ist heute eine der explosivsten Regionen der Welt, Europa erlebt hingegen eine historisch einmalige Periode des Friedens. Meine Damen und Herren, nur weil bei uns Frieden herrscht, dürfen wir nicht nachlässig werden. Die Hauptfrage ist jedoch: Wo setzen wir an? Diese Frage stellen auch die Grünen in ihren Anträgen. Wir bedanken uns für den Beitrag. Wir setzen in diesem Bereich aber schon seit Jahren eigene Prioritäten, entsprechend der Überzeugung der Kanzlerin. Nach dieser Überzeugung geht es um Verständigung und vor allem um gegenseitigen Respekt. Klare Kante: Die Palästinenser verzichten auf Gewalt, und die palästinensische Führung erkennt Israel an; Israel verzichtet auf den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten. ({0}) Meine Damen und Herren, unser gemeinsames Engagement geht jedoch über diesen Grundsatz hinaus: Wir sorgen für anhaltende humanitäre Hilfe, Verhütung des illegalen Handels mit Waffen und Munition, dauerhafte Öffnung der Grenzübergänge, Instandsetzung und Wiederaufbau von Infrastruktur, Förderung der innerpalästinensischen Versöhnung sowie Unterstützung der EU Border Assistance Mission im Bereich der Grenzkontrollen. Für die Unionsfraktion ist jedoch eines klar - hier liegt im Übrigen der Unterschied zu den Grünen -: Einen unabhängigen demokratischen und lebensfähigen Staat Palästina kann es nur ohne völkerrechtliches Präjudiz geben. Alle Maßnahmen, die einen palästinensischen Staat präjudizieren, wie etwa die Aufnahme eines derzeit nicht existenten Staates Palästina in die UNESCO im Oktober 2011, sind deshalb abzulehnen. Deutschland hat gemeinsam mit seinen Verbündeten gegen eine Aufnahme gestimmt. Weitere Hinderungsgründe für das Erreichen einer Zwei-Staaten-Lösung liegen im palästinensischen Schisma zwischen der Hamas im Gazastreifen und der Fatah im Westjordanland. Solange die Palästinenser nicht mit einer Stimme sprechen, kann es keine ZweiStaaten-Lösung geben. Wenn im Antrag der Grünen gefordert wird, dass der Bundestag die Aufnahme Palästinas in die UNO unterstützen soll, so ist allein das für uns ein Grund zur Ablehnung. Meine Damen und Herren, der Friedensprozess im Nahen Osten ist ein langwieriger Prozess. Deutschland nimmt hier auf verschiedensten Kanälen seine Verantwortung wahr. Dazu gehören auch Aufforderungen der Bundesregierung an Israel, den Bau neuer Häuser in den Palästinensergebieten zu überdenken. In der vorliegenden Form sind beide Anträge nicht zustimmungsfähig, weil die Umsetzung der Forderungen wiederum Fakten schaffen würde, anstatt einen offenen Verhandlungsprozess zu ermöglichen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass es noch immer israelische Bürgerinnen und Bürger gibt, die auf der einen Seite eine Debatte über die Voraussetzung für eine Zwei-Staaten-Lösung in Israel selbst führen und auf der anderen Seite auch über die bisherigen Versäumnisse auf dem Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung sprechen. Ich bin beeindruckt gewesen, dass zum Beispiel ehemalige israelische Soldaten mit einer wichtigen Fotoausstellung, die bis Ende September im Willy-Brandt-Haus hier in Berlin gezeigt wird, auf das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser aufmerksam machen. ({0}) Es gehört zum Bau einer Friedensbrücke mit dazu, dass sich die Menschen mit wachen Augen begegnen, und dafür gilt mein Dank. Die Rahmenbedingungen, zu einer Friedenslösung zwischen Palästina und Israel zu kommen, sind in den letzten Jahren in der Tat schwieriger geworden. Der amerikanische Präsident Obama hat zumindest am Anfang seiner Amtszeit versucht, im Rahmen seiner Möglichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Gespräche wieder aufgenommen werden. Die Spaltung der palästinensischen Bewegung ist ein Hindernis auf diesem Weg, aber es hat in den letzten Monaten nach meinem Dafürhalten durchaus den Versuch gegeben, insbesondere Präsident Abbas zu legitimieren, wieder Friedensverhandlungen zu führen. Im Nahen und Mittleren Osten liegt der Fokus auf den Umbrüchen in der arabischen Welt und insbesondere auf der humanitären Katastrophe in Syrien. Dennoch hat es unter diesen schwierigen Bedingungen Chancen gegeben. Leider hat es die Bundesregierung versäumt, diese Chancen zu ergreifen. Ich will in diesem Zusammenhang auf drei Punkte aufmerksam machen. Erster Punkt. Wir hatten die Chance einer Aufwertung der palästinensischen Vertretung hier in Deutschland. Ich unterstelle dem Außenminister durchaus guten Willen, aber ich glaube, er ist am Bundeskanzleramt und letztlich an der Bundeskanzlerin gescheitert. Es gehört zu einer ehrlichen Debatte mit dazu, zuzugeben, dass wir hier die große Chance verpasst haben, der deutschen Verantwortung zumindest durch eine leichte Aufwertung der Palästinenser gerecht zu werden und auf die Interes23492 sen beider Staaten einzugehen. Ich finde, Sie hätten dies tun können. ({1}) Zweiter Punkt. Hierüber hat es eine Debatte gegeben. Wir von der SPD haben dazu einen Antrag eingebracht. Es wäre gut gewesen, in den Unterorganisationen der Vereinten Nationen eine gemeinsame Haltung der Europäischen Union zum Status Palästinas zu erarbeiten. Das haben Sie nicht geschafft. Sie haben zum Beispiel auch dagegen gestimmt, dass Palästina eine wichtige Rolle in der UNESCO wahrnimmt. Dafür hat es aber eine Mehrheit gegeben, wir waren auf der Ebene der Vereinten Nationen erneut in der Minderheit. Auch hier ist eine große Chance aufseiten der Bundesregierung verpasst worden, sozusagen leichte, neue Stützpfeiler für die Friedensbrücke aufzubauen. ({2}) Dritter Punkt. Nach dem Gaza-Krieg - dieser Meinung waren wir alle - gab es verschiedene Möglichkeiten, auch Möglichkeiten aufseiten der israelischen Regierung. Ich sage ganz bewusst: der israelischen Regierung, weil ich in Israel andere Menschen, viele Politiker, aber insbesondere eine lebhafte Zivilgesellschaft, kennengelernt habe. Das Upgrade des Assoziierungsabkommens mit der EU ist wegen der Blockade des Gaza-Streifens und wegen des fortgeführten Baus von Siedlungen ausgesetzt worden. Was haben wir im Sommer erlebt? Es wurden 60 Punkte für ein neues Upgrade beschlossen. Ich finde, Sie haben damit leichtfertig ein Instrument aus der Hand gegeben, mit dem Sie dafür hätten sorgen können, dass die israelische Regierung ihr Verhalten ändert; ({3}) denn die israelische Regierung braucht die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. In der Tat versperrt der Siedlungsbau alle Wege in Richtung Frieden. Ich glaube, dass sollte vom Deutschen Bundestag sehr deutlich gesagt werden. ({4}) Ich gönne dem Außenminister das Lob des Generalsekretärs der Arabischen Liga, das er, glaube ich, gestern im Sicherheitsrat ausgesprochen hat. Ich habe überhaupt keine Bedenken bei diesem Lob, aber vielleicht sollte sich die Bundesregierung fragen, ob dies möglicherweise ein vergiftetes Lob war. Er hat nämlich Taten anstatt Worte gefordert, und genau daran mangelt es. Das wird deutlich, wenn man an diese Fragen erinnert. Ich glaube, der Bundesaußenminister sollte nicht immer nur gute Worte im Munde führen, sondern er sollte sich letztlich auch für Taten einsetzen. Daran mangelt es in der deutschen Politik, und daran wird gerade in diesem Zusammenhang Kritik geübt. Wir alle wollen die Sicherheit Israels. Ich glaube, diesbezüglich gibt es über alle Fraktionsgrenzen hinweg überhaupt keine Differenz. ({5}) - In einem demokratischen Gemeinwesen müssen Sie Unterschiede anerkennen. - Dennoch besteht in einem demokratischen Parlament die Möglichkeit, dass wir bezogen auf einzelne Aspekte gemeinsame Anträge einbringen. So haben wir in den letzten Jahren hier einige Dinge gemeinsam beschlossen. Manchmal haben wir wortgleiche Anträge eingebracht, weil der eine oder andere nicht alle Fraktionen mit dabei haben wollte. Ich glaube, das war ein gutes Signal des Deutschen Bundestages, aber leider hat die Bundesregierung auch diese Chance nicht ergriffen. Wenn wir wollen, dass die Menschen in Israel in Sicherheit leben, dann müssen wir die israelischen Partner und die israelische Regierung fragen, mit wem sie glaubt in Zukunft einen Frieden schließen zu können, wenn nicht mit diesem palästinensischen Präsidenten. Sie wird auf keinen anderen stoßen, der die Hand ausstreckt. Ich war erschüttert über seine Rede heute vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Daraus hat Frustration, daraus hat Hilflosigkeit und auch Resignation gesprochen. Wir werden uns noch wundern, was passiert, wenn dieser palästinensische Präsident Israel nicht mehr die Hand reichen kann, weil er nicht mehr die Kraft dazu hat und zurücktritt. Ich finde, die deutsche Bundesregierung täte gut daran, den Worten Taten folgen zu lassen, damit eine der letzten Chancen möglicherweise genutzt werden kann. ({6}) Deswegen möchte ich daran erinnern, dass die tatsächliche Entwicklung auf das Ende der Zwei-StaatenLösung hinausläuft. Schon 1999 hat der damalige und heutige Verteidigungsminister Barak geäußert, Israel könne weder als demokratischer noch als jüdischer Staat überleben, wenn die Zwei-Staaten-Lösung scheitert. Unklar ist mir, ob er heute noch so denkt; aber seine Mahnung ist nach wie vor angebracht und bleibt aktuell. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Stunden hat in New York Präsident Abbas gesprochen. Vor ungefähr einer Stunde hat Herr Netanjahu gesprochen. Das Ganze findet in einem Kontext statt, der uns allen zunehmend Angst machen muss: Kriegsrhetorik ist alltäglich geworden; es wird täglich darüber geDr. Rainer Stinner sprochen, dass Angriffe unmittelbar bevorstehen. Aus dem Iran hören wir zum Beispiel immer wieder, dass dieses zionistische Regime vernichtet werden muss. Volker Perthes hat neulich in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung eine Analogie zu 1914 gezogen. Damals haben viele Kräfte über Krieg gesprochen. Sie haben den Krieg quasi herbeigeredet, und dann ist dieser furchtbare Krieg ausgebrochen. Ich glaube, das sind Dinge, die uns gemeinsam bewegen müssen. Wir müssen sehen, in welchem Kontext über den Konflikt, über den wir heute debattieren, gesprochen wird. Angesichts des Tenors der beiden Anträge, in denen vieles Richtige steht - das ist gar keine Frage -, muss ich das wiederholen, was ich in jeder Rede zu diesem Thema sage: Wir müssen verstehen, dass im Zentrum jeder israelischen Politik die Sicherheit des Staates Israel stehen muss. ({0}) Wir müssen verstehen, dass die Lage in Israel außerordentlich sensitiv ist. Jeden Tag - das weiß die Öffentlichkeit nicht, weil das nicht immer in der Zeitung steht werden Raketen auf Israel abgefeuert. Und wir wissen, dass im Südlibanon ein Arsenal von mehr als 45 000 hochmodernen Raketen vorhanden ist, die Israel bedrohen. ({1}) Das ist der Kontext, in dem Israel reagiert. Nun stimme ich durchaus der Auffassung zu, dass die israelische Siedlungspolitik sehr kontraproduktiv ist. Sie ist völkerrechtswidrig. Die Bundesregierung sagt das deutlich, und zwar nicht nur allein, sondern im europäischen Verbund und auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Es ist völlig richtig, dass die Siedlungspolitik ein Hindernis ist. Man muss sich fragen, was man mit solchen Anträgen bewirkt. Glauben Sie, dass Sie mit diesen Anträgen wirklich etwas erreichen und die Situation verbessern? Ich glaube, das ist nicht der Fall. ({2}) Man muss diese Anträge in einen Kontext stellen, zum Beispiel in den Kontext, den Herr Mützenich eben richtigerweise angesprochen hat. Nach meinem Dafürhalten - ich glaube, dieses teilen viele hier in diesem Haus, auch wenn es in den Anträgen nicht zum Ausdruck kommt - ist die Zwei-Staaten-Lösung in Gefahr, uns zwischen den Fingern zu zerrinnen. Wir halten jetzt hier die Schimäre aufrecht, dass das ein Ziel ist, das wir noch erreichen können, und doch wird es von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, dass wir es erreichen. Wir müssen den Gesamtkontext sehen. Diesen können wir nur betrachten, wenn wir wissen, in welcher Weise wir etwas erreichen können. Wir wissen - ich spreche jetzt den zweiten Antrag, in dem es um den Status Palästinas geht, an -, dass wir nichts erreichen können, wenn wir nur einseitig Palästina aufwerten und Palästina die Mitgliedschaft in der UNO verschaffen wollen, wie dies in Ihrem Antrag steht. Vielmehr müssen wir sagen, dass man nur gemeinsam etwas erreichen kann. Ich bin dafür - und das habe ich schon vor einem Jahr hier gesagt; ich bitte die Bundesregierung, dies auch durchzusetzen -, den Status Palästinas aufzuwerten. Ich habe mich schon vor einem Jahr für den Status ausgesprochen, den Sie leider immer noch als Vatikan-Status bezeichnen. Das klingt etwas verniedlichend. Das ist der Deutschland-Status, unter dem wir jahrzehntelang gelebt haben, und das ist auch der Schweiz-Status. ({3}) - Ja, richtig, aber diese Bezeichnung wird der Situation nicht gerecht. - Es ist eben kein Status nur für sehr kleine Staaten, sondern dieser Sonderstatus ist auch für große Staaten veritabel. Ich bin dafür, dass wir als nächsten Schritt diesen Status einführen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Kraft findet, diesen Schritt zu gehen und die europäischen Staaten hier entsprechend mitzunehmen. Ich spreche mich aber, liebe Frau Kollegin Müller, gegen Ihre weitergehenden Forderungen aus, die Sie erhoben haben. Das werden wir in den Ausschüssen beraten. In dieser Form ist der Antrag für uns bisher nicht zustimmungsfähig. In dem ersten Antrag, also dem Antrag zu den C-Gebieten, steht auch sehr viel Richtiges. Ich habe meine Meinung zur Siedlungspolitik hier sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Das war unmissverständlich, das hat jeder gehört und kann jeder nachlesen. Das ist gar keine Frage. Aber ich glaube, dass Sie auch mit diesem Antrag nichts erreichen können, weil Sie der Komplexität des Problems und der gesamten Situation und Sicherheitslage der Region mit diesem Antrag nicht gerecht werden. Deshalb befürchte ich, dass wir auch diesen Antrag, wenn er nach Debatten im Ausschuss nicht verändert wird, ablehnen werden. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Schönen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um das auszugleichen, was Kollege Stinner eben gesagt hat, möchte ich am Anfang ankündigen, dass wir den beiden Anträgen zustimmen werden, weil sie politisch richtig und vernünftig sind. ({0}) Darüber sollte man auch nicht entlang von Parteigrenzen debattieren. Ich muss Ihnen sagen: Es hat mich unendlich traurig gestimmt, einen völlig resignierten und verzweifelten Präsidenten Abbas vor den Vereinten Nationen zu sehen. Es ist mir zu Herzen gegangen, diesen Mann, der - auch in den eigenen Reihen - so lange für einen Ausgleich zwischen Palästinensern und Israelis gekämpft hat, in dieser Verfassung zu sehen. Am Ende bleibt ihm eigentlich nur noch die Botschaft: Wir schmeißen alles hin. Das darf man so nicht weitertreiben. ({1}) Ich war gerade wieder einmal in Israel und Palästina. Ich rede mir ja selber Mut zu: Meine Erfahrung ist, dass auch die Menschen in Israel einem zu Recht erklären: Die Zwei-Staaten-Lösung ist die beste Lösung, die man erhalten kann. Alle Eckpunkte der Zwei-Staaten-Lösung liegen vor, aber niemand glaubt mehr an ihre Umsetzung. Das ist das eigentliche Problem. Ich möchte, dass wir den Glauben an die Zwei-Staaten-Lösung erneuern und politisch untermauern; denn wir brauchen sie, um Stabilität zu erhalten. Deswegen nenne ich Ihnen zuerst ein positives Beispiel, das mich sehr glücklich gestimmt hat. Ich habe zwei Jahre lang mit jüdischen Freunden aus Israel und mit Palästinensern an einer Ausstellung von jungen Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet, die unter dem Namen „Wonderland“, Wunderland, in Haifa eröffnet worden ist. Sie wird im Februar 2013 im Bundestag gezeigt. Das ist für mich ein Projekt, mit dem man praktisch nachweisen kann, dass Palästinenserinnen und Palästinenser sowie Jüdinnen und Juden an einer gemeinsamen Sache arbeiten können und dass dadurch alle reicher und klüger werden. Ich möchte dieses Beispiel auf die staatliche Ebene übertragen. Durch die Zwei-Staaten-Lösung gewinnen in einem solchen Prozess alle, wenn man sie ernsthaft will und nicht nur darüber redet. Hören Sie sich nur die Reden von Netanjahu an. Er spricht zwar von einer ZweiStaaten-Lösung. Aber schon in seinen Reden wird deutlich, dass er politisch das Gegenteil betreibt; in der politischen Praxis wird das erst recht deutlich. Was Netanjahu vorschlägt, ist ein Israel bis an die Grenzen des Jordans, das mithilfe von Siedlungen durchgesetzt werden soll. Es reicht aber nicht, nur verbal gegen diese Siedlungen zu protestieren, sondern man muss auch klarmachen, dass diese Siedlungen das Ende der Zwei-Staaten-Lösung bedeuten. Die Palästinenser haben angeboten, dass sie, was die Siedlerinnen und Siedler betrifft, eine Zweistaatlichkeit für möglich halten, dass sie also die israelische und die palästinensische Staatsbürgerschaft haben könnten. Hier passiert also sehr viel. Ich bin glücklich, dass die Palästinenser nicht zu einer neuen Intifada aufrufen, sondern versuchen, das Prinzip der Gewaltfreiheit in der Politik durchzusetzen. Wäre es nicht notwendig, dass dieses Parlament endlich einmal sagt: „Das ist eine richtige Entscheidung, und wir helfen euch dabei, eure Rechte zu verteidigen“? Solche Signale brauchen wir. ({2}) Das Grundproblem ist die Besatzung. Die Besatzung muss beendet werden. Kerstin Müller und ich waren im gleichen Ort; Susa heißt die kleine Stadt. Wer in Hebron an der Grenze gestanden hat, versteht, dass es so nicht weitergehen kann. Ich finde, das müssen auch wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages Israel sehr deutlich sagen. Ich erwarte von der Bundesregierung - es ist übrigens interessant, dass niemand hierzu etwas gesagt hat -, dass man in der Vollversammlung der Vereinten Nationen dem minimalen Vorschlag, den Palästinensern einen Beobachterstatus zu verleihen - das ist der sogenannte Vatikan-Status -, zustimmen wird und dass man in Europa dafür wirbt, damit man endlich einen Schritt vorankommt. ({3}) Was wollen Sie Präsident Abbas denn anbieten? Was soll er seinen Leuten sagen, wenn es um die Gewaltfreiheit geht? Er hat doch nichts in der Tasche, und ihm ist nichts in die Tasche gesteckt worden. Das sind die Dinge, die geändert werden müssen. Ich möchte, dass wir diesen Mut zusammen aufbringen. Ich freue mich über die Ausstellung im Willy-BrandtHaus mit dem Titel „Das Schweigen brechen“. Ich war da und muss sagen: Das ist eine sehr beeindruckende Ausstellung. Ich finde es toll, dass das Willy-BrandtHaus der Gastgeber ist. Im Bundestag werden wir im Rahmen der Ausstellung „Wonderland“ sehen können, wie ein politischer Konflikt kulturell verarbeitet wird. Ich lade Sie dazu ein und bitte Sie, solche gemeinsamen Projekte zu unterstützen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon fast ein Ritual: Es ist September, in New York tagt die Generalversammlung der Vereinten Nationen, und wir diskutieren im Deutschen Bundestag zum wiederholten Mal über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Noch vor einem Jahr hat Präsident Abbas seine Initiative gestartet, die Palästinensische Autonomiebehörde als ordentliches Mitglied in die Vereinten Nationen aufzunehmen. Ein Unterausschuss der Vereinten Nationen hat festgestellt, dass es nicht möglich sei, eine einstimmige Empfehlung zu diesem Antrag abzugeben. Seither wird dieses Anliegen von palästinensischer Seite nicht weiter forciert. Es ist auch fraglich, ob es dafür eine Zustimmung im Sicherheitsrat geben würde. Trotzdem unternimmt die palästinensische Seite erneut den Versuch einer Internationalisierung des Konflikts, und sie unternimmt einen erneuten Anlauf auf dem New Yorker Parkett. Der Sinn scheint mir nicht ganz klar zu sein, auch wenn natürlich zu erwarten ist, dass man die Anerkennung als staatliches Nichtmitglied anstrebt. Klar ist aber, dass Deutschland einem einseitigen Vorstoß auch weiterhin nicht wird zustimmen können. Das ist die konsistente Linie der Bundesregierung, die wir auch beibehalten wollen: keine einseitigen Manöver, sondern direkte Gespräche ohne Vorbedingungen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es würde in der Tat Sinn machen, wenn beide Seiten Energie und Kreativität in direkte Friedensgespräche und nicht in einseitige Schritte stecken würden, die die israelische Position im Übrigen aller Erwartung nach nicht verändern würden. Bei einseitigen Schritten besteht auch die Gefahr, dass es zu Eskalationen kommt, die wir alle gerade jetzt, in einer Zeit aufgeheizter Stimmung, in der wir alles tun sollten, um eine weitere Verschärfung der Lage zu vermeiden, nicht wollen. Der Friedensprozess stockt seit längerem, und es ist realistischerweise wohl auch nicht mit neuer Bewegung vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen und vor der Bildung einer neuen US-Regierung zu rechnen, zumal Präsident Obama mit einer Grundsatzrede im Juli und mit dem Bekenntnis zu einer Lösung, die Israel in den Grenzen von 1967 sieht, eine Position definiert hat, die für Israel noch immer unannehmbar scheint. Trotzdem wäre es hilfreich, wenn es in den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern neue Bewegung geben würde. Man verheddert sich aber nach wie vor in Bedingungen und Gegenbedingungen. Man setzt sich nicht an einen Tisch und ist noch nicht einmal in der Lage, sich zunächst pragmatisch um die konkreten Probleme der Bürger zu kümmern. ({1}) Ich bin überzeugt, dass vor allem Israel von einer dauerhaften Friedenslösung profitieren würde. Das würde Israel nämlich nicht nur aus dem Fokus der Kritik der arabischen Straße nehmen, sondern auch Mittel für Investitionen in Wirtschaft und Gesellschaft freisetzen, die angesichts immer wieder aufflammender sozialer Proteste in der Region dringend nötig wären. Wir müssen aber konstatieren, dass wir auf der israelischen Seite derzeit nur wenig Interesse sehen, sich den Verhandlungen mit den Palästinensern zu widmen. Fast im Gegenteil: Es wird über die Gefahr eines iranischen Nuklearschlags diskutiert. Damit wird der Fokus natürlich auf ein Thema außerhalb des Israel-Palästina-Konflikts gelenkt. Gleichzeitig geht der Siedlungsbau - das ist angesprochen worden - unvermindert weiter. Hier teilen wir die Position, die im Antrag der Grünen formuliert wird. Insbesondere in der Westbank ist die Lage besonders unbefriedigend, was sowohl die Europäische Union als auch die deutsche Seite immer wieder anmerken. Die Sorge, dass Fakten geschaffen werden, die eine Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rücken, ist schon begründet, zumal die wirtschaftlichen Perspektiven für die palästinensischen Gebiete nicht besser werden. Gerade weil deutsche Entwicklungsprojekte in der Region betroffen sind, muss diese israelische Siedlungspolitik immer wieder thematisiert werden, was nach meiner Kenntnis auch geschieht. Es mag monoton klingen, aber eine dauerhafte Friedenslösung zur Stabilisierung der Lage im Nahen Osten wird es nur mit Gewaltverzicht der Palästinenser einschließlich einer Anerkennung Israels geben; das ist schon angesprochen worden. Man wird aber auch nicht darum herumkommen, die Hamas einzubeziehen, die im Zuge der arabischen Revolutionen stärker geworden ist und sich besser vernetzt hat. Genauso werden wir im Übrigen in der Zukunft mit den Muslimbrüdern als relevante Akteure auskommen müssen. Man kann sich seine Verhandlungspartner eben nicht immer aussuchen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kernelemente einer Verhandlungslösung liegen seit langem auf dem Tisch. Neu ist aber: Die Weichen im Nahen Osten werden in dieser Zeit neu justiert. Kurzfristiges Denken in Nullsummenkategorien wird es in Zukunft immer weniger geben können. Die Zeichen stehen auf Emanzipation und hoffentlich zunehmend auch auf Demokratisierung. Deshalb wird es nicht viel weiterhelfen, wenn die eine Seite versucht, auf internationaler Bühne immer wieder Knalleffekte zu setzen, die am Ende wirkungslos bleiben, und die andere Seite versucht, dauerhaft rechtlich verbindliche Abreden zu unterminieren. Beide Seiten täten besser daran, aufeinander zuzugehen und sich für eine kluge Steuerung einzusetzen. Deswegen dürfen wir nicht müde werden, zu appellieren: Setzt euch an einen Tisch! Dieser Konflikt braucht direkte Gespräche ohne Vorbedingungen auf beiden Seiten. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin gehört, was Herr Stinner gesagt hat. Er hat sich dafür ausgesprochen, dass Deutschland den Antrag, den Präsident Abbas heute in der UN-Generalversammlung angekündigt hat, unterstützt. Ich habe Herrn Silberhorn so verstanden, dass er das für falsch hält. Wir haben Vertreter der Bundesregierung hier. Ich erwarte, dass hierzu eine klare Aussage gemacht wird. ({0}) Der Wunsch nach Unterstützung dieses Antrages ist in der Breite des Deutschen Bundestages sehr deutlich vorhanden. Das ist für die Palästinensische Autonomiebehörde vielleicht die allerletzte Chance, hier einen Erfolg zu erzielen. Diese Behörde ist im Grunde doch die einzige auf der palästinensischen Seite, die sagt: Wir wollen Verhandlungen, wir wollen gewaltfreie Lösungen. Wer diesen Antrag, der bald in der UN-Generalversammlung vorliegen wird, ablehnt, der bestärkt nur diejenigen, die gewaltsame Lösungen wollen. Deshalb müssen wir dazu beitragen, dass Abbas mit seiner Initiative einen Erfolg erzielt. Es wird eine klare Mehrheit in der Generalversammlung geben. Ich erwarte, dass die Bundesregierung nicht wieder verzögert, taktiert oder sich enthält. Das ist das Mindeste, was wir aus der heutigen Debatte lernen können. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wünschen Sie noch einmal das Wort, Kollege Silberhorn? ({0}) - Wir haben hier Regeln. Die Kurzintervention ist wäh- rend der Rede des Kollegen Silberhorn angemeldet wor- den. Da er jetzt auf eine Erwiderung verzichtet, schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/9981 und 17/10640 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Drucksache 17/10771 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Arnold Vaatz, Daniela Ludwig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schienenlärm wirksam reduzieren - Schienengüterverkehr nachhaltig gestalten - Drucksache 17/10780 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Sobald die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen vorgenommen sind, kann ich die Aussprache eröffnen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion. ({4})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wo möchten Sie lieber wohnen? An einer Autobahn oder an einer Zugstrecke? ({0}) Jetzt werden Sie vermutlich sagen: An keinem von beidem, wenn es irgendwie geht. Wenn Sie sich aber entscheiden müssten, müssten Sie nach geltender Rechtslage erwidern: Dann lieber an einer Autobahn. Warum? Weil man hier bei gleichem Lärm mehr Lärmschutz bekommt als an einer Zugstrecke. So jedenfalls geltendes Recht, geregelt in der 16. Bundesimmissionsschutzverordnung. Schienenlärm darf nämlich 5 dB lauter sein als Straßenlärm. Das nennt sich dann Schienenbonus. Oder anders: Der Lärmpegel an der Schiene muss wesentlich lauter sein als an der Straße, bevor der Anwohner ein Recht auf Lärmschutzmaßnahmen hat. Eine derartige Bevorzugung der Schiene wird es, zumindest wenn es nach den Koalitionsfraktionen geht, demnächst nicht mehr geben, und das ist gut so. ({1}) Diese unterschiedliche Behandlung von Lärm wurde in den 70er-Jahren geschaffen, weil man damals glaubte, dass Schienenlärm als weniger störend empfunden werden würde als Straßenlärm. Das war damals vielleicht sogar noch nachvollziehbar; denn die Frequenz der Züge war deutlich überschaubarer als heute, und auch der Güterverkehr hielt sich noch in Grenzen, die wir uns heutzutage oftmals wünschen würden, wenn wir über Lärmbelastungen an Zugstrecken sprechen. Wie wir alle wissen, nimmt der Schienenverkehr massiv zu. Wir bemühen uns auch von staatlicher Seite, möglichst viel Güterverkehr auf die Schiene zu verlaDaniela Ludwig gern. Dass dabei die Belastung der Anwohner auf schier unerträgliche Weise steigt, ist eine wenngleich logische, aber extrem unerfreuliche Konsequenz. Es kann also nicht mehr davon die Rede sein, dass Schienenlärm vielleicht nicht mehr ganz so schlimm ist oder als nicht mehr ganz so schlimm empfunden wird. Denn wir wissen alle: Lärm macht krank. In der Frequenz, in der ihn sehr viele Anwohner in Deutschland aushalten müssen, ist das schlimm genug, und das müssen wir auch so festhalten. Wir haben die fast schon absurde Situation, dass wir nachts, wenn es am leisesten ist, den meisten Lärm haben, weil wir dann die Güterzüge über die Schienen schicken, während tagsüber die sehr leisen hochmodernen Personenzüge auf unseren Gleisen fahren. Deswegen ist es an der Zeit, die Privilegierung des Schienenverkehrs durch einen besseren Lärmwert endlich abzuschaffen. Ich bin ausgesprochen froh, dass es uns nun endlich auch mit einem Gesetzentwurf und einem sehr guten Antrag gelingt, dies anzugehen. ({2}) Dass wir Maßnahmen umsetzen wie das Lärmsanierungsprogramm, das unter Rot-Grün angestoßen wurde - es ist ein sehr gutes Programm, das wir gerne weiterführen; die 100 Millionen Euro im Jahr sind gut investiertes Geld, um an bestehenden Strecken mehr Lärmschutz für die Anwohner zu ermöglichen -, ist gut und richtig und muss fortgeführt werden. Es ist aber auch richtig, dass wir versuchen, den Lärm an der Quelle zu bekämpfen, das heißt, leisere Bremssohlen und deren Umrüstung zu fördern. Dass ein leiser Zug weniger für die Trassenbenutzung zahlen muss als ein lauter Zug, ist ebenfalls richtig. ({3}) Aber auch diese Umrüstung kostet Geld und natürlich auch Zeit. Denn Sie alle wissen, dass nicht gerade wenig Güterzüge, nämlich 180 000, in Deutschland umgerüstet werden müssen. Das kostet uns einige Jahre, und es kostet uns 300 Millionen Euro. Aber ich sage auch hier: Das muss es uns wert sein, wenn wir andererseits von den Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz für große Schienen- oder Straßenprojekte verlangen. Deswegen sind wir hier auf einem guten Weg. Auf diesem guten Weg passt es extrem gut ins Konzept, dass wir endlich den Schienenbonus angehen. Wie machen wir das? Mit der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes 2016 und dem dazugehörigen Bedarfsplan wird er nicht mehr angewendet. ({4}) - Jetzt kann man sagen, Frau Wilms - es war mir klar; Ihren Zwischenruf hatte ich an dieser Stelle eingeplant -: viel zu spät. Wissen Sie, wünschenswert ist vieles. Da bin ich sofort bei Ihnen. Wir glauben aber, dass sich die Aufgabenträger in sinnvoller Weise auf diese neue Tatsache vorbereiten müssen. Wir haben große und langwierige Projekte, bei denen eine Umstellung innerhalb weniger Monate oder innerhalb von zwei Jahren einigermaßen schwierig ist. Deswegen halte ich die Abschneidegrenzen, wie wir sie gewählt haben, für richtig für Schienenprojekte, für die das Planfeststellungsverfahren bis dahin noch nicht eingeleitet wurde. ({5}) Sie sind logisch und politisch richtig. ({6}) Ich glaube, es ist auch an der Zeit, dass wir das angehen. Wir tun es wenigstens. Wir reden nicht nur darüber, sondern wir tun es auch, und das ist richtig. Ich verhehle nicht, dass es sicherlich den einen oder anderen Haushaltspolitiker geben mag, der jetzt vor lauter Schreck erst einmal umkippt, bildlich gesprochen, weil er sich sagt: Oh Gott, jetzt wird alles teurer. ({7}) Meine lieben Freunde, wenn uns die Gesundheit unser Mitbürgerinnen und Mitbürger das nicht wert ist, dann weiß ich es nicht. Wir müssen schlicht und ergreifend springen. Der Schienenbonus, wie er in den 70er-Jahren entstanden ist, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Er hat sich längst überholt, ist nicht mehr sachgerecht und wird den massiven Belastungen unserer Bürgerinnen und Bürger durch stark gestiegenen Verkehr nicht mehr gerecht. Deswegen ist es höchste Zeit, dass wir endlich dieses Projekt angehen und künftig statt des Schienenbonus leisere Zugstrecken haben. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPDFraktion. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! In diesem Hause gibt es große Übereinstimmung, dass der Schienenlärm zurzeit die verkehrspolitische Herausforderung ist. Millionen von Menschen sind erheblich belastet. Wir gehen nach volkswirtschaftlichen Schätzungen von 10 Milliarden Euro an Schäden aus. Als Rheinland-Pfälzer, der häufig im Mittelrheintal unterwegs ist, weiß ich, was es bedeutet, wenn nachts Güterzüge an den Häusern entlangfahren und 100 Dezibel Lärm und Erschütterungen verursachen. 100 Dezibel entsprechen einem Presslufthammer im Vorgarten. Ich glaube, wir stimmen darin überein, dass dies ein Ende haben muss. ({0}) Trotzdem gibt es eine strittige Debatte hier im Plenum und sicherlich später auch im Ausschuss. Aber diese strittige Debatte liegt nicht an der Opposition. Bevor Sie nachher wieder den Vorwurf bringen, wir hätten unter Rot-Grün oder in der Großen Koalition keinen entsprechenden Antrag eingebracht, möchte ich Ihnen sagen, dass ich mich auch nicht daran erinnern kann, dass jemals ein Antrag von der FDP gekommen wäre, den Schienenbonus abzuschaffen, als Sie in der Opposition waren. ({1}) Also halten Sie den Rand in dieser Frage. Es liegen seit Frühjahr 2011 Anträge der SPD vor. Seit über einem Jahr gibt es entsprechende Anträge von uns und auch von den Grünen. Auf der rechten Seite dieses Hauses wurde deren Beratung immer wieder vertagt. Wir hatten im Dezember letzten Jahres eine vielbeachtete Anhörung. Auch danach haben Sie die Beratung unserer Anträge vertagt. Wir haben dann über die Geschäftsordnung am 27. April dieses Jahres eine Debatte hier im Deutschen Bundestag erzwungen. Ich will einmal zitieren - ich glaube, es ist auch für die Menschen wichtig, das noch einmal nachzuvollziehen -, was am Schluss des Zwischenberichtes unseres Ausschussvorsitzenden Toni Hofreiter steht: Im Obleutegespräch … wurde übereinstimmend festgestellt, dass eine Aufsetzung der Vorlagen zur abschließenden Beratung derzeit am Einspruch der Fraktionen der CDU/CSU und FDP scheitert, da die Abstimmung zwischen den Koalitionsfraktionen noch nicht abgeschlossen ist. Drei Jahre arbeiten Sie Ihren Koalitionsvertrag ab. ({2}) Die Mövenpick-Steuer haben Sie in ganz kurzer Zeit durchgesetzt. Da gab es keinen Zank zwischen den Koalitionsfraktionen und kein Problem bei der Ressortabstimmung. Das haben Sie hinbekommen. Aber in einer ganz wichtigen Frage für die Menschen sind Sie zerstritten. Interessant ist, dass mein Kollege Michael Hartmann von Herrn Staatssekretär Ferlemann als Auskunft bekam, dass die Ressortabstimmung am 26. April 2012 begonnen hat, also einen Tag bevor wir die Debatte hier im Deutschen Bundestag erzwungen haben. Das ist mehr als ein Symbol dafür, dass wir diese Koalition in Fragen des Lärmschutzes nicht nur schieben, sondern treiben müssen. Sie schaffen es nicht von alleine. ({3}) Ich frage mich immer, was der Kollege Fischer, den ich seit 1998 als engagierten Verkehrspolitiker kenne - ich weiß, dass er sich in dieser Frage sehr stark engagiert hat -, 2009 angestellt hat, dass er mit einem solchen Bundesverkehrsminister bestraft worden ist, sodass er über die Koalitionsfraktionen dafür sorgen muss, dass ein Stückchen des Koalitionsvertrages umgesetzt wird. ({4}) In Ihrem Koalitionsvertrag schreiben Sie noch, dass Sie den Schienenbonus stufenweise abschaffen wollen, und zwar in dieser Wahlperiode. ({5}) Jetzt will ich Sie einmal an Ihren eigenen Maßstäben messen. Sie haben einen Antrag und einen Gesetzentwurf unter dem Motto vorgelegt: Wasch mich, aber mach mich nicht nass! Ich kann mir auch erklären, warum, nämlich weil Ihr Verkehrsminister gesagt hat: Jedes Dezibel weniger kostet mich 1 Milliarde Euro. Außerdem hat Ihr Kanzleramtsminister Pofalla gesagt - dem wurde bisher nicht widersprochen -: in dieser Wahlperiode nicht. Und damit hat er recht; denn 2016/2017, Frau Kollegin Ludwig, ist nicht mehr in dieser Wahlperiode. Da werden die Karten schon neu gemischt sein. Ihren Koalitionsvertrag können Sie also nicht umsetzen. Auch das, was Sie jetzt vorgelegt haben, ist doch nur weiße Salbe. Frau Kollegin Ludwig, ich weiß nicht, warum Sie einen Herzinfarkt Ihrer Haushälter befürchten. Es steht doch nirgendwo, dass es mehr Geld gibt. Im Gegenteil: Sie machen deutlich, dass alle Maßnahmen länger dauern werden und dass Sie im Haushalt keinen zusätzlichen Euro bereitstellen wollen, um den Schienenlärm effektiv zu bekämpfen. Das müssen Sie den Menschen auch deutlich sagen. ({6}) Sie sind sehr locker darüber hinweggegangen, dass die von Ihnen vorgesehenen Maßnahmen erst mit dem Inkrafttreten der Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes 2017 wirksam werden. Aber alle Planfeststellungsverfahren, die bis zu diesem Zeitpunkt laufen, werden noch nach altem Recht abgearbeitet. Ich kann Ihnen aufgrund meiner allgemeinen Lebenserfahrung sagen: Es wird in den Monaten und Jahren zuvor eine Flut von Planfeststellungsverfahren geben, die alle noch nach altem Recht beschieden werden. Sie haben gesagt: Demnächst wird der Schienenbonus abgeschafft. Mit „demnächst“ meinen Sie das Jahr 2020. ({7}) So können Sie mit den Menschen, die unter Schienenlärm leiden, nicht umgehen. ({8}) Was bleibt bis dahin zu tun? Ich hätte von Ihnen etwas mehr Engagement bei der Beschleunigung der Umrüstung erwartet. Wir werden sehr genau darauf achten, ob das System, das Sie zu Umrüstung und Finanzierung anbieten, also der lärmabhängige Trassenpreis, funktionieren wird.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Herzog, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung des Kollegen Jarzombek?

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Herzog, Sie sind doch ein Abgeordneter aus Rheinland-Pfalz. Durch Ihren Wahlkreis fahren verdammt viele Güterzüge. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie am heutigen Tag sagen: Es ist ein großer Erfolg für die Menschen - auch in meinem Wahlkreis -, ({0}) dass endlich, nachdem zehn Jahre unter allen SPDVerkehrsministern nichts geschehen ist, der Durchbruch geschafft ist und das Rheintal beruhigt wird. Warum haben Sie nicht ein Mal gesagt: „Danke, ein toller Tag für das Rheintal, ein toller Tag für Rheinland-Pfalz“? ({1})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, als Rheinland-Pfälzer weiß ich, was Schienenlärm bedeutet. Deswegen bin ich stolz auf die rot-grüne Bundesregierung, dass sie überhaupt angefangen hat, Mittel für die Lärmsanierung an der Schiene in den Verkehrshaushalt einzustellen. Das waren wir. Wir haben damals mit 50 Millionen Euro angefangen. ({0}) Ich glaube, Sie waren noch nicht Mitglied des Bundestages, als wir dann die Mittel erhöht haben. Tun Sie also nicht so, als ob in der Vergangenheit nichts passiert wäre. Die ersten beiden Lärmschutzpakete haben sozialdemokratische Minister auf den Weg gebracht. Wir haben die Sache in Bewegung gesetzt. Sie sind leider nicht in der Lage, mit dem notwendigen Schwung und Engagement dies zu einem vernünftigen Ende zu bringen. ({1}) Wir als Sozialdemokraten wollen, dass umgerüstet wird, weil allein eine schnelle Umrüstung einen hörbaren Erfolg für die Menschen bringt. Es wird spannend sein, zu beobachten, ob Ihr System, wonach der Trassenpreis um 1 Prozent erhöht werden soll, um die Umrüstung zu finanzieren, tatsächlich funktioniert. Ich jedenfalls habe niemanden in der Wirtschaft oder bei der Bahn getroffen, der mit Überzeugung gesagt hätte: Das, was diese Bundesregierung vorlegt und was der Bundesverkehrsminister will, funktioniert. Deswegen werden wir die parlamentarische Debatte nutzen, um Sie weiterzutreiben. Wir werden Ihre Vorschläge in einer Anhörung auf den Prüfstand stellen. Der Erfolg der Politik muss für die Menschen hörbar werden. Mit Ihrer Politik wird uns das leider nicht gelingen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Oliver Luksic das Wort. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Anliegen ist, den Lärm bei neuen Bahnprojekten durch die Abschaffung des Schienenbonus und beim Bestand durch weitere Anreize zu reduzieren. Die christlich-liberale Koalition will die Infrastruktur beim Güterverkehr weiter stärken. Kollege Herzog, elf Jahre hatten Sie Zeit. Sie haben es nicht hinbekommen. Diese Koalition bekommt es nun hin. Es ist richtig und notwendig, dass wir das tun. ({0}) Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir den Schienenbonus schrittweise reduzieren und ihn schließlich abschaffen. ({1}) Wir schaffen ihn jetzt ganz ab; denn er ist eine alte Privilegierung aus den 70er-Jahren. ({2}) Der Bonus beruht auf einer überholten Annahme. Es gibt nämlich unserer Meinung nach beim Lärm keinen Unterschied zwischen Straße und Schiene. Lärm ist Lärm, und er ist eine Bedrohung für die Gesundheit. Kollege Herzog, die FDP-Bundestagsfraktion hat schon 2007 einen solchen Antrag gestellt, aber damals hat ein SPD-Verkehrsminister unsere Forderungen abgelehnt. Insofern, Herr Kollege Herzog, machen Sie sich erst einmal schlau. ({3}) Klar ist: Steigende Mobilität verursacht hohe gesamtgesellschaftliche Kosten. Der volkswirtschaftliche Schaden durch Schienenlärm wird auf 800 Millionen Euro beziffert. Deswegen ist es nachhaltige Verkehrspolitik, diesen Lärm zu reduzieren. Denn sonst wird das weitere Wachstum des Schienenverkehrs - das ist ein besonders wichtiger Punkt, der zu Recht von Kollegin Ludwig angesprochen worden ist - beschränkt. Der Lärm droht zu einem Haupthindernis für die Verlagerung von Transporten auf die Schiene zu werden. Lärmschutz ist uns an dieser Stelle eine Herzensangelegenheit. Mit der vorhandenen Stichtagsregelung ist die Umstellung machbar. Mehr Güterverkehr kann nur durch mehr Akzeptanz erreicht werden. Wir ergreifen weitere Maßnahmen zur Stärkung der Infrastruktur der Schiene. Ich nenne das nationale Lärmschutzkonzept und die Vereinbarung zu lärmabhängigen Trassenpreisen. Für Lärmsanierungsmaßnahmen werden 100 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. Der Einstieg in die leise Technik wird belohnt. Besonders wichtig ist: Wir wollen mit dem Einstieg in lärmabhängige Trassenpreise marktwirtschaftliche Anreize zur Anschaffung leiserer Fahrzeuge setzen. Das ist ein Punkt, der der FDP-Bundestagsfraktion besonders am Herzen liegt. ({4}) Wir müssen dieses Thema in naher Zukunft natürlich auch auf europäischer Ebene angehen. Hier besteht Handlungsbedarf, weil die Güterzüge, die in Deutschland rollen, nicht nur deutsche Züge sind. Deswegen ist das ein europäisches Thema. Wir werden, wie gesagt, auch im Eisenbahnregulierungsgesetz weitere Anreize setzen. ({5}) Wir freuen uns, dass wir das auf den Weg gebracht haben. Es stimmt, dass es diesbezüglich Bedenken innerhalb der Koalition gab. Aber Sie haben das in elf Jahren nicht hinbekommen. Wir freuen uns über unseren Erfolg. Wir haben einen wichtigen Schritt getan, um die Infrastruktur der Schiene zu stärken. Das hat diese Koalition hinbekommen, aber nicht die SPD. Es ist richtig, dass wir den Schienenbonus abschaffen. Leider haben Sie, Kollege Herzog, in dieser Hinsicht wenig hinbekommen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in Erinnerung rufen, worüber wir sprechen. Die gesundheitlichen Belastungen für die Leute im Mittelrheintal und im Rheintal überhaupt durch die Güterverkehrszüge sind nach Berechnungen von Professor Greiser mindestens doppelt so hoch, wahrscheinlich dreimal so hoch, wie die Belastungen von Menschen, die in Einflugschneisen von Flughäfen wohnen. Die Vorsorgewerte, die jetzt für Neubaustrecken vorgesehen sind, mit deren Bau nach dem Gesetzentwurf, den Sie hier vorlegen, irgendwann nach dem Jahr 2016 begonnen wird, werden heute um das etwa Zehnfache überschritten. Professor Greiser sagt, man müsse angesichts dieser Werte eigentlich von aktiver Körperverletzung mit möglicher Todesfolge sprechen, ({0}) weil sich tatsächlich die gesundheitlichen Risiken enorm summieren. Jetzt wird am 1. Oktober unser Verkehrsminister, Herr Ramsauer, in Bingen eine große Show veranstalten. ({1}) Er wird dort mit einem halbsanierten Güterzug auflaufen und zeigen, wie das Programm „Leiser Rhein“ die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bewirken soll. Genau die gleiche Veranstaltung mit dem gleichen Vorführzug ist 2007 in Bingen schon einmal vonstattengegangen, ohne dass sich für die Leute dort irgendetwas geändert hat. Tatsächlich ist es mit dem Programm „Leiser Rhein“ inzwischen gelungen, 1 250 der 800 000 Güterwaggons zu sanieren, von denen die Kollegin vorhin gesprochen hat. Das sind 0,7 Prozent. Das hören die Leute nicht, genauso wenig wie sie hören, dass der Schienenbonus im Jahr 2016 abgeschafft werden soll. Denn die Strecken, die vorhanden sind, werden überhaupt nicht saniert. Es werden keine zusätzlichen Lärmschutzmaßnahmen getroffen. Das heißt, die Menschen haben von dem, was Sie hier heute beschließen werden, gar nichts. Sie fühlen sich verhöhnt. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Sie haben vor allen Dingen nicht den Eindruck, dass das Problem Lärmbelastung ernst genommen wird, genauso ernst, wie Sie die wirtschaftlichen Interessen derjenigen Unternehmen nehmen, die ihre Güter durch das Rheintal rasen lassen. Es gibt in der Schweiz - die ist gar nicht weit entfernt ein sehr gutes Beispiel dafür, wie mit Lärmschutz an Güterverkehrstrassen umgegangen werden kann. Da wird damit sehr systematisch umgegangen. Da wird Lärm gemessen. Da werden verschiedene Maßnahmen ergriffen. Da wird mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam überlegt, wie man es besser machen kann. Außerdem werden da klare Festlegungen für das Ende der lauten Güterzüge getroffen. Wir haben im Verkehrsausschuss eine Anhörung durchgeführt - Sie erinnern sich sicher daran -, und alle dort vertretenen Unternehmen haben gesagt: Es ist für uns überhaupt kein Problem, die Güterzüge auf leise Bremsen umzurüsten; aber die Politik muss klare Vorgaben machen. Es muss eine Deadline gesetzt werden, bis wann die Güterzüge umzurüsten sind. ({2}) Die Lärmsanierung der bestehenden Strecken würde - das haben wir bei der Bundesregierung erfragt 1,2 Milliarden Euro kosten. Sie wollen die ganze Geschichte kostenneutral organisieren. Das wird nicht klappen. 1,2 Milliarden Euro, hört sich viel an. Aber wenn ich bedenke, dass der Bundesverkehrsminister damit einverstanden ist, dass ungefähr 1,6 Milliarden Euro für die Förderung der Automobilindustrie zur Entwicklung von Elektroautos eingesetzt werden und dass man mit diesem Geld eigentlich die Elektromobilität auf der Schiene vernünftig gestalten könnte, nämlich mit ordentlichem Lärmschutz, dann finde ich die Situation nachgerade skurril. ({3}) Ich möchte zum Schluss sagen, dass die Bürgerinitiativen, die im Rheintal sehr aktiv sind, eine sehr konkrete Forderung haben, deren Umsetzung sie ganz schnell und ganz sicher entlasten würde, nämlich ein Nachtfahrverbot für laute Güterzüge. ({4}) Dieselben Forderungen erheben die Flughafeninitiativen im Hinblick auf den Flugverkehr. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie die Leute nicht ernst nehmen, dann werden sich die Auseinandersetzungen dort zuspitzen. Die Bürgerinitiativen gegen Fluglärm haben es geschafft, ein Nachtflugverbot durchzusetzen. Das ist noch nicht genug, aber es ist etwas. Flieger können von den Bürgerinitiativen nicht gestoppt werden; aber Zuggleise sind zugänglich. Die Bürgerinitiativen, die Bürgerinnen und Bürger befinden sich an der obersten Belastungsgrenze. Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dort noch Ihr blaues Wunder erleben. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Dr. Valerie Wilms das Wort.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns das so anhören, was die Kolleginnen und Kollegen eben schon gesagt haben: Es ist erschütternd. Wir bekommen schon seit langem keine vernünftigen Begründungen mehr dafür, dass der Schienenverkehr doppelt so laut sein darf wie der Straßenverkehr. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Der sogenannte Schienenbonus in Höhe von 5 Dezibel, also eine Prämie für die Schiene, geht einher mit einer Verdopplung der Lautstärkewirkung. Das ist etwas, worum wir uns wirklich dringend kümmern müssen. Auf diesen Gesetzentwurf haben wir schon lange gewartet. Wir können uns fragen, warum dieser Entwurf Ewigkeiten zwischen den Ressorts hin- und hergeschoben wurde. Das können wir aber auch sein lassen; denn ein solches Verhalten ist ja bei allem der Fall, was diese Regierung in ihrer Endzeitstimmung anfasst. ({0}) Im Detail hat sich im Vergleich zu den ersten Entwürfen jedenfalls nichts Wesentliches geändert. Grundsätzlich kann man sagen: Die Sache ist richtig, notwendig und vor allem dringend. Sie ist aber nur ein Detail eines großen Problems. So wie Sie das Ganze jetzt angelegt haben, wird es zunächst nur ganz wenigen helfen, die vom Verkehrslärm betroffen sind. Erst nach dem nächsten Bundesverkehrswegeplan sollen neue Schienenstrecken leiser gebaut werden. Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Dieser muss eigentlich 2015 beschlossen werden. Die Erfahrungen lehren uns allerdings, dass es, sofern es gut geht, 2016 oder eher 2017 sein wird. Und mit dem von Herrn Herzog schon angesprochenen kleinen Kniff kann der Vorhabenträger besonders genial vorgehen: Dann schiebt er alles nach hinten, indem er vorher mit der Planfeststellung für all die Projekte, die er noch durchziehen will, beginnt, und schon haben wir 2020 und noch später. Jeder weiß, dass sich der Bau von Schienenprojekten über Jahrzehnte hinziehen kann. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Mittel nicht reichen. Dafür haben wir ein besonders unrühmliches Beispiel, das wir eigentlich bis 2020 fertigstellen sollten. Ich denke da an die Rheintalbahn. Der Entwurf hält nämlich ausdrücklich fest, dass kein zusätzliches Geld ausgegeben werden soll. Dann wird alles noch länger dauern. Wer Pech hat, bekommt auch noch in vielen Jahren eine neue Schienenstrecke in alter Lautstärke vor die Nase gesetzt. Soll das etwa eine ernsthafte Lösung für die von Güterzuglärm geplagten Anwohner sein? Wohl kaum. Hinzu kommt, dass es auch nur für Neubaustrecken in ferner Zukunft gilt. Das eigentliche Problem - beispielsweise das Mittelrheintal - sind die bestehenden Strecken, aber die haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, im Gesetzentwurf explizit ausgeschlossen. ({1}) Alte Strecken sind laut und dürfen es Ihrer Meinung nach bleiben. Es wird keinen Rechtsanspruch auf Sanierung bestehender Strecken geben. Nur wenn es im Haushalt entsprechende Mittel gibt, kann überhaupt etwas passieren. Die Koalition lehnt aber eine Erhöhung der Mittel ab - auch das steht in Ihrem Gesetzentwurf -, und dann schauen die Betroffenen noch lange in die Röhre. ({2}) Das alles zeigt uns: Auf die größte Frage des Problems hat diese Koalition in der Endzeit keine Antwort. ({3}) Die Kernfrage lautet letztendlich: Wollen wir als Gemeinschaft, als Gesellschaft auf Kosten von Millionen von Menschen weiter Krach machen? Darum geht es, und darüber müssen wir diskutieren. Verkehrslärm ist neben Luftverschmutzung der zweitgrößte Verursacher von Gesundheitsrisiken. Auch soziale Folgen sind spürbar, weil ärmere Menschen häufig an lauten Orten - diese sind nämlich billiger - leben. Die standortbedingten gesundheitlichen Probleme verstärken sich damit weiter. Das, Kolleginnen und Kollegen, sind die Probleme, über die wir reden müssen. Das sind die Probleme, für die wir eine Lösung brauchen. Aber leider hilft uns Ihr Gesetzentwurf dabei keinen Schritt weiter. ({4}) Wir brauchen deswegen eine breite gesellschaftliche Debatte. Lassen Sie uns darüber reden, wie lange Menschen noch unter Verkehrslärm leiden sollen. Wir müssen diskutieren, was uns das wert ist. Es geht nicht nur allein um die Abschaffung des Schienenbonus; ich glaube, wir sind uns alle einig, dass es dazu kommen muss. Vielmehr muss es jetzt darum gehen, wie wir die Mittel dafür generieren können - und zwar schleunigst und nicht erst 2020 oder noch später.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Wilms, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dem müssen wir uns stellen - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss -; denn alles andere ist nur Placebo oder maximal eine Beruhigungspille. Die wollen Sie der Tribüne zwar verpassen, aber sie wird die Ursache nicht beseitigen. ({0}) Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Steffen Bilger für die Unionsfraktion. ({0})

Steffen Bilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich mich auf den Weg ins Plenum gemacht habe, habe ich eigentlich gedacht, uns könnte vielleicht doch ein harmonischer Abschluss dieses Sitzungstages erwarten. ({0}) Denn im Ziel, der Abschaffung des Schienenbonus, sind wir uns alle einig. Dann habe ich allerdings, Frau Dr. Wilms, Ihren Twitter-Beitrag gelesen und die Rede von Herrn Herzog gehört und festgestellt: Die Oppositionsreflexe dominieren leider auch diese Debatte. ({1}) - Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Kollege Herzog: ({2}) Wir haben nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir den Schienenbonus abschaffen, sondern wir haben uns bereits im März 2011 in unserem Antrag zur Rheintalbahn dazu bekannt, und ich kann Ihnen versichern, dass auch der Bundesverkehrsminister für die Abschaffung des Schienenbonus einsteht. ({3}) Nicht zuletzt deswegen können wir heute auch diesen Antrag vorlegen. Schon bei unserer letzten Debatte - daran erinnern mich einige Beiträge -, die im April 2012 - Kollege Herzog hat es gesagt - stattgefunden hat, habe ich für unsere Koalitionsfraktionen bekräftigen können, dass wir den Schienenbonus abschaffen wollen, und bereits damals - ich habe im Protokoll nachgelesen - mussten wir uns vorwerfen lassen, wir seien eine Koalition der Verweigerung und der Vertagung. ({4}) Wir würden nichts auf die Reihe kriegen. Das alles hat sich nun als das erwiesen, was es auch damals schon war, nämlich reines Oppositionspoltern. ({5}) Ich kann mich nicht nur an die Debatte erinnern, sondern auch an viel Unterstützung, die wir von den Bürgerinitiativen bekommen haben, aber durchaus auch an kritische Nachfragen, wann denn dem Lippenbekenntnis Taten folgen würden. Das ist heute der Fall. Die Koalition steht nach wie vor ganz klar zu der Aussage im Koalitionsvertrag: Wir schaffen den Schienenbonus ab. Ich will deutlich machen, dass der Schienenbonus heute nicht mehr zeitgemäß ist. Damals, als der Schienenbonus eingeführt wurde, gab es Untersuchungen, die belegen sollten, dass es gerechtfertigt wäre, diesen Schienenbonus einzuführen, weil bei dem Halbstundentakt, der früher üblich war, der Schienenlärm eher verträglich sei, als es beispielsweise beim Straßenlärm der Fall sei. Heute, in Zeiten, in denen die Zugtaktung sehr viel enger ist, wissen wir, dass dieser Schienenbonus nicht mehr zeitgemäß ist. Damals hat man auch gedacht, dass man der Bahn etwas Gutes damit tun würde, wenn der Schienenbonus eingeführt wird. Mittlerweile muss man sagen, dass eher das Gegenteil der Fall ist; denn für Schieneninfrastrukturprojekte in der Zukunft wird es immer wichtiger, dass die Akzeptanz bei der Bevölkerung gewährleistet ist. ({6}) - Zur Rheintalbahn komme ich gleich noch ausführlich, lieber Herr Kollege. Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass Schienenlärm eine enorme Belastung für die Bevölkerung darstellt. Deswegen wurde es auch zu einer Art Symbol für die Bevölkerung, wenn es um den Kampf für mehr Schutz vor dem Schienenlärm geht, den Schienenbonus abzuschaffen. Auch und gerade deshalb ist die Abschaffung des Schienenbonus ein Zeichen, dass wir das Lärmproblem sehen und verstanden haben, dass wir uns als Verkehrspolitiker an diese Aufgabe machen müssen. ({7}) Dabei soll es aber nicht bleiben. Es kann noch viel mehr getan werden. Der Bund ist schon in der richtigen Richtung unterwegs: freiwilliges Lärmsanierungsprogramm, ({8}) lärmabhängiges Trassenpreissystem und die Einführung neuer und damit leiserer Bremsen. Die Abschaffung des Schienenbonus ist aber nicht nur ein Symbol, sondern sie wird massiv hörbar sein. ({9}) Wir haben es heute schon gehört: Das Privileg, auf der Schiene 5 Dezibel mehr Lärm produzieren zu dürfen, bedeutet im Klartext - das zeigen auch Studien beispielsweise des Umweltbundesamtes -, dass der Lärmpegel um 50 Prozent höher ist. Das gilt es zu ändern. ({10}) Die Lärmschutzmaßnahmen werden aufgrund der Abschaffung des Schienenbonus deutlich umfassender werden. Das sind gute Nachrichten für die Menschen, die entlang der Bahnstrecken wohnen. ({11}) Damit wird endlich der Lärm nicht mehr abqualifiziert, sondern als das beschrieben, was er ist, nämlich als massiver Störfaktor. ({12}) Dabei - das will ich auch deutlich sagen - ist natürlich klar, dass die Abschaffung des Schienenbonus erst für Neubaumaßnahmen gelten wird, die ab Inkrafttreten der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes im Jahr 2015 geplant werden. Wir bedauern sicherlich alle, dass nicht sofort eine Regelung für alle lärmgeplagten Anwohner gefunden werden kann. ({13}) Aber wenn Sie einmal ehrlich sind, liebe Kollegen von der Opposition, wenn Sie hier in der Verantwortung wären und als Regierungsfraktion einen Antrag zur Abschaffung des Schienenbonus vorlegen müssten, wäre Ihnen auch kein anderer Weg möglich. ({14}) Schließlich geht es hier um Planungen, die über den Haufen geworfen werden würden. Wir müssen auch daran denken, dass der Haushalt bei einer sofortigen Abschaffung des Schienenbonus infrage gestellt werden würde. Trotzdem ruhen wir uns nicht darauf aus. ({15}) Wir müssen daran arbeiten, dass der Verkehr in Deutschland insgesamt leiser wird. Deshalb finanziert der Bund unter anderem die Umrüstung auf leise Güterzüge. ({16}) Meine Damen und Herren, schon lange beschäftigt uns das Thema Schienenlärm im Bundestag. Als Koalitionsfraktion haben wir uns bereits im März 2011 in unserem Antrag zur Rheintalbahn dafür eingesetzt, dass dieses wichtige Bahnprojekt so geplant wird, als wenn der Schienenbonus bereits abgeschafft wäre. Darauf hatten wir uns - die Wahlkreisabgeordneten Armin Schuster und Peter Götz können es bestätigen - mit den anderen Beteiligten, mit den Bürgerinitiativen, mit den Landesregierungen, mit der Bundesregierung, mit den kommunalen Vertretern und der Deutschen Bahn verständigt. Das kann doch ein gutes Beispiel auch für andere Projekte sein. ({17}) Abschließend kann ich meine Forderung aus der letzten Debatte nur wiederholen: Es würde uns in Deutschland sehr helfen, wenn die Europäische Union mittelfristig nur noch leise Güterzüge in Europa zulassen würde. Ein wichtiger Schritt für mehr Lärmschutz ist getan, sobald unser Gesetzentwurf beschlossen ist. Lassen Sie uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass weitere Schritte folgen. Vielen Dank. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Judith Skudelny. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wundere mich über den einen oder anderen Redebeitrag. ({0}) Ich spreche oft mit den Bürgerinitiativen vor Ort, die sich seit Jahren für die Abschaffung des Schienenbonus einsetzen. ({1}) Die meisten Parteien, die jetzt dagegen - ich sage einmal - maulen, dass wir nicht schnell genug sind und zehn Jahre gar nichts getan haben, müssten eigentlich ganz froh sein über unseren Gesetzentwurf. ({2}) - Natürlich muss ich lachen, weil Sie wissen, dass es für die Bürger im Rheintal nicht rechtzeitig kommen würde, selbst wenn wir morgen den Schienenbonus abschaffen würden. ({3}) Es geht darum, einen modernen, leistungsfähigen, zukunftsorientierten und menschenfreundlichen Schienenverkehr für kommende Generationen zu schaffen. ({4}) - Mehr als alle Regierungen vorher. Jetzt bitte eine Zwischenintervention. ({5}) Diejenigen, die hier am lautesten schreien, haben in den letzten Jahren am wenigsten gemacht. ({6}) Dieser Gesetzentwurf ist nicht wegen der Oppositionsparteien zustande gekommen, sondern wegen der Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Region, der Rheintalschiene. Das ist richtig. Die haben sich seit Jahren vor Ort in Bürgerinitiativen, in Kommunalräten, bei den Bürgermeistern, aber auch bei den Bundespolitikern dafür eingesetzt. Sie haben E-Mails geschrieben und im Vorder- und Hintergrund gearbeitet, damit heute und hier endlich der richtige Schritt in die richtige Richtung gemacht wird. ({7}) Der heutige Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. ({8}) Wir haben vorhin gehört, dass Rot-Grün die Lärmsanierung mit 50 Millionen Euro eingeführt hat. Ich darf Ihnen gratulieren. Wir haben bis heute den Betrag verdoppelt. ({9}) Es ist richtig, dass Kinderlärm privilegiert ist. ({10}) - An die Zwischenblöker von links: Ich muss lachen, weil mich die Debatte amüsiert, weil Sie so viel Quark erzählen, dass mir kaum noch etwas anderes einfällt, außer zu lachen. ({11}) Es ist durchaus richtig, dass Kinderlärm privilegiert ist. Auch das hat die ({12}) schwarz-gelbe Koalition gemacht. Das haben die anderen nicht geschafft. Oppositionslärm ist hinzunehmen. Nicht hinzunehmen ist Lärm von Güterverkehr, der bisher gegenüber dem Straßenverkehr privilegiert war und künftig nicht mehr privilegiert sein wird. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kollegen, überlassen Sie der Kollegin Skudelny bitte überwiegend das Wort. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, ich beende diese lustige Debatte damit, zu sagen, dass wir immer die richtigen Schritte gemacht haben, die Sie nicht auf die Reihe bekommen haben. Ich freue mich auf die Debatten im Ausschuss. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/10771 und 17/10780 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a und 8 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/8233 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungs- und mautrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 17/7046 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 17/10857 Berichterstattung: Abgeordnete Volkmar Vogel ({1}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche - Drucksachen 17/7487, 17/10857 Berichterstattung: Abgeordnete Volkmar Vogel ({3}) Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer. ({4})

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Tagesordnungspunkt gibt es sicherlich keine lustige, sondern vielmehr eine friedliche und kollegiale Debatte. ({0}) - Der Kollege von der Linksfraktion hat zu diesem Frieden nichts beigetragen. ({1}) Ich möchte mich zunächst sehr herzlich für die gute politische Kultur unter den Kolleginnen und Kollegen bedanken. Wir haben eine Einigung erzielt zwischen CDU/CSU, SPD, den Grünen und der FDP. Vier Fraktionen im Deutschen Bundestag zusammen mit den Bundesländern haben für die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung in Deutschland einen guten und sehr demokratischen kollegialen Beitrag geleistet. Herzlichen Dank dafür. ({2}) Obwohl es jetzt 22.50 Uhr ist, wäre gerade dieses für die Verkehrspolitik doch sehr wichtige Reformprojekt gut dafür geeignet gewesen, dass die Medien etwas öffentlichkeitswirksamer hätten darüber berichten können, anstatt es lediglich irgendwo in einem Einspalter darzustellen. Insbesondere angesichts der Vergabesituation in den Kommunen im Hinblick auf die Personenbeförderungsrealität hätte die Tatsache, dass jetzt auch die Liberalisierung der Fernbuslinien verwirklicht wird, mehr Raum in der öffentlichen Diskussion verdient gehabt. Ich denke, dass verkehrspolitisch ein Riesenschritt gemacht wurde, nämlich zum einen beim Schienenbonus für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger - darüber wurde vorhin diskutiert - und zum anderen mit Blick auf die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung vor Ort in den Gemeinden, in den Städten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Dr. Seiffert?

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Ja, natürlich. ({0}) - Wir haben doch Zeit. ({1})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine lieben Damen und Herren, Sie hätten ja den Tagesordnungspunkt weiter nach vorne setzen können, wenn Ihnen das jetzt zu spät ist für diese Frage. Herr Staatssekretär, nachdem Sie die vier Fraktionen gelobt haben, sind Sie bereit, zumindest einen Satz dazu zu sagen, dass es großen Drucks aus der Behindertenbewegung in ganz Deutschland bedurfte, Sie überhaupt auf den Gedanken zu bringen, bei der Liberalisierung des Fernreiseverkehrs auch an barrierefreie Busse zu denken, obwohl das die UN-Behindertenrechtskonvention als geltende Gesetzesgrundlage in Deutschland zwingend vorschreibt?

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe jetzt noch fünf Minuten und drei Sekunden Redezeit auf der Uhr stehen; ich wäre schon noch dahin gekommen. ({0}) Sie hätten auch noch Ihr Lob abbekommen. ({1}) Lassen Sie mich diese fünf Minuten noch reden. Ich hätte auch noch den Behindertenbeauftragten Hubert Hüppe hervorgehoben. Wir hatten zahlreiche Gespräche mit den Berichterstattern, woran sich die Linksfraktion nicht beteiligt hat. ({2}) Wir aber haben wenigstens die Berichterstattergespräche mit den Behindertenverbänden und dem Behindertenbeauftragten geführt. Hierzu wäre ich noch gekommen. Wenn Sie schon diesen Punkt herausgreifen, dann lassen Sie mich sagen: Es ist ein guter Schritt, dass auch die Verbände der Behinderten dazu bereit waren, Kompromisse einzugehen und von den Maximalforderungen abzuweichen. Dieser Gesetzentwurf wurde insgesamt sieben Jahre lang mit den verschiedenen Mehrheitsverhältnissen und in den verschiedenen Entwurfsstadien diskutiert. Dass wir jetzt miteinander diese Lösung erzielt haben, zeigt, wie kompromissbereit dieses Haus in den einzelnen Fraktionen ist. Es ist hervorzuheben, dass alle Beteiligten - die vier Fraktionen, die Bundesländer, die Verbände - ihren Beitrag zu diesem Kompromisswerk geleistet haben. ({3}) Gerade im Hinblick auf die vollständige Barrierefreiheit haben wir natürlich auch Verpflichtungen, die zu erfüllen wir uns vorgenommen haben. Aber bis dann 2020, 2022 diese Regelungen vollständig umgesetzt sein müssen, ist es zumindest ein guter Kompromiss, dass wir bei den Fernbuslinien für die Behinderten Plätze vorgesehen haben, und zwar jeweils mindestens zwei Plätze für die Rollstühle sowie die notwendigen Einstiegshilfen. Neben diesen Punkten ist natürlich auch der Schutz des öffentlichen Nahverkehrs von besonderer Bedeutung. Im Fernbuslinienverkehr soll freier Wettbewerb entstehen, um den Bürgerinnen und Bürgern komplette Wahlfreiheit zu geben: Sie können jetzt natürlich nach wie vor mit dem Pkw fahren, können aber genauso - wir alle wünschen das - auf den Zug, auf die Schiene umsteigen; diejenigen, die vielleicht nicht auf die Uhr schauen müssen und mehr Zeit haben oder auf den Geldbeutel schauen müssen, nämlich beispielsweise die Studenten und die Rentnerinnen und Rentner, können auf das Fernbuslinienangebot zurückgreifen. Das ist eine gute Botschaft. Wir haben an dieser Stelle Liberalität in der Mobilität erreicht. Das ist ein sehr guter Schritt. ({4}) Meine Damen und Herren, an dieser Stelle erlaube ich mir, die Kolleginnen und Kollegen hervorzuheben, die daran mitgewirkt haben: Dirk Fischer, Sören Bartol, Patrick Döring und Toni Hofreiter, die Berichterstatter der verschiedenen Fraktionen, unter der Moderation von Volkmar Vogel, vor allem auch die diversen Ländervertreter, die Fraktionsmitarbeiter und die Mitarbeiter unseres Hauses. Sie haben sich, wie gesagt, mehrere Jahre mit der nationalen Umsetzung kompliziertester Sachverhalte von europäischer Ebene beschäftigen müssen. Die Mitarbeiter Doose und Hamburger haben großen Einsatz gezeigt; sie mussten mit unseren Fraktionsmitarbeitern große Schmöker bearbeiten. Wenn ein Werk gut geworden ist, dann ist es Zeit, in einer solchen Debatte die Mitarbeiter hervorzuheben, ebenso die Kompromissbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen. Es ist eine gute Botschaft zu später Stunde, dass wir einen weiteren positiven Beitrag zur Entwicklung der Mobilität und der Verkehrspolitik in Deutschland geleistet haben. Ich freue mich, dass wir damit Klarheit für die vielen mittelständischen Unternehmen in dem Bereich schaffen, die über Jahre hinweg eine harte Zeit hatten. Denn es gab Bedenken und Ängste, die im Zusammenhang mit der Umsetzung europäischer Vorgaben auf nationaler Ebene aufkommen mussten. Es gab in den verschiedenen Verhandlungsstadien immer wieder große Diskussionen, Debatten, parlamentarische Abende, Anhörungen und vieles mehr. Es freut mich, dass wir heute zu diesem Ergebnis gekommen sind. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sören Bartol für die SPDFraktion. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Personenbeförderungsgesetz hat nicht nur uns Fachpolitiker seit mehreren Jahren beschäftigt: Kommunen, Verkehrsunternehmen und ihre Beschäftigten, Gerichte und vor allen Dingen eine Vielzahl von Juristen begleitet dieses Thema schon lange. Kaum jemand hat noch damit gerechnet, dass die Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes in dieser Legislaturperiode kommt. Deswegen freue ich mich umso mehr - der Kollege Staatssekretär hat es schon gesagt -, dass es uns Parlamentariern gelungen ist, einen Kompromiss zu finden, der - davon gehe ich ganz schwer aus - auch von einer breiten Mehrheit der Länder mitgetragen wird. Ab 2013 wird der öffentliche Nahverkehr in Deutschland einen neuen Rechtsrahmen haben, der mehr Rechtssicherheit bringt, vor allem aber ein qualitatives, hochwertiges Nahverkehrsangebot sichert. Ich möchte mich dem Dank an die Kolleginnen und Kollegen anschließen, die daran mitgearbeitet haben, vor allen Dingen dafür, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen haben und wir sachlich und konstruktiv über Monate hinweg an dem jetzt vorliegenden Kompromiss arbeiten konnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war, wie ich finde, Gesetzgebungsarbeit im besten Sinne. Zahlreiche Länder von A-, B- und neuerdings auch G-Seite haben uns mit ihrem fachlichen Rat unterstützt. Auch dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. ({0}) Leider stehen die Fernlinienbusse im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung; man sieht es auch an der Kurzbezeichnung des Tagesordnungspunktes. Ich kann es niemandem verdenken; denn der ÖPNV ist ein schwer zugängliches Expertenthema, ein Expertenthema, das allerdings konkrete Auswirkungen hat, auf das tägliche Leben der Menschen, die Busse und Bahnen nutzen, und auf die Beschäftigten in den Verkehrsunternehmen. Uns als SPD war es deshalb wichtig, dass die kommunalen Aufgabenträger die Gestaltungshoheit über das Verkehrsangebot bekommen. Sie sind diejenigen, die für die Daseinsvorsorge verantwortlich sind, und dieser Kompromiss setzt das auch um. Die Aufgabenträger bekommen eine klare Aufgabenbeschreibung und Handlungsinstrumente entsprechend der EU-Verordnung. Neben einer Vergabe in einem wettbewerblichen Verfahren sind Eigenerbringung und Direktvergabe ausdrücklich möglich. Das ist wichtig für die Kommunen und ihre Verkehrsunternehmen, aber auch für kleine und mittelständische private Unternehmen. Die Gewerkschaften, liebe Kolleginnen und Kollegen, begrüßen diesen Erfolg doch ausdrücklich. Die Besonderheit des deutschen Rechts, der Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre, bleibt, auch auf Wunsch der Länder. Dieser Vorrang wird aber dann eingeschränkt, wenn kommunale Aufgabenträger selbst aktiv den Nahverkehr gestalten wollen. Eigenwirtschaftliche Verkehre dürfen Qualitätsanforderungen zu Takt, Bedienzeiten und Barrierefreiheit nicht wesentlich unterschreiten, ansonsten bekommen sie keine Genehmigung. Welche Qualitätsanforderungen unter welchen Voraussetzungen gelten, wann Abweichungen davon wesentlich sind, das haben wir in einem langen, ich gebe zu, sehr komplizierten Paragrafen verfasst, der sicherlich kein Lehrbuchbeispiel wird. Aber was uns am Ende gelungen ist - ich glaube, darauf kommt es an -, ist ein System von Checks and Balances zwischen kommunaler Verantwortung auf der einen Seite und Unternehmensinteressen auf der anderen Seite, das Rosinenpickerei auf lukrativen Linien und die Unterschreitung von Qualitätsstandards wirkungsvoll verhindert. An zwei weiteren wichtigen Stellen wird das ÖPNVRecht modernisiert. Erstens. Im Nahverkehrsplan wird das Ziel vollständiger Barrierefreiheit vorgegeben. ({1}) Diese Regelung gilt ab 2022, und dann sind Ausnahmen - und das ist wirklich neu - nur noch mit Begründung möglich. Zweitens. Wir gehen außerdem einen ersten Schritt, um die Genehmigung alternativer Bedienformen zu erleichtern: Von Anrufsammeltaxen über Rufbusse bis hin zu Linienbandbetrieb - in der Praxis hat sich eine erfreuliche Vielfalt entwickelt, die endlich eine tragbare rechtliche Grundlage braucht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen: Bei der Liberalisierung der Fernbuslinien waren wir als SPD nicht von Anfang an vollauf begeistert. ({2}) Neben den Chancen eines zusätzlichen, preisgünstigen Mobilitätsangebots sehen wir allerdings auch die Risiken. Deswegen ist es uns besonders wichtig, dass in das Gesetz nun eine Regelung zum Schutz des Regionalverkehrs aufgenommen wird; denn der Regionalverkehr auf der Schiene wird mit viel öffentlichem Geld bezahlt, und er ist für viele Pendler - das muss man einmal deutlich sagen - alternativlos. Wir müssen die neue Entwicklung des Fernbusmarktes aufmerksam beobachten. Im Gesetz ist deshalb eine Berichtspflicht der Bundesregierung verankert, Anfang 2017 soll dieser Bericht dem Deutschen Bundestag vorliegen. In unserem gemeinsamen Entschließungsantrag fordern wir die Bundesregierung noch einmal auf, das Bundesamt für Güterverkehr personell so auszustatten, dass es diese neuen Fernlinienbusse auch effektiv kontrollieren kann. Es geht dabei um einen fairen Wettbewerb, die Arbeitsbedingungen der Fahrer und damit nicht zuletzt um die Sicherheit der Fahrgäste, und das von Anfang an. Ich freue mich besonders, dass es uns gelungen ist, bei den Fernlinienbussen Barrierefreiheit zur Pflicht zu machen. Ab 2016 gilt für neue Busse, dass sie mit zwei Rollstuhlplätzen und einem Hublift ausgestattet sein müssen. Ab Ende 2019 gilt das dann für alle Busse. Die Hersteller und die Unternehmen werden genug Zeit haben, sich darauf einzustellen. Was wir in den letzten Tagen in der Presse gelesen haben, dass das die Unternehmen überfordert, ist im Sinne einer modernen Politik für Menschen mit Behinderung eigentlich nicht mehr zu diskutieren. Die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz, die wir heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Rechtssicherheit und zu einem guten öffentlichen Nahverkehr. Mit den Fernlinienbussen wagen wir uns auf Neuland, unter jetzt vernünftigen Rahmenbedingungen, auf die wir uns alle gemeinsam verständigt haben. Dass dieser Kompromiss gelungen ist, das zeigt auch die politische Handlungsfähigkeit jenseits von manchmal doch recht tiefen ideologischen Gräben. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir freuen uns, dass der gefundene Kompromiss beim Personenbeförderungsgesetz innerhalb und auch außerhalb dieses Hauses breite Zustimmung findet. Es gibt nur kleine Unzufriedenheiten und Kritikpunkte. Das zeigt, dass es sich um einen ausgewogenen Kompromiss handelt. Er ist ein großer Erfolg aller beteiligten Fraktionen und auch der Bundesländer. Deswegen gilt mein herzlicher Dank im Namen der FDP-Bundestagsfraktion all jenen, die an diesem Kompromiss beteiligt waren. ({0}) Unser zentrales Anliegen war und ist, den bewährten Ordnungsrahmen für den ÖPNV in Deutschland an das geänderte europäische Recht anzupassen, aber auch nicht völlig umzukrempeln. Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern einen attraktiven und erfolgreichen ÖPNV. Mehr Transparenz und Wettbewerb tun aber auch dem ÖPNV in Deutschland gut. Dabei die Interessen der kleinen und mittelständischen, meist familiengeführten Busunternehmen zu wahren, war für die FDP ein zentrales Anliegen in den Verhandlungen. Das ist an den entscheidenden Stellen auch gelungen. Im ÖPNV bleibt es beim Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehre. Das ist ein Thema, das uns besonders wichtig war und bleibt. Das heißt, die Aufgabenträger können nur unter engen Voraussetzungen mit einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag eigenwirtschaftlichen Verkehr verdrängen. Auch im Fernverkehr haben wir nicht nur die weitgehende Liberalisierung erreicht, sondern auch das Genehmigungsverfahren entbürokratisiert. Das ist gut für Kunden, für Steuerzahler und das mittelständische Transportgewerbe. Deswegen können wir uns mit dem Ergebnis wirklich sehr gut anfreunden. Das ist auf Linie des Koalitionsvertrages, weil wir, wie Kollege Bartol zu Recht beschrieben hat, eine angemessene Rollenverteilung zwischen Staat und Markt im ÖPNV haben, die kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Instrument des Nahverkehrsplans und des öffentlichen Dienstleistungsauftrages konkreter als bisher beschrieben und gestärkt haben, es aber auch noch ausreichend Spielraum für eigenwirtschaftlichen Verkehr gibt. Dies kann durch verschiedene Vorgaben des Nahverkehrsplans quasi hinten herum nicht mehr ausgehebelt werden. Der eigenwirtschaftliche Genehmigungsantrag kommt, vereinfacht gesagt, nur dann nicht zum Zug, wenn er wesentlich von dem abweicht, was der Aufgabenträger an Verkehr bestellen will. ({1}) Wir freuen uns besonders über die wirklich überfällige Freigabe des Buslinienfernverkehrs. Diese Freigabe bedeutet natürlich nicht, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Es gelten strenge gewerberechtliche Anforderungen, was Zuverlässigkeit und Sicherheit angeht. Natürlich ist es weiterhin notwendig, eine Verkehrsgenehmigung, eine Liniengenehmigung zu beantragen. Der Unterschied zu vorher ist, dass man diese Genehmigung nicht mehr einfach mit der Begründung verweigern kann, dass es andere Unternehmer bzw. die Eisenbahn gibt. Der bisherige Wettbewerbsschutz entfällt. Das ist unserer Meinung nach nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit bei einer Tätigkeit, die der Staat nicht bezuschussen muss und die auch nicht in das eigentliche Tätigkeitsfeld staatlicher Aufgaben fällt. ({2}) Das heißt, wir vollziehen beim Busverkehr nichts anderes als das, was wir auf allen anderen Verkehrsmärkten haben. Heute würde ja auch keiner mehr auf die Idee kommen, einem Spediteur Beförderungsdienstleistungen zu verbieten, nur weil ein anderer sie erbringt. ({3}) Wir sind der Überzeugung, dass Wettbewerb und marktwirtschaftliche Ordnung auch im Verkehrssektor dafür sorgen, dass Kunden und die Volkswirtschaft profitieren, dass die Preise fallen, dass Service und Qualität sich verbessern. Das wird auch mit der Liberalisierung im Fernverkehr der Fall sein. Deswegen ist das gut und richtig. ({4}) Welche Angebote es nun geben wird - das wurde eben zu Recht angesprochen -, das kann niemand voraussagen. Wir wollen Marktchancen für etablierte Unternehmen, aber auch für junge, innovative Unternehmen. Wir werden sehen, wie sich der Markt entwickelt. Auf jeden Fall machen wir Schluss mit der Bevormundung des Bürgers, dem bis jetzt die Freiheit abgesprochen wurde, selbst zu entscheiden und auszuwählen, welches Fernverkehrsangebot er nutzen will. Der Fernbus ist gerade für Reisende mit geringem Einkommen eine hervorragende Alternative. Deswegen kann ich die Bedenken auf der linken Seite des Hauses nicht verstehen. Im Gegenteil: Es ist sogar unsozial, dass Sie ein solches Instrument ablehnen wollen. ({5}) Wir erhoffen uns von der Freigabe des Buslinienfernverkehrs natürlich auch, dass Bewegung in das Thema „Monopolstellung der Bahn“ kommt. Auch 20 Jahre nach der Bahnreform muss sich noch viel tun. Wir wissen: In den Bereichen, in denen wir Monopole haben, haben wir steigende Preise. Das ist auch bei der Bahn der Fall, wie wir gerade jetzt wieder merken. Deswegen sind wir der Überzeugung, dass ein wenig Konkurrenz auch die Bahn beflügeln wird. Vor allem wird das Verkehrsangebot breiter und besser. Von diesem neuen Angebot profitieren alle Kunden in unserem Land. ({6}) Uns war es besonders wichtig, dass wir mit dem neuen PBefG, dem Personenbeförderungsgesetz, verlässliche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit für alle Beteiligten, Aufgabenträger und Unternehmen, im ÖPNV schaffen und den Fernbusmarkt liberalisieren. Das ist ein Thema, über das seit fast zehn Jahren diskutiert wird. Deswegen freut es uns umso mehr, dass wir am Ende einen Erfolg haben. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, das Fotografieren einzustellen. Was soll das? Das ist eine Unsitte. Kollege Kurth, ich habe Sie gesehen. Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatssekretär Scheuer, man kann auch einen inhaltlichen Disput führen und dabei friedlich sein. Ich denke, im Bundestag haben wir das immer so gehandhabt. Die Linksfraktion hier als nicht friedlich darzustellen, geht, finde ich, ein bisschen zu weit. Lassen Sie uns bei den Argumenten bleiben. Der öffentliche Nahverkehr ist eine wichtige Lebensader unserer modernen Gesellschaft. Ebenso wie Stromund Wasserversorgung sowie die Müllabfuhr ist auch der Nahverkehr ein öffentliches Gut, zu dem jeder Zugang haben muss. Es war die Rede davon, die EU wolle vorschreiben, dass die kommunalen Verkehrsleistungen zukünftig ausgeschrieben werden müssen. Dadurch bestünde die Gefahr, dass EU-rechtlicher Vorrang für private Verkehrsanbieter in der Bundesrepublik geltendes Recht werden würde. Es kam anders: Die EU schreibt nicht ausdrücklich vor, dass Nahverkehrsleistungen an private Anbieter vergeben werden müssen; sie lässt es offen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den vier Fraktionen, die hier Gesetzentwürfe einbringen oder unterstützen, machen das aber nun, indem Sie die Möglichkeit einräumen, dass private Anbieter Vorrang bekommen. Genau das lehnen wir Linke ab. ({0}) Uns reicht auch eine kleine Klausel, die im Gesetzentwurf sicherlich enthalten ist, nicht aus, durch die man versucht, die sogenannte Rosinenpickerei zu verhindern. Wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, wird der Alltag aller Wahrscheinlichkeit nach zeigen, dass das allein nicht funktioniert. Die Linke ist somit die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag mit der Auffassung, dass Nahverkehrsleistungen primär öffentlich sein müssen. Eine gesetzliche Regelung, dass kommunale Verkehrsunternehmen den Verkehrsauftrag bekommen und dann einzelne Leistungen an Privatunternehmen weitervergeben, war alltagstauglich. Diese Regelung hätte fortgeschrieben werden können, auch nach neuem EU-Recht. Wenn Sie heute die künftige Bevorzugung privater Unternehmen durchwinken, dann bin ich sehr gespannt auf die Reaktionen Ihrer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, gerade der beiden großen Parteien CDU und SPD. Ich weiß nicht, ob der Applaus da so stark sein wird wie hier im Deutschen Bundestag. Sie drücken das hier durch; es Durchwinken zu nennen, wäre noch geschmeichelt. Am Dienstag haben Sie sich geeinigt - ich habe das im Ausschuss schon gesagt -, und am Mittwoch ist es im Schnellverfahren durch den Ausschuss gebracht worden. ({1}) Jeder durfte einmal etwas dazu sagen. Heute, am Donnerstag, geht es kurz vor Mitternacht durch das Plenum. Das ist eine sehr kurze Zeit, um einen Diskurs über Ihren Vorschlag zu führen. Man kann schon fast froh sein, dass das hier nicht einfach zu Protokoll gegeben wurde. Bei der Fernbusdebatte sieht es nicht viel besser aus. Ein Sprecher der Firma Touring - Touring ist einer der fünf großen Player; so viel zum Thema kleine mittelständische Unternehmen auf diesem Markt - brachte es auf den Punkt. Er hat gesagt, dass sein Unternehmen ausschließlich dort fahren wird, wo man zwischen den großen Metropolen richtig viel Geld verdienen kann. Die anderen Unternehmen haben sich nicht anders geäußert. Die Deutsche Bahn betreibt ja schon seit Jahren diese Firmenpolitik. Fernverkehrsbusse sollen eine preiswerte Alternative zur teuren Bahn darstellen. Das wurde immer wieder gesagt. Diese Busse fahren vor allen Dingen deshalb günstiger, weil die Löhne und Gehälter der Busfahrer wesentlich niedriger sind. Sie verdienen schlichtweg weniger als ein Lokführer. Sie sind auch deshalb günstiger, weil diese Busse keine Streckengebühr zahlen müssen. Während die Deutsche Bahn und auch private Bahnunternehmen auf der Schiene für jeden Kilometer viel Geld zahlen und für jeden Halt extra zahlen müssen, können diese Busse frei von zusätzlichen Kosten auf Autobahnen fahren, es sei denn - das kann man hier im Parlament noch ändern -, Sie stimmen heute unserem Antrag zu, den wir übrigens dankenswerterweise von der SPD übernommen haben. Die Zulassung der Fernbusse ohne Autobahnmaut ist nichts anderes als pure Wettbewerbsverzerrung zulasten der Bahn. ({2}) Positiv ist einzig die Entwicklung bei der Barrierefreiheit. Auch auf Druck der Linken - wir waren nicht die Einzigen, aber wir haben ganz massiv Druck gemacht - haben Bushersteller und Verkehrsunternehmen das Problem erkannt und bieten mittlerweile erste gute Lösungen an. Doch Ihr Gesetzentwurf enthält nun längere Übergangsfristen, auch wenn es nur ein Jahr ist, als die Unternehmen nach eigenen Angaben hätten realisieren können. Das wurde zumindest bei den Veranstaltungen deutlich. Letzter Satz, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie tatsächlich wollen, dass der Personenfernverkehr preiswerter wird, folgen Sie einfach dem Vorschlag, den ich in meiner letzten Rede gemacht habe: Senken Sie den Mehrwertsteuersatz für Fernverkehrsfahrkarten von 19 auf 7 Prozent! Dann würde in unser Verkehrswesen endlich europäischer Alltag einkehren. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Thema ist ein wunderschönes Beispiel dafür, dass selbst völlig verfahrene Situationen, wenn Parlamentarier die Dinge in die Hand nehmen, zu einem vernünftigen Ergebnis gebracht werden können. ({0}) Ich glaube, wir können uns alle zu dem Verfahren und dem Ergebnis gratulieren; das ist bereits gesagt worden, und wir haben uns gegenseitig gedankt. Man muss insbesondere den Mitarbeitern danken: den Mitarbeitern der Fraktionen, den Mitarbeitern des Ministeriums und den Mitarbeitern der Landesverkehrsministerien, mit denen wir sehr konstruktiv zusammengearbeitet und die uns sehr unterstützt haben. Außerdem können wir uns gegenseitig für den konstruktiven Umgang miteinander danken. ({1}) Welche sind die drei zentralen Punkte dieses Gesetzentwurfes? Es ist erstens die Regelung zum ÖPNV, zweitens sind es die Regelungen zur Barrierefreiheit, und drittens ist es die Regelung zum Fernverkehr. Was haben wir im Hinblick auf den ÖPNV erreicht? Natürlich sind wir nicht mit allen Regelungen hundertprozentig glücklich. Warum? Weil es sich um einen Kompromiss zwischen 4 Fraktionen und 16 Bundesländern handelt. Natürlich kann angesichts dessen niemand sagen, er habe sich zu 100 Prozent durchgesetzt. Sonst wäre das ein unanständiger Kompromiss, weil jemand anders über den Tisch gezogen worden wäre. Beim ÖPNV haben wir erreicht - da irren Sie sich, Herr Lutze -, dass die Aufgabenträger, die demokratisch bestimmten Aufgabenträger, wenn sie es denn wollen und wirklich Geld dafür in die Hand nehmen, jetzt einen vernünftigen ÖPNV anbieten können. ({2}) Das ist die Neuerung, und das war ein Kompromiss. Der Kompromiss lautet: wenn sie es wollen und ernsthaft Geld hinterlegen. Das ist im Gesetzentwurf klar geregelt. Des Weiteren ist geregelt, dass eine Kommune, die ein eigenes kommunales Verkehrsunternehmen betreibt, das gut arbeitet - auch dafür gibt es Kriterien -, direkt an dieses Unternehmen vergeben darf. ({3}) Genau das, von dem Sie bemängelt haben, dass es nicht im Gesetzentwurf geregelt sei, ist also im Gesetzentwurf geregelt. Selbstverständlich hätten wir uns beim Thema Barrierefreiheit mehr gewünscht. Ich glaube, man kann sogar sagen, dass wir alle uns bei diesem Thema mehr wünschen würden. Hier sind aber gar nicht so sehr die Fernbusse das Problem, ({4}) sondern das zentrale Problem ist der allgemeine ÖPNV. ({5}) Aber woran liegt es? Es liegt daran, dass es U-Bahn-Systeme gibt, die zum Teil fast 100 Jahre alt sind, ({6}) und dass es Unmengen von Bahnhöfen gibt, die uralt sind. Hier war nun einmal nichts anderes möglich, als den Ländern - allerdings mit vollem Verständnis für die Länder - Übergangsregelungen zuzugestehen. Schließlich können die Länder kein Geld schnitzen, um diesen Prozess zu gestalten. Wie gesagt, wir hätten uns hier viel mehr gewünscht. Es gab auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie schnell man etwas erreichen kann. Es war nicht mehr drin, und die gefundene Lösung ist im Vergleich zur bestehenden Regelung ein großer Fortschritt. ({7}) Zu den Fernbussen. Ja, wir haben den Fernbusverkehr liberalisiert. Das Umweltbundesamt hat festgestellt, dass ein Fernbus, wenn er vernünftig besetzt ist, unter ökologischen Aspekten ähnlich gut zu bewerten ist wie die Bahn. Die Regelung, die wir getroffen haben, sieht vor: Wenn jemand bereit ist, eine Buslinie, ein ökologisches Verkehrsmittel, anzubieten, und dafür nicht einen Cent vom Staat will, dann darf er das tun. Was ist daran schlimm? ({8}) Seien Sie ehrlich: Was ist daran schlimm, dass jemand, der bereit ist, seinen Kunden ein ökologisches Verkehrsmittel anzubieten, dies jetzt tun darf? Hier wäre ich mit Kritik ganz vorsichtig. Wenn ich mir anschaue, wer zu wessen Klientel gehört, muss ich nämlich sagen: Ich glaube, dass dies gerade für Menschen mit geringerem Einkommen eine hervorragende Alternative ist. ({9}) Insgesamt glaube ich, dass wir einen guten Kompromiss gefunden haben. Auf diesen Kompromiss können wir stolz sein. Jetzt geht es darum, dieses Vorhaben möglichst schnell durch den Bundesrat zu bringen; aber da bin ich sehr optimistisch. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner ist Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, das ist ein versöhnlicher Abschluss eines doch auch kontroversen Plenartages. Nicht, dass ich irgendetwas gegen kontroverse Debatten habe, ganz im Gegenteil, das macht Demokratie aus, aber das, was wir hier gerade auch der interessierten Öffentlichkeit gezeigt haben, ({0}) ist vor allen Dingen eine Wertschätzung derjenigen, die jeden Tag mit dem Bus oder als Eisenbahner die Menschen sicher und zuverlässig transportieren und befördern. ({1}) Wir sehen, dass es mittlerweile 23.20 Uhr ist. Das ist auch ein richtiges Signal, weil es um diese Zeit gerade die von mir eben erwähnten Mitarbeiter sind, die ihren Dienst ordentlich tun, und wir müssen dafür sorgen, dass die rechtlichen Grundlagen so gestaltet sind, dass das auch in Zukunft weiter so geschehen kann. Eines muss man nämlich auch sagen: Der ÖPNV und der Fernverkehr in Deutschland können sich bei aller Kritik, die wir auch üben müssen, weltweit sehen lassen. Sie sind beispielgebend, und für uns ist es wichtig, dass wir dieses System erhalten und ausbalancieren, damit es ein vernünftiges Miteinander der einzelnen Strukturen gibt, nämlich der mittelständischen Unternehmen, die viel in unserem Land tun und viele fleißige Mitarbeiter haben, mit den qualitativ hochstehenden kommunalen Betrieben, die hier die notwendigen Pflichten zur Daseinsvorsorge auch in der Praxis erfüllen. Bei den Gesprächen über das Gewerbe stand eines fest - das wurde uns sehr schnell klar -: Dieses Thema taugt nicht für ideologische Auseinandersetzungen oder für den Vermittlungsausschuss. Wir von CDU/CSU und FDP waren uns sehr schnell im Klaren darüber, und als wir unsere Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ansprachen, haben wir gemerkt, dass sie das genauso sehen. Das war die Grundlage für die Verhandlungen, die hart, aber niemals zäh waren; denn sonst würden wir heute noch sitzen und verhandeln. Sie waren auch immer fair; denn sonst hätten wir heute keinen so tragbaren Kompromiss. All den Mitarbeitern aus unseren Fraktionen, aus dem Bundesverkehrsministerium - Herr Doose und Herr Hamburger -, aus den Länderministerien bzw. aus den Ländern und auch aus den Verbänden, die uns dabei unterstützt haben, gilt auch heute unser Dank. Den möchte ich hier für meine Fraktion auch noch einmal bestärken. ({2}) Es war nicht leicht. Wir mussten einen Kompromiss finden zwischen dem Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehre, die uns wichtig sind, weil für uns auch die Gleichbehandlung der mittelständischen Unternehmen in diesem Markt wichtig ist, und den Pflichten zur Daseinsvorsorge, die bei den kommunalen Aufgabenträgern liegen und bestimmte Zwänge auslösen. Wir mussten uns darüber verständigen: Wie wollen wir in Zukunft den Nahverkehrsplan gestalten? Wie gestalten wir das Verhältnis zwischen dem Aufgabenträger mit den Pflichten, die er hat, und den Rechten, die sich daraus für ihn ableiten, und einer neutralen Genehmigungsbehörde, die darüber wacht, dass das Gesetz ordnungsgemäß angewendet wird? Wir mussten auch einen Kompromiss finden zwischen dem Willen der christlich-liberalen Koalition zur Liberalisierung des Fernbusverkehres und den Zwängen, die bestehen, um vor allen Dingen den schienengebundenen Nah- und Fernverkehr zu schützen. Ich glaube, wir haben in all diesen Bereichen sinnvolle Regelungen geschaffen. Meine Vorredner haben darauf hingewiesen. Ich muss das nicht noch im Einzelnen darlegen. ({3}) Trotz alledem ist es wichtig, dass wir gerade im Bereich des Fernverkehrs einfache Lösungen gefunden haben. Hätten wir die Freigabe des Fernverkehrs mit zu weitreichenden Vorgaben belastet, dann wäre der Start Volkmar Vogel ({4}) dieses neuen Marktsegmentes sicherlich schwieriger gewesen - vielleicht nicht für die Großen am Markt, die europaweit agieren, auf alle Fälle aber für die vielen Kleinen, die hier neue Chancen zur Betätigung sehen und aktiv sein wollen. Gerade in diesem Bereich war die Barrierefreiheit natürlich ein wichtiger Punkt, über den wir auch gemeinsam diskutiert haben. Die Barrierefreiheit ist wichtig, weil sie jeden von uns betreffen kann. Auf der anderen Seite hat Barrierefreiheit nicht nur für Menschen mit körperlicher Behinderung, sondern auch für junge Familien mit Kinderwagen eine Bedeutung, die genauso entsprechende Einstiegsmöglichkeiten haben müssen. ({5}) Mit dem Kompromiss, den wir hier gefunden haben, so denke ich, werden wir den berechtigten Anliegen der Behinderten gerecht. Andererseits können auch die Unternehmen, vor allen Dingen die kleinen Unternehmen, wenn es um Investitionen geht, mit den wirtschaftlichen Zwängen leben. Zum Abschluss lassen Sie mich noch zwei Worte zu unserem Entschließungsantrag sagen. Ich denke, die Tatsache, dass wir einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorlegen, zeigt, dass wir an diesem Thema gemeinsam dranbleiben wollen. Die Stärkung des BAG ist ein richtiger Ansatz, damit es auch in Zukunft die erweiterten Kontrollaufgaben, die sich mit dem Markt Fernbuslinienverkehr ergeben, realisieren kann. Daran müssen wir arbeiten. Abschließend muss man sagen: Barrierefreiheit heißt natürlich auch technische Umsetzung. Wir haben in Gesprächen erfahren, dass die technischen Standards, die aus unserer Sicht europaweit bei Fernbussen gelten müssen, noch nicht in der Schärfe vereinheitlicht sind, wie das notwendig wäre. Man muss auch hier sehen: Wir wollen die Barrierefreiheit und das Angebot dafür im Fernverkehr haben. Das heißt aber für die Unternehmen, die das umsetzen müssen, Planungssicherheit und Investitionssicherheit, sodass sie nicht am Ende einen Bus kaufen, der zwar augenscheinlich Barrierefreiheit gewährleistet oder Plätze für Behinderte bietet, aber dann nicht den beschlossenen Standards entspricht. An diesem Punkt müssen wir weiter arbeiten. Das werden wir gemeinsam im Auge behalten. Ich denke, um diese Zeit kann man sagen, dass wir diesen Tag zu einem guten Abschluss gebracht haben. Ich möchte Sie darum bitten, dass Sie alle gemeinsam, auch die Linken, unserem Gesetzentwurf zustimmen. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschrif- ten. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8233 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände- rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/10858? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim- men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der Linken mit Zustimmung der übrigen vier Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Hierzu liegt eine persönliche Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Ilja Seifert vor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent- schließungsanträge. Zunächst Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/10859. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist von den beantragenden Fraktionen bei Enthaltung der Linken an- genommen. Nun Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10860. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehr- heitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung personenbeförde- rungs- und mautrechtlicher Vorschriften. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Empfehlung auf Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf der Fraktio- nen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/7046 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstim- mig angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/7487 mit dem Titel „Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienen- verkehrs in der Fläche“. Wer stimmt für diese Beschluss- 1) Anlage 2 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse empfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der vier Fraktionen gegen die Stimmen der beantragenden Fraktion Die Linke angenommen. Nun kommt eine ganze Reihe von Abstimmungen und von zu Protokoll gegebenen Reden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Lothar Binding ({1}), Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie für die zivile Krisenprävention - zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller ({2}), Marieluise Beck ({3}), Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Marieluise Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln - Drucksachen 17/4532, 17/5910, 17/6351, 17/8711 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Edelgard Bulmahn Joachim Spatz Jan van Aken Kerstin Müller ({6}) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind einverstanden.1) Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/8711. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4532 mit dem Titel „Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie für die zivile Krisenprävention“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5910 mit dem Titel „Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6351 mit dem Titel „Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Auch hier haben CDU/CSU, FDP und Linke dafür gestimmt und SPD und Grüne dagegen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes - Drucksachen 17/10744, 17/10797 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re- den zu Protokoll zu geben.2) - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/10744 und 17/10797 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Graf ({9}), Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Glücksspielsucht bekämpfen - Drucksachen 17/6338, 17/10695 Berichterstattung: Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit Dezember 2011 wird der Entwurf zur 6. Verord- nung zur Änderung der Spielverordnung mit Ressorts, Ländern und Verbänden abgestimmt. Der Entwurf greift die Vorschläge zur Verbesserung des Spieler- und Ju- 1) Anlage 5 2) Anlage 6 gendschutzes bei den Geldspielgeräten auf, die im Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Evaluation der 5. Spielverordnung enthalten sind. Das ist gut und richtig, denn Glücksspiel ist weit verbreitet. 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben im vergangenen Jahr schon einmal an einem öffentlich angebotenen Glücksspiel teilgenommen. Rund 9 Prozent der Bevölkerung haben bereits an Geldspielautomaten in Spielhallen und Gaststätten gespielt. Aber auch 11 Prozent der Deutschen haben ein oder mehrmals die Spielbanken aufgesucht und dort am sogenannten großen Spiel an den Spieltischen oder am sogenannten kleinen Spiel an den dortigen Spielautomaten teilgenommen. Besorgniserregend ist in der Tat - insoweit teile ich die Grundüberlegung Ihres Antrages -, dass mittlerweile rund 1,4 Prozent der Bevölkerung in den letzten 12 Monaten risikoreich gespielt haben, 0,3 Prozent problematisch und 0,35 Prozent spielten pathologisch Glücksspiele, wobei pathologisches Glücksspiel als eigenständige psychische Erkrankung im internationalen diagnostischen System des CDI-10 anerkannt ist. Die Suchtpotenziale unterscheiden sich nach Art des Spiels. Die Teilnahme an Sportwetten, dem kleinen Spiel in der Spielbank, Poker und Geldspielautomaten ist mit einem erhöhten Risiko für pathologisches Glücksspiel verbunden. Geldspielautomaten haben nach allen Untersuchungen das höchste Suchtpotenzial. Das ist auch einleuchtend, denn zum einen erlebt der Spieler mit der schnellen Spielefrequenz und der bislang erlaubten Mehrfachbespielung den Verlust immer weniger. Er hat keine Zeit, zu realisieren, dass im Augenblick des Spiels vor dem neuen Druck auf die Taste der Einsatz weg ist. Zum andern wird mit höherem Einsatz der Anreiz, den Verlust auszugleichen, auch unmittelbar höher. Vor allem sind die Automatenspiele außerhalb der staatlichen Spielbanken in Spielhallen und Gaststätten überall verfügbar. Deshalb ist es sicher richtig, dort anzusetzen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Ihr Antrag ist mit dem Adressaten Bundesregierung überwiegend an die falsche Adresse gerichtet. Mit der Föderalismusreform im Jahr 2006 ist die Kompetenz für die Hallen auf die Länder übergegangen, und zum 1. Juli 2012 ist auch der neue Glücksspielstaatsvertrag der Länder in Kraft getreten. Ich gehe deshalb auch davon aus, dass Sie Ihre Forderungen und Anregungen bei ihren jeweiligen Landesregierungen erfolgreich angebracht haben. Der Bund bleibt lediglich für die gerätebezogene Regelung zuständig. Nicht nur in diesem Teilbereich sind wir uns in der christlich-liberalen Koalition selbstverständlich unserer Verpflichtung bewusst. Ich will hier auch darauf hinweisen, dass das BMG seit 2007 im Rahmen eines Modellprojektes mit einer Gesamtsumme von 1,1 Millionen Euro die Entwicklung und Erprobung von frühen Interventionen bei pathologischem Glücksspiel fördert. Schon jetzt steht fest, dass die Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit dem Modellprojekt gelungen ist. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist umfassend tätig; ich nenne als Beispiel das Beratungstelefon. Soweit Sie den Einsatz auf europäischer Ebene anmahnen, hat Deutschland im Rahmen der Ratsarbeit zum Glücksspiel selbstverständlich auf die Bedeutung hingewiesen, die dem Schutz der Allgemeinheit vor unkontrolliertem Glücksspiel zukommt. Es geht dabei insbesondere um den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der Spielsucht und den Schutz vor Folge- oder Begleitkriminalität. Spielerschutz und Vorbeugung sind mir wichtige Anliegen. Die christlich-liberale Union wird alles dafür tun, dass in ihrem Einflussbereich Spielerschutz und Prävention zentraler Punkt jeder Neuregelung sind. Deshalb sind natürlich neue, gerätebezogene Regelungen nach der Evaluation der 5. Spielverordnung dringend notwendig. Denn die früheren Unterhaltungsspiele, bei denen der Geldeinsatz nur dazu dienen sollte, das Gerät zu bedienen, wie zum Beispiel bei den Flipperautomaten, gibt es kaum noch. Das Unterhaltungselement trat im Laufe der Zeit in den Hintergrund. Heute dominiert bei den Automaten der Gewinnaspekt. Gerade durch die Novellierung der Spielverordnung 2006 wurden die Ereignisfrequenz, die Illusion der Beeinflussbarkeit von Einsatz und Gewinn erhöht. Es ist vor allem festzuhalten, dass mit der folgenden zunehmenden Attraktivität des Automatenspiels nicht gleichzeitig die Schutzmaßnahmen zur Verhinderung von Sucht angepasst wurden. Die Evaluation der 5. Spielverordnung hat ergeben, dass der damals beabsichtigte Schutz zum Beispiel mit dem Verbot der Fungames durchaus erreicht wurde. Allerdings konnten die Vorgaben vor allem illegale Praktiken, insbesondere bei den Punktspielen, wie das sogenannte Vormünzen, nicht ausreichend verhindern. Der Jugendschutz in den Hallen wurde weitestgehend eingehalten; aber in den Gaststätten liegt oder lag offenbar vieles im Argen. Der Entwurf der 6. Spielverordnung greift nun bereits viele Aspekte auf: Er sieht erfreulicherweise Maßnahmen zur Verbesserung des Jugend- und Spielerschutzes vor. Zudem sollen die gerätebezogenen Regelungen generell verschärft werden. Zu diesem Zweck sollen Spielanreize und Verlustmöglichkeiten durch die Absenkung des maximalen Durchschnittsverlustes pro Stunde begrenzt, das sogenannte Punktspiel eingeschränkt und die Mehrfachbespielung eingedämmt werden. Vorgesehen ist die Einführung einer Spielunterbrechung mit Nullstellung der Geldspielgeräte nach drei Stunden. Das sogenannte Vorheizen der Geldspielgeräte, also das Hochladen von Punkten durch das Personal der Spielstätte, wird ausdrücklich verboten. Die Mehrfachbespielung von Geldspielgeräten wird weiter eingedämmt durch eine Reduzierung der Geldspeicherung in Einsatz- und Gewinnspeichern und eine Verschärfung der Beschränkung von Automatiktasten. Insgesamt soll so der Unterhaltungscharakter der Geldspielgeräte wieder gestärkt werden. Das bestehende Spielverbot für Jugendliche soll durch Verschärfung der Regelungen zu Automaten in Gaststätten gestärkt werden. Um schneller auf Fehlentwicklungen reagieren zu können, sollen die Bauartzulassung und die Aufstelldauer für Geldspielgeräte befristet werden. Alles in allem ist das, meine ich, eine gute Entwicklung. Zu Protokoll gegebene Reden Wenn wir von Mängeln und Versäumnissen reden, die sich aus der Evaluation deutlich erkennen lassen, ist mir aber eine differenzierte Betrachtung wichtig: Ich wehre mich entschieden dagegen, dass eine gesamte Branche, die nach wie vor ein zulässiges Gewerbe betreibt, Ausbildungs- und Arbeitsplätze schafft und Steuern zahlt, in Verruf gebracht wird, um die schwarzen Schafe - die es sicher in der Branche gibt - zu erfassen. Selbstverständlich müssen Regeln eingehalten werden und muss jeder, der versucht, Regeln zu umgehen, empfindlich bestraft werden. Zurzeit sind einige suchtpolitische relevante Vorgaben - wie beispielsweise das Auslegen von Informationsbroschüren über die Risiken des übermäßigen Spielens - noch nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet. Das geht so nicht und ist zu ändern. Auch ist die Höhe der Bußgelder für viele Ordnungswidrigkeiten-Tatbestände zu gering. Das BMWi will die Bußgeldandrohung bei Verstößen gegen die Spielverordnung von 2 500 Euro auf 5 000 Euro anheben. Hier werde ich auf empfindlichere Bußgelder hinwirken. Ich rede aber jetzt nicht nur von den Erhöhungen im Ordnungswidrigkeitenbereich, sondern von krimineller Energie. Nicht zuletzt hat das BMF Ergänzungen der Spielverordnung um Regelungen zur Datenspeicherung und zur Verbesserung des Manipulationsschutzes zur Verhinderung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung verlangt. Die entsprechenden Vorschläge werden aktuell erarbeitet. Es geht um die Bauartzulassung, die künftig nur erteilt werden soll, wenn sämtliche von der Kontrolleinrichtung in Spielgeräten erfasste Daten dauerhaft und jederzeit verfügbar, lesbar und auswertbar sind und wenn vor allem nachträgliche Änderungen erkennbar bleiben. Die Umstellung erfordert insbesondere Anpassungen der technischen Richtlinien der PTB, neue Schnittstellenstandards und Auslesetechniken sowie angemessene Übergangsfristen. Infolgedessen sind die Vorarbeiten zur 6. Spielverordnung auch noch nicht abgeschlossen. Ich konnte mich jedenfalls in vielen Gesprächen, denen auch Taten gefolgt sind, selbst davon überzeugen, dass die Branche die Probleme erkannt hat und durchaus bereit ist, mitzuwirken. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass das Element der freiwilligen Selbstkontrolle Teil der Regelung bleibt und dass erst dann, wenn diese nicht funktioniert, die staatliche Repression - dann aber auch mit aller Schärfe - einsetzt. Noch ein Aspekt ist mir wichtig: Allein mit weiteren technischen Vorschriften kann der Spielerschutz auf lange Sicht nicht sichergestellt werden. Ein Gutachten von Professor Tilmann Becker, Universität Stuttgart-Hohenheim, nimmt unter anderem zu Maßnahmen der Aufklärung und Information von Spielern und Mitarbeitern und zum Schutz der gefährdeten Spieler Stellung. Professor Becker zeigt, dass Identitätskontrollen eine Maßnahme sind, um die soziale Verfügbarkeit zu verringern. Er stellt dar, dass die Selbstsperre zu den effektivsten Maßnahmen des Spielerschutzes gehört, und er erklärt, dass eine Verpflichtung der Anbieter, Sozialkonzepte vorzulegen, die Mitarbeiter zu schulen sowie die Spieler aufzuklären und zu informieren, maßgeblich zur Prävention beitragen kann. Die Studie weist nach, dass der Automatenspieler einen Spielemix in Anspruch nimmt. Neben dem Spiel in den Spielstätten pokern 52,2 Prozent. 42,9 Prozent spielen auch in Automatensälen von Spielbanken und 39,6 Prozent nehmen am Fußballtoto teil. Im Durchschnitt werden von pathologischen Spielern 5 Spielformen genannt, die sie betreiben. In dieser Studie werden übrigens nur von 3,4 Prozent der pathologischen Spieler Geldgewinnspielgeräte als bedeutsamstes Spiel in den vergangenen 12 Monaten genannt. Jedenfalls gibt es, so die Studie, nicht den pathologischen Automatenspieler, sondern allenfalls den pathologischen Spieler, der eben unter anderem auch an Automaten spielt. Sollte also das Automatenspielangebot gänzlich für ihn wegfallen, ist zu erwarten, dass er den Automaten durch ein anderes Angebot ersetzt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man die Spieler in den Spielhallen mit Schutzmaßnahmen, Prävention und Suchtangeboten noch am besten erreicht, dem dortigen Alkoholverbot und den Steuerungsmöglichkeiten der Kommunen wäre ein Ausweichen ins Internet mit gleichen Glücksspielangeboten, wie ich es an dieser Stelle bereits beschrieben habe, sicher eine sehr schlechte Variante. Für die Suchtentwicklung ist auf den Einzelfall, auf den einzelnen Menschen, seinen Lebenshintergrund und das von ihm bevorzugte Glücksspiel abzustellen. Auch das Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie dazu festgestellt, dass der pathologische Spieler diese fünf unterschiedlichen Spielformen nutzt. Nicht das Spielangebot sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in der Spielerpersönlichkeit. Nochmals: Selbstverständlich darf der Schutz vor den Gefahren des Automatenspiels nicht vernachlässigt werden. Maßnahmen wie die Spielerkarte gegen illegale Spielpraktiken wie Mehrfachbespielung sind hier sicher gut und richtig. Genau dazu wird mit der 6. Verordnung zur Änderung der Spielverordnung vom BMWi eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Die Karte soll nur für einen Tag und für eine Spielstätte gelten. Sie kann nur an einem Gerät eingesetzt werden, sodass Mehrfachbespielungen ausgeschlossen werden. Die Karte soll auch eine maximale Obergrenze für mögliche Einzahlungen beinhalten. Gewinne werden nicht auf der Karte gespeichert, sondern müssen - ebenso wie möglicherweise verbleibende Restbeträge - bis zur Schließung der Spielhalle ausbezahlt werden. Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den Spieler- und Jugendschutz verbessert werden und eine Sachkundeprüfung zur Voraussetzung für eine Spielhallenerlaubnis gemacht wird. Auch dazu konnte ich mich übrigens von Fortschritten überzeugen. Es geht auch um die Förderung von Sozialkonzepten, zum Beispiel die Einführung von Suchtpräventionsbeauftragten. Mir ist der kohärente Spielerschutz ein dringendes Anliegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir für den Teilbereich Automatensucht eine gute Lösung erwarten können. Ihren Antrag lehnen wir ab. Zu Protokoll gegebene Reden

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von der FDP haben wir in den Ausschussanhörungen zu unserem Antrag gehört, dass Glücksspielsucht angeblich nur wenige Menschen betreffe. Das halte ich vor dem Hintergrund von rund 500 000 pathologischen Glücksspielern, rund 800 000 problematischen Spielern und rund 3 Millionen Menschen, die ein oder zwei Kriterien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt haben, für äußerst zynisch. Zumal die Bundesregierung in ihrem eigenen Drogenbericht nicht nur die besonders starke Suchtgefahr erwähnt, die es bei Geldspielautomaten gibt, sondern auch von einer starken Steigerung der Zahl der Süchtigen, insbesondere im Bereich junger Männer, spricht und sich der Bruttospielertrag seit 2005 von 2,35 Milliarden Euro auf 4,14 Milliarden Euro um über 76 Prozent dramatisch erhöht hat. Von CDU und CSU haben wir in den Beratungen gehört, dass nicht das Spielangebot ursächlich für die Sucht sei, sondern „krankhafte Strukturen in der Persönlichkeit der Spieler“. Das hört man in den USA auch immer von der Waffenlobby; nicht die Waffen sind das Problem, sondern die Menschen, die diese Waffen benutzen. Die Schlussfolgerung der Lobby in den USA: Weil die Waffen ja nicht das Problem sind, braucht es keine Regulierung. Beim Glücksspiel ist die schwarz-gelbe Logik, dass man - weil ja das Problem bei den Spielsüchtigen liege - auf eine Regulierung der Geldspielautomaten weitgehend verzichten könne. Das ist auch deswegen ein Skandal, da die Bundesregierung damit den eigenen Evaluierungsbericht der Novelle der Spielverordnung, der einen deutlichen Ausbau der Regulierung fordert, einfach ignoriert. Daran kann man leider sehen, dass die Automatenlobby bei der Bundesregierung vollen Erfolg hatte. Sogar die krude Theorie der Lobby, wonach eine zu starke Regulierung der Geldspielautomaten die Menschen angeblich in die noch schlimmere Online-Glücksspielsucht treibe, scheint inzwischen eine schwarz-gelbe Mehrheitsmeinung zu sein, und das, obwohl die einzige Grundlage dieser Theorie eine von der Automatenlobby selbst finanzierte Studie ist und alle seriösen Suchtexperten in der Anhörung zu unserem Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ energisch diese Theorie ins Reich der Fantasie verwiesen haben. Das Gegenteil ist der Fall, in der Anhörung haben wir gehört, dass sich die Süchte sogar noch gegenseitig verstärken, eine bessere Regulierung daher dringend notwendig wäre und die angebliche „Kanalisierung“ lediglich eine Schutzbehauptung für diejenigen ist, die keine Suchtprävention wollen. Die Frage ist also nur, ob die Regierungsfraktionen nicht zugehört haben oder ob sie nicht zuhören wollen. Das endlose Gezerre um die neue Spielverordnung, die von der Bundesregierung eigentlich schon für das erste Halbjahr 2011 angekündigt war, vermittelt eher den Eindruck, dass Schwarz-Gelb schlicht und ergreifend den Schutz von Süchtigen und den Jugendschutz gegenüber wirtschaftlichen Interessen der Automatenwirtschaft als nachrangig erachtet. So hatten alle bisherigen Entwürfe des FDP-geführten Bundeswirtschaftsministeriums für die Novelle der Spielverordnung stets eines gemeinsam: viele Placebos, wenig Suchtprävention. Nehmen wir zum Beispiel die Spielerkarte. Die SPD fordert die Einführung eines Identifikationssystems und eine personengebundene Spielerkarte, mit der es zum Beispiel in Norwegen einige gute Erfahrungen gibt. Das Prinzip ist dabei, dass jeder nur eine personalisierte Karte erhält und Jugendliche keine erhalten. Damit wäre auch das dringend notwendige bundesweite Sperrsystem für Süchtige möglich, für das wir uns einsetzen. Denn Süchtige können sich bisher nur für die in Kompetenz der Länder befindlichen Glücksspielbereiche selbst sperren lassen. Das gilt zum Beispiel für Spielcasinos, für Geldspielautomaten in Spielhallen und gastronomischen Einrichtungen gilt es aber nicht, wodurch das ganze Sperrsystem ausgehöhlt wird. Das müssen wir dringend ändern. Das Bundeswirtschaftsministerium will aber bisher eine personenungebundene Spielerkarte einführen, die auch von der Automatenwirtschaft befürwortet wird. Alle Experten aus der Suchthilfe haben dagegen in der Anhörung zu unserem Antrag erklärt, dass eine personenungebundene Spielerkarte im besten Fall ein Placebo ist und im schlechtesten Fall die Suchtgefahr noch erhöht, nämlich dann, wenn sie eher den Charakter einer Kundenkarte hat. Das Problem mit einer Spielerkarte ohne Identifizierung ist, dass sie problemlos weitergegeben werden kann, sowohl an Süchtige, die an mehreren Automaten gleichzeitig spielen wollen, als auch an Minderjährige. Dies befürchtet auch der Bundesrat. Zeitliche oder finanzielle Begrenzungen als Schutzfunktion sind zudem nicht möglich, wenn jeder Spieler in jeder Spielhalle eine neue Karte erhalten kann. Eine personenungebundene Spielerkarte verbessert also weder den Jugendschutz noch die Suchtprävention und hat auch keine Steuerungsfunktion. Noch schlimmer wäre es nur, wenn diese personenungebundene Spielerkarte auch noch eine Geldkartenfunktion erhielte und damit bargeldloses Zahlen ermöglichen würde, was die Sucht fördern würde. Derzeit wird von der Bundesregierung und interessanterweise auch von Vertretern der Automatenwirtschaft dementiert, dass eine Geldkartenfunktion geplant sei, Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler von der FDP hatte sich jedoch in der Vergangenheit wohlwollend genau dazu geäußert. Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht wundern, dass die Koalitionsfraktionen zu unserer Anhörung zum Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ ausgerechnet Herrn Gauselmann eingeladen hatten, der von „LobbyControl“ für eine „Lobbykratie-Medaille“ nominiert wurde. Und die jetzige Debatte über verdeckte Parteispenden und die wirtschaftlichen Verflechtungen der FDP mit der Gauselmann AG kann einen auch nicht wirklich überraschen. Überraschend ist für mich lediglich, dass es offensichtlich niemanden in CDU, CSU und FDP gibt, der die Suchtprävention gegenüber wirtschaftlichen Interessen als vorrangig betrachtet. Die gesamte Opposition hat hier eine andere Herangehensweise. Zu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf ({0}) Die SPD hat in ihrem Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ etliche Vorschläge für die notwendige Weiterentwicklung der Suchtprävention und des Jugendschutzes sowie auch speziell für die Novelle der Spielverordnung vorgelegt. Wir haben konkrete Vorschläge für die Entschärfung und Entschleunigung der Geldspielautomaten, mehr Transparenz für die Spieler hinsichtlich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau von suchtfördernden Funktionen der Automaten vorgestellt. Ich freue mich darüber, dass der Antrag sowohl mehrheitlich von den Experten in der Anhörung unterstützt wurde als auch von den anderen Oppositionsfraktionen viel Zuspruch erhalten hat. Ich freue mich zudem darüber, dass die Bundesregierung offenbar unseren Vorschlag aufgreifen will, den Einfluss der Kommunen auf die Standortentscheidungen von Spielhallen auszubauen. Wir werden sehr darauf achten, dass es im Rahmen der Novelle des Baugesetzbuches dabei nicht nur bei Ankündigungen bleibt. Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht und dazu auch eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern, für die wir bei der Drogenbeauftragten der Bundesregierung einen unabhängigen Beirat einsetzen wollen, der auch Empfehlungen für die Prävention abgeben soll. Ein kohärentes System der Prävention und Bekämpfung der Glücksspielsucht ist nicht zuletzt die Voraussetzung für den Erhalt des staatlichen Glücksspielmonopols, und Letzteres dürfen wir nicht aufs Spiel setzen, denn es bietet den bestmöglichen Rahmen für die Suchtprävention und den Jugendschutz. Schwarz-Gelb gefährdet daher mit der Untätigkeit im Bereich der Geldspielautomaten das gesamte staatliche Glücksspielmonopol und mit ihm die Suchtprävention auch in anderen Glücksspielbereichen.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Problem, dem wir uns weiterhin zuwenden müssen. Denn Spielen kann zu einem schweren Problem werden. Glücksspielsucht geht im Extremfall mit hoher Verschuldung und gesteigertem Verarmungsrisiko einher und stellt für die Betroffenen und ihre Familien eine große psychische Belastung dar. Wie bei jeder Suchterkrankung droht sich die Spirale immer weiter zu drehen, wenn nicht rechtzeitig interveniert wird. Bei aller Notwendigkeit, praktikable Lösungsansätze gegen Glücksspielsucht zu entwickeln, muss aber auch festgehalten werden: Es sind in Deutschland rund 264 000 Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren glücksspielsüchtig. Weitere 275 000 weisen ein problematisches Glücksspielverhalten auf. Unter dem Strich ist das circa 1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland. Die absoluten Zahlen klingen gewaltig, und klar ist auch, dass jedem Einzelnen geholfen werden sollte. Die relativen Zahlen sprechen allerdings auch eine eindeutige Sprache: 99 Prozent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 65 Jahren weisen kein problematisches oder pathologisches Glücksspielverhalten auf. Ich empfinde es als erfreulich, dass Glücksspiel für die überwiegende Mehrheit nicht mehr ist als ein faszinierender Freizeitspaß. Das dürfen wir auch bei der Regulierung des Automatenspiels nicht vergessen. Genau deshalb muss bei der Neujustierung der Regeln mit viel Augenmaß vorgegangen werden. Ein Schwerpunkt bei der Bekämpfung von Glücksspielsucht sollte daher bei Information und Prävention liegen. Zentrale Punkte dabei sind zum Beispiel Mitarbeiterschulungen zur Früherkennung sowie Informationsmaterialien über kostenfreie und anonyme Beratungsmöglichkeiten. Auch die Hinweise auf das Beratungstelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind von zentraler Bedeutung. Sehr begrüßenswert ist auch das seit 1985 bestehende Alkoholverbot in vielen sogenannten „Spielotheken“. Dies hilft den Spielgästen im wahrsten Sinne, einen klaren Kopf zu behalten und nicht in riskantes Spielverhalten abzudriften. Von besonderer Wichtigkeit ist der Jugendschutz: Minderjährige gehören einfach nicht an Automaten. Wenn mancherorts das Jugendschutzgesetz nicht eingehalten wird, haben wir ein Vollzugsdefizit, aber kein Gesetzesdefizit. Hier sind die Ordnungsbehörden angehalten, das Jugendschutzgesetz konsequenter zu überwachen. Die Bundesregierung arbeitet darüber hinaus an gesetzlichen Neuregelungen der Spielverordnung und der Gewerbeordnung, um einen noch besseren Jugend- und Spielerschutz zu erreichen. Geplant ist beispielsweise die Einführung einer personenungebundenen Spielerkarte, mit der man den Automaten freischalten muss. Dies schafft einen besseren Jugendschutz, denn so wird die Gefahr verringert, dass Minderjährige an Automaten spielen. Und dies schafft auch einen besseren Spielerschutz, denn damit wird die gefährliche Automaten-Mehrfachbespielung unterbunden. Die Neuregelung der Spielverordnung und der Gewerbeordnung befindet sich gerade in der Feinjustierung zwischen den zuständigen Ministerien. Der von der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag hat seine Erledigung gefunden. Nicht nur, weil sich die christlich-liberale Koalition der Glücksspielproblematik bereit ist angenommen hat, sondern auch, weil der SPD-Antrag in weiten Teilen über das Ziel hinausschießt.

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 8. September 2010 ist das Thema Glücksspielsucht verstärkt in den Vordergrund der sucht- und drogenpolitischen Debatten gerückt. Aufgrund dieses Urteils musste der Glücksspielstaatsvertrag der Bundesländer reformiert werden, um das staatliche Glücksspielmonopol aufrechterhalten zu können. Das Gericht hatte unter anderem die staatliche Werbung für Lotterien und den gleichzeitigen Auftrag der Suchtprävention mit dem Monopolanspruch des Staates auf das Glücksspiel für unvereinbar erklärt. Zu Protokoll gegebene Reden Vor allem Geldspielautomaten stellen sich hierbei als Hauptproblem einer Glücksspielsucht heraus, und die Anhörung zum Antrag im Gesundheitsausschuss vom 21. März 2012 hat ergeben, dass vor allem bei den Geldspielautomaten ein enormer Handlungsbedarf besteht: Gerade das Glücksspiel an Geldautomaten, das einen Schwerpunkt des Antrags bildet, besitzt ein erhöhtes Suchtpotenzial. Der Antrag der SPD greift die mit dem Glücksspiel verbundene Suchtproblematik auf und enthält richtige Forderungen, die uns aber noch nicht weit genug gehen. Daher auch unsere Enthaltung zu diesem Antrag. Die Forderung nach einer Entschleunigung der Geldspielautomaten, die Senkung des maximalen Verlustes pro Stunde, die Einführung eines verpflichtenden Identifikationssystems sowie eine Höchstzahl von Automaten in gastronomischen Einrichtungen sind richtige Punkte im Antrag der SPD. Allerdings sind die vorgeschlagenen 15 bis 20 Sekunden pro Spiel immer noch viel zu niedrig angesetzt. Ergebnisse verschiedener Suchtforscher und des Fachbeirats Glücksspielsucht sprechen eher von 60 Sekunden. Dies ist neben der Reduzierung der Verfügbarkeit entscheidend für die Suchtbekämpfung und prävention und prioritär vor Spielerkarten oder auch anderen Gerätespezifika zu bewerten. Gleichzeitig muss aber gefragt werden, ob es überhaupt sinnvoll ist, das Automatenspiel außerhalb von Spielkasinos zu ermöglichen. Zwar sieht der Antrag der SPD Sanktionierungsmaßnahmen gegen Betreiber vor, falls diese sich nicht an die vorgeschlagenen Regelungen halten, die Frage der Kontrolle bleibt jedoch offen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass nun die Ordnungsämter und Polizeikräfte - neben der Vielzahl an Aufgaben, die bisher erledigt werden können - nun auch noch die Kontrolle von Lokalitäten übernehmen sollen. Die „Erhebung zur Einhaltung des Jugend- und Spielerschutzes in Berliner Imbissen mit Geldspielautomaten“ der Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin in Kooperation mit dem Präventionsprojekt Glücksspiel 2011 bestätigte, dass Jugendliche unter 18 Jahren in der Gastronomie unkontrollierten Zugang zu Geldspielgeräten haben. Wie im Antrag der SPD selbst niedergeschrieben, ist der Zugang zu den Automaten viel zu niedrigschwellig, gerade auch für Personen unter 18 Jahren. Nachforschungen haben ergeben, dass vor allem junge Migranten aus sozial schwierigen Verhältnissen die größte Gruppe der abhängigen Spieler abbilden. Spielhallen befinden sich besonders häufig in sozial schwachen Gebieten. Automatenspiel außerhalb von Spielkasinos, vor allem in gastronomischen Einrichtungen, sollte daher gänzlich verboten werden. Im Gegensatz zu gastronomischen Einrichtungen verfügen Spielkasinos potenziell über bessere Sicherungsmaßnahmen, um pathologischen Spielern den Zutritt zu verwehren und den Jugendschutz einzuhalten. Dies muss weiter gestärkt werden. Aus kommunalpolitischer Sicht bieten sich hier durchaus Handlungsmöglichkeiten: So hat der ehemalige rot-rote Senat von Berlin im Mai 2011 als Erster ein Spielhallengesetz beschlossen. Das Gesetz schreibt strengere Vorschriften zum Aufstellen von Automaten vor. So wurde zum Beispiel ein Mindestabstand von 500 Metern zwischen Hallen und Kinder- und Jugendeinrichtungen beschlossen. Mitarbeiter müssen zudem den Nachweis erbringen, Spielsucht erkennen zu können. Anfang des Jahres 2011 wurde außerdem die Vergnügungsteuer in Berlin auf Spielautomaten von 11 auf 20 Prozent erhöht. Die FDP stimmte im Abgeordnetenhaus als einzige Fraktion gegen dieses Gesetz. Aber von der FDP können wir in diesem Bereich aufgrund der offensichtlich guten Beziehungen mit der Automatenlobby keinerlei Änderungen zum Schutz vor den Suchtgefahren durch das Automatenspiel erfahren. So berichtete die ARD am 10. September 2012, dass an FDP-Tochterunternehmen vom Glücksspielautomatenhersteller Gauselmann 2,5 Millionen Euro geflossen und diese teilweise an die Partei weitergeleitet worden sind. So ist es nicht verwunderlich, dass die längst überfällige Novellierung der Spielverordnung bis heute durch das Bundeswirtschaftsministerium, FDP, verschleppt wird. Und auch bei der Anhörung zum Thema Glücksspielsucht vom 21. März 2012 im Gesundheitsauschuss des Deutschen Bundestages wurde Herr Gauselmann von der FDP als Sachverständiger geladen. Einen Interessenskonflikt zwischen dem Verkauf von Glücksspielautomaten und der Aufklärung über die Suchtgefahren des Automatenspiels sieht die FDP hierbei offensichtlich nicht gegeben. Wie bereits nach der Veröffentlichung durch die ARD wiederhole ich an dieser Stelle meine Forderung: Das von der FDP geführte Bundeswirtschaftsministerium ist nun in der Pflicht, die nötige Unabhängigkeit von der Automatenwirtschaft nachzuweisen. Es muss die Blockadehaltung in Fragen der Spielverordnung aufgeben. Die überfällige Novellierung dieser Verordnung muss in enger Rücksprache mit den Suchthilfeverbänden geschehen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vor zwei Wochen berichtete das ARD-Magazin Monitor darüber, dass ein Vertrauter und Geschäftspartner der Firma Gauselmann, die hierzulande Geldspielgeräte herstellt, insgesamt 2,5 Millionen Euro in ein FDPTochterunternehmen investiert hat, wovon zumindest ein Teil des Geldes auch an die Partei geflossen sein soll. So kaufte das besagte Unternehmen der FDP beispielsweise ein Grundstück zu einem wohl überhöhten Preis ab. Die Bundestagsverwaltung prüft derzeit, ob es sich dabei um eine verdeckte Parteispende gehandelt hat. Derselbe Gauselmann-Berater ist übrigens auch Mitinhaber der Firma Pro Logo, die für die FDP in Sponsoringfragen tätig ist. Vor dem Hintergrund dieser engen Verbindung ist es mittlerweile kein Wunder mehr, dass das FDP-geführte Bundeswirtschaftsministerium die Novellierung der Spielverordnung nur zögerlich angeht. Eine vom Ministerium selbst in Auftrag gegebene Studie hat zwar im Vorfeld noch einmal das erhebliche Suchtpotenzial von Spielautomaten und die Unwirksamkeit der bisherigen Zu Protokoll gegebene Reden Präventionsbemühungen festgestellt, aber davon ließ sich Minister Rösler bislang nicht beeindrucken. Wir wissen jetzt vielleicht wieso. Wie stark die Industrie Einfluss auf die derzeitigen Reformbemühungen nimmt, lässt sich an zwei Beispielen veranschaulichen: Die Automatenhersteller haben in den letzten Jahren durch die Umrechnung von Geldbeträgen in Punkte einen Weg gefunden, die geltenden Vorgaben der Spielverordnung zu umgehen. Anstatt diese Praxis zu untersagen, hat das Ministerium ihr zwischenzeitlich durch einen Erlass de facto seinen Segen gegeben. Nun wurde selbst im Zuge der vom Ministerium in Auftrag gegebenen Studie erklärt, dass dieses sogenannte Punktespiel ein maßgeblicher Faktor für die Entstehung von Spielsucht und für den Verlust erheblicher Geldsummen sei. Man könnte also meinen, dass dies der dringendste Punkt ist, bei dem die Bundesregierung Handlungsbedarf sieht - weit gefehlt. Rösler und sein Ministerium erklären ausdrücklich, das Punktespiel zulassen zu wollen, weil - und hier wird es jetzt zynisch ein Verbot von der Branche umgangen werden würde. Zweites Beispiel. Die Bundesregierung erklärte, der Entstehung von Sucht und der Umgehung des Jugendschutzes zukünftig dadurch begegnen zu wollen, indem sie eine Spielerkarte einführt - so weit, so gut. Nun gab es innerhalb der Bundesregierung - interessanterweise zwischen zwei FDP-geführten Ministerien - einen Streit darüber, wie diese Spielerkarte aussehen soll. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung schlug die Einführung einer personengebundenen Spielerkarte vor, weil nur diese aus suchtpolitischer Sicht Sinn macht. In diesem Punkt stimme ich ihr ausdrücklich zu. Die Automatenbranche erklärte allerdings, allenfalls mit einer nicht personengebundenen Karte leben zu können, etwas, dass aus der Sicht von Spielsuchtexperten völlig nutzlos ist und auch von den Ländern im Bundesrat abgelehnt wird. Nun dürfen Sie raten, welcher Position sich das Bundeswirtschaftsministerium angeschlossen hat. Die Einführung einer personengebundenen Karte soll nunmehr allenfalls mittelfristig erfolgen. Mit anderen Worten: nie. Insofern begrüßen wir die Initiative der SPD, die auf Änderungen im Bereich der Spielautomaten drängt, zumal es seinerzeit das SPD-geführte Wirtschaftsministerium war, das die Spielverordnung auf Wunsch der Branche erheblich gelockert hatte und somit für die derzeitige Situation mitverantwortlich ist. Meine Fraktion hat in der Vergangenheit mehrfach Anläufe unternommen, die Prävention im Bereich Glücksspielsucht gerade im Hinblick auf das Automatenspiel zu verbessern, zuletzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss und mit einem Antrag, mit dem den Kommunen bessere Möglichkeiten an die Hand gegeben werden sollten, die Neuansiedlung von Spielhallen zu verhindern. Erfreulich ist, dass die SPD nun ebenfalls vorschlägt, dieser Spielhallenflut mittels einer Änderung der Baunutzungsverordnung Herr zu werden. Dem entsprechenden Antrag unserer Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollten sie ja seinerzeit noch nicht zustimmen. Auch andere Forderungen des SPD-Antrags können von uns unterstützt werden, insbesondere die strengeren Rahmenvorgaben für Geldspielgeräte. Dies setzt allerdings voraus, dass die Einhaltung der Vorgaben durch Sachverständige auch vor Ort kontrolliert werden kann. Gerade diese Kontrollen vor Ort will die Bundesregierung aber jetzt abschaffen. Eine sinnvolle Begründung hat sie bislang dafür nicht abgegeben. Das fiele auch schwer, waren es in den vergangenen Jahren gerade diese Sachverständigen, die auf Manipulations- und Umgehungsmöglichkeiten hingewiesen hatten. Vielleicht ist gerade das aber auch der Grund für die Abschaffung. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen, wirksamer Spielerschutz und eine effektive Suchtprävention sind kein Ausdruck von Wirtschaftsfeindlichkeit. Sie entspringen einer nüchternen KostenNutzen-Bilanz. Die negativen Auswirkungen, die gesellschaftlichen Probleme und auch die sozialen Kosten, die die Spielautomatenindustrie hierzulande zu verantworten hat, überwiegen bei Weitem das, was diese Branche wirtschaftlich zur Entwicklung Deutschlands beiträgt. Anstatt den Wünschen gerade dieser Szene blind Folge zu leisten, sollten Sie sich die Mühe machen, sich mit den Folgen genauer zu beschäftigen. Wenn Sie dies wirklich einmal täten, würden auch Ihre Reformvorschläge anders aussehen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10695, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6338 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes ({0}) - Drucksachen 17/10745, 17/10798 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden dazu zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einver- standen.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/10745 und 17/10798 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 7 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Rüstungsforschung an öffentlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen - Drucksache 17/9979 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Verteidigungsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Erforschung und die Entwicklung neuer Technologien sind wesentliche Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolges und Wohlstandes unseres Landes. Dank des Engagements der Bundesregierung konnte sich auch die zivile Sicherheitsforschung in Deutschland als eigenständiges Forschungsgebiet mit einer gut vernetzten Akteurslandschaft etablieren. Angesichts der globalen Bedrohungsszenarien der letzten Jahre ist es wichtig, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie den Schutz kritischer Infrastrukturen durch systematische Forschungsaktivitäten zu erhöhen. Die Sicherheit und die daraus resultierende Freiheit der Bürger unseres Landes zu gewährleisten, ist somit ein expliziter Auftrag unserer Forschungspolitik. Die besagten Fördergelder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung werden ausschließlich im Hinblick auf die zivile Nutzbarkeit von Forschungsprojekten vergeben. Nun unterstellen die üblichen Verschwörungstheoretiker in den Reihen der Opposition, dass die Gelder - durch die Hintertür - zur Finanzierung der Wehrtechnikindustrie dienen. Ich kann an dieser Stelle nur immer wieder betonen, dass diese Unterstellung schlichtweg falsch ist. Die Förderung von wehrtechnischer Forschung hat hiermit nichts zu tun und fällt in den Zuständigkeitsbereich des Verteidigungsministeriums. Unser Programm für zivile Sicherheitsforschung dient ausschließlich dem Ausbau der internationalen Vorreiterstellung deutscher Anbieter ziviler Sicherheitsprodukte und der Weiterentwicklung interdisziplinärer akademischer Ausbildungsstrukturen. Es liegt dabei auf der Hand, dass zahlreiche Erkenntnisse aus der zivilen Sicherheitsforschung auch militärisch nutzbar sind. Und das, verehrte Kollegen von der Linken, ist auch gut so. Die alte Leier der unrechtmäßigen Doppelnutzung wird nicht stichhaltiger, je mehr Sie darauf herumreiten. Im Gegenteil: Die Doppelnutzung von Forschungsergebnissen in dieser Sparte ist kein Fluch, sondern ein Segen! Warum soll beispielsweise verbesserte Schutzkleidung, die primär für Feuerwehrleute oder THW-Mitarbeiter entwickelt wurde, nicht auch unseren Soldaten im Einsatz zugutekommen? Oder weshalb sollten unsere Streitkräfte nicht ebenfalls von verbesserten Spreng- und Kampfstoffdetektoren profitieren, die ursprünglich für Flughäfen und andere empfindliche Punkte entwickelt wurden? Ich halte es für eine zutiefst ungehörige und unverfrorene Forderung, unseren Soldaten, die tagtäglich ihre Gesundheit oder gar ihr Leben für die Sicherheit dieses Landes riskieren, die neuesten Entwicklungen im Hinblick auf eine bessere Ausrüstung vorzuenthalten. Doch damit nicht genug. In ihrem Antrag fordert die Linke, „Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie in den jeweiligen Landeshochschulgesetzen zu verankern“. Aus unserer Sicht ist das ein höchst bedenklicher Eingriff in die Forschungsfreiheit der Wissenschaftler. Aber davon einmal ganz abgesehen, ist Ihr Vorhaben auch verfassungsrechtlich sehr problematisch. Der Bund hat in diesem Bereich keinerlei Kompetenzen. Hochschulpolitik ist nach wie vor Ländersache. Akzeptieren Sie das und streben Sie nicht ständig danach, die föderalistischen Prinzipien dieser Republik auszuhebeln. Zuletzt möchte ich dazu bemerken, dass mit dieser Forderung neben Ihrer fehlenden juristischen Fachkenntnis ein weiterer Denkfehler zutage tritt, der die ganze Diskussion um die Zivilklausel ohnehin als Scheindebatte entlarvt. Selbst wenn die Hochschulen sich einer Zivilklausel unterwerfen würden, wäre damit noch lange nicht gesichert, dass ihre rein zivilen Forschungserkenntnisse nicht irgendwann militärisch genutzt werden könnten. Es ist doch während der Entwicklungsphase oft gar nicht klar, für welche Fälle das Produkt in Zukunft Verwendung finden kann. Ebenfalls absurd ist im Übrigen Ihr Appell zur Ergreifung einer „Initiative zur Offenlegung aller Kooperationsverträge der Hochschulen“. Offensichtlich ist Ihnen nicht klar, dass es sich hierbei um empfindliche Geschäftsgeheimnisse handelt! Eine derartige Maßnahme würde verfassungsrechtlich ebenfalls einen äußerst bedenklichen Eingriff darstellen, ganz zu schweigen von dem erheblichen Schaden, den die deutsche Wirtschaft davontragen würde. Zuletzt möchte ich noch ein paar Sätze zu Ihrer Forderung nach einer „Ausfinanzierung der Hochschulen in der Breite“ sagen. Sie können unserer Regierung nun wirklich nicht vorwerfen, zu wenig in die deutschen Hochschulen investiert zu haben. Trotz der primären Verantwortung der Länder wurden mehr Bundesmittel als jemals zuvor an die Hochschulen vergeben. Allein 4,8 Milliarden Euro wurden in den Hochschulpakt 2020 investiert. Zusätzlich wollen wir die Länder sogar dauerhaft mit Bundesgeld für die Hochschulen unterstützen. Es sind vielmehr die rot-grünen Länder, die sagen, wir nehmen das Geld nur, wenn wir zusätzlich auch noch finanzielle Zuwendung für die Schulen bekommen. So werden die Hochschulen von der Opposition in Geiselhaft genommen, um deren leere Landeskassen zu füllen. Sie sehen, der Vorwurf, die Bundesregierung vernachlässige die Förderung von Bildung und Forschung in Deutschland, ist unhaltbar. Vielleicht werfen Sie noch einmal einen genauen Blick in den Einzelplan 30. Ich denke, die Zahlen belegen das Engagement von Frau Schavan und der gesamten Koalition eindeutig. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass die Forderungen im Antrag der Linkspartei allesamt überzogen und nicht vertretbar sind. Sie sehen über sämtliche verfassungsrechtlichen Grundsätze hinweg, Sie machen keinen Halt vor der Unabhängigkeit der Hochschulen, die föderale Struktur unseres Landes scheint Ihnen fremd zu sein, und, was ich noch schlimmer finde: Sie weisen eine äußerst ignorante Einstellung gegenüber den deutschen Soldatinnen und Soldaten auf. Den Antrag gilt es daher abzulehnen.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einige von Ihnen wissen, dass ich mich sehr leidenschaftlich für die Friedensforschung in Deutschland einsetze. Auch zu dem Thema zivile Sicherheitsforschung habe ich an dieser Stelle bereits öfter gesprochen. Insofern war ich auf den uns hier vorliegenden Antrag durchaus gespannt. Aber um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin von diesem Papier enttäuscht. Warum, möchte ich Ihnen anhand einzelner Punkte des Antrages darstellen. Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, fordern in dem Papier den Bund auf, an den Universitäten eine Zivilklausel einzuführen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten halten es für unterstützenswert, wenn Universitäten für sich Zivilklauseln einführen, die darauf abzielen, keine militärische Forschung zu machen, sondern dem Frieden in der Welt dienlich zu sein. Aber dafür ist der Bund der komplett falsche Ansprechpartner. Das ist ganz klar Landeskompetenz bzw. greift in die Autonomie der Hochschulen ein. Die Studierenden und Hochschulangestellten sind, wie Sie in Ihrem Antrag selbst aufzählen, hingegen eigenständig in der Lage, wenn sie die nötige Mehrheit mobilisieren können, diese Klausel zu verankern. Eine Bewegung von unten ist bei solchen Überzeugungsfragen sowieso besser als die Verordnung von oben, wie es die Linke hier fordert. Vor allem aber weiß ich nicht, ob es wirklich fair ist, dass „die Politik“, also Parlament, Regierung usw., einerseits Forschungsaufträge vergibt, auch für militärische Zwecke, aber anderseits von den Hochschulen, also den Wissenschaftlern und Studierenden, verlangt, diese Aufträge bzw. Angebote nicht wahrzunehmen. Eine solche Vorgehensweise erscheint mir nicht redlich. Wir verschieben hier Verantwortung auf die Wissenschaft, die wir doch eigentlich hier im Parlament haben. Und wir sind es auch, die über den Einsatz der Forschungsergebnisse zu entscheiden haben. Wir können die Wissenschaft beauftragen, einen Lastwagen zu entwickeln, und wir haben dann zu entscheiden, ob der Lkw zu zivilen oder militärischen Zwecken genutzt wird. Mit einem Antrag „Entwickelt uns einen Lkw, der auf keinen Fall für militärische Zwecke genutzt werden kann“ schieben wir unsere Verantwortung auf die Wissenschaft ab. Daneben fordern Sie eine Offenlegung von Kooperationsverträgen zwischen Universitäten und Unternehmen. Diese Forderung unterstützen wir. Aber auch hier ist der Bund der falsche Ansprechpartner. Diese Forderung von Ihnen geht also ebenfalls ins Leere. Darüber hinaus fordern Sie, dass das Bundesministerium für Verteidigung keine Aufträge mehr an Universitäten vergibt. Damit könnte ich einverstanden sein, wenn klar wäre, was denn militärische Forschung ist. Hilfreicher wäre es, wenn Sie dazu eine Definition liefern könnten, aber Sie kommen auf das zentrale Problem des Dual Use nicht wirklich zu sprechen. Unter der DualUse-Problematik versteht man das Dilemma, dass zum Beispiel einige Technologien militärisch wie auch zivil verwendet werden können. Aktuell debattieren wir Forschungspolitiker zum Beispiel über die Veröffentlichung der H5N1-Publikationen. Darin haben Forscher gezeigt, wie ein gefährliches Virus übertragbarer gemacht werden kann. Vor der Publikation wurden die Chancen - mögliche Erkenntnisse zur Bekämpfung einer Pandemie - und Gefahren - mögliche Nutzung als Waffe - gegeneinander abgewogen. Nach einer langen Diskussion kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass die Chancen die Gefahren überwogen. An diesem Beispiel sieht man bereits, wie komplex die Dual-Use-Problematik oftmals ist. Nur auf Verbot zu setzen, wie die Linken es tun, hilft uns nicht weiter. Dabei benutzen Sie selbst unklare Formulierungen wie dass Dual Use „weitestgehend verhindert wird“. Was heißt das konkret? Es muss vielmehr immer wieder abgewogen werden, und das nicht nur im Nachhinein, sondern die einzelnen Wissenschaftler müssen sich ihrer Verantwortung für ihre Forschung({0}) insgesamt bewusster sein. Dieses wichtige Thema greifen Sie in Ihrem Antrag aber leider nicht auf. So fehlt bei Ihrem Versuch einer historischen Einordnung des Themas Rüstung und Wissenschaft dann auch, nicht ganz überraschend, ein Verweis auf die für den deutschen Wissenschaftsbetrieb so wichtige „Göttinger Erklärung“ von 1957. Die 18 Atomphysiker haben das Thema militärische versus zivile Forschung damals auf den Punkt gebracht. Zu Recht gilt die Erklärung auch heute noch als Gründungsdokument dessen, was wir unter Wissenschaftsethik verstehen. Ebenso fehlt in Ihrem Antrag ein Abschnitt zur Friedens- und Konfliktforschung, zu der Wissenschaft also, die sich maßgeblich mit den Themen auseinandersetzt, wie Frieden erhalten und gestützt werden kann. Dabei wäre eine breite politische Unterstützung des Wissenschaftszweiges durchaus angebracht. Wie Sie zu diesem Thema stehen, muss der Leser Ihres Antrages hingegen erahnen. Vielleicht, weil auch hier Grenzen verwischen können? Wie Sie wissen, habe ich mich in den letzten Jahren öfters zum zivilen Sicherheitsforschungsprogramm der Bundesregierung kritisch geäußert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben dabei immer wieder insbesondere die starke Technikzentriertheit und die Verengung des Sicherheitsbegriffs auf terroristische Zu Protokoll gegebene Reden Anschläge bemängelt. Wir sehen heute, dass das Ministerium bei den Überlegungen zum neuen Sicherheitsforschungsprogramm einen Teil unserer Kritik aufgenommen hat. Das neue Programm ist jetzt breiter aufgestellt. Wir gehen davon aus, dass sich dies am Ende auch in den Ergebnissen widerspiegeln wird. Mögliche Anwender der erforschten Lösungsansätze sind THW, Feuerwehr und Polizei. Zu Recht gibt es in Deutschland die Trennung zwischen militärischer und ziviler Forschung. Allerdings wird in vielen Bereichen im Nachhinein bei Vorliegen der Ergebnisse eine Dual-Use-Diskussion möglich sein, ohne dass man sie vorher gesehen hat. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie sprechen in Ihrem Antrag viel über das, was Sie nicht wollen. Wie man aber tatsächlich militärische Nutzung eines für zivile Zwecke produzierten Forschungsergebnisses bereits vor Entstehung des Ergebnisses verhindern kann, wäre eine spannende Frage gewesen. Um eine Antwort aber mogeln Sie sich herum. So kann man den Antrag wohl folgendermaßen zusammenfassen: einige gute Grundideen, diese werden aber total durcheinander an den falschen Adressanten verschickt. Schade! Das so wichtige Thema Wissenschaft und Rüstung hätte mehr verdient.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag „Keine Rüstungsforschung an öffentlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen - Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen“ der Linken offenbart ein überaus fragwürdiges wissenschaftspolitisches Verständnis, das wir Liberale in keinster Weise teilen. Wir lehnen den Antrag ab, weil wir die Auffassung von Forschung und unserem Wissenschaftssystem, die der Antrag transportiert, nicht unterstützen. Im März 2012 stellte die Linke einen Antrag, der unter dem Titel „Freiheit von Forschung und Lehre schützen“ die Forschungsfreiheit als zentralen Punkt propagierte. Heute greift sie mit dem vorliegenden Antrag genau diese Freiheit frontal an. Sie wollen der Wissenschaft, den Hochschulen und Forschenden die Freiheit nehmen, selbst zu entscheiden, welche Forschungsprojekte angenommen werden und in welchen Bereichen geforscht werden darf. Sie wollen, wie im aktuellen Antrag gefordert, die gesetzliche Verankerung von Zivilklauseln in den Landeshochschulgesetzen, in den Statuten von Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Eine solche gesetzliche Verankerung ist mit Forschungsfreiheit aber nicht vereinbar. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit ernst nehmen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass der Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt und selbst entscheidet, welche Kooperation und Aufträge er annimmt. Ideologische Einschränkungen, wie die Forderung nach einer politisch verordneten Zivilklausel und dem Verbot von Forschung mit militärischem Hintergrund bzw. zur militärischen Nutzung, lehnen wir entschieden ab. Für uns Liberale ist die Freiheit von Forschung und Lehre ein überaus hohes und kostbares Gut. Wissenschaftsfreiheit ist ein in Art. 5 GG garantiertes Grundrecht und wird nur durch den Schutz anderer verfassungsrechtlich geschützter Werte begrenzt. Es ist nach unserem Verständnis Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens sowie Fundament unseres Wissenschaftssystems. Forschungsfreiheit bedeutet für uns aber nicht nur Selbstbestimmung darüber, zu welchen Forschungsthemen und in welchen Bereichen der Wissenschaftler forscht, sondern es impliziert auch eine gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers. Dieser Verantwortung sind sich Wissenschaftler in Hochschulen und in Forschungseinrichtungen bewusst, so beispielsweise die Max-Planck-Gesellschaft, die in 2010 das Papier „Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken“ für sich und ihre Mitglieder die Grenzen von Forschung formulierte und dabei die Personen, den einzelnen Wissenschaftler als Verantwortungsträger in den Mittelpunkt rückt. Die Linke fordert in einem weiteren Punkt, dass der Wissenschaftsrat mit der Erarbeitung eines Kodex beauftragt werden soll. Laut Antrag soll definiertes Ziel des Kodex die ausschließlich zivile Ausrichtung von Forschung und Lehre an öffentlichen wissenschaftlichen Einrichtungen sein. Allein diese Forderung legt offen, welche kruden Vorstellungen von der Arbeit und dem Verständnis des Wissenschaftsrates bei der Linken vorherrschen. Der Wissenschaftsrat ist aber kein Instrument zur Durchsetzung politischer Ideologie, sondern ein wissenschaftspolitisches Beratungsgremium. Der Wissenschaftsrat ist unabhängig und wird von der Politik um Stellungnahme gebeten. Für uns Liberale ist ein solcher Kodex auch nicht von oben zu verordnen. Welche Legitimation besitzt solch ein Kodex, wenn er oktroyiert wurde? Vielmehr müssen sich die Wissenschaftler und die Einrichtungen von sich aus und aus sich heraus über die Grenzen von Forschungsfreiheit austauschen und, wenn notwendig, zu einem Kodex finden. Das beste Beispiel hierfür ist das von der Linken ausgewählte und geforderte Beispiel der Zivilklausel und die Einführung an den Hochschulen in der jungen Bundesrepublik. Es waren die zahlreichen Hochschulen, die sich selbst im Rahmen der sogenannten Zivilklausel gegen die Beteiligung an wehrtechnischer Forschung ausgesprochen haben. Interessanterweise war es der Wissenschaftsrat, der in 2007 in seiner Stellungnahme zur Neustrukturierung der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften e.V. der Politik empfahl, die drei Ressortforschungseinrichtungen des Bundesministeriums für Verteidigung in die Fraunhofer-Gesellschaft zu überführen. Es war zwar eine politische Entscheidung, die 2009 zur Integration der drei Ressortforschungseinrichtungen in die Fraunhofer-Gesellschaft führte, aber - anders als es der Antrag von der Linken zur Interpretation freigibt auf Empfehlung der Wissenschaft. Ein weiterer Punkt, den wir am Antrag der Linken zu kritisieren haben, ist die Behauptung, mittels Regelungen und Gesetzen eine Trennlinie zwischen militärischer und ziviler Forschung ziehen zu können, so als sei es kein Problem, Forschung und Forschungsergebnisse zu kategorisieren und eine Doppelnutzung auszuschließen. Als Beispiel wird das von der christlich-liberalen KoaliZu Protokoll gegebene Reden Dr. Martin Neumann ({0}) tion aufgelegte Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ kritisiert, wo die Bundesregierung nach dem Antrag der Linken auszuschließen hat, dass die Forschungsergebnisse auch militärisch genutzt werden. In den Beratungen im Ausschuss wurde darauf hingewiesen, dass die Forschungsfragen im Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ entlang ziviler Sicherheitsszenarien erfolgen. Dass nun abermals angemahnt wird, dass Forschungsprojekte zu Detektionssystemen zum Nachweis von Gefahrenstoffen eine Doppelnutzung erlauben und militärisch eingesetzt werden können, zeigt, dass der Versuch der lupenreinen Trennung von zivil und militärisch nicht möglich ist. Als einen letzten Kritikpunkt sei auf die Forderung nach einer Ausfinanzierung der Hochschulen verwiesen. Für die Grundfinanzierung der Hochschulen sind allein die Länder verantwortlich. Ähnlich pauschal, wie diese Forderung in jedem Antrag der Linken formuliert wird, lehnen wir es ab. Es ist für die Zukunft sicherlich einfacher, wenn die Linke den Förderalismus und die Zuständigkeit der Länder anerkennt, als in ihren Anträgen die Realitäten zu verdrehen. Zudem sei darauf verwiesen, dass von der Linken bislang die konkreten Schritte dieser christlich-liberalen Koalition abgelehnt wurden. Wenn die Linke an der Finanzierung der Hochschulen mitwirken möchte, ist diese gerne eingeladen, die Grundgesetzänderung in Art. 91 b im Bundesrat zu unterstützen und so dem Bund zu ermöglichen, sich an der Finanzierung von Hochschulen zu beteiligen. Der Antrag von der Linken wird dem Anspruch an das Wissenschaftssystem nicht gerecht. Wir Liberale sind gegen ideologische Denkverbote. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag ab.

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Diese Woche, vom 24. bis 29. September, findet die bundesweite Aktionswoche gegen die Aktivitäten von Bundeswehr an Schulen und Hochschulen statt. Die Hauptforderung des Bündnisses lautet: „Wir fordern die sofortige Kündigung der bestehenden Kooperationsvereinbarungen zwischen Kultusministerien und der Bundeswehr sowie die flächendeckende Einführung und Einhaltung von Zivilklauseln, um eine Lehre und Forschung an Hochschulen zu garantieren, die ausschließlich zivilen Zwecken dient.“ Dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen gerade hier in der Bundesrepublik, einer der größten Waffenexportnationen der Welt. Wissenschaft im Dienste des Krieges und des Militärs und die Einführung von Zivilklauseln, also die Verpflichtung auf eine friedlichen und zivilen Zwecken dienende Forschung und Lehre, werden an immer mehr Hochschulen unter Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, unter Professorinnen und Professoren und den Beschäftigten der Hochschule diskutiert. In einer Reihe von Hochschulen wurde in den letzten Monaten positiv über die Einführung von Zivilklauseln beschieden: In einer Urabstimmung an der Uni Frankfurt haben sich 76 Prozent dafür ausgesprochen. An den Universitäten Tübingen und Rostock sowie an der Hochschule Bremen wurden Zivilklauseln direkt in die Statuten der Hochschulen aufgenommen. Immer mehr Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler möchten sich also im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Hochschule nicht an der Entwicklung militärischer Güter beteiligen. Diese Position reflektiert nicht nur die deutsche Geschichte - es ist auch der bewusste Umgang mit der ethischen Verantwortung als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler. Die Haushaltsgesetze 2009 bis 2012 bescheinigen, dass das Bundesministerium für Verteidigung, BMVg, jährlich Summen zwischen 900 Millionen und 1,2 Milliarden Euro für „Wehrforschung, wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung und Erprobung“ ausgibt. Der Großteil dieser Gelder fließt an Institute der Ressortforschung sowie an private Firmen, doch auch an öffentlichen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen wird Rüstungsforschung und militärisch nutzbare Forschung betrieben. Nach bisherigen Erkenntnissen vergab das Bundesministerium für Verteidigung, BMVg, von 2006 bis 2009 jährlich etwa 8 Millionen Euro an Drittmitteln für wehrtechnisch relevante oder militärische Forschung an deutsche Hochschulen; rund 36 Millionen Euro flossen für dieselben Zwecke zwischen 2000 und 2010 jährlich an öffentliche Forschungseinrichtungen. Diese Zahl zeigt aber nur an, was offiziell für militärische Forschung ausgegeben wird. Die Frage, was eigentlich alles unter militärische und Rüstungsforschung fällt, ist abschließend nicht einmal geklärt. Und leider sind oftmals bei offiziell als zivil deklarierten Projekten und Mitteln keineswegs auch wirklich zivile Absicht und ziviler Zweck sichergestellt. Gerade im Rahmen des durch das Ministerium für Bildung und Forschung aufgelegten „zivilen Sicherheitsprogramms“ finden sich viele Forschungsprojekte, die unter den Begriff des „Dual Use“ fallen, Projekte also, die einem zivilen Zweck dienen, genauso aber auch militärisch genutzt werden können. Viele Forscherinnen und Forscher wissen also oftmals gar nicht, wie die Ergebnisse ihrer Forschung letztlich verwertet werden. Sie sind Teil eines Großprojektes und arbeiten in ihren speziellen Teilbereichen, ohne zu erfahren, was als Endprodukt eigentlich herauskommen soll. Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben durch die fehlende klare Abtrennung und die mangelnde Transparenz nicht einmal die Chance, sich die Gewissensfrage zu stellen, ob sie bereit wären, Militär- oder Rüstungsgüter zu entwickeln. Wenn die Bundesregierung ihre vielgepriesene „Wissenschaftsfreiheit“ wirklich ernst nehmen würde, dann würde diese für sie auch unterhalb der Leitungsund professoralen Ebene gelten - nämlich für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie müssen endlich wieder die Kontrolle über ihr wissenschaftliches Handeln bekommen; dafür ist die Herstellung von Transparenz eine Grundvoraussetzung. Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag deshalb auf, sich für die Offenlegung von KooperationsZu Protokoll gegebene Reden verträgen zwischen Hochschulen und privaten Auftraggebern einzusetzen und eine entsprechende Verpflichtung in den jeweiligen Gesetzen zur Informationsfreiheit bzw. in den Hochschulgesetzen zu verankern. Wir fordern die Bundesregierung auch auf, die Geheimhaltung bei ihrer eigenen Vergabepraxis aufzuheben. Es kann nicht sein, dass Mittel aus dem Verteidigungsministerium an öffentliche Hochschulen und Forschungseinrichtungen dem Geheimschutz unterliegen und der öffentlichen Kontrolle vorenthalten werden. Die Bundesregierung sollte stattdessen gemeinsam mit den Ländern eine Initiative starten, um sicherzustellen, dass Forschung und Lehre an öffentlichen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ausschließlich zivilen und friedlichen Zwecken dient. Wir fordern, dass sich auch die Bundesregierung - genauso wie viele Studierende und einzelne Hochschulen - zu der im Grundgesetz verankerten Friedensverpflichtung bekennt und sich dafür einsetzt, dass bundesweit Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulen und Forschungseinrichtungen und in den jeweiligen Landeshochschulgesetzen verankert werden. Was wir brauchen, ist die Ausfinanzierung der Hochschulen in der Breite. Das würde die wissenschaftliche Unabhängigkeit gewährleisten, würde die Hochschulen unabhängig machen vom Druck, private Mittel einwerben zu müssen, um überhaupt forschen und lehren zu können. Das Verteidigungsministerium gibt jährlich über 1 Milliarde Euro für Wehrforschung aus. Kriege und bewaffnete Konflikte machen einen weltweit wachsenden Wirtschaftszweig aus: Laut des Stockholmer Instituts für Friedensforschung belaufen sich die weltweiten Staatsausgaben für Militär- und Rüstungsgüter auf 1,74 Billionen US-Dollar im letzten Jahr. Der aktuelle OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2012“ hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie dringend in der Bundesrepublik Bildungschancen und Sozialstatus entkoppelt werden müssten: Nur 20 Prozent der jüngeren Beschäftigten in Deutschland haben einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern, 22 Prozent einen niedrigeren. Damit ist die Bundesrepublik Schlusslicht unter den OECD-Ländern. Die Milliarden für Rüstungsgüter und militärische Forschung werden offensichtlich in diesem chronisch unterfinanzierten Bildungswesen dringend benötigt. Da wären sie besser aufgehoben!

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten mehr Transparenz bei der öffentlichen Forschungsförderung, dem Einsatz von öffentlichen Forschungsmitteln und bei Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen, staatlichen Forschungseinrichtungen und Dritten gefordert. Ich habe die Bundesregierung mehrfach aufgefordert gemäß der Empfehlung des wissenschaftlichen Beirats Kriterien zu entwickeln, die den zivilen Charakter des Rahmenprogramms Sicherheitsforschung gewährleisten. Wir brauchen zweifellos Spielregeln und Standards für Offenlegungspflichten und zur Wahrung der Freiheit der Wissenschaft. Aber den Antrag der Linken werden wir ablehnen. In diesem Antrag kommt die Linke mal wieder auf einem ziemlich hohen moralischen Ross daher. Aber diese Moral erweist sich ähnlich wie Herr Tur Tur bei „Jim Knopf“ als Scheinriese, der immer mehr zusammenschrumpft, je mehr man sich ihm zu nähern wagt. Als jemand, der Anfang der 80er-Jahre selbst in der Friedensbewegung aktiv war, muss ich feststellen, dass die Linke gedanklich und rhetorisch noch in der historischen Phase der Blockkonfrontation verhaftet ist, als verfeindete Staaten bzw. Staatenblöcke durch wechselseitige Hochrüstung und gegenseitige Drohung mit Vernichtung ein sogenanntes Gleichgewicht des Schreckens zu etablieren suchten und die Friedensbewegung sich mühte, diese grausame Logik zu durchbrechen. Inzwischen hat sich das internationale Völkerrecht - nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen wie innerstaatlicher ethnischer und nationalistischer Konflikte und asymmetrischer terroristischer Gewalt - weiterentwickelt. Das Völkerrecht und die UN als System kollektiver Friedens- und Sicherheitsordnung bejahen ausdrücklich die subsidiäre Schutzverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft „the responsibility to protect“ einschließlich der Option für militärische Interventionen als Ultima Ratio. Wer wie die Linke auf die besondere historische Verantwortung Deutschlands verweist, muss sich fragen lassen, ob diese Deutschland nicht geradezu verpflichtet, sich nicht in die Büsche zu schlagen, wenn die internationale Staatengemeinschaft die Notwendigkeit einer solchen subsidiären Schutzverantwortung unter Einsatz auch militärischer Mittel im Einzelfall feststellt. Es ist schon seltsam, wenn bei der Linken die historische Verantwortung dafür herhalten muss, dass Deutschland die Teilnahme an internationalen UNmandatierten Einsätzen lieber den Ländern überlassen soll, die seinerzeit mit nationalsozialistischem Angriffskrieg und Besatzung überzogen wurden, kleine Länder wie Dänemark und Norwegen, bei denen der gesellschaftliche Konsens darüber viel größer ist, dass man manchmal den Versuch machen muss, Menschen davor zu bewahren, in ethnischen, religiösen oder nationalistischen Konflikten abgeschlachtet zu werden - auch wenn dies nicht heißt, dass dies immer möglich ist oder immer gelingt. Was es bedeutet, wenn der Versuch unterbleibt und die Staatengemeinschaft sich auf ziviles Zugucken verlegt, davon habe ich mich selbst 1996 in Bosnien überzeugen können. Wenn sich Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten freiwillig für solche schwierigen und gefährlichen Aufgaben auf der Basis demokratischer politischer Entscheidungen zur Verfügung stellen, dann haben sie das Recht auf gute Ausbildung, gute Vorbereitung und optimale Ausrüstung für solche Einsätze. Alles andere wäre verantwortungslos. Zu Protokoll gegebene Reden Die Auffassung, es sei per se unmoralisch, durch Forschung und Entwicklung zur Verbesserung und Weiterentwicklung dieser Ausrüstung beizutragen, teile ich nicht. Richtig ist, dass in diesem Zusammenhang wichtige politische Fragen der Rüstungskontrolle und des Rüstungsexports geklärt werden müssen, und dazu gibt es auch von uns jede Menge kritische Beiträge. Aber die Behauptung der Linken, jede Forschung und Entwicklung, die nicht ausschließlich zivilen Zwecken diente, verstoße gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes, halte ich für ziemlich weit hergeholt. Dann wäre unser Grundgesetz ja mit dem internationalen Völkerrecht nicht kompatibel. Noch abenteuerlicher finde ich die Behauptung, die bloße mögliche Doppelnutzung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen sei ebenfalls mit der Friedenspflicht des Grundgesetzes unvereinbar. Gerade im Bereich IT-intensiver Entwicklungen ist es unvermeidbar, dass viele dieser Dinge sowohl in der Polizeiarbeit, beim Katastrophenschutz, bei der Verkehrs- und Bauüberwachung oder auch in einem militärischen Umfeld genutzt werden können. Die gesamte Forschung in diesem Kontext für unmoralisch und verfassungswidrig zu erklären, halte ich für absurd. Es liegt nun mal auch in der Natur asymmetrischer terroristischer Gewalt, dass sie im Inland gegen die Zivilbevölkerung zuschlagen kann oder im Ausland bei internationalen Einsätzen. Sollen deshalb Entwicklungen zur Gefahrstofferkennung per se unmoralisch sein? Und was ist überhaupt die Moral bei der Geschichte? Wenn ein Sensor dazu eingesetzt werden kann, einen verloren gegangenen Feuerwehrmann in einem brennenden Gebäude aufzuspüren, ist er gut, und wenn der gleiche Sensor hilft, einen verloren gegangenen Soldaten bei einem Einsatz wiederzufinden, ist er böse - oder was ist die Moral der Linken? Natürlich gibt es bei sicherheitstechnologischen Entwicklungen wichtige Fragen in der Abwägung zwischen Bürgerrechten und Sicherheitsbedürfnissen. Diese Fragen lassen sich aber nicht mit Forschungsverboten und moralischen Stigmatisierungen beantworten. Aber die Linke will ja sogar öffentlichen Hochschulen die geisteswissenschaftliche Forschung über Auslandseinsätze am liebsten verbieten - als wenn es da nichts Nützliches zu lernen gäbe, und sei es aus Fehlern, die man nicht wiederholen sollte. Ob Hochschulen oder Forschungseinrichtungen eine Zivilklausel einführen wollen und was sie beinhalten soll, darüber sollten diese selbst entscheiden. Das Wichtigste dabei scheint mir ein offener intensiver Diskussionsprozess. Die staatliche Verordnung einer solchen Klausel widerspricht der autonomen Leitbildentwicklung. Die Motive der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei den älteren Zivilklauseln waren klar: Sie wollten nicht zur Vorbereitung eines Angriffskrieges beitragen. Wie müsste eine Friedensklausel heute aussehen, die dem Friedenswunsch im Rahmen einer kollektiven Friedens- und Sicherheitsordnung entspricht und neuen gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen gerecht werden kann. Darüber lohnt sich die Debatte. Aber die Antwort ist aus meiner Sicht nicht so einfach, wie die Linke sich das vorstellt. Für mich steht das Massaker von Srebrenica - der Völkermord an 8 000 muslimischen Bosniaken im Alter zwischen 12 und 77 Jahren trotz der Anwesenheit von Blauhelmsoldaten - auch dafür, dass es eine Illusion ist, zu glauben, „ausschließlich zivile Zwecke“ seien immer und überall identisch mit „friedlichen Zwecken“. Übrigens sollte die Linke bei aller moralischen Überhöhung bedenken, dass das Hauptproblem von Herrn Tur Tur war, das seine scheinbare Riesenhaftigkeit ihn ziemlich einsam machte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9979 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Postbeamtenversorgungskasse ({0}) - Drucksache 17/10307 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) - Drucksache 17/10853 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Brackmann Carsten Schneider ({2}) Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz ({3}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem vorliegenden Gesetz übertragen wir die Aufgaben der Postbeamtenversorgungskasse BPS-PT auf die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost. Wir kommen damit insbesondere vom Bundesrechungshof geäußerten rechtlichen Bedenken nach. Worum geht es genau? Der BPS-PT ist Anfang 2011 aus der Verschmelzung der von der Deutschen Telekom, der Deutschen Post und der Deutschen Postbank im Jahre 1995 gegründeten Unterstützungskassen in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins entstanden. Hauptaufgabe der Postbeamtenversorgungskasse ist es, Versorgungs- und Beihilfeleistungen an Versorgungsempfänger der früheren Deutschen Bundespost und der Postnachfolgeunternehmen zu erbringen. Sie betreut derzeit fast ein Fünftel der Versorgungsempfänger in der Bundesrepublik und ist damit die größte Beamtenversorgungskasse in Deutschland. Finanziert wird der BPS-PT durch Beiträge der Postnachfolgeunternehmen und durch den Bund. Der Bund leistet dabei den größten Teil der Zuführungen an die Postbeamtenversorgungskasse. Diese beliefen sich im Jahr 2011 auf rund 6,3 Milliarden Euro. Im laufenden Jahr sind rund 6,8 Milliarden Euro vorgesehen. Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit wiederholt die Rechtsform des BPS-PT als privatrechtlicher Verein kritisiert, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der umfangreichen finanziellen Zuwendungen des Bundes an die Kasse. Kritisch wurde dabei insbesondere gesehen, dass rechts- und fachaufsichtliche Entscheidungen gegenüber dem Verein nur eingeschränkt durchgesetzt werden können. Wir akzeptieren die Kritik des Bundesrechnungshofs und übertragen mit dem heute debattierten Gesetz die Aufgaben sowie die vermögensrechtlichen Rechte und Pflichten der Postbeamtenversorgungskasse auf die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost, wie sie korrekt heißt. Die Bundesanstalt wurde im Rahmen der zweiten Stufe der Postreform im Jahr 1995 als Anstalt des öffentlichen Rechts eingerichtet. Sie nimmt unternehmensbezogene und soziale Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeunternehmen wahr. Dafür wird sie im Wesentlichen von diesen finanziert. Die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geplante Aufgabenübertragung ist aus unserer Sicht ohne größere Probleme und kostengünstig möglich. Den öffentlichen Haushalten entstehen weder dadurch noch durch die sonstigen Regelungen des Gesetzes zusätzliche Kosten. Die Verwaltungskosten der Postbeamtenversorgungskasse wurden schon bisher von den Postnachfolgeunternehmen getragen. Sie werden es auch weiterhin tun. Die Rechtsformänderung ist im Detail mit vielen Regelungsanpassungen verbunden, stellt aber insgesamt einen eher technischen Akt dar. Ich möchte im Folgenden noch auf einen besonderen Aspekt dieser technischen Umsetzung hinweisen. In den Jahren 2005 und 2006 hat der BPS-PT in einer umstrittenen Aktion einen Großteil der gegenüber den Postnachfolgeunternehmen bestehenden, zukünftigen Beitragsforderungen an zwei Zweckgesellschaften verkauft und übertragen. Der BPSPT steht für diese Forderungen gerade. Er hat diese Garantie durch die Verpfändung seiner Ansprüche gegen den Bund abgesichert. Zur Finanzierung der von den Verbriefungszweckgesellschaften an den BPS-PT gezahlten Kaufpreise haben die Zweckgesellschaften Anleihen am internationalen Kapitalmarkt platziert. Auf Grund der erzielten Verkaufserlöse musste der Bund in den Jahren 2005 und 2006 keinen und im Jahr 2007 nur einen geringen Zuschuss an die Postbeamtenversorgungskasse leisten. In Bezug auf die jetzige Aufgabenübertragung ist zu sagen, dass die Bundesanstalt in sämtliche im Zusammenhang mit den Forderungsverkäufen begründete vertragliche Rechte und Pflichten eintritt. Die Rechte der Gläubiger aus den Forderungsverkäufen bleiben gewahrt. Pfandrechte und sonstige Sicherungsrechte bestehen unverändert fort. Der Gesetzentwurf ist auch mit Blick auf mögliche Kapitalmarktrisiken sehr genau geprüft und mit den relevanten Akteuren besprochen worden. Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die weiteren wesentlichen Neuregelungen des Gesetzes hinweisen: Da ist erstens die Verlängerung der Regelungen zum Vorruhestand für die bei den Postnachfolgeunternehmen beschäftigten Beamtinnen und Beamten um vier Jahre. Zweitens schaffen wir mit dem Gesetz eine Ermächtigungsgrundlage für unternehmensspezifische Regelungen zur Altersteilzeit. Schließlich besteht mit dem Gesetz die Möglichkeit der dauerhaften Zuweisung von Beamtinnen und Beamten an Konzernmutter- und -schwestergesellschaften der Postnachfolgeunternehmen. Dies wird aber niemals gegen den Willen der Betroffenen stattfinden. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem eher technischen Gesetz gleichwohl Sinnvolles regeln. Die Aufgaben des BPS-PT werden in der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost in guten Händen sein. Ich bitte Sie daher um breite Zustimmung.

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Unbürokratisch“, „kostengünstig“ und „effizient“ sind drei Eigenschaften, die dieses Gesetzesvorhaben in sich vereint. „Unbürokratisch“ und „kostengünstig“, das gilt, da die Aufgaben der Postbeamtenversorgungskasse für beamtenrechtliche Versorgungs- und Beihilfeleistungen vom Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. auf die bereits bestehende Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost übertragen werden. „Effizient“, das gilt aufgrund der erhöhten Durchsetzungskraft von rechtsund fachaufsichtlichen Entscheidungen des Bundes und der Umsetzung der Kritikpunkte des Bundesrechnungshofes. Die aus der früheren Deutschen Bundespost hervorgegangenen Unternehmen Deutsche Post AG, Deutsche Postbank AG und Deutsche Telekom AG, Postnachfolgeunternehmen, bedienen sich bei der Erfüllung ihrer Zahlungsverpflichtungen aus beamtenrechtlichen Versorgungs- und Beihilfeansprüchen der ihnen zugeordneten Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger der Postbeamtenversorgungskasse vom BundesPensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. Er betreut derzeit fast ein Fünftel der Versorgungsempfänger und ist damit die größte Beamtenversorgungskasse Deutschlands. Für rund 273 000 Ruhestandsbeamtinnen und -beamte, Witwen, Witwer und Waisen sind im Jahr 2011 rund 7,1 Milliarden Euro ausgezahlt worden. 2012 werden es mit einem Anstieg auf circa 274 000 Empfänger rund 7,3 Milliarden Euro sein Tendenz steigend. Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit wiederholt darauf hingewiesen, dass eine Erbringung von Versorgungs- und Beihilfeleistungen an die VersorZu Protokoll gegebene Reden gungsempfänger und Versorgungsempfängerinnen des Bundes sowie deren Hinterbliebene durch einen privatrechtlichen Verein - Postbeamtenversorgungskasse vom Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. - als Dauerlösung kritisch zu sehen ist, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen finanziellen Zuwendungen des Bundes. Zwar speist sich die im Jahre 1995 eingerichtete Kasse aus Leistungen der Postnachfolgeunternehmen, die Beiträge in Höhe von 33 Prozent der Bruttobezüge ihrer aktiven und der fiktiven Bruttobezüge ihrer beurlaubten Beamtinnen und Beamten zahlen und auch die Verwaltungskosten der Kasse übernehmen, jedoch leistet der Bund auch erhebliche Zuführungen zur Postbeamtenversorgungskasse. Im Jahr 2011 waren es rund 6,34 Milliarden Euro, und in diesem Jahr sollen es rund 6,75 Milliarden Euro sein. Mit der Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt kann nun die Kritik des Bundesrechnungshofes, der zudem die eingeschränkte Möglichkeit der Durchsetzung rechts- und fachaufsichtlicher Entscheidungen des Bundes gegenüber den Organen des Vereins monierte, behoben werden. Die Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt, die bereits langjährig die unternehmensbezogenen und sozialen Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeunternehmen wahrnimmt, ist effektiv und kostengünstig. Den öffentlichen Haushalten entstehen durch die Aufgabenübertragung und die Überleitung des Personals auf die Bundesanstalt sowie durch die sonstigen Regelungen des Gesetzes keine zusätzlichen Kosten. Die Verwaltungskosten der Postbeamtenversorgungskasse, die bislang bereits von den Postnachfolgeunternehmen getragen wurden, werden auch weiterhin von diesen getragen. Die Bundesanstalt tritt zudem in sämtliche begründete vertragliche Rechte und Pflichten unter anderem im Zusammenhang mit Forderungsverkäufen ein; die Rechte der Gläubiger aus den Forderungsverkäufen bleiben gewahrt. In den Jahren 2005 und 2006 hat der Verein - Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. - einen Großteil der gegenüber den Postnachfolgeunternehmen bestehenden, zukünftigen Beitragsforderungen an zwei Verbriefungsgesellschaften verkauft und übertragen. Der Verein hat die Höhe und Einbringlichkeit der verkauften Forderung garantiert und diese Garantie durch Verpfändung der ihm als Postbeamtenversorgungskasse zustehenden Ansprüche gegen den Bund abgesichert. Zur Finanzierung der von den Verbriefungsgesellschaften an den Verein gezahlten Kaufpreise haben die Zweckgesellschaften Anleihen begeben und am internationalen Kapitalmarkt platziert. Soweit der Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. im Zusammenhang mit den Forderungsverkäufen Pfandrechte oder sonstige Sicherungsrechte bestellt hat, bleiben diese ebenfalls unverändert. Neben der Aufgabenübertragung enthält der Gesetzentwurf drei weitere Neuregelungen, die den Postnachfolgeunternehmen bei der Erfüllung ihrer Beschäftigungspflicht für die noch verbliebenen circa 110 000 Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundespost dienen. Die Regelungen zum Vorruhestand für die bei den Postnachfolgeunternehmen beschäftigten Beamtinnen und Beamten sollen um vier Jahre verlängert werden, und es soll eine Ermächtigungsgrundlage für unternehmensspezifische Regelungen zur Altersteilzeit geschaffen werden. Darüber hinaus soll es die Möglichkeit der dauerhaften Zuweisung von Beamtinnen und Beamten an Konzernmutter- und -schwestergesellschaften der Postnachfolgeunternehmen geben; jedoch setzt diese Zuweisung stets die Zustimmung der Beamtin oder des Beamten voraus. Die Neuregelungen gehen auf entsprechende Vorschläge der Postnachfolgeunternehmen zurück, die hinsichtlich Vorruhestand und Altersteilzeit auch von den Gewerkschaften unterstützt werden. Der Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. bleibt nach der Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt bestehen. Das Bundesministerium der Finanzen wird den von ihm benannten Mitgliedern des Vereins jedoch empfehlen, für eine Auflösung des Vereins wegen Aufgabewegfalls zu votieren.

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation bekommt ab 2013 zu ihren bisherigen Aufgaben neue hinzu. Sie wird die Angelegenheiten der Postbeamtenversorgungskasse, auch Bundes-Pensions-Service für Post- und Telekommunikation e. V., vollständig übernehmen. Die Arbeitsplätze der Mitarbeiter sind gesichert, sie werden in Gänze von der Bundesanstalt übernommen. Alle Fraktionen unterstützen die Reform. Wir beschließen deshalb heute gemeinsam den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Bisher hat sich die Postbeamtenversorgungskasse um die Versorgung, also die Pensionsangelegenheiten, sowie um die Beihilfeleistungen bei Krankheit der Ruhestandsbeamtinnen und -beamten der Postnachfolgeunternehmen und deren Hinterbliebenen gekümmert. Dabei handelt es sich um rund 275 000 Versorgungsempfänger. Die Postbeamtenversorgungskasse betreut damit fast ein Fünftel der gesamten Versorgungsempfänger und ist die größte Versorgungskasse in Deutschland. Da mit der Übertragung ihre Aufgaben wegfallen, wird das Bundesfinanzministerium empfehlen, den Verein schließlich aufzulösen. Zwar ist mit dem Postpersonalrechtsgesetz 1994 beschlossen worden, dass die Postnachfolgeunternehmen dem Bund gegenüber die Versorgungs- und Beihilfekosten tragen müssen. Allerdings sind erhebliche Zuschüsse des Bundes nötig, um die Ansprüche der pensionierten Beamten voll zu decken. In den Jahren 2010 und 2011 hat der Bund die Postbeamtenversorgungskasse je mit knapp über 6 Milliarden Euro bezuschusst, für 2012 werden es voraussichtlich weit mehr als 6 Milliarden Euro sein. Die hohen Zuschüsse durch den Bund weisen darauf hin, um was es in der Neuregelung durch den Gesetzentwurf hauptsächlich geht: um bessere Aufsicht. Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit wiederholt Zu Protokoll gegebene Reden kritisiert, dass die Versorgungsangelegenheiten bei der Postbeamtenversorgungskasse in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins geregelt werden. Dieser unterliegt einer eingeschränkten Rechts- und Fachaufsicht durch das Bundesfinanzministerium, da es sich um einen privatrechtlichen Verein handelt. Aufsichtsentscheidungen können gegenüber den Organen des Vereins deshalb nur beschränkt durchgesetzt werden. Der Bundesrechungshof hat angemahnt, dass nicht zuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen Bundeszuschüsse dies keine Dauerlösung sein kann. Die Aufgaben sollten stattdessen an eine öffentlich-rechtliche Einrichtung übertragen werden. Mit dem Gesetzentwurf setzen wir diese Forderung um. Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation wurde im Zuge der Postreform 1995 als Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet. Bislang nimmt sie unternehmensbezogene und soziale Aufgaben wahr. Sie beaufsichtigt Personalentscheidungen und Stellenpläne der Postnachfolgeunternehmen. Die sozialen Aufgaben beziehen sich in der Hauptsache auf die Weiterführung der Sozialeinrichtungen der ehemaligen Deutschen Bundespost. Dazu gehören beispielsweise die Postbeamtenkrankenkasse, Wohnungsfürsorge und das Betreuungswerk für die Mitarbeiter der Postbeamtenversorgungskasse. Darüber hinaus verlängern wir mit dem Gesetzentwurf die Vorruhestandsregelungen für die Beamtinnen und Beamten bei den Postnachfolgeunternehmen für weitere vier Jahre. Dass damit bisher positive Erfahrungen gemacht wurden, haben auch die Spitzenorganisationen der Gewerkschaften bestätigt. Der Deutsche Beamtenbund, dbb, und der Deutsche Gewerkschaftsbund, DGB, begrüßen auch, dass das Bundesfinanzministerium künftig per Rechtsverordnung neben dem Laufbahnrecht und der Arbeitszeit auch die Altersteilzeit für die Postnachfolgeunternehmen gesondert regeln darf. Die allgemeinen Vorschriften berücksichtigen die besonderen Bedürfnisse der im Wettbewerb stehenden Unternehmen nicht ausreichend. Ich freue mich, dass wir fraktionsübergreifend diese Reformen auf den Weg bringen.

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit der Privatisierung der Deutschen Bundespost übernahm die Postbeamtenversorgungskasse die Verwaltung der Versorgungs- und Beihilfeleistungen an die den Postnachfolgeunternehmen Deutsche Post AG, Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank zugeordneten Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger sowie deren Hinterbliebene. Die bisherige Rechtsform eines eingetragenen Vereins ({0}) wurde vom Bundesrechnungshof in der Vergangenheit des Öfteren, zuletzt 2011, bemängelt und eine öffentlich-rechtliche Einrichtung angemahnt. Mit dem Gesetzentwurf hat die Bundesregierung die Kritik endlich aufgegriffen und schlägt die Überführung der Aufgaben des BPS-PT an die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost vor. Dieser Änderung der Rechtsform stimmt die Fraktion Die Linke zu. Zusätzlich ist im Gesetzespaket eine Verlängerung der Vorruhestandsregelungen um 4 Jahre vorgesehen. Auch das begrüßen wir, da solch eine Regelung von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausdrücklich gefordert wird. Wie Sie wissen, ist die Privatisierung der Deutschen Bundespost von der PDS und den Linken abgelehnt und kritisch begleitet worden. Immer wieder haben wir angemerkt, dass der Trend bei den Nachfolgeunternehmen, insbesondere bei der Deutschen Post AG und den ausgelagerten Bereichen, zu Geringbeschäftigung, überproportional vielen Überstunden und Sonderschichten, Personalabbau und Ausdünnung der Versorgungsdichte geht. Die Privatkunden stehen heute oftmals schlechter da, als vor der Privatisierung. Die Preise steigen immer weiter, und die Kunden müssen zunehmend mehr Leistungen selbst erbringen. Der gleiche kapitalistische Geist wehte offensichtlich auch, als der Verkauf der Forderungen gegen die Postnachfolgeunternehmen durch den Bundes-PensionsService für Post und Telekommunikation e. V. im Jahr 2005 durchgeführt wurde. Das hat bis heute Folgen. Für den Bundeshaushalt erbrachte dieses Konstrukt in den Jahren 2005 bis 2007 kurzfristig einen Liquiditätsvorteil. Ab dem Jahr 2008 musste der Bundeshaushalt den Finanzbedarf fast vollständig selbst tragen. In diesem Jahr werden Zuwendungen in Höhe von 6,755 Milliarden Euro geleistet. Längerfristig gesehen entgehen dem Bund Einnahmen, die er ohne Verbriefung gehabt hätte. Unter dem Strich ist es ein Minusgeschäft! Man kann sich aussuchen, ob die Idee zur Verbriefung einfach nur dem neoliberalen Zeitgeist entsprach, oder dem immer wieder zu beobachtenden Trend zur Verschiebung der Finanzierung von Pensionszahlungen auf zukünftige Generationen zuzurechnen ist. Unzureichende Rücklagen und geplünderte Pensionsfonds in Bund und Ländern werden dem Steuerzahler eine immense Belastung aufbürden. Das Prozedere aus dem Jahre 2005 wird einen nicht unbedeutenden Anteil an dieser fatalen Entwicklung tragen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Bundesrechnungshof hat zu Recht wiederholt kritisiert, dass die Postbeamtenversorgung bisher nicht über eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, sondern über einen eingetragenen Verein organisiert ist. Die Kritik ist nachvollziehbar, es geht hier um milliardenschwere Versorgungsausgaben, die sollten auch vernünftig organisiert werden; das ist völlig richtig. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, diese milliardenschweren Versorgungsausgaben der Postbeamtenversorgung nicht wie bislang durch den BundesPensions-Service für Post und Telekommunikation e. V., also durch einen eingetragenen Verein, abzuwickeln, sondern durch eine öffentlich-rechtliche Einrichtung zu vollziehen. Die Bundesregierung trägt der Kritik des Zu Protokoll gegebene Reden Priska Hinz ({0}) Rechnungshofes nun also Rechnung. Die Aufgaben der Postbeamtenversorgungskasse werden durch die Gesetzesänderung auf die „Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost“ übertragen. Das ist so weit auch in Ordnung, das ist sogar sinnvoll, dass hier endlich eine deutliche Verbesserung erreicht wird. Wenn man aber den Fokus auf die geplanten Änderungen des Postpersonalrechtsgesetzes im Hinblick auf die Möglichkeiten der Tätigkeitszuweisung richtet, muss eines klar sein: Wir reden hier über mehr als 100 000 Bundesbeamtinnen und -beamte, die von ihrem Arbeitgeber bundesweit ohne ihre Zustimmung und ohne zeitliche Begrenzung „versetzt“ werden können. Für diese Beamtinnen und Beamten haben auch wir als Bundestag eine Fürsorgepflicht; da müssen wir genau hinschauen. Der neu gefasste § 4 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 und 2 des Postpersonalrechtsgesetzes bedeutet für die Beamtinnen und Beamten der Postnachfolgeunternehmen, dass für sie die strikteren Zuweisungsregeln des Bundesbeamtengesetzes, die vor unzumutbaren Zuweisungen schützen, nicht in Gänze gelten. Sie sind also schlechter geschützt als andere Bundesbeamtinnen und -beamte. Man verlangt ihnen eine höhere Flexibilität in der Lebensplanung ab. Es kann ja sein, dass diese höhere Flexibilität bei einem betriebswirtschaftlich ausgerichteten Arbeitgeber auch sinnvoll sein kann, das will ich gar nicht grundsätzlich bezweifeln. Das will ich an dieser Stelle deutlich sagen, damit hier kein falscher Eindruck entsteht. Ich will aber auch deutlich sagen, dass der betriebswirtschaftliche Druck in Richtung Zuweisung den betroffenen Personen in der Praxis faktisch kaum eine Wahl lässt, auch wenn nach dem Gesetz eigentlich ihre Zustimmung erforderlich ist. Auch vor diesem Hintergrund ist für unsere Fraktion maßgeblich und wichtig, dass Kriterien der sozialen Zumutbarkeit auch weiterhin bei Zuweisungsentscheidungen berücksichtigt werden müssen. Nicht zuletzt geht es hier zu einem großen Anteil um Menschen im einfachen und mittleren Dienst. In diesem Sinne fordere ich das Bundesministerium der Finanzen anlässlich der heutigen Beratung auf, die Ausführungshinweise für Zuweisungen, die das Ministerium im Jahre 2004 erlassen hat, auf die Neuregelung des Postpersonalrechtsgesetzes inhaltsgleich zu übertragen. Die bisherige Gleichbehandlung von Tarifbeschäftigten und Beamtinnen und Beamten beim Rationalisierungsschutz darf nicht aufgegeben werden. Der bestehende Standard muss erhalten bleiben. Für die Rechte der Beamtinnen und Beamten bei der Post tragen Sie ganz direkt auch Verantwortung. Ich bitte Sie darum, dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Insgesamt unterstützen wir das Anliegen des Gesetzentwurfes vollkommen, die Änderungen sind sinnvoll und dafür haben Sie unsere Unterstützung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/10853, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10307 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sahel-Region stabilisieren - Humanitäre Katastrophe eindämmen - Drucksache 17/10792 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die humanitäre Lage in der Sahelregion darf uns nicht unberührt lassen. Menschenleben sind in Gefahr. Unschuldige Kinder stehen vor dem Hungertod. Mit meinem geschätzten Kollegen Thilo Hoppe habe ich mir vor einigen Monaten bei einer Reise ans Horn von Afrika ein Bild machen können von den Zuständen in den Flüchtlingscamps, die infolge der Dürrekatastrophe im vergangenen Jahr entstanden sind. Schon damals wurden wir vor Ort in der Region Ostafrika auf die bevorstehende Ausweitung der Dürre und ihrer humanitären Folgen in das nordwestliche Gebiet der Sahelzone hingewiesen. Spiegel Online berichtete bereits am 23. März 2012 unter der Überschrift „In der Sahelzone droht eine Hungerkatastrophe“ von der Lage im Sahel. Mit Sebastian Lesch wurde der Sprecher des Entwicklungshilfeministeriums zitiert, der zu diesem Zeitpunkt bereits konstatierte, dass mehr als 10 Millionen Menschen von Hunger bedroht seien. Diese befürchtete Verschärfung der humanitären Situation in der Sahelregion ist nun bittere Realität geworden. Am 1. August lasen wir in der Süddeutschen Zeitung von einem aktuellen Bericht der Hilfsorganisationen „Save the Children“ und „World Vision“: „Den Organisationen zufolge sind bald 1 Million Menschen in der Region akut vom Hungertod bedroht. Insgesamt seien mehr als 18 Millionen Menschen von Unterernährung betroffen.“ Laut UNICEF sind mehr als 1 Million Kinder in der Sahelzone in akuter Lebensgefahr. Wie der Antrag richtig beschreibt, ist „die Sahelregion eines der ärmsten Gebiete der Welt. Seit Jahren kommt es in den Ländern dieser Region durch Dürren und Misswirtschaft zu Lebensmittelkrisen. Ernteausfälle, politische Umbrüche in den Staaten Nordafrikas, die Rückkehr bewaffneter Söldner aus Libyen und der Elfenbeinküste, organisierte Kriminalität, islamistischer Terrorismus sowie Kampfhandlungen im Norden Malis haben die Ernährungskrise und fragile Sicherheitslage in der Sahelregion dramatisch verschärft“. In welche Richtung muss die Hilfe nun weisen? Nun, es ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig, wie das Zitat aus dem Antrag bestätigt. Von weitreichenden politischen Initiativen, zu denen auch mögliche militärische Interventionen in einzelnen Ländern gehören können, bis zu schneller humanitärer Hilfe muss das Portfolio der Instrumente reichen. Der Antrag stellt daher auch insgesamt 20 verschiedene Forderungen an die Bundesregierung. Allerdings verzettelt sich für meine Begriffe damit leider das gutgemeinte und notwendige Anliegen. Was ist tatsächlich zu tun? Zunächst einmal ist es wichtig, die humanitären Hilfen und politischen Instrumente bestmöglich zu koordinieren. Dies geschieht auf der Ebene der Vereinten Nationen durch das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen - UNOCHA -, das VN-Kinderhilfswerk - UNICEF - und VN-Flüchtlingshilfswerk, UNHCR. Auf dieser Ebene ist dringend geboten, eine dauerhafte Konferenz zur humanitären Lage in der Sahelzone zu installieren, wie es auf EU-Ebene geplant ist. Neben der aktuellen Abstimmung der Maßnahmen bedarf es unbedingt der Entwicklung eines Frühwarnsystems für das gesamte Subsahara-Afrika. Zu begrüßen ist auf der Ebene der EU, dass bereits im Juni eine neue Partnerschaft der Geberländer, die Initiative mit dem Namen AGIR Sahel, Alliance Globale pour l'Initiative Resilience, ins Leben gerufen und die humanitäre Hilfe der EU um 40 Millionen Euro auf 337 Millionen Euro - zusätzlich zu den 208 Millionen Euro für die Finanzierung laufender Projekte für Ernährungssicherheit - aufgestockt wurde. Vertreter der EU-Mitgliedstaaten, der USA, Norwegens, Brasiliens, der Vereinten Nationen, der Weltbank, der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit sowie Botschafter der Sahelländer, Vertreter zweier regionaler Organisationen - ECOWAS und UEMOA - und Vertreter der Zivilgesellschaft sind zu AGIR eingeladen. EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs erklärte zu AGIR: „In der heutigen Zeit ist es schwierig zu akzeptieren, dass manche Menschen nicht genug zu essen haben. Dies kann verhindert werden, indem mit den Sahelländern und internationalen Partnern zusammengearbeitet wird, um tragfähige landwirtschaftliche Systeme aufzubauen und somit künftige Krisen zu vermeiden. Allerdings kann eine solche Widerstandsfähigkeit nicht über Nacht entwickelt werden. Die Initiative AGIR Sahel wird alle wichtigen Akteure auf diesem Gebiet zusammenbringen und den Menschen in der Region auf lange Sicht Hoffnung auf eine stabilere Zukunft geben. Die EU wird ihren Teil leisten und in den kommenden Jahren die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit in den Mittelpunkt ihrer Unterstützung stellen. Damit wird eine fundamentale Grundlage geschaffen, um auf nachhaltiges und breitenwirksames Wachstum hinzuarbeiten.“ Piebalgs findet darin meine uneingeschränkte Zustimmung. Natürlich engagiert sich auch die Bundesregierung in der Sahelregion. Das BMZ hat im August seine Unterstützung um 14,7 Millionen Euro, die Bundesregierung ihre Unterstützung damit auf insgesamt 51 Millionen Euro aufgestockt. Sie ist damit drittgrößter bilateraler Geber des Welternährungsprogramms in der Sahelkrise. Das BMZ und das Auswärtige Amt stehen in ständigem Kontakt untereinander und mit den Partnern in Europa sowie den in der Sahelregion tätigen NGOs. Die Notwendigkeit einer Aufstockung der Hilfe wird jederzeit weiter im Blick behalten. Doch noch einmal zurück zu meinen persönlichen Eindrücken. Thilo Hoppe und ich sind tapferen Menschen begegnet, die unter katastrophalen Umständen leben müssen, und die Erstaunliches leisten. Der Begriff „humanitäre Katastrophe“ ist spätestens nach solchen Begegnungen kein leerer Fachterminus mehr, sondern es verbergen sich Gesichter und Geschichten hinter den nackten Zahlen. Es geht um Menschen. Um diesen Menschen zu helfen, müssen wir die politischen Aktivitäten in Europa und den Vereinten Nationen bündeln. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger zu verstärktem Engagement und Spendenbereitschaft motivieren, indem wir diese „vergessene Region“ thematisieren. Wir müssen internationale NGOs unterstützen - und alles das über Parteigrenzen hinweg. Darum begrüße ich den heutigen Antrag und diese Debatte. Ich hoffe, sie führt zu einer größeren Wahrnehmung der Sahelregion in der Öffentlichkeit. Doch wir dürfen die konzertierten Hilfen der Weltgemeinschaft und den starken Anteil der Bundesrepublik dabei nicht kleinreden.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute befassen wir uns mit einem Thema, welches schon längst auf der Tagesordnung des Plenums hätte stehen sollen, ein Thema, das schon längst mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Die humanitäre Lage in der Sahelzone ist, zweifelsohne und nicht erst seit gestern, katastrophal. Bereits vor einigen Monaten haben internationale Hilfsorganisationen auf die sich anbahnenden Probleme hingewiesen. Auch die bestehenden Frühwarnsysteme, die es seit der Hungerkatastrophe am Horn von Afrika im Jahr 2011 gab, haben auf diese Entwicklung hingewiesen. Dank dieser konnten erste Maßnahmen eingeleitet und internationale und nationale Hilfe auf die anstehenden Bedürfnisse angepasst werden. Es ist unerlässlich, jetzt sofort und auf schnellstem Wege Hilfen für die Bewohnerinnen und Bewohner der Sahelregion bereitzustellen. Gleichwohl muss im gleichen Augenblick auch daran gedacht werden, wie eine Krise wie die derzeitige zuZu Protokoll gegebene Reden künftig effektiv verhindert und die umfangreichen Risikofaktoren für Hunger sowie die Krisenanfälligkeit der Region abgemildert, besser gänzlich beseitigt, werden können. Ein wesentliches Problem ist derzeit die anhaltende Dürre sowie die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Prinzipiell sind die Märkte der Region in der Lage, klimabedingte Schwankungen in der Verfügbarkeit von Rohstoffen zu verkraften. Es sind zumindest statistisch ausreichend Anbaukapazitäten und Lebensmittel vorhanden; allerdings können diese aufgrund des hohen Preises von der lokalen Bevölkerung nicht mehr erworben werden. Preissteigerungen bei Getreide von bis zu 20 Prozent werden beobachtet; in einigen Regionen berichtet die Welthungerhilfe von weitaus größeren Steigerungen. Besonders die erhöhten Weltmarktpreise für Rohstoffe haben die Lage der Bevölkerung in der Sahelzone verschlimmert. So sind in letzter Zeit vermehrt Spekulationen auf Rohstoffe zu beobachten. Dies führt zu einem erheblichen Anstieg des Preisniveaus für Reis, Mais und Zucker. Es ist unerträglich, dass sich große Fonds und Banken zulasten der ohnehin Ärmsten der Armen bereichern und es für eine Familie nicht mehr möglich ist, ihren Kindern mehr als eine Tasse Tee am Morgen als Nahrung anzubieten. Nach der Linderung der akuten Not müssen wir diese Frage angehen und aktiv gegen diese anstößige Praxis von Finanzinvestoren vorgehen. Durch die politischen Umwälzungen in den Ländern der Sahelzone wird die akute Notlage weiter verschärft. Einerseits entsteht durch rückkehrende Flüchtlinge ein hoher Druck auf die angespannte Versorgungslage; andererseits ist der Zugang in die am schwersten betroffenen Regionen durch unklare und unsichere Verhältnisse sowie gewaltsame Auseinandersetzungen erheblich erschwert, teilweise sogar unmöglich. Insbesondere in Mali ist die Lage extrem angespannt. Infolge des Putsches und der instabilen politischen Verhältnisse, aber auch der Nahrungsmittelkrise flüchteten mittlerweile über 250 000 Malier in die Nachbarländer Burkina Faso, Mauretanien und Niger. Außerdem gab es im selben Zeitraum rund 185 000 Binnenflüchtlinge innerhalb Malis. Sowohl die ausreichende Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln, Wasser und Unterkunft als auch ihre medizinische Versorgung sind mangelhaft. Fast eine halbe Million Menschen sind ohne Heimat und Obdach. Zwischenzeitlich berichten Hilfsorganisationen auch vom Auftreten von Cholera, die durch das enge Zusammenleben der lokalen Familien und der zahlreichen Flüchtlinge bedingt sind. Die schlechte Ernährungssituation und die Überflutungen im Niger sind ein weiterer Herd für die Ausbreitung von Cholera und anderen Krankheiten. Zunehmend bedienen sich auch internationale Verbrechergruppen der Sahelregion, um von hier aus ungehindert Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zu betreiben. Einige Organisationen sprechen bereits vom „Pulverfass Sahelzone“, da sich in dem enormen, über mehrere Ländergrenzen greifenden Gebiet ein nahezu rechtsfreier Raum entwickelt hat, der unter anderem bewaffneten und terroristischen Gruppen wie Boko Haram und der al-Schabab als Rückzugsgebiet dient. Kaum einem der Sahelstaaten gelingt es, auch aufgrund der Topografie, sein Territorium zu kontrollieren. Das Operieren der Gruppierungen setzt die Bevölkerung vor Ort erheblichen Gefahren aus und erschwert auch die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen. Wir fordern in diesem Zusammenhang auch eine stärkere Kontrolle der deutschen Rüstungsexporte. Zunehmend oft werden deutsche Rüstungsgüter, insbesondere Klein- und Leichtwaffen, in Staaten exportiert, die den Verbleib der Waffen nicht kontrollieren können oder nicht transparent über den Verbleib berichten. Insbesondere unter dem Aspekt, dass auch terroristische Organisationen in den Staaten der Sahelregion operieren, müssen Waffenexporte genauer kontrolliert und gegebenenfalls auch eingestellt werden. Langfristig müssen die politischen und sicherheitspolitischen Verhältnisse vor Ort so stabilisiert werden, dass die Menschen sich niederlassen und ihre Versorgung sicherstellen können, ohne befürchten zu müssen, gewaltsamen Auseinandersetzungen ausgesetzt zu werden. Deshalb ist eine Lösung des Konflikts in Nordmali im vorrangigen Interesse der benachbarten Staaten in Westafrika, insbesondere aber natürlich der dort lebenden Menschen. Es ist daher äußerst positiv zu bewerten, dass seit Dienstag eine grundsätzliche Einigung zwischen Mali und der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS über die Bedingungen und den Einsatz aller erforderlichen Mittel vorliegt. In den kommenden Tagen wird eine formelle Einigung über die Stationierung von Truppen, unter anderem in Bamako, erwartet. Nach ersten Informationen soll die Hilfe von ECOWAS-Personal erbracht werden, um so eine höhere Akzeptanz bei der Bevölkerung herzustellen. Wir begrüßen diese innerafrikanische Initiative und erwarten, dass auch ein hochrangiges Treffen am Rande der UN-Vollversammlung in New York weitere konkrete kurz- und langfristige Hilfen für die Menschen in der Sahelregion hervorbringt. Wir fordern die Bundesregierung dringend dazu auf, gerade als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen selbst Unterstützung zu leisten und bei den Partnern dafür zu sorgen, dass die notwendige Unterstützung der Staatengemeinschaft nicht entweder an den Interessen einzelner Staaten scheitert oder mit dramatischen Folgen für die betroffene Bevölkerung verzögert wird. Die derzeit sichtbaren akuten Probleme werden flankiert von grundlegenderen Herausforderungen, die in langfristigen Entwicklungsprojekten bearbeitet werden müssen. So ruft der weltweite Klimawandel in der Sahelregion bereits sehr deutliche Veränderungen hervor. In einer Region, in der Ackerbau, Landwirtschaft und Viehzucht schon heute äußerst mühsam und wenig ertragreich sind, sind sich ausbreitende Desertifikation und zunehmend unregelmäßige Niederschläge eine Katastrophe. Zudem belastet der weiterhin hohe Bevölkerungsanstieg die angespannte Versorgungslage der Bevölkerung. Nach der gegenwärtig notwendigen Akutversorgung mit Wasser und Lebensmitteln braucht es auch hier langfristige Strategien zur Verbesserung der Versorgungslage. Gemeinsam mit internationalen OrgaZu Protokoll gegebene Reden nisationen und in der bilateralen Zusammenarbeit müssen wir den Bäuerinnen und Bauern Strategien und Instrumente an die Hand geben, die es ihnen ermöglichen, unter veränderten klimatischen Bedingungen und bei drohenden oder akuten Extremwetterlagen ihre Versorgung trotzdem sicherzustellen. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung bereits mit Aufkommen der ersten Anzeichen für die Versorgungskrise gegen Ende des letzten Jahres und zu Beginn dieses Jahres Unterstützungsmaßnahmen ergriffen hat und über verschiedene Wege finanzielle Hilfen bereitgestellt hat. Gleichwohl scheint dies angesichts der fortschreitenden und sich verschlimmernden Krise wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir unterstützen daher die Forderung nach zusätzlichen Mitteln und Initiativen, um die Situation der Menschen vor Ort schnellstmöglich zu verbessern und ihre Not zu mildern. Wir müssen jetzt die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die akute Not in der Sahelregion zu lindern und in ausreichendem Maß Wasser, Nahrungsmittel, Unterkunft und medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen. Langfristig müssen wir uns jedoch darauf verständigen, die Staaten dabei zu unterstützen, die strukturellen Probleme, welche zu der aktuellen Notlage führten, zu bewältigen. Neben stabilen politischen Verhältnissen braucht es insbesondere auf dem Gebiet der Nahrungsmittelsicherheit grundlegende Veränderungen. Es muss sichergestellt werden, dass die regionale Landwirtschaft verbessert wird und den Bedingungen des Klimawandels angepasst wird. Es muss sichergestellt werden, dass an den internationalen Märkten keine Spekulationen auf Rohstoffe getätigt werden, die die Weltmarktpreise explodieren lassen. Denn wenn die Menschen die aktuelle Krise überstanden haben, müssen wir - wenn es keine strukturellen Veränderungen gibt - im nächsten Jahr bereits die nächste Akutmaßnahme verabschieden. Es wäre dramatisch, wenn die Menschen in der Sahelregion von einer humanitären Katastrophe in die nächste kämen. An der Beratung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen werden wir uns deshalb konstruktiv beteiligen.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eines schicke ich vorweg: Ich begrüße diese Debatte ausdrücklich. Bereits beim Besuch des Menschenrechtsauschusses in Genf beim Menschenrechtsrat im Mai hat man uns auf die Situation in der Region hingewiesen und die Brisanz der Lage verdeutlicht. Gestern fand am Rande der 67. Sitzung der VN-Generalversammlung eine Konferenz zur aktuellen humanitären und politischen Situation der Sahelregion statt. Ban Ki-moon hatte diese unter anderem einberufen, um die neue regionale Strategie der Vereinten Nationen für den Sahel vorzustellen. Die Länder der krisenerschütterten Region stehen vor zahlreichen Herausforderungen. Viele der Probleme verstärken sich gegenseitig. So verschärfen beispielsweise die anhaltenden Flüchtlingsströme aus Mali die ohnehin schon schlechte Nahrungsmittellage in der Region. Die Strategie der Vereinten Nationen verfolgt hierzu einen übergreifenden Ansatz und soll die Bereiche Sicherheit, Regierungsführung, Entwicklung und Menschenrechte sowie eine humanitäre Dimension umfassen. Dabei sollen insbesondere regionale Strukturen und grenzüberschreitende Herangehensweisen gefördert werden. Wenn wir die aktuellsten Zahlen zur humanitären Lage in der Sahelzone lesen, wird deutlich, dass es auch weiterhin eines solchen entschiedenen Handelns bedarf. Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen, UNOCHA, veranschlagt den humanitären Bedarf im Sahel auf 1,6 Milliarden USDollar. Etwa ein Fünftel der gesamten Bevölkerung der Region ist von Ernährungsunsicherheit bedroht; das sind 18 Millionen Menschen in neun Ländern. Die deutsche Bundesregierung hat schnell auf die ersten Berichte über eine bevorstehende Nahrungsmittelkrise im Sahel reagiert. Seit Ende 2011 haben wir insgesamt 55 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für die Region bereitgestellt. Die Gelder flossen in Nahrungsmittelhilfen des World Food Programme, in Flüchtlingshilfen von UNHCR, unterstützten die Verwundetenversorgung durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz oder humanitäre NGOs wie Help oder Care. Selbstverständlich werden wir dieses Engagement fortsetzen; aktuell gibt es zum Beispiel eine finanzielle Neuzusage an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz für Mali. Die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft wollen durch ihren Einsatz verhindern, dass aus der Krise eine Katastrophe wird. Humanitäre Hilfsorganisationen haben hier beachtliche Leistungen erbracht, vornehmlich für die 1 Million Kinder, die von der Nahrungsmittelkrise besonders betroffen sind. Dürren, Ernteeinbußen, steigende Lebensmittelpreise und kriegerische Umwälzungen verschärfen die Nahrungsmittelsituation der ohnehin unterentwickelten Region. Zwar gibt es die Hoffnung, dass die nächste Ernte im Oktober die Krise vorübergehend lindern wird und die Marktpreise wieder sinken werden. Zahlreiche malische Flüchtlinge werden dieses Jahr jedoch nicht ihre Felder bestellen können. Eine Wiederholung der Krisensituation ist damit vorprogrammiert. Hier offenbaren sich die strukturellen Probleme der Region, die bei akuter Unterstützung und Eindämmung der humanitären Notlage nicht ausgeblendet werden dürfen. Schwache Produktions- und Versorgungssysteme führen zu einer sprunghaft ansteigenden Unterernährung der Bevölkerung im Falle eines externen Schocks. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bundesregierung über die akute Nothilfe hinaus die Sahelregion auch dabei unterstützt, ihre Widerstandskraft dauerhaft zu verbessern. Dies geschieht durch den Aufbau von Nahrungsmittelreserven, das Fruchtbarmachen von Böden oder durch Schulungen von Kleinbauern. Eine Erkundungsmission der GIZ gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen hat die hohe Wichtigkeit einer Zu Protokoll gegebene Reden engen Abstimmung zwischen EZ-Programmen und humanitärer Hilfe bestätigt. Dies entspricht auch den ressortübergreifenden Leitlinien „Für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten“, die letzte Woche im Kabinett beschlossen wurden. So dramatisch die humanitäre Lage und die Nahrungsmittelkrise im Sahel sind, die politische Dimension dürfen wir bei allem akut gegebenen Handlungsbedarf nicht aus den Augen verlieren. António Guterres, der Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen, beklagte unlängst eine unzureichende Aufmerksamkeit für die politische Situation in Mali vonseiten der internationalen Gemeinschaft und sprach gar von einer „vergessenen Krise“. Dabei sind die Entwicklungen in Mali mehr als alarmierend; sie gefährden die Sicherheit und die Stabilität der Region auf ernst zu nehmende Weise. Der Kommissionspräsident der Afrikanischen Union, Jean Ping, sieht in der Krise gar eine der „ernsthaftesten Bedrohungen“ für den gesamten afrikanischen Kontinent. Seit dem Militärputsch im März ist das Land faktisch geteilt. Mali befindet sich in einer verheerenden Spirale von Marginalisierung, Nahrungsmittelknappheit, bewaffneten Auseinandersetzungen, Separatismus, Terrorismus und organisierter Kriminalität. Die Lage spitzt sich kontinuierlich zu, weitere Entwicklungen werden zunehmend unvorhersehbarer. Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi kehrten Tausende Söldner, meist Tuareg, die vom libyschen Machthaber rekrutiert worden waren, nach Mali zurück und kämpfen nun gegen die malische Armee. Während die Rebellion zunächst von säkularen Motiven wie Autonomiebestrebungen geprägt war, haben sehr schnell islamistische Kräfte an Einfluss gewonnen. Die „Bewegung für die Einheit und den Dschihad in Westafrika“, Mujao, al-Qaida im Maghreb, AQIM, und die mit ihnen verbündete radikal-islamische Gruppe Ansar al-Din beherrschen den Norden Malis und haben in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Scharia eingeführt. Die Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Navi Pillay, berichtete letzte Woche von grausamen Amputationen, Steinigungen, Massenhinrichtungen und der Verletzung von Frauenrechten aufgrund von Scharia-Vorschriften. Es ist unerlässlich, dass die malische Übergangsregierung entschiedene Bemühungen unternimmt, um die Ordnung im Land wiederherzustellen. Deutschland unterstützt dabei ausdrücklich den konsequenten Einsatz der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und stimmt sich bei seinen Aktivitäten mit der EU, der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen ab. Mit einem nachdrücklichen Engagement muss die internationale Gemeinschaft verhindern, dass sich die Krise in Mali zu einem Flächenbrand auf die gesamte Sahelregion ausweitet.

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zum dritten Mal innerhalb von sieben Jahren werden die Menschen in der Sahelregion von akutem Hunger bedroht. Durch die unregelmäßigen Regenfälle, ausfallende Ernten und sterbende Tiere geraten immer mehr Menschen in eine akute Notlage. Durch die viel zu kurzen Zeiträume zwischen den Trockenperioden haben die Gemeinden überhaupt keine Chancen mehr, Vorräte anzulegen, um die Dürreperioden überstehen zu können. Während sich die Dürren in den Jahren 2005 und 2010 noch hauptsächlich auf Niger und Teile des Tschad beschränkten, betrifft die diesjährige Hungerkrise die gesamte Sahelzone. Die Getreideproduktion liegt in vielen Ländern der Region weit unter dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Die Erträge in Mauretanien sind dieses Jahr um 46 Prozent, im Tschad um 37 Prozent, im Niger um 23 Prozent und in Burkina Faso um 14 Prozent geringer als prognostiziert. Im Niger sind 20 Prozent aller Kinder zwischen 6 und 23 Monaten mangelernährt, in Burkina Faso leiden 1,7 Millionen Menschen unter Hunger, in Mali sind über 4,6 Millionen Menschen vom Hunger betroffen. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF leiden in der Sahelregion mehr als 1 Million Kinder unter schwerer Mangelernährung. Die Staaten des globalen Nordens tragen direkte Mitverantwortung für die Not der Menschen in der Sahelregion: Klimaforscher weisen seit vielen Jahren darauf hin, dass diese deutliche Zunahme der Dürreperioden auf die Folgen des Klimawandels zurückzuführen ist. Spekulationen mit Nahrungsmitteln haben dazu beigetragen, dass sich Nahrungsmittel in der Sahelregion im letzten Jahr extrem verteuert haben. Die Getreidepreise in der Region sind überdurchschnittlich angestiegen, die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Hirse ist teilweise nicht mehr gesichert. Viele Familien können sich die Lebensmittel nicht mehr leisten. Aufoktroyierte Freihandelsabkommen haben lokale Märkte durch subventionierten Export von landwirtschaftlichen Gütern aus der EU zerstört und viele Kleinbauern in existenzielle Not gebracht. Der nicht zu verantwortende Angriff der NATO auf Libyen hat die Sicherheitslage in der Region maßgeblich verschlechtert. Viele der mit NATO-Waffen oder erbeuteten Waffen ausgerüsteten Söldnertruppen aus Libyen sind nach dem Sturz des Regimes in die Sahelregion eingesickert und haben zum Umsturz im Norden von Mali beigetragen. Durch die prekäre Sicherheitslage in einigen Gebieten der Region ist der Zugang zu den hilfsbedürftigen Menschen deutlich erschwert. Die Destabilisierung Nordafrikas durch die Militärinterventionen der NATO-Staaten hat den radikalen Strömungen in Afrika deutlichen Zulauf gebracht. Die Folge sind große Flüchtlingsströme, für die eine schnelle Hilfe organisiert werden muss. Nach Angaben der UNHCR sind alleine aus dem Norden Malis 435 000 Menschen als Binnenflüchtlinge unterwegs oder in die Nachbarstaaten geflohen. Die aufnehmenden Nachbarstaaten müssen von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden. Die Ausführungen in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu Aktivitäten der Gruppe al-Qaida sind einseitig, da sie die Ursachen für das Erstarken dieser GrupZu Protokoll gegebene Reden pen verschweigen. Viele der heutigen Kämpfer von alQaida wurden durch die NATO-Interventionen radikalisiert. Viele der Waffen, die diese Gruppen heute einsetzen können, stammen aus den Waffenlieferungen der NATO-Staaten an die Opposition in Libyen. Wieder einmal zeigt sich deutlich, dass die imperiale Politik eine negative Rolle für die Entwicklung ganzer Regionen spielt. Auch aus diesen Gründen halten wir die Forderung nach Ausbau der Krisenreaktionskräfte für problematisch. Nicht nachvollziehbar ist die in dem Antrag aufgestellte Forderung nach Aufbau eines Asylsystems in den betroffenen Ländern. Das hat mit der Realität der Flüchtlingsbewegungen in dieser Region wenig zu tun. Die Grenzen in dieser Region sind willkürliche Grenzen aus der Zeit des Kolonialismus und spielen für die realen Bewegungen der Menschen und die Wirtschaft keine zentrale Rolle. Wir brauchen in der Region kein Asylsystem wie in der EU, das nicht zum Flüchtlingsschutz, sondern zur Flüchtlingsabwehr aufgebaut wurde, sondern eine Lösung zur Überwindung der bestehenden Grenzkonflikte und eine Ausrichtung der Politik der Bundesregierung auf wirtschaftliche Hilfe für die Region, die eigene Entwicklungschancen ermöglicht. Die Fraktion Die Linke erwartet von der Bundesregierung schnelle und umfassende Hilfe für die Menschen. Wir erwarten, dass sie sich nicht auf einen Verhandlungsmarathon zwischen den Geberländern einlässt, um angeblich „faire Anteile“, wie dies im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen benannt wird, auszuhandeln, sondern durch schnelle und umfassende Maßnahmen den Menschen hilft. Die Betroffenen in der Sahelregion haben keine Zeit, auf das Ergebnis von internationalen Verhandlungen zu warten, sondern brauchen sofort Hilfe. Mehr als 18 Millionen Menschen sind von akuter Unterernährung betroffen, 8 Millionen Menschen brauchen dringend Nothilfe. Die Fraktion Die Linke unterstützt ausdrücklich die Forderung im Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen, dass die Mittel für humanitäre Hilfe und die entwicklungsfördernde und strukturbildende Übergangshilfe für die Sahelzone sofort auf 82,5 Millionen Euro angehoben werden müssen. Dass die Bundesregierung sich seit Jahren weigert, die entsprechenden Titel angemessen aufzustocken, ist skandalös angesichts der Häufung lebensbedrohender Krisen in den Ländern des Südens. Jetzt sind auf dem Verschiebebahnhof zwischen AA und BMZ unterm Strich auch noch Gelder gekürzt worden. Wir werden die Haushaltsberatungen 2013 nutzen, um hier energisch mehr Mittel einzufordern.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Lage in der Sahelregion ist dramatisch. Meine Fraktion bringt diesen Antrag in den Bundestag ein, weil wir befürchten, dass die dortige humanitäre Katastrophe angesichts der Euro-Krise und des Bürgerkriegs in Syrien nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im politischen Bereich nicht die Beachtung erfährt, die sie benötigt. Wir sollten uns die Dimension dieser Krise vor Augen führen: Durch die Nahrungsmittelkrise sind mittlerweile 18 Millionen Menschen in der Sahelregion bedroht. Laut OCHA wären 1,7 Milliarden Euro notwendig, um die nötige Nothilfe zu leisten. Bisher sind gerade einmal 56 Prozent davon aufgebracht. Als infolge des Libyen-Konflikts ehemalige GaddafiSöldner mit einer Vielzahl schwerer Waffen aus Gaddafis Arsenal die Sahelregion überströmten und dort dazu beitrugen, dass alte Konflikte mit nie gekannter Intensität wieder ausbrachen, schaute Europa tatenlos zu. Seit Ausbruch des Tuareg-Aufstandes in Nord-Mali, der durch die Söldner Gaddafis erst richtig ins Rollen kam, und verstärkt noch seit der Machtübernahme dort durch die Islamisten von Ansar Dine und MUJAO sind bisher 435 000 Menschen aus diesen Gebieten geflüchtet, zum Teil in die Nachbarländer Niger, Burkina Faso und Mauretanien, zum Teil in den Süden des Landes. Grund dafür sind Menschenrechtsverletzungen, die von allen Seiten berichtet werden. Plünderungen, Zerstörungen von Kulturgütern, Rekrutierung von Kindersoldaten, Vergewaltigungen, drakonische Körperstrafen und Exekutionen und Massaker sind aus dem Norden Malis vermeldet worden. Hier ist leider von der internationalen Gemeinschaft und auch von der EU einiges versäumt worden. Dies ist umso tragischer, als einige in der EU frühzeitig auf die angespannte Lage in der Sahelregion aufmerksam gemacht haben: Bereits im März 2011 hat die EU die SahelStrategie für Sicherheit und Entwicklung verabschiedet. Leider hat es bis zum Juni dieses Jahres gedauert, bis die erste angestrebte Unterstützungsmission im Sicherheitsbereich von der EU begonnen wurde. EUCAP Niger Sahel will die Ausbildung von Polizei und Gendarmerie in Niger unterstützen. Aus unserer Sicht eine richtige und wichtige Mission. Sicherlich gibt es für diese Verzögerung einige Gründe. Aber bedauerlicherweise hören wir aus Brüssel, dass es gerade auch diese Bundesregierung war, die sich gegen eine EU-Mission im Rahmen der GSVP in der Sahelregion lange gesperrt hat. Anstatt sich auf ihre positive Rolle in der Region zu besinnen - immerhin gehörte die Bundesrepublik zu den ersten Staaten, die die Unabhängigkeit Malis 1960 anerkannt haben -, hat die Bundesregierung das Handeln der EU verzögert. Warum? Aus Furcht, vor den französischen Karren gespannt zu werden, oder wegen der Uneinigkeit in der EU infolge des Libyen-Einsatzes? Wir müssen in der EU endlich zu einer gemeinsamen Einschätzung der sicherheitspolitischen Erfordernisse kommen. Eine veraltete Sicherheitsstrategie hilft da augenscheinlich nicht weiter. Es reicht nicht aus, dass Bundesminister Niebel für eine Stippvisite nach Mali fährt und ein paar von seinen Mützen verschenkt. Nun stellt sich die Frage: Was tun, um Mali nach dem Putsch bei der Rückkehr zur Demokratie und zu stabilen Institutionen zu unterstützen? Was tun, um die territoriale Integrität Malis wieder herzustellen? Und was tun, um einer Destabilisierung der ganzen Region entgegenZu Protokoll gegebene Reden zuwirken und Strukturen für eine nachhaltige Entwicklung unter demokratischen Vorzeichen zu schaffen? Wichtig ist nun aus unserer Sicht, dass jetzt nicht aus Übereifer der falsche Weg eingeschlagen wird. Bisher steht die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS im Mittelpunkt aller Vermittlungsversuche. Der malische Übergangspräsident Traoré hat explizit die ECOWAS gebeten, bei der Ausbildung und Reorganisation der malischen Streitkräfte sowie logistisch bei der Rückeroberung des Nordens unterstützend tätig zu werden. Einen entsprechenden Brief hat Traoré auch schon an UN-Generalsekretär Ban Ki-moon geschickt. Deutschland ist zurzeit Mitglied im UN-Sicherheitsrat und hat daher besondere Verantwortung. Die internationale Gemeinschaft muss versuchen, möglichst alle wichtigen Akteure in der Region in den Prozess um die Lösung der Konflikte in Mali einzubeziehen. Besonders wichtig sind die Nachbarstaaten Malis Algerien und Mauretanien, die nicht Mitglieder der ECOWAS sind. Ohne ihre Beteiligung könnte ein Eingreifen der ECOWAS den Konflikt eher eskalieren, als ihn der Lösung näherbringen. Die Afrikanische Union sollte daher stärker in die Konfliktlösung einbezogen werden. Wenn eine breite Einbettung einer Friedensmission, die sich auf die Reorganisation und Ausbildung der malischen Armee beschränkt, zustandekommt, sind Deutschland und die EU aufgefordert, diese finanziell und logistisch zu unterstützen. In dieser Hinsicht gilt es für die Bundesregierung, auch den UN-Generalsekretär bei der Ausarbeitung und Implementierung einer UN-Sahel-Strategie zu unterstützen. Wenn wir zur Stabilisierung der Region beitragen wollen, müssen wir in unserer Politik umsteuern. Wir müssen regionale Akteure auch außerhalb der ECOWAS stärker in die Umsetzung der Sahel-Strategie einbinden. Auch Nigeria sollte dabei neben Algerien und Libyen eine wichtige Rolle spielen. Zudem empfehlen wir, den Ansatz der Strategie „Sicherheit ist Voraussetzung für Entwicklung“ zu überprüfen. Eine Studie des Europäischen Parlamentes hat deutlich gezeigt, dass die Armutsbekämpfung viel zu kurz kommt. Die Bundesregierung sollte ihr politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um hier eine Veränderung herbeizuführen. Die Sahelregion liegt vor der Haustür der EU. Eine destabilisierte Region, in der Menschen tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen, die große Rückzugsräume für islamistischen Terror und die organisierte Kriminalität lässt, geht uns alle an. Unterstützen Sie unseren Antrag, damit wir gemeinsam dazu beitragen können, dass sich dort ein Raum entwickelt, in dem Voraussetzungen für ein sicheres und wirtschaftlich nachhaltiges Umfeld gewährleistet sind.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10792 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 26: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Nadine Schön ({0}), Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({1}), Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Berufsqualifikation - Mobilität erleichtern, Qualität sichern - Drucksache 17/10782 Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Europa leben derzeit nicht einmal 10 Prozent der Weltbevölkerung. Diese produzieren ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts der Welt und geben 50 Prozent der Sozialausgaben der Welt aus. Daran sieht man: Wir sind im weltweiten Kontext wenige, diese wenigen sind aber ein hohes Wohlstandsniveau gewohnt. Und diesen Wohlstand wollen wir auch erhalten. Um innerhalb eines agilen und dynamischen Weltmarktes diesen Wohlstand zu sichern, müssen wir wettbewerbsfähig sein; denn nur wenn wir wettbewerbsfähig sind, können wir den Wohlstand erhalten, von dem unsere auch und die nächste Generation profitieren soll. Dies wird umso schwerer, je mehr der demografische Wandel in Europa und gleichzeitig die Attraktivität anderer Standorte dazu führen, dass gut ausgebildete und qualifizierte Fachkräfte entweder nicht vorhanden sind oder in andere Regionen abwandern. Aus diesem Grund ist es richtig und wichtig, dass die Europäische Union mit all ihren Mitgliedstaaten seit Jahren darum bemüht ist, die Mobilität der Fachkräfte innerhalb Europas zu erleichtern, um das vorhandene Fachkräftepotenzial bestmöglich auszuschöpfen. Der vorliegende Entwurf der Europäischen Kommission zur Überarbeitung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems soll diesem Ziel dienen. Er soll ein Beitrag zur besseren Mobilität innerhalb Europas und damit zur Sicherung des Fachkräftebedarfs und schließlich zu mehr Wettbewerbsfähigkeit sein. Dieses Anliegen der Kommission teilt und begrüßt die CDU/CSU-Fraktion. Intensiv haben sich deshalb die Mitglieder meiner Fraktion mit dem Richtlinienentwurf auseinandergesetzt. Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Wirtschaft und Technologie, Bildung und Forschung, Gesundheit, Arbeit und Soziales, Recht und Europa haben den Entwurf eingehend geprüft. Wir haben ein Expertengespräch mit den größten betroffenen Verbänden durchgeführt und gerade gestern in einer Fachtagung zusammen mit den Kollegen aus dem Europäischen Parlament sowie den Verbänden die Dimension des Themas aus deutscher und europäischer Sicht beleuchtet. Allen, die Nadine Schön ({0}) daran mitgewirkt haben, will ich auch von dieser Stelle noch einmal herzlich danken. Einig sind wir uns innerhalb der Fraktion und auch in den erwähnten Fachgesprächen darin, dass wir jeden Vorschlag begrüßen, der die Mobilität in Europa erleichtert und das Fachkräftepotenzial erhöht. Allerdings: Der Wille zur Vereinfachung darf nicht auf Kosten der Qualität gehen. Und ich sage hier ganz deutlich: Es gibt zahlreiche Vorschläge in diesem Entwurf, die alle Alarmglocken zum Läuten bringen. Den Richtlinienentwurf durchziehen zahlreiche Vorschläge, die mit unserem System der dualen Ausbildung nicht oder nur schwer vereinbar sind. So verkennen etwa die Vorschläge, eine zwölfjährige Schulzeit für Krankenpfleger und Hebammen als Voraussetzung für die automatische Anerkennung zu verlangen, gänzlich, dass in Deutschland gerade in den Pflegeberufen mit einem bewährten System von zehnjähriger Schulzeit und qualitativ hochwertiger dualer Ausbildung hohe Fachkraftquoten erreicht werden. Eine Anhebung auf zwölf Jahre Schulzeit als Zugangsvoraussetzung würde 45 Prozent der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger und 85 Prozent der Altenpflegerinnen und Altenpfleger von der Anerkennung ausschließen. Dabei sind heute kaum Unterschiede in der Qualität zwischen Auszubildenden mit Fachhochschulreife und solche mit Mittlerer Reife zu erkennen. Es besteht also kein Grund, einem Großteil der Jugendlichen den Zugang zu dieser Ausbildung zu verwehren. Dadurch verbessert man keine Qualität, sondern erhöht nur den Fachkräftemangel in den betroffenen Bereichen und damit die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Mehrheit der betroffenen Verbände - und die Allianz reicht von der Krankenhausgesellschaft über DIHK bis hin zu Caritas und Verdi - plädiert daher entschieden gegen den Vorschlag der Kommission, pauschal eine Schulzeit von zwölf Jahren zu verlangen. Mehr Anerkennung und eine bessere Bezahlung erreiche man nicht durch den Umweg der Anhebung der Ausbildungsvoraussetzungen, so die mehrheitliche Meinung, der wir uns in aller Deutlichkeit anschließen. Diese Deutlichkeit und dieses einheitliche Bild und die klare Positionierung haben wir auch hier im Deutschen Bundestag. Das freut mich sehr; denn es ist wichtig, dass wir mit einer Stimme sprechen. Mit einer Stimme sprechen sollten wir dann aber auch in Brüssel. Deshalb hat es mich sehr überrascht, zu hören, dass es in den Reihen der SPD auf EU-Ebene eine Parlamentarierin gibt, die diese deutsche Position gerade nicht vertritt. Liebe Freunde der SPD, werben Sie auch in Ihren Reihen in Brüssel und nicht nur im Deutschen Bundestag für unsere hervorragende duale Ausbildung, gerade auch in den Pflegeberufen. Es ist wichtig, dass wir hier mit einer Stimme sprechen! Nicht nur die Pflegeberufe, sondern auch viele andere regulierte Berufe sind von der Richtlinie betroffen. Besonders beim deutschen Handwerk werden die Pläne der Kommission daher kritisch betrachtet. Gerade hier spielt die duale Ausbildung eine entscheidende Rolle. Mehr als in anderen Bereichen sichert sie hier den eigenen und auch den industriellen Fachkräftenachwuchs. Mit einer Ausbildungsquote von 9 Prozent leisten zahlreiche Handwerksbetriebe in Deutschland hervorragende Arbeit für die junge Generation und einen entscheidenden Beitrag zur Prosperität Deutschlands. Deshalb ist mit Beunruhigung zu sehen, dass in der Richtlinie zahlreiche delegierte Rechtsakte vorgesehen sind, die dazu führen können, dass Regelungen durchgesetzt werden, die unser duales System empfindlich treffen, ohne dass der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeit hat, dem entgegenzusteuern. Auch der partielle Zugang kann nach Auffassung des Handwerks eine Gefahr für unser qualitativ hochwertiges deutsches Ausbildungssystem darstellen, da es durch die Gewährung des partiellen Zugangs zu einer Zersplitterung gewachsener Berufsbilder kommen könnte. Deshalb ist es wichtig, dieses Instrument restriktiv einzusetzen. Auch was die Ausgestaltung der Niveaustufen angeht, befürchtet speziell das Handwerk eine Benachteiligung der dualen Ausbildung, wenn etwa einem deutschen Handwerksmeister der Zugang zu Berufen, die in anderen Mitgliedstaaten einen Bachelor oder Master voraussetzen, grundsätzlich verwehrt bliebe, umgekehrt aber einem EU-Bürger mit Primärschulabschluss mit einer höchstens dreijährigen Ausgleichsmaßnahme zukünftig die Führung eines zulassungspflichtigen Handwerksbetriebs gestattet werden kann. Diese Bedenken müssen ernst genommen und in der Richtlinie entsprechend klargestellt werden. Schließlich muss das System der gemeinsamen Ausbildungsgrundsätze so ausgestaltet sein, dass es keine Angleichung auf niedrigem Niveau nach sich zieht. Auch beim europäischen Berufsausweis ist darauf zu achten, dass er Verfahren vereinfacht und beschleunigt, nicht aber zu Unsicherheit führt. In all diesen Einzelpunkten ist die konkrete Ausgestaltung der Vorschläge der Kommission entscheidend dafür, dass unser duales System nicht gefährdet wird. Wir wollen das duale System stärken: im Handwerk, in den Gesundheitsberufen und in allen anderen von der Richtlinie betroffenen Berufsgruppen. Deshalb gilt es jetzt, zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament für eine sinnvolle und kluge Ausgestaltung zu werben, die das duale System stärkt und nicht schwächt. Diese Stärkung des dualen Systems ist nicht nur in unserem eigenen Interesse: Schließlich entdecken gerade auch andere Staaten der EU und weltweit das duale Ausbildungssystem als Garant für hohe Beschäftigungsund Fachkraftquoten. So waren im Juni in Deutschland 7,9 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in Frankreich hingegen 22 Prozent und in Spanien sogar über 50 Prozent. Das duale System sichert eine hohe Fachkraftquote, beugt dem Fachkräftemangel vor, indem sich die Unternehmen selbst um ihren Nachwuchs bemühen, und verteilt die Kosten der Ausbildung auf Wirtschaft und Allgemeinheit. Viele Berufe, die in anderen Ländern mit Hochschulstudium erreicht werden, werden in Deutschland durch die duale Ausbildung in der gleichen Qualität sichergestellt. Meisterausbildung und Durchlässigkeit zum Hochschulstudium garantieren gleichzeitig Aufstiegsmöglichkeiten. So sichert das duale System in Zu Protokoll gegebene Reden Nadine Schön ({1}) Deutschland quantitativ und qualitativ eine hohe Fachkraftdichte. Damit leistet die duale Ausbildung einen unverzichtbaren Beitrag zur wirtschaftlichen Prosperität unseres Landes. Dies haben andere Länder erkannt und machen es uns nach. Allein aus diesem Grund gilt es, dieses Erfolgsmodell zu bewahren, auf europäischer Ebene für dieses System zu werben und es zu verteidigen. Deshalb plädieren wir eindringlich für eine Änderung der oben genannten Vorschläge. Neben den Bestandteilen der Richtlinie, die die duale Ausbildung betreffen, gibt es darüber hinaus innerhalb des Richtlinienentwurfs weitere problematische Gesichtspunkte. In unserem Antrag sind wir auf die Berufsgruppe der Notare, auf die Apotheker und Ärzte sowie auf weitere Einzelregelugen, die besonders für die Gesundheitsberufe von Relevanz sind, eingegangen. Ich kann in meiner Rede leider nicht alle diese wichtigen Themen aufgreifen. Es gilt aber für alle diese Punkte, wenn ich sage: Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung und unseren europäischen Kollegen sowie den Verbänden im Europäischen Parlament und bei der Kommission dafür werben, dass die Richtlinie so ausgestaltet wird, dass sie Mobilität erhöht, ohne Qualität zu gefährden. Das ist unser aller Ziel im Sinne unseres Landes und im Sinne des Wohlstandes in Europa.

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union ist eine wegweisende Errungenschaft eines zusammenwachsenden Europas. Jeder EU-Bürger kann sich entsprechend seiner Qualifikationen frei auf dem europäischen Arbeitsmarkt bewegen. Diese Mobilität macht es unseren deutschen Unternehmen möglich, um die „Besten“ zu werben und mit niedrigen bürokratischen Hürden dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Die Novelle der Berufsanerkennungsrichtlinie ist deswegen ein wesentlicher Baustein dafür, dass das Fachkräftepotenzial in der EU optimal genutzt wird. Auch durch den angestrebten Berufsausweis soll die Mobilität zukünftig noch leichter werden. Aber: Unter der zunehmenden Mobilität darf die Qualität der Arbeit und der Ausbildung nicht leiden. Die berufliche Mobilität in Europa darf nicht zulasten bestehender und bewährter Berufsqualifikationen führen. Denn auch oder gerade deutsche Arbeitnehmer profitieren von einem freien europäischen Arbeitsmarkt. Diese Tatsache ist neben der sehr guten Ausbildung an den deutschen Universitäten vor allem auf das deutsche duale Berufsbildungssystem zurückzuführen. Denn dieses gewährleistet nicht nur einen sehr guten Bildungsstand, sondern auch eine hochwertige Ausbildung, wie zum Beispiel in den Sozial- und Handwerksberufen und das auch ohne Abitur oder Hochschulabschluss. Ebendiese duale Ausbildung ist ein wesentlicher Grund für die geringe Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland. Nur 7,9 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos. Ihre Qualität ist der engen Verzahnung von Theorie und Praxis geschuldet. Selbst im neuesten OECD-Bericht wird den USA vorgeschlagen, unser duales Ausbildungssystem aufzugreifen und einzuführen. Nicht nur die USA interessieren sich dafür, auch andere Länder, zum Beispiel in Südamerika und selbst bei uns in Europa. Die Welt schaut auf unsere duale Ausbildung. Und wir können stolz auf sie sein. Gerade die zehnjährige Schulausbildung als eine machbare Zulassungsvoraussetzung ist für die geringe Arbeitslosigkeit bei Menschen mit mittlerem Bildungsabschluss und besonders bei den Jugendlichen verantwortlich. Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen absolvieren nach ihrem Schulabschluss eine betriebliche Ausbildung. 2011 gab es 1,5 Millionen Auszubildende in Deutschland. Doch für viele Menschen endet nach der Ausbildung die berufliche Qualifikation nicht: Sie schließen an ihre Ausbildung eine Zusatzausbildung an, wie zum Beispiel einen Meister oder Techniker, eine Fortbildung oder ein Studium. Das deutsche duale Ausbildungssystem und die darauf aufbauenden Weiterbildungsmöglichkeiten sind die elementaren Bausteine unserer Wirtschaftskraft. Seine hohe Qualität ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit. Grundsätzlich begrüßen wir, die CDU/CSU-Fraktion, die Überarbeitung der Qualifikationsrichtlinie. Sie ist gut und in vielen Punkten auch richtig. Aber in einem wesentlichen Punkt sehen wir unser duales Ausbildungssystem durch den Richtlinienvorschlag gefährdet: Mit der Forderung, die schulische Voraussetzung für die Zulassung zur Ausbildung zum Krankenpfleger/zur Krankenpflegerin und Hebamme von zehn auf zwölf Jahre anzuheben, untergräbt die Novelle der Richtlinie weite Teile unseres Ausbildungssystems. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, setzen uns dafür ein, dass die bisherige Zugangsvoraussetzung einer zehnjährigen Schulausbildung zur Krankenpflege- und Hebammenausbildung bestehen bleibt und nicht auf eine zwölfjährige allgemeine Schulausbildung angehoben wird. Eine Ausbildung im Gesundheits- und Krankenpflegewesen muss auch für Realschulabgänger möglich sein. Nur so kann dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Im Schuljahr 2010/2011 haben 31 Prozent der Schülerinnen und Schüler Abitur gemacht, 40,5 Prozent hingegen aber einen Realschulabschluss. Diesen Absolventen würde durch den Richtlinienvorschlag der EU ein Zugang zum Pflegeberuf verwehrt werden. Welche Kompetenzen erwerbe ich denn wirklich, wenn ich länger zur Schule gehe? Würde sich ein Abiturient überhaupt für eine Ausbildung im Pflegebereich entscheiden, wenn er auch Medizin studieren kann? Wird so die Akzeptanz und Attraktivität des Pflegeberufes bei Abiturienten gestärkt? Ist ein Abiturient besser qualifiziert für den Pflegeberuf als jemand mit Realschulabschluss? Der Pflegeberuf ist sehr anspruchsvoll. Daran besteht kein Zweifel. Ich selbst konnte mich erst im August davon überzeugen, als ich im Rahmen meiner Sommertour mehrere Pflegeeinrichtungen in meinem Wahlkreis besucht habe. Diesem Berufsfeld gilt mein voller Respekt. Doch was spricht dagegen, dass auch Mädchen und Jungen mit Realschulabschluss den Anforderungen dieses Berufes voll genügen? Nichts. Seit Jahrzenten erlernen Realschulabsolventen den Beruf des Krankenpflegers oder der Hebamme. Sie machen ihre Arbeit gut. Und auf einmal sollen sie die Anforderungen mit ihrer schulischen Ausbildung nicht mehr erfüllen? Die Kompetenzen am Ende einer zehnjährigen Schulbildung plus dreijähriger Ausbildung sind nicht nur gut sie sind hervorragend. Warum sollte man an einem System etwas verändern, das erfolgreich ist. Im Gegenteil - mit der Anhebung der schulischen Ausbildungsvoraussetzungen würde man nicht nur dem größten Teil unserer Schulabsolventen den Zugang zu einem Berufsfeld verweigern, dies hätte auch erhebliche Konsequenzen: Bei Zulassung nur von Abiturienten zur Krankenpflege- und Hebammenausbildung wird sich der bereits bestehende Fachkräftemangel in der Branche weiter dramatisch zuspitzen. Eine alternde Gesellschaft ist heute mehr denn je auf viele Pflegekräfte angewiesen. Aufgrund des demografischen Wandels werden in den nächsten zehn Jahren über 200 000 neue Pflegefachkräfte benötigt. 200 000! Aber 50 Prozent eines Ausbildungsjahrgangs in der Gesundheits- und Krankenpflege würden durch die neue Richtlinie von der Ausbildung ausgeschlossen werden. Neben den Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und die deutsche Wirtschaft würde eine Änderung der Zulassungsvoraussetzungen für Krankenpfleger/-innen und Hebammen auch einen massiven Umbruch bei den auszubildenden Schulen und den Pflegeeinrichtungen nach sich ziehen: Eine systemische Umstellung von einem auf das andere System würde Jahre dauern. Anstatt die Zulassungsvoraussetzungen anzuheben, sollten größere Anstrengungen unternommen werden, die Qualität der Ausbildung in den Schulen und in der Praxis weiter zu verbessern. Müssen sich bei strengeren Zulassungsvoraussetzungen auch die Inhalte der Ausbildung ändern und auf ein noch höheres Niveau gebracht werden? Was würde eine veränderte Zulassungsvoraussetzung für die Lehrerausbildung bedeuten? Welche Auswirkungen hätte das? Können wir uns das Ausmaß der Auswirkungen überhaupt bewusst machen? Maßgeblich für die Qualifikation eines Arbeitnehmers sollte nicht die Anzahl seiner besuchten Schuljahre sein, sondern die innerhalb von Aus- und Weiterbildung erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen. Die Attraktivität des Pflegeberufes wird nicht durch die Anhebung der schulischen Bildung erhöht. Nein, im Gegenteil - sie wird sogar verringert. Das können wir uns in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten, und deshalb ist unser Antrag „Berufsqualifikation - Mobilität erleichtern, Qualität sichern“ richtig und auch so wichtig. Wir wollen verhindern, dass uns der Richtlinienvorschlag der EU in unser Ausbildungssystem eingreift, unser erfolgreiches duales Ausbildungssystem gar zunichte macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns auf Kompetenzen setzen. Deshalb, stimmen Sie für diesen Antrag. Stimmen Sie für unser duales Ausbildungssystem.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Antrag der Koalitionsfraktionen zum Richtlinienentwurf über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in Europa ist zunächst zu begrüßen. Dies schon allein deshalb, weil damit der Deutsche Bundestag die Gelegenheit bekommen könnte, dieses nicht ganz unwichtige Projekt zu diskutieren und der Regierung eine Wegweisung nach Brüssel mitzugeben. Das sollten wir generell zur Gepflogenheit in unserem Parlament machen und der Bundesregierung auch auf die Finger schauen, inwieweit sie sich an unsere Empfehlungen hält. In einigen Teilen können wir Ihren Positionen zur BQR-Richtlinie vollständig folgen. Auch wir meinen, dass es sinnvoll und notwendig ist, den Menschen einen Arbeitsplatzwechsel und die Arbeitsplatzsuche innerhalb der EU zu erleichtern. Vor allem geht es aber darum, erworbene Qualifikationen einsetzen zu können und sie auch im Sinne einer angemessenen Bezahlung und möglichen Weiterentwicklung anerkannt zu bekommen. Davon profitieren sowohl die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch die Betriebe. Wir unterstützen auch die Hervorhebung der Bedeutung unseres dualen Ausbildungssystems und die Forderung, dass dies mit seinen Abschlüssen im europäischen Kontext nicht unterbewertet werden darf. Da wir auch am Prinzip der Beruflichkeit festhalten und eine Zersplitterung von Berufsbildern verhindern wollen, sehen wir den „partiellen Zugang“ in Übereinstimmung mit dem Koalitionsantrag sehr kritisch. Für völlig verfehlt halten wir den Ansatz des Richtlinienentwurfes in der Frage des Zugangs zu Ausbildungen im Gesundheits- und Pflegebereich. Wir diskutieren seit Jahren über bundesweit einheitliche Ausbildungsordnungen mit gemeinsamen Grundlagen in der Altenund Krankenpflege, am besten auf der Grundlage des Berufsbildungsgesetzes. Die bisherigen Regelungen erweisen sich immer mehr als zusätzliches Hemmnis bei der Gewinnung von genügend Fachkräften. Jetzt kommt der Richtlinienentwurf mit der Vorstellung, die Hürden zu solchen Ausbildungen noch anzuheben und zwölf Jahre Schulbildung zu verlangen, um überhaupt eine solche Ausbildung beginnen zu können. Wir begrüßen es sehr, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen dazu eine klare Aussage in dem Sinne trifft, de facto eben nicht das Abitur zur Voraussetzung für Pflegeberufe zu machen. Zu Protokoll gegebene Reden Allerdings muss damit auch für die nationale Ebene klar sein, dass wir hier endlich mehr Durchlässigkeit aus dualen und auch pflegerischen Ausbildungen in Richtung Weiterbildung und Hochschule brauchen. Auch in anderen genannten Punkten finden wir Übereinstimmungen, die ich hier nicht im Einzelnen aufzählen kann. Uns fehlen aber zentrale Aussagen, und teilweise müssen wir widersprechen. Es ist schon bezeichnend für diese Lobbyistenkoalition, dass sie sich zu Aussagen über Notare und Apotheker aufschwingen kann, das Handwerk beispielsweise aber nicht vorkommt. Bei genauerer Betrachtung lässt sich nämlich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass gerade in diesem Bereich, aber auch bei den grenzüberschreitenden Dienstleistungen im Allgemeinen ein neuer Versuch läuft, das Herkunftslandprinzip durch die Hintertür einzuführen. Das könnte im Ergebnis dazu führen, dass es in bestimmten Bereichen einfacher wird, sich zur Erbringung von Dienstleistungen niederzulassen, als vorübergehend einen Beruf auszuüben. Insgesamt werden Ausbildungsgrundsätze auch in dualen Berufen eher aufgeweicht, statt dass eindeutig dafür plädiert wird, das duale System explizit als Mindeststandard zu verankern. So weit waren wir schon gemeinsam mit unserem Beschluss im Wirtschaftsausschuss vom 22. Juni 2012. Auch in vielen anderen Gesprächen zeichnete sich ein breiter Konsens in den Kernpunkten ab. Was es dagegen nach einjähriger Debatte ausgerechnet heute soll, bei Nacht und Nebel einen so kurzfristig vorgelegten Antrag zu verabschieden, verstehen wohl nur die besteingeweihten Koalitionsstrategen. Auch mit Blick auf die derzeit laufenden Ausschussberatungen im Europäischen Parlament würde uns - ebenso wie gegenüber der Bundesregierung - nur breiter Konsens helfen. Das war auch unsere bisherige Stärke in den Gesprächen mit Kommission und Parlament. Ich erinnere an die seinerzeitige Videokonferenz. Einmal mehr vertun Union und FDP diese Chance. Dass es für die SPD-Bundestagsfraktion nur zu einer Enthaltung reicht, wird jeder verstehen.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im Dezember vergangenen Jahres hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie über Berufsqualifikationen vorgelegt. Meine Fraktion und ich begrüßen die Evaluierung und Modernisierung der Richtlinie ausdrücklich. Damit verbunden unterstützen wir die Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag und der heutigen Debatte im Plenum in den laufenden Verhandlungen über den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates und des Europäischen Parlaments zur Änderung der bisher geltenden Berufsqualifikationsrichtlinie. Die Änderung der Richtlinie ist ein zentrales Reformprojekt im europäischen Binnenmarktprogramm; denn während in Europa der grenzüberschreitende Warenund Güterverkehr mittlerweile an der Tagesordnung ist, können die Entwicklungen im Dienstleistungsbinnenmarkt nicht Schritt halten, und das angesichts eines Anteils der Dienstleistungen an der europäischen Bruttowertschöpfung von knapp 70 Prozent im Jahr 2011. In den kommenden Jahren ist in Europa ein signifikanter Anstieg der Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften zu erwarten. Aber auch schon jetzt werden vor allem in Deutschland händeringend Fachkräfte gesucht. In anderen Ländern Europas hingegen herrscht, besonders im Fachkräftebereich, eine hohe Arbeitslosigkeit, gerade auch unter Jugendlichen. Um diesen ungleichen Strukturen entgegenzuwirken, müssen Arbeitsplätze und Arbeitskräfte in Europa besser zueinanderfinden und vor allem Fachkräfte im Binnenmarkt besser zirkulieren können - mobile und gut ausgebildete Berufstätige aus anderen EU-Mitgliedstaaten müssen zukünftig noch problemloser dorthin gehen können, wo sie gebraucht werden. Aus diesem Grund stimmen wir mit der Europäischen Kommission überein und erachten es ebenfalls für notwendig, dass die Qualifikationen der Arbeitskräfte in der gesamten Europäischen Union einfacher, transparenter, nutzerfreundlicher und zuverlässig anerkannt werden. Die Vorschläge der Kommission enthalten unseres Erachtens viele positive Elemente, um eine bessere wMobilität insbesondere von Berufstätigen bzw. Fachkräften im Binnenmarkt zu erreichen. Zum Beispiel soll ein für alle interessierten Berufsgruppen angebotener Europäischer Berufsausweis die angesprochene leichtere und schnellere Anerkennung von Qualifikationen ermöglichen. Diese Maßnahme ist unserer Meinung nach durchaus positiv zu bewerten; jedoch muss sichergestellt werden, dass die abschließende Entscheidung über die Anerkennung der Qualifikation letztendlich dem jeweiligen Aufnahmeland vorbehalten bleibt. Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, das Ausmaß der Reglementierung von Berufen jeweils zu überarbeiten. Da die Gründe für die Reglementierung eines Berufszugangs vielgestaltig sind - hier sind beispielsweise Rechts- und Berufstraditionen anzuführen -, ist es daher zu begrüßen, dass die letztendliche Entscheidung darüber, ob ein Berufsabschluss reglementiert werden soll, den Mitgliedsländern überlassen wird. Hier wäre es dann unsere Aufgabe als Gesetzgeber, zum einen die Zahl der reglementierten Berufe zu überprüfen und, wenn möglich, zu verringern. Zum anderen sollte auch der Bereich der automatischen Anerkennung von Qualifikationen auf neue, innovative Berufe überprüft und, wenn möglich, erweitert werden. Wir Liberalen sind der Meinung, dass im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen sowohl die positiven als auch die noch kritisch zu sehenden Elemente im Zusammenhang mit der europaweiten Anerkennung von Berufsqualifikationen ausgewogen zum Ausdruck kommen. Zu Protokoll gegebene Reden Ich möchte darüber hinaus abschließend noch einmal betonen, dass die Überarbeitung der Berufsqualifikationsrichtlinie eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das europäische Fachkräftepotenzial optimal nutzen zu können und die Freizügigkeit in Europa zu verbessern. Vor diesem Hintergrund unterstützen wir mit dem vorliegenden Antrag die deutschen Verhandlungsinteressen in Brüssel und hoffen, dass letztlich ein inhaltlich ausgewogenes Paket zur Modernisierung der Berufsqualifikationsrichtlinie geschnürt wird.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das duale Ausbildungsmodell in Deutschland ist im europäischen Vergleich einzigartig. Die Kombination aus praktischer Ausbildung im Betrieb und Bildung in der Berufsschule gewährleistet den Auszubildenden eine optimale Vorbereitung auf ihr späteres Arbeitsleben. Gerade die enge Verzahnung von Theorie und Praxis ermöglicht das hohe Bildungsniveau unserer Gesamtbevölkerung. Denn in vielen Berufszweigen ist eine Ausbildung in Deutschland mit einem akademischen Abschluss im Ausland vergleichbar. Junge Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung sind auf dem Arbeitsmarkt besonders gefragt, sodass Deutschland europaweit derzeit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnen kann. Diese Vorteile sehe ich besonders deutlich bei den Pflegeberufen. Derzeit ist es allen Absolventen mit Realoder Hauptschulabschluss möglich, eine hochwertige Pflegeausbildung abzuschließen, in der sich theoretische Schulblöcke mit Praxiseinheiten in Pflegeeinrichtungen fortlaufend abwechseln. Mithilfe dieses berufsbegleitenden Systems können junge Pflegerinnen und Pfleger eine Bindung zu ihrer Praxisstelle aufbauen und ihrem Arbeitgeber nach Ausbildungsabschluss als qualifizierte Fachkräfte erhalten bleiben. Davon profitieren beide Seiten gleichermaßen. Der Zugang zu einer Ausbildung im Gesundheits- und Pflegebereich muss sich deshalb weiterhin für alle Haupt- und Realschulabsolventen so einfach gestalten wie bisher! Und darf eben nicht, wie von der Europäischen Kommission gefordert, durch eine Anhebung auf zwölf Jahre Schulausbildung erschwert werden. Mit Blick auf die geringe Jungendarbeitslosigkeitsrate würde sich ansonsten die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt der Pflegekräfte verschärfen. Rund die Hälfte der Absolventen eines heutigen Jahrgangs für den angestrebten Pflegeabschluss würde der Zugang zu einer Ausbildung versperrt werden; denn derzeit erfüllen nur 50 Prozent der Auszubildenden die Anforderungen eines Abiturs. Für die betroffenen Haupt- und Realschulabgänger würde dies eine Verletzung der Berufswahlfreiheit bedeuten. Entscheidend in Gesundheits- und Pflegeberufen sind jedoch insbesondere menschliche Fähigkeiten, wie Fürsorglichkeit, Empathie und soziale Kompetenz, und nicht die Anzahl besuchter Schuljahre. Gerade wenn es um die Pflege Demenzkranker geht, merkt man schnell: Wir brauchen nicht Heerscharen von Diplom-Pflegemanagern - sondern anständig ausgebildete Menschen mit Geduld, Einfühlungsvermögen und praktischen Fachkenntnissen! Dafür braucht’s nicht zwangsläufig Abitur, am besten noch mit Großem Latinum. Die Pflegeausbildung in Deutschland ist auf dem internationalen Arbeitsmarkt in Qualitätsfragen absolut konkurrenzfähig! Deshalb muss unser Ausbildungsabschluss auch weiterhin im Ausland anerkannt werden. Darüber hinaus wird Deutschland in den nächsten Jahrzehnten der Herausforderung eines Wandels des Altersaufbaus der Gesellschaft entgegentreten müssen. Eine gestiegene Lebenserwartung sowie der medizinisch-technische Fortschritt führen zukünftig zu einer größer werdenden Anzahl älterer Menschen, die auf Pflegeleistungen angewiesen sein werden. Dem gegenüber steht eine niedrige Geburtenrate, die zu einer stabilen Bevölkerungsentwicklung kaum ausreicht. Damit verbunden ist ein stetig steigender Bedarf an qualifiziertem Personal in den medizinischen Versorgungs- und Pflegeberufen, der allerdings aus der schrumpfenden Zahl an Arbeitskräften gedeckt werden muss. Schon bis 2020 ist mit einem Mehrbedarf an 170 000 Stellen in der Altenpflege zu rechnen. Diesem stärker werdenden Fachkräftemangel kann nicht damit begegnet werden, die Zulassungsvoraussetzungen zu einer Pflegeausbildung zu verschärfen. Wir müssen uns vielmehr der Frage zuwenden, wie wir die Potenziale der Pflege ausschöpfen und weiter fördern können. Dazu gehört insbesondere der sogenannte informelle Bereich, also der häusliche Bereich. Denn sobald eine Pflegebedürftigkeit eintritt, leisten in den meisten Fällen zunächst die Angehörigen den größten Teil der Pflege. Hier setzen wir alles daran, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Pflege im eigenen Heim so einfach und so individuell wie möglich stattfinden kann. Mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz stellen wir uns den Herausforderungen des demografischen Wandels und der Pflege in der Zukunft. Wir ermöglichen erstmals besondere Leistungen für den wachsenden Anteil an dementiell Erkrankten in der Gesellschaft und ihre Angehörigen und berücksichtigen deren besondere Bedürfnisse. Darüber hinaus werden weitere Maßnahmen für die Verbesserung der Situation von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz eingeführt. Mit dem umfangreichen Maßnahmenpaket, das wir mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz geschnürt haben, leisten wir eine großen Beitrag zur Verbesserung der Pflege in Deutschland. Es wäre absolut kontraproduktiv, sogar äußerst töricht, uns selbst nun Steine in den Weg zu legen und den Zugang zu Pflegeberufen so verantwortungslos und sinnlos zu erschweren.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit Jahren wird auf der europäischen Ebene versucht, die EU-Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und die Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems gemeinsam zu erarbeiten. Zu Protokoll gegebene Reden Ganz Europa ringt in dieser Frage um ein gemeinsames Handeln, aber CDU/CSU und FDP legen heute einen Antrag vor, der zu einem Großteil ein Nein-SagerAntrag ist. Europa will gemeinsame Standards für Berufe und Qualifikationen, und die Regierungsparteien legen keinen Wert darauf, dieses im Plenum zu diskutieren. Diese Reden gehen zu Protokoll und der Antrag soll einfach mal so durchgewunken werden. Hier sagen wir als Linke Nein, Nein zum Nein-SagerAntrag, Nein zum geräuschlosen Durchwinken und Nein zum Umgang von Schwarz-Gelb mit dem jahrelangen Ringen auf europäischer Ebene um gemeinsames Handeln. Schauen wir uns den Nein-Sager-Antrag zum gemeinsamen europäischen Vorgehen an einigen Beispielen an: Nehmen wir zunächst den europäischen Berufsausweis. Der Vorschlag der EU-Ebene war, dass nach einem anerkannten Abschluss die Ausbildungsberufe in einem Berufspass eingetragen und von allen Staaten anerkannt werden. CDU/CSU und FDP begrüßen diesen Vorschlag, doch ob die Ausbildungen anerkannt werden, soll letztendlich das Aufnahmeland entscheiden. Was also wollen uns die Antragstellerinnen und Antragsteller damit mitteilen? Die Idee ist ja ganz nett, aber wir entscheiden alleine, was wir anerkennen. Und hier sagen wir als Linke: Nicht mit uns! Wir wollen gemeinsame und qualitativ hochwertige Inhalte für die Ausbildungsberufe in Europa festlegen. Das sichert Qualitätsstandards, schafft berufliche Perspektiven in ganz Europa und vermeidet nebenbei noch aufwendige Anerkennungsverfahren. Schauen wir nun auf die Einschätzung der Koalition zu den gemeinsamen Ausbildungsrahmen und -prüfungen. Hier sprechen die Antragstellerinnen und Antragsteller zwar von der Stärkung gemeinsamer Ausbildungsgrundsätze, sie betonen sogar, dass eine große Gruppe von Mitgliedstaaten voranschreiten kann, wenn sich nicht alle Mitgliedstaaten auf gemeinsame Ausbildungsgrundsätze einigen können. Allerdings - und nun wird es an zentraler Stelle wieder spannend - heißt ihre berühmte Ultima Ratio an dieser Stelle nicht: Wir gehen gemeinsam voran. Sondern: Es muss jedem Mitgliedstaat freistehen, an den gemeinsamen Ausbildungsrahmen oder Qualifikationsprüfungen teilzunehmen. Das bedeutet: Jeder kann mitmachen, aber wenn es uns nicht passt, können wir dann doch wieder machen, was wir wollen. Das ist nicht unsere Vorstellung eines gemeinsamen Handelns in Europa! Wir als Linke stehen für ein Europa, in dem wir solidarisch Wege beschreiten, um gemeinsame verlässliche und verbindliche Perspektiven zu eröffnen. Im Gegensatz dazu fordern CDU/CSU und FDP, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei Ausbildungsinhalten gewahrt bleiben muss. Es dürfen keine tiefergehenden Kompetenzen an die EU-Kommission übertragen werden. Ich wiederhole: Es dürfen keine tiefergehenden Kompetenzen an die EU-Kommission übertragen werden! Das ist die Kernaussage der Regierungsparteien. Das bedeutet: Europa ja, aber nicht, wenn nationale Interessen verletzt werden. Und auch hier sagen wir als Linke klar und deutlich: Nein! Für uns gibt es in Europa nur einen Weg: gemeinsam, solidarisch, sozial und gerecht! Europa ist keine Spielwiese nationaler Machtinteressen, sondern ein gemeinsames Projekt, um Zukunft für alle zu gestalten. Und das, was wir hierfür benötigen, sind Regierungsparteien, die gemeinsame konstruktive Wege für Europa aufzeigen, statt mit ihrem Handeln Europa ad absurdum zu führen.

Arfst Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004225, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das duale Ausbildungssystem hat sich in Deutschland als besonders erfolgreich erwiesen. In den weiteren Beratungen zur Richtlinienmodernisierung muss die Bundesregierung sicherstellen, dass die EU-Ausbildungsgrundsätze keine Qualitätserosion zur Folge haben und die duale Ausbildung gestärkt statt geschwächt wird. In dieser Grundausrichtung begrüßen wir den Antrag der Koalitionsfraktionen. Wir teilen aber nicht alle vorgebrachten Kritikpunkte an der Ausrichtung des Änderungsvorschlages der Kommission zur Berufsqualifikationsrichtlinie. Denn dieser stärkt die berufliche Mobilität in Europa. Zur Stärkung der beruflichen Mobilität gehört Transparenz im Anerkennungsverfahren bei den Berufsqualifikationen und in den jeweiligen Mindestausbildungsanforderungen für die Berufstätigen. Dazu gehören die verbesserte Zusammenarbeit zwischen Aufnahmestaaten und Herkunftsstaaten über das elektronische Binnenmarkinformationssystem und die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens durch das neue Vorwarnsystem. Auch andere Maßnahmen, die den Beteiligten künftig mehr Planungssicherheit verschaffen werden und Hürden und Diskriminierung im Zuge der Anerkennung von Berufsqualifikationen zwischen den EU-Mitgliedstaaten abbauen, begrüßen wir. Dazu gehören: der klare zeitliche Rahmen für das Anerkennungsverfahren sowie die Pflicht zur Erstellung nationaler Listen der jeweils reglementierten Berufe und natürlich die Einführung des freiwilligen Europäischen Berufsausweises. Mit dem Kommissionsvorschlag, die Zulassungsvoraussetzungen für die Ausbildung der Krankenpfleger und Krankenschwestern sowie der Hebammen von einer zehnjährigen allgemeinen Schulausbildung auf zwölf Jahre heraufzusetzen, werden auf der anderen Seite jedoch neue Hürden aufgebaut. So bedeuten zwölf Schuljahre, wie sie in bereits 24 EU-Ländern Ausbildungsvoraussetzung sind, nicht in allen Ländern das Gleiche. Während sie in Deutschland gleichbedeutend mit einer Hochschulzugangsberechtigung sind, werden in Frankreich und Irland beispielsweise die Vorschuljahre mit eingerechnet, sodass ein mittlerer Schulabschluss ausreicht. Der Koalitionsantrag lehnt den Zwölfjahresvorschlag für beide Berufsgruppen gleichermaßen kategorisch ab. Wir Grüne halten dies nicht für zielführend: Zu Protokoll gegebene Reden Arfst Wagner ({0}) Sowohl der Kommissionsvorschlag als auch der Koalitionsantrag werfen die Krankenpflege- und die Hebammenausbildung in einen Topf, wenn auch mit entgegengesetzten Konsequenzen. Eine fundamentale Ablehnung, wie die CDU/CSU-Fraktion hier vorlegt, ist kurzsichtig, an der Qualifikationsrealität der Hebammen vorbeigedacht und ignoriert darüber hinaus die laufende innerdeutsche Debatte und den Ruf der Hebammen nach einer schrittweisen Akademisierung ihres Berufsstandes. Wir Grüne plädieren dafür, die Forderung nach Anhebung der formalen Voraussetzungen für die Ausbildung in der Entbindungspflege auf der einen Seite und der Krankenpflege auf der anderen Seite differenziert zu betrachten und dabei die derzeitige Lage in den Blick zu nehmen. Im Falle der Hebammen halten wir eine Anhebung für gerechtfertigt, weil die große Mehrheit der Hebammenschülerinnen aktuell schon überwiegend eine Hochschulzugangsberechtigung erlangt hat und Hebammen zudem später sehr stark eigenverantwortlich arbeiten. Ihr Berufsverband spricht sich deutlich für die Erhöhung des Qualifikationsniveaus aus, und die entsprechende Entwicklung ist schon im Gange. Die Situation in der Krankenpflege dagegen stellt sich anders dar. Eine Erhöhung der schulischen Zugangsvoraussetzungen würde rund 45 Prozent der Auszubildenden betreffen. Deshalb glauben wir, dass eine Anhebung in diesem Fall zu einer Verschärfung des Fachkräftemangels führen würde, und lehnen diese ab. Klar ist: Wir dürfen die Zulassung zur Krankenpflegeausbildung nicht an eine Hochschulzugangsberechtigung binden, wenn wir damit die Chancengerechtigkeit unseres Bildungssystems nachhaltig gefährden und Tausenden jungen Menschen mit Haupt- und mittlerem Schulabschluss einen Weg in die Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung verwehren. In einem weiteren Punkt bewerten wir den Kommissionsvorschlag anders als die Koalitionsfraktionen: Wir erwarten von der Bundesregierung in den Beratungen im Rat, bezüglich der Aufnahme des Notarberufes in den Gel-tungsbereich der Richtlinie Klarheit zu schaffen, insbesondere bezüglich möglicher „Wandernotare“. Wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, die Niederlassung von Notaren zuzulassen. Einig sind wir uns mit den Antragstellerinnen und Antragsstellern jedoch in der Kritik an der grenzüberschreitenden Dienstleistung der Notare. Wir begrüßen die in der Richtlinie vorgeschlagene Streichung der bisherigen Möglichkeit, Apothekerinnen und Apothekern mit ausländischen Ausbildungsnachweisen die Eröffnung ihrer eigenen Apotheke zu verweigern. Dieses Privileg sehen wir weder als förderlich für die berufliche Mobilität noch als notwendig für die Sicherheit der deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher an. Hinsichtlich der Einführung des Europäischen Berufsausweises und der Nutzung des elektronischen Binnenmarktinformationssystems darf Datenschutz natürlich kein Lippenbekenntnis sein und muss ernst genommen werden. Problematisch ist aus meiner Sicht das Prinzip der stillschweigenden Anerkennung. Sollte ein Aufnahmemitgliedstaat innerhalb einer bestimmten Frist nicht auf den Antrag zur Anerkennung seiner Berufsqualifikation reagieren, soll dies nach Auffassung der Kommission einer faktischen Anerkennung gleichkommen. Die Bundesregierung muss in den weiteren Beratungen sicherstellen, dass ein Weg für ein unbürokratisches, nutzerfreundliches Verfahren gefunden wird, ohne dass erhebliche Rechtsunsicherheit geschaffen wird. Generell ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir auch darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen die Richtlinie für Drittstaatsangehörige greifen kann, die ihren Abschluss in einem EU-Mitgliedsstaat erworben haben, um auch hier Diskriminierung abzubauen. In Deutschland haben wir mit dem Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen im Jahr 2011 die Inhalte der Berufsqualifikationsrichtlinie im Prinzip auf Personen aus Drittstaaten bzw. auf in Drittstaaten erworbene Qualifikationen ausgedehnt. Politisch sollten wir alle dafür eintreten, dass das EU-weit so gehandhabt wird. Aufgrund dieser Mischung aus zustimmungsfähigen und abzulehnenden Punkten enthalten wir uns zu Ihrem Antrag.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/10782. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 27: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Katja Kipping, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mindeststandards bei der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung - Drucksachen 17/7847, 17/10199 Berichterstattung: Abgeordneter Thomas Dörflinger Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht in seinem richtungsweisenden Urteil vom Februar 2010 mit den Regelleistungen nach dem SGB II auseinandergesetzt und wir uns in der Folge im Ausschuss unter anderem mit den beschlossenen Regelungen für die Kosten der Unterkunft beschäftigt haben, befassen wir uns heute mit einem Antrag der Fraktion Die Linke. Sie fordert in ihrem Antrag beispielsweise, dass die kommunalen Satzungen, die die Angemessenheit von Aufwendungen der Unterkunft und Heizung regeln, Mindeststandards erfüllen müssen, und verkennt offensichtlich, dass die Kommunen bereits verfassungsrechtliche Vorgaben zur Gewährung bedarfsgedeckter Leistungen zu beachten haben. Das Bundessozialgericht hat in gefestigter Rechtsprechung ein Konzept zur Ermittlung der bedarfsgedeckten Höhe der Unterkunftsleistungen entwickelt. Wird die Angemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung im Rahmen einer Satzung nach §§ 22 a bis c SGB II festgelegt, so hat der kommunale Satzungsgeber selbstverständlich ebenfalls die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Gewährung bedarfsdeckender Leistungen zu erfüllen. Auf Ihre Anträge hin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, führen wir gerade im Ausschuss für Arbeit und Soziales eine Vielzahl von Anhörungen durch. Der Sinn all dieser Veranstaltungen wäre einmal, zu diskutieren. Ich kann aber zumindest erwarten, dass Sie die Ergebnisse dieser Anhörungen zur Kenntnis nehmen. Stattdessen legen Sie einen Antrag vor, der die geltende Rechtslage - damit beziehe ich mich gar nicht auf das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuches - unberücksichtigt lässt. Machen wir es konkret: Eine Pauschalierungssatzung muss die Gewähr für eine Finanzierung des grundsicherungsrechtlich angemessenen Wohnraums bieten. Eine Pauschale, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Sicherung des Existenzminimums gerecht werden will, muss sich daher ebenfalls an den Maßstäben orientieren, die das Bundessozialgericht für den Angemessenheitsbegriff nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II entwickelt hat. Eine Notwendigkeit, diese Regelungen zu modifizieren oder gar abzuschaffen, erschließt sich mir daher nicht. Auf der anderen Seite sind viele Ihrer Anliegen im neuen Recht der Kosten der Unterkunft bereits berücksichtigt und entsprechen kommunaler Praxis. Das betrifft den zusätzlichen Raumbedarf. Hier sind exemplarisch in § 22 b Abs. 3 SGB II zwei Fallgruppen genannt, die erweiterbar sind. Es betrifft die Nutzung von Mietspiegeln, die nach § 22 c Abs. 1 Nr. 1 SGB II schon vorgeschrieben ist. Auch die kostenlose Mietberatung, die im Antrag als Neuerung gefordert wird, gibt es vielerorts in den Kommunen. Zu guter Letzt enthält der vorliegende Antrag Forderungen, die - auch das kennen wir von der Fraktion Die Linke - die Kostenseite völlig unberücksichtigt lassen; hier beziehe ich mich insbesondere auf den Vorschlag, unangemessene Wohnkosten bis zu zwei Jahre zu übernehmen. Die Verlängerung des Toleranzzeitraums bringt dem Leistungsberechtigten keinen Mehrwert, erhöht den finanziellen Aufwand für die kommunalen Träger und auch den Bund beträchtlich. Auf der einen Seite laufen Ihre Forderungen auf eine höhere Belastung der Kommunen hinaus, und auf der anderen Seite weisen Sie zu Recht darauf hin, dass die Kommunen genügend Geld für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen. Auch dieser Widerspruch ist bei Ihnen nicht neu. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt Ihren Vorschlag ab. Es gibt keinen Gesetzesänderungsbedarf. Einen solchen Bedarf hat die Sachverständigenanhörung nicht ergeben, und den haben wir auch im Ausschuss nicht gesehen. Mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuches haben wir unsere Hausaufgaben gemacht und die Forderungen von Bundesverfassungs- und Bundessozialgericht konsequent und umfassend zum Wohl der Bedürftigen in unserem Land umgesetzt.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir befassen uns heute mit den Regelungen, nach denen Hartz-IV-Bezieher Leistungen für die Kosten der Unterkunft und der Heizung beziehen. Wir wissen, diese Bestimmungen beruhen auf einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern. Diese Absprachen sind nicht in Stein gemeißelt. Sie müssen die Erfahrungen, die damit in der Praxis gemacht werden, berücksichtigen. Und sie müssen vor allem die Lage auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen. Die Länder fordern seit längerem eine Überarbeitung ein, und auch wir von der SPD-Fraktion sehen langfristig Änderungsbedarf. Das, was uns die Linke mit ihrem Antrag vorgelegt hat, halten wir allerdings insgesamt für zu weitgehend und nicht sachgerecht. Die heute bekanntgewordenen Arbeitslosenzahlen für den ablaufenden Monat zeigen, dass die Konjunkturflaute endgültig am Arbeitsmarkt angekommen ist. Saisonbereinigt müssen wir einen Anstieg registrieren. Normalerweise bringt der Herbst regelmäßig eine Belebung des Arbeitsmarktes mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Diese ungünstige Entwicklung wird sich auch bei den Bedarfsgemeinschaften niederschlagen. Für den September zählen wir bundesweit 150 693 Bedarfsgemeinschaften. Hier ist absehbar, dass sich die positive Entwicklung der vergangenen Jahre wieder umkehren wird. Schon die letzten Monate haben eine Abschwächung des Trends erkennen lassen. Damit wird auch die Nachfrage nach günstigem Wohnraum weiter ansteigen, und das auf einem Wohnungsmarkt, der in vielen Regionen von Verknappung gekennzeichnet ist. Nehmen wir das Beispiel Berlin. „Berlin braucht Tausende neue Wohnungen“, titelte die Hauptstadtpresse zuletzt. Wie in anderen Großstädten auch wächst die Nachfrage nach Wohnungen deutlich stärker als das Angebot. Das wirkt sich natürlich auf die Mietpreise aus. Die Neumiete liegt in einigen Bereichen bereits bei 8 Euro pro Quadratmeter. 800 Euro für 70 Quadratmeter sind keine Seltenheit. Das sind Mieten, die für Berliner mit geringem Einkommen nicht machbar sind. Hinzu kommt, dass - nicht nur in der Hauptstadt der Trend zu Einpersonenhaushalten weiter anhält. Das bringt eine zusätzliche Verknappung bei kleineren Wohnungen mit den entsprechenden Verdrängungseffekten mit sich. Zu Protokoll gegebene Reden Auch bei mir im Wahlkreis in Oberhavel zeigt sich dieser Effekt. Das Grundsicherungsamt bestätigte mir, dass Ein- und Zweiraumwohnungen im Speckgürtel von Berlin zu erschwinglichen Preisen inzwischen Mangelware sind. Damit fehlt es ganz grundsätzlich an der Verfügbarkeit von Ausweichmöglichkeiten für Leistungsbezieher, deren Wohnkosten das Angemessenheitskriterium nicht mehr erfüllen. In der Folge führt das oftmals dazu, dass die Leistungsbezieher einen Teil ihrer Grundsicherung für die Wohnkosten aufbringen müssen. Diese Kostensteigerungen werden natürlich auch für die Kommunen zum Problem. Die Folge ist, dass die Kommunen oftmals sehr strikt mit den Unterkunftskosten verfahren und ihren Ermessensspielraum nicht ausschöpfen. Vor diesem Hintergrund fordern die Länder schon seit längerem eine Reform der Vereinbarung mit dem Bund. Sie wollen, dass sich der Bundeszuschuss nicht nur an der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften bemisst. Nötig wäre eine Orientierung an den tatsächlichen Kosten. „Heizkosten in Berlin und Brandenburg steigen drastisch“, titelte zuletzt die „Berliner Morgenpost“. Für Erdgas müssen Brandenburger jährlich 83 Euro, Berliner sogar 102 Euro mehr zahlen. Das sind jährliche Steigerungsraten um die 10 Prozent. Kehrtwende am Arbeitsmarkt, absehbare Zunahme der Bedarfsgemeinschaften, Wohnraumverknappung in vielen Regionen, drastisch steigende Miet- und Energiepreise, knappe Kommunalfinanzen - das sind die aktuellen Rahmenbedingungen für die Bedarfsgemeinschaften. Per Gesetz müssen sie dafür Sorge tragen, dass ihre Wohnkosten „angemessen“ sind, wie es heißt. Denn „Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind“, so § 22 SGB II. Und das wird unter den gegebenen Bedingungen für immer mehr Bedarfsgemeinschaften zum Problem. Vor diesem Hintergrund greift der Antrag der Linken ein wichtiges Thema auf, zumal die Kosten der Unterkunft regelmäßig zum Streitfall vor den Sozialgerichten werden. Hier könnte eine Überprüfung der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen helfen. In vielen Punkten kann die SPD-Fraktion dem Antrag folgen, in anderen nicht. Nach § 22 a SGB II können die Länder die Kommunen ermächtigen oder verpflichten, durch Satzung die jeweilige Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zu bestimmen. Im Gegensatz zur Linken halten wir diese Satzungsermächtigung für ein sinnvolles Instrument. Die Kommunen vor Ort kennen die Lage auf dem jeweiligen Wohnungsmarkt am besten. Sie können auf Besonderheiten reagieren und so den gegebenen Ermessensspielraum nutzen, und das meine ich im Interesse der Betroffenen. Alternativ können die Länder die Kreise und kreisfreien Städte auch ermächtigen, für die Kosten für Unterkunft und Heizung eine monatliche Pauschale festzulegen. Diese Pauschalierungen will die Linken-Fraktion abschaffen. Das können wir nachvollziehen. Auch die Mehrheit der Experten der Anhörung im Ausschuss lehnt Wohnkostenpauschalen bei Hartz-IV-Empfängern ab. Die Sachverständigen bestätigten: Pauschalen bringen den Kommunen keine Einsparungen, da es ohnehin Einzelfallprüfungen geben muss. In der Praxis greifen die Kommunen daher so gut wie nie auf Pauschalen zurück. Ich habe oben die schwierigen Rahmenbedingungen auf dem Wohnungsmarkt beschrieben. Für viele Bedarfsgemeinschaften erhöhen sie den Druck, sich nach günstigerem Wohnraum umsehen zu müssen. Per Gesetz muss das spätestens nach sechs Monaten erfolgen. Die Experten der Anhörung konnten die SPD überzeugen, dass die Forderung der Linken, diesen Zeitraum auf ein ganzes Jahr auszudehnen, begründet ist. Das macht Sinn. Schon allein aufgrund der dreimonatigen Kündigungsfrist bleibt den Empfängern gegenwärtig kaum Zeit, sich um eine neue Wohnung zu kümmern. Zudem sollten sie sich eher auf die Suche nach einer neuen Arbeit konzentrieren können. Auch die Forderung nach kostenloser unabhängiger Mieterberatung wurde von den Sachverständigen unterstützt. Das ist ein sinnvolles Instrument, das dabei helfen kann, einvernehmlich zu guten Wohnlösungen zu kommen. In jedem Fall meinen wir, dass man von einem Zwangsumzug bei bestimmten Personengruppen Abstand nehmen sollte: bei Schwerkranken, Pflegebedürftigen oder Behinderten, Älteren, Alleinerziehenden oder bei besonders langjährigen Mietern. Damit könnten auch die umständlichen Einzelfallprüfungen entfallen, die einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich bringen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass statt Entspannung auf dem Arbeitsmarkt wieder ein rauherer Wind zu erwarten ist. Zusammen mit der zunehmenden Verknappung auf dem Wohnungsmarkt und der anhaltend klammen Finanzlage der Kommunen wird das auch die Wohn- und Lebenslage der Menschen in den Bedarfsgemeinschaften verschärfen. Die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen sollten überprüft werden. Auch die Sozialgerichte könnten damit entlastet werden. Vor diesem Hintergrund tragen wir einige Forderungen im vorliegenden Antrag mit. Andere - wie insbesondere die nach bundeseinheitlichen Mindeststandards schießen über das Ziel hinaus. Deshalb enthalten wir uns.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Linken, der sich mit Mindeststandards bei den Kosten von Unterkunft und Heizung befasst, ist in vielen Punkten obsolet. Obsolet deshalb, weil einige der von Ihnen angesprochenen Punkte in der Praxis seit dem Gesetz zur Festsetzung der Leistungssätze nach dem Sozialgesetzbuch II gelöst werden konnten. Andere Ihrer Vorschläge haben wir in diesem Gesetzgebungsverfahren bewusst und begründet nicht umgesetzt. Zu Protokoll gegebene Reden So können schon heute beispielsweise zusätzliche Leistungen bei einem Wohnortwechsel auf Antrag übernommen werden. Daher sehen wir hier keinen Regelungsbedarf. Dass Sie die vor kurzem eingeführte Möglichkeit der Pauschalierung von Kosten für Unterkunft und Heizung kritisieren, halte ich für verfrüht, und auch Ihre vorgebrachten Bedenken teile ich nicht. Durch die Pauschalierung haben wir die Möglichkeit geschaffen für mehr Eigenverantwortung und eine freiere Lebensgestaltung. Wir werden selbstverständlich die Entwicklung in diesem Bereich kritisch verfolgen, um etwaigen Fehlentwicklungen entgegenwirken zu können. Wenn Sie fordern, dass Zwangsumzüge zur Wohnkostensenkung vermieden werden sollen, kann ich Ihnen im Grundsatz recht geben. Die Lösung, wie dies verhindert werden kann, ist einfach: Die Menschen müssen wieder Arbeit finden. Das ist die beste Maßnahme gegen Zwangsumzüge, und kostensparend obendrein. Im Mai 2012 gab es in Deutschland 3,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften mit insgesamt 6,2 Millionen Menschen. Noch im Mai 2010 waren es 600 000 Menschen bzw. 350 000 Bedarfsgemeinschaften mehr. Dieser Rückgang ist unbestreitbar auch der wachstumsorientierten Politik dieser christlich-liberalen Regierungskoalition zu verdanken. Wir zeigen, dass die beste Sozialpolitik ist, die Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen. Ihr Vorschlag, sogenannte Zwangsumzüge, gleich wie groß und teuer die Wohnung ist, nicht umzusetzen, kann hingegen keine Antwort sein. Wie können Sie dies jemandem erklären, der als Alleinerziehender 40 Stunden die Woche arbeitet und für sich und seine Kinder die Kosten für die Miete vollständig selbst tragen muss? Der sich vielleicht nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit 50 bis 60 Quadratmeter leisten kann? Da ist es doch nicht gerecht, wenn der Staat größere und teurere Wohnungen für andere übernimmt. Ihre Antwort wäre jetzt sicher: Dann muss Letzterer eben auch einen staatlichen Zuschuss bekommen. Aber Ihr „Mehr für Alle“ muss auch finanziert werden können, und Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge taugen da nichts, da sie den Motor für Wirtschaftswachstum, für Wohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land drosseln würden. In der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Ihrem Antrag haben sich sowohl die kommunalen Spitzenverbände, der Deutsche Verein sowie die Bundesagentur für Arbeit gegen die Vorschläge der Linken ausgesprochen. Ich finde, dass auch das sehr aussagekräftig ist und Ihnen zu denken geben sollte. Immer wieder erklären uns Sachverständige, dass Einzelfallgerechtigkeit kein guter Ratgeber im Sozialrecht ist und dass sie vor allem zu einem gewaltigen Aufwuchs an Bürokratie führt. Deshalb sind Pauschalen eine gute Möglichkeit, um Bürokratie abzubauen. Im Steuerrecht sind Pauschalen gang und gäbe. Sowohl bei Werbungskosten als auch beim Grundfreibetrag wird mit Pauschalen gearbeitet. Auch bei den Kosten für Unterkunft und Heizung sind Pauschalen sinnvoll. Allein 2010 gab es 900 000 Widerspruchsverfahren zu Bescheiden im Sozialgesetzbuch II. Davon hat sich circa ein Viertel mit der Thematik der Kosten der Unterkunft beschäftigt. Das Bundessozialgericht befasst sich in jedem dritten Fall mit den Kosten der Unterkunft. Dieser Anteil dürfte in den unteren Instanzen sogar noch höher sein. Ich finde, dass dies alles Argumente für eine möglichst bürokratiearme Lösung sind. Wenn dazu dann noch die Vorteile durch mehr Entscheidungsfreiheit für die Leistungsberechtigten kommen, dann bin ich überzeugt, dass wir an den Pauschalierungen dringend festhalten müssen. Daher werden wir Ihren Antrag heute ablehnen.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Kosten für Miete und Heizung von Hartz-IV-Beziehenden, auch unter der Abkürzung KdU bekannt, werden übernommen, soweit sie angemessen sind. So formuliert es der Gesetzgeber derzeit sinngemäß in § 22 Abs. 1 SGB II. Man würde natürlich denken, dass es bei einem für die Menschen so wichtigen und grundrechtsrelevanten Thema wie dem Wohnen eine Vielzahl von Regelungen gibt, die genau beschreiben, welche Wohnungsgröße und welcher Mietpreis angemessen sind und wie man die Angemessenheitswerte für die unterschiedlichen Regionen Deutschlands mit ihren unterschiedlichen Wohnungsmärkten ermittelt. Tatsächlich ist der eingangs erwähnte erste Satz des § 22 Abs. 1 SGB II die einzige Festlegung, die der Bundesgesetzgeber in dieser Frage trifft. In der Praxis bedeutet dies, dass die für die KdU zuständigen Kommunen durch Richtlinien oder neuerdings in einigen Bundesländern durch Satzungen selbst bestimmen müssen, bis zu welcher Höhe die KdU in ihrem Gebiet als angemessen gelten. Sie können hierfür zwar auf eine umfassende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zurückgreifen, dessen Urteile sind aber letztendlich einzelfallbezogen. Die dort entwickelten Kriterien sind nicht immer ohne Weiteres übertragbar. Eine bestimmte Methode zur Berechnung der angemessenen KdU kann in einer Kommune aufgrund der dort bestehenden Wohnungsmarktstruktur zulässig sein, während die gleiche Methode in einer Kommune mit einer anderen Wohnungsmarktstruktur von den Gerichten als rechtswidrig angesehen wird. Die Bestimmung von rechtssicheren KdU wird für die Kommunen zusätzlich durch zum Teil unterschiedliche Rechtsprechung in unterschiedlichen Bundesländern erschwert. Die Risiken dieser Unsicherheiten tragen zum einen die Hartz-IV-Beziehenden, die sich häufig durch die Instanzen klagen müssen, um die Übernahme ihrer Wohnkosten zu erreichen, und zum anderen die Kommunen, die regelmäßig juristische Auseinandersetzungen um das Thema KdU fürchten müssen. Die zu unserem Antrag im Sozialausschuss durchgeführte Anhörung hat in Zu Protokoll gegebene Reden diesem Zusammenhang übrigens ergeben, dass Widersprüche von Hartz-IV-Beziehenden, die sich ausschließlich gegen die KdU richten, etwa zu 50 Prozent erfolgreich sind. Es ist daher nur folgerichtig, wenn die Sozialgerichte in ihren Urteilen nicht mehr nur die jeweils zu beurteilende kommunale Richtlinie, sondern die gesetzliche Regelung direkt kritisieren. Einige Gerichte stellen dabei sogar die Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Praxis infrage. So hat beispielsweise das Sozialgericht Mainz in seiner Entscheidung vom 8. Juni 2012 erklärt, die bestehende Konkretisierung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II durch das Bundessozialgericht - gemeint ist hiermit die Rechtsprechung zur Angemessenheit - sei nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen näher bestimmt worden ist. Aus der Zuordnung der KdU zum menschenwürdigen Existenzminimum folgt für das Sozialgericht Mainz, dass der Gesetzgeber ein Gesetz vorlegen muss, welches einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Mit unserem Antrag liegt zumindest ein Vorschlag auf dem Tisch, wie den durch das Sozialgericht Mainz formulierten Vorgaben entsprochen werden könnte. Eine Verbesserung der Situation durch die derzeitige Bundesregierung ist allerdings nicht in Sicht. Anstatt endlich aktiv zu werden und selbst Standards für die Bestimmung der Angemessenheit zu definieren, hat die Bundesregierung durch ihre letzte Gesetzesänderung den Ländern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Kommunen dazu zu ermächtigen, die Angemessenheit durch kommunale Satzungen zu regeln. Möglich sollen hiernach sogar Pauschalen sein. Gerade zu dem letzten Punkt möchte ich noch einmal ausdrücklich auf die mündliche Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Joachim Rock in der öffentlichen Anhörung des Sozialausschusses verweisen. In dieser werden die sozial- und verfassungsrechtlichen Probleme herausgearbeitet, die eine Pauschalierung mit sich bringen würde. Die fatalen Auswirkungen der derzeitigen KdU-Regelungen, wie zum Beispiel Verdrängung von Hartz-IV-Beziehenden aus begehrten Wohnlagen in Großstädten und die damit verbundene Erschwernis der Wiedereingliederung, entstehen jedoch nicht nur durch die mangelnde Bestimmtheit des Begriffes der Angemessenheit. Hinzu kommen die Regeln zum sogenannten Kostensenkungsverfahren. Diese sehen vor, dass Hartz-IV-Beziehende, deren Wohnungskosten über dem Angemessenheitswert liegen, in der Regel innerhalb von sechs Monaten in eine billigere Wohnung umziehen müssen, um ihre Kosten weiterhin vollständig erstattet zu bekommen. Die Gründe für eine derartige Überschreitung der Angemessenheitswerte können dabei vielfältig sein. So kann es sein, dass jemand nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes I erstmals Hartz IV bezieht. In Betracht kommt aber auch, dass sich jemand schon länger im Hartz-IV-Bezug befindet, dessen Wohnung schlicht durch die allgemeinen Mietsteigerungen zu teuer wird. Die Linke schlägt in ihrem Antrag zur Einführung von bundeseinheitlichen Mindeststandards bei der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung eine Reihe von Maßnahmen vor, mit denen die derzeitigen Missstände bei den KdU überwunden werden könnten. Im Wesentlichen lassen sich hierbei drei Hauptforderungen herausstreichen: Erstens. Es muss bundeseinheitliche Mindeststandards für die Bestimmung der Angemessenheit der KdU geben. Zweitens. Die Pauschalierungsmöglichkeit im SGB II ist ersatzlos zu streichen. Drittens. Die Fristen für das Kostensenkungsverfahren müssen auf mindestens ein Jahr ausgedehnt werden, und es muss in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei schwer kranken oder behinderten Menschen, von der Durchführung eines Kostensenkungsverfahrens abgesehen werden. Ich bitte Sie, unseren Antrag zu unterstützen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das soziokulturelle Existenzminimum umfasst neben der Sicherung der physischen Existenz des Menschen die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischen- menschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politi- schen Leben. Die Kosten für Unterkunft und Heizung ge- hören hierbei genauso zum physischen Existenzmini- mum wie Nahrung, Kleidung, Hausrat, Hygiene und Gesundheit. Dies hat das Bundesverfassungsgericht zu- letzt in seinem Urteil zum Grundrecht auf Gewährleis- tung eines menschenwürdigen Existenzminimums vom 9. Februar 2010 unzweideutig festgestellt. Wie kein anderer Bestandteil des Existenzminimums ist die Frage der Kosten für Unterkunft und Heizung jedoch Gegenstand behördlicher und richterlicher Aus- einandersetzung. Unzureichende Angemessenheits- werte, Aufforderungen zur Senkung der Mietkosten, eine nicht erfolgte Übernahme der Mietkaution oder eine nicht genehmigte Erstattung der Umzugskosten sind da- bei nur einige Probleme, mit denen Leistungsberechtigte tagtäglich zu kämpfen haben. Dass solche Auseinander- setzungen um den eigenen Wohn- und Sozialraum so- wohl die Leistungsberechtigten stark belasten als auch dem Ziel der Arbeitsmarktintegration dieser Personen entgegenstehen können, ist wohl unbestritten. Denn wer in ständiger Angst lebt, seine Wohnung zu verlieren, wer über den Angemessenheitswerten liegende Wohnungs- kosten langfristig über den Regelsatz ausgleicht oder wer monatelang Rechtstreitigkeiten mit dem Jobcenter führt, hat wohl einige Schwierigkeiten, sich uneinge- schränkt auf die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz einzulassen. Vor diesem Hintergrund ist die Einbringung des Antrages „Mindeststandards bei der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung“, Drucksache 17/7847, der Linksfraktion begrüßenswert. Dieser An- trag gab Anlass, in einer öffentlichen Anhörung des Ar- beits- und Sozialausschusses am 7. Mai 2012 im Deut- Zu Protokoll gegebene Reden schen Bundestag Sachverständige zur Praxis und den gesetzlichen Regelungen zu den Kosten der Unterkunft zu befragen. Die Anhörung zum Antrag am 7. Mai 2012 zeigte noch einmal eindrücklich, dass zum Teil erheblicher ver- waltungstechnischer sowie gesetzgeberischer Ände- rungsbedarf bei Fragen des Wohnens besteht. Jede ver- meidbare Aufforderung zur Wohnkostensenkung und erst recht jeder vermeidbare Umzug kann - neben indi- viduellen Belastungen - zu enormen Folgekosten für die Gesellschaft führen. So attestiert etwa eine Topos-Studie zu den Auswirkungen der Wohnungsaufwendungsver- ordnung, WAV, auf Hartz-IV-Empfänger in Berlin aus dem Mai 2012 Umzügen aufgrund des Ausziehens eines Elternteils: „Ein Wohnungswechsel würde aber ange- sichts der hohen Neuvermietungsmieten selten eine Ver- ringerung der Miete ergeben. Zudem würden die Kinder, die in der Regel durch die Trennung psychisch stark be- lastet sind, durch den Verlust der vertrauten Wohnung und Wohnungsumgebung einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt.“ Nur ein Bündel an Maßnahmen, das über die in dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion hi- nausgeht, kann die genannten Probleme in den Griff be- kommen. Da sind zuallererst die Wohnungspolitik sowie das Mietrecht zu nennen. Wir wollen soziale Entmischung verhindern, indem wir die Modernisierungsumlage auf die energetische Modernisierung und altersgerechten Umbau konzentrieren und sie auf 9 statt 11 Prozent ab- senken. Außerdem wollen wir die Kappungsgrenze bei der ortsüblichen Vergleichsmiete von 20 Prozent auf 15 Prozent senken und die energetische Gebäudebe- schaffenheit als Vergleichsvariable aufnehmen. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen setzt sich zudem für eine Stärkung des sozialen Wohnungs- baus ein, indem sie unter anderem dafür eintritt, die EFRE-Mittel für die energetische Sanierung von Wohn- gebäuden und den sozialen Wohnungsbau weiterhin ver- wenden zu können. Auch im Bereich des SGB II bedarf es allerdings di- verser Änderungen. So ist vollkommen zutreffend, dass die individuelle Beratung und Fallbetrachtung durch die Jobcenter verbesserungswürdig ist. Dies haben wir in diversen Anträgen bereits zur Sprache gebracht. So könnten schon im Vorfeld Missverständnisse ausge- räumt und viele Wohnkostensenkungsaufforderungen vermieden werden. Mehr als sinnvoll wäre auch die Aufnahme der Krite- rien der Verfügbarkeit sowie der Vorgabe, dass eine Auf- forderung zur Wohnkostensenkung nur ergehen kann, wenn dies auch wirtschaftlich für den Kostenträger ist. Dem Vorschlag der Sachverständigen Gautzsch und Dr. Schifferdecker, wonach die Höchstgrenze von sechs Mo- naten einer flexibleren Regelung weichen solle, ist zuzu- stimmen. Allein in Berlin zeigt sich, dass etwa 250 000 ALG-II-Haushalten 627 000 entsprechende Ein- bis Zweizimmerwohnungen gegenüberstehen. Die Verfüg- barkeit angemessenen Wohnraums ist daher sehr einge- schränkt. Die Aufbringung der Mietkaution durch das Einset- zen des Schonvermögens ist nicht sinnvoll, wie die Sach- verständigen glaubhaft darstellen konnten. Da die Miet- kaution für die Dauer des Mietverhältnisses nicht zur Verfügung steht, wird dem Sinn und Zweck des Schon- vermögens mit dieser Regelung nicht Genüge getan. Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverban- des wurde im Jahr 2012 schätzungsweise 200 000 Hartz-IV-Empfängern der Strom abgestellt. Dies liegt unter anderem daran, dass die entsprechende Position im Regelsatz viel zu niedrig angesetzt ist. Der aktuelle Regelsatz reicht bei weitem nicht aus, die täglichen Be- dürfnisse des Lebens sicherzustellen. Allein eine Regel- satzerhöhung reicht jedoch nicht aus, einkommens- schwache Haushalte zu unterstützen. So muss etwa die Streichung des Heizkostenzuschusses durch Schwarz- Gelb wieder rückgängig gemacht werden. Stromsparta- rife müssen angeboten und progressiv ausgestaltet wer- den. Es kann nicht sein, dass Mehrverbrauch mit einem niedrigeren Preis belohnt wird, während diejenigen, die geringe Verbräuche haben, hohe Grundkosten zahlen müssen. Darüber hinaus bedarf es großer Anstrengun- gen zur Steigerung der Energieeffizienz. Wir Grünen wollen daher zusätzlich zu 2 Milliarden Euro im Gebäu- desanierungsprogramm einen Energiesparfonds mit ei- nem Finanzvolumen von 3 Milliarden Euro jährlich auf- legen. Dieser muss sich kurzfristig auf die energetische Sanierung von Wohngebäuden in Stadtteilen mit einem hohen Anteil einkommensschwacher Haushalte konzen- trieren. Werden all diese Dinge beachtet und entsprechend angegangen, bedarf es keiner weiteren gesetzlichen Än- derungen bezüglich erweiterter Ausnahmeregelungen für bestimmte Personengruppen und der Kostenüber- nahme von Aufwendungen im Rahmen eines Wohnungs- wechsels. Bei viel Zuspruch und Zustimmung zum An- trag kann aber, wie dargelegt, nicht allen Forderungen zugestimmt werden. Daher enthält sich die grüne Frak- tion zum Antrag 17/7847.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/10199, den Antrag der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 17/7847 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü- nen angenommen. Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP zu der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ge23548 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse meinsame Fischereipolitik KOM({0}) 425 endg.; Ratsdok. 12514/11 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur KOM({1}) 416 endg.; Ratsdok. 12516/11 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Meeres- und Fischereifonds zur Aufhebung der Verordnungen ({2}) Nr. 1198/ 2006 des Rates und ({3}) Nr. 861/2006 des Rates sowie der Verordnung ({4}) Nr. XXX/2011 des Rates über die integrierte Meerespolitik KOM({5}) 804 endg.; Ratsdok. 17870/11 hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset- zes - Drucksache 17/10783 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Valerie Wilms, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die Überfischung beenden - Vorschläge zur Reform der EU-Fischereipolitik überarbeiten - Drucksache 17/10790 Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Gib einem Menschen einen Fisch und Du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.“ Um die Bedeutung der Fischerei wusste schon Konfuzius. Denn Fisch ernährt Menschen, als wertvolles Grundnahrungsmittel und als unverzichtbare Existenzgrundlage. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Deshalb ist die geplante Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik der Europäischen Union auch für viele Familienbetriebe und Verbraucher von größter Bedeutung. Mit der Reform der Europäischen Fischereipolitik steht ein ehrgeiziges Projekt auf der Brüsseler Agenda; denn sie soll die nächsten zehn Jahre tragen. Die Debatten sind in vollem Gang, von der spanischen Küste bis zum norwegischen Fjord. Den Start machte die EU-Kommission. Im Juni diesen Jahres verständigten sich die Fischereiminister auf eine allgemeine Ausrichtung zu den zentralen Reformelementen. Inzwischen liegen im Europäischen Parlament mehr als 2 500 Änderungsanträge zu den Vorschlägen der Kommission vor. Es ist also höchste Zeit, dass sich auch der Deutsche Bundestag in die Debatte einbringt und zu diesem wichtigen Reformprojekt Farbe bekennt. Ich hätte mich persönlich gefreut, wenn wir dazu heute ein gemeinsames Bekenntnis über die Fraktionsgrenzen hinaus abgegeben hätten. Das wäre ein starkes Signal gewesen. Die Chancen für einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen standen gut. Wir trafen uns etliche Male. Der Text wurde hin- und hergesandt. Es wurde gehämmert, gefeilt, poliert. Für das kollegiale Miteinander bedanke ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei meinen beiden Kolleginnen Dr. Christel Happach-Kasan und Cornelia Behm sowie bei unserem Kollegen Holger Ortel. Aber dann kam leider die Parteipolitik ins Spiel. Die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen zogen sich auf Druck ihrer Entwicklungshilfepolitiker zurück. Die SPD-Spitze folgte auf den Fuß, übrigens auch nicht wegen inhaltlicher Bedenken. Die Begründung lautete: Wir wollen unseren Hoffnungskoalitionspartner nicht allein stehen lassen. Hir ging es nicht um die Sache sondern nur um die Partei. Die Fischer hätten Besseres verdient. Da hilft jetzt auch kein Schnellantrag mehr. Gestern hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag eingebracht, mit der heißen Nadel gestrickt. Hier greift das Sprichwort „Mancher denkt zu fischen und krebst nur“ oder die Erkenntnis von Mark Twain: „Erzähl Leuten, die dich kennen, kein Anglerlatein, und schon gar nicht Leuten, die die Fische kennen.“ Schade. Denn das Thema ist ernsthaft genug. Es ist unstrittig, dass die Europäische Union ihre selbst gesteckten Ziele in der Fischereipolitik bislang verfehlt hat. Trotz positiver Tendenzen in den letzten Jahren sind nach wie vor einige Fischbestände überfischt. Die wirtschaftliche Situation der Fischer und ihre Zukunftsperspektiven sind nicht gerade rosig. Und es gibt weiterhin Defizite bei den Fischereipartnerschaftsabkommen mit den Entwicklungsländern. Wir haben jetzt die Chance, bei dieser ehrgeizigen Reform der EU-Fischereipolitik mitzuwirken. Wir haben es selbst in der Hand, wichtige Impulse zu geben. Wir sollten diese Chance nutzen. Denn die Zeit drängt. Wir müssen der Überfischung der Meere wirksam Einhalt gebieten. Denn wir tragen die Verantwortung dafür, dass die Fischbestände auch für kommende Generationen erhalten bleiben. Fische gehören zu den wichtigsten Nahrungsquellen der Menschheit. Und die Bestände sind für unsere Fischer die Existenzgrundlage, die wir dauerhaft sichern müssen. Wir haben die Chance genutzt. Ihnen liegt unser Antrag vor. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner haben wir analysiert, wo sich etwas ändern muss. Und wir zeigen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um diese Ziele zu erreichen. Das oberste Ziel der Reform muss die Nachhaltigkeit sein. Nach wie vor sind Bestände überfischt. Das bisherige Krisenmanagement in Brüssel reicht offensichtlich nicht. Ohne eine Erholung der überfischten Bestände und der Bewahrung des empfindlichen Ökosystems „Meer“ lässt sich die Zukunft der deutschen und europäischen Fischerei nicht sichern. Dabei reicht es nicht, nur die europäischen Gewässer im Blick zu haben. Nein, wir müssen auch hier global denken und die Weltmeere insgesamt in unsere Überlegungen einbeziehen. Die Fischerinnen und Fischer in unserem Land wirtschaften bereits heute nachhaltig und bestandserhaltend. Dieses Selbstverständnis sollte Vorbild für Europa und die Welt sein. Eine nachhaltige bestandserhaltende Fischerei muss auf allen Meeren sichergestellt werden. Deshalb fordern wir in und mit unserem Antrag, dass künftig alle Fischbestände nach dem Prinzip des nachhaltigen Dauerertrags ({0}) bewirtschaftet werden müssen. Dieses Ziel soll bis zum Jahr 2015 entsprechend den Beschlüssen des Nachhaltigkeitsgipfels von Johannesburg erreicht werden. Wir, die Mitglieder der christlich-liberalen Koalition, wollen einen grundlegenden Kurswechsel. Die Flickschusterei der vergangenen Jahrzehnte muss ein Ende haben. Wie muss dieser Kurswechsel nun beschaffen sein? An erster Stelle benötigen wir ein modernes Fischereimanagement. Zentrales Instrument dieses Fischereimanagements sind schon heute mehrjährige Bewirtschaftungspläne. Diese müssen künftig auf alle kommerziell genutzten Bestände ausgedehnt werden. So lässt sich das Nachhaltigkeitsziel schneller erreichen. Es bringt den Vorteil mit sich, das fischereipolitische Tagesgeschäft vom Mikromanagement zu entlasten. Dies gilt insbesondere für die jährlichen Quotenverhandlungen der Fischereiminister im Dezember. In den letzten Jahren haben diese durch die bereits geltenden Bewirtschaftungspläne deutlich an politischem Sprengstoff verloren. Und das ist gut so. Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Erhöhung der Selektivität der Fischereien. Nur so lassen sich Jungfische besser schützen und unerwünschte Beifänge stärker vermeiden. Deshalb müssen wir gleichzeitig die Forschung und Entwicklung innovativer und selektiver Fanggeräte stärken. Eines der Kernprobleme der europäischen Fischereipolitik sind die hohen Rückwürfe infolge unerwünschter Beifänge. In manchen Fischereien belaufen sich diese auf über 50 Prozent der Fänge. Die Bilder von Rückwürfen verunsichern Verbraucherinnen und Verbraucher. Mit dieser unverantwortlichen Verschwendung unserer wertvollen Meeresressourcen muss endlich Schluss sein. Deshalb sind wir der Bundesregierung auch für die Initiative dankbar, die sie bereits im Jahr 2010 dazu gestartet hatte. Aufgrund dieser Initiative unserer Bundesministerin Frau Aigner wurde eine Gemeinsame Erklärung über Rückwürfe im Rahmen der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik mit Vertretern Dänemarks, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs getroffen. Wir unterstützen unsere Bundesregierung in dieser Haltung und setzen uns deshalb in unserem Antrag mit Nachdruck dafür ein, Rückwurfverbote und Anlandegebote einzuführen. Dies soll nicht pauschal nach Arten, sondern nach Fischereien und im Rahmen der Bewirtschaftungspläne geschehen. Beifangarten, die hohe Überlebensraten aufweisen, wie zum Beispiel Haie und Rochen, wollen wir vom Rückwurfverbot ausnehmen. Es darf keine Fehlanreize für die Vermarktung von Jungfischen geben. Aber eine möglichst hochwertige Nutzung muss möglich sein. Die Ressource Fisch ist zu wertvoll, als nur als Fischmehl oder -öl zu enden. Die Einhaltung des Rückwurfverbots muss natürlich wirksam kontrolliert werden. Dazu sollte es Anreize zum freiwilligen Einbau von Kameras an Bord der Fischereifahrzeuge geben. Eine generelle Kamerapflicht lehnen wir dagegen kategorisch ab. Ich sage sehr deutlich für meine Fraktion: Eine Kameraüberwachung von Fischerinnen und Fischern wird es mit uns nicht geben. Eine solche Vorschrift wäre insbesondere mit Blick auf unsere handwerkliche Küstenfischerei völlig überzogen. Für diese Fischerei müssen alternative Monitoringsysteme entwickelt werden. Es wird von den Vertretern einer solchen Forderung offensichtlich vergessen, dass ein Fischereifahrzeug auch immer ein Arbeitsplatz ist. Auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesen Schiffen haben Anspruch auf Datenschutz. Bei der Bewirtschaftung der Fischereibestände gibt es für uns einen weiteren wichtigen Punkt. Das System der Quotenverwaltung in Deutschland hat sich bewährt. Es darf nicht verändert werden. Deshalb müssen die Nationalstaaten auch künftig für das Quotenmanagement zuständig bleiben. Die verpflichtende Einführung von handelbaren Quoten, wie von der Kommission vorgeschlagen, lehnen wir ab. Jeder Mitgliedstaat muss selbst entscheiden können, ob er handelbare Quoten einführen will oder nicht. Wir wollen es nicht. Denn damit würden wir unseren aktiven deutschen Familienbetrieben den Boden unter den Füßen wegziehen. Bei ihnen handelt es sich im Wesentlichen um kleine und mittelständische Betriebe, die bei einem Marktwettbewerb um Quoten nicht gegen zahlungskräftige Investoren bestehen können. Aber auch sie, gerade sie brauchen Zukunftsaussichten und die Chance, sich zu entwickeln. Wir wollen deshalb in Deutschland unser Quotensystem fortführen. Fischereiressourcen müssen deshalb öffentliches Gut bleiben. Ein weiteres zentrales Element der Fischereireform ist für uns der Abbau der Flottenüberkapazitäten. Solange die Fangkapazitäten größer sind als die tatsächlichen Fangmöglichkeiten, wird es immer einen Anreiz geben, die zugeteilten Quoten zu überfischen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag einen verbindlichen Zeitplan für den Flottenabbau. Die neuen Kapazitätsobergrenzen müssen so festgelegt werden, dass sie zu einer effektiven und nachprüfbaren Reduzierung der Fangkapazitäten führen. Diese müssen im Einklang mit den nationalen Fangmöglichkeiten stehen. Dafür muss dringend ein entsprechendes Verfahren entwickelt werden. Und es muss der Satz gelten: Strafe muss sein. Leider gibt es nicht in jedem Mitgliedstaat ein so rigides Ahndungssystem wie in Deutschland. Deshalb sind die Mitgliedstaaten, die ihren Verpflichtungen zum Flottenabbau nicht nachkommen, zwingend mit Sanktionen zu belegen. Die Förderung der Fischereiwirtschaft soll künftig über den neuen Europäischen Meeres- und Fischereifonds erfolgen. Verglichen mit den Strukturfonds handelt es sich hier um einen vergleichsweise kleinen EU-Fonds mit einem jährlichen Volumen von insgesamt nur rund 1 Milliarde Euro für alle Mitgliedstaaten zusammengenommen. Umso wichtiger ist es, dass diese Mittel zielgerichtet eingesetzt werden. Insbesondere muss eine Verzahnung mit den übrigen EU-Fonds erfolgen, um eine Zu Protokoll gegebene Reden größtmögliche Wirkung bei der Begleitung des Strukturwandels in den Regionen zu gewährleisten, in denen die Fischerei eine besondere Rolle spielt. Wir sind äußerst besorgt darüber, dass die Kommission für den neuen Fischereifonds zusätzliche bürokratische Lasten vorsieht. Bereits in der derzeitigen Förderperiode ist eine Reihe deutscher Bundesländer aus dem laufenden Förderprogramm ausgestiegen. Die Verwaltungskosten stehen in keinem vertretbaren Verhältnis mehr zur tatsächlichen Förderung. Für den Fall, dass es zu keiner durchgreifenden Verwaltungsvereinfachung und Kostenentlastung kommen sollte, haben weitere deutsche Länder ihren Ausstieg angekündigt. Das müssen wir unbedingt vermeiden. Deshalb setzen wir uns in unserem Antrag für eine spürbare Senkung der Bürokratiekosten dieses kleinen Fonds und für deutliche Vereinfachungen bei der Beantragung von Maßnahmen ein. Hinsichtlich der Förderschwerpunkte ist uns wichtig, dass künftig Forschung und Entwicklung im Fischereibereich ein stärkeres Gewicht erhalten, insbesondere was die Entwicklung innovativer und selektiver Fangmethoden angeht. Wir halten es für richtig, dass die Aquakultur zu einem neuen Förderschwerpunkt werden soll. Gleichzeitig setzen wir uns dafür ein, dass die Förderung der bestehenden Aquakulturbetriebe weitergeführt wird. Zur besseren Durchsetzung von EU-Recht müssen Fischereiunternehmen, die mehrfach oder gravierend gegen Fischereivorschriften verstoßen haben, künftig von der Vergabe von Fördermitteln ausgeschlossen werden. Besondere Verantwortung trägt Europa auch bei der Nutzung von Fischbeständen außerhalb der EU-Gewässer, etwa vor der Küste Westafrikas. Umso wichtiger ist es, dass wir hier in der europäischen Fischereipolitik für klare Regeln sorgen. Dort sind die gleichen strengen Maßstäbe anwenden wie in den EU-Gewässern. Das Nachhaltigkeitsprinzip darf nicht an den Grenzen der EU-Gewässer haltmachen. Deshalb halten wir es für richtig, dass die EU-Fischereifahrzeuge nur den Überschuss an Fangmengen fischen können, der von den Fischern in den Entwicklungsländern nicht selbst genutzt werden kann. Dieser Grundsatz muss in allen Fischereipartnerschaftsabkommen der EU fest verankert werden. Gleichzeitig muss in diesen Abkommen mehr Transparenz über zusätzliche Vereinbarungen der Partnerstaaten mit Drittländern eingefordert werden. Nur so lässt sich wirksam verhindern, dass die Fischbestände zulasten der lokalen Fischer übernutzt werden. Parallel dazu halten wir flankierende Maßnahmen für erforderlich: Die Entwicklungsländer müssen verstärkt dabei unterstützt werden, eine effektive Fischereikontrolle in ihren Hoheitsgewässern durchzuführen und Rechtsvorschriften durchzusetzen. Kapazitäten für wissenschaftliche Untersuchungen zur Bestandsabschätzung müssen sowohl innerhalb der EU als auch in den Partnerländern gestärkt werden. Die finanzielle Unterstützung des Fischereisektors in den Partnerländern muss von den Zahlungen für Fangmöglichkeiten entkoppelt und an das Prinzip der nachhaltigen Fischerei gebunden werden. Bei alledem kommt dem Verbraucher eine wesentliche Rolle zu. Wir alle wollen mehr Transparenz für die Verbraucher, davon sind Fischereierzeugnisse natürlich nicht ausgenommen. Gerade die Verbraucher können durch ihre Kaufentscheidung eine nachhaltige Fischerei wesentlich unterstützen. Dafür muss der Verbraucher aber wissen, was wirklich in der Truhe oder aber der Dose ist. Deshalb setzen wir uns für eine europäische Rahmenregelung ein, die Mindestkriterien für Nachhaltigkeitssiegel in der Fischerei vorsieht. Hier muss der vorliegende Kommissionsvorschlag noch deutlich nachgebessert werden. Die Fischereipolitik ist ein weites Feld, auf dem wirtschaftliche Interessen, der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen, der wirkungsvolle Einsatz von Steuergeldern und die Transparenz für die Verbraucher in Einklang gebracht werden müssen. Dieser schwierigen Aufgabe haben wir uns gestellt. liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie müssen nur noch eines tun: zustimmen.

Holger Ortel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003203, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte zunächst mein Bedauern darüber ausdrücken, dass wir heute nicht über einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen sprechen. Dass die Union die Zusammenarbeit mit den Linken verweigert, ist genauso bedauerlich wie das Aussteigen der Grünen kurz vor dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Aber auch, wenn wir hier heute nicht über einen gemeinsamen Antrag sprechen, kann ich feststellen, dass wir alle von der Notwendigkeit dieser Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik überzeugt sind. Das Grünbuch der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2009 hat ein düsteres Bild vom Zustand der Fischbestände in europäischen Gewässern, von den Flotten und vom Fischereimanagement gezeichnet. In der Zwischenzeit wurden verschiedenen Lösungsmöglichkeiten ausprobiert, einige mit Erfolg, andere nicht. Sehr erfolgreich waren die Langzeitmanagementpläne. Diese müssen in Zukunft ausgeweitet werden. Allerdings müssen diese Pläne auch mehrere Arten umfassen, denn verschiedene Arten wie zum Beispiel Hering und Dorsch stehen oftmals in einer Jäger-Beute-Beziehung. Weniger erfolgreich war das Management mittels Quote und Aufwand. Diese Doppelung hat sich nicht bewährt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass es nur noch dort Management mittels Aufwand gibt, wo es keine Quoten gibt. Das ist vor allem im Mittelmeer der Fall. Die erfolgreiche Anwendung einiger Instrumente zeigt sich auch in kürzlich von der Europäischen Kommission veröffentlichten Zahlen. Der Anteil nachhaltig bewirtschafteter Bestände wuchs von 6 Prozent im Jahre 2005 auf 53 Prozent im Jahre 2012. Scholle und Hering in der Nordsee haben die Wiederaufbauziele seit Jahren beständig überschritten. Nur beim Kabeljau bleibt noch einiges zu tun. Zu Protokoll gegebene Reden In der Ostsee werden mittlerweile 70 Prozent der gesamten Anlandungen nachhaltig gefischt. Dem Ziel einer Befischung auf MSY-Niveau, dem Niveau des nachhaltigen Dauerertrages, bis zum Jahr 2015 kommen wir mit großen Schritten näher. Es besteht aber leider immer noch eine deutliche Diskrepanz zwischen den nördlichen und den südlichen EU-Gewässern. Im Mittelmeer gelten noch immer 90 Prozent der Bestände als überfischt. Wir verfügen also bereits über die Instrumente für ein nachhaltiges Fischereimanagement. Aber die Voraussetzungen dafür sind eben vielfach noch nicht gegeben. Die Flotten einiger Mitgliedstaaten sind zu groß, und effektive Kontrolle kann nicht überall gewährleistet werden. Nun möchte ich auch noch etwas zu den vorliegenden Anträgen sagen. Frau Ministerin Aigner hat sich mehrfach und öffentlichkeitswirksam für ein Nachhaltigkeitssiegel eingesetzt. Davon fehlt jetzt aber jede Spur. Frau Ministerin hat am 13. Juni 2012 erklärt, dass sie sich in den weiteren Verhandlungen dafür einsetzen werde, dass EU-weite Mindestkriterien für freiwillige Nachhaltigkeitssiegel der Wirtschaft festgelegt werden. Jetzt fordern Sie auch, dass Frau Ministerin sich weiterhin dafür einsetzen soll. Wir werden beobachten, mit welchem Erfolg. Die Rednerin der Union hat in unserer letzten Debatte zu diesem Thema behauptet, dass Verbraucher bereit seien, für nachhaltig gefangenen Fisch höhere Preise zu zahlen. Das sollte bedeuten, dass die Fischereibetriebe die Kosten für den Einbau von Überwachungskameras an Bord wieder über höhere Preise hereinholen könnten. Da muss ich Sie fragen, in welcher Welt leben Sie denn? Das Fisch-Informationszentrum veröffentlicht jedes Jahr aktuelle Zahlen zum Fischverzehr in Deutschland. Aus den aktuellen Zahlen geht hervor, dass der größte Teil des Fisches als Tiefkühlware beim Discounter gekauft wird. Glauben Sie ernsthaft, dass der Fischer dem Einkäufer des Discounters sagen kann: Ich musste jetzt für 30 000 Euro Kameras einbauen und möchte deshalb jetzt von dir mehr Geld haben? - Sie haben sich immer vehement gegen den Einbau von Kameras an Bord ausgesprochen. Jetzt wollen Sie sogar Anreize zum Einbau von Kameras schaffen. In ihrer Rede hat die Berichterstatterin der Union auch eine Übergangsphase für den Systemwechsel von Anlande- zu Fangquoten vorgeschlagen, in der die Fischer auf freiwilliger Basis beteiligt werden. Ich habe Ihnen schon damals gesagt, dass das nicht geht, denn die Gefahr, dass viele Fischer in dieser Übergangsphase zu viel fischen, um Referenzen zu erlangen, ist zu groß. Das fordern Sie im vorliegenden Antrag nun nicht mehr. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie viele Forderungen in Ihrem Antrag haben, die von der SPD kommen. Die Urheberrechte werden wir aber trotzdem nicht beanspruchen. Eine ganz wichtige Forderung ist dabei die Ersatzbauförderung unter bestimmten Bedingungen. Die Bundesregierung war bislang strikt gegen die Neubauförderung. Zu diesem Sinneswandel kann ich Sie beglückwünschen. Dem Antrag der Koalition können wir aber nicht zustimmen, denn auch sie fordert verbindliche Anlandegebote im Rahmen der externen Dimension. Abgesehen von der Frage, wie verbindlich ein Gebot ist, haben Sie die tatsächliche Situation vor Ort nicht berücksichtigt. Eine entsprechende Logistik für die Anlandung existiert nämlich nicht. Diese muss erst gebaut werden, und dafür braucht es entsprechende Abkommen und eine zweckgebundene Mittelverwendung in den Partnerländern. Es ist keine Frage, dass wir die Abkommen der EU mit den westafrikanischen Staaten verbessern müssen. Das Mauretanien-Abkommen ist dabei ein Meilenstein. Hier wurden die Küstenfischer besser geschützt. Das Menschenrecht auf Nahrung ist explizit erwähnt, und über eine zweckgebundene Mittelverwendung wird sichergestellt, dass das Geld nicht irgendwo versickert. Darüber hinaus fordern wir aber noch mehr für die externe Dimension. Weit wandernde Arten müssen von allen Küstenstaaten verwaltet werden, in deren Gewässern sie sich bewegen, und zwar gemeinsam im Rahmen einer regionalen Organisation. Das heißt, dass nicht nur Mauretanien festlegen können darf, was ein Überschuss ist. Dieser Überschuss muss auch vom Senegal und den anderen betroffenen Küstenstaaten festgelegt werden. Die Reeder müssen einen angemessenen Teil der Zugangskosten tragen. Obwohl Ihnen die Signalwirkung des Ausgangs der derzeitigen schwierigen Situation des Mauretanien-Abkommens bekannt ist, sparen Sie es einfach aus. Haben Sie die Tragweite des Abkommens nicht erkannt oder ist es Uneinigkeit in den eigenen Reihen? Außerdem halte ich es für falsch, eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz zu verabschieden, die nicht von einer fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen wird. Die Grünen kann ich zu ihrem Antrag größtenteils beglückwünschen. Im Prozess zur Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik haben Sie sich offensichtlich viele Gedanken über die Fischerei in Deutschland und Europa gemacht und sind von Ihren früheren dogmatischen Positionen abgerückt. Ansprechen möchte ich an dieser Stelle die Ausnahmen vom Rückwurfverbot. In einigen Fischereien erscheint es tatsächlich sinnvoll, dass diese ihre Beifänge wieder über Bord werfen können, da ein erheblicher Anteil davon überlebt. Trotz allem ist Ihnen dieser Übergang zu einer pragmatischen Position nicht vollends geglückt: Die fischereipolitische Sprecherin der Grünen hat sich in der Vergangenheit vielfach zur Küstenfischerei in Deutschland, vor allem den Krabbenfischern, geäußert. Dort wollte sie unter anderem den Fischern ermöglichen, mehr Investitionsmittel abrufen zu können. Mit dem vorliegenden Antrag tun die Grünen aber genau das Gegenteil. Mit der vorgesehenen Vergabe von Fischereibefugnissen über mehrere Jahre gibt die EU den Fischern Sicherheit. Damit können die Fischer zur Bank gehen, und sie bekommen wesentlich einfacher die notwendigen Kredite Zu Protokoll gegebene Reden für ihre Investitionen. Sie wollen genau diese Sicherheit für die Fischer kaputtmachen und ihnen stattdessen noch Verwaltungsgebühren aufbürden. Darüber hinaus wollen Sie bestehende fischereiliche Nutzungen in Schutzgebieten einschränken. Das bedeutet, dass keine Fischerei auf Krabben im Wattenmeer stattfinden soll. Dabei wissen Sie ganz genau, dass das Wattenmeer auch mit den Krabbenfischern UNESCOWeltnaturerbe wurde. Obwohl die Positionen der SPD also an vielen Stellen mit den Positionen der Grünen übereinstimmen, können wir das nicht mitmachen und dem Antrag der Grünen nicht zustimmen.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Leider beraten wir heute keinen fraktionsübergreifenden Antrag zur Reform der gemeinsamen europäischen Fischereipolitik, GFP, nach 2013, obwohl wir uns in der politischen Bewertung der bisherigen GFP ebenso wie in unseren Vorstellungen über die notwendigen Verbesserungen für die zukünftige Fischereipolitik grundsätzlich fraktionsübergreifend einig sind. Ich bedauere es sehr, dass es uns aufgrund der Uneinigkeit innerhalb der Opposition nicht gelungen ist, mit einer starken gemeinsamen Stimme der Bundesregierung für die Verhandlungen in Brüssel den Rücken zu stärken. Dennoch möchte ich mich bei allen Fischereiexperten für die konstruktiven Diskussionen bedanken, auch wenn Sie sich in Ihren Fraktionen nicht gegen überzogene Forderungen aus den Reihen der Entwicklungshilfe durchsetzen konnten. Es ist politisch der falsche Ansatz, mit der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU weitreichende entwicklungspolitische Ziele durchsetzen zu wollen. Dieses Reformvorhaben hat einen eigenen Wert. Teile der Opposition erkennen ihn offensichtlich nicht an und sind nicht bereit, für faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Fischer einzutreten. Warum ist eine Überarbeitung der europäischen Fischereipolitik überhaupt notwendig? Der Blick auf die Zahlen und Fakten des Fischereisektors ebenso wie der Fischerei- und Meereswissenschaften macht deutlich: Die EU-Fischereipolitik hat trotz einiger Erfolge ihre Ziele bisher nicht erreicht. Weder hat sich die wirtschaftliche Lage des Fischereisektors in Deutschland wie in Europa nachhaltig verbessert, noch befinden sich alle Fischbestände auf einem zukunftssicheren Niveau. Auch wenn einige Maßnahmen zur Sicherung der Bestände erste Erfolge aufweisen und dabei auch die deutschen Fischereibetriebe endlich von großen Einschnitten der Vergangenheit profitieren können, sind vielfältige Verbesserungen notwendig. Die deutschen Fischerinnen und Fischer haben in den letzten Jahren bereits durch tiefe Einschnitte bei den Fangquoten und den notwendigen Kapazitätsabbau ihren Anteil zu einer nachhaltigeren Fischerei beigesteuert. Deswegen hat der Erhalt der relativen Stabilität bei der Vergabe der Fangquoten für die FDP eine sehr hohe Priorität. Die Fangkapazitäten der Fischereiflotten, vor allem der großen Fischereinationen wie Spanien, Italien oder Frankreich, sind dagegen nicht im Einklang mit den eigenen Fangquoten und vorhandenen Fischbeständen. Eine zukünftige, nachhaltige GFP wird daran gemessen werden, ob es gelingt, die Überkapazitäten abzubauen und eine nachhaltige Bestandsbewirtschaftung nach dem Prinzip des höchstmöglichen Dauerertrags, MSY - maximum sustainable yield, durchzusetzen. Nur dann ist sowohl der Erhalt unserer Meeresumwelt wie auch die Zukunft der Fischerinnen und Fischer gesichert. In den ärmeren Ländern ist nach Auffassung der FDP der Abbau der Fangquoten durch Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten zu unterstützen. Ansonsten geschieht der Abbau nur auf dem Papier, aber nicht in der Realität. Aus diesem Grund halte ich es für zwingend notwendig, Forschung und Innovation zu einem Schwerpunkt der neuen Fischereipolitik zu machen. Einerseits müssen wir mehr, genauere und zuverlässigere Daten über Größe und Entwicklung von Fischbeständen erheben, um Zusammenhänge besser verstehen und Vorhersagen treffen zu können. Andererseits muss die Entwicklung innovativer, schonender und spezifischer Fangmethoden vorangetrieben und die Aquakultur als nachhaltige Alternative ausgebaut und weiterentwickelt werden. Dies muss eine Hauptaufgabe des neuen Europäischen Meeres- und Fischereifonds werden. Es wird nach aktuellen Schätzungen inzwischen mehr als die Hälfte der europäischen Bestände im Nordostatlantik nachhaltig bewirtschaftet. Allerdings fehlen für viele Bestände valide wissenschaftliche Daten darüber, wo der spezifische MSY liegt und wie dieser in einem notwendigen ökosystemaren Ansatz zu berechnen ist. Wir begrüßen die Vorschläge der Kommission, mehrjährige Bewirtschaftungspläne für alle Fischbestände einzuführen. Diese Bewirtschaftungspläne vereinen ökologische Erfordernisse und wirtschaftliche und soziale Überlegungen und leisten einen wichtigen Beitrag zur Planungssicherheit der Fischer. Das beste Beispiel für einen erfolgreichen Bewirtschaftungsplan ist der Plan für den Dorsch in der Ostsee, dessen Bestand seit der Einführung des Planes eine erfreuliche Entwicklung genommen hat und heute größer ist als vor 20 Jahren. Es gilt, diesen Erfolg auf alle anderen Bestände auszudehnen. Aus unserer Sicht, und hier sind wir uns einig mit der Bundesregierung und dem Europäischen Parlament, ist es keine Frage mehr, ob ein Rückwurfverbot und Anlandegebot für unerwünschte Beifänge kommt, sondern wie es ausgestaltet werden soll. Um keine Ressourcen zu verschwenden und gleichzeitig dringend notwendige wissenschaftliche Daten zu erheben, ist die Anlandung und Dokumentation unerwünschter Beifänge wichtig. Ausnahmen dürfen hierbei nur für Fischereien gelten, bei denen wissenschaftlich eine hohe Überlebensrate der Rückwürfe nachgewiesen wurde. In der handwerklichen Fischerei konnten für einige Fischarten Überlebensraten von über 90 Prozent nachgewiesen werden. Die externe Dimension der GFP und die Ausgestaltung der partnerschaftlichen Fischereiabkommen mit Drittstaaten wurden hier im Bundestag kontrovers diskutiert. Wir wissen, dass die Europäische Union nicht in Zu Protokoll gegebene Reden der Lage ist, den Bedarf aus eigenen Gewässern zu decken. Wir importieren, gemessen am Wert, etwa 24 Prozent der weltweit produzierten Fischereizeugnisse. Die Europäische Union hat als weltgrößter Importeur von Fischereierzeugnissen eine besondere Verantwortung für die nachhaltige Nutzung eigener wie drittstaatlicher Meeresressourcen; darin sind wir uns einig. Das allgemeine Menschenrecht auf Nahrung muss in der europäischen Fischereipolitik ein wichtiger Schwerpunkt sein und verstärkt beachtet werden. Darin sind wir uns ebenfalls einig. Dennoch kann die GFP nicht das geeignete Instrument sein, um die Probleme der Welternährung zu lösen. Werden unüberwindbare Hürden aufgebaut, fischen zukünftig chinesische oder koreanische Fangflotten statt europäischer Fischer. Das löst weder das Problem der Überfischung in Drittgewässern, noch wird dort der Hunger der einheimischen Bevölkerung gelindert. Abschließend möchte ich anerkennen, dass sich die Bundesregierung bei den bisherigen Verhandlungen zur GFP ebenso wie bei den jährlichen Quotenfestlegungen vorbildlich verhalten hat. Für die Zukunft unserer Fischereiressourcen ebenso wie des Fischereisektors, der wirtschaftlich wie touristisch in unseren Küstengebieten nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, müssen wir die Fischereipolitik neu ausrichten. Dabei müssen erstmals die Kommission, das Europäische Parlament sowie der Rat zusammenfinden. Darum ist es aus unserer Sicht wichtig, dass der Deutsche Bundestag ein starkes Signal nach Brüssel sendet und der Bundesregierung den Rücken stärkt. Ich lade deshalb alle Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition ein, sich aufgrund der hohen inhaltlichen Übereinstimmungen, die sich in den ausführlichen Beratungen gezeigt haben, unserem Antrag anzuschließen.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Über die EU-Fischereipolitik, GFP, wird aktuell weit weniger gestritten als über die EU-Agrarpolitik nach 2014, obwohl beide Bereiche bis Ende 2013 politisch neu ausgerichtet werden sollen und obwohl es auch in der GFP dringenden Änderungsbedarf gibt. Das stand ungewöhnlich deutlich schon 2008 im Grünbuch der EU-Kommission, denn viele der selbstgesteckten Ziele wurden verfehlt. Aus Sicht der Linken gerät in der Debatte leider häufig ein wichtiges Problem außer Sicht: Die Zukunftsaussichten der Fischerinnen und Fischer sind nicht besser geworden. Damit ist klar: Eine Kehrtwende muss her. Das Thema ist auch in der Bundesrepublik wichtig trotz relativ wenig Meer und Hochseefischerei. Deshalb haben die fischereipolitisch zuständigen Abgeordneten aller fünf Fraktionen seit Monaten an einem gemeinsamen Antrag zur EU-Fischereireform gearbeitet. Eigentlich waren wir uns in vielen Punkten einig. Trotzdem ist das Projekt gescheitert. Erst wurde erneut die Linksfraktion aus der Gruppe ausgeschlossen, weil die CDU/ CSU-Fraktion Parteipolitik über demokratische Regeln stellt. Kurz vor dem Ziel zerbrach die Gruppe im umwelt- und entwicklungspolitischen Streit - aus meiner Sicht eine vergebene Chance. Die in der Fischerei Beschäftigten hätten die Unterstützung ihrer Interessen durch eine einheitliche Stimme aus dem deutschen Parlament für eine nachhaltige Fischerei dringend gebraucht. Die Reformvorschläge aus Brüssel gehen aus Sicht der Linken in die richtige Richtung. Die GFP muss eine nachhaltige berufliche Perspektive für die Menschen am und mit dem Meer unterstützen. Das ist mehr als eine romantische Hafenidylle mit Fischbrötchen. Fischerinnen und Fischer brauchen ein gutes Einkommen und gute Arbeitsbedingungen. Dazu werden faire, kostendeckende Erzeugerpreise gebraucht. Das ist auch angesichts der steigenden Kosten, zum Beispiel für Schiffsdiesel, durchaus eine Herausforderung. Grundlage für diese wirtschaftlichen Perspektiven ist und bleibt aber eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Fischbestände. Das muss das Ziel sein. Drei Themen sind uns Linken auf dem Weg zu einer nachhaltigen GFP besonders wichtig: Erstens. Es muss ausreichend Fisch vorhanden sein und gefangen werden, die Ware muss fair bezahlt und regional vermarktet werden können. Zweitens. Die Förderung muss sich auf die Erfordernisse einer nachhaltigen Produktion von Fisch konzentrieren. Drittens. EU-Fisch-Trawler müssen mit ökologischer und sozialer Verantwortung agieren. Das führt zurück zum Schlagwort „Überfischung der Meere“. Betrachtet man dieses Schlagwort einer bedrohlichen Situation genauer, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Das soll keine Entwarnung sein, sondern zum kritischen Hinterfragen einladen. Laut dem Fischereiverband ist der Anteil überfischter Bestände in den vergangenen sieben Jahren von 94 auf 47 Prozent zurückgegangen. Ein Beispiel: Dem Ostseedorsch geht es heute deutlich besser. Aktuell ist der Bestand sogar auf Rekordniveau. Das ist bei aller berechtigten Kritik an der GFP ein großer, wenn auch hart erkämpfter Erfolg, der übrigens den natürlichen Druck für die Beutearten des Dorschs, Hering und Sprotte, erheblich erhöht. Auch die Scholle wird unterdessen nach dem MSYPrinzip - das ist der höchstmögliche Dauerertrag - befischt. Die sich erholenden Bestände haben zu höheren Fängen geführt, die wiederum die Erzeugerpreise unter Druck gesetzt haben. Bis 2015 soll dieser MSY-Ansatz bei allen Arten und Beständen gelten. Das ist richtig so. Aber wie das Dorsch-Beispiel zeigt, muss die EU zukünftig den Ökosystemansatz in der Fischerei stärken, das heißt, Mehrjahrespläne als Bewirtschaftungsgrundlage erarbeiten und die Beziehungen zwischen den Fischarten berücksichtigen. Besonders wichtig ist mir auch der Europäische Meeres- und Fischereifonds, EMFF. Mit ihm werden zum Beispiel unterstützende Maßnahmen für die Binnenfischerei finanziert. Mit der neuen EU-Fischereipolitik Zu Protokoll gegebene Reden soll nun erstmals auch die Aquakultur in die GFP einbezogen werden. Das löst nicht nur Freude aus bei den Beschenkten. Binnenfischerinnen und Binnenfischer klagen schon jetzt über hohe bürokratische Hürden. Ich erwarte, dass Brüssel darauf reagiert und dass die Kommission für eine vereinfachte Antragsstellung sorgt. Die Linksfraktion unterstützt den weiteren Ausbau der heimischen Aquakultur, wenn sie nachhaltig ist. Dazu wird unter anderem mehr Forschung gebraucht. Binnenfischerinnen und Binnenfischer stehen unter dem Druck billiger Fischimporte, die sozial und ökologisch kaum verantwortbar sind. Dazu kommen wasser- und naturschutzrechtliche Auflagen. Hier ist mehr Interessensabwägung mit Fingerspitzengefühl notwendig. Die einheimische Forellenzucht zum Beispiel ist eine wichtige Lebensmittelproduktion und darf nicht den Bach hinuntergehen, auch wenn wir die Herstellung der Durchlässigkeit von Flussläufen als wichtiges Naturschutzanliegen unterstützen. Aber wir brauchen auch aus Nachhaltigkeitsgründen mehr regional erzeugten Fisch, nicht weniger. In meinem Heimat-Bundesland Brandenburg stammt nur jeder zehnte verspeiste Süßwasserfisch aus märkischen Fischereibetrieben. Das ist zu wenig. Die EU trägt auch international Verantwortung für die nachhaltige Bewirtschaftung der Gewässer. Im Rahmen der sogenannten externen Dimension der GFP fischen EU-Trawler auch in weit entlegenen Fischfanggründen. Über die Abkommen mit den betroffenen Staaten bekommen EU-Schiffe Zugang zu den Fischgründen. Als Linksfraktion sehen wir diese Abkommen sehr kritisch. Zu oft sind diese weder nachhaltig noch kommen sie der lokalen Bevölkerung zugute. Selbst die Koalition bestätigt diese Defizite in ihrem Antrag. Die Linke fordert daher wirklich faire Partnerschaftsabkommen unter Beachtung der neuen FAO-Leitlinien. Ein schwerer Fehler der bisherigen GFP war das Rückwurfverbot, also die Pflicht, Teile des Fangs wieder über Bord zu werfen, für die keine Fangerlaubnis vorliegt. Diese „Rückwürfe“ machen aber nur Sinn bei Arten mit sehr hoher Überlebenswahrscheinlichkeit, zum Beispiel bei einigen Haiarten oder bei bestimmten Plattfischen. Deshalb begrüßen wir die neue Regelung mit Rückwurfverbot und Anlandegebot. Und es ist gut, dass der fischereibezogene statt eines artbezogenen Ansatzes gewählt wurde. Der angelandete Beifang sollte aber nicht nur zu Fischmehl oder -öl, sondern auch als Lebensmittel verarbeitet werden. Die Linksfraktion enthält sich bei beiden Anträgen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir Grüne wollen, dass die Reform der EU-Fischereipolitik die Überfischung der europäischen Gewässer beendet und die Nutzung der Meeresressourcen durch europäische Fischer gerecht und umweltverträglich gestaltet. So können sich die Fischbestände erholen. Davon profitieren nicht nur Natur und Umwelt, sondern über kurz oder lang auch die Fischer. Das ist die Leitlinie unserer Fischereipolitik. Dass diese Leitlinie hundertprozentig richtig ist, kann am Beispiel der im Nordostatlantik erreichten Bestandserholungen eindrucksvoll belegt werden. Für einen dauerhaft nachhaltigen Ertrag ist es aber notwendig, die von den Wissenschaftlern empfohlenen Fangmengen nicht mehr mutwillig zu überschreiten! Das ist aber immer noch nicht bei allen Beständen der Fall. Laut Mitteilung der EU-Kommission wurden aktuell bei 11 Prozent der Fischbestände im Nordostatlantik und seinen Nebenmeeren Nord- und Ostsee Gesamtfangmengen oberhalb des Niveaus einer nachhaltigen Bewirtschaftung festgelegt. Im Jahr 2011 waren es noch 23 Prozent und 2003 sogar 46 Prozent. Die Richtung stimmt also. Aber es sind immer noch 11 Prozent zu viel! Dass sich die Mäßigung auszahlt, kann man an der Entwicklung des Anteils der überfischten Bestände ablesen: Er ist im Nordostatlantik und seinen Nebenmeeren von 2005 bis 2012 von über 90 Prozent auf knapp die Hälfte zurückgegangen. Viele Bestände erholen sich also bereits. Das ist bei diesen Beständen auf eine strikte Politik der vorübergehenden Fangzurückhaltung zurückzuführen, auf die wir Grüne gegen erhebliche Widerstände seit Jahr und Tag drängen. Das Glas ist aber genauso halb voll, wie es halb leer ist. Denn mit knapp der Hälfte ist das Maß der überfischten Bestände im Nordostatlantik und seinen Nebenmeeren immer noch erschreckend hoch. Noch erschreckender ist die Situation im Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Dort sind die Fortschritte erheblich geringer: Lediglich 13 von 65 beurteilten Beständen werden gemäß MSY und damit nachhaltig bewirtschaftet. 52 Bestände werden überfischt. Hier wirkt es sich offenbar aus, dass sich insbesondere Mittelmeeranrainer bei den Quotenverhandlungen alljährlich gegen ein Ende der Überfischung wehren. Die Quittung erhalten sie und ihre Fischwirtschaft in Form von sinkenden Fischereierträgen! Daraus sollte die Fischereipolitik endlich ihre Lehren ziehen und die Politik der Überfischung stoppen! Die deutschen Fischer merken mittlerweile, dass sich die für sie durchaus schmerzliche Politik der Fangzurückhaltung der letzten Jahre, die bei ihnen ja auch nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist, für sie allmählich auszahlt. Sie profitieren heute bei mehreren Beständen von steigenden Fangmengen - mit der generellen Aussicht, dass die Fangmengen auch in Zukunft hoch bleiben, wenn man weiter auf die Fangmengenempfehlungen der Fischereibiologen hört und die Managementpläne einhält und nicht wieder dazu übergeht, die wissenschaftlichen Empfehlungen zu missachten. Diese für die Fischerei positiven Ergebnisse sollten eigentlich alle Fischer in der EU davon überzeugen, endlich damit aufzuhören, von den Fischereiministern höhere Fangmengen einzufordern, als die Fischereibiologen empfehlen. Und davon, dass es falsch ist, die EUFischereireform zu torpedieren, das Rückwurfverbot zu durchlöchern und das Erreichen des maximalen Dauerertrags MSY auf die lange Bank zu schieben sowie den Fischereirat zu drängen, weiterhin zu hohe Fangmengen zu beschließen. Zu Protokoll gegebene Reden Wir haben intensiv mit den Koalitionsfraktionen und der SPD darüber verhandelt, wie die EU-Fischereipolitik reformiert werden muss, um die Überfischung zu beenden. Ich gebe zu: Diese Verhandlungen haben zu mehr Gemeinsamkeiten geführt, als ich mir am Anfang erhofft habe. Wir konnten unsere Kollegen bei einigen Punkten davon überzeugen, unsere Forderungen aufzugreifen. Dass wir mit verhandelt haben, das sieht man vielen Formulierungen des Koalitionsantrages noch an. Dass aber zum Beispiel die so zentrale Forderung nach Einhaltung der wissenschaftlichen Empfehlungen zu nachhaltigen Fangmengen durch den Fischereirat im Koalitionsantrag immer noch fehlt, macht deutlich, wie schwer sich Union und FDP mit einer konsequenten Politik zur Beendigung der Überfischung immer noch tun. Auch im Bereich der externen Dimension konnten wir uns nicht einigen, sodass die Verhandlungen über einem möglichen gemeinsamen Antrag letztlich gescheitert sind.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/10783 zu drei Vorschlägen des Europäischen Parlaments und des Rates für Verordnungen zur Reform der gemeinsamen Fischereipolitik der EU, hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und Grünen angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10790 mit dem Titel „Die Überfischung beenden - Vorschläge zur Reform der EU-Fischereipolitik überarbeiten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Linken und Zustimmung der Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({0}), Dr. Konstantin von Notz, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungsrechtlich gebotenen, rückwirkenden Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften - Drucksache 17/10769 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Gesetzentwurf zur verfassungsrechtlich gebotenen, rückwirkenden Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften fordern sie eine Rückwirkung des Geltungszeitraumes unseres Gesetzes von 1. Januar 2009 auf den 1. Januar 2001. Ich möchte mich daher zuerst bei den Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen bedanken. Immerhin steckt in Ihrem Antrag wenigstens ein verstecktes Lob an die Koalition. Ja, wir haben im Gegensatz zur rot-grünen Regierung, wie im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP vereinbart, die familienund ehebezogenen Regelungen im öffentlichen Dienstrecht per Gesetz vom 14. November 2011 auf Lebenspartnerschaften übertragen. Mit diesem Gesetz ist eine vollständige Gleichstellung im Recht des öffentlichen Dienstes des Bundes mit Wirkung vom 1. Januar 2009 erfolgt. Das BVerfG hat uns also nicht, wie es bei Rot-Grün bis 2005 notwendig gewesen wäre, wegen Untätigkeit ermahnt, sondern lediglich die Rückwirkung bis zum 1. August 2001 weiter gefasst. Bevor ich Ihnen erläutere, warum wir den heute gestellten Antrag dennoch ablehnen, möchte ich einige grundsätzliche Anmerkungen zur aktuellen Diskussion um die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften machen. Natürlich diskutieren wir in der Union zum Beispiel auch über das Für und Wider einer Einführung des Steuersplittings für homosexuelle Paare, wenn sie in einer eingetragenen Partnerschaft leben. Aber gibt es mit der Antwort auf diese Frage eine Lösung für das soziale Kernproblem unserer Gesellschaft, nämlich eine historisch niedrige Geburtenrate von durchschnittlich 1,36 Babys pro Frau? Abermals wurde in dem jetzigen Karlsruher Urteil darauf hingewiesen, dass es dem Gesetzgeber freisteht, die Ehe gegenüber anderen Beziehungsformen zu begünstigen. Hierfür bedarf es gemäß dem Urteil jenseits des Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz aber weiterhin eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der die Benachteiligung anderer Lebensformen rechtfertigt. Mehrfach habe ich an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Weitergabe von Leben ein solcher gewichtiger Sachgrund für mich darstellt, der naturgemäß homosexuellen Paaren nicht möglich ist. Ich zitiere aus der Begründung des aktuellen Bundesverfassungsgerichtsurteiles: In ihrer Eignung als Ausgangspunkt der Generationenfolge unterscheidet sich die Ehe zwar grundsätzlich von der Lebenspartnerschaft, da aus der Beziehung gleichgeschlechtlicher Paare grundsätzlich keine gemeinsamen Kinder hervorgehen können. Dieser Gesichtspunkt kann jedoch nicht als Grundlage einer unterschiedlichen Behandlung von Ehegatten und Lebenspartnern herangezogen werden, da er in der gesetzlichen Regelung nicht hinreichend umgesetzt ist. Denn das geltende Recht macht - im Unterschied zu früheren Regelungen 23556 Armin Schuster ({0})({1}) die Privilegierung der Ehe bzw. die Höhe des Freibetrags für Ehegatten gerade nicht vom Vorhandensein gemeinsamer Kinder abhängig. Wenn wir dieses Urteil also richtig auslegen, geht es darum, die Privilegierung der Ehe vom Vorhandensein gemeinsamer Kinder gesetzlich abhängig zu machen. Es geht mir nicht darum, einzelne Gruppen zu benachteiligen, es geht auch nicht in erster Linie um Steuerpolitik, sondern einzig darum, diejenigen in unserer Gesellschaft besser zu unterstützen, die sich für Kinder entscheiden. Das ist Familienpolitik im ureigensten Sinne. Neben Familien mit Kindern fördert der Staat heute auch Millionen kinderloser Ehepaare. Insgesamt wenden wir 15 Milliarden Euro für das Splittingverfahren auf. Das würde ich über ein Familiensplitting sehr gerne privilegiert Familien mit Kindern zukommen lassen. Die Vater-Mutter-Kind-Konstellation ist für uns nach wie vor die beste, aber gleichwohl nur noch eine Variante von vielen Lebensformen, in denen Kinder heute geboren werden und aufwachsen. Deshalb sollten wir bei den heute vielfältigen Lebensformen nicht die Geschlechterfrage als gesetzlichen Privilegierungsgrund diskutieren. Das Kind muss unser Kompass sein. Daher sollte das geltende Recht so verändert werden, dass sich die steuerliche Privilegierung von Familien am Vorhandensein gemeinsamer Kinder orientiert. Jetzt zu den Gründen, warum wir den Antrag in der vorliegenden Form ablehnen: Die vom Bundesverfassungsgericht entschiedene erhebliche, rückwirkende Erweiterung von 2009 auf 2001, wird, anders als im vorliegenden Antrag beschrieben, gerade im Versorgungs- und Beihilferecht mit erheblichen Kosten verbunden sein. Deshalb geht es uns um eine präzise Auslegung des Urteils, nicht um die Erfüllung eines Wunschkonzerts. Genau genommen hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkend zum 1. August 2001 eine gesetzliche Grundlage für die Gewährung des Familienzuschlags zu schaffen. Wichtig ist: Das Gericht hat den Anspruch auf den Kreis derjenigen begrenzt, die einen entsprechenden Antrag zeitnah gestellt haben, ohne dass über ihren Anspruch schon abschließend entschieden worden ist, das heißt die rückwirkende Gewährung betrifft nicht alle potenziellen Empfänger des Familienzuschlags der Stufe 1, und sie erfolgt frühestens erst ab dem Haushaltsjahr, in dem ein Antrag gestellt wurde. Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen erstreckt die Rückwirkung demgegenüber auf alle ehebezogenen Regelungen im öffentlichen Dienstrecht, nicht nur auf das Familienrecht, und auf alle eingetragenen Lebenspartner und soll auch die belohnen, die nicht einen zeitnahen Antrag gestellt haben. Insbesondere eine Erstreckung auf alle eingetragenen Lebenspartner ist sehr problematisch. Heute gestellte Ansprüche wären nicht durchsetzbar, da ihnen sowohl der Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung als auch Verjährungsregelungen entgegenstehen. Durch eine gesetzliche Regelung, die alle eingetragenen Lebenspartner erfasst, würde faktisch ein Verzicht auf den Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung und auf die Einrede der Verjährung erfolgen. Beides kann wegen präjudizierender Wirkungen auf anhängige oder künftige Rechtsstreitigkeiten nicht in Betracht kommen. Auch Grundsätze der sparsamen Haushaltsführung stehen dem entgegen. Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht damit weit über die Vorgaben des BVerfG hinaus und ist abzulehnen.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In diesem Sommer ereignete sich in Karlsruhe ein bisher leider altbekanntes Schauspiel - das Bundesverfassungsgericht erklärte einen Teil der Gesetzgebung der Bundesregierung für verfassungswidrig. In diesem Fall hatte das Gericht am 19. Juni dieses Jahres entschieden, dass die Ungleichbehandlung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen Familienzuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesoldungsgesetz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz ist. Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet, den festgestellten Verfassungsverstoß rückwirkend zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001 zu beseitigen. Wieder einmal zeigte das Bundesverfassungsgericht mehr Lebenswirklichkeit als die amtierende schwarzgelbe Bundesregierung. Die Gleichstellung von Schwulen und Lesben ist endlich umfassend in allen Bereichen durchzusetzen. Es war ein wichtiges Projekt der rot-grünen Bundesregierung, mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz 2001 gleichgeschlechtlichen Paaren die Verpartnerung zu ermöglichen. Das Gesetz war ein Meilenstein der Gleichstellung homosexueller Paare und sorgte für mehr Akzeptanz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Es hat vielen homosexuellen Menschen ermöglicht, ihre Liebe offen und vom Gesetz gewürdigt und geschützt zu leben. Mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz sollten noch weit mehr gleichstellende Regelungen umgesetzt werden, unter anderem auch im Beamtenrecht. Diese scheiterten aber an der fehlenden Zustimmung der CDU/ CSU-FDP-regierten Länder im Bundesrat. Knapp zehn Jahre nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz legte auch die schwarz-gelbe Bundesregierung endlich einen Gesetzentwurf vor, der ehebezogene Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften übertragen soll. Dieser Gesetzentwurf hat jedoch den Makel, dass die Regelungen nicht rückwirkend zum 1. August 2001, also dem Tag des Inkrafttretens des rot-grünen Lebenspartnerschaftsgesetzes, gelten. Im federführenden Innenausschuss des Deutschen Bundestages stellte die SPD-Fraktion in der abschließenden Beratung am 29. Juni 2011 den Änderungsantrag, das Gesetz rückwirkend zum 1. August 2001 in Kraft zu Zu Protokoll gegebene Reden setzen. Der Änderungsantrag wurde mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Der uns heute vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellt ebenfalls die Forderung auf, die gleichstellenden Regelungen rückwirkend zum 1. August 2001 in Kraft treten zu lassen. Dies begrüßen wir als SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich, entspricht es doch unserer Forderung vom vorvergangenen Sommer. Es ist wirklich beschämend, wie die Bundesregierung bei der Gleichstellung von homosexuellen Paaren zögert. Obwohl im Koalitionsvertrag angekündigt wurde, die eingetragenen Lebenspartnerschaften der Ehe gleichzusetzen, hat das Kabinett Anfang des Monats entschieden, dass es in dieser Legislatur keine steuerliche Gleichstellung beider Formen des Zusammenlebens geben werde. Vorangegangen war ein Papier von 13 Abgeordneten der CDU, in dem sie sich dafür aussprechen, eingetragene Lebenspartnerschaften im Steuerrecht der Ehe gleichzustellen. Das kommt bei der CDU offenbar einem Tabubruch gleich. Vor allem die CSU will an ihrem antiquierten Weltbild festhalten und lehnt eine Gleichbehandlung ab, auch der Bundesfinanzminister bremst. Das Ergebnis ist die bereits erwähnte Kabinettsentscheidung. Die SPD-Bundestagsfraktion wird schnellstmöglich eine Initiative für einen interfraktionellen Antrag zur steuerlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partner mit Eheleuten in den Bundestag einbringen. Es darf keine weiteren zehn Jahre dauern, bis auch in Deutschland die absolute Gleichstellung von Homosexuellen Wirklichkeit ist.

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem Gesetz zur Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften hat die christlich-liberale Koalition die Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern mit Ehegatten im Beamtenrecht vor zwei Jahren erfolgreich umgesetzt. Neben anderen Anpassungen wie der Beihilfe im Krankheitsfall haben verpartnerte Beamtinnen und Beamte seitdem ein Anrecht auf Familienzuschlag nach dem Bundesbesoldungsgesetz von etwa 108 bis 113 Euro monatlich. Bis zum damaligen Zeitpunkt war der Zuschlag noch verheirateten Beamten vorbehalten. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 12. Juni 2012 weiteren Handlungsbedarf in Bezug auf den Familienzuschlag aufgezeigt. Die Gleichstellung im Beamtenrecht wurde 2011 mit Rückwirkung auf das Jahr 2009 von der Koalition beschlossen. Da gleichgeschlechtliche Paare aber schon seit 2001 eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen können, soll nun auch die Rückwirkung auf 2001 ausgeweitet werden. Die zwischenzeitliche Ungleichbehandlung mit der Ehe ist verfassungswidrig. Gerne wäre das Bundesjustizministerium bei der Rückwirkung einen Schritt weiter gegangen. Am Ende steht in Koalitionen aber nun einmal ein Kompromiss. Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nimmt das Urteil zum Anlass zu einem unüberlegten Schnellschuss, den die Koalition nicht mittragen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil ganz klar bestätigt, dass die Rückwirkung für diejenigen Beamten gelten soll, die einen zeitnahen Antrag gestellt hatten. Demgegenüber bezieht der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Rückwirkung auch auf diejenigen Beamten, die den Familienzuschlag nicht beantragt hatten. Zudem weitet der Gesetzentwurf die Rückwirkung auf alle die Ehe betreffenden Regelungen im Beamtenrecht aus, während sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur auf den Familienzuschlag beschränkt. Die Koalitionsfraktionen prüfen derzeit weitere Verbesserungen bei der Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften, die im von der rot-grünen Bundesregierung auf den Weg gebrachten Lebenspartnerschaftsgesetz unter den Tisch gefallen sind. Mit dem Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner sind zahlreiche Angleichungen im Zivil- und Strafrecht geplant. In dieser Legislaturperiode haben wir bereits bei Erbschaftund Grunderwerbsteuer, BAföG und im öffentlichen Dienstrecht gleichgestellt und wollen verbleibende Herausforderungen mit der gleichen Sorgfalt behandeln. Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird der Herausforderung eines verantwortungsvollen Umgangs mit den komplexen Fragestellungen nicht gerecht.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen ist gut und richtig. Er erhält unsere volle Unterstützung. Gleichzeitig ist er eine Ohrfeige für die Bundesregierung und die Arbeit der Regierungskoalition. Die Koalition ist in einem sehr desolaten Zustand, sodass sie selbst dann nicht reagieren kann, wenn es ihr das Bundesverfassungsgericht vorschreibt. Zur Klarstellung: Nachdem die eingetragene Lebenspartnerschaft 2001 wegen des Widerstands der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat nur als Ehe zweiter Klasse eingeführt werden konnte, gab es eine Reihe von Klagen bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht. Nun haben wir seit 2009 die Situation, dass das Bundesverfassungsgericht die Gleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe dem Gesetzgeber ins Stammbuch schreibt. Zunächst urteilte das Bundesverfassungsgericht zur Hinterbliebenenversorgung, später in weiteren Fällen der Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft. Seitdem hält das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung fest, dass der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz nicht dem Gleichheitsgrundsatz nach in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz entgegensteht. Im Gegenteil, aus dem Gleichheitsgrundsatz folgt, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft in allen Bereichen der Ehe gleichzustellen ist. Dies gilt rückwirkend seit Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes zum 1. August 2001, wie es das Bundesverfassungsgericht zuletzt am 19. Juni 2012 in seiZu Protokoll gegebene Reden nem Urteil zum Familienzuschlag im öffentlichen Dienstrecht bekräftigte. Die Koalition reagierte auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aber eben nur unzureichend. Sie brachte 2010 einen Gesetzentwurf zum öffentlichen Dienstrecht ein, mit Rückwirkung ab dem 1. September 2009. Die Linke ebenso wie Bündnis 90/ Die Grünen und die SPD machten bereits damals im laufenden parlamentarischen Verfahren darauf aufmerksam, dass eine Rückwirkung ab 2001 notwendig ist, also ab dem Jahr der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Die jetzige Situation ist beschämend für Regierung und Koalition. Wenn sie nicht in der Lage sind, eigenständig zu handeln, sollten sie die Gelegenheit nutzen und wenigstens dem Gesetzentwurf der Grünen zustimmen, um ein verfassungsgemäßes Dienstrecht zu haben, so wie es das Bundesverfassungsgericht in Auftrag gegeben hat. Ich wünsche mir endlich eine Regierung, die agiert und nicht reagiert, wenn sie dies denn überhaupt tut. Die Gleichbehandlung ist verfassungsmäßig geboten und notwendig, und sie sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Dies betrifft auch die Frage der Gleichbehandlung im Steuerrecht und beim Adoptionsrecht. Dass die Bundesregierung auch beim Steuerrecht wieder nur das nächste Bundesverfassungsgerichtsurteil abwartet, ist angesichts des absehbaren Urteils und der jüngsten Aufforderung des Bundesrats, endlich die Gleichbehandlung im Steuerrecht umzusetzen, ein Skandal. Handeln sie endlich. Auch wenn es offenkundig noch homophobes Denken in den Reihen der Koalition gibt, so wie es die Staatssekretärin im Bundesumweltministerium und Bundestagsabgeordnete Katherina Reiche am 17. August gegenüber der „Bild“-Zeitung zum Ausdruck brachte - „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften“ - und sogleich vom CSU-Abgeordneten Thomas Goppel auf seiner Facebook-Seite unterstützt wurde, so kann dies nicht die Verhinderung der Gleichbehandlung rechtfertigen. Wir als Gesetzgeber sind in der Pflicht, das Grundgesetz einzuhalten und die Gleichbehandlung sicherzustellen. Am schnellsten und effektivsten wäre es, die Ehe für Lesben und Schwule zu öffnen. Dies fordern alle drei Oppositionsparteien. Dies sieht sogar das Programm der FDP vor, und auch die Lesben und Schwulen in der Union fordern dies. Es wäre ein notwendiger und richtiger Schritt, der der Wirklichkeit Rechnung tragen würde.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Sommer dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen von der Koalition zweimal schwarz auf weiß mitgeteilt, dass Ihre fortgesetzte Diskriminierung von eingetragenen Lebenspartnerschaften ein Ende haben muss. Für den Bereich des öffentlichen Dienstrechts legen wir Ihnen nun einen Gesetzentwurf vor, der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzt und allen Betroffenen die ihnen zustehenden Zuschläge nachträglich gewährt. Die Ende 2010 beschlossene Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften erfolgte rückwirkend ab dem 1. Januar 2009. Diese Begrenzung der Rückwirkung wurde nun mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 2012 für verfassungswidrig erklärt. Demnach ist der Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkend zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der Lebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001 eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die allen Beamtinnen und Beamten, die ihre Ansprüche auf Familienzuschlag zeitnah geltend gemacht haben, einen Anspruch auf Nachzahlung des Familienzuschlags ab dem Zeitpunkt seiner erstmaligen Beanspruchung einräumt. Diese Verpflichtung ist analog auf alle ehebezogenen Regelungen im öffentlichen Dienstrecht zu übertragen. Unser Gesetzentwurf räumt den Familienzuschlag und andere ehebezogene Regelungen allen Beamtinnen und Beamten rückwirkend ein. Ich erwarte, dass wir diese Änderungen schnell im Konsens dieses Hauses verabschieden können. Schließlich werden insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU nicht müde, immer wieder zu betonen, dass sie die Urteile des Bundesverfassungsgerichts achten und umsetzen wollen. Hier haben Sie Gelegenheit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Meine Damen und Herren von der Koalition: Sie haben im August ein kleines Sommertheater aufgeführt. Zunächst sah es so aus, als könnten sich auch in Ihren Reihen Stimmen durchsetzen, die die Diskriminierung von schwulen und lesbischen Paaren in diesem Land endlich beenden wollen. Doch leider wurden wir eines Besseren belehrt. Frau Reiche meinte, zu Protokoll geben zu müssen, dass „die Zukunft Deutschlands nicht bei gleichgeschlechtlichen Paaren“ liege. Neben der EuroKrise sei die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstandes. Frau Reiche, selbst wenn das richtig wäre, warum sollte dieser Befund etwas an der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer Gleichstellung ändern? Sie haben es immer noch nicht verstanden: Schwul und lesbisch wird man nicht gemacht - man ist es! Nicht Schwule und Lesben gefährden die demografische Entwicklung, sondern die schlechte Familienpolitik Ihrer Regierung, die lieber eine Herdprämie einführt, statt endlich die notwendigen Investitionen in die Kinderbetreuung zu gewährleisten. Und das Verfassungsgericht hat Ihnen mehrfach ins Stammbuch geschrieben, dass die Ehe eben nicht gefördert wird, weil sie so viele Kinder hervorbrächte. Nein: Es ist die gegenseitige dauerhafte, auch rechtlich verbindliche Verantwortung, die zwei Menschen füreinander übernehmen, die der Staat fördert. Und darin unterscheiden sich Ehe und Lebenspartnerschaft eben nicht. Im Übrigen hat Ihnen das Gericht auch gesagt, dass selbstverständlich auch in Lebenspartnerschaften Kinder aufwachsen, und zwar gut und gesund, wie Studien unter anderem aus dem Justizministerium zeigen. Das Zu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) mag zwar Ihr enggefasstes biologisches Verständnis übersteigen, ist aber Realität in Deutschland. Die Gleichstellung von schwulen und lesbischen Paaren ist verfassungsrechtlich erforderlich und politisch laut Umfragen von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht. Die richtige Konsequenz wäre die Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare. Nachdem der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP dies im Sommer abgelehnt hat, müssen wir nun bis auf Weiteres den mühsamen Weg der schrittweisen Angleichung weiter gehen. Unser heutiger Antrag ist ein weiterer, kleiner Schritt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10769 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Andreas G. Lämmel, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({1}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Herausforderungen der regionalen Wirtschaftsstruktur meistern - GRW fortführen und EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert gestalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Doris Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ - Finanzierung langfristig sichern - Drucksachen 17/9938, 17/5185, 17/10848 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Tobias Lindner Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn momentan über Wirtschaftspolitik diskutiert und auch gestritten wird, dann geht es oft um die „großen Themen“ wie Energiewende oder die Euro-Stabilität. Das Thema der regionalen Wirtschaftspolitik wird manchmal vergessen. Ein Grund dafür konnte sein, dass dabei weniger gestritten wird. An der Bedeutung des Themas kann die mitunter mangelnde Aufmerksamkeit kaum liegen. Denn Deutschland ist ein vielfältiges Land mit starken Regionen. Die Mehrheit der Deutschen lebt in ländlichen Regionen oder mittleren Städten. Das wirtschaftliche Geschehen in Deutschland konzentriert sich nicht auf die eine Metropolregion. Die Vielfalt von Stadt und Land spiegelt sich auch in der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen wider. Viele Regionen sind von den Großtrends wie Strukturwandel, Globalisierung oder der deutschen Einheit höchst unterschiedlich betroffen. Die regionale Wirtschaftspolitik betrifft den Alltag vieler Bürger unseres Landes. Das Grundgesetz verlangt die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Das zentrale und bewährte Instrument dafür ist seit 1969 die BundLänder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ - GRW. Bund und Länder unterstützen gemeinsam strukturschwache Regionen. Das Hauptziel ist die Schaffung und Sicherung dauerhaft wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze durch die Förderung von gewerblichen Investitionen, Investitionen in die wirtschaftsnahe Infrastruktur und gezielten Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen. Die GRW zielt also auf die Aktivierung der regionalen Wirtschaftskraft als Hilfe zur Selbsthilfe ab. Im Rahmen der regelmäßigen Evaluation der GRW wird ihre positive Wirkung ständig bestätigt. Schwerpunkte der Förderung liegen eindeutig bei kleinen und mittleren Unternehmen und bei Innovationen. Zwischen 2009 und 2011, also während des heftigsten Einbruchs der Konjunktur in der Geschichte der Bundesrepublik, führten 4,4 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bund und Ländern zu 22,6 Milliarden Euro Investitionen von Unternehmen, in der gewerblichen Wirtschaft wurden über 65 400 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen und circa 280 200 Dauerarbeitsplätze erhalten. Hohe Mittelabflüsse von über 90 Prozent belegen das hohe Interesse seitens der Bundesländer und der Unternehmen vor Ort. Die Herausforderungen für die regionale Wirtschaftspolitik sind groß: Der demografische Wandel wirkt zuerst in ländlichen und strukturschwachen Räumen, also in jenen Gebieten, auf die sich die GRW-Mittel konzentrieren. Die beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für die nationale Regionalpolitik werden von der Europäischen Kommission für die neue Förderperiode ab dem Jahr 2014 neu ausgerichtet. Diese Regeln werden festlegen, wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch gefördert werden darf. GRW-Mittel stehen auch für die gewerbliche Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung „Konversion“. Die angelaufene Reform der Bundeswehr stellt eine neue Aufgabe für die GRW dar. Die Investitionszulage - I-Zulage - für Unternehmen in Ostdeutschland wird Ende des Jahres 2013 auslaufen. Der Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschen Bundesländer ist bis zum Jahr 2019 befristet. Die Mittel aus den europäischen Strukturfonds werden in Deutschland ab dem Jahr 2014 vermutlich ebenfalls erkennbar zurückgehen, sodass der GRW eine höhere regionalpolitische Verantwortung zukommt. Die europäischen Strukturfonds werden ab 2014 neu fokussiert. Momentan werden die Weichen dafür gestellt, dass die GRW effektiv und flexibel zur Stärkung der Regionen im Standortwettbewerb beitragen kann und auch die strukturschwachen Regionen ihren Anteil am gesamtdeutschen Wirtschaftswachstum leisten können. Die christlich-liberale Koalition steht zur GRW als zentrales Instrument der regionalen Wirtschaftspolitik. Wir stehen aber auch zur Schuldenbremse; daher musste auch die GRW ihren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Im Gegensatz zu mancher Vorgängerregierung haben wir die GRW aber nicht als haushälterischen Steinbruch genutzt. Außerdem haben wir in den parlamentarischen Haushaltsberatungen dieser Legislaturperiode den Regierungsvorschlag stets ein wenig zugunsten der GRW verschoben. Diese Notwendigkeit sehe ich auch in den aktuellen Beratungen für den Haushalt 2013. Hier werde ich mich mit vielen Kollegen für eine bessere Mittelausstattung der GRW einsetzen. Im Rahmen der Haushaltsmittel und der Schuldenbremse steht diese Koalition zur Fortführung des Haushaltstitels der GRW auf bestehendem, hohem Niveau und zu einer finanziellen Ausstattung, dass sie strukturell wirksam bleibt und die neue Aufgabe der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften entsprechend gewürdigt wird. Weiterhin erwarten wir von den Bundesländern, dass sie die paritätische Kofinanzierung durch Landesmittel sicherstellen. Die GRW ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Tiefgreifende Entscheidungen für die regionale Wirtschaftspolitik in Deutschland werden momentan auf EU-Ebene vorbereitet. Innerhalb des Europäischen Parlamentes ist das Verhandlungsmandat für weitere Gespräche zur Fortsetzung der Kohäsionspolitik abgestimmt. Der Trilog aus Parlament, Europäischer Kommission und dem Europäischen Rat hat nun begonnen. In diesen Verhandlungen unterstützen wir die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Regionalleitlinien der Europäischen Union. Es muss faire und wirksame Übergangsregelungen für Regionen geben, die ihren Status als A-Fördergebiet verlieren. In Deutschland betrifft dies konkret die Unterstützung des Angleichungsprozesses der ostdeutschen Bundesländer. Entsprechend dem Grundsatz der Subsidiarität müssen auch künftig nationale Spielräume zur wirkungsvollen Förderung strukturschwacher Regionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestehen. Dies betrifft auch die Förderung strukturschwacher Regionen in Westdeutschland. Wir bestärken daher die Bundesregierung in den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Leitlinien der Regionalpolitik der Europäischen Union im ihrem Einsatz unter anderem für die Verlängerung der Übergangsperiode für Ex-A-Gebiete bis 2020, die Begrenzung des Fördergefälles zu Höchstfördergebieten auf 15 Prozentpunkte und die Fördermöglichkeit von Großunternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten. Auch bei den Verhandlungen über die zukünftige Kohäsionspolitik unterstützen wir die Bundesregierung. Insbesondere begrüßen wir, dass die Strukturfonds verstärkt auf die Ziele der Strategie Europa 2020 ausgerichtet werden und damit Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltiges Wachstum vorantreiben. Dabei muss die Kohäsionspolitik weiter auf das Vertragsziel, den Abbau regionaler Entwicklungsunterschiede, ausgerichtet bleiben. Wir brauchen einen effizienten und zweckmäßigen Einsatz der EU-Mittel in allen Staaten. Daran hat es in den letzten Jahren oft gefehlt, wie wir heute sehen können. Von daher ist die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene thematische Ausrichtung und Konzentration der künftigen Kohäsionspolitik in weiten Teilen sinnvoll. Allerdings müssen den Regionen dabei Spielräume verbleiben, um den spezifischen regionalen Bedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen zu können. Ich werbe um die Zustimmung aller Fraktionen des Bundestages. Die regionale Wirtschaftspolitik verdient unser aller Unterstützung, gerade bei den Verhandlungen in Brüssel.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Viele Abgeordneten hier im Haus wollen das Gleiche, nämlich über die im Jahre 1969 eingeführte Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, gleichwertige Lebensverhältnisse auch in unserem seit 1990 größer gewordenen Land herbeizuführen. Aber leider konnten sich die Koalitionsfraktionen nicht überwinden, zusammen mit uns gemeinsam einen Antrag zu formulieren, der dieses Ziel auf hohem Niveau auch weiterhin verfolgt. 15 Monate dauerte es, bis die Koalitionsfraktionen schließlich ihren eigenen Antrag vorlegten. Ärgerlich für die Koalition war nur, dass inzwischen der Finanzplan 2013 von der Bundesregierung vorgelegt wurde, der vorsah, die Mittel für die GRW um 60 Millionen Euro zu kürzen. Aber dann kam der Antrag der Koalition. Und plötzlich hatte man entdeckt, dass durch die Bundeswehrreform ehemalige Bundeswehrstandorte umgewidmet werden müssen und solche Vorhaben auch erhebliche Kosten verursachen. Um diese für die betroffenen Gemeinden verträglich, vor allem bezahlbar zu gestalten und auch die Länderhaushalte nicht zu stark zu belasten, können jetzt Kosten der Konversion in den Fördergebieten über die Mittel der GRW finanziert werden. Das ist zwar nicht ganz fair gegenüber den Ländern, die schon seit Jahren erheblich Mittel in Konversionsstandorte haben fließen lassen. Rheinland-Pfalz hat über 600 Konversionsgebiete finanziert und dabei eine große Kompetenz erlangt, und das alles ganz ohne anteilige Unterstützung durch die GRW. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde es gut, dass jetzt Mittel der GRW auch für die Umwidmung von ehemaligen Bundeswehrstandorten zur Verfügung stehen. Für diese neue Aufgabe haben Sie die Mittel der GRW Zu Protokoll gegebene Reden dann doch nicht um 60 Millionen Euro, sondern „nur“ um 27 Millionen Euro gekürzt. Und uns wollen Sie vorrechnen, dass Sie die Mittel für die GRW sogar aufgestockt haben! Das nenne ich die fünfte Grundrechenart: zuerst kräftig kürzen, dann wieder etwas drauflegen und dann sich feiern lassen für die angebliche Mittelerhöhung des Titels. Genauso hat es schon der Städtebauminister Ramsauer mit den Geldern für das Projekt „Soziale Stadt“ gemacht. Wenn Sie so weitermachen, erklären Sie noch den Leichtgläubigen unter den Kollegen, dass 569 Millionen Euro mehr sind als 596 Millionen Euro, weil ja auf die ursprünglich geplanten Mittel von 539 Millionen Euro 27 Millionen Euro draufgelegt wurden, also der jetzige Ansatz höher ist. Dabei wäre doch Geld da gewesen, die GRW-Mittel zumindest auf der Höhe des Ansatzes von 2012 zu halten. Denn im kommenden Jahr läuft die Investitionszulage aus. Die GRW stellt dann das einzige Instrument des Bundes für die regionale Wirtschaftsförderung dar. Nach wie vor haben die neuen Bundesländer und auch die strukturschwachen Gebiete in Westdeutschland ein großes Interesse, Wettbewerbsnachteile gegenüber den Ballungszentren und Metropolregionen auszugleichen, wozu die zusätzlichen Mittel aus der I-Zulage hätten dienen können. Aber jetzt ist die I-Zulage weg, und die GRW-Mittel sind um 27 Millionen Euro gekürzt. Hinzu kommt, dass Sie Großunternehmen fördern wollen. Wollen Sie wirklich damit riskieren, dass Ansiedlungen nach Förderhöhe vorgenommen werden? Sollen andernorts Arbeitsplätze abgebaut werden - so wie wir es von Standortverlagerungen auch renommierter Firmen kennen? Sollen dann die vielen erfolgreichen Investitionen und Unternehmensgründungen zukünftig nicht mehr erfolgen können, weil es die bisherige finanzielle Unterstützung wegen der Großprojekte nicht mehr gibt? Können Sie das wirklich verantworten? Gleichzeitig hört man Gerüchte, wonach bei der nächsten Förderperiode einige Bundesländer, und zwar auch Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, nicht mehr in die GRW-Förderung gelangen. Was ist hier Ihre Gegenstrategie, wenn Ihre Kanzlerin demnächst mit Kommissar Almunia zum Gespräch zusammentrifft? Wahrscheinlich gibt es keine, und darüber hinaus gehen Sie ja davon aus, dass die Mittel aus den europäischen Strukturfonds für Deutschland ab 2014 erkennbar zurückgehen. Da dürfen wir gespannt sein, wie Sie die Weichen stellen und mit gekürzten GRW-Mitteln „effektiv und flexibel zur Stärkung der Regionen“ beitragen wollen. In einigen Tagen wird der Unterausschuss für regionale Wirtschaftspolitik eine Delegationsreise zu Förderschwerpunkten in Rheinland-Pfalz und in NordrheinWestfalen durchführen. Sicherlich werden wir dort gute Beispiele vorfinden, wie die Mittel aus der GRW eingesetzt wurden und werden, um für Wachstum und Arbeitsplätze zu sorgen. Wenn wir Sozialdemokraten in Zeiten von Schuldenbremse und Einsparungen trotzdem darauf bestehen, dass die Mittel für die GRW nicht angetastet werden, dann deshalb, weil wir genau wissen, wie zielsicher diese Mittel wirken. Ich will an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen: Die zur Verfügung gestellten GRWMittel lösen im Durchschnitt mehr als das Sechsfache an Investitionen aus, es gibt einen Beschäftigungszuwachs von knapp 5 Prozent, und auch die Löhne steigen beachtlich, nämlich um 6 Prozent - und das alles in einem Zeitraum von gerade einmal drei Jahren. Das ist eine Erfolgsmeldung, auf die wir alle stolz sein können. Deshalb verstehen wir nicht, wieso Sie wider besseres Wissen dann doch einer so dramatischen Kürzung von 27 Millionen Euro zustimmen konnten und gleichzeitig diesen Bundestagsantrag vorlegen.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir alle wissen, wie wichtig es ist, die regionale Wirtschaftsstruktur zu erhalten und zu verbessern. Mit Blick darauf, ist die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ein äußerst erfolgreiches Mittel, um strukturschwache Regionen bei der Bewältigung der Herausforderungen im Zuge des Strukturwandels zu unterstützen. Als zentrales Element der deutschen Regionalpolitik kommt der GRW eine besondere Bedeutung für das Wachstum in strukturschwachen Regionen in Deutschland zu. Und offenbar wird dieses Instrument gerne und rege angenommen - die hohen Mittelabflüsse von über 90 Prozent belegen das große Interesse der Bundesländer und Unternehmen. Zukünftig steht die Regionalpolitik in Deutschland vor großen Herausforderungen: Der demografische Wandel, der sich vornehmlich in ländlichen und strukturschwachen Regionen auswirkt, das Auslaufen der Investitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland oder auch die Neuausrichtung der beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für die nationale Regionalpolitik durch die Europäische Kommission für die neue Förderperiode ab 2014 - alles dies erfordert eine weitere Stärkung der GRW, damit diese effektiv und flexibel zur Stärkung strukturschwacher Regionen beitragen kann. Die Bedeutung der GRW und ihre erfolgreiche Bilanz sprechen für sich. Und genau aus diesem Grund wird sie beständig weiterentwickelt und aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen angepasst. Eine dieser neuen Herausforderungen der ländlichen Räume ist sicherlich auch die angelaufene Reform der Bundeswehr. Die gewerbliche Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte wird zu einer neuen Aufgabe für die GRW werden. In meinem Wahlkreis befindet sich zum Beispiel ein Bundeswehrstandort, der im Zuge der Reform geschlossen wird. Dies stellt die Region - vor allem aus wirtschaftlicher Sicht - vor große Herausforderungen. Der Einsatz von GRW-Mitteln wäre dort deshalb sicherlich Zu Protokoll gegebene Reden sinnvoll. Mit dem Antrag möchten wir daher unter anderem auch signalisieren, dass die Grundvoraussetzungen für den Einsatz bzw. Abruf der Mittel von unserer Seite aus klar sind. Die Zuteilung der GRW-Mittel für die Konversion der Bundeswehrstandorte fällt jedoch in den Zuständigkeitsbereich der Länder. Daher liegt es nun an ihnen, diese Mittel abzurufen und zu prüfen, ob sie in ein Infrastrukturprojekt wie die Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte investiert werden sollen. Wir können und möchten an dieser Stelle an die Länder appellieren, dies zu tun; denn die zivile Nutzung bisheriger Militärstandorte stellt einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dar. Dies wird zum Beispiel mit Blick auf die Umwidmung des ehemaligen Bundeswehrstandorts Mönchengladbach deutlich, auf dessen Terrain eine erfolgreich arbeitende Schienenteststrecke angesiedelt wurde. Die GRW ist eine äußerst wirkungsvolle Maßnahme, um die wirtschaftliche Basis in den strukturschwachen Regionen Deutschlands zu stützen. Wir freuen uns daher sehr, dass die Bundesregierung dem Erfolg und der Wichtigkeit der GRW Rechnung trägt und in ihrem Eckwertebeschluss eine Erhöhung des Mittelansatzes für 2013 angekündigt hat. Mit unserem Antrag wollen wir die hohe regionalpolitische Verantwortung der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ betonen und begrüßen, dass sie auf dem bestehend hohen Niveau fortgeführt und finanziell so ausgestattet werden soll, dass sie strukturell weiterhin so wirksam und erfolgreich bleibt, wie sie ist.

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Strukturschwachen Regionen muss durch gezielte Regionalpolitik geholfen werden. Ziel ist die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Dafür steht die Linke wie keine andere Partei - nicht zuletzt mit ihren Forderungen nach der Angleichung des niedrigeren Rentenwerts in Ostdeutschland an den Rentenwert West sowie nach der Anhebung der ostdeutschen Löhne und Gehälter bei gleicher Arbeitszeit an das westdeutsche Niveau. Zu den wichtigen Instrumenten der Regionalpolitik in Deutschland gehört neben den europäischen Strukturfonds EFRE und ESF die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW. Verfassungsrechtlich geregelt ist das im Grundgesetz in Art. 91 a. Nun enden nächstes Jahr die Investitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland und die aktuelle Förderperiode. Ab 2014 gibt es neue EU-Vorgaben. Deshalb will die Bundesregierung „GRW fortführen und EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert gestalten“, wie der Titel des Koalitionsantrages so schön lautet. Es kommt aber auf die Inhalte an! Da sagen wir: Der solidarischen Grundidee der Kohäsions- und Regionalpolitik treu bleiben, nicht wie die Regierung die Kohäsionsund Regionalpolitik zum bloßen Umsetzungsinstrument für neoliberale Ambitionen machen! Leider wurde diese ursprüngliche Förderphilosophie vielfach schon ins Gegenteil verkehrt: Statt die Schwächen der Regionen anzugehen, werden sogenannte Leuchtturmprojekte vorangetrieben. Die ländlichen Regionen in der Fläche bleiben auf der Strecke. Wir sind der Meinung, dass es auf den gezielten Ausbau der Eigenarten und Entwicklungspotenziale der Regionen ankommt. Die Bundesregierung hat nur Wettbewerbsfähigkeit im Blick: Für Unternehmen mit überregionalem Absatz sollen die Investitionskostenzuschüsse der GRW ein Ausgleich für Standortnachteile bei Investitionen in den GRW-Fördergebieten sein. Doch gerade auch in der Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe steckt eine Chance. So kann Lebensqualität auch dort gesichert werden, wo unter aktuellen Bedingungen kein „Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung“, wie es die Koalition in ihrem Antrag nennt, möglich ist. Will man die regionale Kaufkraft stärken und Maßstäbe setzen, ist es wichtig, dass nur solche Unternehmen oder Projekte gefördert werden, die Tarifverträge einhalten, Mindestlöhne zahlen und ökologische Standards sicherstellen. Das allein wird nicht reichen. Es muss weiter gedacht werden! Mit den Geldern muss der sozialökologische Umbau vorangetrieben werden. Außerdem sollen die ohnehin nicht allzu üppig bemessenen Gelder neben dem Ausbau einer leistungsfähigen kommunalen Infrastruktur und der sogenannten nichtinvestiven Fördertatbestände auf die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen konzentriert werden. Die Regierungskoalition hingegen spricht in ihrem Antrag von der „Förderfähigkeit von Unternehmensinvestitionen auch außerhalb der KMU“ und meint damit die Förderung von Großunternehmen. Wir meinen, dass wir solche Abhängigkeiten nicht schaffen sollten, siehe Nokia. Auf EU-Ebene fordern wir, dass sich die Bundesregierung für folgende drei Punkte einsetzt: Erstens darf die Kohäsionspolitik nicht zu einem bloßen Umsetzungsinstrument der Europa-2020-Strategie verkommen. Sie ist ein eigenständiger Politikbereich mit eigenen Zielsetzungen, und das muss sie auch bleiben. Zweitens muss die Weiterentwicklung der EU-Strukturförderung den Erfordernissen des Klimaschutzes und der Energiewende gerecht werden, sie muss den ökologischen Umbau und den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge stimulieren, sie muss eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Bildung, gute und nachhaltige Arbeit und die Gleichstellung der Geschlechter fördern sowie den demografischen Wandel bewältigen helfen. Außerdem muss das Bruttoinlandprodukt als Hauptkriterium für die Bestimmung der Förderungswürdigkeit von Regionen um soziale und ökologische Indikatoren ergänzt werden. Die EU-Kommission plant, Mitgliedstaaten mit einem teilweisen Entzug von Mitteln aus den Strukturfonds zu bestrafen, wenn sie sich einem Defizitverfahren aufZu Protokoll gegebene Reden grund der Verletzung der Maastricht-Kriterien unterziehen müssen. Diese Idee ist sofort zu verwerfen. Denn so würden Regionen für die Haushaltspolitik der Nationalstaaten bestraft, für die sie keine Verantwortung tragen. Hinzu kommt, dass durch den Entzug von Fördergeldern die haushalts- und fiskalpolitischen Schwierigkeiten des jeweiligen Staates verschlimmert werden. Die Linke will Angleichung wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen in der EU. Die Linke will gleichwertige Lebensbedingungen in Deutschland. Wir fordern ausreichend Mittel für die Kohäsionspolitik der EU und die GRW auf nationaler Ebene. Außerdem fordern wir die Weiterentwicklung der regional- und strukturpolitischen Instrumente Richtung sozial-ökologischer Umbau. Schließlich fordern wir, dass Wirtschafts- und Sozialpartner, Nichtregierungsorganisationen sowie regionale und lokale Akteure die Regionalplanung mitgestalten.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Viele Regionen in Deutschland stehen gut da, manche müssen jedoch auch kämpfen. Dort, wo die Wirtschaftskraft fehlt, müssen wir Hilfestellung leisten, um den Menschen ein gutes Auskommen zu sichern. Der Ansatz von uns Grünen liegt darin, die Struktur einer Region so zu verbessern, dass die Wertschöpfung gesteigert wird und durch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Durch die Reform der europäischen Strukturfonds werden für Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach weniger Mittel zur Verfügung stehen. Dadurch wird die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für unsere ländlichen Regionen umso wichtiger werden. Wir brauchen eine starke GRW mit einer guten finanziellen Ausstattung. Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung sieht für 2013 eine Ausstattung der GRW von knapp 570 Millionen Euro vor. Die brauchen wir auch, um zukunftsfähige Unternehmen beim Auf- und Ausbau zu unterstützen, damit sie Werte schaffen und langfristig zum Wohlstand einer Region beitragen können; gerade wenn man bedenkt, dass nach dem Auslaufen der Investitionszulage, die ja nur auf die ostdeutschen Bundesländer zugeschnitten ist, ab 2014 die GRW das einzige Instrument des Bundes für regionale Wirtschaftsförderung ist. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen bedürfen dieser Unterstützung. In seinem Bericht zur Deutschen Einheit im Rahmen der gestrigen Regierungsbefragung wies Bundesinnenminister Friedrich darauf hin, dass es in Ostdeutschland eine Herausforderung besonderer Art gäbe, nämlich eine nach wie vor unterentwickelte Innovationsfähigkeit im Bereich der Wirtschaft. Diese sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass wir es dort mit einer sehr kleinteiligen Wirtschaftsstruktur und mit zum Teil nicht nur mittelständischen, sondern auch sehr kleinen Unternehmen zu tun hätten. Diese kleinen und Kleinstunternehmen bräuchten, was ihre Innovationskraft anginge, Unterstützung und bekämen diese natürlich auch durch staatliche Hilfen. Weiterhin stellte er fest, dass es sehr unterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenen Regionen und auch in den einzelnen Wirtschaftszentren gäbe. Es gäbe zwar auch Boomregionen, aber, und da sollten wir uns nichts vormachen, es gäbe auch sehr viele strukturschwache Gebiete. Wenn die Bundesregierung diese Einschätzung hat, dann ist sie meines Erachtens auch gut beraten, mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten dort anzusetzen. Angesichts des Verfassungsauftrages, dem wir uns alle verpflichtet fühlen sollten, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen Deutschlands anzustreben, muss diesen strukturschwachen, meist ländlich geprägten Gebieten die besondere Aufmerksamkeit der Wirtschaftsförderung gelten. Bei der Entwicklung strukturschwacher ländlicher Regionen setzen wir Grüne besonders auf den Dreiklang der Akteure aus dem Mittelstand, dem Handwerk und der bäuerlichen Landwirtschaft; denn dort, wo qualifizierte Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen, wo lokale Initiativen unterstützt und aktiviert werden, dort entstehen Wertschöpfung und Lebensqualität. Den kleinen und mittelständischen Unternehmen kommt in ländlichen Strukturen eine besondere Bedeutung als Arbeitgeber, Ausbilder und im besten Fall als Identitätsstifter zu. Deshalb setzten wir uns auch für eine ausschließliche Förderung der Unternehmensinvestitionen von KMUen ein. Die Förderung von Großunternehmen lehnen wir ab. Ein verantwortungsvoller und effizienter Umgang mit Fördergeldern muss eine Selbstverständlichkeit sein. Deshalb muss die strukturelle Wirksamkeit von Maßnahmen sichergestellt werden. Zwei Voraussetzungen sind dabei von großer Wichtigkeit: Erstens muss ein Mindestmaß an Verwaltungs- und Finanzmanagement in der Region vorhanden sein. Deshalb unterstützen wir, entgegen der Koalitionsparteien, die Ex-ante-Konditionalität. Zweitens müssen die bürokratischen Hürden und Kosten verringert werden. Was die Koalition uns als „better spending“ verkaufen will, klingt auf den ersten Blick nicht schlecht: verbesserte Ausgabebedingungen, um die gleichen Ziele mit weniger Mitteln erreichen zu können. In Wahrheit verbirgt sich dahinter einfach nur eines: weniger Geld für die deutschen Regionen, insbesondere für die ehemaligen Konvergenzregionen. Dass wir eine solche Mogelpackung nicht unterstützen, versteht sich ja wohl von selbst. In der Vergangenheit konnten wir mit der GRW viel bewegen. So wurden in der Förderperiode 2007 bis 2009 mit den 4,1 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bund und Ländern 26,2 Milliarden Euro Investitionen generiert bei einem Beschäftigungszuwachs von 4,6 Prozent. Ich denke, wir alle teilen ein Ziel: Wir wollen, dass starke Regionen ihren Wohlstand erhalten und festigen, und wir wollen, dass schwache Regionen sich weiterentwickeln können. Dafür müssen die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ verstetigt und verantwortungsvoll eingesetzt werden. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/10848. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9938. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der SPD auf Drucksache 17/5185. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 31: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurücknehmen - Drucksachen 17/9036, 17/9474 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Johann Wadephul Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert im vorliegenden Antrag, den Vorbehalt der Bundesregierung gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zurückzunehmen. Sie sind der Ansicht, dass mit diesem Vorbehalt ein Angriff auf die europäische Solidarität erfolge. Zudem stelle man sich damit gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Sie sind der Meinung, dass alle Personen, die sich zum Zwecke der Arbeitssuche nach Deutschland begeben, dieselben Leistungen erhalten müssen wie deutsche Arbeitsuchende bzw. sogenannte Aufstocker. Diese Grundsicherung nach dem SGB II, also das Arbeitslosengeld II, erhalten übrigens tatsächlich alle ausländischen Staatsbürger, die in Deutschland erwerbstätig sind, sobald ihre Einkünfte für den Lebensunterhalt nicht mehr ausreichend sind. Dass man aber durchaus differenzieren kann und muss, verlieren Sie dabei aus den Augen. Nun verhält es sich so, dass Zuwanderung nach Deutschland schon eine längere Tradition hat. Sie wird von der Unionsfraktion gerade mit Blick darauf sehr begrüßt und gefördert, unseren enormen Fachkräftebedarf zu sichern. In diesem Zusammenhang darf ich auf die zum 1. Juli dieses Jahres erfolgte Einführung der sogenannten Bluecard hinweisen. Mit der Umsetzung der EU-Hochqualifiziertenrichtlinie, also der Blauen Karte Deutschland, haben wir in unserem Aufenthaltsrecht ein Instrument geschaffen, mit dem wir qualifizierte Fachkräfte gezielt ansprechen. Wir ermöglichen ihnen einen schnellen und unkomplizierten Einstieg in unseren Arbeitsmarkt. Der Adressatenkreis ist klar definiert. Die Anforderungen sind transparent und unbürokratisch. Neben dem Nachweis eines Hochschulabschlusses ist die Einhaltung von Mindestgehaltsgrenzen notwendig. Dies lässt Spielraum für Berufseinsteiger und Arbeitgeber, ohne jedoch Dumpinglöhne zuzulassen. Daneben hat die Bundesregierung zu ihrem Meseberger Fachkräftegipfel im vergangenen Jahr ein umfassendes Fachkräftekonzept vorgestellt. Dieses Konzept haben Wirtschaft und Gewerkschaften zusammen mit der Bundesregierung in einer „Gemeinsamen Erklärung zur Sicherung der Fachkräftebasis“ bekräftigt. Sie sehen also: Nicht nur die Union, sondern auch unsere Regierung steht Seit an Seit mit unseren Sozialpartnern, wenn es um den Erhalt und den Ausbau unseres hervorragenden Arbeitskräftepotenzials in Deutschland geht. Mit der zeitgleich gestarteten Fachkräfteoffensive wendet sich die Bundesregierung auch an Fachkräfte im Ausland. Über das Internetportal „Make-it-in-Germany.com“ können sich interessierte ausländische Arbeitnehmer aus EU- und Drittstaaten über Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland informieren. Darüber hinaus enthält das Portal zahlreiche Informationen über Leben, Wohnen und Zukunftsperspektiven in Deutschland. Es bietet in Zusammenarbeit mit der zentralen Auslandsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit und dem europäischen Portal zur beruflichen Mobilität, EURES, die Möglichkeit, nach spezifischen Jobangeboten in Deutschland zu suchen. Das EURES-Netzwerk, also die grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung, wird übrigens auch verstärkt zum Ziel der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt. Hierzu sind gemeinsame Konferenzen, Seminare und ähnliche Kooperationen mit anderen EU-Ländern geplant. Ihr Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Bundesregierung würde mit ihrem Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen keine Willkommenskultur für ausländische Arbeitnehmer schaffen, läuft also völlig ins Leere. Er ist angesichts der eben von mir dargestellten vielfältigen Programme und Vernetzungen unserer Regierung mit unseren europäischen Nachbarländern sogar als absurd zu bezeichnen. Im Übrigen leistet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen weiteren Beitrag dazu, den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften nach Deutschland zu erleichtern. Denn gerade vor zwei Tagen hat unsere Fraktion einen Antrag zu der EU-Richtlinie zur Anerkennung von Berufsqualifikationen beschlossen. Mit diesem Antrag wollen wir für unseren Arbeitsmarkt sowohl die erforderliche Mobilität erleichtern, als auch die bestehende Qualität sichern. Wir verbessern damit die Freizügigkeit in Europa, ohne dabei den Schutz unseres heimischen Arbeitsmarktes aus den Augen zu verlieren. Wir müssen aber auch den länderübergreifenden Konsens berücksichtigen, wonach die EU-Mitgliedstaaten ebenso wie die Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens berechtigt sind, Vorkehrungen gegen einen ungeregelten Zugang in ihre jeweiligen nationalen Sozialleistungssysteme zu treffen. Die Steuerung und rechtliche Zuordnung innerhalb dieser nationalen Hilfssysteme gehört zu diesen Vorkehrungen. Im Europäischen Fürsorgeabkommen wird eben dieser Möglichkeit Rechnung getragen. Warum die Bundesregierung das Einlegen dieses Vorbehalts für notwendig erachtete, kann ich Ihnen gerne erklären. Sie wollte einfach erreichen, dass die nach Deutschland zugewanderten Bürgerinnen und Bürger aus den EU-Mitgliedstaaten nicht schlechter gestellt sind als die Angehörigen der Staaten, die das Europäische Fürsorgeabkommen unterzeichnet haben. Genau dies würde nämlich denjenigen Unionsbürgern widerfahren, deren Staaten dieses Abkommen nicht unterzeichnet haben. Das wollen wir nicht, und deshalb ist der Vorbehalt gegen das Abkommen auch berechtigt. Uns ist die Gleichbehandlung aller EU-Bürgerinnen und -Bürger bei der Anwendung deutschen Rechts ein wichtiges Anliegen. Der Vorbehalt ist außerdem auch völkerrechtlich zulässig, was die Kollegen von den Grünen irrigerweise bestreiten. Nach der Wiener Vertragsrechtskonvention sind Vorbehalte Erklärungen von Staaten bei der Unterzeichnung, Ratifizierung, Annahme oder Genehmigung eines Vertrages, die die Rechtswirkungen einzelner Vertragsbestandteile in Bezug auf eben diesen Staat ausschließen oder ändern. Der hier in Rede stehende Vorbehalt Deutschlands gegen das Europäische Fürsorgeabkommen folgt zum einen einer eigenen völkerrechtlichen Ermächtigung, und zwar aus Art. 16 des Europäischen Fürsorgeabkommens. Zum anderen richtet er sich nicht gegen die Anwendung des Abkommens als solchem, sondern umgekehrt gegen die Anwendung deutschen Rechts auf das Fürsorgeabkommen. Im Verständnis der Wiener Vertragsrechtskonvention ist der Vorbehalt also vielmehr eine Erklärung Deutschlands zur Anwendung des Vertrages im nationalen Recht. Im Übrigen müssen Sie sich auch fragen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion, worauf es Ihnen denn eigentlich ankommt. Geht es Ihnen wirklich darum, dass mit Einlegen des Vorbehalts eine Kostenverschiebung der Aufwendungen zu den Kommunen stattfindet? Oder geht es nicht doch darum, dass wir denjenigen Menschen, die in unserem Land leben und arbeiten möchten, die dafür nötige Unterstützung bieten können? Die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens erhalten zwar keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Stattdessen können sie im Bedarfsfall einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII stellen. Dieser Anspruch wird auch nicht durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII wieder beseitigt. Danach bekommt derjenige keine Sozialhilfe zugesprochen, der allein zum Zweck des Aufenthaltsrechts oder der Arbeitssuche wegen nach Deutschland eingereist ist. Da nämlich der Vorbehalt Deutschlands gegen das Fürsorgeabkommen nur zum SGB II erklärt wurde und nicht zum SGB XII, besteht der Sozialhilfeanspruch für Angehörige eines Unterzeichnerstaates des Abkommens weiter. Was Sie außerdem ganz verschweigen, ist die Tatsache der Mitnahmemöglichkeit von Arbeitslosengeldansprüchen. Nach dem EU-Recht zur Koordinierung der sozialen Sicherheit haben alle Unionsbürger das Recht, in ihrem Heimatland erworbene Ansprüche auf Zahlung von Arbeitslosengeld für die Dauer von bis zu sechs Monaten mit nach Deutschland zu exportieren. Diese Menschen sind also zu einem guten Teil überhaupt nicht auf Hilfen aus unserem Sozialleistungssystem angewiesen. Ich bin sehr dafür, arbeitswilligen Immigranten bestmögliche Unterstützung in unserem Land anzubieten. Aber wieso sollten manche doppelt abgesichert sein? Eine Schlechterstellung gegenüber deutschen Bürgerinnen und Bürgern ist jedenfalls nicht zu erkennen. Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass nicht nur in rechtlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf Gerechtigkeits- und Gleichbehandlungsempfinden die jetzige Situation für alle Beteiligten ausgewogen und gut begründet ist. Deutschland kann sich ob seiner guten wirtschaftlichen und sozialen Situation glücklich schätzen, nicht nur im europäischen, sondern auch im internationalen Vergleich. Dazu haben viele beigetragen: Arbeitnehmer, Arbeitgeber, aber auch die Bundesregierung, die letztlich die Rahmenbedingungen schafft. Unser Erfolgsmodell wollen wir weiter fortsetzen, aber auch andere Länder mitziehen. Wir sind auf einem sehr guten Weg, dass uns dies gelingen kann. Einige Beispiele hierfür habe ich Ihnen vorhin genannt. Es gibt aber noch viel mehr, was die Union und die Bundesregierung dabei unternehmen. Lassen Sie uns so weitermachen, und Sie werden sehen, dass wir am Ende die Früchte unserer guten Arbeit ernten werden.

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Thema Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen ist ein Trauerspiel. Es fing damit an, dass der Bundestag gar nicht darüber informiert wurde, dass die Bundesregierung einen solchen Vorbehalt eingelegt hat. Nur durch findige Journalisten kam ans Tageslicht, dass die Bundesregierung Zuwanderinnen und Zuwanderern aus den Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens keine Leistungen nach dem SGB II mehr gewährt, wenn sie ausschließlich zur Arbeitsuche nach Deutschland kommen. Es ist ein Unding, dass ein so weit reichender sozial- und europapolitischer Eingriff nur mehr oder weniger durch Zufall überhaupt bekannt wird. Ich fordere das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf, bei solchen Fällen in Zukunft den Bundestag vorab zu informieren. Denn schließlich ist der Etat des BMAS für die Öffentlichkeitsarbeit eigentlich ganz gut ausgestattet, sodass solche Vorgänge nicht verheimlicht werden müssten. Die Reaktion in der Presse war zum Glück einhellig. Selbst die Bundesagentur für Arbeit hat bestätigt, dass Zu Protokoll gegebene Reden eigentlich in diesem Bereich kein Handlungsbedarf bestehe und Zuwanderung aus europäischen Ländern in das deutsche Sozialsystem nur im Einzelfall auftrete. Ich finde, es ist bezeichnend, wenn das Ministerium klammheimlich einen solchen Vorbehalt einlegt und noch nicht einmal diejenigen, die in der Praxis damit zu tun haben, fachlich nachvollziehen können, was eigentlich der Sinn und Zweck des Vorbehaltes sein soll. Ich freue mich daher darüber, dass der Vorbehalt mittlerweile bereits in mehreren Urteilen und Beschlüssen von Sozialgerichten für nicht mit dem Europarecht vereinbar bezeichnet wurde. Zudem sei der Vorbehalt nicht auf Staatsangehörige der Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens anwendbar. Insbesondere vor dem Sozialgericht Berlin und dem Sozialgericht Düsseldorf fielen hier mehrere Urteile. Auf meine schriftliche Frage an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, wie die Bundesregierung diese Urteile bewertet, bekam ich als Antwort: „Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Vorbehalt einer höchstrichterlichen Nachprüfung standhält.“ Nun habe ich großes Vertrauen in unsere juristischen Beamtinnen und Beamten in den Ministerien. Ich als Nichtjurist möchte mir hier auch gar kein abschließendes Votum erlauben, aber ich finde es durchaus bezeichnend, dass noch kein einziges Verfahren zugunsten der Rechtsauffassung der Bundesregierung ausgegangen ist. Alle Gerichte haben den Vorbehalt für nichtig erklärt; die Kläger erhalten wieder - wie zuvor - ihre Sozialleistungen. Ich begrüße diese juristischen Entscheidungen aus europa- und aus sozialpolitischer Sicht ausdrücklich. Mehrfach habe ich zudem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefragt, wie viele Menschen eigentlich von diesem Vorbehalt betroffen seien. Noch in der Ausschussdrucksache 17({0})881 vom April wird erklärt, dazu lägen keine Daten vor. In der Antwort vom September auf meine schriftliche Frage vom August wird dann angegeben, dass im Durchschnitt des Jahres 2011 rund 529 000 Personen aus EFA-Staaten in Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung für Arbeitsuchende registriert gewesen seien. Darunter fallen jedoch auch viele Personen, die aufgrund eines anderen Aufenthaltsstatus nicht vom EFA betroffen sind. Ich freue mich, dass es nun doch Zahlen aus dem Ministerium gibt, nachdem dies ja im April noch verneint wurde. Für mich als jemanden, der sich viel mit Migration innerhalb Europas beschäftigt, ist der Vorbehalt ein trauriges Beispiel dafür, wie die EU zurück in nationalstaatliche Regelungen fällt. In sehr vielen Drucksachen der Europäischen Union, die ja auch im Europäischen Rat von der Bundesregierung mit beschlossen werden, wird immer wieder die Bedeutung von Mobilität innerhalb der EU hervorgehoben. Es wird betont, wie wichtig berufliche Erfahrungen im europäischen Ausland sind. Zudem wird Mobilität als ein Weg aus der Wirtschaftskrise gesehen. Man darf Mobilität meiner Meinung nach nicht überbewerten, denn wir werden wohl kaum nur mit mehr Mobilität alle Menschen in der EU in Arbeit bringen. Wir dürfen jedoch nicht national durch solche Vorbehalte die Mobilität behindern und den Menschen den Eindruck vermitteln, sie seien bei uns nicht willkommen. Europaweit wird zudem immer wieder betont, wie wichtig das Zusammenwachsen auch in der Sozialpolitik sei. Es geht gar nicht darum, dass wir europaweit die gleiche Sozialpolitik machen. Aber es geht darum, dass unsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen, dass sie sich in jedem Land auf das soziale Netz verlassen können. Die Bundesregierung konterkariert diese Bestrebungen durch den Vorbehalt. Ich möchte noch auf eine weitere politische Debatte aufmerksam machen - die Diskussion über die Fachkräfteentwicklung. Ich führe diese Debatte schon seit langem, und ich gehöre gewiss nicht zu denen, die sofort nach Zuwanderung rufen. Es geht immer erst um Ausbildung derjenigen Menschen, die schon in Deutschland leben. Aber wir dürfen in Zeiten, in denen wir auch auf Zuwanderung angewiesen sind, nicht mit solchen Signalen das Gegenteil dessen bewirken, was mit der vielzitierten Willkommenskultur angestrebt wird. In Sonntagsreden wird betont, dass wir ein offener Staat mit einer solchen Willkommenskultur sein wollen - und unter der Woche wird dann ein Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen eingelegt. Das ermuntert sicherlich niemanden, unbedingt nach Deutschland kommen zu wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, die SPD-Fraktion unterstützt aus sozial- und europapolitischer Sicht den Antrag der Grünen. Für den weiteren Gang vor den deutschen Gerichten hoffe ich, dass der Vorbehalt weiterhin für nichtig erklärt und dann vom BMAS aus Einsicht in die Gerichtsurteile abgeschafft wird.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Bundesregierung hat mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen erklärt. Damit macht die Bundesregierung von einer Möglichkeit Gebrauch, die ihr ausdrücklich zugestanden worden ist. Schon im Europäischen Fürsorgeabkommen ist ja die Möglichkeit der Äußerung eines Vorbehalts in Art. 16 Buchstabe b gegeben. Daher macht der von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag aus diesem Vorbehalt eine unnötig große Sache. Die positiven Möglichkeiten des europäischen Integrationsprozesses, nicht zuletzt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus 25 Ländern der Europäischen Union, haben sich in den vergangenen Jahren in ihrer Wirkung entfaltet. Für diejenigen Personen aus EU-Staaten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzen und sich in Deutschland aufhalten und arbeiten, bestehen im Sozialgesetzbuch II seit Erklärung des Vorbehalts wieder einheitliche Regelungen. Das Problem ist doch, dass das Europäische Fürsorgeabkommen, das lediglich 18 Staaten des Europarats ratifiziert haben, diesen Regelungen entgegensteht. Dadurch ergibt sich zwangsläufig eine Ungleichbehandlung der in Deutschland lebenden EU-Bürger, deren Länder das Europäische Fürsorgeabkommen ratifiziert Zu Protokoll gegebene Reden haben und den EU-Bürgern aus Ländern, die es nicht ratifiziert haben. Der Punkt ist doch der, dass das Europäische Fürsorgeabkommen, wenn es ohne Vorbehalt Geltung hätte, zu einer Privilegierung von EU-Bürgern gegenüber anderen EU-Bürgern aus Ländern, die das Europäische Fürsorgeabkommen nicht ratifiziert haben, führen würde. Diese Ungleichbehandlung entspricht jedoch nicht dem Verständnis der christlich-liberalen Regierungskoalition vom europäischen Integrationsprozess. Während das Europäische Fürsorgeabkommen für Franzosen, Italiener und Spanier Anwendung finden sollte, hätte es für Polen und Tschechen nicht gegolten. Daher finde ich die Entscheidung der Bundesregierung, einen Vorbehalt einzulegen, nachvollziehbar und richtig. Mit dem erklärten Vorbehalt werden alle EU-Ausländer wieder gleich behandelt, ganz egal ob er oder sie aus einem Unterzeichnerstaat des Europäischen Fürsorgeabkommens stammt oder nicht. Für alle gilt nun wieder: In den ersten drei Monaten des Aufenthalts besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II und, soweit der Aufenthalt allein dem Zwecke der Arbeitssuche dient, besteht auch über diese Frist hinaus kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Dies halte ich für eine sinnvolle Regelung. Ich glaube auch nicht, dass die Erklärung des Vorbehalts die Anwerbung qualifizierter Fachkräfte unterläuft, wie Sie dies in Ihrem Antrag schreiben. Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass Sie sich für eine Regelung einsetzen, die Polen und Tschechen diskriminiert. Mit solchen Regelungen der Ungleichbehandlung macht man keine Werbung für den Arbeitsmarkt in Deutschland. Sodann glaube ich nicht, dass wir mit der Vorbehalterklärung Fachkräfte fernhalten. Das wäre ja nur dann der Fall, wenn wir ihnen unterstellten, dass sie von vornherein nach Deutschland kommen, um direkt ALG II zu erhalten. Das halte ich für lebensfremd. Ich gehe hingegen davon aus, dass Menschen, die als Fachkräfte zu uns kommen, bereits einen Arbeitsvertrag haben und nicht auf Sozialleistungen aus sind. Im Übrigen hat diese Bundesregierung eine Menge für die Erleichterung der Zuwanderung nach Deutschland getan. Ich möchte an dieser Stelle nur an die Einführung der Bluecard für Hochqualifizierte erinnern. Die Bluecard können Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Staaten erhalten, wenn sie einen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber in Deutschland vorlegen und ein Gehalt von mehr als 44 800 Euro pro Jahr beziehen. In Berufen, in denen bereits jetzt Fachkräftemangel herrscht, beispielsweise bei Ärzten und Ingenieuren, beträgt die Gehaltsschwelle knapp 35 000 Euro. Bei entsprechenden Deutschkenntnissen erhalten Inhaber der Bluecard bereits nach 21 Beschäftigungsmonaten eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis in Deutschland. Das Gesetz erleichtert zudem die Beschäftigung ausländischer Studenten und ausländischer Absolventen deutscher Hochschulen. Die Suchphase, in der sie sich um eine adäquate Beschäftigung in Deutschland bemühen können, wird auf 18 Monate erweitert. Außerdem bietet das neu geschaffene sechsmonatige Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche gut ausgebildeten Akademikern aus dem Ausland einen stärkeren Anreiz, Karrierechancen in Deutschland zu suchen. Die Erklärung des Vorbehalts läuft daher gewiss nicht den Maßnahmen der Bundesregierung zur Anwerbung von Fachkräften und für eine Willkommenskultur in Deutschland entgegen.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bereits im Jahr 1953 haben die Mitglieder des Europarates, der nicht identisch mit der heutigen Europäischen Union ist, das sogenannte Europäische Fürsorgeabkommen unterzeichnet. Ziel dieser Übereinkunft war die Festlegung einer Gleichbehandlung der Staatsangehörigen der beteiligten Länder; diese Menschen sollten in allen beteiligten Ländern dieselben Leistungen der Fürsorge erhalten wie die jeweils einheimischen Einwohner und Einwohnerinnen. Bei Hartz IV regelt dagegen § 7 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches II einen Ausschluss von Leistungen für Ausländerinnen und Ausländer sowie deren Familienangehörige, da deren „Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. Das Bundessozialgericht hat im Oktober 2010 geurteilt, dass diese Einschränkung gegenüber Personen, die unter den Schutz des Fürsorgeabkommens fallen, nicht greift. In Reaktion auf diese BSG-Entscheidung hat die Bundesregierung im Dezember 2011 einen sogenannten Vorbehalt beim Europarat angemeldet - mit der Absicht, dass Leistungen nach dem SGB II sowie Leistungen zur Überwindung besonderer Schwierigkeiten nach dem SGB XII - Sozialhilfe - von der Anwendung des Fürsorgeabkommens ausgenommen werden sollen. Wir als Linke kritisieren den durch die Bundesregierung ausgesprochenen Vorbehalt ausdrücklich. Die Formulierung dieses Vorbehalts kommt einer ({0})Kündigung des Fürsorgeabkommens gleich. Dieser Schritt trifft den Kern des Abkommens und ist daher eine einseitige Aufkündigung europäischer Solidarität. Der Vorbehalt praktiziert und symbolisiert eine bornierte nationale Abgrenzungspolitik - und das ausgerechnet in dem Moment, in dem sich Deutschland offen zeigen müsste gegenüber Menschen, die in ihren Heimatländern aufgrund der EU-Kahlschlagpolitik derzeit keinerlei Zukunftsaussichten sehen. Es ist zudem in Zweifel zu ziehen, dass der Vorbehalt der Bundesregierung rechtlich zulässig ist, da er vermutlich gegen den Vertrag - das Europäische Fürsorgeabkommen - verstößt. Vorbehalte lassen sich nach den Regeln des Fürsorgeabkommens lediglich bei der Anmeldung von „neuen“ Rechtsvorschriften vortragen. Eine derartige „neue“ Rechtsvorschrift - Gesetz oder zumindest eine nationale Verordnung - hat es aber nicht gegeben; ein rechtlich zulässiger Anlass für die Anmeldung eines Vorbehalts ist damit nicht vorhanden. In dieZu Protokoll gegebene Reden sem Sinne argumentierte jüngst zum Beispiel auch das Landessozialgericht Berlin/Brandenburg: „Ein zulässiger Verbehalt“ liege nicht vor, „die Vorschriften des EFA sind weiterhin anwendbar“ ({1}). Das vorgebliche Anliegen der Bundesregierung, eine Ungleichbehandlung von EU-Bürgerinnen und -Bürger zu vermeiden - je nachdem, ob das jeweilige Land das EFA unterzeichnet hat oder nicht -, ist lediglich vorgeschoben. Denn bereits aus dem bestehenden Unionsrecht ergibt sich ein Leistungsanspruch auf Grundsicherungsleistungen für EU-Bürger. Ein Anspruch für alle EU-Bürger ist ebenfalls nach Ansicht vieler Sachkundiger seit dem 1. Mai 2010 unabhängig von dem EFA direkt aus der EG Verordnung 883/2004 ableitbar. Aufgrund dieser Verordnung sprechen die Sozialgerichte zunehmend auch „nur arbeitsuchenden“ Unionsbürgerinnen uneingeschränkte Alg-II-Ansprüche zu - damit entfällt eine wesentliche Begründung der Bundesregierung für ihren Vorbehalt. Selbst wenn die entsprechende Rechtsprechung hier noch uneinheitlich agiert, so folgt daraus höchstens die die Forderung nach einer Klarstellung der Anspruchsberechtigung für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger. Am letzten Freitag wurde bekanntlich im Bundesrat über die Initiative von drei Bundesländern zur Rücknahme des EFA-Vorbehalts abgestimmt. Leider fand sich hierfür im Plenum keine Mehrheit, aber bezeichnend ist doch, dass der Arbeits- und Sozialausschuss eine Zustimmung zu diesem Antrag empfohlen hatte, während der Innenausschuss auf Ablehnung plädierte. Diese Dominanz der innenpolitischen Hardliner in allen Fragen der Migration und Binnenwanderung muss endlich aufhören. Die Linke fordert daher: Ziehen Sie den Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurück! Handeln Sie endlich europäisch und solidarisch!

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die schwarz-gelbe Bundesregierung legte im Dezember 2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen, EFA, ein. Hiernach soll Zuwanderinnen und Zuwanderern aus 14 EU-Ländern sowie Norwegen, Island und der Türkei, die ausschließlich zur Arbeitsuche nach Deutschland kommen, fortan kein Anspruch mehr auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ({0}) sowie Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten ({1}) zustehen. Die Bundesagentur für Arbeit hat in der Folge am 23. Februar 2012 eine Geschäftsanweisung erlassen, die den EFA-Angehörigen mit sofortiger Wirkung SGB-II-Leistungen untersagt. Auf eine schriftliche Frage von mir ({2}) begründete die Bundesregierung die Einlegung des Vorbehalts mit der Ungleichbehandlung von Unionsbürgerinnen und -bürgern gegenüber Angehörigen der EFA-Staaten. So hätten arbeitsuchende Angehörige aus Ländern der Europäischen Union im Gegensatz zu Angehörigen aus EFA-Staaten keinen Anspruch auf SGB-II-Leistungen. Künftig sollten daher ausnahmslos alle Staatsangehörige, die sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, vom Leistungsausschluss betroffen sein. In der Praxis ist es nun unterschiedlich, wie mit den betroffenen Menschen verfahren wird. Während Berlin den Personen einen grundsätzlichen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen gewährt, soll der Deutsche Städtetag nach Informationen der Diakonie Freiburg der Bundesregierung bereits signalisiert haben, dass hier keine Zuständigkeit gesehen wird. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, den Vorbehalt zurückzunehmen. Dies ist aus mehreren Gründen geboten: Zuerst einmal verstößt die Notifikation des Vorbehalts gegen das Völkerrecht. Ein Sachstandsbericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages verdeutlicht, dass Vorbehalte nur dann im Einklang mit der Wiener Vertragsstaatenkonvention sowie dem EFA sind, sofern es sich um „neue“ Gesetze handelt, die von den Vertragsstaaten angezeigt werden müssen. Da es sich im aktuellen Fall aber weder um ein neues Gesetz noch um eine Rechtsprechung handelt, die die gerichtlich festgestellte Rechtslage verändert, hätte die Einlegung des Vorbehalts unserer Überzeugung nach nicht stattfinden dürfen. Hinzuweisen ist zudem darauf, dass die Bundesregierung weder Bundestag noch dem Bundesrat über die Einlegung des Vorbehalts informiert hat. Schon aus dem Grundsatz der Organtreue wird man daher in derartigen Konstellationen eine Pflicht der Bundesregierung ableiten müssen, die Gesetzgebungsorgane rechtzeitig vor Einlegung des Vorbehaltes zu informieren, damit diese gegebenenfalls entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten können. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass der Vorbehalt zu einer Verschiebung von Kosten zwischen Bund und Ländern bzw. Kommunen führt, ist die Nichtbeteiligung der Länderkammer zu kritisieren. Soweit SGB-IILeistungen versagt werden, geht dies zulasten der Länder und insbesondere der Kommunen, da der Aufenthalt der betroffenen Unionsbürgerinnen und -bürger regelmäßig nicht beendet werden kann und Länder und insbesondere die Kommunen die Finanzierungslast der anderen infrage kommenden Leistungen trifft. Auch das Bayerische Landessozialgericht hält den von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen für nicht wirksam ({3}). Zum einen bestünden Zweifel, ob es sich um eine neue Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 16 Buchstabe b EFA handelt. Außerdem hätte an der entsprechenden Entscheidung der Bundestag gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz beteiligt werden müssen. Das Sozialgericht Berlin kommt in seinem Beschluss ({4}) zu der Auffassung, dass der Vorbehalt in innerstaatliches Recht transformiert werden müsste. Mangels gesetzlicher Grundlage des erklärten Vorbehalts bestehe für das Gericht keine Bindung an diesen Vorbehalt. So heißt es: „Er ist auch nicht durch bundesdeutsches Parlamentsgesetz innerZu Protokoll gegebene Reden staatlich wirksam gemacht worden. Zur Überzeugung der Kammer ist zur Wirksamkeit dieses Vorbehaltes jedoch ein bundesdeutsches Parlamentsgesetz erforderlich, zumindest im Sinne einer Ermächtigung für die Erklärung eines entsprechenden Vorbehalts.“ Der Deutsche Anwaltverein appelliert in seiner Stellungnahme des Ausschusses Ausländer- und Asylrecht an die Bundesregierung, den am 15. Dezember 2011 erklärten Vorbehalt zur Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten des EFA zurückzunehmen. Dies sei insbesondere vor dem Hintergrund des Grundsatzes der gegenseitigen finanziellen Solidarität der Mitgliedstaaten geboten. Die Bundesregierung hat mit der Einlegung des Vorbehalts außerdem einen zentralen und wichtigen Grundsatz - die gegenseitige europäische Solidarität - angegriffen. Anstatt, wie überwiegend in der Literatur vertreten, die hiesige Sozialgesetzgebung europarechtskonform auszugestalten, um allen ernsthaft und nachweislich arbeitsuchenden Unionsbürgerinnen und -bürgern entsprechende SGB-II-Leistungen zukommen zu lassen, nimmt die Bundesregierung mit der Einlegung des Vorbehalts eine Anpassung nach unten vor. Dieser Schritt ist das Gegenteil einer allgemein angestrebten Willkommenskultur zur Anwerbung qualifizierter Fachkräfte. Es entbehrt dabei jeglicher Grundlage, den grundsätzlichen SGB-II-Anspruch für alle arbeitsuchenden Unionsbürgerinnen und -bürger mit einer Einladung zur Einwanderung in die Sozialsysteme gleichzusetzen. So hat sich nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit, BA, die Zahl der arbeitsuchenden Ausländerinnen und Ausländer trotz des Urteils des Bundesozialgerichts aus dem Jahr 2010 und der seit Mai 2011 geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht verändert. Rund 10 000 Personen einschließlich Familienangehörige kommen monatlich zur Arbeitsuche nach Deutschland. Aktuelle Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts zur Zukunft der Arbeit ergeben, dass öffentliche Hilfen ({5}) die Migrationsentscheidung potenzieller Zuwanderer nicht beeinflussen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9474, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9036 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 32: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/10754 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem Beschluss des Kabinetts vom 29. August 2012 zur Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes wurde ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Energiewende gegangen. Es ist nicht nur ein klares Bekenntnis für die Windenergie auf See, sondern verdeutlicht auch unser umfassendes energiepolitisches Handeln. Zu oft hört man in den Debatten der letzten Monate, dass man am besten auf die Offshorewindenergie verzichten sollte, da diese Technologie zu teuer und risikoreich sei. Das ist falsch. Wir brauchen für die Energiewende alle erneuerbaren Energieträger: von der Photovoltaik bis zur Windenergie auf der See. Es ist richtig, die Offshorewindenergie auszubauen, da die See mit ihren beständigen Winden ein Topstandort für unsere künftige Stromversorgung ist. Denn mit 4 000 Volllaststunden ist die Offshorewindenergie doppelt so stark wie die Onshorewindenergie ({0}) und vierfach so stark wie die Photovoltaik. Die See ermöglicht auch den Einsatz großer Windkraftanlagen mit einer Leistung von bis zu 5 Megawatt ({1}). Dieses hohe Potenzial macht die Offshorewindenergie zu einer starken Säule der Energiewende. Das haben nicht nur wir erkannt, sondern auch eine Vielzahl von Unternehmen, von den Stadtwerken über Hedgefonds bis hin zu den großen Energieversorgern, die sich am Aufbau der Offshorewindenergie beteiligen. Ohne dieses Engagement sowie die richtigen Rahmenbedingungen werden wir unsere gemeinsam beschlossenen Ausbauziele von 25 000 MW Offshorewindenergie im Jahre 2030 nicht erreichen. Diese ambitionierten Zielsetzungen bieten sowohl dem Wirtschafts- als auch dem Energiewendestandort Deutschland ein hohes Potenzial. Deutschland kann in dieser Technologie führend werden. Beim Umsetzen der ambitionierten Ausbaupläne anderer Staaten sind schon heute viele deutsche Unternehmen an Projekten beteiligt. Diese Erfolgsgeschichte möchten wir fortsetzen. Wir sind noch am Anfang der technologischen Entwicklung der Offshorewindenergie. Mangelnde Erfahrungswerte erhöhen das Investitionsrisiko. Deshalb war es uns als Regierungskoalition wichtig, stärkere Anreize zu setzen, um mehr Investitionen auszulösen. So haben wir schon im vergangenen Jahr im Rahmen der EEG-Novelle die Finanzierung der Offshorewindenergie verbessert. Um Investitionen zu erleichtern, wurde das sogenannte Stauchungsmodell eingeführt, das alternativ zur bisherigen Regelung gewählt werden kann. Nach diesem Modell wird für einen kürzeren Zeitraum eine höhere Anfangsvergütung gewährt. Auch haben wird das Kreditprogramm „OffshoreWindenergie“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW, Zu Protokoll gegebene Reden auf den Weg gebracht. Dort werden insgesamt 5 Milliarden Euro Kreditvolumen für die Finanzierung von bis zu zehn Offshorewindparks bereitgestellt. Dadurch wird Investoren ermöglicht, die hohen Finanzierungsvolumina am Kapitalmarkt aufzubringen. Neben diesen Maßnahmen ist das jetzige Gesetzesvorhaben ein weiterer wichtiger Baustein für mehr Windenergie. Mit dem im Gesetzentwurf vorgesehenen Systemwechsel möchten wir verhindern, dass hochmoderne Windanlagen betriebsbereit im Meer stehen, aber der passende Anschluss für die Stromweiterleitung fehlt. Oder dass die Seekabel gelegt sind, aber die Windräder nicht stehen. Dies verursacht bei allen Beteiligten unnötige Zusatzkosten und bremst den Ausbau der Offshorewindenergie. Durch die Einführung eines verbindlichen Offshorenetzentwicklungsplans möchten wir erstmals einen Netzausbauplan einführen. Dieser wird Netzanbindungen und Offshorewindparks zukünftig besser koordinieren. Er soll den Realisierungszeitpunkt sowie Ort und Größe zukünftiger Netzanschlüsse verbindlich festgelegen, um eine bessere Abstimmung mit dem Onshorenetzausbau zu erreichen. Darüber hinaus wird mit der EnWG-Novelle eine Haftungsregelung für Verzögerungen bei der Errichtung und Störungen beim Betrieb von Offshorenetzanbindungsleitungen eingeführt. Dies ist eine dringend notwendige Regelung, da anderenfalls das Investitionsrisiko so hoch wäre, dass der Ausbau der Offshorewindenergie zum Erliegen kommt. Die Schadenssummen sollen deswegen bis auf einen Eigenanteil von 100 Millionen Euro zum Großteil über eine Umlage gewälzt werden, die die Stromverbraucher zahlen. Im Gegensatz zu der EEG-Umlage, für die die Verbraucher 3,59 Cent pro Kilowattstunde zahlen, sind aber die Mehrkosten für diese Haftung gedeckelt und somit überschaubar. Auf die Stromkunden sollen maximal 0,25 Cent je Kilowattstunde umgelegt werden, auf große Stromverbraucher - mit mehr als 100 000 Kilowattstunden pro Jahr - nur maximal 0,05 Cent. Mit diesen Regelungen schaffen wir also, sowohl den Ausbau der Offshorewindenergie zu beschleunigen, als auch die Kosten für den Verbraucher zu begrenzen. Der Ausbau der Offshorewindenergie lohnt sich. Es ist eine Energietechnologie mit Zukunft. So kann sie zur verlässlichen Säule unserer Energieversorgung werden wie auch zum Exportschlager für die heimische Offshoreindustrie. Wo andere schon mit Wahlkampfgetöse beginnen, gehen wir Schritt für Schritt voran in Richtung Energiewende.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Windenergie ist eine wichtige Säule beim Umbau der Energieversorgung in Deutschland. Onshore und offshore produzierte Windenergie wird künftig einen wichtigen Teil der Stromversorgung ausmachen. Wir brauchen die Windenergie, um die Energiewende zu schaffen. Bisher ist der Ausbau der Offshorewindenergie aber nicht wie geplant vorangekommen. Es besteht die Gefahr, dass er auch weiterhin stocken wird. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, haben Übertragungsnetzbetreiber häufig Probleme damit, eine rechtzeitige Anbindung von OWPs an das Netz sicherzustellen. Das kann sowohl auf Seite eines Offshorewindparkbetreibers als auch eines Übertragungsnetzbetreibers hohe Risiken bergen: Offshorewindparkbetreibern entgeht zum Beispiel die EEG-Vergütung, die sie bei rechtzeitiger Anbindung für den eingespeisten Strom bekommen würden, sie erleiden Zinsverluste oder zahlen Instandhaltungskosten für den fertigen Windpark auf See. Übertragungsnetzbetreiber sehen sich einem großen Haftungsrisiko ausgesetzt, wenn sie gegen ihre gesetzliche Anbindungsverpflichtung verstoßen und den Windparkbetreiber eigentlich entschädigen müssten. Das könnte nicht nur zu Liquiditätsengpässen, sondern auch zu einer Zurückhaltung bei neuen Investitionsentscheidungen führen. Es ist daher gut, dass der vorliegende Gesetzentwurf jetzt verlässliche Rahmenbedingungen schafft. Bei der Netzplanung für die Anbindung von Offshorewindparks vollziehen wir einen Systemwechsel, der angesichts der Akteure im Offshorebereich unproblematisch, ja geboten ist. Wir gehen weg von einem individuellen Anbindungsanspruch hin zu einem Offshorenetzentwicklungsplan. Dieser jährlich von den Übertragungsnetzbetreibern vorzulegende Plan soll künftig alle Maßnahmen zum bedarfsgerechten Ausbau der Offshoreanbindungsleitungen aufzeigen. Zudem soll er die Zeitpunkte für den Baubeginn und die Fertigstellung durch den Übertragungsnetzbetreiber festschreiben. Das verschafft ihnen und den Offshorewindparkbetreibern größere Planungssicherheit, denn beide können sich künftig besser zeitlich aufeinander einstellen. Mit diesem Systemwechsel wollen wir erreichen, dass eine Haftungssituation gar nicht erst entsteht, da die bisherigen zeitlichen Diskrepanzen zwischen Fertigstellung des Windparks und des Netzes vermindert oder gar vermieden werden können. Trotzdem ist es wichtig, die nach bisheriger Rechtslage noch offenen Haftungsfragen bei Verzögerung oder Störung der Anbindung eines Offshorewindparks an das Übertragungsnetz zu klären. Der vorliegende Entwurf sieht vor, dass der Übertragungsnetzbetreiber für Verspätungen oder Störungen nun grundsätzlich entschädigungspflichtig ist. Es stimmt natürlich: Die Kosten der Entschädigung kann er abhängig von seinem Verschuldensgrad über eine Entschädigungsumlage auf die Verbraucher abwälzen. Diese müssen dann höhere Netzentgelte zahlen. Allerdings ist diese Wälzungsmöglichkeit eben vom Verschuldensgrad abhängig, was verhindert, dass der Übertragungsnetzbetreiber sich aus der Affäre ziehen kann. Um aber auch wirtschaftliches Risiko bei den Offshorewindparkbetreibern zu belassen, haben diese einen bestimmten Selbstbehalt bei den entstandenen Schäden zu tragen. Das erhöht den Abstimmungsdruck. Mit diesen Regelungen geben wir Windparkinvestoren und Übertragungsnetzbetreibern die notwendige SiZu Protokoll gegebene Reden cherheit für den weiteren Ausbau der Offshorewindenergie. Insgesamt: Vor dem Hintergrund der ohnehin bereits hohen Belastungen der Verbraucher durch die Energiewende müssen wir die Kosten für sie bei jedem Gesetzesvorhaben im Auge behalten, so auch bei dem vorliegenden Entwurf. Unsere privaten und gewerblichen Verbraucher dürfen durch die Haftungsregelungen nicht über Gebühr belastet werden. Vor allem müssen wir darauf achten, dass es nicht zu einem Missverhältnis von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten kommt. Vielerorts stellt sich - zu Recht - die grundsätzliche Frage, warum der Verbraucher überhaupt dafür belangt werden soll, wenn ein Netzbetreiber seine Anbindungspflicht nicht erfüllt. Die Netzbetreiber führen hier immer wieder gerne das Argument ins Feld, dass Verspätungen häufig dadurch zustande kommen, dass ihre Zulieferer sie nicht rechtzeitig beliefern. Das mag ja sein. Richtig ist es aber eigentlich nicht, dass der Verbraucher dafür geradestehen muss. Denn er kann erst einmal nichts dafür, wenn der Netzbetreiber - aus welchen Gründen auch immer - seine Anbindung nicht rechtzeitig bewerkstelligt. Die in dem Entwurf vorgesehenen Haftungsregelungen müssen wir deshalb intensiv auf die Frage der Verantwortlichkeiten der Übertragungsnetz- und Offshorewindparkbetreiber prüfen und sie mit den daraus resultierenden Belastungen für die Verbraucher genau austarieren. Der vorgesehene Ansatz, die aus den Haftungsregeln entstehenden Belastungen in ihrer Höhe zu begrenzen und zu verteilen, geht sicherlich in die richtige Richtung, schließlich müssen wir Investitionshemmnisse beseitigen, und dazu gehören auch unproportionale Risiken. Gegebenenfalls müssen wir hier aber nachbessern. Wichtig ist auch, dass Kostenkontrolle und -transparenz sichergestellt werden. Denn nur wenn die Verbraucher wissen, was sie wofür bezahlen, werden sie die für die Energiewende notwendigen Maßnahmen mittragen. Auch hier zeigt der vorliegende Entwurf vernünftige Ansätze mit einer Pflicht zur Dokumentation und Veröffentlichung von Schadensfällen und Maßnahmen zur Schadensminderung. Gut ist auch, dass die resultierenden Umlagen transparent gemacht werden sollen. Wir brauchen die Windenergie auf See und an Land. Der vorliegende Entwurf zeigt erste gute Ansätze auf, wie verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen werden können, um den Ausbau der Offshorewindenergie weiter voranzubringen. Das ist gut und auch dringend notwendig, um unsere energiepolitischen Ziele zu erreichen. Lassen Sie uns den Weg in das Zeitalter der regenerativen Energie konsequent weitergehen!

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wieder einmal befasst sich der Deutsche Bundestag mit Reparaturen an der Energiepolitik der schwarz-gelben Bundesregierung. Ob drei EEG-Novellen innerhalb von drei Jahren oder die heute diskutierte Investitionssicherheit für Betreiber von Offshorewindparks und Netzbetreiber - es fehlt an Plänen, Absprachen und Vorstellungen. Die aktuelle Debatte über Maßnahmen und deren Finanzierung zur Beschleunigung des Ausbaus der Offshorewindenergie zeigt einmal mehr, dass die vor einem Jahr in panischer Eile beschlossenen Gesetze zur Energiewende nicht nur handwerklich schlecht sind, sondern eine praktische Realisierung der Energiewende behindern. Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits im Juni letzten Jahres dafür plädiert, die parlamentarischen Beratungen zum Erneuerbare-EnergienGesetz, EEG, und zum Energiewirtschaftsgesetz, EnWG, mit der gebotenen Sorgfalt zu führen und nicht innerhalb von sechs Wochen ohne Rücksicht auf Verluste durch den Bundestag zu peitschen. Eine stärkere Unterstützung der erprobten Windenergie an Land und genügend Zeit zum Ausbau der Offshorewindenergie wären richtig gewesen. Auch am heute zu beratenden Gesetzentwurf der Bundesregierung besteht noch weitreichender Änderungsbedarf. Auch wir sehen die Notwendigkeit, die aufgeworfenen Haftungsfragen derart zu beantworten, dass Investitionen in Offshorewindparks erfolgen und auch die Netzbetreiber nicht in den Ruin getrieben werden. Gleichzeitig braucht es in einem solchen Gesetz aber auch Anreize für die betreffenden Akteure, die Risiken so weit wie möglich zu mindern. Gerade wenn mögliche Schadenersatzforderungen der Windparkbetreiber gegenüber den Netzbetreibern von der Allgemeinheit abgefedert werden, müssen auf allen Stufen des Baus der Windparks und des Netzanschlusses sorgfältig Vorkehrungen getroffen werden, damit der Schadensfall möglichst gar nicht erst eintritt. Hierzu zählen auch Anreize für ein volkswirtschaftlich sinnvolles Verhalten der Übertragungsnetzbetreiber bei der Wartung. Dies bedeutet, dass mögliche Störungsfälle genutzt werden, um gleichzeitig nötige Wartungsarbeiten vorzuziehen. Hierdurch würde die potenzielle Ausfallzeit der Stromleitung verringert. Noch ein weiterer Aspekt muss gründlich nachgebessert werden: Der vorliegende Gesetzentwurf gewährleistet nicht für alle fortentwickelten Windparkprojekte den notwendigen Vertrauensschutz. Denn der Gesetzentwurf sieht vor, dass nur solche Projekte noch einen Anspruch auf eine unbedingte Netzanbindungszusage haben, die bis 1. September dieses Jahres die Voraussetzungen zur Erlangung dieser Zusage nachweisen konnten. Hierbei wird vergessen, dass diese Frist zur Entlastung des zuständigen Netzbetreibers und mit Genehmigung der Bundesnetzagentur bei einigen Projekten nach hinten verschoben wurde. Wenn auch diese Windparks erst eine Netzanbindungszusage auf Grundlage des zu entwickelnden Offshorenetzplans erhalten sollen, stehen Investitionsentscheidungen in Milliardenhöhe auf der Kippe. Deshalb brauchen wir an dieser Stelle einen Stichtag für die Gewährung der Übergangsregelung, der die nötige Planungs- und Investitionssicherheit wiederherstellt. Ich möchte noch auf einen weiteren wichtigen Punkt hinweisen, der in der schwarz-gelben Kakofonie in der Energiepolitik untergeht: Der in OffshorewindenergieZu Protokoll gegebene Reden anlagen erzeugte Strom kann nur einen Beitrag zur Versorgungssicherheit des Landes leisten, wenn der Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze vorangeht. Regelmäßig stellt die Bundesnetzagentur fest, dass selbst der Ausbau der vor drei Jahren im Energieleitungsausbaugesetz festgeschriebenen Stromtrassen nicht vorankommt. Der zur Systemintegration der erneuerbaren Energien notwendige Ausbau der Verteilnetze findet bei der Bundesregierung gar keine Beachtung. Weitere Schwerpunkte der anstehenden EnWGNovelle betreffen die Vermeidung der endgültigen Stilllegung systemrelevanter Kraftwerke sowie die bessere Verzahnung der Strom- und Gasversorgung. Gerade die vorgesehene Verpflichtung zum Weiterbetrieb eines Kraftwerks muss rechtssicher ausgestaltet sein, handelt es sich hierbei doch um einen Eingriff in die Eigentumsrechte des Anlagenbetreibers. In diesem Zusammenhang müssen wir auch mögliche Mitnahmeeffekte vermeiden, damit nicht schon die reine Ankündigung, ein systemrelevantes Kraftwerk stillzulegen, zu einem Geschäft wird. Hierzu sind Regelungen denkbar, dass das betreffende Kraftwerk nach Ablauf der festgelegten zusätzlichen Betriebszeit wirklich stillzulegen ist oder die geleisteten Entschädigungszahlungen komplett und verzinst zurückzuzahlen sind. Darüber hinaus müssen wir auch die vorgeschlagenen Regelungen zur Sicherung der Gasversorgung der Kraftwerke genau auf ihre Umsetzbarkeit überprüfen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich in die anstehenden parlamentarischen Beratungen zur Weiterentwicklung des Energiewirtschaftsgesetzes konstruktiv einbringen. Die vom Wirtschaftsausschuss beschlossene Anhörung sollten wir nutzen, um die von mir angesprochenen Vorhaben und Sachverhalte rechtssicher und wirksam umzusetzen. Denn wir alle hier tragen Verantwortung dafür, dass Deutschland auch zukünftig unter für die Betreiber von Erzeugungsanlagen verlässlichen Rahmenbedingungen und mit bezahlbaren Preisen für Haushalte und Unternehmen sicher mit Strom versorgt werden kann.

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem Energiekonzept der Bundesregierung haben wir uns zum Umbau der Energieversorgung in Deutschland bekannt. Es ist unser gemeinsames Ziel, den Anteil von Braunkohle, Steinkohle und Kernenergie an unserem Energiemix zu verringern. Ebenso wollen wir gemeinsam den Anteil von Biomasse, Wasserkraft und Windkraft ausbauen, sodass sie gemeinsam mit der Photovoltaik und der Geothermie bis zum Jahr 2050 rund 80 Prozent der Stromversorgung in Deutschland übernehmen. Aus Gründen der Effizienz kommt der Windenergie in unserem Energiemix der Zukunft eine zentrale Rolle zu. Einen großen Teil unseres Stroms aus der Windenergie wollen wir offshore, das heißt draußen in Nord- und Ostsee, „ernten“. Die Schwierigkeit an der Sache: Gerade in der Nordsee, wo der Großteil der Parks geplant ist, sind die Claims sehr weit draußen, oft über 100 Kilometer, im offenen Meer. Bei einer konventionellen Wechselstromübertragung sind hohe Stromverluste über solch große Distanzen unvermeidbar. Als Alternative bleibt uns alleine die Gleichstromübertragung. Die Herausforderung dabei aber ist, dass uns die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit dieser neuen Technologie fehlen, besonders auf dem Meeresboden: Dort müssen Kabel zum Schutz vor Ankern oder anderen Störungen metertief eingespült werden. Ebenso fehlen uns Erfahrungen knapp über dem Meeresspiegel: Dorthin müssen neue Umspannstationen erst transportiert werden, und dann müssen sie dort für die kommenden zwei Jahrzehnte Wind, Wetter und Salz trotzen. Wir haben es mit einer vollkommen neuen Technologie zu tun: Der Ansatz, möglichst schnell möglichst viel Offshorewindkraft zu installieren, ging an der Realität vorbei. Das zeigt uns die Situation heute! Erstens. Die Unternehmen haben nur sehr enge Zeitfenster, während derer an den Anschlüssen gearbeitet werden kann. Die Auftragnehmer für den Bau solcher Anlagen stehen unter einem extremen Wettereinfluss. Zweitens. Einige Offshorewindparks könnten schon Strom produzieren; allerdings sind Anschlüsse für eine Einspeisung in das Übertragungsnetz noch nicht fertiggestellt. Drittens. Die schnelle Nachfrage nach Umspannstationen steht in einem Markt nur zwei Anbietern gegenüber. Liefervereinbarungen können zeitlich oft nicht eingehalten werden. Dadurch entstehen Windparkbetreibern teils große Schäden. Je nach Größe eines Parks können das bis zu 750 000 Euro pro Tag sein. Diese Risiken bedrohen den Erfolg der Energiewende. Investoren brauchen Planungssicherheit! Sonst werden wir unsere Offshorewindkraftausbauziele nicht erreichen. Für ein Gelingen der Energiewende möchten wir Windparkbetreiber daher entschädigen. Die uns vorliegende Neuregelung legt fest, wie das geschehen soll, und sie legt fest, bis zu welcher Höhe des Ausfalls der Netzbetreiber haften muss, ebenso wie die Summe, ab der es für einen Netzbetreiber unmöglich wird, weiter zu bezahlen, und der Verbraucher für die Ziele der Energiewende seinen Beitrag leisten muss. Zusätzlich verpflichten wir die Übertragungsnetzbetreiber, jährlich einen Offshorenetzentwicklungsplan vorzulegen. Auch damit schaffen wir mehr Planungssicherheit, insbesondere für private Investoren, die wir für die Offshorewindkraft und auch für die Energiewende dringend brauchen.

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die von der Bundesregierung privilegierte Offshorewindkraft will nicht so richtig in Gang kommen und hinkt den anvisierten Ausbauzielen weit hinterher. Nun meint die Bundesregierung, das Problem in den Haftungsrisiken der Netzbetreiber entdeckt zu haben, weshalb es diesen schwerfalle, Investoren zu gewinnen. Ihre Schlussfolgerung: Die Stromverbraucher sollen das Risiko tragen. Zu Protokoll gegebene Reden Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll also Tempo gemacht werden für den Ausbau der Offshorewindenergie. Hierfür sollen die Haftung für nicht rechtzeitig fertiggestellte Anbindungen der Windparks an das Energienetz auf die Verbraucher abgewälzt sowie ein Offshorenetzentwicklungsplan erstellt werden. Künftig sollen also die Stromverbraucher dafür zahlen, wenn die Windparks nicht rechtzeitig angeschlossen werden - die satte Rendite von über 9 Prozent nach Abschluss der Anbindung kassieren dann aber die Netzbetreiber. Gewinne privatisieren, Risiken sozialisieren ist also auch hier das Motto der Bundesregierung. Das ist doch absurd: Für die Risiken zahlt der Stromkunde, damit die Konzerne satte Gewinne machen können. Und wie geht das doch so schön: Großkunden werden wieder einmal von der Umlage befreit. Da diese Haftungsabwälzung auch noch rückwirkend für bereits durch die Netzbetreiber gemachte Anschlusszusagen gelten soll, ist bereits heute klar, dass diese Regelung Milliarden Euro an Kosten auf die Verbraucher abwälzt. Wenn man auf den massiven Ausbau der Offshorewindenergie setzen will, dann macht der im Gesetzentwurf vorgesehene Offshorenetzentwicklungsplan Sinn. Aber diese Übersubventionierung der Offshorewindenergie muss grundsätzlich hinterfragt werden. Offshorewindenergie ist teuer im Vergleich zu anderen erneuerbaren Energieträgern. Sie erfordert zusätzlich hohe Netzausbaukosten für Stromleitungen bis zur Küste und von Nord nach Süd, zementiert die zentralisierte Struktur der Stromproduktion in Deutschland und dient vor allem den großen Energiekonzernen. Während die Einspeisevergütung für Offshorewindenergie wahlweise 15 oder 19 Cent je Kilowattstunde beträgt, so liegt sie bei Onshorewindenergie bei 8,93 Cent. Rechnet man Folgekosten wie die höheren Kosten für Stromleitungen mit, dann betragen die Kosten für verbrauchernahe Onshorewindenergie nur ein Viertel der Kosten von Offshoreanlagen. Die dezentrale Versorgung mit erneuerbaren Energien erspart uns nicht nur manche Großinvestition, sie ist nicht nur billiger und mit weniger Risiken verbunden, sie kann auch den Mittelstand stärken, mehr Arbeitsplätze bringen und zur Demokratisierung der Energieversorgung beitragen alles in allem eine wünschenswerte Entwicklung. Stattdessen orientiert sich die Bundesregierung weiter an alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren Interessen privater Konzerne, fördert weiterhin vor allem zentrale Offshoreparks und andere Großprojekte und erlegt jetzt wieder einmal Kosten der Energiewende einseitig den Verbrauchern auf. Die Bundesregierung muss von ihrer Fixierung auf große Offshoreparks abrücken, denn Onshorewindparks sind günstiger und können dort gebaut werden, wo der Strom auch gebraucht wird. Die Zukunft der Energieversorgung ist dezentral. Statt die Verbraucher einseitig für das Unternehmensrisiko zahlen zu lassen, muss die Bundesregierung endlich ihre dogmatische Haltung hinsichtlich der Stromnetze ablegen. Bei natürlichen Monopolen wie den Stromnetzen, bei denen es keinen echten Wettbewerb geben kann, gehen privatwirtschaftliche Lösungen zulasten der Verbraucher. Gerade in einem für die Energiewende und damit für die Zukunft so zentralen Bereich darf man sich nicht auf den guten Willen der Unternehmen verlassen. Darüber hinaus muss eine Bundesnetzgesellschaft her, damit die Kosten zwischen Bundesländern gerecht verteilt werden und nicht die Bürger von Bundesländern mit einem hohen Anteil erneuerbarer Energien stärker belastet werden als andere. Die Netze gehören in die öffentliche Hand!

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Heue legt uns die Bundesregierung den Entwurf einer Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes vor, der nichts anderes ist als der hilflose Versuch einer Notoperation, um den praktisch nicht stattfindenden Offshoreausbau vielleicht doch noch zu retten. Es ist wie auf fast allen Feldern der Energiepolitik: Die Bundesregierung flickschustert nur noch herum und versucht, ihr eigenes Versagen irgendwie zu korrigieren. Dabei ist das Offshoreproblem sei Jahren bekannt: Netzbetreiber genauso wie die Betreiber der Offshorewindparks haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es einer Synchronisation und Steuerung des Baus der Windparks und der Netze auf dem Meer bedarf. Doch die zuständigen Minister von Brüderle über Rösler bis Röttgen haben sich schlichtweg nicht darum gekümmert, weil es ein schwieriges Thema ist, das keine tollen Schlagzeilen produziert. Geschehen ist nichts, als man hätte handeln müssen und können. Jetzt, wo der Karren vor die Wand gefahren ist und die Probleme nicht mehr weggedrückt werden können, versucht man den Rheinischen Klüngel in Gesetzesform zu gießen: Drei - Bundesregierung, Netzbetreiber und Windparkbetreiber - verständigen sich auf Kosten eines Vierten, nämlich der privaten Stromverbraucher. Die Industrie soll wie immer aufgenommen werden. Das geht so nicht. Wenn Sie schon die Stromverbraucher für Ihre Fehler zahlen lassen - das ist schon verwerflich genug -, dann verteilen Sie wenigstens die Lasten fair. Verbraucherschutzministerin Aigner hat sich völlig zu Recht über die Mehrbelastungen der Privathaushalte durch die Regelung beschwert. Das Ergebnis dieses Koalitionskrachs ist nun wieder typisch schwarz-gelb: Die Privatverbraucher werden weiterhin alleine belastet, aber die Haftungsregelung wurde so verändert, dass es überhaupt nicht hilft, den Netzanschluss der Windparks auf See voranzubringen. Das jedenfalls hören wir im Moment von Beteiligten, und das ist nun Absurdistan im Quadrat: Rheinischer Klüngel zulasten der privaten Stromverbraucher, und gar keiner hat etwas davon. Im vorliegenden Gesetzentwurf ist nun unter anderem festgeschrieben, dass die Übertragungsnetzbetreiber jährlich einen Offshorenetzentwicklungsplan vorlegen müssen sowie eine verbindliche Mitteilung des Netzanschlusses für den Betreiber machen müssen, der 30 MoZu Protokoll gegebene Reden nate vor Fertigstellung nicht mehr geändert werden kann und somit zu einer größeren Investitionssicherheit für die Offshorewindparkbetreiber führt. Um dies zu erreichen, soll es zudem neue Haftungsregeln geben, für den Fall von Verzögerungen und Pannen beim Anschluss von Offshorewindparks auf hoher See. Bei der Entschädigung ist eine Selbstbeteiligung je nach Schadenshöhe der Übertragungsnetzbetreiber vorgesehen, wenn es zu fahrlässig verursachten Netzunterbrechungen bzw. -verspätungen kommt. Die Selbstbeteiligung liegt zwischen 20 Prozent bei einer Schadenshöhe von 0 bis 200 Millionen Euro und 5 Prozent bei einer Schadenshöhe von 601 bis 800 Millionen Euro Schaden. Die allgemeine Haftungsbegrenzung für den Übertragungsnetzbetreiber liegt bei 100 Millionen Euro. Schäden oberhalb von 800 Millionen Euro im Jahr werden komplett auf die Netzentgelte umgelegt. Entschädigungszahlungen für Schäden, die nicht vom anbindungsverpflichteten Übertragungsnetzbetreiber verursacht werden, können komplett umgelegt werden. Durch die Einführung einer neuen Umlage von maximal 0,25 Cent pro Kilowattstunde werden die Stromverbraucher mit einem Gesamtvolumen von etwa 650 Euro jährlich zusätzlich belastet. Die Industrie muss ab einem Verbrauch von 1 Million Kilowattstunden im Jahr jedoch nur eine Umlage von 0,05 Cent pro Kilowattstunde bezahlen. Der Großteil der finanziellen Risiken wird auf die privaten Stromkunden abgewälzt und die Großindustrie durch Ausnahmetatbestände weitestgehend von der neuen Umlage befreit. Das wird nicht nur von Verbraucherverbänden, sondern auch von Teilen der Energiewirtschaft selbst zu Recht kritisiert. Dabei sollte allen Beteiligten klar sein, dass der Ausbau der Energiewende nur gelingt, wenn die Kosten fair auf allen Schultern verteilt werden. Wir hätten einen anderen Vorschlag, als die Verbraucher in Haftung zu nehmen: Der Bund übernimmt das Haftungsrisiko für den Netzanschluss, und als Gegenleistung bekommt er Anteile vom Netzbetreiber, der ja bisher offensichtlich der Herausforderung des Netzausbau gewachsen war. Das wäre der Einstieg in die deutsche Netzgesellschaft, die sich ja sogar als politisches Ziel im schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 2009 findet. In anderen Wirtschaftsbereichen ist der Einstieg des Bundes in schwieriger Lage durchaus nicht unüblich; man denke nur an die Commerzbank. Die Bundesregierung hat außerdem Formulierungshilfen an die Koalitionsfraktionen übersandt, mit der im Zuge dieser EnWG-Novelle das Abschalten von Kraftwerken bei Stromknappheit verboten werden soll. Eine weitere Notoperation, denn nach Monaten des Nichtstuns ist bei Schwarz-Gelb nun Hektik ausgebrochen, um Versorgungsengpässe wie im vergangenen Winter zu vermeiden. Bereits im Mai hatte die Bundesnetzagentur der Bundesregierung in einem Bericht zu den Versorgungsengpässen im vergangenen Winter einen Stapel an Hausaufgaben aufgegeben; die Fakten waren sogar schon zwei Monate vorher klar. Doch passiert war bisher nichts. Jetzt staunt man, dass eine christlich-liberale Bundesregierung auf Mittel der Wirtschaftspolitik sowjetischer Prägung zurückgreift - die gesetzliche Anordnung zum Betrieb eines Kraftwerks in Planwirtschaft in Reinkultur. Ich will nicht wissen, was hier und heute los wäre, wenn ein Wirtschaftsminister einer rot-grünen Bundesregierung so etwas ernsthaft vorschlagen würde. Das zeigt, wie hilflos Sie in der Energiepolitik agieren, um Ihre eigenen Fehler und Versäumnisse zu korrigieren. Statt über planwirtschaftliche Anordnungen und strategische Reserven zu reden, brauchen wir endlich eine ernsthafte Debatte über Kapazitätsmärkte. Ich freue mich auf eine konstruktive Debatte in den Ausschüssen auch darüber.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 33: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/10746 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Freizügigkeit ist nicht nur ein hohes Gut, sondern durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Laufe der letzten Jahrzehnte auch ein Kernelement der Unionsbürgerschaft geworden. Sie gehört seit jeher zu den durch die europäischen Verträge gewährleisteten Grundfreiheiten und ist somit maßgeblich am wirtschaftlichen Erfolg des Binnenmarktes und am Zusammenwachsen der Europäischen Union beteiligt. Längst werden unter dem Begriff der Freizügigkeit nicht mehr nur der freie Aufenthalt und die Bewegungsfreiheit der Unionsbürger verstanden. Vielmehr haben der Europäische Gerichtshof und das europäische Primär- und Sekundärrecht dazu geführt, dass die Regelungen zur Freizügigkeit Bedeutungen für den Arbeitsmarkt, die politische Teilhabe, die kulturelle und sprachliche Integration sowie für den gesamten Bereich des innerstaatlichen Migrationsrechts erlangt haben. Von der Freiheit, sich als Unionsbürger in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, bis hin zu umfassenden politischen Teilhaberechten bei Wahlen könnten eine Vielzahl von Veränderungen aufgeführt werden, die letztlich alle auf den Grundsatz der Freizügigkeit der Stephan Mayer ({0}) Unionsbürger nach Art. 21 AEUV zurückgeführt werden können. So konkretisiert auch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union bereits verankerte Grundfreiheit auf Freizügigkeit. Die in der Richtlinie hinterlegten Grundsätze sind im deutschen Recht bereits durch das Freizügigkeitsgesetz im Jahr 2004 umgesetzt worden. Hierbei wurden jedoch einige europarechtliche Vorgaben nicht vollständig berücksichtigt, was einen ergänzenden Gesetzentwurf und die heute zu debattierende Änderung des Freizügigkeitsgesetzes erforderlich gemacht hat. So wird durch das heute zu debattierende Gesetz beispielsweise die in der Richtlinie angelegte Regelung zum Widerruf von zuvor erhaltenen Freizügigkeitsrechten bei nachträglicher Feststellung einer Scheinehe nunmehr in das deutsche Recht übernommen. Dies ist eine wichtige Ergänzung; denn Abfragen in den Ländern haben ergeben, dass es sich hierbei nicht um eine unerhebliche Anzahl von Fällen handelt. So hatte eine Erhebung der Innenministerkonferenz vor einigen Jahren festgestellt, dass es sich um deutlich mehr als 1 000 Fälle pro Jahr in Deutschland handeln könnte. Damals waren in die Statistik lediglich von den Ausländerbehörden gemeldete Fälle aufgenommen worden, sodass zudem von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgegangen werden darf. Typische Fallkonstellationen sind das nur formale Eingehen von Ehen sowie Vaterschaftsanerkennungen ohne das Ziel, eine familiäre Lebensgemeinschaft zu führen, unterschiedliche Formen des Gebrauchs gefälschter Dokumente sowie Täuschung über den Wohnsitz oder das Arbeitsverhältnis, insbesondere um Einreise- und Aufenthaltsrechte für Angehörige zu erlangen. Aber auch zum Aufsuchen von Universitäten oder Fachhochschulen in Deutschland werden vergleichbare Täuschungen vorgenommen. Die Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen Widerrufsmöglichkeit in nationales Recht ist daher eine notwendige und angemessene Reaktion auf dieses kriminelle Verhalten. Mit ihr setzt die christlich-liberale Koalition ihren Weg gegen das Erschleichen von Aufenthaltstiteln fort. Bereits im vergangenen Jahr haben wir durch die Einführung des § 237 StGB zur besseren Ahndung von Zwangsehen deutlich gemacht, dass es in diesem Bereich keine Toleranz geben darf. Mit der Änderung des Strafgesetzbuchs ging auch eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes einher. Nachdem die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 die Mindestbestandszeit einer Ehe, die für den Fall des Scheiterns ein eigenständiges Aufenthaltsrecht begründet, auf zwei Jahre verkürzt hatte, haben wir die Anregung aus der Praxis vieler Ausländerbehörden in Deutschland umgesetzt und die Mindestbestandszeit auf drei Jahre heraufgesetzt. Ursprünglich gesetzte Anreize für ausschließlich zum Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte Eheschließungen konnten somit nachträglich wieder beseitigt werden. Die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beabsichtigte Anpassung stellt somit einen weiteren Schritt im Kampf gegen Scheinehen in Deutschland dar. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält darüber hinaus noch eine Vielzahl von kleineren, zumeist technischen Anpassungen des Freizügigkeitsgesetzes an die oben bereits zitierte EU-Richtlinie. Hierbei handelt es sich vor allem um Klarstellungen und Bereinigungen, die aufgrund der täglichen Anwendungspraxis des Gesetzes erforderlich geworden sind. Diese tragen insgesamt zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei. Nachfolgend möchte ich noch eine weitere Änderung, die der Gesetzentwurf beinhaltet, ansprechen. Bereits vor einiger Zeit haben die Ausländerbehörden die Erteilung einer Freizügigkeitsbescheinigung infrage gestellt. Ursache hierfür waren zum einen der erhebliche bürokratische Aufwand, der mit der Erteilung und Ausstellung der entsprechenden Bescheinigung verbunden ist, und zum anderen sah die maßgebliche EU-Richtlinie 2004/38/EG das Ausstellen einer solchen Freizügigkeitsbescheinigung gar nicht vor. Vielmehr verlangte die Richtlinie für den Nachweis eines rechtmäßigen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat nur eine aktuelle Meldebescheinigung sowie einen gültigen Pass bzw. Passersatz. Dem Anliegen der Ausländerbehörden wird daher nunmehr Rechnung getragen, und die entsprechenden Vorschriften im Freizügigkeitsgesetz und der Aufenthaltsverordnung werden dementsprechend angepasst. Zukünftig entfallen die Erteilung einer Freizügigkeitsbescheinigung und die Vorlage einer aktuellen Meldebescheinigung. Ferner ist die Vorlage eines gültigen Passes bzw. Passersatzes auch in Deutschland ausreichend. Auch wenn einige Städte und Gemeinden hierin keine erhebliche Reduzierung von Bürokratie zu erkennen vermögen, glaube ich, dass sich die Abschaffung der Freizügigkeitsbescheinigung letztlich doch zugunsten der Beschäftigten in den Ausländerbehörden bemerkbar machen wird. Zwar muss auch in Zukunft in Zweifelsfällen eine Prüfung des Freizügigkeitsrechts des Einzelnen durch die Ausländerbehörden vorgenommen werden, aber insgesamt wird durch den Wegfall der Bescheinigung der Verfahrensprozess weiter beschleunigt, was zu einer Reduzierung der Kosten führen dürfte. Diese „Arbeitserleichterung“ hat auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung anerkannt. Weiter wird darin ausgeführt, dass durch den Wegfall der Freizügigkeitsbescheinigung die Vorgaben der Richtlinie 2004/38/EG besser und einfacher in der Verwaltungspraxis umgesetzt werden können. Teilweise hatte sich bei vielen Behörden die Verwaltungspraxis eingerichtet, dass Anträge immer mit einer Kopie der Freizügigkeitsbescheinigung zu versehen waren. Da jedoch zwischenzeitlich seit dem 1. SeptemZu Protokoll gegebene Reden Stephan Mayer ({1}) ber 2011 in Deutschland der elektronische Aufenthaltstitel eingeführt worden ist, kann dieser zukünftig als entsprechender Nachweis bei der Antragstellung bei Verwaltungs- bzw. Sozialbehörden verwendet werden. Auch insofern bedurfte es einer Fortführung der Freizügigkeitsbescheinigung nicht mehr. Es kann somit im Ergebnis sehr wohl von einer nicht geringfügigen Entlastung der Verwaltung bei der Durchführung entsprechender Verfahren ausgegangen werden. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 21. September 2012 keine Einwände gegen den Gesetzentwurf erhoben hat. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren sollte daher zügig durchgeführt und abgeschlossen werden.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung verfolgt das Ziel, Vorschriften der Richtlinie 2004/38/ EG, die noch nicht „angemessen“ in das deutsche Recht implementiert wurden, nunmehr in das Freizügigkeitsgesetz/EU zu übernehmen. Dabei handelt es sich vor allem um die Gleichstellung von Lebenspartnern von Unionsbürgern mit Ehegatten von Unionsbürgern, das Recht auf Einreise und den Aufenthalt betreffend, den Abbau von Bürokratiekosten durch die Abschaffung der rein deklaratorischen Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht für Unionsbürger sowie die Einfügung einer Passage in das Freizügigkeitsgesetz/EU, die es ermöglicht, ein aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes/EU gewährtes Recht wieder zu entziehen, wenn es nur durch die Vorspiegelung von falschen Tatsachen oder durch Täuschung erlangt worden ist. Die rechtliche Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegatten von Unionsbürgern ist nur zu begrüßen und findet selbstverständlich unser volles Einverständnis. Auch den Abbau von Bürokratiekosten und die Vereinfachung des Verfahrens können wir nur gutheißen. Die Ahndung von durch Missbrauch bzw. Täuschung erschlichener Freizügigkeitsrechte ist in der Richtlinie 2004/38/EG zwar nicht zwingend, sondern als Option vorgesehen, es spricht jedoch auch nichts gegen die Einfügung eines solchen Instruments in das Freizügigkeitsgesetz/EU. Wie der Begründung des Gesetzentwurfs zu entnehmen ist, haben Abfragen unter den Ländern eine nicht unerhebliche Zahl von Rechtsmissbrauchsfällen ergeben. Obwohl das sehr unkonkret ist, scheint es doch in der Praxis ein Bedürfnis für eine solche Regelung zu geben. Allerdings haben wir am 7. März 2012 einen Gesetzentwurf zur Änderung des aufenthalts- und freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs, Drucksache 17/8921, in den Bundestag eingebracht. In diesem schlagen wir Visaerleichterungen für nachziehende Ehegatten und weitere Familienangehörige vor. So soll zum Beispiel ein Familienangehöriger, der nicht Unionsbürger ist, aber einen Unionsbürger begleitet, an der Grenze ein Ausnahmevisum erhalten, wenn er seine Beziehung zu dem Unionsbürger sowie die eigene Identität nachweist. Ein begleitender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der im Besitz einer Aufenthaltskarte eines anderen Mitgliedstaates ist, soll kein Visum mehr benötigen. Die letztgenannten Gesichtspunkte kommen in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Daher können wir dem Entwurf nicht zustimmen. Ich empfehle daher Stimmenthaltung.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im Jahre 2004 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung die Richtlinie 2004/38/EG weitestgehend in deutsches Recht umgesetzt. Nach einer Prüfung ist die christlich-liberale Bundesregierung nun zu dem Schluss gekommen, dass an einigen Punkten nachgebessert werden muss. Dies betrifft zum einen die Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegatten bei ihrem Recht auf Einreise und Aufenthalt. Ein Ziel der Koalition von CDU/ CSU und FDP war von Beginn an die weitere Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Ein Punkt hierbei ist für uns die Angleichung der Rechte von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Wir haben die volle Gleichstellung bei der Erbschaftsteuer, der Grunderwerbsteuer, beim BAföG, beim Beamten-, Richter- und Soldatenrecht erreicht. Wir haben die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld mit einem Kapital von 10 Millionen Euro gegründet. Wir unterstützen damit unter anderem die Aufklärungsarbeit an Schulen und die Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bekommen nun Lebenspartner von EUBürgern das gleiche Recht auf Freizügigkeit, das auch Ehegatten von EU-Bürgern zusteht. Der zweite Bereich betrifft die Stärkung der Rechte von illegal Beschäftigten, das heißt Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus, ohne Papiere. Die christlich-liberale Koalition hat sich engagiert für die Rechte von Menschen ohne Papiere stark gemacht. Wir haben Schulen und Kindergärten von den Übermittlungspflichten befreit, damit die Kinder von illegalen Zuwanderern angstfrei Bildung erlangen können. Auch im Bereich des Krankenhausbesuchs haben wir die Übermittlungspflichten beschränkt, damit das Grundrecht auf gesundheitliche Versorgung im Notfall auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Die Umsetzung der EU-Vorschrift unterstützt Menschen ohne Papiere in einem weiteren Punkt: Arbeitgeber von illegal Beschäftigten werden künftig stärker bestraft. Illegal Beschäftigte, die gegen ihren Arbeitgeber aussagen, bekommen darüber hinaus einen besonderen Schutz. Damit setzen wir an der Wurzel der irregulären Zuwanderung nach Deutschland an: bei der Nachfrage nach illegaler Beschäftigung und den damit verbundenen Dumpinglöhnen und Ausbeutungen. Illegale Beschäftigung muss für die Arbeitgeber unattraktiv werden. Mit dem Gesetz schaffen wir zudem eine Ermächtigungsgrundlage für das Bundesministerium des Innern, eine Prüfungsverordnung zu den Abschlusstests der Integrationskurse zu erlassen. Dies ist ein weiterer Schritt zur qualitativen Stärkung der Integrationskurse, Zu Protokoll gegebene Reden die die Bundesregierung bereits mit der Überarbeitung der Integrationskursverordnung geleistet hat. Mittlerweile haben über 1 Million Menschen an den Integrationskursen teilgenommen und können sich dadurch leichter in Deutschland orientieren und besser auf Deutsch verständigen. Im Gegensatz zur Vorgängerregierung haben CDU/CSU und FDP die Mittel für die Integrationskurse um 50 Millionen Euro auf 224 Millionen Euro pro Jahr angehoben. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, wie wichtig wir die Unterstützung von Integration nehmen. Inzwischen haben viele Menschen aus den ursprünglichen Zielgruppen der Integrationskurse an eben diesen teilgenommen. Es ist daher an der Zeit zu überlegen, wie die Integrationskurse künftig ausgerichtet werden können. Mir scheint es wichtig, die Integrationskurse stärker an Zuwanderern aus der EU auszurichten und für sie zu öffnen. Mehr als die Hälfte aller Zuwanderer, die heute in unser Land kommen, stammen aus der Europäischen Union. Diese Zuwanderer können wir besser als bislang bei ihrer Integration unterstützen. Darüber sollten wir diskutieren. Zuletzt wollen wir die Chance des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens nutzen, um die Entbürokratisierung voranzubringen. Durch die Abschaffung der deklaratorischen Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsbürger entlasten wir die Kommunen in Deutschland. Wie eine Modellrechnung gezeigt hat, kann allein München 50 000 Euro pro Jahr durch diese Maßnahme einsparen. Auf Deutschland hochgerechnet ergibt sich sicherlich eine Summe im oberen sechsstelligen oder gar im siebenstelligen Bereich. Der vorliegende Gesetzentwurf streift eine ganze Reihe von Themen, die der christlich-liberalen Koalition am Herzen liegen: die Gleichstellung von Schwulen und Lesben, die Stärkung der Rechte von Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus, die Integrationskurse und die Entbürokratisierung in Deutschland. In all diesen Bereichen können wir weitere Verbesserungen erreichen. Ich freue mich auf die Beratungen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nimmt die Bundesregierung Änderungen an dem Gesetz vor, das die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union und ihrer Familienangehörigen in Deutschland regelt. Dass nun Lebenspartnerinnen und Lebenspartner von Unionsangehörigen künftig mit Ehegatten gleichgestellt werden, ist gut, auch wenn dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Wir begrüßen auch, dass es bald nicht mehr erforderlich sein wird, eine sogenannte Freizügigkeitsbescheinigung zu beantragen und vorzuweisen. Diese Bescheinigung hat ohnehin nur deklaratorischen Wert und stellt einen unnötigen bürokratischen Aufwand dar. Aus drei Gründen aber lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab: Erstens. Dass die Freizügigkeitsbescheinigung abgeschafft werden soll, ist, wie gesagt, gut und richtig. Dadurch springt aber eine menschenrechtswidrige Praxis in Deutschland umso mehr ins Auge, die spätestens bei dieser Gelegenheit beseitigt werden muss. Ich rede von der massiven Beschränkung der Freizügigkeit von Asylsuchenden und Geduldeten durch die sogenannte Residenzpflicht. Immer mehr Betroffene machen durch Protestaktionen, unter anderem durch einen aktuellen Protestmarsch nach Berlin, den viele Abgeordnete der Linken wie auch andere Aktionen begleitet haben, auf diesen Skandal aufmerksam. Das Verbot, ein zugewiesenes Gebiet ohne Begründung bzw. ohne behördliche Erlaubnis zu verlassen, und dies auch noch unter Strafe zu stellen, ist diskriminierend und verletzt die Betroffenen in ihrer Menschenwürde und in ihren Persönlichkeitsrechten. Alle vorgeblichen sachlichen Begründungen für die Residenzpflicht sind entweder nicht überzeugend oder können jedenfalls nicht diese erhebliche Einschränkung der persönlichen Freiheit rechtfertigen. Wenn das Wort Freizügigkeit in einem Gesetzentwurf vorkommt, dann sollte dieser also auch die Freizügigkeit im Land in einem ganz umfassenderen Sinn herstellen. Zweitens ist der Gesetzentwurf unzureichend, weil nicht alle von der EU-Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens angemahnten Änderungen zur wirksamen Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie berücksichtigt wurden. So monierte die Kommission eine unzureichende Umsetzung der Vorgabe einer Erleichterung des Familiennachzugs weiterer Familienangehöriger, also Geschwister, Onkel, Tanten, Neffen usw. Die Bundesregierung verwies diesbezüglich zwar auf ein noch ausstehendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs, doch selbst wenn dieses Urteil im Sinne der Bundesregierung entscheiden würde, heißt das nicht, dass die Bundesregierung nicht über die darin als absolut einzuhaltenden Minimalstandards im Sinne der betroffenen Menschen hinausgehen kann und sollte. Davon abgesehen liegt dieses Urteil des EuGH in der Sache „Rahman“ inzwischen seit dem 1. September 2012 vor. Nach meiner Einschätzung erfordert dies zwingend eine weitergehende Änderung des Freizügigkeitsgesetzes, wie von der Kommission angemahnt. Ein Nachzug entfernter Verwandter ist nach geltendem Recht nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz möglich. Dies wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht, wonach Unionsangehörige gegenüber Drittstaatsangehörigen „in gewisser Weise bevorzugt“ behandelt werden müssen, wie auch immer man eine solche Ungleichbehandlung politisch bewertet. Weiterhin fordert der EuGH im Urteil, dass die Einreisebedingungen für diese Gruppe im Wortsinne „erleichtert“ werden müssen und diese Vorgabe in der konkreten Umsetzung nicht ihre „praktische Wirksamkeit“ verlieren darf. Die überaus hohen Hürden eines außergewöhnlichen Härtefalls entsprechen dem nicht. Das ist keine Erleichterung, sondern eine Erschwernis. Da hilft im Übrigen auch kein Hinweis auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz, wo es einen versteckten, aber völlig ungenügenden und unbestimmten Hinweis auf diese Betroffenengruppe in Punkt 36.2.2.9. gibt. Drittens kritisiert die Linke, dass die Bundesregierung eine ausdrückliche Missbrauchsregelung zur Verhinderung sogenannter Scheinehen schaffen will. Zu Protokoll gegebene Reden Wir fürchten, dass dies zu einer verschärften Prüfpraxis in den Behörden führen wird und viele binationale Partnerschaften unzulässig verdächtigt werden. Zwar heißt es in der Gesetzesbegründung, dass „systematische oder anlasslose Prüfungen nicht gestattet“ sind und „begründete Zweifel“ vorliegen müssen, doch diese allgemeinen Vorgaben gelten auch im Bereich des Aufenthaltsgesetzes, und wir wissen ja, in welch breitem und auch willkürlichem Ausmaß binationale Paare dessen ungeachtet in der ausländerbehördlichen Praxis unter Verdacht geraten. In der Gesetzesbegründung wird auch nicht nachvollziehbar dargelegt, wieso eine solche Missbrauchsregelung auf einmal erforderlich sein soll. Lapidar heißt es: „Abfragen unter den Ländern haben eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen ergeben“. Konkretere Anhaltspunkte oder auch nur ungefähre Zahlenangaben fehlen aber komplett. Solange dies so ist, bestreite ich, dass es den beklagten Missbrauch in bedeutendem Umfang gibt, zumal die Zahlen, die uns vorliegen, für eine gegenteilige Annahme sprechen. Erst vor kurzem wurde ein Working Paper, Nr. 43, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu „Missbrauch des Rechts auf Familiennachzug“ vorgestellt. Das Ergebnis auf Seite 5 spricht für sich: Aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft der verfügbaren statistischen Informationen lassen sich weder verlässliche Aussagen zum Umfang des Missbrauchs des Familiennachzugs machen, noch zu erforderlichen Gegenmaßnahmen. Auf Seite 26 findet sich auch Interessantes: Den in der PKS registrierten Verdachtsfällen lässt sich entnehmen, dass die Scheinehe offenbar nur in geringem Umfang zur irregulären Einreise genutzt wird. Stattdessen stellt sie in der Regel ein Instrument zur Verfestigung eines prekären, aber dennoch legalen Aufenthalts dar. Vor diesem Hintergrund muss es doch heißen: Abrüsten! Für die viel beschworene Gefahr angeblich verbreiteter Scheinehen und Missbräuche gibt es keine Belege. Was hier produziert und praktiziert wird, befördert rechtspopulistische Stimmungsmache. Die Folge dieses staatlich gesäten Misstrauens ist eine erhebliche Behinderung des Zusammenkommens und Zusammenlebens vieler binationaler Paare durch vielfach unbegründete ausländerbehördliche Verdächtigungen. Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch auf einen Vorgang hinweisen, der schon ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Aber fachkundige Abgeordnete werden sich sicherlich noch daran erinnern, zu welchen politischen Auswirkungen das sogenannte MetockUrteil des EuGH vom Juli 2008 geführt hat. Es ging dabei, grob gesagt, um die Nachzugsrechte drittstaatsangehöriger Ehepartnerinnen und -partner Unionsangehöriger und welche Regeln gelten sollen. Im Innenausschuss des Bundestages war dieses Urteil Thema. Der damalige Innenminister Schäuble persönlich forderte im EU-Rat mehrfach Konsequenzen aus dem Urteil, sogar eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie wurde ins Spiel gebracht. Er sprach wörtlich von einem „großen Einfallstor für Rechtsmissbrauch“. Dabei hatte das Urteil Auswirkungen auf eine nur sehr geringe Personengruppe von vielleicht etwa 3 000 Familiennachzugsfällen im Jahr. Auf parlamentarische Nachfragen von mir musste die Bundesregierung einräumen, dass es keine Hinweise auf signifikante Änderungen infolge des Metock-Urteils gab, siehe Bundestagsdrucksache 16/13978, Frage 11 a. Selbst der Staatssekretär sprach ein Jahr später nur noch von einer sehr kleinen Personengruppe, und dies meint wohlgemerkt nicht die vermuteten Missbrauchsfälle, sondern die Gesamtzahl derer, bei denen es vielleicht einen Missbrauch geben könnte. Die Zahl der erteilten Aufenthaltskarten für Ehegatten von Unionsangehörigen aus Drittstaaten - um die ging es bei „Metock“ - ist nach dem Urteil in etwa gleich geblieben. Von Missbrauch also keine Spur! Die ministerielle Hysterie von damals erwies sich als pure rechtspopulistische Panikmache, genauso wie die vorliegende vorgeschlagene gesetzliche Verschärfung, die wir Linke deshalb ablehnen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Fraktion begrüßt, dass die Bundesregierung endlich Lebenspartnerinnen und -partner mit Ehegatten von Unionsbürgerinnen und -bürgern beim Recht auf Einreise und Aufenthalt gemäß dem Freizügigkeitsgesetz/EU gleichstellt. Diese Änderung ist längst fällig. Natürlich gäbe es einen viel einfacheren und unbürokratischeren Weg, Lebenspartnerinnen und -partner gleichzustellen, nämlich die Öffnung der Ehe. Im Übrigen gibt es wenig Positives über den Gesetzentwurf zu sagen. Die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, Vorschriften der Freizügigkeitsrichtlinie, die noch nicht angemessen umgesetzt worden sind, vollständig in das Freizügigkeitsgesetz/EU zu übernehmen. Von diesem willkommenen Ziel ist sie jedoch leider weit entfernt. Vor über einem Jahr hat die Kommission gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen mangelnder Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie eingeleitet. In dem laufenden Verfahren ist die fehlende Gleichstellung von Lebenspartnern allerdings nur ein Kritikpunkt unter vielen. Ich möchte hier nur zwei der weiteren Regelungen hervorheben, die die Bundesregierung bei ihrem Gesetzentwurf außer Acht gelassen hat. Erstens rügt die Kommission die Einreisebestimmungen für Familienangehörige im Sinne von § 3 Abs. 2a der Freizügigkeitsrichtlinie, die zwar nicht einen Anspruch auf Einreise haben, denen nach der Richtlinie aber die Einreise und der Aufenthalt erleichtert werden sollen. Dazu gehören pflegebedürftige Personen und solche, denen der Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt hat oder die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 5. September 2012 in der Sache Rahman klargestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, diese Personen, die zu einem Unionsbürger in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber anderen Drittstaatsangehörigen bevorzugt zu Zu Protokoll gegebene Reden behandeln. Insbesondere müssen die persönlichen Umstände, wie der Grad der Verwandtschaft und die finanzielle oder physische Abhängigkeit, eingehend untersucht werden. Diesen Anforderungen wird das deutsche Recht nicht gerecht. Nach § 36 Abs. 2 AufenthG wird den obengenannten Familienangehörigen in der Regel der Aufenthalt verwehrt. Nur wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist, wird eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Jeder weiß, dass es fast unmöglich ist, eine deutsche Behörde von dem Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte zu überzeugen. In diesem Zusammenhang rügt die Kommission ebenso, dass diesen Personen nach der Einreise nicht die in der Freizügigkeitsrichtlinie vorgesehenen Rechte zugestanden werden, wie etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre, Gleichbehandlung, Ausweisungsschutz und das Recht auf Zugang zur Beschäftigung. Eine weitere Rüge der Kommission betrifft den Ausweisungsschutz. Nach deutschem Recht sind Ausweisungsverfügungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit automatisch mit einem unbefristeten Aufenthaltsverbot verbunden. Die automatische lebenslange Wiedereinreisesperre, die nur auf Antrag beschränkt werden kann, widerspricht aber dem europäischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Wir erwarten, dass die Bundesregierung im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens den Aufforderungen der Kommission entsprechend ihren Gesetzentwurf nachbessert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 34: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung und zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer - Drucksache 17/10487 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Finanzausschuss Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In den letzten Jahren bemerken wir im Bereich der Anwaltschaft und Steuerberatung eine gesellschaftsrechtliche Flucht nach Großbritannien. Insbesondere bei Rechtsanwälten ist eine Abwanderung größeren Ausmaßes in die britische LLP, Limited Liability Partnership, zu beobachten. Das bisherige Haftungskonzept der deutschen Partnerschaftsgesellschaft wird von den Angehörigen Freier Berufe zum Teil nicht als befriedigend empfunden. Zwar wird mit der Partnerschaftsgesellschaft schon derzeit eine Rechtsform angeboten, die unter anderem den Vorteil einer transparenten Besteuerung mit einer Haftungskonzentration verbindet. Praktische Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn innerhalb der Partnerschaftsgesellschaft Aufgaben durch Teams bearbeitet werden. Die aufgrund unterschiedlicher Spezialisierung miteinander arbeitenden Partnerinnen und Partner können die Arbeitsbeiträge der anderen mitunter weder inhaltlich noch dem Umfang nach vollständig überblicken und vor allem verantworten. Vor dem Hintergrund der Initiative „Law Made in Germany“ soll es um eine überzeugende Alternative zur britischen LLP gehen. Die mit dem Gesetz zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung vorgesehene Rechtsformvariante der Partnerschaftsgesellschaft für die Freien Berufe vereint steuerliche Transparenz mit einer Haftungsbeschränkung, wenn es zu beruflichen Fehlern kommt. Damit passt die neue Gesellschaftsform besonders zu Kanzleien und anderen freiberuflichen Zusammenschlüssen, in denen die Partner hoch spezialisiert in Teams zusammenarbeiten. Die Haftung für berufliche Fehler, nicht jedoch für andere Verbindlichkeiten wie Kreditverbindlichkeiten oder Mietzinsen wird auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll Voraussetzung für die Haftungsbeschränkung sein, dass eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen wird. Dabei sieht der Gesetzentwurf eine Differenzierung der Versicherungssummen in Abhängigkeit von der Art des Freien Berufs vor. Die Mindestversicherungssumme für Rechtsanwälte soll 2,5 Millionen Euro betragen. Eine Partnerschaftsgesellschaft von Steuerberatern soll „angemessen“ versichert sein. Für Wirtschaftsprüfer sieht der Gesetzentwurf eine Versicherungssumme von 1 Million Euro vor. Die Haftpflichtversicherung soll dem Schutz des Vertragspartners dienen. Auf den Briefbögen der Partnerschaftsgesellschaften mit beschränkter Berufshaftung soll nach Vorstellung des Entwurfs auf die beschränkte Berufshaftung mit einer Abkürzung aufmerksam gemacht werden. Dies kann beispielsweise durch das Kürzel „mbB“ geschehen. Der Gesetzentwurf sieht überdies vor, dass auch weitere Freie Berufe mit gesetzlichem Berufsrecht jederzeit durch entsprechende Regelung in ihrem Berufsrecht hinzutreten und die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung für sich nutzen können. Der Entwurf weist in die richtige Richtung. Hinsichtlich der Einzelheiten bedarf es jedoch noch weiterer Diskussionen im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die deutsche Alternative zur britischen Limited Liability Partnership kommt. - So wirbt das Bundesjustizministerium. Neben der Partnerschaftsgesellschaft, PartG, zu der sich Angehörige freier Berufe zusammenschließen können, soll eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung eingeführt werden. Damit soll verhindert werden, dass vor allem Großkanzleien auf die Rechtsform der Limited Liability Partnership ausweichen. Ich lasse dahingestellt, ob es diesen behaupteten Trend tatsächlich gibt. Mir liegen jedenfalls keine dementsprechenden Untersuchungen dazu vor. Größere Kanzleien beklagen, bei großen Teams, die mit einer Vielzahl von Spezialisten an einer Aufgabenstellung arbeiten, könnten die einzelnen Anwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer die Arbeitsbeiträge der andern oft nicht mehr überblicken und verantworten, müssten in einer PartG auch mit ihrem persönlichen Vermögen dafür aber haften. Der Entwurf sieht nun eine Beschränkung der unmittelbaren persönlichen Haftung für Fehler bei der Berufsausübung vor. Bei beruflichen Fehlern soll bei der PartG mbB nur noch das Gesellschaftsvermögen haften und sollen nicht mehr zusätzlich die Bearbeiter des Auftrags haften. Bisher haften diese Rechtsanwälte grundsätzlich persönlich und mit ihrem gesamten Vermögen. Die Haftung für andere Schulden wie Mieten und Löhne bleibt bestehen. Im Gegenzug wird ein angemessener Versicherungsschutz eingeführt, und die Partnerschaft wird durch die Namenwahl auf die Haftungsbeschränkung hinweisen müssen. Für eine aus Anwälten bestehende Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung sind als Mindestversicherungssumme 2,5 Millionen Euro vorgesehen. Eine aus Steuerberatern bestehende PartG mbB muss „angemessen“ versichert sein. Wirtschaftsprüfer müssen mit 1 Million Euro versichert sein. Gründe für diese Differenzierung der Höhe nach sind nicht, jedenfalls nicht überzeugend vorgetragen. Diese haftungsbeschränkende Ausgestaltung komme sowohl den Interessen der Anwaltschaft als auch denen der Verbraucher entgegen, wird für den Gesetzentwurf argumentiert. Ziel des Entwurfs sei es, die „transparente Besteuerung“ der PartG mit einer wirksamen Beschränkung der Außenhaftung zu verbinden. Es drängt sich der Eindruck auf, dass damit im Gesellschaftsrecht die eierlegende Wollmilchsau geschaffen werden soll. Damit geht aber die klare Linie im Gesellschaftsrecht verloren. Das Land Bayern ist im Rahmen der Bundesratsberatung nicht zu Unrecht der Auffassung gewesen, dass das Konzept der PartG mbB mit grundlegenden Prinzipien des deutschen Gesellschaftsrechts nicht zu vereinbaren ist. Im Recht der Kapitalgesellschaften ist das Privileg der Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen an die Erfüllung strenger Kapitalvorschriften geknüpft. Dagegen ist Kernelement der Personalgesellschaften - zu denen auch die PartG gehört - die persönliche Haftung zumindest eines Gesellschafters, die nicht einseitig beschränkt werden kann - aus gutem Grund und zum Schutz aller Beteiligten. Auch der Richterbund kritisiert, dass die PartG mbB einen Bruch im deutschen System der Gesellschaftsformen darstelle, da für bestimme Berufsgruppen vermeintlich vorteilhafte Merkmale der Personenhandels- und der Kapitalgesellschaft vermischt würden. Außerdem bestehen Zweifel, ob die Begrenzung der Haftungsbeschränkung auf bestimmte Berufsgruppen mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist. Denn der Gesetzentwurf sieht eine Beschränkung der Haftung nur für diejenigen freien Berufe vor, die eine gesetzlich begründete Haftpflichtversicherung haben. Andere Berufsgruppen sind von der Gründung einer PartG mbB ausgeschlossen. Abgesehen von diesen abstrakten Bedenken gibt es aber auch offene Fragen zur konkreten Ausgestaltung. Ist die vorgesehene Mindestversicherungssumme von 2,5 Millionen Euro ausreichend, um die Haftungsbeschränkung vollständig auszugleichen? Es gibt aber auch anderslautende Meinungen, die diese Summe wiederum als zu hoch ansehen. So sei eine wirtschaftliche Versicherungsabsicherung nicht mehr möglich, und das gefährde die Zusammenarbeit innerhalb großer Kanzleien. Fest steht: Der Rechtsverkehr wird mit neuen Rechtsformen wieder ein Stück weit unübersichtlicher. Deshalb muss geprüft werden, ob nicht bewährte Gesellschaftsformen zur Verfügung stehen, mit denen sich dasselbe Ziel erreichen lässt. Wer einen Haftungsausschluss zum Kernziel hat, für den steht die GmbH als Kapitalgesellschaft zur Verfügung. Sie kann auch von Freiberuflern genutzt werden. Als Anwaltsgesellschaft vor einigen Jahren noch umstritten, haben sich die berufsrechtlichen Zeichen gewandelt und die Nutzung dieser Rechtsform ermöglicht. Kann es deshalb nicht sinnvoll sein, die Kapitalgesellschaften für Freiberufler weiter zu öffnen? Dafür müsste man die Kapitalgesellschaften für Freiberufler steuerlich und bilanzrechtlich attraktiver gestalten. Die Bilanzierungspflichten sind für die beratenden Berufen noch nicht angemessen. Als zweite Alternative ist daran zu denken, die GmbH & Co. KG für Anwälte zu öffnen. Damit möchte ich eins verdeutlichen: Der Vorschlag der PartG mbB ist nicht so alternativlos, wie uns dies der Gesetzentwurf verkaufen will. Auch wenn Steuerund Gesellschaftsrecht nicht die perfekte Lösung bieten, stellt sich die Frage, ob eine weitere Gesellschaftsform zwingend notwendig ist. Gesellschaftsrechtler Noack spricht nicht zu Unrecht vom „Teilchenzoo“ Gesellschaftsrecht. PartG mbB, ja oder nein? Am Ende läuft die Bewertung auf die Frage hinaus, ob wir rechtspraktischen oder rechtssystematischen Erwägungen den Vorzug geben wollen. Ich befürworte deshalb die vom RechtsausZu Protokoll gegebene Reden schuss beschlossene Anhörung, um diese Fragen und Wertungen diskutieren zu können.

Jens Petermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004128, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Durch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen im Partnerschaftsgesellschaftsrecht soll für die Angehörigen freier Berufe eine neue Alternative neben den bestehenden Rechtsformen geschaffen werden. Die Partnerschaftsgesellschaft wurde schon vor Jahren in Deutschland eingeführt. Sie vereint die Vorteile der steuerlichen Überschussrechnung mit einer teilweisen Haftungsbeschränkung - ähnlich der im englischen Recht ansässigen Limited Liability Partnerschip, LLP. Jedoch ist die Haftungsbeschränkung der LLP weiter ausgeprägt als die der Partnerschaftsgesellschaften. Deshalb war es in den vergangenen Jahren immer häufiger zu beobachten, dass große Dienstleistungsgesellschaften sich in die anglo-amerikanische Rechtsform umwandelten. Damit konnten sie sicherstellen, dass eine persönliche Haftung aus beruflichem Handeln dem Mandanten bzw. Klienten gegenüber ausgeschlossen ist, und nutzten den Vorteil der Rechnungslegung nach den Grundsätzen der Überschussrechnung und nicht der umständlichen Bilanzierung. Durch die voranschreitende Globalisierung, in denen es Lebenssachverhalte über Kontinente hinweg zu beurteilen und eine Vielzahl von Rechtsordnungen anzuwenden gilt, steigt das Haftungsrisiko für berufliche Fehler. Jedoch geht die deutsche Partnerschaftsgesellschaft von einer persönlichen Haftung aller Gesellschafter aus, egal ob sie selbst mit dem Vorgang befasst waren oder nicht. Es ist sogar so, dass ein neu in die Partnerschaft eingestiegener Gesellschafter für die in der Vergangenheit von seinen Partnern begangenen Fehler haften würde. Im Hinblick auf die steigenden Haftungsrisiken und Haftungsvolumina kann man es einer natürlichen Person nicht mehr zumuten, persönlich zu haften. Ich begrüße es vor diesem Hintergrund ausdrücklich, dass im Gesellschaftsrecht die Möglichkeit eröffnet werden soll, die Haftung von Personengesellschaften auf das Geschäftsvermögen bei Vorhandensein einer entsprechenden Haftpflichtversicherung und eines Hinweises im Namen der Partnerschaft zu beschränken. Auch positiv zu bewerten ist, dass die bisherige Rechtsform daneben bestehen bleibt und damit eine neue Wahlmöglichkeit für die Gesellschaftsform eröffnet wird. Das zieht natürlich auch eine Anpassung der Berufsrechte der betroffenen freien Berufe nach sich, die der vorliegende Gesetzentwurf auch folgerichtig aufgreift. Hier kommt es jedoch auf die Details an: Für Rechtsanwaltspartnergesellschaften mit beschränkter Haftung ist eine Mindestversicherungssumme von 2 500 000 Euro pro Partner vorgesehen. Das klingt auf den ersten Blick plausibel vor dem Hintergrund, dass eine persönliche Haftung der Partner mit ihrem Privatvermögen ausgeschlossen ist und hier allein die Gesellschaft mit ihrem Vermögen haftet. Mit dem Argument des Schutzes der Rechtssuchenden und der fehlenden persönlichen Haftung wird die für Rechtsanwälte nach § 51 Bundesrechtsanwaltsordnung übliche Mindestversicherungssumme von 250 000 Euro verzehnfacht. Das ist nach meinem Verständnis nicht sachgerecht und unterstellt, dass jeder Rechtsanwalt mehrfacher Euro-Millionär sei für den Fall der persönlichen Haftung gegenüber dem Mandanten. Viele Rechtsanwälte sind mit der Summe von 250 000 Euro pro Schadensfall versichert. Dies reicht in der Praxis für die übliche Mandatserledigung aus. Sollten sie Mandate mit höheren Haftungsrisiken übernehmen, so schließen sie in der Regel eine höhere, mandatsbezogene Einzelhaftpflichtversicherung ab. Das liegt in der Verantwortung eines jeden Rechtsanwalts. Nun besteht aber die Gefahr, dass die neue Alternative der Partnerschaftsgesellschaft aufgrund der, mit der hohen Mindestversicherungssumme verbundenen, entsprechend hohen Versicherungsbeiträge nicht angenommen wird. Das war auch schon bei der Einführung der Rechtsanwalts-GmbH so. Die hat die gleiche Mindestversicherungssumme, und es standen am 1. Januar 2011 453 Rechtsanwalts-GmbH 2 789 herkömmlichen Rechtsanwaltspartnerschaften gegenüber. Hier muss die Bundesregierung noch etwas nachjustieren, um die Attraktivität und Akzeptanz bei der neueren Rechtsform zu erhöhen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sollen nach dem Gesetzentwurf der Regierung, über den wir heute beraten, für ihre berufliche Zusammenarbeit künftig eine neue Organisationsform wählen können: die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung, PartGmbH. Das Auffällige an dieser neuen Gesellschaftsform ist die Kumulation von Vorteilen: Die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung soll die steuerlichen Vorteile der Personengesellschaft mit den Vorteilen der beschränkten Haftung der Kapitalgesellschaft verbinden. Damit will die Regierung eine deutsche Alternative zur anglo-amerikanischen Limited Liability Partnership, LLP, schaffen. Im Gesetzentwurf hat sie dementsprechend auch dargelegt, dass in Deutschland ein erheblicher Trend zur Nutzung der Rechtsform der LLP zu verzeichnen sei. Allerdings führt die Bundesregierung im Gesetzentwurf keine Anzahl der LLPs in Deutschland auf. Exakte Zahlen konnte sie auch nicht nennen, als wir sie in unserer schriftlichen Frage konkret darum baten. Vielmehr heißt es in der Antwort der Regierung: „Aus Berufskreisen der Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater wird berichtet, dass die Zahl der Zusammenschlüsse in Form der LLP steigend ist.“ Schauen wir uns die öffentlich verfügbaren Zahlen genauer an, so stellen wir fest: In den nach jetziger Rechtslage möglichen deutschen Gesellschaftsformen sind weit über 2 000 Kanzleien in der Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft ({0}) organisiert, über 300 haben die Rechtsform der GmbH Zu Protokoll gegebene Reden gewählt. Bei den verbleibenden Anwaltszusammenschlüssen dominiert die Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Sucht man im Handelsregister nach der Rechtsform der LLP, so stellt man fest: 54 LLPs sind eingetragen. Und das sind nicht nur die Freiberufler, denen das Gesetz zugutekommen soll. Neben Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern sind zum Beispiel auch Architekten bei den 54 LLPs im Handelsregister eingetragen. Das sind Zahlen, die nicht auf gesetzgeberischen Handlungsbedarf schließen lassen. Und es stellt sich noch ein weiteres Problem: Unterläuft einem Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer in seiner Tätigkeit ein Fehler, so haftet er bisher mit seinem Privatvermögen. Dieses Risiko sichert er mit einer Berufshaftpflichtversicherung ab. Die Mindestversicherungssumme liegt für Rechtsanwälte derzeit bei 250 000 Euro pro Versicherungsfall. Bei der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung entfällt die persönliche Haftung des Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers. Eine versicherungsrechtliche Lösung soll den Schutz von Mandanten gewährleisten. Rechtsanwälte müssen dann eine Berufshaftpflichtversicherung von mindestens 2,5 Millionen Euro pro Versicherungsfall unterhalten. Dies ist das Zehnfache der bisherigen Mindestversicherungssumme. Ein entsprechend hoher Versicherungsbeitrag ist die Folge. Wie viele Partnerschaften sich diesen Versicherungsschutz werden leisten können, ist fraglich. Wenn überhaupt, ist eine solche Versicherungssumme nur für große Kanzleien erschwinglich. Das Gesetz hat also im Kern eine sehr beschränkte Zielgruppe: Großkanzleien. Kleine und mittelständische Kanzleien werden von der Möglichkeit der Gründung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung kaum profitieren. Die Folgen eines solchen Gesetzes aber betreffen das gesamte Gesellschaftsrecht: Die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung bedeutet eine Vermischung von Merkmalen der Personengesellschaft mit Merkmalen der Kapitalgesellschaft. Sie bewirkt eine weitere Aufsplitterung der Gesellschaftsformen. Ein Gesetz mit einem solch begrenzten Anwendungsbereich wie dieses sollte nicht dazu führen, unser gesellschaftsrechtliches System zu durchbrechen. Gerne können wir die Hinweise auf die Nutzung ausländischer Rechtsformen, wie der LLP, dazu nutzen, über eine grundlegende Reform des Gesellschaftsrechts nachzudenken. Ziel muss es aber sein, dessen Komplexität zu verringern und nicht zu vergrößern. Meine Damen und Herren Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker, wir müssen durchdachte und sinnvolle Gesetze anbieten, wenn wir mit „Law Made in Germany“ in Konkurrenz zu anderen Rechtsordnungen treten wollen. Diesem Anspruch genügt das vorliegende Gesetz nicht.

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf für ein Gesetz zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung und Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer ist ein wichtiger Beitrag zur Förderung des Standorts Deutschland. Mit Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung wird Freiberuflern eine ausgewogene deutsche Alternative zu Rechtsformen des europäischen Auslands, insbesondere zur Limited Liability Partnership nach angelsächsischem Recht, geboten. Diese Rechtsformvariante der Partnerschaftsgesellschaft steht konzeptionell allen freien Berufen zur Verfügung. Die Gestaltungsmöglichkeit beschränkt sich dabei auf eine Haftungsbegrenzung für berufliche Fehler. Hinsichtlich sonstiger Verbindlichkeiten soll es dagegen bei der bisherigen Haftung der Gesellschafter verbleiben. Das Konzept der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung ist ausgewogen. Die Interessen des Rechtsverkehrs und der Vertragspartner der Gesellschaft werden angemessen berücksichtigt: Zum Schutze des Rechtsverkehrs wird die Möglichkeit der Haftungsbegrenzung für berufliche Fehler flankiert durch die Pflicht der Gesellschaft, im Rechtsverkehr mit einem die Haftungsbegrenzung signalisierenden Namenszusatz aufzutreten. Außerdem besteht die Pflicht, eine angemessene Berufshaftpflichtversicherung zu unterhalten. In den Stellungnahmen zum Referentenentwurf wurde deutlich, dass die Regelung manchen zu weit und manchen nicht weit genug geht: Ich denke, wir haben hier einen ausgewogenen und vernünftigen Kompromiss gefunden. Jene, die die Regelung als nicht weitgehend genug ansehen, verbinden dies meist mit der Forderung, die Rechtsform der GmbH & Co. KG auch für die freien Berufe zu ermöglichen. Eine Öffnung des Handelsgesetzbuches für freie Berufe kann allerdings nicht in kleinen Sonderlösungen für einzelne Berufe erfolgen. Erforderlich wäre eine grundsätzliche Umgestaltung des Kaufmannsrechts in ein „Unternehmensrecht“. Dies setzte jedoch grundsätzliche systematische Überlegungen im Handels-, Gesellschafts- und Steuerrecht voraus. Um den freien Berufen zeitnah ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten anbieten zu können, wie sie in anderen europäischen Rechtsordnungen schon bestehen, bietet sich die Einführung der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung als schlanke und überschaubare Lösung an. Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach! Manchen geht die Regelung allerdings auch schon zu weit: Hier wird gefordert, es bei der althergebrachten grundsätzlich vollen persönlichen Haftung der Gesellschafter zu belassen. Dabei wird freilich übersehen, dass Zu Protokoll gegebene Reden Haftungsbeschränkungen auch für Freiberufler schon längst über ausländische Rechtsformen erreichbar sind und dass Vertragspartnern von Freiberuflern wenig damit geholfen ist, wenn sie sich zunehmend mit ausländischen Rechtsformen auseinandersetzen müssen. Auch ist zu bedenken, dass die Höhe der Summe, mit der eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung hinsichtlich beruflicher Fehler versichert sein muss, in der Regel über das Privatvermögen von Freiberuflern hinausgehen dürfte. Über die Versicherung für berufliche Fehler dürften Vertragspartner daher weitergehend geschützt sein als über einen Zugriff auf das Privatvermögen der Gesellschafter. Hinzu kommt eine systematische Überlegung: Als Personengesellschaft mit Haftungsbeschränkung hat das Gewerbe die GmbH & Co. KG, den freien Berufen fehlt bislang ein Äquivalent. Es ist systemkonform, diese Lücke zu schließen. Ich wünsche mir, dass die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung den Freiberuflern möglichst bald als deutsche Alternative zur Verfügung steht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 35: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Seehandelsrechts - Drucksache 17/10309 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das bisher geltende Seehandelsrecht basiert in weiten Teilen auf überkommenen, aus dem 19. Jahrhundert, mitunter sogar aus dem Mittelalter stammenden Rechtsgrundlagen. Rechtsinstitute wie Partenreederei oder das Verklarungsverfahren haben im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren. Sie werden der Praxis der modernen maritimen Wirtschaft nicht mehr hinreichend gerecht. Bei der vorgesehenen Reform geht es darum, das deutsche Recht an die Erfordernisse des internationalen Wettbewerbs anzupassen. Der Gesetzentwurf soll maßgeblich die einschlägigen Vorschriften für die Frachtschifffahrt und die Personenschifffahrt modernisieren. Die Zahl seehandelsrechtlicher Vorschriften soll auf etwa die Hälfte reduziert werden. Der Gesetzentwurf trifft zugleich Vorsorge dafür, dass Entschädigungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes künftig verschuldensunabhängig gezahlt werden. Die Haftungshöchstbeträge sollen deutlich angehoben werden, von derzeit 164 000 Euro auf 468 000 Euro. Die Zahl der Unfälle in der Schifffahrt ist indes sehr gering, was sich bei der Berechnung von Versicherungsprämien auswirkt. Mit den Anpassungen an die digitale Realität leisten wir einen sehr wichtigen Beitrag zur Stärkung des deutschen Seehandels. Im jetzt beginnenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren und in der vorgesehenen Anhörung im Rechtsausschuss wird der umfangreiche Gesetzentwurf einer ausführlichen Prüfung unterzogen. Im Übrigen danke ich an dieser Stelle den Mitgliedern der vom Bundesministerium der Justiz im Jahre 2004 eingesetzten Sachverständigengruppe zur Reform des Seehandelsrechts für ihre guten und wichtigen Vorarbeiten, auf denen der Gesetzentwurf basiert.

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Seehandelsrecht soll durch die vorgeschlagene Reform grundlegend und systematisch überarbeitet und im Hinblick auf den internationalen Wettbewerb modernisiert und entbürokratisiert werden. Die Vorarbeiten zu dieser Reform begannen 2004 mit der Einsetzung einer Sachverständigengruppe ({0}), auf deren Vorschlägen der vorliegende Entwurf beruht. Das im HGB geregelte Seehandelsrecht ist überholt. Es stammt in den Grundzügen aus dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861, als die Seefahrt noch mit Segelschiffen betrieben wurde. Deshalb treffen viele Regelungen die heutige Wirklichkeit nicht mehr. Das gilt zum Beispiel für die Vorschriften über die Partenreederei, bei der es sich um eine besondere und unbekannte Gesellschaftsform des HGB handelt, die kaum angenommen wird; Reedereien werden heute von Aktiengesellschaften oder anderen Handelsgesellschaften betrieben. Auch die Vorschriften über die Verklarung, also die eidesstattliche Erklärung des Kapitäns nach einem Schiffsunfall, oder über die vermögensrechtliche Abwicklung einer Havarie, die sogenannte Haverei, sind nicht mehr zeitgemäß. Daher weichen die Unternehmen durch Wahl einer ausländischen Rechtsordnung dem deutschen Recht möglichst aus. Falls deutsches Recht Anwendung findet, können die Fälle oft nur mit richterlicher Rechtsfortbildung gelöst werden. Neben dem klassischen Seehandel werden auch die Personenbeförderungsverträge auf See neu geregelt, §§ 536 HGB-E ff. Für Personenschäden wird neu eine verschuldensunabhängige Haftung eingeführt, § 538 Abs. 2 HGB-E. Auch für die verschuldensabhängige Haftung gibt es Haftungshöchstbeträge, § 541 HGB. Nach der Entwurfsbegründung sind diese Beträge höher als bisher. Die Regelungen des Gesetzentwurfs zum „Ausführenden Verfrachter“, § 509 HGB-E, müssen wir uns genau ansehen. Der Entwurf sieht eine neue Rechtsfigur vor, wonach zukünftig neben dem Reeder auch der Seehafenumschlagbetrieb direkt und AGB-fest dem Befrachter oder Empfänger der Güter so haftet, als wäre er der Verfrachter. Dies soll bei Güterschäden gelten, die bei einer Tätigkeit entstanden sind, die zur Erfüllung eines Stückgutfrachtvertrages ausgeführt wurden. Die vorgeschlagene Haftungsausdehnung auf Umschlagbetriebe würde angesichts des weiten Feldes der mit der Ladungsbetreuung tätigen Hafenwirtschaft zu unterschiedlichen Haftungsregimen auf dem Terminalgelände führen, abhängig davon, ob die Tätigkeit dem Stückgutfrachtvertrag oder einem Multimodalvertrag ({1}) zuzuordnen ist. Neben den juristischen Schwierigkeiten kann die Haftungsausdehnung auf Umschlagbetriebe auch zusätzliche wirtschaftliche Belastungen und Wettbewerbsnachteile zulasten der Umschlagunternehmen zur Folge haben. Denn für ausländische Umschlagunternehmen gelten diese Regelungen der Mithaftung nicht. Hier sehe ich Probleme. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt insgesamt den Antrag. Doch ist es wieder einmal ein Armutszeugnis, dass das BMJ offenbar nicht in der Lage ist, zwischen seinen eigenen Abteilungen den vorliegenden Gesetzentwurf mit den Bestimmungen des Seearbeitsübereinkommens abzustimmen. Das Seearbeitsübereinkommen von 2006 zielt auf die Schaffung von weltweit einheitlichen Mindeststandards für die Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten an Bord von Handelsschiffen ab, um damit vor allem Wettbewerbsverzerrungen und Sozialdumping in der weltweiten Schifffahrt zu verhindern. In Art. II Ziffer j des Seearbeitsübereinkommens wird klargestellt, dass der Reeder für alle Forderungen des Seemannes uneingeschränkt haftbar ist. Diese Regelung greift zum Beispiel dann, wenn Seeleute von Bemannungsagenturen im Auftrag des Reeders an Bord geschickt werden, das Schiff von A nach B bringen, aber dann von der Agentur kein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die Seeleute das Recht, sich wegen der unterlassenen Heuerzahlung direkt an den Reeder zu wenden. Über den Gesetzentwurf zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens, das sogenannte Seearbeitsgesetz, werden wir uns hier noch zu unterhalten haben; er enthält zum Beispiel den Fehler, wonach die Haftung des Reeders auf eine „Bürgschaft“ begrenzt ist. Hier müssen wir nur feststellen, dass es im Gesetzentwurf zur Reform des Seehandelsrechts in den Festlegungen der §§ 476 ff. nicht gelungen ist, die Begriffsbestimmungen mit dem im selben Hause erarbeiteten Seearbeitsgesetzentwurf in Einklang zu bringen. Wir fordern deshalb die Überarbeitung der vorhergehend genannten Artikel.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das deutsche Seehandelsrecht ist veraltet und schwer verständlich. Diese Feststellung im Gesetzentwurf der Bundesregierung trifft zu. Aber das sollte kein Grund sein, acht Jahre dafür zu brauchen, ein aktuelles und verständliches Seehandelsrecht auf den Weg zu bringen. 3 666 Schiffe gehören deutschen Eignern, die deutsche Handelsflotte gehört zu den größten weltweit. Trotzdem tun sich die Bundesregierungen sehr, sehr schwer damit, internationale Übereinkommen in nationales Recht zu übertragen. Heute wird uns ein Gesetzentwurf zur Reform des Seehandelsrechts vorgelegt, an dem seit 2004 geschraubt wird. Zwischenzeitlich war man international schneller und hat bereits Ende 2008 eine „UN-Konvention über Verträge über die internationale Beförderung von Gütern ganz oder teilweise auf See“ verabschiedet, die sogenannten Rotterdam-Regeln. Mit diesen Regeln sollte ein modernes und international einheitliches Seefrachtrecht ermöglicht werden. Dieses Abkommen ist jedoch nicht in Kraft, weil die unterzeichnenden Staaten das Abkommen nicht ratifiziert haben. Deutschland aber hat diese Konvention noch nicht einmal unterzeichnet. Die Deutsche Verkehrs-Zeitung ({0}) kommentiert, mit dem Entwurf des neuen Seehandelsgesetzes gehe Deutschland einen Sonderweg und koppele sich damit von der internationalen Rechtsentwicklung ab. Interessant ist die Begründung. Ich zitiere: „Von einer vollständigen Einarbeitung der Rotterdam-Regeln in das Handelsgesetzbuch soll dagegen abgesehen werden. Diese sollte erst dann überhaupt in Erwägung gezogen werden, wenn die Rotterdam-Regeln von Deutschland auch ratifiziert werden. Eine Entscheidung über eine Ratifikation macht aber erst dann Sinn, wenn absehbar ist, dass sie völkerrechtlich in Kraft treten und zu den Vertragsparteien wichtige Seehandelsnationen der Welt zählen werden.“ Also hält sich die wichtige Seehandelsnation Deutschland zurück, wie auch andere? Soll damit ein internationales Übereinkommen ausgebremst werden? Frau Ministerin, Sie legen uns einen 250-seitigen Referentenentwurf zur Reform des Seehandelsrechts vor, der im Vorfeld wegen teils massiver Bedenken der Seefrachtrechtsexperten und der interessierten Verbände überarbeitet werden musste, nun aber wohl akzeptiert werden konnte. Kommen wir zu einigen Details: Zukünftig sollen auch Subunternehmer eines Verfrachters für ihren Part direkt gegenüber dem Eigentümer der Ladung haften, nicht nur auf See, sondern auch beim Umschlag im Hafen. Bislang musste ein Betreiber eines Containerterminals nicht für Schäden haften, die bei der Entladung entstanden. Bislang musste der Verfrachter auch weder für nautische Fehler der Besatzung noch für Feuer an Bord haften, selbst wenn es durch sie verschuldet war. Dies wird formal abgeschafft, darf aber durch die Hintertür in den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beförderer doch wieder ausgeschlossen werden. Damit bleibt es faktisch beim Alten. Es gibt weitere Regelungen zur Zeitcharter, zur Haftung im Falle eines Zusammenstoßes von Schiffen, über die Bergung, über die Große Haverei, über Schiffsgläubigerrechte und vieles mehr. Eine Haftung für die verspätete Ablieferung von Gütern oder die Einführung eines elektronischen Seefrachtbriefs sind sicher gute Ideen, Letzteres natürlich unter der Voraussetzung, dass die datenschutzrechtlichen Vorgaben gewährleistet werZu Protokoll gegebene Reden den können. Das sind notwendige Regelungen für einen rechtssicheren Seehandel. Nachdem Sie, Frau Ministerin, ja nun beide großen Arbeitsgebiete wie das Seearbeitsrecht und das Seehandelsrecht umgestalten und zusammenfassen, hat es uns dann doch sehr gewundert, dass das neue Gesetz zum Seehandelsrecht keinen Verweis auf das Seearbeitsübereinkommen enthält. Wird da in unterschiedlichen Abteilungen aneinander vorbei gearbeitet? In §§ 476 bis 480 zu dem Abschnitt „Personen der Schifffahrt“ gehört hier zwingend der Verweis auf die geltenden Vorschriften des Seearbeitsübereinkommens hinein. Abschließen möchte ich mit einem Appell zur Orientierung des Seehandelsrechts an den zukünftigen internationalen Regeln. Ihr Zögern bei der Übernahme der Rotterdamer Regeln haben Sie, Frau LeutheusserSchnarrenberger, im Mai dieses Jahres bei der Vorstellung Ihres Kabinettsentwurfes damit begründet, dass Deutschland ja sonst internationale Verpflichtungen eingehen würde, die andere erst etwas später träfen, wodurch unsere Reeder leichte Wettbewerbsnachteile hätten, bis sich das Abkommen durchsetzt. Das ist doch keine inhaltliche Argumentation. Mit dieser Logik könnten sich doch nie rechtliche Verbesserungen international durchsetzen. Wir erwarten von der deutschen Bundesregierung bei einer grundlegenden Überarbeitung keine rückwärtsgewandte Politik, sondern ein Voranschreiten.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Bundesregierung hat einen Entwurf zur Reform des Seehandelsrechts vorgelegt. Das Seehandelsrecht bildet die Gesetzesgrundlage für die Beförderung von Gütern und Passagieren über den Seeweg. Das Seehandelsrecht unterscheidet sich insofern vom Seerecht, das sich vor allem auf den Hoheitsbezug von Küstenstaaten bezieht. Viele Teile des bisherigen Seehandelsrechts in Deutschland stammen noch aus der Zeit der Segelschifffahrt und sind nicht mehr zeitgemäß. Die Transporte, Lieferketten und die technischen Entwicklungen lassen mittlerweile das bestehende Seehandelsrecht in Deutschland antiquiert erscheinen. Deutliche Änderungen und die Aufnahme aktueller Entwicklungen sind daher notwendig geworden, um das deutsche Seehandelsrecht an moderne Zeiten anzupassen. Der vorliegende Gesetzesvorschlag beinhaltet vor allem eine Straffung der gegenwärtigen Regelungen, die über Handelsgesetzbuch und Bürgerliches Gesetzbuch verstreut zu finden sind. Die Novelle des Seehandelsrechts fasst jetzt die Rechtslage im Fünften Buch des Handelsgesetzbuchs zusammen. Eine Neustrukturierung und Reform der Begrifflichkeiten finden sich hierin wieder. Der vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis der noch durch Bundesministerin Zypries 2004 eingesetzten Sachverständigengruppe Seehandelsrecht. 2009 war diese Gruppe fertig mit ihren Beratungen. Aus welchen Gründen, werte Frau Justizministerin, hat es drei Jahre gedauert, bis wir den Gesetzentwurf nun vorliegen haben? Die bisherigen Pflichten des Kapitäns, die bisher einer unternehmerischen Stellung glichen, werden nun so formuliert, dass der Kapitän als Person in arbeitnehmerähnlicher Stellung agiert und haftet. Alle dem Verkehrsschutz dienenden Regelungen sollen jedoch beibehalten werden, um den Kapitän weiterhin als Vertretungsmacht des Reeders beizubehalten. Diese Änderung erscheint uns überfällig und wird von uns mitgetragen. Die Angleichung des deutschen Seefrachtrechts an die Haager Regeln scheint aus unserer Sicht sinnvoll. Lobenswert ist, dass an dieser Stelle auch Elemente der Rotterdam Rules, wie die Möglichkeit der Verwendung elektronischer Beförderungsdokumente, in den Gesetzentwurf eingeflossen sind. Erstmals werden die weltweit üblichen Schiffscharterverträge erwähnt, die sogenannten Schiffsüberlassungsverträge: der Bareboat-Vertrag sowie der Zeitchartervertrag: Seit Jahrzehnten wird in der internationalen Handelsschifffahrt auf Musterverträge zurückgegriffen. Diese sind international geregelt und für nahezu jeden Schifffahrtsbereich erhältlich - und können je nach Bedarf individuell angepasst werden. Dass der Gesetzentwurf die Schiffsüberlassungsverträge ausführlich aufgreift und endlich im deutschen Recht regelt, war überfällig. Die Regelung zur Haftung der Beförderungsunternehmen bei Personenschäden hat insbesondere durch das steigende Fahrgastaufkommen in der Kreuzschifffahrt starke Wichtigkeit erlangt. Das zeigt uns gerade der Unfall mit dem Kreuzfahrtschiff MS „Costa Concordia“. Dass die Haftungssumme bei Personenschäden jetzt deutlich erhöht wird, scheint folgerichtig. Wir werden die weiteren Beratungen in den Ausschüssen konstruktiv begleiten. Doch dass die Rotterdam Rules, als fortschrittliches Rechtsübereinkommen, noch nicht vollständig zur Anwendung kommen sollen, ist bedauernswert, sind sie doch bereits 2009 von den ersten Staaten in Rotterdam unterzeichnet worden, um ein international einheitliches und aktuelles Rahmenwerk für den Transport von Gütern über den Seeweg zu schaffen. Unter den bisherigen Unterzeichnern sind große Seehandelsnationen wie Dänemark, Frankreich, Griechenland, Niederlande, Norwegen, Spanien und die USA. Auch wenn es erst durch zwei Staaten ratifiziert ist - Spanien und Togo -, so sollte sich vor allem bei den großen Handelsnationen herumsprechen, dass die Regeln zwar detailliert, aber doch präzise sind - und die entsprechende Anzahl an Unterzeichner- bzw. ratifizierenden Staaten benötigt wird, um sie endlich wirksam werden zu lassen. Deutschland ist also gut beraten und sollte jetzt die Rotterdam Rules sowohl unterzeichnen als auch ratifizieren. Wenn jetzt Deutschland mit der Reform des Seehandelsrechts voranschreitet, ist das zwar lobenswert. Aber in einigen Jahren, wenn die Rotterdam Rules ratifiziert sind, wird auch wieder eine Reform des SeehandelsZu Protokoll gegebene Reden rechts anstehen. Dann müsste der Prozess noch einmal wiederholt werden - und unserer Auffassung nach auch deutlich schneller ablaufen. Interessant wäre in der Begründung der Gesetzesvorlage ein Vergleich der unterschiedlichen Modelle des Seehandelsrechts in Europa gewesen. Innovativ erscheint uns das Regelungswerk Rotterdam Rules, das erstmals das Seehandelsrecht zusammenfasst und internationale Maßstäbe setzt. Bisher war es so, dass sich bestimmte Staaten zum Beispiel nach den Haag-Visby Rules richten oder auch nach den Hamburg Rules. Am 24. Oktober werden wir im Rechtsausschuss die Gelegenheit haben, in einer Anhörung über das neue Seehandelsrecht zu sprechen. Ich möchte daher noch nicht zu viele Themen vorwegnehmen - aber insgesamt scheint der Vorschlag durchaus brauchbar. Das ist zu einem seltenen Glück dieser Koalition geworden. Über verschiedene Auswirkungen wird jedoch noch zu reden sein, zum Beispiel, wenn sich aufgrund der neu eingerichteten Erhöhung von Haftungs- und Schadensrisiken am Ende wohl die Versicherer freuen dürften denn es ist anzunehmen, dass die neu entstehenden Risiken durch neue Versicherungen abgedeckt werden müssen. Wir können also jetzt in hoffentlich konstruktive Beratungen in den Ausschüssen einsteigen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Entwurf soll das deutsche Seehandelsrecht vollständig neu geregelt werden. Ziel der Reform ist, das weitgehend noch aus dem 19. Jahrhundert stammende deutsche Recht den heutigen Bedürfnissen der maritimen Wirtschaft anzupassen und damit den Wirtschafts-, Rechts- und Justizstandort Deutschland zu stärken. Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf Folgendes vor: erstens eine Neustrukturierung und Straffung des im Fünften Buch des Handelsgesetzbuchs geregelten Seehandelsrechts, zweitens eine Abschaffung überholter Rechtsinstitute und Regelungen wie etwa die, dass keine Gegenstände an die Seiten des Schiffes gehängt werden dürfen, drittens eine Modernisierung des geltenden Seehandelsrechts und schließlich viertens eine Anpassung des allgemeinen Transportrechts und des Binnenschifffahrtsrechts an das modernisierte Seehandelsrecht. Eines der wesentlichen Elemente der Reform ist die Neuregelung des Rechts der Güter- und Personenbeförderungsverträge. Die im Entwurf vorgesehenen Vorschriften über das Recht der Güterbeförderungsverträge sind klar strukturiert: So wird der Raumfrachtvertrag, unter dem der Entwurf ausschließlich den Reisefrachtvertrag versteht, in einem eigenen Titel geregelt. Die Vorschriften über den Stückgutfrachtvertrag gliedern sich in allgemeine Vorschriften, in Vorschriften über die Haftung wegen Verlust oder Beschädigung des Gutes sowie in Vorschriften über Beförderungsdokumente. Inhaltlich orientieren sich die Vorschriften in weiten Teilen an dem im Vierten Buch des Handelsgesetzbuchs geregelten allgemeinen Frachtrecht, berücksichtigen aber zugleich die Besonderheiten der Seebeförderung. Was die Haftung des Verfrachters anbelangt, so sind daher die Regelungen weiterhin nach dem Vorbild des für die maritime Wirtschaft bedeutsamsten Übereinkommens, den sogenannten Visby-Regeln von 1968, ausgestaltet. Die Rotterdam-Regeln, also das Übereinkommen der Vereinten Nationen von 2008 über Verträge über die internationale Beförderung von Gütern ganz oder teilweise auf See, spielen insoweit nur eine untergeordnete Rolle. Denn es ist noch unklar, ob und wann die RotterdamRegeln völkerrechtlich in Kraft treten werden. Allerdings wird von dem skizzierten Regelungskonzept, nämlich der Beibehaltung des geltenden Haftungsregimes, in einem wichtigen Punkt abgewichen, nämlich der Haftung des Verfrachters für einen von der Schiffsbesatzung bei der Führung oder der sonstigen Bedienung des Schiffes oder durch Feuer an Bord des Schiffes verschuldeten Schaden. Nach den Visby-Regeln und dem heute geltenden deutschen Recht ist in diesen Schadensfällen die Haftung des Verfrachters gesetzlich ausgeschlossen. Dies lässt sich jedoch heute, wie die Rotterdam-Regeln zeigen, kaum noch rechtfertigen. Dementsprechend soll nach dem Gesetzentwurf auf einen gesetzlichen Haftungsausschluss verzichtet werden. Mit Blick auf die internationale Rechtslage und die Wettbewerbssituation soll aber den Vertragsparteien gestattet werden, einen solchen Haftungsausschluss zumindest zu vereinbaren, und zwar auch durch AGB. Soweit der Stückgutfrachtvertrag betroffen ist, möchte ich schließlich die Modernisierung der Vorschriften über Beförderungsdokumente erwähnen. So regelt der Entwurf erstmalig den in der Praxis weithin verwendeten Seefrachtbrief und schafft eine gesetzliche Grundlage für die Verwendung elektronischer Beförderungsdokumente. Neben den Güterbeförderungsverträgen sollen erstmalig im Handelsgesetzbuch die sogenannten Schiffsüberlassungsverträge, nämlich die Schiffsmiete und die Zeitcharter, geregelt werden. Hierdurch sollen vor allem bestehende Rechtsunsicherheiten wegen der rechtlichen Einordnung dieser Verträge und ihrer Abgrenzung von Güterbeförderungsverträgen beseitigt werden. Soweit das Personenbeförderungsrecht betroffen ist, sieht der Entwurf vor, die Haftung des Beförderers insbesondere für Personenschäden nach dem Vorbild der ab dem 31. Dezember 2012 geltenden EG-Verordnung von 2009 über die Unfallhaftung von Beförderern von Reisenden auf See deutlich zu verschärfen. Wie wichtig ein guter Schutz von Schiffspassagieren ist, hat der Schiffsunfall der „Costa Concordia“ gezeigt. Durch die Reform soll sichergestellt werden, dass das hohe Schutzniveau, das ab Ende dieses Jahres auf EU-Ebene gilt, Zu Protokoll gegebene Reden auch für Schiffsbeförderungen gilt, die nicht unter die EG-Verordnung fallen. Erfasst ist damit insbesondere die innerstaatliche Küstenschifffahrt sowie die Binnenschifffahrt. Die Reform des Seehandelsrechts soll nach dem Entwurf am Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten. Ich hoffe, dies wird noch vor Jahresende der Fall sein. Denn das geltende Recht der Personenbeförderung auf Schiffen sollte mit Inkrafttreten der EG-Verordnung am 31. Dezember 2012 an das europarechtliche Vorbild angepasst sein.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10309 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 36: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr - Drucksache 17/10491 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Thema Zahlungsverzug hat uns schon Anfang des Jahres 2010 beschäftigt. Viele Kolleginnen und Kollegen werden sich erinnern. Im Frühjahr 2012 hatten wir mit einer fraktionsübergreifenden Stellungnahme wesentliche Verbesserungen der Richtlinie erreichen können. Zahlungsverzug bringt für viele Akteure und Branchen erhebliche Probleme mit sich. Nicht selten führt Zahlungsverzug zu Insolvenzen und in der Folge zum Verlust von Arbeitsplätzen. Nicht nur die mittelständische Baubranche ist betroffen. Auch andere Unternehmensbereiche wie Dienstleistungs- oder Handwerksbetriebe warten oftmals sehr lange auf ihr Geld. Es erweist sich als Problem, wenn Schuldner die Begleichung offener Forderungen über Gebühr hinauszögern oder sich durch überlange vertragliche Zahlungsoder Überprüfungsfristen praktisch einen kostenlosen Kredit einräumen lassen. Nicht selten nutzen gerade große und marktbeherrschende Teilnehmer oder öffentliche Auftraggeber eine solche Möglichkeit, Zahlungsaufschübe für lange Zeit zu nutzen. Für einige Unternehmen führt dies zu einer wirtschaftlich ernsten, ja gar existenziellen Gefahr. Der Gesetzentwurf soll diesem Problem entgegenwirken. Ziel des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr ist die Verbesserung der Zahlungsmoral von Unternehmen und öffentlichen Auftraggebern. Im vorgelegten Gesetzentwurf sehen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion allerdings insbesondere im Bereich der geplanten Zahlungs- und Abnahmehöchstfristen noch Prüfungs- und Erörterungsbedarf. Insbesondere bedürfen die Fälle weiterer Prüfung, in denen vor allem große Marktteilnehmer und Auftraggeber die nach dem Gesetzentwurf vorgesehenen Überprüfungs- und Zahlungsfristen voll ausreizen. Ich bin zuversichtlich, dass die noch offenen Fragen im Rahmen der vorgesehenen öffentlichen Anhörung problematisiert werden. Im Übrigen steht die CDU/ CSU-Fraktion Verbesserungsvorschlägen im jetzt beginnenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren offen gegenüber.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr stellt große Teile unserer Wirtschaft, vor allem kleine und mittlere Unternehmen, vor Probleme. Wenn sie nicht umgehend für ihre Dienstleistungen bezahlt werden, fehlt ihnen wichtiges Kapital. Insbesondere in wirtschaftlich so prekären Zeiten wie den jetzigen, wo viele kleine und mittlere Unternehmen mit den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu kämpfen haben, kann dieser Liquiditätsmangel fatale Folgen haben: Ihnen fehlt das notwendige Kapital, um Arbeitsplätze zu sichern und Zukunftsinvestitionen zu tätigen. Im schlimmsten Fall führen ausstehende Rechnungen sogar zur Insolvenz. Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr kann somit viele wichtige Arbeitsplätze in Deutschland gefährden. Das Ziel einer EU-Richtlinie von Oktober 2010 ist es, die Zahlungsmoral innerhalb der EU zu verbessern. Insbesondere kleine und mittlere sowie diejenigen Unternehmen, die grenzüberschreitend tätig sind, sollen hierdurch besser geschützt werden. Die Regelungen der Richtlinie sollen sicherstellen, dass Rechnungen umgehend beglichen werden. Hierfür wurden Zahlungsfristen von 30 Tagen festgeschrieben, die höchstens auf 60 Tage ausgeweitet werden dürften. Dies sei aber nur bei ausdrücklicher Vereinbarung und keiner groben Benachteiligung für einen der Vertragspartner erlaubt. Bei Verletzung dieser Regelungen wären Verzugszinsen fällig. Diese Bestimmungen würden die notwendige Liquidität garantieren, um Unternehmen mehr Standfestigkeit, insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Phasen, zu verleihen, sie vor einer Insolvenz zu schützen und hierdurch Arbeitsplätze zu sichern. Von Beginn an habe ich mich bei der Formulierung der Richtlinie dafür eingesetzt, dass dabei die Kommunen als wichtige Auftraggeber und Wirtschaftspartner nicht durch besonders strenge Sanktionen im Falle des Zahlungsverzugs gegenüber privaten Unternehmen benachteiligt werden. Es war für mich sehr erfreulich, dass sich diese Ansicht hier im Bundestag fraktionsübergreifend durchgesetzt hatte. Durch eine gemeinsame Beschlussempfehlung im Mai 2010 sprachen wir in dieser Sache mit einer starken Stimme. Diese Position habe ich demnach auch bei einer Anhörung im Europäischen Parlament und in enger Abstimmung mit meinen Kolleginnen und Kollegen im EP als zuständige Berichterstatterin der SPD-Fraktion vertreten. Mit dem nun eingebrachten Gesetzentwurf kommt die Bundesregierung ihrer Pflicht nach, diese EU-Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen. In den nun folgenden parlamentarischen Debatten und Beratungen der nächsten Wochen liegt es an uns, die Arbeit der Bundesregierung genauestens zu beurteilen. Wir müssen sicherstellen, dass sie im Sinne der Richtlinie handelt und damit für einen verbesserten Schutz unserer kleineren und mittleren Unternehmen eintritt. Hierbei ist es zunächst einmal äußerst bedauerlich, dass die Bundesregierung zentrale Forderungen aller Fraktionen dieses Hauses nicht berücksichtigt hat. So haben wir in unserer fraktionsübergreifenden Beschlussempfehlung vom Mai 2010 zu den Verhandlungen der EU-Richtlinie etwa gefordert, den Begriff der „prüffähigen Rechnung“ einzuführen. Hierdurch wollten wir klarstellen, dass nur eine Rechnung, die prüffähig ist, den Zahlungsverzug begründen kann. Dieser Begriff findet sich jedoch weder in der Richtlinie noch im Gesetzentwurf der Bundesregierung wieder. Abgesehen hiervon hat die Bundesregierung die EURichtlinie nicht zufriedenstellend umgesetzt: Zum einen mangelt es dem Entwurf an Klarheit und Eindeutigkeit. Struktur und Formulierungen stehen stellenweise nicht im Einklang mit der EU-Richtlinie. Dies stiftet unnötige Ungewissheit und Unsicherheit bei den Unternehmen. Hier besteht also deutlicher Klärungs- und Vereinfachungsbedarf. Zum anderen sind zentrale Bestandteile der Richtlinie nicht richtig umsetzt. So fehlt im Gesetzentwurf etwa die notwendige Verbindung der Zahlungsfrist mit der maximalen Dauer von Abnahme- und Überprüfungsverfahren, wie sie etwa in der EU-Richtlinie eindeutig hergestellt ist. Darüber hinaus können die Bestimmungen des Gesetzentwurfs unter Umständen zu absurden Situationen führen: Ein Unternehmen muss eine Rechnung bezahlen, obwohl es noch gar nicht die entsprechende Gegenleistung erhalten hat. Man zahlt für etwas, was man noch nicht bekommen hat - ein kurioses Novum, das die Bundesregierung in das deutsche Recht einführt. Hier besteht also erheblicher Verbesserungsbedarf. Ziel muss es sein, die Situation insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen zu verbessern. Sie dürfen nicht länger auf ihr Geld warten als bislang. Wie wir sehen, ist dieses Ziel jedoch durch den Gesetzentwurf der schwarz-gelben Koalition in Gefahr. Statt die Situation zu verbessern, wird sie im schlimmsten Fall gar verschlechtert. Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen jedoch, dass Unternehmen nicht weniger, sondern mehr Sicherheit und Schutz genießen, dass sie genügend Liquidität besitzen, um Arbeitsplätze zu sichern und ihre Angestellten pünktlich zu bezahlen. Daher werden wir uns in den kommenden Wochen intensiv dafür einsetzen, den Gesetzentwurf zu vereinfachen und zu verbessern, um den Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr wirksam und im Sinne unserer Wirtschaft, vor allem kleinerer und mittlerer Unternehmen, zu bekämpfen.

Jens Petermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004128, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gegenstand der heutigen Debatte ist die Umsetzung einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates aus dem Februar 2012. Die Bundesrepublik ist völkerrechtlich verpflichtet, diese Richtlinie in innerstaatliches Recht umzusetzen. Ob die Segnungen aus Brüssel immer den Stein der Weisen darstellen, kann dahinstehen. Interessieren soll uns das Ob und das Wie der Umsetzung. Hier ist, vor allem wenn es um Anpassungen so alter und umfangreicher Gesetze wie das des Bürgerlichen Gesetzbuches geht, sensibles Herangehen gefragt. Es kommt darauf an, die Neuerungen bestmöglich in die bestehende Systematik einzufügen, ohne die Übersichtlichkeit zu verlieren. Meines Erachtens ist dem Bundesjustizministerium eine behutsame Einbettung nicht gelungen - im Gegenteil: Die in der Richtlinie vorgesehenen Veränderungen wurden einfach nur eins zu eins in das BGB hineingedrückt. Größtenteils entspricht das deutsche Zivilrecht bereits den Anforderungen der Richtlinie, sodass nur noch Teilbereiche neu zu regeln waren. Der Gesetzentwurf sieht die Anhebung der gesetzlichen Verzugszinsen vor und führt einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrages bei Verzug ein. Darüber hinaus sollen Höchstgrenzen für vertraglich vereinbarte Zahlungsfristen sowie Höchstgrenzen für die Dauer von Abnahme- und Überprüfungsverfahren eingeführt werden. Ein pauschaler Schadenersatz und Höchstgrenzen für Zahlungsund Annahmefristen sind dem BGB bisher fremd. Alle Bürgerinnen und Bürger, die befürchten, dass die Gesetze noch umständlicher und Kauf- oder Werkverträge komplizierter werden, kann ich beruhigen: Für Verbraucherinnen und Verbraucher wird sich nichts ändern. Denn die Neuerungen gelten nur für Verträge zwischen Unternehmern und zwischen öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen. In den vergangen Wochen erreichten mich und meine Kollegen viele Schreiben von Handwerkern, kleinen und mittelständischen Unternehmern sowie Handwerkskammern und anderen Interessenvertretungen. Sie warnen davor, dass sich die ihrer Auffassung nach richtige Zielsetzung der Richtlinie, Zahlungsfristen zu verkürzen und damit die Liquidität der Unternehmen zu verbessern, durch die Umsetzung in bundesdeutsches Recht ins Gegenteil verkehren könnte. Ich sehe aber die Gefahr einer drohenden Rechtsunsicherheit, die sich erst nach einigen Jahren durch höchstrichterliche Rechtsprechung abstellen lässt. Ich hatte darauf hingewiesen, dass die neuen Regelungen teilweise nicht der deutschen Gesetzgebungstechnik entsprechen. Dies möchte ich mit zwei kurzen Beispielen unterstreichen: Erstens. Der Fristbeginn in § 271 Abs. 1 und Abs. 2 BGB-Entwurf ist nicht einheitlich geregelt. Der Lauf der Zu Protokoll gegebene Reden Frist kann mit Zugang der Rechnung oder gleichwertigen Zahlungsaufstellung oder Empfang der Gegenleistung beginnen. Hier kann es in der Praxis zu erheblichen Missverständnissen kommen. Eine Zahlungsaufstellung ist zum Beispiel schon ein Leistungsverzeichnis, welches bei Bauaufträgen bereits mit dem Angebot abgegeben wird. Hier ist Konkretisierung notwendig. Zweitens. § 288 Abs. 5 Satz 2 BGB-Entwurf besagt, dass eine Vereinbarung, die den Anspruch aus Satz 1 ausschließt, vermutlich gegen die guten Sitten verstößt. Das ist wortwörtlich aus der Richtlinie übernommen, entspricht aber mitnichten der deutschen Gesetzessprache. Denn im deutschen Recht sind nur Tatsachen vermutungsfähig, nicht jedoch Wertungen. Bei diesen beiden Beispielen möchte ich es bewenden lassen. Sie zeigen aber deutlich, dass sich die Ersteller der Vorlage über das Copy-and-Paste-Verfahren hinaus hätten bemühen sollen. Es sind also noch einige Unzulänglichkeiten durch die Beamten im Justizministerium abzustellen, damit der Gesetzentwurf dann im zweiten Durchgang der Rechtsförmlichkeit entspricht.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die verspätete Bezahlung von Rechnungen bringt kleine und mittlere Unternehmen in Europa immer wieder in ernste Schwierigkeiten. Diese können bis zum finanziellen Ruin der Unternehmen führen. Um kleinere Auftragnehmer in Europa besser zu schützen, hat die Europäische Union Anfang 2011 eine Richtlinie erlassen, die den Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr besser reglementieren soll. Heute debattieren wir über das Gesetz, das die Richtlinie in Deutschland umsetzen soll. Es geht um den Schutz der Unternehmen, die sich einem übermächtigen Verhandlungspartner gegenübersehen, der ihnen Zahlungsfristen „diktiert“. Die Regelungen gelten für die öffentliche Hand und private Unternehmen, nicht für Verbraucherinnen und Verbraucher. Ein hoher Zahlungsverzug ist auch in Deutschland keine Seltenheit. Lange Höchstfristen werden in Verträgen festgelegt und bis zum Ende ausgereizt. Das neue Gesetz sieht vor, die Zahlungsfristen auf 60 Tage, für öffentliche Auftraggeber sogar auf 30 Tage, zu beschränken. 60 Tage sind eine lange Zeit, insbesondere wenn man hierzu noch 30 Tage als Höchstgrenze der Abnahmefrist hinzuzählt. Bleibt die Zahlung für 90 Tage aus, kann dies in Vorleistung getretene Unternehmen bereits in eine finanzielle Bredouille führen. Die neuen Regelungen lösen deshalb im Unternehmenskreis die Befürchtung aus, dass das Ziel der Richtlinie - Bekämpfung des Zahlungsverzugs - nicht erreicht wird, sondern sich im Gegenteil am Markt Fristen etablieren, die fern von unserem gesetzlichen Leitbild liegen. Unser gesetzliches Leitbild sieht die für den Gläubiger günstigste Variante vor: Der Gläubiger kann im Zweifel die Zahlung sofort verlangen. Um das Ziel der Richtlinie, den Zahlungsverzug zu vermeiden, nicht ins Gegenteil zu verkehren, müssen wir bei der Umsetzung darauf achten, dass unser gesetzliches Leitbild in Funktion bleibt. Wir müssen klarstellen, dass die Zahlungsfrist von maximal 60 Tagen das Äußerste ist, was im Geschäftsverkehr noch tragbar ist. Wir dürfen dem Ausreizen von Höchstfristen keinen Vorschub leisten. Abzuwarten bleibt darüber hinaus, ob ein weiteres Element im Gesetzentwurf zu einer Verbesserung der Zahlungsmoral führen wird: Die Einführung eines Pauschalbetrags von 40 Euro für sogenannte „Beitreibungskosten“. Der Anspruch entsteht, wenn der Gläubiger Anspruch auf Verzugszinsen hat. Dies ist ein Novum im deutschen Recht. Mit 40 Euro ist dieser Anspruch zwar moderat bemessen, dennoch ist der pauschale Anspruch, der unabhängig davon vorliegt, ob ein solcher Schaden beim Gläubiger überhaupt entstanden ist, dem deutschen Schadenersatzsystem fremd. Fraglich ist, ob eine solche Pauschale tatsächlich Schuldner dazu anhält, rechtzeitig zu zahlen. Schuldner, die bewusst Zahlungen nach hinten hinausschieben und auf einen „Kredit“ des Gläubigers setzen, werden sich von 40 Euro nicht unbedingt abschrecken lassen. Auch lässt die Pauschale eine gewisse Nähe zum Strafschadenersatz erkennen. Die 40 Euro sollen zwar laut EU-Kommission keine strafende Wirkung haben. Sie sollen dem Gläubiger als Ausgleich für seine Beitreibungskosten dienen. Aber Schadenersatzforderungen ohne nachgewiesenen Schaden haben einen „Wiedergutmachungscharakter“, der auch dem Strafschadensersatz innewohnt. Und die EU-Kommission treibt die Einrichtung von Pauschalzahlungen voran: Im Entwurf zum Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht findet sich der Anspruch auf 40 Euro Entschädigung für Beitreibungskosten wieder. Meine Damen und Herren, auf EU-Ebene sollten wir uns weiterhin Bestrebungen zur Einführung von unangemessen hohen Pauschalbeträgen oder von Strafschadenersatz im Zivilrecht entgegenstellen. Ein Strafschadenersatz, der weit über einen tatsächlich eingetretenen Schaden hinausgeht, stellt eine Bereicherung des Gläubigers dar. Er führt zu einer nicht kalkulierbaren Zusatzbelastung von Schuldnern oder - im Fall von öffentlichen Auftraggebern - letztlich von Steuerzahlern. Einer solchen Zusatzbelastung müssen wir vorbeugen.

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr soll die im Jahre 2011 überarbeitete europäische Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt werden. Ziel ist es, die Zahlungsmoral von Unternehmen und öffentlichen Auftraggebern zu verbessern. Dies ist vor allem zum Schutz des Mittelstandes erforderlich. Denn insbesondere kleine und mittlere Unternehmen leiden, Zu Protokoll gegebene Reden wenn Schuldner die Begleichung offener Forderungen über Gebühr hinauszögern oder sich durch vertragliche Zahlungs- oder Überprüfungsfristen praktisch einen kostenlosen Gläubiger- oder Lieferantenkredit einräumen lassen. Für die Unternehmen kann dies zu einer wirtschaftlich ernsten, wenn nicht gar existenziellen Gefahr werden. Mit dem Gesetzentwurf soll diesem Unwesen entgegengewirkt werden. Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf im Wesentlichen Folgendes vor: erstens eine Beschneidung des Rechts, durch eine Vereinbarung von Zahlungs-, Abnahme- und Überprüfungsfristen die an sich bestehende Pflicht zur sofortigen Begleichung einer Forderung über Gebühr hinauszuschieben; zweitens eine Erhöhung der gesetzlichen Verzugszinsen; drittens einen Anspruch auf eine zusätzliche Pauschale bei Zahlungsverzug. Der Gesetzentwurf setzt die Richtlinie eins zu eins um. Dies bedeutet insbesondere auch, dass Verbraucher nicht von dem Gesetzentwurf betroffen sind. Die im Entwurf vorgesehenen Regelungen über eine Vereinbarung von Zahlungs-, Abnahme- und Überprüfungsfristen gehen - wie bisher - von dem Leitbild aus, dass eine Leistung sofort zu bewirken ist. Allerdings setzt das geltende Recht den Vertragsparteien, die von diesem Leitbild abweichen wollen, nur wenige Grenzen, nämlich das allgemeine Gebot der Wahrung von Treu und Glauben sowie der für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltende Grundsatz, dass die Vertragspartner des AGB-Verwenders nicht entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt werden dürfen. Diese Grenzen sollen nach dem Gesetzentwurf enger gesteckt werden. Insbesondere soll sich der Auftraggeber künftig nicht mehr darauf berufen können, dass er üblicherweise erst nach Ablauf sehr langer Zahlungs-, Abnahme- oder Überprüfungsfristen zahle. Dementsprechend sieht der Entwurf für die Vereinbarung bestimmter Fristen im Verkehr zwischen Unternehmen vor, dass Fristen, die eine bestimmte Länge überschreiten, nämlich 60 Tage bei Zahlungsfristen und 30 Tage bei Überprüfungs- und Abnahmefristen, ausdrücklich vereinbart werden müssen und dass diese Fristen für den Gläubiger der Entgeltforderung nicht grob nachteilig sein dürfen. Werden diese Anforderungen nicht erfüllt, ist die Vereinbarung unwirksam und die Leistung sofort bzw. bei einem Werkvertrag bei Abnahme zu bewirken. Bei Geschäften mit öffentlichen Unternehmen werden die Anforderungen noch verschärft: So gilt das Erfordernis der Ausdrücklichkeit bereits bei der Vereinbarung einer Zahlungsfrist von mehr als 30 Tagen. Außerdem wird die Vereinbarung von vornherein als unwirksam angesehen, wenn eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen vereinbart wird. Die im Entwurf vorgeschlagenen Regelungen lassen selbstverständlich das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen unberührt. Auch dann, wenn in den AGB Fristen vorgesehen sind, die mit denen im Entwurf genannten übereinstimmen, ist also nicht ausgeschlossen, dass die AGB im Streitfall als unwirksam anzusehen sind. Die im Entwurf vorgesehenen weiteren Änderungen, insbesondere die Anhebung des Verzugszinssatzes um 1 Prozentpunkt und die Einführung eines Anspruchs des Gläubigers auf eine Pauschale in Höhe von 40 Euro bei Verzug des Schuldners, dienen ebenfalls der Bekämpfung von Zahlungsverzug. Die Einführung des Anspruchs auf eine Pauschale trägt außerdem zu einer Entlastung der Gerichte bei. Denn hierdurch werden Streitigkeiten vor allem über geringe Kosten der Rechtsverfolgung, wie sie etwa durch die Einschaltung eines Inkassobüros entstehen, vermieden. Die EU-Richtlinie, die die Vorgaben für den vorliegenden Gesetzentwurf definiert, muss bis zum 16. März 2013 umgesetzt sein. Ich hoffe, dass spätestens zu diesem Zeitpunkt neue Regelungen gelten werden, die dazu beitragen, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen sowie zwischen Unternehmen und der öffentlichen Hand wieder mehr Fair Play Einzug hält und sich die Zahlungsmoral bessert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10491 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 37: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des gewerblichen Rechtsschutzes - Drucksache 17/10308 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Beim Deutschen Patent- und Markenamt gehen jährlich etwa 60 000 Anmeldungen für Patente ein. Deutschland ist nach wie vor das Land der Tüftler und Erfinder. Mit dem Gesetzentwurf wollen wir den Erfindergeist der Menschen in Deutschland stärken. Dies umfasst auch Verfahrensabläufe bei der Anmeldung von Patenten. Wir wollen zudem die Erfordernisse der Praxis und entsprechende Vorschläge aus der Wirtschaft aufnehmen. Im Einzelnen sieht der Gesetzentwurf vor, den Inhalt des Rechercheberichts zu erweitern. Dieser soll künftig neben der Feststellung der Neuheit einer Erfindung auch Angaben über die Patentfähigkeit der angemeldeten Erfindung, wie es bereits der Recherchebericht des Europäischen Patentamtes vorsieht, enthalten. Das Deutsche Patent- und Markenamt kann, um sich vor ausuferndem Arbeitsaufwand zu schützen, bereits im Rechercheverfahren den Mangel der Uneinheitlichkeit der angemeldeten Erfindung feststellen und den Inhalt des Rechercheberichts auf eine einheitliche Erfindung begrenzen. Weitere Erleichterungen soll es bei der Einreichung von englisch- und französischsprachigen Anmeldeunterlagen geben. Diese werden künftig erst bis zum Ablauf des zwölften Monats beim Deutschen Patent- und Markenamt eingereicht werden müssen. Die Verlängerung der Übersetzungsfrist bedeutet für den Anmelder, dass dieser nunmehr länger Bedenkzeit bekommen wird, ob er die derzeit hohen Kosten einer Übersetzung der Anmeldeunterlagen für die Weiterverfolgung des nationalen Anmeldeverfahrens aufbringen will. Künftig wird die Erteilung eines Patents ohne Benennung des Erfinders nicht mehr möglich sein. Hierdurch wird das Persönlichkeitsrecht des Erfinders gestärkt. Des Weiteren soll es künftig für die Beteiligten und Dritte möglich sein, die Akten von über 18 Monate zurückliegenden Patentanmeldungen und erteilten Patenten auch durch Zugriff über das Internet einzusehen. Mit diesen Änderungen tragen wir als christlich-liberale Koalition der Entwicklung im Zeitalter des Internets Rechnung. Patente werden somit zügiger und kostengünstiger angemeldet werden können. Die Transparenz wird gesteigert. Wir als Unionsfraktion stehen weiteren Verbesserungsvorschlägen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren offen gegenüber.

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Patente sind ein wichtiger Indikator für die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft. Die Zahlen sprechen für sich: Im vergangenen Jahr sind beim Deutschen Patent- und Markenamt, DPMA, fast 60 000 Patentanmeldungen eingegangen. Zusätzlich belegte Deutschland nach den Vereinigten Staaten und Japan 2011 mit circa 33 000 Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt, EPA, den dritten Platz und war damit Spitzenreiter in Europa. Patentrechtsnovellen müssen daher auch an ihren Auswirkungen auf den Innovationsstandort Deutschland gemessen werden. Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellierung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des gewerblichen Rechtsschutzes, mit dem die Bundesregierung auf geänderte Erfordernisse der Praxis und entsprechende Vorschläge für Innovationen aus der Wirtschaft reagieren will, enthält eine Reihe von Vorschlägen zur Optimierung der Effizienz des Verfahrens vor dem Deutschen Patent- und Markenamt, DPMA. Sie sollen die Verfahren effizienter und transparenter gestalten, Kosten und Bürokratieaufwand senken und den Stellenwert des deutschen Patents im Vergleich zum europäischen Patent wahren bzw. erhöhen. Im Einzelnen wird unter anderem vorgeschlagen, den Inhalt des Rechercheberichts zu erweitern und an vergleichbare Vorgaben des Europäischen Patentamtes, EPA, anzupassen. Der Anmeldetag soll künftig unabhängig von der Einreichung übersetzter Anmeldeunterlagen bestimmt werden. Die kostspielige Übersetzung englisch- und französischsprachiger Anmeldeunterlagen ist zukünftig erst bis zum Ablauf des zwölften Monats beim DPMA einzureichen. Ferner soll die derzeit geltende kurze Einspruchsfrist von drei Monaten auf neun Monate verlängert werden, um bei komplexen Patenten eine sorgfältig Prüfung zu ermöglichen. Schließlich ist auf Antrag des Anmelders im Erteilungsverfahren zwingend eine Anhörung durchzuführen, und die Erteilung eines Patents bedarf künftig grundsätzlich der Benennung des Erfinders. Diese und andere Änderungen klingen auf den ersten Blick vernünftig, und wir werden in den weiteren Ausschussberatungen klären, ob sie den Anforderungen der Praxis genügen oder ob darüber hinaus weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Verfahrensabläufe beim DPMA notwendig sind. Aus wirtschaftspolitischer Sicht müssen wir unsere Aufmerksamkeit aber auch auf den grenzüberschreitenden Patentschutz richten - in Europa und weltweit. Unser Ziel muss sein, ein möglichst einheitliches, überschaubares und kostengünstiges Schutzrechtssystem zu schaffen. Vor allem brauchen wir im Interesse der Integration des Binnenmarktes, der Verringerung der Kosten des Patentschutzes in Europa und der Verbesserung der Rechtssicherheit einen effektiven und kostengünstigen einheitlichen Patentschutz in der EU. Die Bilanz der Bundesregierung ist hier leider ernüchternd: Obwohl Deutschland das patentstärkste Land in Europa ist, ist es der Bundesregierung nicht gelungen, das Europäische Patentgericht nach München zu holen.

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem heute zu behandelnden Gesetzentwurf verspricht uns die Bundesregierung die nutzerfreundliche Verbesserung der Verfahren vor dem Deutschen Patentund Markenamt in Patentsachen. Sowohl für den einzelnen Anmelder als auch für das Patentamt soll das Verfahren effizienter und transparenter gestaltet werden. Versprochen werden Senkung der Kosten und des Bürokratieaufwands. Wer kann diesen Zielen und Vorhaben widersprechen, wenn sie auch so umgesetzt werden? Aus den Fachkreisen hört man Zustimmung. Die Patentanwaltskammer signalisiert vollinhaltliche Zustimmung und findet im Gesetzentwurf viele ihrer Anregungen wieder. Zu Recht macht die Patentanwaltskammer auf einige Schwächen aufmerksam, zum Beispiel auf die neu geschaffene Ermächtigung zur Datenübermittlung an das Europäische Patentamt. In der Tat ermöglicht der Wortlaut der Ermächtigung die unbegrenzte Übermittlung aller Daten, auch derjenigen des Anmelders, die zu den geheimhaltungsbedürftigen Daten gehören, wie etwa eingereichte ärztliche Atteste. Während von der vorgesehenen elektronischen Akteneinsicht durch die Öffentlichkeit diese privaten Teile herausgenommen werden können, dürfte das Europäische Patentamt den Zugriff auf alle Daten haben. Dies ist weder erforderlich noch zu rechtfertigen. Dies sollte im Laufe der anstehenden Beratungen korrigiert und der Standard des Datenschutzes respektiert werden. Zu Protokoll gegebene Reden Während der Gesetzentwurf die Effektivierung der Verfahrensabläufe vorsieht, bleiben Fragen grundsätzlicher Art außen vor und damit jedoch auf der Tagesordnung. Ich will aus Zeitgründen nur drei benennen: Erstens. Patente sollen Innovationen schützen und damit fördern. Werden diese jedoch nur aus markttaktischem Kalkül angemeldet, ohne dass eine wirtschaftliche Nutzung plausibel gemacht wird, dann droht die Gefahr, dass diese Innovationen verhindern. Es fehlen im bisherigen Patentrecht die Mittel, um den wettbewerbswidrigen Missbrauch des Patentwesens ordnungspolitisch zu unterbinden. Zweitens. Ist es noch vertretbar, dass wir die gleichen Patentlaufzeiten haben, obwohl sich der Zyklus der Produkterneuerung ständig verkürzt? Drittens. Mein Kollege Roland Claus hatte in der letzten Legislaturperiode im Januar 2009 eine deutlich stärkere personelle Ausstattung für das Patentamt angemahnt. Auch diese Forderung ist meines Erachtens noch akut, wenn wir dem von vielen beklagten Patentstau entgegenwirken wollen. Wenn man sich die Begründung des Gesetzentwurfes ansieht, so erwartet die Bundesregierung von der Einführung der elektronischen Akteneinsicht und anderen Gesetzesänderungen Einsparungen bei den Personalkosten. Es wäre sinnvoll, hierzu den Personalrat der Behörde zu hören; denn es wäre nicht das erste Mal, wenn die Einführung von automatisierten Prozessen zumindest in der Anfangsphase nicht mit weniger, sondern mit mehr Aufwand verbunden wäre. Jeder, der in der Praxis solche Umstellungen erlebt hat, weiß, wovon ich rede. Ein Unbekannter hinterließ uns zu dem Thema folgende Botschaft: „Für das große Chaos haben wir Computer. Die übrigen Fehler machen wir von Hand.“ Für die bessere personelle Ausstattung bedarf es eines Gesetzes nicht, sondern entsprechende Beschlüsse im laufenden Haushaltsplanverfahren. Hier ist die Regierungskoalition am Zug. Hic Rhodus, hic salta!

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als Apple kürzlich in einem von zahlreichen Patent- streitigkeiten um mögliche Nachahmungen seiner iPhone-Technik vor einem US-Gericht einen überwälti- genden Sieg erzielte, da wurde sehr genau reflektiert, welche Folgen der mittlerweile voll eskalierte Patent- krieg zwischen den Großunternehmen, in diesem Fall der Softwarebranche, für die Gesellschaft nach sich ziehen könnte. Es erscheint nicht abwegig, dass die spektakulären Verfahren und die mit stattgebenden Urteilen einhergehenden hohen Schadensersatzsummen und Unterlassungsansprüche im Ergebnis massiv inno- vationshindernde Folgen nach sich ziehen können. Wenn eben ein Markt und die Neueinführung eines Produktes patentrechtlich einem Minenfeld gleicht, sinkt die Be- geisterung, alle Ressourcen daran zu setzen, Platzhir- sche infrage zu stellen, Marktführer durch Innovationen anzugreifen und dabei ganz nebenbei ein dynamisches wirtschaftliches Umfeld zu erzeugen, auf das die Politik mit Argusaugen schauen müsste. Aber auch die Verbraucherinnnen und Verbraucher könnten am Ende diejenigen sein, die den Preis dieses Patentkrieges zahlen. Denn in dem Maße, wie das Patentrecht sich einer weiten Patentierbarkeit öffnet, wie etwa im Fall der Softwarepatente, führen die „Monopole auf Zeit“ zu einer vom Preiskampf im Wett- bewerb temporär abgekoppelten Entwicklung. Natürlich erscheinen diese Thesen angesichts des bereits seit vielen Jahren andauernden Patentkrieges auf den unterschiedlichsten Märkten zugespitzt. Genau- ere Untersuchungen zu den Folgen liegen nicht vor, und es erscheint ebenso realistisch, dass sich so hochinnova- tive und besonders kapitalstarke Branchen wie etwa der IT-Sektor von rechtlichen Rahmenbedingungen wie dem Patentrecht allenfalls am Rande, also gewissermaßen als ein Nebenkriegsschauplatz, betroffen sehen. Dank des hohen Wettbewerbes auch in diesem Bereich sorgt der hohe Innovationsdruck auch für laufenden Preisdruck, sodass die Verbraucherinnen und Verbraucher bei den Preisen zumeist nicht das Nachsehen haben. Gleichwohl: Das Diktum vom Patentrecht als bloßem Anreizsystem für die allgemeine technische Fortentwick- lung wirkt vor dem Hintergrund der beschriebenen Realitäten des Patentrechts in den Gerichtssälen etwas altbacken, und auch der Gesetzgeber muss hier laufend überprüfen, ob etwas aus dem Ruder läuft. Besonderen Anlass dazu bietet der Streit um Patente auf Leben ebenso wie die weiter ausufernde Realität der Softwarepatente, gegen die sich die freie Softwarebewe- gung mit guten Argumenten zur Wehr setzt. Zudem wäre es politisch naiv, Wachstum und Erfolg einer Wirtschaft allein am zahlenmäßigen Output von Patenten zu be- messen, wenn nicht sichergestellt ist, dass es sich dabei um ein sorgfältiges und vor allem gerechtes System der Erteilung handelt. Die Bundesregierung hat sich in dieser Situation lediglich damit begnügt, im nationalen Rahmen eine Reform für einzelne Verfahrensverbesserungen in allen Sparten des Immaterialgüterrechts vorzulegen. Sie dürfte sich damit weitgehend auf sicherem Grund bewe- gen. Der Entwurf hat denn auch überwiegend Zustim- mung seitens der beteiligten Verbände erfahren. Es geht um den in der Sache anerkennenswerten Anspruch, Erteilungsverfahren zu vereinfachen, Anmelder zu ent- lasten und Anpassungen an die beim Europäischen Patentamt vorgegebenen Verfahrensabläufe vorzuneh- men. Einen sachgerechten Fortschritt bedeutet die Mög- lichkeit des Erreichens des Anmeldetages und der damit verbundenen Rechtsfolgen bei fremdsprachigen Paten- ten unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen der Über- setzung, ferner auch die Erstreckung der Recherche nach § 43 auf den „Stand der Technik“, weil und soweit damit eine verbesserte Recherchequalität spätere dys- funktionale Streitigkeiten vermieden werden können. Als grundsätzlich besonders positiv hervorheben möchte ich auch sowohl die nutzerfreundliche und der Zu Protokoll gegebene Reden Allgemeinheit dienende Klarstellung hinsichtlich der Akteneinsichtsrechte in die elektronische Schutzrechts- akte, die seit Mitte 2011 beim DPMA geführt wird, als auch die Möglichkeit der Weitergabe von Patentinfor- mationen über die eigenen Publikationen hinaus. Dabei wurde zwar die gebotene Abwägung mit möglichen gegenläufigen Datenschutzrechten vorgenommen, zwei- felhaft erscheint allerdings die Schwelle des „offensicht- lichen Überwiegens schutzwürdiger Interessen“. Ich teile ferner die meines Erachtens schlüssige Kritik der Patentanwaltskammer vom 2. März 2012 hin- sichtlich Art. 7 des Gesetzentwurfs. Die darin vorgese- hene Übermittlungsbefugnis an das Europäische Patent- amt wurde zwar entsprechend überarbeitet, sieht gleichwohl nach wie vor mit der Schwelle „offensichtli- chen Überwiegens“ eine unnötig hohe Schwelle für das Eingreifen einer sorgfältigen inhaltlichen Prüfung vor.

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Mit dem Ihnen vorgelegten Gesetz zur Novellierung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des gewerblichen Rechtsschutzes verfolgt die Bundesregie- rung drei Ziele: Erstens wollen wir die Verfahrensabläufe bei der Er- teilung von Patenten beim Deutschen Patent- und Mar- kenamt nutzerfreundlicher ausgestalten. Zweitens wollen wir den bürokratischen Aufwand so- wie die Kosten bei den Anmeldern und beim Patentamt senken. Drittens geht es uns darum, angesichts der bevorste- henden Umgestaltung der Patentlandschaft in Europa durch das EU-Patent die Bedeutung des deutschen Pa- tents und des deutschen Patentamtes zu stärken. Dieses Gesetz bildet einen weiteren Baustein auf dem Weg zu einem effizienten, anwenderfreundlichen und konkurrenzfähigen deutschen Patentsystem. Vor drei Jahren ist die letzte größere Novelle in Kraft getreten: Mit dem Patentrechtsmodernisierungsgesetz von 2009 ist es gelungen, die Verfahren vor den Patentgerichten effektiver auszugestalten und eine ausufernde Beru- fungspraxis einzudämmen. Bei dem vorgelegten Entwurf liegt der Fokus auf der Optimierung des Erteilungsver- fahrens. Für die deutsche Wirtschaft ist ein funktionierendes Patentsystem von lebenswichtiger Bedeutung. Die deut- schen Unternehmen haben, was die Zahl der techni- schen Erfindungen angeht, im europäischen Vergleich eine Ausnahmestellung. Dazu nur eine Zahl: Etwa 40 Prozent aller vom Europäischen Patentamt an An- melder aus Europa erteilten europäischen Patente ge- hen nach Deutschland. Doch auch das deutsche Patent erfreut sich unverän- dert großer Beliebtheit. Vielen Unternehmen, insbeson- dere Mittelständlern, genügt es, ihre Erfindung nur im Inland schützen zu lassen. Im vergangenen Jahr wurden ungefähr 60 000 Patente angemeldet und knapp 14 000 erteilt. Die Bundesrepublik ist unangefochten Innovations- standort Nummer eins in Europa. Diese Spitzenposition wollen wir erhalten. Dazu müssen wir das Patentrecht an veränderte Gegebenheiten anpassen. Dies gilt für neue technische Entwicklungen ebenso wie für Änderun- gen im Verhalten der Anmelder. Dazu greife ich aus der vorliegenden Novelle drei Kernpunkte heraus: Erstens. Die Einsicht in die Anmeldeunterlagen soll künftig online über das Internet möglich sein. Bisher musste man für die Akteneinsicht die umständliche Me- thode anwenden, nach München zum Patentamt zu fah- ren oder sich Kopien per Fax oder Post schicken zu las- sen. Patentanwälte und Patentabteilungen von Unter- nehmen haben 18 Monate nach der Anmeldung einen Anspruch darauf, zu erfahren, welche technischen Erfin- dungen sich im Erteilungsverfahren befinden. Dann ken- nen sie den Stand der Technik; dann können sie ihre ei- genen Entwicklungsaktivitäten darauf abstimmen und alternative technische Lösungsansätze suchen. Es ist zeitgemäß und entspricht der Arbeitsweise der Nutzer des Patentsystems, dass der Informationsfluss über das Internet eröffnet wird. Mit dieser Neuregelung kommen wir dem einhelligen Wunsch der Patentpraxis nach unkomplizierter und ak- tueller Bereitstellung von Patentinformationen nach. Gleichzeitig stärken wir damit die Servicequalität des DPMA erheblich. Dass Datenschutzbelange und Urhe- berrechte bei der Onlineakteneinsicht gewährleistet sein müssen, schreibt der Gesetzentwurf ausdrücklich vor. Zweitens. Das Stichwort Servicequalität gilt auch für die Privilegierung von Patentanmeldungen in engli- scher und französischer Sprache. Viele Erfinder melden zunächst beim DPMA an, um sich dort nach neun oder zehn Monaten einen ersten Bescheid abzuholen. Aus die- sem Recherchebericht erfahren sie nach derzeitigem Recht den relevanten Stand der Technik. Fällt dieser Be- richt ermutigend aus, verfolgen die Antragsteller an- schließend den Erwerb ihres Schutzrechts beim Europäi- schen Patentamt in anderer Sprache, zumeist Englisch, weiter. Derzeit müssen alle Unterlagen schon drei Monate nach der Anmeldung in deutscher Sprache vorliegen. Unsere Novellierung sieht eine Verlängerung dieser Frist für englische und französische Anmeldungen auf zwölf Monate vor. Damit wollen wir erreichen, dass in- ternationale Anmelder ihre für die Nachanmeldung beim EPA vorgesehenen fremdsprachigen Papiere erst dann ins Deutsche übersetzen müssen, wenn sie sich ent- schließen, ihr Erteilungsverfahren beim deutschen Pa- tentamt fortzusetzen. Damit wird es attraktiver, das An- gebot des DPMA zu nutzen. Und damit wird das DPMA gegenüber dem Europäischen Patentamt konkurrenzfä- higer. Drittens. Verbesserung der Servicequalität ist auch die Überschrift für die inhaltliche Aufwertung des so- eben angesprochenen Rechercheberichts. Bisher führt er nur diejenigen Druckschriften auf, die für die Beurtei- lung der Patentierbarkeit von Bedeutung sein könnten. Zu Protokoll gegebene Reden Die Recherche soll künftig der Praxis auf internationa- ler Ebene angeglichen und deshalb erweitert werden um eine erste, vorläufige Einschätzung der Patentierungs- voraussetzungen Neuheit und erfinderische Tätigkeit. Der Anmelder hat dann schon wenige Monate nach der Antragstellung eine vorläufige Bewertung seiner Er- teilungschancen in der Hand. Sind diese gering, kann er aus dem Verfahren aussteigen und weitere Kosten ver- meiden. Die vorliegende Novellierung konzentriert sich auf die Straffung und Entbürokratisierung von Verfah- rensabläufen bei den Unternehmen ebenso wie beim Pa- tentamt. Als weitere Stichworte nenne ich noch die Ver- einfachung des elektronischen Rechtsverkehrs und die leichtere Zulassung der Öffentlichkeit bei Einspruchs- verfahren gegen erteilte Patente. Alle diese Rechtsänderungen scheinen aus der Sicht des Patentlaien nur vergleichsweise geringfügige tech- nische Korrekturen vorzusehen. Doch kann ich Ihnen versichern, dass sie für die Patentpraxis ebenso wie für das DPMA und damit für den Innovationsstandort Deutschland von großer Bedeutung sind. Die Novelle greift Anliegen aus der innovativen Wirtschaft auf, die in den letzten Jahren immer nachdrücklicher vorgetragen wurden. Der Gesetzentwurf übernimmt gleichzeitig eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen aus dem DPMA. Dabei ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht entschei- dend, dass diese Vorschläge erfüllt werden können, ohne die Qualität der Patentprüfung zu beeinträchtigen oder die Erteilungsfristen zu verlängern. Ich bitte Sie daher, im weiteren Verfahren dem Patent- novellierungsgesetz Ihre Zustimmung zu geben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/10308 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es offen- sichtlich nicht. Dann haben wir die Überweisung so be- schlossen. Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 c: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- lung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen - Drucksachen 17/10747, 17/10799 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern - Drucksache 17/10784 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären Vorsorge und Rehabilitation - Drucksache 17/3746 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1}) - Drucksache 17/10207 Berichterstattung: Abgeordneter Hilde Mattheis Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll genommen.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus im August 2009 haben Menschen mit Behinderungen, die nach dem SGB XII ihre Pflege durch besondere Pflegekräfte nach dem sogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, einen Anspruch auf Mitnahme dieser Pflegekraft ins Krankenhaus und auf Fortzahlung von Pflegegeld und Hilfe zur Pflege während des gesamten Krankenhausaufenthaltes. Damit wurde eine wichtige Verbesserung erreicht. Zuvor gab es weder einen Anspruch auf Mitnahme der Pflegekräfte noch auf Weiterzahlung der Leistungen während des Krankenhausaufenthaltes. Oftmals sind nur diese Assistenzkräfte in der Lage, entsprechend den spezifischen Bedürfnissen diese Patientinnen und Patienten zu pflegen und das ärztliche und pflegerische Personal über die individuellen Bedarfe zu informieren. Die Kontinuität in der Begleitung und Assistenz ist für das Wohlbefinden und den Genesungsprozess wichtig. Seit nunmehr über drei Jahren ist das Gesetz in Kraft. Die Probleme der ersten Zeit nach seinem Inkrafttreten sind dank besserer Aufklärung über die neuen Rechte aufseiten der Krankenhäuser, der Krankenkassen und der Menschen mit Behinderungen größtenteils überwunden. Auch die Finanzierung funktioniert zwischenzeitlich geräuschlos und wird sowohl von den Krankenhäusern als auch von den Trägern der Grundsicherung als unproblematisch geschildert. Im Jahr 2009 waren es nach der Sozialhilfestatistik 685 Personen, die diese Hilfe zur Pflege in Anspruch genommen haben. Für die Weiterzahlung des Pflegegeldes während des Krankenhausaufenthaltes fielen damit rund 70 000 Euro jährlich an. Das ist ein marginaler Kostenfaktor. Die Leistung ist aber eine erhebliche Erleichterung im Alltag der Betroffenen. Aus der praktischen Anwendung des Gesetzes zeigt sich in einem Punkt Änderungsbedarf. Es ist notwendig und sinnvoll, die Ausweitung des Anspruchs auf Assistenzpflege im Arbeitgebermodell auf Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen vorzunehmen. Hier steht nicht nur das Patientenwohl im Vordergrund. Es ist auch Fakt, dass die Pflegepersonen während der Zeit des KrankenMaria Michalk haus- und Rehabilitationsaufenthaltes keine alternativen Beschäftigungsverhältnisse eingehen können. So entstehen Lücken in der Erwerbsbiographie und ein erheblicher Verwaltungsaufwand für relativ kurze Zeiträume. Wir haben im letzten Jahr im Ausschuss für Gesundheit mit Vertretern der Bundesärztekammer, der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, dem GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Heilbäderverband ein Expertengespräch durchgeführt, in dem sich die Erkenntnis verfestigte, dass es sinnvoll ist, die bestehenden Assistenzpflegeregelungen auf Reha- und Vorsorgeeinrichtungen auszuweiten. Ich freue mich, dass wir heute in erster Lesung den Entwurf eines entsprechenden Gesetzes vor uns haben und den betroffenen Menschen eine Verbesserung in Aussicht stellen können. Menschen mit Behinderungen soll die Nutzung einer Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahme nicht mehr unnötig erschwert werden. Aus Beispielen wissen wir, dass immer wieder auf die stationäre Reha verzichtet wurde. Das wird sich ändern. Es ist nach Beschlussfassung über das Gesetz eine echte Wahlfreiheit gegeben. Wir möchten, dass das Pflegegeld aus der Pflegeversicherung sowie die Hilfe zur Pflege durch die Sozialhilfe für die gesamte Dauer des Vorsorge- und Rehabilitationsaufenthaltes weitergezahlt werden, weil wir den spezifischen Bedarf an Assistenz anerkennen. Diese Regelungen erstrecken sich auch auf den Bereich der Hilfe zur Pflege der Kriegsopferfürsorge. Wir wollen, dass das zum 1. Januar 2013 gilt. Die Mehrkosten durch die im Gesetzentwurf vorgesehene Leistungsausweitung sind in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung, der Sozialhilfe und der Kriegsopferfürsorge eher gering. Der Vollständigkeit halber möchte ich noch einmal darauf verweisen, dass darüber hinaus die Mitnahme einer Pflegeperson nach § 11 Abs. 3 SGB V grundsätzlich möglich ist, wenn es nach dem Erfordernis des Einzelfalls medizinisch geboten und erforderlich ist. Das heißt, dass in begründeten Fällen in der Praxis Menschen mit Behinderungen außerhalb des Arbeitgebermodells ihre vertraute Assistenzperson in die Einrichtung mitnehmen können. Dieser Gesetzentwurf steht ganz im Duktus der UNBehindertenrechtskonvention. Wir setzen unsere Bestrebungen fort, eine umfassende Verwirklichung der Rechte für Menschen mit Behinderungen im praktischen Alltag zu erreichen. Ich denke, dass diese sehr sinnvolle Maßnahme geeignet ist, dass diesem Gesetzentwurf fraktionsübergreifend zugestimmt wird.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

2009 haben wir unter der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs den ersten Schritt getan, um Menschen mit Behinderungen die Begleitung einer Assistenzperson während eines Krankenhausaufenthalts zu ermöglichen. Zuvor gab es keinen gesetzlich verankerten Anspruch auf die Finanzierung einer Assistenzpflegekraft für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung während der Dauer der Krankenhausbehandlung. Dadurch haben Menschen mit einem hohen Hilfebedarf Krankenhausaufenthalte vermieden oder auf aufwendige Untersuchungen verzichtet. Ein solcher Zustand war natürlich nicht länger hinnehmbar. Vor Inkrafttreten unseres Gesetzes war die Finanzierung der Assistenzpflegekräfte nicht geklärt, was in der alltäglichen Praxis für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen ein großes Problem darstellte. Dieses Problem ist mit dem Gesetz von 2009 behoben worden. Die Assistenz von pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung umfasst die speziell wegen einer Behinderung notwendige und individuelle pflegerische Betreuung, Hilfestellung und Assistenz. Hiervon ist ein eng begrenzter Kreis von Personen betroffen, die aufgrund ihrer Behinderung für die Verrichtungen im Alltag auf Dauer Hilfe bedürfen und dafür auf diese besonderen Pflegefachkräfte angewiesen sind. Die stationäre Krankenhausversorgung umfasst nach § 39 Abs. 1 Satz 3 SGB V alle Leistungen, die „für die medizinische Versorgung der Versicherten im Krankenhaus notwendig sind“. Hierzu gehört auch die nach einer medizinischen Behandlung erforderliche Krankenpflege. Die notwendige spezifische pflegerische Versorgung von Menschen mit Behinderung geht jedoch hinsichtlich ihrer Art und des Umfangs über die für die stationäre Behandlung einer Krankheit erforderliche Krankenpflege hinaus. Deswegen bestand vor unserem Gesetz im Jahr 2009 nach § 39 Abs. 1 SGB V keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Übernahme der Kosten der persönlichen Assistenz. Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs der Großen Koalition von 2009 wurde deshalb § 11 Abs. 3 SGB V eingeführt. Mit dieser Ergänzung im SGB V wurde für die stationäre Behandlung von Menschen mit Behinderung die Mitaufnahme von Pflegekräften ermöglicht. Bereits 2009 haben wir als SPD-Fraktion die Position vertreten, dass unser Gesetz nur als eine erste Stufe zu verstehen ist und dass in der kommenden Wahlperiode eine umfassende Lösung gefunden werden müsse. Es ist daher folgerichtig, dass der gesetzliche Anspruch, den wir 2009 für den Bereich der Versorgung im Krankenhaus verankert haben, nun auf Einrichtungen der stationären Versorge- und Rehabilitation ausgeweitet wird. Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf erhalten dadurch die Möglichkeit, Angebote in Einrichtungen der Vorsorge und Rehabilitation wahrzunehmen. Gerade für Menschen mit besonderem Assistenzbedarf ist diese Ausweitung enorm wichtig. Die Versorgung von Menschen mit Behinderung darf nicht auf stationäre Krankenhäuser beschränkt bleiben. Nur durch die Möglichkeit, ihre Assistenzkräfte mitzunehmen, ist es Menschen Zu Protokoll gegebene Reden mit Behinderung möglich, Einrichtungen der Rehabilitation und Vorsorge zu besuchen. Das nun vorliegende Gesetz der Bundesregierung ist somit eine große Erleichterung für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen. Ihre gesundheitliche Versorgung wird wesentlich verbessert. Unverständlich ist allerdings, warum die Bundesregierung hier nicht die Chance ergreift, es allen pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, Assistentinnen und Assistenten bei Aufenthalten im Krankenhaus oder in Einrichtungen der Vorsorge oder der Rehabilitation mitzunehmen. Das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung sieht nur für diejenigen Menschen mit Behinderung eine Finanzierung der Assistenzpflegekraft vor, die ihre Assistenzkräfte nach dem sogenannten Arbeitgebermodell selbst beschäftigen. Menschen mit Behinderungen, die ihre Assistentinnen oder Assistenten nicht über das „Arbeitgebermodell“, sondern über ambulante Dienste oder andere Einrichtungen sicherstellen, erhalten mit diesem Gesetz, so wie es jetzt in der Fassung der ersten Lesung vorliegt, keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzpflegekraft für die Dauer des Aufenthalts im Krankenhaus oder in einer Einrichtung der Rehabilitation und Vorsorge. Diese Einschränkung des Personenkreises ist nicht nachvollziehbar. Alle Menschen mit Behinderung, die Unterstützung bei einem Aufenthalt im Krankenhaus oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung benötigen, sollen diese auch bekommen. Dies ist unabhängig davon, auf welche Art und Weise ihre Assistenzkräfte beschäftigt sind. Ohne die Sicherstellung der Betreuung und Pflege durch Assistenzkräfte kann der Aufenthalt im Krankenhaus oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung für Menschen mit Behinderung nicht bewerkstelligt werden. Zudem erzeugt diese Beschränkung auf den Personenkreis eine Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung. Eine solche Ungleichbehandlung ist nicht vertretbar. Wenn medizinische Eingriffe bei Menschen mit Behinderung in einer fremden Umgebung ohne Unterstützung der vertrauten Assistenzperson durchgeführt werden, kann das auf Menschen mit Behinderung extrem beängstigend wirken. Die Kommunikation mit den Ärztinnen und Ärzten kann sich schwierig gestalten oder findet unter Umständen gar nicht erst statt. Die Folge kann sein, dass es bei Menschen mit diesem hohen Unterstützungsbedarf zu Fehldiagnosen kommt, weil Diagnosen aufgrund einer fehlenden oder falschen Kommunikation fehlerhaft gestellt werden. Es besteht auch die Gefahr, dass Therapien nicht korrekt verordnet werden oder die Verordnung von Therapien sogar ausbleibt und Versorgungsmängel auftreten. Wir befinden uns erst in der ersten Lesung des Gesetzes über die Assistenzpflege. Der Gesetzentwurf wird noch einmal intensiv in den Ausschüssen beraten. Ich glaube, dass wir an dieser Stelle nacharbeiten und dafür sorgen müssen, dass alle Menschen mit Behinderung den gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzkraft erhalten. Ich denke, wir sollten diesen Gesetzentwurf noch verbessern und allen Menschen mit Behinderung ermöglichen, ins Krankenhaus und auch in Einrichtungen der Vorsorge und Rehabilitation notwendige Assistenzpflegekräfte mitzunehmen. Wir sollten die Chance hier nicht vertun, wesentliche Verbesserungen für alle Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung umzusetzen.

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung haben oftmals einen Hilfebedarf, der über die reine medizinische Versorgung hinausgeht, und bedürfen einer besonderen Unterstützung. Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 wurde ein erster Schritt getan, um diesem besonderen Bedarf gerecht zu werden. Dadurch wurde es pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung, die ihre Assistenzleistungen nach dem sogenannten Arbeitgebermodell erhalten, ermöglicht, bei stationärer Behandlung im Krankenhaus ihre persönliche Assistenzpflegeperson mitzunehmen. Damit wurde die kontinuierliche Spezialpflege auch bei einem Krankenhausaufenthalt gesichert. Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, über das wir hier heute abstimmen, gehen wir heute den zweiten Schritt, indem diese Regelung in Zukunft auch in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen gelten wird. Damit werden wir die Versorgungslücke schließen und das bestehende Recht konsequent erweitern. Dies ist eine große Verbesserung für behinderte Menschen mit Pflegebedarf. Sie können nun in Zukunft - analog zu der Regelung für einen Krankenhausaufenthalt - ihre persönliche Assistenzpflegeperson in die Pflege-Einrichtung mitnehmen und erhalten auch weiterhin über die gesamte Dauer das Krankengeld und die Hilfe zur Pflege durch die Sozialhilfe. Dadurch stellen wir sicher, dass das Arbeitsverhältnis zur vertrauten Pflegeperson nicht unterbrochen werden muss. Dieses Gesetz ist eine wichtige Verbesserung für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung und ich würde mich freuen, wenn es in diesem Haus eine breite Mehrheit finden würde.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gestern erhielt Andreas Vega in Berlin den ElkeBartz-Preis 2012. In einer Feierstunde im Kleisthaus, dem Dienstsitz des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, wurde der Münchener Rollstuhlaktivist mit dem vom Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, ForseA, verliehenen Preis geehrt. Der Bundesverband hat zum dritten Mal mit dieser Auszeichnung an seine vor vier Jahren verstorbene Gründungsvorsitzende erinnert. Auch wenn ich bei der Preisverleihung persönlich dabei Zu Protokoll gegebene Reden war, möchte ich auf diesem Wege dir, lieber Andreas, im Namen der Bundestagsfraktion Die Linke sehr herzlich zu dieser Auszeichnung gratulieren. Was aber hat der Elke-Bartz-Preis mit dem heutigen Thema zu tun? Auf der REHACARE in Düsseldorf am 19. Oktober 2006 lud ForseA zu einer Podiumsdiskussion ein. Das war der offizielle Auftakt zu der Kampagne: „Ich muss ins Krankenhaus … und nun?“ Zu Beginn stellte Moderatorin Elke Bartz die Kampagne und ihre Hintergründe sowie die Zielsetzung vor. Dabei betonte sie, dass nicht nur körperbehinderte, Assistenz nehmende Menschen bei Krankenhausaufenthalten wegen ihres behinderungsbedingten Hilfebedarfes Probleme haben können. Auch auf die Bedürfnisse von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz oder sinnesbehinderten Menschen sind die meisten Krankenhäuser nicht eingestellt. Zahllose Beispiele von Unterversorgungen bei und teils dramatischen Folgen nach Krankenhausaufenthalten hätten den Anstoß für die Durchführung der Kampagne gegeben. Podiumsgast Ilona Brandt schilderte ein Ereignis, mit dem sie vor einiger Zeit konfrontiert wurde. Ein schwerstbehinderte Freundin musste mit einer Atemwegserkrankung ins Krankenhaus. Ihre Assistenten durfte sie nicht mitnehmen. Im Krankenhaus war man nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt. Sie war zu schwach, um zu rufen, wenn sie abhusten musste. Die Klingel konnte sie ebenfalls nicht bedienen. Ilona Brandt wollte sich am folgenden Tag mit dem Sozialhilfeträger wegen der Kostenübernahme für die Assistenten im Krankenhaus in Verbindung setzen. Doch da war es bereits zu spät: Die Freundin verstarb noch in der Nacht, erstickt am eigenen Schleim. Helmut Budroni, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Witten-Herdecke bestätigte, dass behinderte Menschen in Krankenhäusern oft unterversorgt sind. Die Infrastruktur allein wird in vielen Krankenhäusern nicht den Bedürfnissen behinderter Menschen gerecht. Hinzu kommen mangelnde Kenntnisse über viele Behinderungsarten. Diese und weitere Informationen zur Kampagne des Behindertenverbandes können Sie übrigens nachlesen auf der Internetseite www.forsea.de. Es dauerte drei Jahre, bis 2009 das „Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus“ im Bundestag verabschiedet wurde. Mit dem Gesetz erhielten Menschen, die ihre Assistenz durch von ihnen beschäftigte besondere Kräfte nach den Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, SGB XII, im sogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Möglichkeit, ihre besonderen pflegerischen und persönlichen Assistenzbedarfe bei stationärer Krankenhausbehandlung zu sichern. Das so mühsam erkämpfte Gesetzchen war aber von Beginn an mit zwei wesentlichen - allen Fraktionen bekannten - Mängeln behaftet. Zum einen gilt die Regelung nur für das „Arbeitgebermodell“. Zum Zweiten gilt sie nicht während eines Aufenthalts in einer stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung sowie in Hospizen. Ein diesbezüglicher Änderungsantrag der Fraktion Die Linke wurde - nachlesbar in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit, Bundestagsdrucksache 16/13417 - mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD abgelehnt. Die Fraktion der FDP enthielt sich mit der Begründung, die Beschränkung auf Personen mit Pflegeassistenz im Arbeitgebermodell führe zu einer Ungleichbehandlung. Ein Jahr danach, am 11. November 2010, schlug die Fraktion Die Linke mit einem Gesetzentwurf - Bundestagsdrucksache 17/3746 - vor, zunächst wenigstens den Assistenzanspruch für den leistungsberechtigten Personenkreis auch auf den Bereich der Vorsorge und Rehabilitation auszuweiten, also einen der bekannten Mängel zu beseitigen. Dass dies notwendig und machbar ist, wurde auch in zahlreichen Petitionen an den Deutschen Bundestag sowie bei dem Expertengespräch des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 23. März 2011 deutlich. Was nützt zum Beispiel eine Krebs- oder Herzoperation, wenn die danach obligatorische Kur in einer Rehaklinik aufgrund der Behinderung, welche nichts mit der akuten Krankheitsbehandlung zu tun hat, wegen der ungeklärten Assistenzfrage oder fehlender Barrierefreiheit nicht stattfinden kann? Heute, zwei Jahre danach, steht dieser Gesetzentwurf zur Abstimmung. Die CDU/CSU-FDP-Koalition will diesen Gesetzentwurf ablehnen. Die Begründung ist in der zur Abstimmung stehenden Beschlussempfehlung - Bundestagsdrucksache 17/10207 - nachlesbar: „Auch die Koalitionsfraktionen hätten das in dem vorliegenden Gesetzentwurf thematisierte Problem seit langem erkannt und daher ein eigenes Gesetzvorhaben auf den Weg gebracht. ... Insofern seien die in dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke enthaltenen Regelungsvorschläge bereits gegenstandslos geworden.“ Ja, es gibt inzwischen einen fast wortgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ihn beraten wir heute in erster Lesung, und es ist nicht geplant, diesen Gesetzentwurf sofort abzustimmen. Der Gesetzentwurf geht nun zur Beratung in die Ausschüsse, und wann er dann im Bundestag abgestimmt wird, ist noch offen. Es kann dauern; schließlich geht es hier nicht um milliardenschwere Rettungspakete für Banken, sondern nur um einen Betrag unter 1 Million Euro für ein paar Behinderte, die seit Jahren nicht zur für die Gesundheit notwendigen Kur fahren können, weil das Assistenzproblem nicht gelöst ist. Bleibt mir also nur die Hoffnung, dass die Zusagen aus Kreisen der Koalition, dass das Gesetz noch in diesem Jahr kommt, auch erfüllt werden. Leider enthält der Gesetzentwurf keinen Vorschlag, den zweiten, seit 2009 bestehenden, Mangel und die damit verbundene Ungleichbehandlung bei den Assistenzregelungen zu beseitigen. Natürlich gibt es Beispiele - ähnlich wie beim Aufenthalt von Kindern in stationären Einrichtungen -, dass Assistenzkräfte dabeibleiben können und auch ihre Unterkunft und Versorgung gewährleistet wird. Es ist aber nicht geregelt. Deswegen fordert die Linke - auch mit Blick auf Art. 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention mit einem weiteren Antrag „Assistenzpflege bedarfsgeZu Protokoll gegebene Reden recht sichern“ die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem für pflegebedürftige Menschen und/oder Menschen mit Behinderungen während eines stationären Aufenthalts im Krankenhaus und in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen der Assistenzpflegebedarf auch dann sichergestellt wird, wenn die für sie in der Regel tätigen Pflegekräfte nicht nach dem sogenannten Arbeitgebermodell beschäftigt sind. Vor sechs Jahren begann die Kampagne „Ich muss ins Krankenhaus ... und nun?“ Was diesbezüglich heute im Bundestag dazu geschieht, ist schlechte Realsatire. Wir werden also, auch im Sinne von Elke Bartz, weiterkämpfen müssen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Juni 2009 hatte der FDP-Kollege Dr. Erwin Lotter in seiner Rede zum Assistenzpflegebedarfsgesetz bereits vorhergesagt, dass sich die folgende Regierung wohl erneut mit den noch ungeklärten Fragen des Gesetzes befassen müsste. Seine damalige Kritik lautete, dass die Große Koalition mit der Gesetzesvorlage weit entfernt sei von einer umfassenden und vernünftigen Lösung. Nun sind die FDP und der Abgeordnete Lotter selbst ein Teil der Regierung, und es scheint, dass er die damals vorgebrachte Kritik gänzlich vergessen hat. Die uns vorliegende Anspruchserweiterung der Assistenzpflege auf Reha- und Vorsorgeeinrichtungen nimmt an keiner Stelle die damals von der FDP monierten Punkte auf. Der Regierungsantritt kostete wohl einen Teil des Gedächtnisses der FDP. Menschen mit einer Behinderung, die eine Assistenzpflegekraft beschäftigen und als Arbeitgeber für diese fungieren, sollen zukünftig einen Anspruch haben, in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen darauf zurückgreifen zu können und die Refinanzierung gesichert zu wissen. Das ist gut so, zumal das bisherige Gesetz nur für das Versorgungsgeschehen bei einem Krankenhausaufenthalt von auf Assistenz angewiesenen Personen gilt. Schwarz-Gelb aber führt einen Geburtsfehler des Assistenzpflegebedarfsgesetz, APBG, fort: Die Erweiterung auf den Reha- und Vorsorgebereich ignoriert den Kern des Problems, ist nicht systemkonform und schließt viele auf Hilfe angewiesene Menschen aus. Das ist unverständlich in Anbetracht des sich verändernden Versorgungsbedarfs einer älter werdenden Gesellschaft, in der immer mehr Menschen auf Hilfe, Unterstützung und Begleitung angewiesen sind. Die Begrenzung im APBG auf diese kleine Gruppe von Menschen mit Behinderung im Arbeitgebermodell diskriminiert die weitaus größere Gruppe von pflegebedürftigen Menschen, die nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch ebenfalls als behindert gelten. Es werden auch all diejenigen ausgeschlossen, die ihre Assistenz über einen Pflegedienst erhalten. Das ist diskriminierend und ein Systembruch, da das Anstellungsverhältnis der Assistenz darüber entscheidet, ob ein gesetzlicher Anspruch besteht oder nicht. Die Begründung des Bundesgesundheitsministeriums, mit der Gesetzesnovellierung der besonderen Situation behinderter, pflegebedürftiger Menschen Rechnung zu tragen, verkennt die Realitäten. Wie wir aus Studien und aus Berichten von pflegenden Angehörigen, aber auch Pflegekräften wissen, führt bei Menschen mit einer Demenzerkrankung der Krankenhausaufenthalt häufig zu einer Destabilisierung ihres Allgemeinzustands. Sie erleben dort eine ungewohnte Umgebung, haben keine Person, die ihnen Halt gibt, noch als Ansprechpartner fungiert oder über ihre Biografie, ihre Art der Kommunikation, ihre Gewohnheiten Bescheid weiß. Es ist nicht nur ihr schlechter Gesundheitszustand, der den Klinikaufenthalt zur Zäsur macht, sondern auch der Krankenhausaufenthalt an sich. So leiden die Erkrankten bei einem Krankenhausaufenthalt häufiger an Delir, kehren häufig desorientierter als zuvor in ihre gewohnte Umgebung zurück, sind auch häufiger von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen als andere oder versterben schneller. Hier ist Handlungsbedarf angesagt. Es wäre konsequent gewesen, im bisherigen Assistenzpflegebedarfsgesetz all jene Personen einzubeziehen, die als Menschen mit Behinderung gelten mit Assistenz außerhalb des Arbeitgebermodells, und es wäre darüber hinaus notwendig gewesen, die Menschen mit einem auf den Einzelfall feststellbaren Bedarf an Assistenz und Begleitung zu berücksichtigen. Wir müssen deshalb, bezogen auf die medizinische und pflegerische Notwendigkeit, die Begleitung durch eine Pflegeperson als grundsätzlich unterstützenswert sehen und dies auch fördern. Die Neuregelung des Assistenzpflegebedarfsgesetz bleibt in dieser Form weit hinter den Erwartungen zurück. Das uns vorliegende Gesetz wird erweitert durch eine Empfehlung des Bundesrats zur Notwendigkeit der Regulierung der Investitionskosten stationärer Einrichtungen nach § 82 des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Über die Zeit haben sich die Investitionskosten zu einem „zweiten Heimentgelt“ entwickelt. Über die Jahre sind immer mehr Beschwerden laut geworden über die Intransparenz der Zusammensetzung der Investitionskosten, über nicht nachvollziehbare Erhöhungen und Investitionsstau. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind demgegenüber aber in einer schwachen Position. Das Bundessozialgericht hat dieses Dilemma 2011 zum Anlass genommen, die bisherige Handhabung und Regelung zu kritisieren. Aus verbraucherpolitischer Sicht kritisiert unserer Meinung nach das BSG zu Recht die mitunter auch trägerabhängige intransparente Vorgehensweise bei der Umlage der Investitionskosten. Wir Grüne sehen den gesetzgeberischen Handlungsbedarf und auch die Brisanz des Themas. Es muss auch weiterhin möglich sein, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht der ständigen jährlichen Schwankung von Instandhaltungskosten unterworfen sind. Rückstellungen sind in Maßen vernünftig, müssen aber vertretbar sein und nachweislich für Investitionen verwendet werden. Zu Protokoll gegebene Reden Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, hier weitreichende Überlegungen anzustellen, die es nicht nur gewährleisten, dass die Träger Planungssicherheit erlangen, sondern auch die Verbraucherinnen und Verbraucher vor unangemessenen Investitionskostenpauschalen und Investitionsrücklagen schützt, die dann doch nicht getätigt werden. Die Zusammensetzung der Investitionskosten sowie etwaige Erhöhungen und Planungsabsichten des Trägers müssen transparenter für den Verbraucher gemacht werden. Unserer Meinung nach wäre dabei eine Erweiterung der Informationspflicht im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz unumgänglich.

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Der vorliegende Gesetzentwurf knüpft unmittelbar an das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus vom 30. Juli 2009 an, mit dem für pflegebedürftige behinderte Menschen, die ihre Pflege bereits ambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften des SGB XII im sogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Möglichkeit einer Assistenzpflege auch bei stationärer Krankenhausbehandlung verankert wurde. Die Praxis nach Inkrafttreten dieses Gesetzes hat gezeigt, dass auch in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen ein Bedarf an Assistenzpflege für den betroffenen Personenkreis besteht. Dies war auch das Ergebnis eines Expertengesprächs des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages vom 23. März 2011. Der Gesetzentwurf greift deshalb die grundlegende Zielrichtung des Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 auf und erstreckt die Maßnahmen für den betroffenen Personenkreis nunmehr auf die stationäre Behandlung in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen. Der eine oder andere mag sich fragen, warum der Gesetzentwurf den Kreis der berechtigten Personen allein auf solche Pflegebedürftige beschränkt, die ihre Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften des SGB XII im Arbeitgebermodell sicherstellen. Es gebe doch auch andere Gruppen pflegebedürftiger Menschen mit und ohne Behinderung, die darauf angewiesen seien, während des stationären Aufenthalts im Krankenhaus oder in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen die Pflegebereitschaft ihrer Pflegeperson aufrechtzuerhalten. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird weder der betroffene leistungsberechtigte Personenkreises erweitert noch Anspruchsinhalte leistungsrechtlich neu ausgerichtet und justiert. Dazu ist festzustellen, dass sich der Gesetzentwurf systematisch und inhaltlich „1:1“ an dem Rahmen des Maßnahmenpakets ausrichtet, der bereits durch das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus verankert worden ist. Dadurch wurde seinerzeit eine bestehende Regelungslücke im akutstationären Bereich für die besondere pflegerische Versorgung von Pflegbedürftigen geschlossen, die ihre Pflege bereits ambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach dem Arbeitgebermodell des SGB XII sicherstellen. Die Erstreckung dieses Maßnahmenpakets nunmehr auf die stationäre Behandlung in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen ist jetzt folgerichtig und gerechtfertigt, weil die rechtliche und sachliche Situation des betroffenen Personenkreises in diesen Einrichtungen mit der in den Krankenhäusern vergleichbar ist. Auch das Expertengespräch im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages hat diese Einschätzung bestätigt. Anderenfalls hätten die betroffenen Pflegebedürftigen im Gegensatz zum Krankenhausbereich nach der Rechtslage weiterhin während der Dauer der stationären Vorsorge- oder Rehabilitationsbehandlung keinen Anspruch gegen die jeweiligen Kostenträger auf Mitaufnahme ihrer besonderen Pflegekräfte in die stationäre Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung und auf Weiterzahlung der bisherigen Leistungen. Eine derartig unterschiedliche Rechtslage zwischen dem Krankenhausund dem stationären Vorsorge- und Rehabilitationsbereich ist ohne Zweifel nicht sachgerecht. Aus dieser Zielrichtung des Gesetzentwurfs ergibt sich auch, dass eine Ausweitung des leistungsberechtigten Personenkreises über die Reichweite des Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus hin zu einer umfassenden Sicherstellung von besonders aufwendigem Pflege- und Betreuungsaufwand nicht Ziel und Zweck des Gesetzentwurfs sein kann. Eine derartige Erweiterung würde weit über diesen Gesetzentwurf hinausgehende komplexe Abgrenzungsfragen zwischen den Sozialleistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung, der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe aufwerfen - auch verbunden mit der Klärung der jeweiligen Finanzierungsverantwortung im Hinblick auf die zu erwartenden erheblichen finanziellen Auswirkungen. Wer hier A sagt, muss auch B sagen! Insoweit steht die Bundesregierung hier auch in Übereinstimmung mit der mehrheitlichen Auffassung der Länder, die dies bereits in den Anhörungen zum Referentenentwurf und in der Abstimmung so auf den Punkt brachten. Eine solche umfassende leistungsrechtliche Neuausrichtung ist und kann also nicht Gegenstand dieses Gesetzgebungsverfahrens sein. Der Gesetzentwurf verankert jetzt vielmehr eine kleine, aber schnell umsetzbare Lösung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im Ergebnis ist es mithin ein kleiner, aber konsequenter und gebotener Schritt hin zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger behinderter Menschen, die ihre Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften des SGB XII im Arbeitgebermodell sicherstellen. Die im Übrigen vom Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf beschlossene Regelung zur Investitionsfinanzierung von Pflegeeinrichtungen ist vor Zu Protokoll gegebene Reden

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Der Beschluss sieht eine Gesetzesänderung im SGB XI zur Anerkennung angemessener Pauschalen für die Instandhaltung und Instandsetzung im Landesrecht vor. Das Bundessozialgericht hat am 8. September 2011 vier Entscheidungen zur gesonderten Berechnung der Investitionskosten von Pflegeeinrichtungen gefällt. Danach ist ab 2013 die bisherige Praxis in den Bundesländern, Pauschalen für künftige Instandhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen zu genehmigen, nicht mehr zulässig, weil nur tatsächlich entstandene oder sicher entstehende Aufwendungen auf die Pflegebedürftigen umgelegt werden dürfen. Dem verständlichen Wunsch nach einer möglichst unbürokratischen Lösung steht das gemeinsame Ziel gegenüber, die Pflegebedürftigen bei der Umlage der Investitionskosten vor überhöhten Belastungen zu schützen. Eine entsprechende Änderung wird deshalb derzeit von uns geprüft.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/10747, 17/10799 und 17/10784 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Ausweitung der Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären Vorsorge und Rehabilitation. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10207, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3746 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 39: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann ({0}), Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Stärken von Kindern und Jugendlichen durch kulturelle Bildung sichtbar machen - Drucksache 17/10122 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Angesichts der aktuellen Diskussionen um die vermeintliche Besteuerung von Musikschulen und der damit verbundenen Frage der Abgrenzung zwischen Bildung und Freizeitaktivität bin ich sehr froh, dass wir heute den vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen zur kulturellen Bildung in diesem Hohen Hause beraten und ich somit die Möglichkeit habe, den herausragenden Stellenwert der kulturellen Bildung zu unterstreichen. Lassen sie mich gleich ganz am Anfang meiner Überzeugung Ausdruck geben: Kulturelle Bildung ist Bildung, manchmal auch mehr, aber nie weniger. Sie ist ein wesentlicher Teil der ganzheitlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen und trägt insbesondere zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Damit leistet kulturelle Bildung einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Beitrag, den wir nicht unterschätzen dürfen und dringend weiter unterstützen müssen. Bildung ist ein entscheidender Schlüsselfaktor für den zukünftigen Wohlstand unserer Gesellschaft. Wenn ich Bildung sage, meine ich dies in ganzheitlichem Sinne. Denn Bildung ist nicht nur rationaler Wissenserwerb, sondern auch Tanz, Theater, Musik und viele andere Formen zählen dazu. Der freie Zugang zu Bildung auf allen Ebenen und eine breite Vielfalt individueller Bildungsangebote charakterisiert das Bildungssystem, das wir Bildungspolitiker uns wünschen und bereits zu einem Großteil realisiert haben. So begegnen wir den vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit: demografischer Wandel, kulturelle Heterogenität, Integration und Inklusion. Dafür müssen sich unsere Bildungsangebote an den aktuellen und zukünftigen Anforderungen ausrichten und sich stetig weiterentwickeln. Dabei ist die Vermittlung reinen Wissens, um im stetig anwachsenden Wettbewerb um die besten Köpfe und dem immer schneller zunehmenden Wissenszuwachs zu bestehen, als auch die Entwicklung von allseitig gebildeten Persönlichkeiten kein Entweder-oder, sondern ein Sowohlals-auch. Für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien oder aus sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolagen kann sich der Übergang ins Erwerbsleben besonders schwierig gestalten. Ziel muss es daher immer wieder sein, gerechte Bildungschancen zu eröffnen und Jugendliche in ihrer Ausbildungsreife - egal ob für den universitären oder dualen Bildungsweg - zu stärken. Schulisches Lernen muss dabei einhergehen mit der Stärkung kultureller und sozialer Kompetenzen. In der aktuellen Bildungsdiskussion stehen sich die Begriffe Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb oft noch als Gegensätze gegenüber. Diese Sichtweise gilt es zu überwinden. Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb müssen als Zugänge zu individuell realisierbaren Lernerfolgen gesehen werden, die sich wechselseitig ergänzen. Nur so kann eine Kultur des Lernens etabliert werden, die den ganzheitlichen Bildungsansatz betont und eine Nachhaltigkeit des Lernprozesses sichert. Nach dem humanistischen Bildungsideal findet der Mensch nur durch Bildung zu sich selbst. Bildung ist dabei ein Wert an sich, der weit über das Ziel, vorwiegend an der praktischen Nützlichkeit orientiertes Wissen zu vermitteln, hinausreicht und vielmehr an der Herausbildung der eigenen Identität und der Ermöglichung von Selbstverwirklichung orientiert ist. Eine bisher weitgehend unbeachtete Einbeziehung der Erfahrungen der kulturellen Bildung kann hier ein Schlüssel sein, um Potenziale dieser Bildungsprozesse zu nutzen. Eine Implementierung der Methoden kultureller Bildung führt zudem zum Erlernen von Kulturtechniken des Lernens, die für junge Menschen umso wichtiger sind, als sie die Grundlagen für eine Motivation zu lebenslangem Lernen ebenso legen wie sie durch die Sichtbarmachung individueller Stärken für eine Nachhaltigkeit dieser Motivation von besonderer Bedeutung sind. Um unserem Bildungsideal gerecht zu werden, ist es daher entscheidend, der kulturellen Bildung den dafür erforderlichen Stellenwert einzuräumen. Als Parlamentarier, die sich dem christlichen Menschenbild verpflichtet fühlen, gehen wir von den individuellen Stärken der Kinder und Jugendlichen aus. Diese gilt es gezielt aufzugreifen, sichtbar zu machen und zu fördern, um so Potenziale zu erschließen, die im Bildungsverlauf zuweilen noch nicht genügend erkannt werden. Wir können damit unser Ziel erreichen, allen Kindern und Jugendlichen - unabhängig von ihrer sozialen Herkunft - den bestmöglichen Bildungsstand zu ermöglichen und damit gesellschaftliche Teilhabe und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Angebote der kulturellen Bildung sind hierfür besonders geeignet, bei Kindern und Jugendlichen durch erfahrungsgeleitete reflektierte Lernprozesse persönliche Schlüssel- und Methodenkompetenzen auszubilden. Bereits die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ betont in ihrem Schlussbericht: Durch kulturelle Bildung werden grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, die für die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen, die emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung und Identitätsfindung von zentraler Bedeutung sind: Entwicklung der Lesekompetenz, Kompetenz im Umgang mit Bildsprache, Körpergefühl, Integrations- und Partizipationskompetenz und auch Disziplin, Flexibilität, Teamfähigkeit. Mit kultureller Bildung werden Bewertungs- und Beurteilungskriterien für das eigene und das Leben anderer sowie für die Relevanz des erworbenen Wissens gewonnen. … Kulturelle Bildung erschöpft sich nicht in der Wissensvermittlung, sondern sie ist vor allem auch Selbstbildung in kulturellen Lernprozessen. Sie fördert soziale Handlungskompetenz und Teilhabe und qualifiziert den Menschen für neue gesellschaftliche Herausforderungen: Indem kulturelle Bildung die Möglichkeit bietet, sich interkulturelle Kompetenzen anzueignen, fördert sie die Verständigung zwischen Kulturen im In- und Ausland, baut Vorbehalte von Kindern und Jugendlichen vor dem „Fremden“ ab und verbessert die gegenseitige Akzeptanz in hohem Maße. Da die demografischen Entwicklungen verlässliche Bedingungen für soziale Biografien nicht mehr in gleichem Maß wie früher formulierbar erscheinen lassen, kommt der Stärkung individueller Kompetenz für gelingende Lebensentwürfe erhöhte Bedeutung zu. Kulturelle Bildung liefert einen grundlegenden Beitrag hierzu. Ich habe selbst jahrelange praktische Erfahrungen als Kulturreferent sammeln können und kann die Aussagen der Enquete-Kommission nur bestätigen. Die Beschäftigung mit Kultur kann dabei sowohl Ziel des pädagogischen Handelns sein, aber ebenso auch als Methode eingesetzt werden. Kulturelle Bildung befähigt zum schöpferischen Arbeiten und ebenso auch zur aktiven Rezeption von Kunst und Kultur. Kulturelle Bildung ist sowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch der schulischen Aus- und Weiterbildung. Sie verbindet kognitive, emotionale und gestalterische Handlungsprozesse. Ich möchte auch noch einmal die Bedeutung der interkulturellen Kompetenz betonen. Interkulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bildung. Nehmen wir das Ziel ernst, dass Bildung ebenso zur sozialen Integration beitragen soll, so gilt es, soziale Integration als das Ergebnis gemeinsamer Lernerfahrung und gemeinschaftlichen Kompetenzerwerbs zu verstehen. Nur über die Vermittlung kultureller Kompetenz kann Heterogenität ebenso angemessen berücksichtigt wie gleichermaßen individueller Bildungserfolg realisiert werden. Beides ist unerlässlich für die Konstruktion der Persönlichkeit und somit Voraussetzung für die Chance gelingender sozialer Integration. Durch kulturelle Bildungsangebote wie Kunst und Musik, Theater und Tanz, aber auch bei Sport und Bewegung erleben Kinder und Jugendliche, gerade aus bildungsfernen Schichten, dass sie mit Teamgeist, Einsatz und Unterstützung etwas erreichen können. Sie erfahren - oft zum ersten Mal -, in welchen Bereichen sie individuelle Potenziale, Talente und Stärken besitzen. Sie machen die Erfahrung, dass sie etwas beherrschen oder gut können. Kulturelle Bildung ermöglicht es also, individuelle Stärken zu erkennen, schult die Fähigkeit, die Stärken anderer anzuerkennen, und stärkt den Willen, die eigenen Schwächen zu überwinden. Dies ist die Grundlage für Selbstmotivation, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsübernahme junger Menschen und leistet somit einen besonders wertvollen und nachhaltigen Beitrag zur Bildung und zur Persönlichkeitsentwicklung. Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU und FDP ja gerade deshalb darauf verständigt: Wir betonen die zentrale Bedeutung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Es gilt, die neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kultur und Schule zu nutzen und qualitativ und quantitativ auszubauen. Der Bericht „Bildung in Deutschland 2012“ hat sich als Schwerpunkt mit der kulturellen/musisch-ästhetischen Bildung im Lebenslauf auseinandergesetzt und ist Zu Protokoll gegebene Reden zu dem Schluss gekommen, dass das Interesse der Bevölkerung an kultureller Bildung in allen Lebensphasen groß ist und dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund musikalische Aktivitäten zum Teil noch stärker wahrnehmen als Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Lassen sich mich in diesem Zusammenhang, und weil der Verband der deutschen Musikschulen gerade den 60. Jahrestag seiner Gründung gefeiert hat, einige Worte zitieren, mit denen unser Bundestagspräsident Norbert Lammert anlässlich des parlamentarischen Abends des VdM treffend die Situation der kulturellen Bildung skizziert hat und denen ich mich nur ausdrücklich anschließen kann: In Deutschland gibt es eine außergewöhnlich große Kultur- und besondere Musiklandschaft. Wenn es aber um die Zukunftsfähigkeit dieser Landschaft geht, ist die kulturelle Bildung die Achillesferse des deutschen Kultursystems. Um einer Verletzung oder gar einem Riss dieser Achillesferse vorzubeugen, betonen wir Koalitionspolitiker mit dem vorliegenden Antrag ausdrücklich, welchen Stellenwert wir der kulturellen Bildung beimessen, und möchten uns ausdrücklich bei allen Aktiven bedanken, die sich für die kulturelle Bildung unserer Kinder einsetzen. Wir setzen ein deutliches Signal, dass wir die kulturelle Bildung in unserem Land weiter voranbringen wollen. Dies ist eine große und wichtige Initiative des Parlaments. Ich kann daher nicht verstehen, dass der Haushaltsberichterstatter der SPD, Kollege Hagemann, unserem Ansatz vorwirft, wir würden uns verzetteln. So kann nur jemand reden, der von der Sache keine, aber nicht die geringste Ahnung hat. Schade. Damit die Angebote der kulturellen Bildung Kindern und Jugendlichen zugutekommen, bedarf es einer gezielten Förderung. Größtmögliche Wirkung lässt sich lediglich erreichen, wenn sich alle relevanten zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort zu Bildungsbündnissen zusammenschließen. Die bisher bestehenden Kooperationen zwischen den Akteuren sind zu wenig systematisiert und zu stark vom Engagement einzelner Personen abhängig und das, obwohl der Bericht „Bildung in Deutschland 2012“ ausdrücklich die Bedeutung der Breitenwirkung von bestehenden pädagogischen Programmen und Kooperationen von Kulturinstitutionen mit Bildungseinrichtungen betont hat. Aus diesem Grund haben CDU/CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag ebenfalls die Förderung von Bildungsbündnissen als wichtiges Ziel aufgenommen, um insbesondere Kinder und Jugendliche zu unterstützen, die im Elternhaus nicht die bestmöglichen Startchancen erhalten. Neben der Eröffnung von bisher verschlossenen individuellen Bildungsverläufen erhöhen sich damit ihre Chancen, einen erfolgreichen Weg in die berufliche oder akademische Ausbildung und anschließend in das Erwerbsleben zu finden, um damit ihr Leben eigenverantwortlich gestalten zu können. Dass konkrete Maßnahmen der kulturellen Bildung nicht nur individuell erlebbare Erfolge liefern, sondern gleichzeitig auch formal und objektiv nachvollziehbar sind, sich sogar in schulzeugnisähnlichen Dokumenten belegen lassen, dafür ist der Kompetenznachweis Kultur ein sehr gutes Beispiel. Der Kompetenznachweis Kultur ist ein Instrument, welches von der Bundesregierung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entwickelt wurde, um gerade eben die Erfolge von kultureller Bildung sichtbar zu machen. Der Kompetenznachweis Kultur ist ein freiwilliges Angebot an Jugendliche. Als ein Bildungspass entsteht er in einem Dialog zwischen den Jugendlichen und extra dafür qualifizierten Fachkräften. Der Kompetenznachweis Kultur hilft gleichermaßen, individuelle Stärken zu erkennen, als er in seinem dialogisch und transparent angelegten Lernprozess die neidlose Anerkennung sowohl der Stärken anderer als auch den Willen aktiver Überwindung eigener Schwächen kultiviert. Diese im Lernprozess vermittelten Schlüsselkompetenzen verbessern die persönlichen Bildungschancen und Bildungserfolge der Jugendlichen, und sie tragen durch das Aufzeigen der bei allen Heranwachsenden vorhandenen Potenziale, Talente und persönlichen Stärken erheblich dazu bei, dass Chancengerechtigkeit im Bereich der Bildung kein abstrakter Begriff bleiben muss, sondern sich für die Beteiligten mit Lebenswirklichkeit füllt und somit auch bestmöglich genutzt werden kann. Dies ist vor allem dadurch erreichbar, dass hier, ausgehend von den Stärken der Jugendlichen, Chancen als konkrete Möglichkeiten eigenen Aktivwerdens erkannt werden. Eine Evaluation von Konzepten kultureller Bildung hat festgestellt, dass insbesondere der Kompetenznachweis Kultur ein geeignetes Instrument zur Profilierung der Bildung und zur Verbesserung beruflicher Orientierungsprozesse ist. So heißt es unter anderem in der Publikation „Neue Wege der Anerkennung von Kompetenzen in der kulturellen Bildung“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V.: Der Kompetenznachweis Kultur kann hilfreich sein für Jugendliche, für Einrichtungen und für das Arbeitsfeld. Die Verfahren der Erstellung lenken die Aufmerksamkeit der Fachkraft auch auf die eigenen Schlüsselkompetenzen, so dass alleine diese Sensibilisierung für die Kompetenzentwicklung im Bereich der Kulturarbeit einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der pädagogischen Professionalität leistet. Weiter heißt es: Bildungspolitische Forderungen nach einem höheren Stellenwert der non-formalen Bildung bei der Beurteilung der Kompetenzen von Bewerbern für fortführende Ausbildung bzw. für Beschäftigungsverhältnisse erhalten mit dem Kompetenznachweis Kultur eine konkrete Ausdrucksform. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ macht einen weiteren Vorteil deutlich: die Anerkennung durch die Wirtschaft: Unternehmer loben die brauchbaren Zusatzinformationen für die Personalauswahl bei BewerbunZu Protokoll gegebene Reden gen auf Ausbildungsplätze oder andere Stellen, die im Lebenslauf und in Zeugnissen nicht enthalten sind. Das Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ ist daher der absolut richtige Weg, das - nebenbei gesagt - zur bislang größten Einzelfördermaßnahme des Bundes im Rahmen der kulturellen Bildung geworden ist. Die eingegangenen Bewerbungen zeigen, wie groß die Resonanz war. Die ausgewählten Projekte versprechen viel Gutes, vor allem für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche. Abschließend: Wenn die Linke nun in einer kleinen Anfrage zu unserem Antrag allen Ernstes wissen will, ob durch eine gezielte Unterstützung dieser bildungsbenachteiligten Kinder und Jugendlichen diese nicht stigmatisiert werden, löst das bei mir nur eines aus: Kopfschütteln. Wenn man sich auf dieses Niveau begibt, zeigt dies nur eines: dass die christlich-liberale Koalition hier einen Antrag vorgelegt hat, an dessen Sinnhaftigkeit nicht wirklich jemand - auch nicht die Linke - zweifeln kann.

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Die Gewährleistung guter Bildung für die jungen Menschen in unserem Land ist als Fundament für ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ So lautet der erste Satz des Koalitionsantrages „Stärken von Kindern und Jugendlichen durch kulturelle Bildung sichtbar machen“. Diese einleitende Aussage unterstütze ich voll und ganz. Weiter heißt es richtig im Antrag: „Auch der ausgeprägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen bleibt eine große Herausforderung.“ Zwar werden in diesem Antrag zwei wichtige Herausforderungen erkannt, doch leider fehlt es gänzlich an den richtigen Konsequenzen. Stattdessen begnügen sich die Verfasserinnen und Verfasser mit einer Lobhudelei für die Bundesregierung und vermeintlichen Forderungen, aus denen sich für das Bildungsministerium leider keine relevanten Handlungsaufträge ergeben. Die gesamte Bildungspolitik der schwarz-gelben Koalition, so wie wir sie bisher in diesem Hause kennenlernen durften, ist massiv darauf ausgelegt, die Bildung der jungen Generation immer stärker vom Geldbeutel der Eltern abhängig zu machen. Zahlreiche Studien belegen dies immer wieder. Gerade in unionsgeführten Bundesländern wie Bayern oder Niedersachsen entscheiden die finanziellen Ressourcen der Eltern über die Chancen der Kinder und eben nicht die Fähigkeiten der Kinder und jungen Menschen. Es wäre also höchste Zeit, dass diese sogenannte christlich-liberale Koalition den richtigen Erkenntnissen, die eingangs in diesem Antrag noch formuliert sind, endlich die richtigen Taten folgen lassen würden. Ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens ist, dass den Worten Taten folgen. So heißt es im zweiten Kapitel des Jakobusbriefs: „Was nützt es, meine Brüder und Schwestern, wenn jemand behauptet, Glauben zu haben, ohne dass er Werke hat? ({0}) Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.“ Ich hoffe, dass diese Worte aus dem Neuen Testament ein Impuls sein mögen, um den Antrag im Laufe des parlamentarischen Verfahrens deutlich nachzubessern. So ist beispielsweise das im Antrag erwähnte Programm „Kultur macht stark“ keineswegs die richtige Antwort auf die drängenden Herausforderungen. Es ist leider Gottes nichts anderes als eine „Lotterie“, wie so manch anderes Programm, das von Frau Ministerin Schavan ins Leben gerufen wurde. Zwar sind die in der vergangenen Woche dafür ausgewählten Projekte allesamt förderungswürdig und werden sich für die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sicher positiv auswirken. Allerdings werden die wenigsten überhaupt teilnehmen können. An der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler bzw. der Zielgruppe in Deutschland wird diese „Fördertombola“ erneut vorbeigehen. Wir werden gleiches erleben wie beim Nationalen Stipendienprogramm, beim Bologna-Mobilitätspaket oder auch beim Bildungs- und Teilhabepaket. Ein wirksames Instrument gegen oder gar die richtige Antwort auf die Bildungsarmut ist das sicher nicht. Dies ist nur ein Beispiel, wo die im Antrag dargestellten Maßnahmen zu kurz greifen. Darüber hinaus stelle ich die Frage, was sich eigentlich konkret hinter den vielfältigen Aktivitäten der Bundesregierung, die im Antrag gelobt werden, verbirgt. Dort ist die Rede von bemerkenswerten Anstrengungen, die angeblich unternommen worden sind, um kulturelle Bildung als Investition in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens sichtbar zu machen. Wie spüren die Kinder und Jugendlichen im Land diese angeblichen Anstrengungen? Was kommt bei ihnen an? Darüber ist im Antrag nichts zu lesen, und auch darüber hinaus ist die Bilanz der Bundesregierung nicht gerade rühmlich. Ich kann keinem Antrag zustimmen, in dem mit großen Floskeln pauschale Aktivitäten gelobt werden, die jedoch nicht klar benannt werden bzw. benannt werden können. Ähnlich verhält es sich mit den Forderungen an die Bundesregierung. Dahinter verbergen sich nichts weiter als kosmetische Formulierungen, die für die Kinder und Jugendlichen im Land kaum etwas ändern werden. Ich möchte nur einige Phrasen aufgreifen, die das Ausmaß der Unverbindlichkeit deutlich machen: Die Bundesregierung soll eine Zwischenevaluierung durchführen, um mit den Ergebnissen gegebenenfalls Verbesserungen anzustoßen. Sie soll an anderer Stelle die Administration so einfach wie möglich ausgestalten, und sie soll für Initiativen die Möglichkeit zur Vernetzung ermöglichen. Oder sie soll darauf hinwirken, dass die Förderung auch über den veranschlagten Zeitraum hinaus weitergeht. All das, verehrte Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben Koalition, sind doch Selbstverständlichkeiten, für die es keinen eigenen Antrag braucht. Gutes Regierungshandeln sollte solche Schritte implizieren. Doch genug der Kritik. Was wären sinnvolle Schritte, wenn man tatsächlich die kulturelle Bildung fördern und den immer noch existenten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und sozialer Bildung auflösen möchte? Marianne Schieder ({1}) Als Erstes: Lassen Sie die wahnwitzige Idee vom Betreuungsgeld endgültig fallen, und lassen Sie uns das Geld in den Ausbau von Kindertagesstätten investieren! Eine bessere finanzielle Ausstattung würde auch mehr Spielraum für musische und kulturelle Bildung zulassen. Vor allem käme eine solche dann viel, viel mehr Kindern zugute. Darüber hinaus muss kulturelle Bildung eine Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen sein und bleiben. Wir dürfen sie nicht in die Ecke einzelner Projekte und freiwilliger Initiativen verbannen, wenn wir Deutschland zur Bildungsrepublik umgestalten wollen. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, ernsthaft kulturelle Bildung fördern wollen, brauchen wir zunächst eine ganz andere Initiative, nämlich eine Aufhebung des Kooperationsverbotes. Der auf Spitzenforschung verkürzte Grundgesetzvorschlag der Bundesregierung lässt das Kooperationsverbot stattdessen unbeschadet bestehen. Damit verhindern sie gemeinsame Bund-Länder-Initiativen, um auch die kulturelle Bildung wieder besser im allgemeinbildenden Auftrag der Kitas und Schulen zur Entfaltung zu bringen, an der alle Schülerinnen und Schüler partizipieren. Bringen Sie endlich die Kraft auf, den Vorschlägen der SPD, zum Beispiel zur Aufhebung des Kooperationsverbots, zu folgen! Dann werden Sie endlich Ihren vielzitierten christlichen Ansprüchen gerecht, dass zu den Worten Taten gehören. Dann würden Sie nicht nur die richtigen Forderungen aufstellen, wie zu Beginn des Antrags, sondern daraus auch die richtigen Konsequenzen ziehen, nämlich solche, die dann tatsächlich etwas bewirken könnten. Ich hoffe sehr, dass es in den Beratungen zu wesentlichen Verbesserungen kommt und damit der Antrag nicht nur ein Schaufensterantrag bleibt, sondern wirklich etwas bringt für die kulturelle Bildung in unserem Land.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kultur macht stark. Kultur macht reich. Kultur definiert uns. Kultur schafft Identität. Kultur bzw. kulturelle Bildung macht sehr vieles. Sie stärkt das Ich, sie trägt zur Entfaltung der Persönlichkeit bei, sie fördert die Schaffenskraft, sie verbessert das Urteilsvermögen, sie befähigt zu strategischem Handeln und Denken, sie hilft, soziale Kompetenzen zu entwickeln - bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen. Ich würde mir wünschen, dass wir mit kultureller Bildung auch Bildungsarmut bekämpfen könnten. Doch das ist leider nicht so einfach. Denn dazu brauchen wir ein gesellschaftliches Umdenken auf breiter Ebene, eine Veränderung in den Köpfen der Menschen und der Politikerinnen und Politiker - auf Bundesebene und in den Ländern. Dahin, dass das Miteinander in einer inklusiven Gesellschaft als selbstverständlich aufgefasst wird. Es muss als selbstverständlich aufgefasst werden, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsärmeren Familien und Kinder und Jugendliche aus bildungsreicheren Familien zusammen eine Schule besuchen - möglichst viele Jahre lang, wie es in den Ländern üblich ist, die bei PISA erfolgreich sind. Die lange gemeinsame Bildung muss möglichst früh beginnen. Deswegen appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, endlich die Regelungen zum Betreuungsgeld dorthin fallen zu lassen, wo sie hingehören: in den Mülleimer der Geschichte. Wir brauchen dieses Geld nämlich dringend, um in den Ausbau von Kindertagesstätten zu investieren. Ich finde es wichtig und richtig, Projekte der außerschulischen kulturellen Bildung zu fördern. Wir brauchen aber gezielte Maßnahmen, die nicht bestimmte Regionen benachteiligen oder bevorteilen. Und wir müssen - auch das gehört zum Umdenken - Angebote der kulturellen Bildung oder der Soziokultur wie Bibliotheken als Teil der Daseinsvorsorge begreifen. Sonst laufen wir immer wieder Gefahr, dass gerade in Zeiten mit schwachen Haushaltskassen solche Angebote gestrichen werden. Und wir brauchen eine Bündelung der Maßnahmen auf Bundesebene und gemeinsame Bund-Länder-Initiativen. Kulturelle Bildung muss an den Schulen verankert werden. Das Kooperationsverbot muss aufgehoben werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, Ihr Antrag hat gute Absichten wie die Bekämpfung der Bildungsarmut. Doch leider können diese durch die geforderten Maßnahmen nicht erreicht werden, auch wenn einzelne Maßnahmen und Projekte unterstützenswert sind. Der Antrag verschleiert die wirklichen Probleme und gaukelt mit sehr hoch gesteckten Zielen vor, zu handeln und zu gestalten, wenn letztendlich eine solch starke Wirksamkeit doch zu bezweifeln ist. Deswegen lehnen wir den Antrag ab.

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil der Bildungsarbeit, insbesondere da sie eine große Rolle innerhalb der individuellen Persönlichkeitsentwicklung spielt. Sie gibt den Menschen, vor allem den Kindern und Jugendlichen, Halt und Orientierung. Aus diesem Grund ist es unverzichtbar, dass Kinder und Jugendliche frühzeitig in Kontakt mit Kunst und Kultur gebracht werden. Im Koalitionsvertrag wird bereits deutlich gemacht, dass der Bund gemeinsam mit den Ländern den Zugang zu kulturellen Angeboten unabhängig von finanzieller Lage und Herkunft vereinfacht und zugleich die Aktivitäten weiter verstärkt. Kulturelle Bildung wird in diesem Zusammenhang auch als förderndes Mittel der Integration angesehen. Die Sicherstellung von guter Bildung für die Kinder und Jugendlichen in der Bundesrepublik ist die Kernaufgabe der gesamten Gesellschaft, da sie als Voraussetzung für ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben fungiert. Um diese Kernaufgabe adäquat umsetzen zu können, bedarf es starker Bildungspartnerschaften. Diese sind der Garant für ein erfolgreiches und leistungsstarkes Bildungssystem. Das Ziel ist, Kindern und Zu Protokoll gegebene Reden Jugendlichen faire Teilhabe- und Bildungschancen zu bieten. In Zeiten der Globalisierung steht die Bundesrepublik vor vielen Herausforderungen. Eine bessere Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist zwingend erforderlich. Doch auch Herausforderungen wie die Etablierung eines inklusiven Bildungssystems müssen angenommen und bewältigt werden. Die größte Herausforderung stellt jedoch die Bekämpfung von Bildungsarmut dar. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist dies ein ernst zu nehmendes Problem. Um den Wohlstand in der Bundesrepublik nachhaltig zu steigern sowie ihn zu erhalten, benötigen wir ein Bildungssystem, das unseren Kindern und Jugendlichen eine gute Bildung ermöglicht. Der Nationale Bildungsbericht legte bereits dar, dass ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in einer sozialen, kulturellen oder finanziellen Risikolage aufwächst. Alarmierend ist auch die Tatsache, dass ein Fünftel aller 15-Jährigen zur sogenannten PISA-Risikogruppe gehört. Gerade Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind davon überproportional betroffen. Aus diesem Grund benötigen vor allem diese Kinder und Jugendlichen eine besondere Förderung, um ihre Persönlichkeit und sozialen Kompetenzen zu stärken. Dies geschieht vorrangig durch kulturelle Bildung. Sie stellt eine Schlüsselfunktion dar. Die Koalition setzt sich dafür ein, dass Programme wie zum Beispiel „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ implementiert werden, um den Kindern und Jugendlichen als Vermittler von Werten etc. zu dienen. Kulturelle Bildung vermittelt Werte und Maßstäbe. Ferner setzen wir uns dafür ein, außerschulische Angebote zu fördern. Ziel ist es, die Kompetenzen und Erfahrungen der Gesellschaft in den Prozess zu integrieren und ihr Engagement in Vereinen, ehrenamtlichen Tätigkeiten etc. zu unterstützen. Insgesamt birgt die Kooperation zwischen Kultur- und Bildungseinrichtungen einen Nutzen für den Einzelnen als auch für die Gesamtgesellschaft. Durch die Bündnisse der Bildung bekommen die Kinder und Jugendlichen einen Bildungsnachweis vermittelt. Der Bildungsnachweis macht die Schlüsselkompetenzen in den einzelnen Programmen sichtbar. So werden erstmalig einheitlich konkrete Kompetenzen benannt, die durch Singen, Tanzen, Theaterspielen etc. erlangt werden. Das Herausarbeiten von Kompetenzen ist ein dialogisches Verfahren und steht somit für einen beiderseitigen Lernprozess. Begrüßenswert ist es, dass die Allianz für Bildung als Dach für lokale Bildungsbündnisse fungiert, um die Vernetzung im Bereich der kulturellen Bildung sicherzustellen und diese auch zu fördern. Die Vernetzung ist ein wichtiger Bestandteil des Erfolges und daher essenziell. Die Bündnisse für Bildung werden von der Erreichung dreier wichtiger Ziele begleitet, nämlich: der Möglichkeit nach neuen Bildungschancen, eine breite Bürgerbewegung für gute Bildung und eine stärkere Vernetzung verschiedener Bildungsakteure vor Ort - landes- und bundesweit. Studien nach zu urteilen, besteht ein enormer Handlungsbedarf im Bereich der kulturellen Bildung in der Bundesrepublik. Aus diesem Grund fordern wir unter anderem eine weitreichende Unterstützung bei entsprechenden Projekten, sowie die Unterstützung von deutschlandweiten Bündnissen für Bildung. Des Weiteren ist die kulturelle Vermittlung eine Kernaufgabe in den geförderten kulturellen Einrichtungen und ist auch als solche anzuerkennen. Wichtig ist auch, dass die Bildungsbündnisse über den Förderzeitraum hinaus begleitet und fortgeführt werden. Dabei ist zu beachten, dass die Zusammenarbeit zwischen schulischen und außerschulischen Akteuren nachhaltig gestärkt wird und insbesondere deren Vernetzung angestrebt wird. Die Integration von Kultur- und Bildungseinrichtungen in den Alltag ist eine notwendige Voraussetzung für den sozialen Frieden und Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft, da die kulturelle Bildung essenziell für die Entwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen ist. Die Vermittlung von Werten, die in einer demokratisch fundierten Gesellschaft von Bedeutung sind, erfolgt im Wesentlichen durch Kultur- und Bildungseinrichtungen und im seltensten Fall innerhalb der Familie. Kulturelle Bildung stärkt die positiven Eigenschaften, die jeden Einzelnen zur Selbstfindung anregen und ferner die sozialen Fähigkeiten bekräftigen, die für ein gesellschaftliches Zusammenleben notwendig sind. Aus diesem Grund ist es zwingend erforderlich, dass die entsprechenden Voraussetzungen für Kooperationen zwischen Kultur- und Bildungseinrichtungen geschaffen werden. So wird gewährleistet, dass Kinder und Jugendliche gefördert werden, die von der Bildungsarmut besonders betroffen sind. Dies betrifft in erster Linie Kinder und Jugendliche, die in einer Risikolage heranwachsen. Mittels der Kooperationen können sie kulturelle Fertigkeiten erlernen und in ihrem weiteren Lebensweg anwenden. Somit wird das Ziel der Integration vorangetrieben. Jedoch profitieren nicht nur die Kinder und Jugendlichen von solchen Kooperationen, sondern vielmehr die gesamte Gesellschaft. Nach den Zielen der UNESCO Seoul Agenda zu urteilen, wird der Zugang zu künstlerischer und kultureller Bildung als grundlegender und nachhaltiger Bestandteil einer hochwertigen Erneuerung von Bildung angesehen. Ferner muss die Qualität solcher Programme sichergestellt werden. Des Weiteren sollen Prinzipien und Praktiken künstlerischer und kultureller Bildung angewendet werden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und kulturellen Herausforderungen beizutragen. Kulturelle Bildung und die dazugehörigen Einrichtungen sind in der heutigen Zeit von großer Bedeutung. Sie geben Impulse für neue Entwicklungen und tragen zum sozialen Wohlstand bei.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Hinter dem blumigen Titel des Koalitionsantrages verbergen sich über weite Strecken beachtliche Einsichten und fast durchgängig richtige Forderungen. Man Zu Protokoll gegebene Reden könnte Ihnen zu diesem Antrag eigentlich gratulieren. Er ist gut. Ich frage mich nur, warum Sie ihn stellen mussten. Vor der Sommerpause zog die Bundesregierung, genauer das Bundesbildungsministerium, ein Programm zur Stärkung kultureller Bildung aus der Schublade. Um immerhin 30 bis 50 Millionen Euro soll der entsprechende Haushaltstitel in den nächsten Jahren aufgestockt werden. So viel erhielten Träger der kulturellen Kinder- und Jugendbildung noch nie. Sie werden sich zu Recht freuen. Zudem soll dieses Programm gegen Bildungsarmut wirken. Dann hätten wir schon mindestens zwei davon, denn das Bildungs- und Teilhabepaket soll das auch. Wirkt es nicht hinreichend? Oder sind sie erschrocken über die Ahnungslosigkeit des Staatssekretärs, der vor der Sommerpause im Kulturausschuss das Programm zu erläutern versuchte und damit selbst in den Reihen der Koalition Zweifel hervorrief? Als ich im Sommer auf meiner Tour durch den Wahlkreis bei Vereinen vor Ort nachfragte, ob ihnen das Programm bekannt sei, sah ich Erstaunen. Zum Beispiel das Familienhaus in Magdeburg, kein ganz kleiner Träger, war über den drohenden Geldsegen noch gar nicht im Bilde. Wollten Sie Werbung für die Arbeit der Bundesregierung betreiben? Verständlich wäre das ja bei dem Zank, der sonst aus der Koalition zu hören ist, über das Betreuungsgeld zum Beispiel. Dann hätten Sie es aber weiter vorn in der Tagesordnung platzieren müssen und nicht versteckt, bei den Reden zu Protokoll. Aber vielleicht haben Sie mit Bedacht den späten Zeitpunkt gewählt, denn der Bewerbungszeitraum ist bereits verstrichen und die Mittel sind auch bereits verteilt, für die nächsten fünf Jahre im Voraus. Was aber soll der Antrag dann noch? Haben Sie Angst, dass es ihnen dort so ergeht wie bei den Mitteln für Teilhabe aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, die vor Ort teilweise andere Finanzierungen durch die Kommunen einfach ersetzen? Oder fürchten Sie sich vor einem bürokratischen Monstrum, das einen Großteil der Mittel auffrisst? Diese Sorge teile ich, insbesondere, wenn ich Ihren Antrag lese. Wie sollen denn nun aber Initiativen vor Ort an dem Programm teilnehmen können? Wie sollen Schulen profitieren? Wie wollen Sie in die Fläche vordringen, wenn vor Ort, wie in der 9 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Stadt Calbe in meinem Wahlkreis, gerade in diesem Jahr die einzige kulturelle Einrichtung, die Stadtbibliothek - ich habe heute schon darüber geredet geschlossen wird? Sie brauchen zur Weiterführung der Bibliothek etwa 50 000 Euro jährlich, und die haben sie nicht. Kultur ist eben eine freiwillige Aufgabe, und das heißt für manche Verwaltung und manche Kommunalaufsicht: kann auch wegfallen. Sosehr ich den Verbänden und den kulturellen Akteuren bundesweit den warmen Geldregen gönne: Er ersetzt nicht eine solide Finanzierung von Kultur und Bildung in der Fläche. Darum: Packen Sie Ihren Antrag wieder ein, die Knete ist verteilt; er kommt zu spät um noch etwas zu ändern.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit dem Thema kulturelle Bildung diskutieren wir heute ein Thema, auf das Wissenschaftler und Hirnforscher schon länger hinweisen. Denn mit der Entwicklung der künstlerischen Fähigkeiten verbessern sich auch die sogenannten kognitiven Leistungen. Soziale und emotionale Kompetenzen können gestärkt werden. Besonders für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien kann es einen positiven Einfluss auf ihr Selbstbewusstsein und ihre Persönlichkeitsentwicklung haben, wenn sie in ihrem künstlerischen Ausdruck gefördert werden, als Mitglied einer Band oder auf der Bühne Applaus bekommen und so Bestätigung erfahren. Die grüne Bundestagsfraktion setzt sich daher mit Nachdruck für die Aufwertung künstlerisch-kreativer Bildungsinhalte ein. Die Bundesregierung hat nun das Programm „Kultur macht stark“ vorgelegt; die ersten Konzepte sind vor kurzem ausgewählt worden. Die Frage ist jedoch, inwiefern Sie mit diesem Programm den Kindern und Akteuren in diesem Bereich wirklich und nachhaltig einen Dienst erweisen. Die Zielsetzung des Programms ist richtig und wichtig, denn es zielt darauf ab, das Potenzial von Kultur und Künsten zur Integration, Entwicklung und Teilhabe benachteiligter Kinder im außerschulischen Bereich zu nutzen. Wir bleiben jedoch skeptisch, weil es sich bei den bereitgestellten Mitteln um zeitlich gebundene Projektmittel handelt und somit für die Antragsteller zu wenig Planungssicherheit herrscht. Was passiert, wenn die Mittel auslaufen. Welche Antwort haben Sie auf die Frage der Anschlussfinanzierung? Auch stellt sich uns die Frage, ob das zweistufige Antragsmodell über die bundesweiten Verbände möglicherweise kleine Initiativen und Vereine vor Ort bei der Antragstellung benachteiligen könnte. Angesichts der Flut an bereits bestehenden Programmen und Projekten im Bildungsbereich ist es kein Verdienst am Bildungswesen, noch ein weiteres Neues zu schaffen. Wichtiger wäre es, diese Art Projekte zu verstetigen und den Verbänden und Initiativen in diesem Bereich eine längerfristige Perspektive zu bieten. Wir fragen uns auch, weshalb die Bundesregierung nur Projekte mit mindestens drei Kooperationspartnern fördert, während doch mancherorts auch zwei Partner gute Projekte auf die Beine stellen können. Der Förderrichtlinie ist außerdem zu entnehmen, dass primär Projekte mit Ehrenamtlichen oder Honorarkräften gefördert werden sollen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum nicht auch hauptamtlich Beschäftigte, die gute Projekte dauerhaft weiterführen könnten, förderungsfähig sein sollen. Insofern sehen wir viele offene Fragen und fallen nicht in den Jubelchor mit ein, ganz zu schweigen von ihrem Antrag, der ein reiner Scheinantrag ist und ausschließlich der Selbstbeweihräucherung der Bundesregierung dient. Inhaltlich setzen sie rein gar nichts neues hinzu. Zwar ist Bildung mehr als Schule und das Anschieben bürgerschaftlicher Netzwerke für kulturelle Bildung richtig, dieser Tatsache trägt das Programm Rechnung. Jedoch soll Bildung und besonders kulturelle Bildung eben auch in der Schule stattfinden. Vor diesem Hintergrund ist das Mauern der Bundesregierung in SaZu Protokoll gegebene Reden chen Kooperationsverbot im Bildungsbereich umso unverständlicher. Eine neue Kooperation zwischen Bund und Ländern könnte ein neues Ganztagsschul-Programm ermöglichen, wie wir Grüne es schon so lange vorschlagen. Von einer ganztägigen, qualitativ hochwertigen Betreuung würden vor allem bildungsferne Kinder und Jugendliche profitieren. Ganztagsschulen sind auch der richtige Ort, um kulturelle Bildung als Unterrichtsthema zu stärken und um außerschulische Akteure wie Musikschulen, Theatergruppen, Jugendkulturzentren und Vereine einzubeziehen. Stattdessen blockieren CDU, CSU und FDP aber im Bundesrat eine echte Reform und setzen auf ein weiteres, zeitlich begrenztes Programm, das die Beteiligten nach Ablauf der Bundesförderung ohne Perspektive im Regen stehen lässt. Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung Noch immer wachsen in Deutschland fast 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in wenigstens einer sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolage auf, die ihre Bildungschancen schmälert. Etwa ein Fünftel aller 15-Jährigen gehört zur sogenannten PISA-Risikogruppe. Diesen Jugendlichen wird der Übergang ins Erwerbsleben nur mit erheblichen Schwierigkeiten gelingen. Die Verwirklichung von mehr Bildungsgerechtigkeit und die Bekämpfung von Bildungsarmut haben deshalb oberste Priorität für die Bildungspolitik der Bundesregierung. Wir sind dabei auf einem guten Weg. Dies hat auch die kürzlich vorgestellte OECD-Studie Bildung auf einen Blick gezeigt: Immer mehr Kinder in Deutschland besuchen Vorschulen und Kindergärten, das Niveau der Bildungsabschlüsse steigt weiter, immer mehr junge Menschen besuchen eine Hochschule: Noch im Jahr 2000 haben lediglich 30 Prozent eines Jahrgangs ein Studium aufgenommen, im vergangenen Jahr waren es über 50 Prozent. Um auf diesem Weg weiter erfolgreich voranzuschreiten, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, mehr Verantwortung für die Bildung von Kindern zu übernehmen, die von Bildungsarmut besonders bedroht sind. Mit dem Förderprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ haben wir einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Ziel des Programms ist es, durch außerschulische Bildungsmaßnahmen bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche von 3 bis 18 Jahren zu fördern. Die Angebote sollen ab Anfang 2013 vor Ort - das heißt auf lokaler Ebene - von zivilgesellschaftlich getragenen Bündnissen für Bildung durchgeführt werden. „Kultur macht stark“ fußt auf der Erkenntnis, dass Bildung nicht allein eine Aufgabe des Staates und der Schule ist, sondern der gesamten Gesellschaft. Wir brauchen eine breite Bewegung für mehr Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen. Deshalb muss die außerschulische Bildung neben der frühkindlichen und der schulischen einen höheren Stellenwert bekommen. Mit dem Programm „Kultur macht stark“ lädt das Bundesministerium für Bildung und Forschung zivilgesellschaftliche Akteure dazu ein, in lokalen Bündnissen für Bildung außerschulische Bildungsangebote zu entwickeln, die sich an den konkreten Bedarfen und Möglichkeiten vor Ort orientieren. Denn dort werden die besten Möglichkeiten gefunden, um Kindern und Jugendlichen mehr Bildungschancen in bildungsarmer Umgebung zu bieten. Dabei können auch Schulen oder Kindertagesstätten als Kooperationspartner einbezogen werden. Die Resonanz auf dieses neue Programm war außerordentlich positiv: Über 160 Verbände und Initiativen haben ihre Konzepte bei „Kultur macht stark“ eingereicht. Die von Frau Bundesministerin Professor Dr. Annette Schavan, MdB, berufene Jury hat daraus insgesamt 35 bundesweite Verbände und Initiativen ausgewählt, die in den kommenden fünf Jahren bis zu 230 Millionen Euro erhalten werden, um außerschulische Maßnahmen vor allem der kulturellen Bildung zu entwickeln und umzusetzen. Die konkreten Angebote werden auf lokaler Ebene in Bündnissen für Bildung durchgeführt, das heißt von wenigstens drei lokalen Kooperationspartnern. Dies können Büchereien sein, Theater und Chöre, Sportvereine und Jugendverbände. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung lässt sich dabei von einem weiten Kulturverständnis leiten, das alle künstlerischen Sparten bis hin zur Medienbildung, Bewegungs- und Alltagskultur umfasst. Kulturelle Bildung befähigt zum schöpferischen Arbeiten und ebenso auch zur aktiven Rezeption von Kunst und Kultur. Kulturelle Bildung ist sowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Sie verbindet kognitive, emotionale und gestalterische Handlungsprozesse. Auch interkulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bildung. Zu den Verbänden, die durch das BMBF gefördert werden, gehören der Deutsche Volkshochschulverband, die Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung und der Verband deutscher Musikschulen; alle drei werden in den nächsten 5 Jahren mit jeweils bis zu 20 Millionen Euro gefördert. Weitere Konzepte, die ebenfalls von der Jury empfohlen wurden, sind zum Beispiel das zirkuspädagogische Konzept der bundesweiten Initiative „Zirkus macht stark“ sowie öffentliche, freie und Amateurtheater oder auch der Deutsche Museumsbund, die Sportjugend und die Bibliotheken. Sie alle stehen für lokale Bündnisse für Bildung, die mit ihren spezifischen thematischen und pädagogischen Zugängen Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stärken können. Mit „Kultur macht stark“ konzentrieren wir uns auf die kulturelle Bildung, da junge Menschen hier neue Ausdrucksformen finden können, die ihnen Freude, ErZu Protokoll gegebene Reden Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun folgserlebnisse und Selbstwertgefühl vermitteln. Gerade für junge Menschen aus bildungsfernen Familien ist Kultur der Schlüssel zu einer neuen Welt, die ihnen sonst oft verschlossen bleibt. Lokale Bildungsangebote können jedoch nur wahrgenommen werden, wenn auf der Seite der Nutzer ausreichend Informationen darüber vorliegen. Der nationale Bildungsbericht 2012 mit dem Schwerpunktkapitel „Kulturelle Bildung“ weist hier deutlich auf Defizite hin. Es fehlen Informationen über die inhaltlichen Angebote im nonformalen und informellen Bereich. Die Nutzer der Bildungsangebote haben oft Schwierigkeiten, sich über die Einrichtungen vor Ort ausreichend zu informieren und sich in der Vielfalt zu orientieren. Selbst die Akteure in den kulturellen Bildungseinrichtungen beklagen, dass sie zu wenig über die Arbeit anderer wissen, dass die unterschiedlichen Angebote besser abgestimmt werden könnten und dass „das Rad zu oft neu erfunden“ werde. Das BMBF fördert deshalb ab Sommer 2012 eine Dialogplattform „Kulturelle Bildung“ beim Deutschen Kulturrat, der alle großen Verbände unter einen Dach vereint. Damit soll die breite Öffentlichkeit durch ein Internetportal mit Wegweiserfunktion und eine Veranstaltungsreihe mit aktuellen Informationen zu Angeboten der kulturellen Bildung versorgt werden. Die Dialogplattform richtet sich auch an die Akteure der kulturellen Bildung mit dem Ziel des Austauschs und der besseren Vernetzung. Insgesamt erhofft sich das BMBF davon mehr Information und Transparenz sowie eine Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung. Ziel aller dieser Aktivitäten ist es, möglichst vielen Menschen ein Mehr an Bildungschancen und neue Bildungshorizonte durch kulturelle Bildung zu bieten und somit die Chance zu einem erfüllten, selbstbestimmten Leben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10122 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 17/10146 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll genommen.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Elf Jahre ist es her, als das Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht als Neuntes Buch in das Sozialgesetzbuch eingefügt worden ist. Am 6. April 2001 hat der Deutsche Bundestag das „SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ mit den Stimmen einer parlamentarischen Mehrheit von SPD und Grünen, CDU/CSU, FDP beschlossen. Nachdem auch der Bundesrat dem Gesetz zugestimmt hatte, ist es am 1. Juli 2001 in Kraft getreten. Mit dem SGB IX hat die Politik einen wichtigen Meilenstein in der behindertenpolitischen Gesetzgebung markiert und einen Paradigmenwechsel eingeläutet: Der Mensch steht mit seiner Behinderung und seinen individuellen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Es soll nicht mehr allein der Bedarf betrachtet werden, sondern auch die Fähigkeiten. Die Orientierung liegt auf der Chancengerechtigkeit. Das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes, „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ ({0}), ist seitdem fest im Sozialrecht verankert. Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung oder solche, die von Behinderung bedroht sind, solidarische Leistungen erhalten, damit sie selbstbestimmt und gleichberechtigt am Leben in unserer Gesellschaft teilhaben können. Das SGB IX hat nicht nur eine breite Zustimmung bei den politischen Kräften erhalten, sondern ist auch bei den Rehabilitationsträgern und Verbänden im Gesundheits- und Sozialwesen auf positive Resonanz gestoßen. Ihnen wurde sehr viel mehr Spielraum zur eigenverantwortlichen Gestaltung gesetzlicher Vorgaben eingeräumt. Wir erhofften uns damals, dass diese umfassend genutzt werden. Jeder Mensch ist ein Individuum und braucht eine individuell zugeschnittene Lösung. Zur besseren praktischen Handhabung hat der Gesetzgeber unter Beibehaltung des gegliederten Systems der sozialen Sicherung das bis dahin auf alle Sozialgesetzbücher verteilte Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in einem Buch des Sozialgesetzbuchs zusammengefasst. Auf dieser Basis soll durch Koordination, Kooperation der Rehabilitationsträger und Konvergenz der Leistungen ein gemeinsames Recht und eine einheitliche Praxis der Rehabilitation und Behindertenpolitik erreicht werden. Die weitgehende Einheitlichkeit des Leistungsrechts ist ein hohes Gut für die praktische Anwendung. Wir wollen, dass der behinderte, pflegebedürftige und chronisch kranke Mensch losgelöst von der Zuständigkeit des Rehaträgers und der Ursache für den individuellen Rehabedarf von jedem zuständigen Träger die nach Art, Umfang sowie Struktur- und Prozessqualität gleich wirksame und bedarfsgerechte Leistung erhält. Zentrales Ziel des SGB IX ist die Überwindung der Schnittstellenprobleme des gegliederten Sozialleistungssystems im Bereich des Rehabilitations- und Teilhaberechts. Darüber hinaus fördert und stärkt es die Selbstbestimmung und die Rechte der Menschen mit Behinderung durch die Einführung des Rechts auf ein Persönliches Budget, das Wunsch- und Wahlrecht sowie die Verpflichtung zur Berücksichtigung der besonderen Belange behinderter Frauen, seelisch behinderter Menschen oder von Eltern und Kindern. Vieles ist erreicht, aber mit manchem können wir leider noch nicht zufrieden sein. Menschen mit Behinderung können nur dann selbstbestimmt ihrer Arbeit nachgehen oder gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben, wenn dafür die notwendigen Grundvoraussetzungen geschaffen sind. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist ihre Mobilität. Daher regelt das SGB IX in Kapitel 13 auch die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personenverkehr. Menschen mit Behinderung können den ÖPNV sowie Nahverkehrszüge kostenfrei nutzen. Dazu müssen sie eine Wertmarke für ihren Schwerbehindertenausweis erwerben. Diese Wertmarke kostete bislang 60 Euro für 12 Monate. Voraussetzung ist, dass in ihrem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „aG“ für außergewöhnlich gehbehindert enthalten ist. Zudem haben auch blinde Menschen Anspruch auf die sogenannte Freifahrt. Mit dieser Regelung haben viele Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, mit wenig finanziellen Mitteln ein sehr breites Netz an öffentlichen Transportmitteln zu nutzen. Im vergangenen Jahr hat die Deutsche Bahn zudem ihr Nahverkehrsnetz ohne Kilometerbeschränkung für schwerbehinderte Reisende freigegeben. Dies war ein weiterer lobenswerter Schritt für mehr Mobilität. Ein gut ausgebautes und funktionierendes öffentliches Nahverkehrssystem mit Bussen, Bahnen und Regionalzügen, das sich hinsichtlich der Barrierefreiheit in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat und weiter optimiert werden wird, ist nicht zum Nulltarif zu haben. Die Kostenaufwendungen sind enorm. Sowohl der Staat als Ganzes als auch alle Nutzerinnen und Nutzern, die tagtäglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Kulturveranstaltungen, zum Sport usw. fahren, haben sich an den Kosten zu beteiligen. Das ist in unserem solidarischen Grundverständnis immanent. Wohlgemerkt: Seit dem Jahr 1984 hat sich der Eigenanteil an der Wertmarke zur kostenfreien Nutzung des ÖPNV für Schwerbehinderte nicht erhöht, und das bei deutlich verbessertem Service der Nahverkehrsbetriebe mit mehr Angeboten und längeren Reichweiten der Streckennetze. Das ist beachtlich. Nun aber haben die Bundesländer Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im Bundesrat die Initiative ergriffen und einen Gesetzentwurf zur Änderung des 13. Kapitels des SGB IX vorgelegt. Sie sehen es als gerechtfertigt an, zum jetzigen Zeitpunkt die Kosten zur Beförderung von schwerbehinderten Menschen stärker an das aktuelle Preissystem anzupassen. Zudem soll künftig auch die Möglichkeit bestehen, die Kosten für die Wertmarke dynamisch anzuheben, wie es das SGB IX im Übrigen auch etwa für die Ausgleichsabgabe oder Kinderbetreuungskosten vorsieht. Der Vorschlag der Länder liegt auf dem Tisch: Die Eigenbeteiligung an der Wertmarke soll von derzeit 60 auf 72 Euro angehoben werden. Das bedeutet pro Monat eine Erhöhung von einem Euro. Es stellt sich die Frage, ob das gerechtfertigt ist. Aus Sicht der Behindertenverbände ist diese Erhöhung ungerecht. Das jedenfalls geht aus den bisherigen Stellungnahmen hervor. Wir müssen aber wissen und berücksichtigen, dass diejenigen Schwerbehinderten, die bedürftig sind und etwa Leistungen der Grundsicherung beziehen, nach wie vor von dem Betrag freigestellt bleiben. Für sie übernimmt der Steuerzahler den vollen Ausgleich. Das Solidarprinzip bleibt erhalten. Und festzustellen ist auch, dass von einer realen Preiserhöhung bereits im Vorfeld Abstand genommen wurde. Denn würde die Eigenbeteiligung in Anlehnung an die tatsächliche Verbraucherpreisentwicklung in den Bereichen Mobilität und Verkehr angepasst werden, müsste die Jahreswertmarke etwa 100 Euro kosten. Insofern ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Erhöhung auf 72 Euro aus unserer Sicht durchaus angemessen und zumutbar. Außerdem können sich alle auf ein sich stetig verbesserndes Nahverkehrsnetz verlassen. An dieser Stelle möchte ich auf die überfraktionelle Initiative zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle hinweisen, auf die sich die Fraktionen der Union, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen geeinigt haben, um den ÖPNV sowie den Fernbuslinienverkehr bis zum Jahr 2022 vollständig barrierefrei zu machen. Dies nur als Hinweis darauf, dass sich in vielen Bereichen sehr viel tut, um die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung durch ein Mehr an Mobilität zu steigern. Zurück zu den geplanten Änderungen des SGB IX. Der uns vorliegende Entwurf sieht vor, die Regelung über die Erstattung bei einer Rückgabe der Wertmarke zu optimieren, um den Verwaltungsaufwand zu verringern. Einen Anspruch auf Erstattung sollen Menschen mit Behinderung nur noch für die Jahreswertmarken haben, sofern die Hälfte der Gültigkeit der Wertmarke noch nicht abgelaufen ist. Für Halbjahreswertmarken, die vor Ablauf zurückzugeben werden, werden die Kosten nicht mehr zurückerstattet. Aus wirtschaftlicher Sicht will ich der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, das den Verkehrsunternehmen durch die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen zunächst Einnahmeverluste entstehen, die ihnen nach Maßgabe des § 148 ff. SGB IX erstattet werden. Sowohl der Bund als auch die Länder sind je nach anspruchsberechtigten Personen und Verkehrsmitteln zum Ausgleich dieser Einbußen verpflichtet. Die dazu aktuell bestehenden gesetzlichen Regelungen zu den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern führen zu einem hohen Verwaltungsaufwand, der mit den Regelungen im vorliegenden Gesetzesantrag vereinfacht werden soll. Auch das ist positiv anzumerken. In Zukunft sollen die Aufwendungen für eine unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen, die nach dem Bundesversorgungsgesetz anspruchsberechtigt sind, allein von den Ländern übernommen werden. Zum Ausgleich sollen die Länder ihre Abführungen aus dem Wertmarkenverkauf an den Bund entsprechend reduzieren. Diese Regelung betrifft ausschließlich die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Die Interessen schwerbehinderter Menschen sind davon nicht berührt. Für sie ändert sich dadurch nichts. Aus diesem Zu Protokoll gegebene Reden Grund tragen wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesen Vorschlag mit, zumal er den Verwaltungsaufwand reduziert. Mit der vorliegenden Gesetzesinitiative der Länder wird zudem angestrebt, die Lastenverteilung zwischen dem Bund und den Ländern zu verändern. Auf der Grundlage des jetzigen Rechts hat der Bund 2011 32 Prozent der Einnahmen erhalten. Der aktuelle Vorschlag der Länder basiert auf 20 Prozent. Fakt ist, das die Aufwendungen des Bundes in den vergangenen zehn Jahren für die Anspruchsberechtigten nach dem Bundesversorgungsgesetz ständig gesunken sind, und sie werden mit Blick auf die demografische Entwicklung weiter sinken. Deshalb ist es gerechtfertigt, für die Neufestsetzung der Lastenregelung die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre zugrunde zu legen. Danach ergibt sich ein Abführungssatz an den Bund von 27 Prozent, den wir in § 152 SGB IX festschreiben werden. Generell möchte ich noch einmal daran erinnern, dass in Zukunft die Schwerbehindertenausweise nur noch im Scheckkartenformat ausgehändigt werden. Das soll ab 1. Januar 2013 gelten. Ich hoffe, dass die Umstellung klappt, weil sie benutzerfreundlich ist.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der hier vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates enthält mehrere Regelungen, die man sich genauer anschauen muss. Lassen Sie mich jedoch zunächst generell auf die Situation persönlicher Mobilität für Menschen mit Behinderung eingehen. Der Bundesrat hat in seinem Antrag festgestellt - und dem kann man sich nur anschließen -, dass die Mobilität schwerbehinderter Menschen durch die sogenannten Freifahrtregelungen intensiv gefördert wird. Trotzdem erfüllen diese Regelungen - erweitert durch den im vergangenen Jahr erfolgten Wegfall der 50-km-WohnortGrenze - nur teilweise die Voraussetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich zitiere aus Art. 20: „Die Vertragsstaaten erleichtern ... die persönliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen in der Art und Weise und zum Zeitpunkt ihrer Wahl und zu erschwinglichen Preisen.“ Wir garantieren den Betroffenen bisher nur erschwingliche Preise. Der mittlere Teil dieser Festlegung der Konvention, die Art und Weise und der Zeitpunkt ihrer Wahl, muss noch deutlich verbessert werden. Als SPD haben wir in unserem Antrag „Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen - Voraussetzungen für Teilhabe und Gleichberechtigung“ - 17/6295 - geeignete Vorschläge zur Abstimmung gestellt. Sie wurden von dieser Koalition aus CDU/CSU und FDP abgelehnt. Einige der SPD-Vorschläge möchte ich noch einmal aufführen. Politik sollte sich dafür einsetzen, die Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr auf die gesamte Reisekette zu beziehen - es muss der gesamte Weg - von der Haustür bis zum Ziel - für Mobilitätseingeschränkte zugänglich gemacht werden; Fahrgastund Tarifinformationen barrierefrei und in leichter Sprache zu formulieren und darzustellen; Forschungsvorhaben und Modellprojekte zur barrierefreien Gestaltung von Fahrplanauskünften oder zur Unterstützung mobilitätseingeschränkter Menschen bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu fördern; den barrierefreien öffentlichen Personennahverkehr als Teil der Daseinsvorsorge in das Regionalisierungsgesetz aufzunehmen und gemeinsam mit der Deutschen Bahn AG ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, damit alle Bahnhöfe bis 2020 barrierefrei umgebaut werden können - die Abschaffung der 1 000er-Regelung inklusive. Dieser vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates will die Eigenbeteiligung von Menschen mit Behinderung an den Kosten der Freifahrten von 5 auf 6 Euro anheben. Eine Forderung, die angesichts der beschriebenen Leistungsausweitung und der seit 1984 nicht mehr angepassten Eigenbeteiligung angemessen erscheint. Mobilität bleibt so erschwinglich. Auch die Vereinfachungen, die gefordert werden, sind grundsätzlich sinnvoll. Problematischer ist für mich eher die sogenannte Dynamisierung der Eigenbeteiligung, denn mit ihr wird die künftige Anpassung gesteuert. Der Gesetzentwurf schlägt vor, das statistische Durchschnittsentgelt der Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung zum Maßstab der jährlichen Anpassung der Eigenbeteiligung zu machen. Für das Jahr 2012 würde dies gegenüber 2011 eine Erhöhung um 5 Euro bedeuten. Selbst wenn diese Steigerung um 7 Prozent sicher nicht jedes Jahr eintritt, kann man sich vorstellen, dass Menschen mit Behinderung so sehr schnell eine nicht gewünschte hohe Eigenbeteiligung zu leisten haben - und das ohne adäquate Steigerung der Regelsätze, Entgelte und ohne kurzfristige Steigerung der Barrierefreiheit im Bahnverkehr. Das birgt die große Gefahr sozialer Ungerechtigkeit und der finanziellen Überforderung der Betroffenen. Schwerbehinderte Menschen bestreiten ihr Einkommen überwiegend aus Renten wegen Erwerbsminderung, Grundsicherung im Alter oder, bei Erwerbsminderung, Werkstattlöhnen und niedrigen Einkommen. Die Erwerbssituation schwerbehinderter Menschen verschlechtert sich mit jeder wirtschaftlichen Krise. An wirtschaftlichen Aufschwüngen partizipieren die Betroffenen unterdurchschnittlich. „Behinderungen wirken sich deutlich nachteilig auf die beruflichen Teilhabechancen der Betroffenen aus“, stellt auch der aktuelle Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts fest. Deshalb wäre zu beraten, die Anpassung an die jährliche Entwicklung der Sozialhilferegelsätze vorzunehmen. Darüber sollten wir im parlamentarischen Verfahren diskutieren und uns ernsthaft mit der Gerechtigkeitsfrage auseinandersetzen.

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Seit mehr als einem Jahr gilt in allen Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn die neue Regelung für die Beförderung freifahrtberechtigter schwerbehinderter Menschen. Seit dem 1. September 2011 können sie über einen Radius von 50 Kilometern hinaus kostenlos die Nahverkehrszüge der Deutschen Bahn nutzen. Sie benötigen hierfür keine zusätzlichen Tickets, sondern nur ihren rot-grünen Schwerbehindertenausweis und ein Beiblatt mit Wertmarke. Ein umständlicher Ticketkauf für den Nahverkehr gehört somit der Vergangenheit an. Auch das Mitführen eines Streckenverzeichnisses, in dem der 50-Kilometer-Radius eingetragen wird, fällt weg. Schwerbehinderte Menschen können dadurch ohne großen Vorbereitungsaufwand bei der Ticketbeschaffung Zug fahren. Diese verbesserte Regelung der Bahn erweitert das Angebot für Menschen mit Behinderung enorm und erleichtert ihnen die Nutzung des Nahverkehrs. Sie schafft eine größere Mobilität für mehr als 1,4 Millionen Menschen mit Behinderung. Sie erleichtert den Menschen das Erreichen ihres Arbeitsplatzes oder ihrer Ausbildungsstätte. Sie haben bessere Bedingungen für ihre persönliche Mobilität. Ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention werden hierdurch Teilhabemöglichkeiten verbessert. Es gilt nun, diese unternehmerische Entscheidung der Deutschen Bahn auch gesetzgeberisch nachzuvollziehen. Hierfür sind Änderungen im SGB IX notwendig. Dabei soll das SGB IX auch an weitere Entwicklungen im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs angepasst werden. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates zeigt hier den richtigen Weg. Über die Details der Änderungen werden wir in den kommenden Wochen gemeinsam beraten müssen. Dabei ist der Ansatz richtig, die seit fast 30 Jahren unveränderte Eigenbeteiligung der freifahrtberechtigten Personen für den Erwerb der für die Fahrt notwendigen Wertmarke zu erhöhen. Im Zuge der gestiegenen Nutzungsangebote für den Nahverkehr ist diese Anpassung nachvollziehbar. In § 145 Abs 1 SGB IX wird der zu zahlende Beitrag seit 1984 unverändert mit 5 Euro angegeben. Es liegt auf der Hand, dass dieser Betrag weder dem erweiterten Angebot - gerade im Zuge der zuletzt weggefallen Begrenzung auf 50 Kilometer - noch den gestiegenen Kosten für die Aufrechterhaltung dieser Angebote gerecht wird. Es ist daher zu verantworten, den monatlich zu entrichtenden Betrag anzuheben. Ebenfalls richtig ist die geplante Dynamisierung des Zuzahlungsbetrages, da alle Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs von Anpassungen im Preissystem betroffen sind. Zwischen Bundesrat und Bundestag bestehen unterschiedliche Auffassungen über die Berechnung dieser Summe. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen werden wir einen geeigneten Kompromiss finden. Bestimmte Personengruppen, insbesondere Einkommensschwache und Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen der Grundsicherung, sollen die Wertmarke selbstverständlich auch weiterhin unentgeltlich erhalten. Weiterhin ist geplant, die komplizierten Ausgleichsregelungen zwischen Bund und Ländern auf der einen und den Verkehrsunternehmen auf der anderen Seite zu vereinfachen. In den §§ 148 bis 153 SGB IX werden die Ausgleichsleistungen für die Verkehrsunternehmen geregelt, denen durch die verpflichtende Beförderung von Menschen mit Behinderung Einnahmeverluste entstehen. Nach dieser Regelung sind sowohl Bund als auch Länder erstattungspflichtig. In der Praxis führt diese Regelung zu aufwendigen Verwaltungs- und Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Es ist daher sinnvoll, Änderungen am SGB IX vorzunehmen, um den bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Zusätzliche Belastungen für Menschen mit Behinderung müssen dabei ausgeschlossen sein. In diesem Zusammenhang wird auch über die Möglichkeiten zur Rückerstattung gezahlter Beiträge bei der Rückgabe nichtgenutzter Wertmarken zu reden sein. Bislang werden nichteingesetzte Wertmarken erstattet, wenn sie noch mindestens drei Monate gültig sind. Der Vorschlag des Bundesrates, den Erstattungszeitraum in Zukunft auf ein halbes Jahr festzulegen, scheint einen ausgewogenen Ausgleich zwischen den Interessen aller Beteiligten darzustellen. Weiterhin sollen nach dem Gesetzentwurf des Bundesrates die Aufwendungen für eine unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen künftig von den Ländern übernommen werden. Im Gegenzug wollen die Länder ihre Abführungen aus dem Wertmarkenverkauf an den Bund entsprechend reduzieren. Diese Vorgehensweise ist geeignet, um sowohl beim Bund als auch bei den Ländern den Verwaltungsaufwand zu reduzieren. Hierzu würde auch die in Rede stehende pauschalisierte Abführung beitragen. Im Hinblick auf die hierfür vom Bundesrat angesetzte Pauschale von 20 Prozent besteht allerdings noch Beratungsbedarf. Eine Pauschale in dieser Höhe drückt nicht die tatsächliche Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern aus. Insgesamt ist die Gesetzesinitiative des Bundesrates zu begrüßen. Es ist richtig, die Zahl der Tatbestände, für die Bund oder Länder kostenerstattungspflichtig sind, zu verringern. Der Ersatz individueller Regelungen durch pauschalisierte Prozentsätze wird die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern vereinfachen. Der dadurch sinkende Verwaltungsaufwand wird Kosten einsparen und Bürokratie abbauen.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf still und leise, ohne Debatte im Bundestag an die zuständigen Ausschüsse verwiesen werden. Auf Forderung der Linken gibt es nun wenigstens zu Protokoll gegebene Redebeiträge der Fraktionen. So kann die Öffentlichkeit erfahren, worum es bei dieser Änderung des Neunten Sozialgesetzbuches, SGB IX, geht. Brauchen wir eigentlich eine Änderung des SGB IX? Ich meine, ja. Wir brauchen mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention endlich ein Leistungsgesetz, welches zur Ermöglichung von Selbstbestimmung und umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabesicherungsleistungen gewährleistet. Zu Protokoll gegebene Reden Das ist aber nicht Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes. Dazu müsste man eher den Antrag der Linken „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“ ({0}) in die Hand nehmen. Die Entscheidung über diesen Antrag trifft der Bundestag in der kommenden Sitzungswoche, am 18. Oktober. Worum geht es also in diesem Gesetzentwurf? Als eine Form des Nachteilsausgleiches und zur Verbesserung der Mobilität gibt es das Recht auf unentgeltliche Beförderung für viele schwerbehinderte Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer im öffentlichen Personennahverkehr. Die zur Beförderung verpflichteten Verkehrsunternehmen erhalten dafür einen Ausgleich von Bund und Ländern. Ein Ziel des Gesetzes ist, das Verwaltungsverfahren zwischen Bund, Ländern und Verkehrsträgern zu vereinfachen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Weniger bekannt ist, dass die freifahrtberechtigten Personen eine Eigenbeteiligung in Form des Erwerbs einer Wertmarke leisten müssen, wobei bestimmte Personengruppen, insbesondere Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen der Grundsicherung, die Wertmarke unentgeltlich erhalten. Mit der Begründung, „dass sich die Nutzungsmöglichkeiten und folglich auch der damit verbundene Wert erheblich erhöht haben“, soll der Preis der Wertmarke um 20 Prozent, von 60 auf 72 Euro, erhöht und künftig dynamisiert, also weiter erhöht werden. Ja, es stimmt. Die Behindertenbewegung hat es erkämpft, dass die Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs sich in den letzten Jahren verbesserten ohne dass der Preis der Wertmarke stieg. Sie sind aber aufgrund zahlreicher Barrieren noch längst nicht im vollen Umfang gewährleistet. Es stimmt aber auch, dass sich die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen seit März 2009, also dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention, mehr verschlechtert als verbessert hat. Es sind die vielen kleinen Beiträge, die gerade auch für die vielen mit niedrigen Einkommen haushaltenden Menschen mit Behinderungen zu Buche schlagen. Es sind die Mehrkosten infolge der Gesundheitsreformen, es sind die überproportional gestiegenen Kosten für Miete und Mietnebenkosten, die hohen Benzinkosten, es ist die Absenkung der Grundsicherungsleistungen durch Einführung der Regelbedarfsstufe 3, um nur einige Punkte zu nennen. Für mehr als 580 000 Menschen mit Behinderungen, die bislang von Rundfunkgebühren befreit waren, wird der Nachteilsausgleich ab 1. Januar 2013 gestrichen. Und nun steigt der Preis der Wertmarke für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs um 20 Prozent. 55 Millionen Euro sind die aus dem Wertmarkenverkauf geplanten Einnahmen für Bund und Länder, rund 11 Millionen Euro mehr, weil die Menschen mit Behinderungen wieder einmal zur Kasse gebeten werden. Das ist nicht der Weg in eine inklusive Gesellschaft und nicht der Weg, um auch diesem Teil der Bevölkerung eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu ermöglichen. Deswegen ist sich die Linke an dieser Stelle einig mit der Behindertenbewegung: Die Gebührenerhöhung lehnen wir ab.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Änderung des SGB IX, die hier zur Diskussion steht, sieht eine Erhöhung der Eigenbeteiligung beim Erwerb der Wertmarke vor, die schwerbehinderte Menschen zur Beförderung im öffentlichen Personenverkehr berechtigt. Seit fast 30 Jahren konnte diese Wertmarke für 60 Euro im Jahr erworben werden, zukünftig soll sie 12 Euro mehr kosten. Natürlich ist es nicht schön, wenn Leistungen teurer werden. Man kann aber mit Recht sagen, dass sich in puncto Barrierefreiheit in den letzten 30 Jahren etwas verbessert hat. Das bedeutet nicht, dass es nichts mehr zu tun gäbe. In der Debatte um die Novelle des Personenbeförderungsgesetzes haben wir erlebt, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Fernbusverkehrs vorgelegt hat, ohne darin einen Gedanken auf die Sicherung der Barrierefreiheit zu verwenden. Gemeinsam mit der SPD haben wir Grüne in Bundesrat und Bundestag einen alternativen Vorschlag eingebracht, der klare Fristen zur Sicherung der Barrierefreiheit im Nahverkehr und bei den Fernbussen setzt. Im Ergebnis gibt es jetzt eine Einigung zwischen vier Fraktionen, in denen die Barrierefreiheit berücksichtigt wird. Ich sage ganz offen, dass ich mir mehr gewünscht hätte. Die Übergangsfristen, die ausgehandelt wurden, sind Kompromisse. Hätte interfraktionell Einigkeit bestanden, wäre es sicher möglich gewesen, schon früher flächendeckend barrierefreie Fernbusse einzuführen. Es ist außerdem absehbar, dass weiterhin Diskussionen über die Grenzen entstehender Kosten geführt werden. Die Unternehmen werden jedes Einfallstor nutzen, um Kosten zu sparen. Maßstab der Diskussion muss aber die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sein. Wir müssen uns weiterhin für den barrierefreien Aus- und Umbau einsetzen, nicht nur im Verkehrsbereich. In diesem spezifischen Fall ist die Verringerung eines Nachteilsausgleichs angesichts der Fortschritte, die es beim Ausbau der Barrierefreiheit im Verkehrsbereich zwischenzeitlich gab, gerechtfertigt. Darüber dürfen wir aber nicht aus den Augen verlieren, dass bei den Nachteilsausgleichen für Menschen mit Behinderungen insgesamt einiges im Argen liegt: Wir haben noch immer kein System, mit dem behinderungsbedingte Nachteile ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen nachvollziehbar ausgeglichen werden. Stattdessen gibt es eine unübersichtliche Zahl „historisch gewachsener“ Nachteilsausgleiche, die sich teilweise von Bundesland zu Bundesland unterscheiden und in ihrer Höhe willkürlich erscheinen. Das ist weder gerecht noch gerechtferZu Protokoll gegebene Reden tigt. Wenn wir hier das nächste Mal über eine Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch diskutieren, hoffe ich auf eine Debatte, in der es um eine konstruktive Weiterentwicklung dieses Buches hin zu einem Teilhabeleistungsgesetz geht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 9: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts - Drucksache 17/10774 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Es wurde vereinbart, die Reden zu Protokoll zu neh- men.1) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10774 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. ({1}) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie mir bis hierher die Treue gehalten haben. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. September 2012, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine freundliche Nacht. ({2})