Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die
Tagesordnung eintreten, darf ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges
Mitglied Friedrich Zimmermann, der nach längerer
schwerer Krankheit am 16. September gestorben ist. Er
wurde 87 Jahre alt.
Friedrich Zimmermann wurde am 18. Juli 1925 in
München geboren. Er gehörte also der Generation an,
die die Schrecken nationalsozialistischer Diktatur und
den Zweiten Weltkrieg aktiv miterlebt hat.
Der CSU trat er schon 1948 bei und begann, unsere
noch junge Demokratie mitzugestalten. In Bayern setzte
er sich zunächst dafür ein, die damals „neubayerischen“
fränkischen und schwäbischen und überwiegend evangelischen Bevölkerungsteile zu integrieren und vor allem
die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aufzunehmen, die etwa ein Viertel der bayerischen Bevölkerung
umfassten.
In seiner Partei hat Friedrich Zimmermann schon bald
herausgehobene Ämter übernommen. Unter anderem
war er von 1956 bis 1963 Generalsekretär und von 1979
bis 1989 stellvertretender Vorsitzender seiner Partei.
1957, also vor 55 Jahren, wurde Friedrich
Zimmermann zum ersten Mal Mitglied des Deutschen
Bundestages, in den er stets direkt gewählt worden ist.
Er gehörte diesem Parlament nicht weniger als 33 Jahre
an.
Friedrich Zimmermann war unter anderem von 1965
bis 1972 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses.
Seit 1961 Vorstandsmitglied der CDU/CSU-Fraktion,
hatte er als CSU-Landesgruppenchef und stellvertretender Fraktionsvorsitzender von 1976 bis 1982 maßgeblichen Anteil an der Politik der damaligen Oppositionsfraktion.
Über die Parteigrenzen hinweg hat sich Friedrich
Zimmermann damals besonders mit seiner besonnenen
und klugen Mitwirkung im Großen Krisenstab, der anlässlich der Entführung von Hanns Martin Schleyer von
Bundeskanzler Helmut Schmidt eingerichtet worden
war, großen Respekt und Anerkennung erworben.
1982 berief ihn Bundeskanzler Helmut Kohl als Bundesinnenminister in sein Kabinett. Er war auch hier im
besten demokratischen Sinne streitfreudig und scheute
während seiner Amtszeit nicht vor harten Auseinandersetzungen zurück. Einmal von ihm als richtig und wichtig erkannte Positionen vertrat er mit Nachdruck. Breite
Anerkennung fand er für seine Pionierleistungen in der
Umweltpolitik, wo ihm in der Europäischen Gemeinschaft ein Durchbruch mit der Einführung des Katalysators und des bleifreien Benzins gelang. 1989 übernahm
er als Bundesminister das Verkehrsministerium.
Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl
1991 schied Friedrich Zimmermann aus der Regierung
und dem Bundestag aus. In seiner bemerkenswerten Abschiedsrede erklärte er nicht ohne ein Augenzwinkern:
Ich bitte alle um Vergebung, denen ich im Laufe
dieser Jahre auf die Füße getreten bin, aber ich habe
es immer so gemeint.
Friedrich Zimmermann hat über viele Jahre hinweg
die Geschicke unseres Landes mitgestaltet. Er hat sich
innerhalb und außerhalb des Bundestages mit seinem
politischen und parlamentarischen Engagement um unser Land verdient gemacht.
Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Seinen Angehörigen spreche ich im Namen des ganzen
Hauses unsere Anteilnahme aus.
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 18. September
hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang
Schäuble, seinen 70. Geburtstag gefeiert. Im Namen des
ganzen Hauses möchte ich ihm dazu herzlich gratulieren
und alles Gute wünschen.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Lieber Kollege Schäuble, es gibt kein Mitglied dieses
Parlaments, das dem Deutschen Bundestag so lange angehört wie Sie. Niemand hat über so viele Jahre in so
vielen, so unterschiedlichen und so herausragenden Ämtern seinen Dienst für unser Land geleistet. Die große
Wertschätzung, die Sie weit über die eigene Partei und
Fraktion hinaus genießen, kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Deutsche Bundestag gestern, nach einer
Vereinbarung aller Fraktionen, seine Ausschussberatungen vorzeitig beendet bzw. unterbrochen hat, um möglichst vielen Mitgliedern des Hauses die Teilnahme an
dem Festakt zu Ihren Ehren im Deutschen Theater zu ermöglichen.
Ich weise schon jetzt vorsichtshalber darauf hin, dass
sich aus dieser großzügigen Regelung kein Rechtsanspruch für die Gestaltung runder Geburtstage für alle
Mitglieder des Hauses ergibt.
({1})
Lieber Kollege Schäuble, ich freue mich, dass ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses noch einmal unsere
guten Wünsche in einem anderen, ähnlich bedeutenden
Theater in sehr viel knapperer, aber nicht weniger herzlicher Form übermitteln darf. Alle guten Wünsche für die
nächsten Jahre.
({2})
Ebenfalls am 18. September hat die Vorsitzende des
Haushaltsausschusses, unsere Kollegin Petra Merkel,
ihren 65. Geburtstag sowie am 24. September der Kollege Peter Götz seinen entsprechenden Geburtstag gefeiert. Auch Ihnen alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr.
({3})
Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung noch
eine Wahl durchführen. Für den aus dem Beirat der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen ausscheidenden
Kollegen Manfred Nink schlägt die Fraktion der SPD
vor, den Kollegen Ingo Egloff als stellvertretendes Mitglied zu berufen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der
Kollege hiermit in den Beirat gewählt.
({4})
- Sie wissen, dass die auf diese Weise, wie ernsthaft
auch immer geäußerten Bedenken im Protokoll des
Deutschen Bundestages erscheinen,
({5})
und klären das am besten bilateral mit dem gleichwohl
gewählten Kollegen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ratifizierung des Vertrages vom 2. Februar
2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
- Drucksache 17/10767 ({6})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:
Besorgnis über die Parlamentswahlen in
Weißrussland
({7})
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa
Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe
- Drucksache 17/10770 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 47
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens ({9})
für die Agentur der Europäischen Union für
Grundrechte
- Drucksache 17/10760 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken
- Drucksache 17/10787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staaten
- Drucksache 17/10791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Angelika Graf ({13}), Dr. Marlies
Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichheiten beseitigen - Versorgungslücken schließen
- Drucksache 17/9059 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({14})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der
CDU/CSU und FDP
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung ({15})
- Drucksache 17/10775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing,
Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Bankenunion - Subsidiaritätsgrundsatz be-
achten
- Drucksache 17/10781 -
ZP 8a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/8233 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförderungs- und mautrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/7046 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({17})
- Drucksache 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({18})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({19}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche
- Drucksachen 17/7487, 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({20})
ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der
Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts
- Drucksache 17/10774 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 10 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Konsequenzen aus dem Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 4 a, 45
und 47 h abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste
dargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesordnung.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 187. Sitzung überwiesene nachfolgende
Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss
({22}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes ({23})
- Drucksache 17/10039 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({24})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ich darf Sie fragen, ob Sie mit all diesen gerade vor-
getragenen Ergänzungen und Änderungen einverstanden
sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das hier-
mit so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
energetische Modernisierung von vermietetem
Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln ({25})
- Drucksache 17/10485 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({26})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Halina Wawzyniak, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wohnen muss bezahlbar bleiben
- Drucksache 17/10776 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({27})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mietrechtsnovelle nutzen - Klimafreundlich
und bezahlbar wohnen
- Drucksache 17/10120 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({28})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin für Justiz, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
({29})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende ist eine der zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer
Zeit. Ein großes Potenzial für Energieeffizienz liegt im
Gebäudebestand. Deshalb spielt die Wohnungswirtschaft
für das Umweltkonzept der Bundesregierung und für die
Energiewende eine wichtige Rolle.
Ein modernes, auf Klimaschutz ausgerichtetes Mietrecht kann einen eigenen Beitrag zur Energiewende leisten, ohne die soziale Ausgewogenheit aus den Augen zu
verlieren. Aber es ersetzt nicht das, was an Fördermaßnahmen und Verbesserungen der Rahmenbedingungen
für die Sanierung im Wohnungsbestand notwendig ist.
Die Vorschläge dazu liegen leider seit Monaten im Bundesrat. Ich kann nur sagen: Auch dieses Paket gehört
dazu.
({0})
Um höhere Energieeffizienz des Gebäudebestandes
tatsächlich zu bekommen, müssen Anreize geschaffen
werden, gerade auch für Vermieter von wenigen Wohnungen, damit auch sie diese Möglichkeiten nutzen und
tatsächlich die notwendigen energetischen Modernisierungen durchführen. Da setzt unser Gesetzentwurf an.
Wir wollen, und zwar in sehr ausgewogener Weise,
({1})
damit ermöglichen, dass Sanierungsmaßnahmen, die im
Durchschnitt - wenn es sich um Fassaden, um Fenster,
um anderes handelt - in einer Zeit von drei Monaten
durchgeführt werden, geduldet werden und dass für
diese Zeit, wenn es zumutbar ist, keine Forderungen
nach Mietminderungen erhoben werden.
({2})
Das ist ein behutsames Vorgehen mit dem Ziel, gerade
die privaten Vermieter dazu zu ermuntern, zu investieren, und zwar in einer Weise, dass es auch dem Mieter
zugutekommt.
({3})
Es kommt dem Mieter nämlich zugute, wenn es künftig
niedrigere Nebenkosten gibt, weil der Energieverbrauch
verringert wird. Genau dazu dienen die von uns zu befördernden energieeffizienzsteigernden Maßnahmen.
Damit schafft der Gesetzentwurf auch mehr Rechtssicherheit. Natürlich gehört es zu den legitimen und
selbstverständlichen Interessen des Mieters, zu wissen,
welche energiesparenden Maßnahmen er akzeptieren
muss und welche Konsequenzen sich für ihn daraus ableiten. Genau das gilt auch für den Vermieter, der investiert, der Geld in die Hand nimmt, der damit zu mehr
Energieeffizienz beiträgt, aber damit eben auch den Wert
seiner Mietwohnung erhöht.
Wir ändern nichts an der seit vielen Jahren bestehenden Regelung, dass von den Modernisierungskosten
- das gilt dann eben auch für Sanierungskosten - in keinem Fall mehr als 11 Prozent jährlich auf die Miete umgelegt werden dürfen. Wenn wir uns die Praxis anschauen, dann erkennen wir, dass diese Spanne von
11 Prozent von vielen Vermietern gar nicht ausgeschöpft
wird, obwohl sie es nach geltendem Recht tun könnten.
Angesichts der großen Herausforderung der Energiewende, der wir uns gegenübersehen, bedeutet dieser Gesetzentwurf eine wirklich ausgewogene Anpassung von
Leistung und Gegenleistung im Mietverhältnis.
({4})
Einen weiteren wichtigen Beitrag zu Energieeffizienz
und Klimaschutz kann das sogenannte Contracting leisten. Damit beschäftigt sich der Bundestag schon seit
mehreren Legislaturperioden, und nie ist es in all den
Jahren gelungen, endlich einmal einen Regelungsvorschlag zu unterbreiten. Wir wollen aber doch gerade,
dass, wenn ein Vermieter von größeren Wohnungseinheiten von der Wärmeversorgung in Eigenregie auf gewerbliche Wärmelieferung durch einen Dritten umstellt,
es zu mehr Energieeffizienz kommt, indem dann investiert wird, zum Beispiel in einen neuen Heizkessel. Eine
andere Möglichkeit ist, dass ein Haus mit Mietwohnungen im Zuge dessen mit Fernwärme versorgt wird. Das
wollen wir befördern, weil so Energie gespart und die
Umwelt geschont wird.
Der Vermieter kann sich darauf verlassen, dass die
Umstellung in einem geordneten Verfahren durchgeführt
wird, und der Mieter weiß, dass die Umstellung nicht nur
umweltfreundlich ist, sondern für ihn auch kostenneutral
bleibt. Genau das wollen wir mit den Regelungen gewährleisten, die wir jetzt im Mietrecht vorsehen.
In der Haushaltsdebatte wurde von einigen Rednern
darauf hingewiesen, dass die Vertreibung von Mietern
aus angestammten Vierteln das soziale Wohngefüge gefährde und dass dies insbesondere ein Problem in den
großen Städten sei. Dem kann ich nur zustimmen.
({5})
In München, in Hamburg, in Köln oder in Berlin - wer
regiert dort, teilweise seit Jahren?
({6})
Wer nutzt die rechtlichen Möglichkeiten zum Kiez- und
Milieuschutz, die gerade auf Länderebene bestehen? Ich
habe davon bisher wenig gehört. Aber wir machen jetzt
etwas mit diesem Gesetzentwurf!
({7})
- Wir schmeißen niemanden raus; im Gegenteil! Vielleicht haben Sie bei diesem Gesetzentwurf bemerkt, dass
wir an den Kündigungsfristen nichts ändern, sondern
dass es genau bei den Regelungen bleibt, wie wir sie derzeit haben.
Mit unserem Gesetzentwurf werden wir Mieter künftig sogar noch besser vor Eigenbedarfskündigungen
schützen.
({8})
Die Umgehung des Kündigungsschutzes bei der Umwandlung in Eigentumswohnungen nach dem sogenannten Münchener Modell wird es zukünftig nicht mehr geben. Der Schutz vor Eigenbedarfskündigungen für
mindestens drei Jahre - nach Landesrecht übrigens dann
für bis zu zehn Jahre - wird auch greifen, wenn eine Personengesellschaft ein Mietshaus erwirbt, um die Wohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Genau
das hat doch dem Vorschub geleistet, was wir in manchen Städten erleben, nämlich dass in einer Art und
Weise umgewandelt wird, bei der die derzeitigen rechtlichen Regelungen eben nicht greifen. Deshalb ist der Gesetzentwurf, den wir hier vorlegen, ausgewogen im Hinblick auf Rechte und Pflichten von Mietern und
Vermietern.
({9})
Das gilt auch - erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung -, wenn es um missbräuchliches Verhalten von
Mietern geht, und das gibt es; das kann man nicht leugnen. Um das festzustellen, braucht man nicht lange statistische Untersuchungen und tatsächliche Bewertungen;
({10})
da muss man sich nur einmal mit Vermietern unterhalten,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Vermieter stehen
teilweise hilflos da, wenn ihre Mietwohnungen beschädigt werden oder sich die Mieter den Zahlungsverpflichtungen entziehen. Da wissen die Vermieter nicht, wie sie
ihr Eigentum, ihre Mietwohnung, wiederherrichten sollen oder entsprechend durchgreifen können. Auf der
Grundlage des Berliner Räumungsmodells - das haben
wir etwas weiterentwickelt - verbessern wir die Möglichkeiten des Vermieters, hier angemessen vorzugehen.
({11})
Von daher bietet der Gesetzentwurf eine gute Grundlage für die kommenden, mit Sicherheit sehr engagiert
geführten Beratungen zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Egloff für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Normalerweise heißt es ja: Aller guten Dinge
sind drei. - In diesem Fall, was die Mietrechtsänderung
angeht, diskutieren wir, glaube ich, das vierte oder fünfte
Mal. Trotz der diversen Referentenentwürfe und der Diskussionen, die wir bisher hier im Plenum und auch im
Ausschuss geführt haben, kann man feststellen, dass das
Ding, was hier vorgelegt worden ist, leider nicht gut geworden ist.
({0})
Immerhin haben wir jetzt einen Gesetzentwurf, mit
dem wir arbeiten können. Und ich hatte bis zu Ihrer
Rede, Frau Ministerin, die stille Hoffnung, dass es gelingt, Dinge noch zu verbessern.
({1})
Aber nachdem Sie hier erklärt haben, dass wir eigentlich
gar keine soziale Schieflage in diesem Lande haben, was
die Mietensituation angeht, ist diese Hoffnung gestorben. Darauf zu verweisen, dass in Hamburg, in München
und in anderen Ballungszentren Sozialdemokraten regieren, wohl wissend, dass die Gesetzgebungskompetenz
für diese Sachen beim Bund liegt, das ist mehr als billig,
Frau Ministerin.
({2})
Der Gesetzentwurf, so wie er hier vorliegt, hat erhebliche Mängel:
Er blendet die Frage des sozialen Gleichgewichts völlig aus, sowohl bei der energetischen Gebäudesanierung
als auch bei der Frage der steigenden Mieten insgesamt.
Er will die Gebäudesanierung erleichtern - das ist
hier noch einmal gesagt worden -, indem er den Mietern
das Recht auf Mietminderung für drei Monate abschneidet. Aber damit wird das Ziel nicht erreicht, im Gegenteil: Der Gesetzentwurf führt an dieser Stelle zu neuen
Rechtsunsicherheiten, weil mit dieser Dreimonatsregelung doch nur neue Spielwiesen für Anwälte eröffnet
werden:
({3})
Ist es Instandsetzung, ist es normale Modernisierung, ist
es energetische Gebäudesanierung? Bei den ersten beiden Sachverhalten hat man Mietminderungsrecht, beim
letzten nicht. Das öffnet doch dem Rechtsstreit Tür und
Tor. Von daher, meine Damen und Herren, haben Sie
hiermit denjenigen, die energetisch sanieren wollen, einen Bärendienst erwiesen, nicht aber das Problem gelöst.
({4})
Der Gesetzentwurf gibt vor, Probleme zu lösen, wo
keine sind, so bei den Mietnomaden - darauf werde ich
noch zurückkommen -, und insgesamt benachteiligt er
alle Mieter, indem er ihnen Rechte abschneidet.
Mit anderen Worten: Der Entwurf, so wie er hier vorliegt, meine Damen und Herren, ist in meinen Augen ein
schlechter Entwurf.
Wenn eine Untersuchung des Pestel Instituts im Auftrag der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“
feststellt, dass der Anteil der Haushalte mit einem Einkommen unter 1 500 Euro im Monat von 2002 bis 2010
von knapp 39 Prozent auf 44 Prozent gestiegen ist, und
wir gleichzeitig wissen, dass es Haushalte gibt, die
40 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben müssen, dann sollte eigentlich klar sein, dass hier Handlungsbedarf auf der sozialen Seite besteht,
({5})
und zwar auf zwei Ebenen:
Angesichts dieser Zahlen kann man doch unschwer
feststellen, dass eine weitere Belastung dieser Haushalte
mit Kosten schwer möglich ist. Das gilt auch für die
energetische Gebäudesanierung. An dieser Stelle haben
wir ein gesellschaftliches Problem.
Angesichts der Mietenentwicklung in vielen Ballungszentren ist auch Handlungsbedarf angesagt, wenn
man die soziale Spaltung der Städte und die Verdrängungswettbewerbe in den Städten nicht weiter fortschreiten lassen will.
Die SPD-Fraktion hat hierzu Positionen vorgelegt.
Sie waren hier auch schon Gegenstand der Debatte;
trotzdem möchte ich noch einmal darauf zurückkommen:
Dazu zählen die Absenkung der Umlage bei der
Modernisierung von 11 auf 9 Prozent, aber auch, MietIngo Egloff
erhöhungen nach § 558 Abs. 3 BGB in Zukunft nur in
Höhe von 15 Prozent alle vier Jahre statt in Höhe von
20 Prozent alle drei Jahre zu gestatten.
Dazu gehört auch die Forderung - dies ist eine wichtige Forderung -, bei der Neuvermietung eine Kappungsgrenze bei einem Betrag von 10 Prozent über der
ortsüblichen Vergleichsmiete einzuführen; denn das ist
es doch: Wenn die Wohnungen frei werden, dann ist der
Vermieter nicht gehalten, irgendwelche Grenzen zu berücksichtigen, sondern kann die Miete nehmen, von der
er meint, dass er sie erzielen kann.
({6})
Das führt dazu, dass an dieser Stelle die Verdrängungswettbewerbe einsetzen. Deswegen kommt es auch darauf an, wie die ortsübliche Vergleichsmiete berechnet
wird. So, wie sie bisher berechnet wird, führt das eben
auch dazu, dass Mieterhöhungen nicht verhindert werden.
({7})
Ich freue mich, dass die Grünen in ihrem Antrag eine
ähnliche Überlegung angestellt haben, was diese Frage
angeht. Da gibt es im Detail Unterschiede, man kann
auch darüber streiten, ob man einen Referenzzeitraum
von sechs Jahren oder zehn Jahren nimmt, und darüber
diskutieren, welche Mieten da einfließen. Aber die Richtung ist in Ordnung. Auch Ihr Vorschlag, meine Damen
und Herren von den Grünen, den Landesregierungen
bzw. Kommunen das Recht einzuräumen, bestimmte
Mietobergrenzen in Gebieten einzuführen, finde ich gut
und zielführend. Das setzt an dem Vorschlag an, den das
Land Berlin im Bundesrat eingebracht hat, und das
würde den Kommunen helfen, in bestimmten Stadtbezirken Wildwuchs und schlechte Entwicklungen zu beseitigen.
({8})
- Ja, wer nun dafür sozusagen das Urheberrecht zu beanspruchen hat, das lasse ich jetzt einmal dahingestellt
sein. Auf jeden Fall ist die Richtung richtig.
Die Kollegen von den Linken legen wie üblich eine
Schippe drauf. Ich finde, es schießt deutlich über das
Ziel hinaus,
({9})
wenn festgeschrieben wird: Die Miete darf 30 Prozent
des Nettoeinkommens nicht überschreiten, eine Obergrenze von 30 Prozent des bundesdurchschnittlichen
Haushaltseinkommens darf nicht überschritten werden. Ich halte das für unpraktikabel, meine Damen und Herren, aber Sie mussten ja irgendetwas machen, was uns
toppt, und so sind Sie zu diesem Vorschlag gekommen.
({10})
Das wird in der Praxis nicht funktionieren, genauso wie
es nicht funktionieren wird, die Umlage auf 5 Prozent zu
begrenzen. Dann machte keiner mehr energetische Gebäudesanierung. Ebenso ist Ihre Vorstellung, die normale Mieterhöhung nur bei Wohnwertverbesserung greifen zu lassen, nicht zielführend; das funktioniert in dem
Markt nicht. Das führte letztendlich nur dazu, dass die
Wohnungsbestände dann nicht mehr in dem Zustand wären, in dem sie sein sollten.
Allerdings haben Sie wenigstens Vorstellungen, wenn
auch falsche, wohin die Entwicklung gehen soll. Solche
Vorstellungen hinsichtlich der sozialen Frage vermisse
ich, wie ich schon gesagt habe, bei der Regierung völlig.
Zwar hatte der Kollege Mayer in der Haushaltsdebatte
darauf hingewiesen, dass nun auch die Regierungsfraktionen das Problem erkannt hätten - vielleicht gilt das
auch nur für den christlichen Teil der Regierung -, aber
anscheinend ist ja nicht daran gedacht - da können sich
die Koalitionspartner wahrscheinlich wieder nicht einigen -, diese soziale Frage zu lösen.
({11})
Kommen wir zum Thema Mietminderung zurück.
Warum eröffnen Sie hier eine neue Spielwiese für Anwälte, die den Gerichten zusätzliche Arbeit verschafft?
Die dreimonatige Mietminderungssperre bei energetischer Gebäudesanierung wird nicht dazu führen, dass
sich irgendein Eigentümer dazu veranlasst sieht, eine Sanierung durchzuführen, die er sonst nicht gemacht hätte.
Das ist schlicht und ergreifend Unsinn.
({12})
Sie geben hier ohne Not das Äquivalenzprinzip auf.
Die eine Seite erbringt die Leistung nicht, nämlich die
Zurverfügungstellung einer ordnungsgemäßen störungsfreien Mietsache, aber die andere Seite soll dafür voll
zahlen. Das geht nicht, meine Damen und Herren.
({13})
Nun noch einmal zum Thema Mietnomaden. Ich habe
schon in der Haushaltsdebatte gesagt: Das ist wie bei
dem Scheinriesen bei Jim Knopf. Je näher man kommt,
desto kleiner wird er. Und genauso ist es hier. Je näher
man dem Thema kommt, desto kleiner wird es. Abgesehen von den Fällen, die die Boulevardpresse manchmal
hochjubelt, haben Sie überhaupt kein belastbares Zahlenmaterial.
({14})
Der Kollege von der Linken hat in der Haushaltsdebatte
danach gefragt. Vonseiten der Koalition wurde gesagt,
dass man keine Zahlen habe. Man wisse aber, dass dies
ein Problem sei und man irgendjemanden kennen würde,
der ein solches Problem schon einmal gehabt hat. Auf
dieser Basis wollen Sie ein Gesetz zulasten aller Mieter
ändern! Das ist eine Sauerei, meine Damen und Herren.
({15})
Wenn Sie es nicht verstanden haben, dann lesen Sie es
im Antrag der Grünen nach. Sie haben sich die Mühe gemacht, diese Frage genau zu klären. Sie können sich die
ganzen Positionen auf Seite 2, in der Mitte, noch einmal
durchlesen. Wichtig ist ein Satz, den Sie sich merken sollten: „Dieses ‚Phänomen‘ ist auf Einzelfälle beschränkt.“
Genau das ist es. Es gibt Einzelfälle, bei denen es passiert.
Aber es ist kein gesellschaftliches Problem, das durch
eine Änderung des gesamten Mietrechts gelöst werden
muss.
({16})
Ein weiter Punkt. Ein Räumungsverfahren, bei dem
das Gericht noch keine endgültige Entscheidung in der
Hauptsache getroffen hat, ist rechtsstaatlich meines Erachtens nicht in Ordnung.
({17})
Entscheidend ist der Primärrechtsschutz und nicht der
Verweis auf einen Schadenersatzanspruch, der dann hinterher eventuell gezahlt werden müsste. Wenn man draußen ist, ist man draußen. Da nützt auch kein Schadenersatzanspruch.
({18})
Darüber haben wir hier schon mehrfach diskutiert, genau
wie über die Frage, ob wegen der Nichtzahlung der Kaution ohne Abmahnung gekündigt werden darf. Es bleibt
die Möglichkeit nach § 543 Abs. 1 BGB. Das ist auch
ausreichend. Das, was Sie hier machen, schießt deutlich
über das Ziel hinaus und ist nicht erforderlich. Es schneidet die Rechte aller Mieter ab, und deshalb ist es nicht in
Ordnung.
Insgesamt hat dieser Gesetzentwurf viele Mängel. Positiv möchte ich vermerken, dass das Münchener Modell
verhindert werden soll. Das ist der einzige wirkliche Ansatz sozialer Mietpolitik, der in diesem Entwurf enthalten ist. Was die soziale Frage angeht, können Sie alles
andere vergessen.
({19})
Hoffen wir, dass wir zumindest nach der Anhörung
noch einmal in eine neue Debatte eintreten können, die
auf die tatsächlichen Sachverhalte ein Stück weit mehr
abstellt. Wir werden uns in diesem Zusammenhang auch
noch einmal darüber unterhalten müssen, wie der Bereich Contracting genau ausgestaltet werden soll. Ich
gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch Sie lernfähig
sind, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns gemeinsam im Interesse der Mieter daran arbeiten.
({20})
Aber mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben,
geht es nicht.
Vielen Dank
({21})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin
Andrea Voßhoff das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Egloff, ich habe Sie schon häufiger zu dem
Thema gehört. Viel Neues haben Sie heute nicht dazu
beigetragen. Vor allem fehlt mir Ihr Lösungsansatz, was
die Forcierung der energetischen Gebäudesanierung betrifft. Dazu haben Sie schlicht gar nichts gesagt.
({0})
Wie kaum ein anderer Bereich ist das Wohnraummietrecht durch das Sozialstaatsgebot und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums geprägt. Ja, Deutschland ist
ein Land der Mieter. Das soziale Mietrecht haben wir in
besonderer Weise zu schützen. Das ist völlig unstreitig.
Dort sehen wir auch keinen Nachholbedarf.
Wohnraum zur Miete stellt eine elementare Grundlage für die private Lebensgestaltung und Lebensentfaltung dar. Es gibt 40 Millionen Wohnungen; davon sind
deutlich mehr als die Hälfte, nämlich 24 Millionen,
Mietwohnungen. Die Bedeutung des Mietrechts können
wir daher nicht hoch genug einschätzen.
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, auf der
anderen Seite gilt ebenso: Deutschland ist auch ein Land
der Vermieter. Denn der überwiegende Teil des Mietwohnangebots - 61 Prozent oder rund 14,5 Millionen
Wohneinheiten - wird von privaten Kleinanbietern zur
Verfügung gestellt. Private Vermieter, Freiberufler,
Handwerker oder andere Gewerbetreibende bauen oder
erwerben nicht selten ein Mietshaus, das ihnen zur Vermögensbildung oder zur eigenen Altersvorsorge dient.
Zu nennen sind auch die Familien, die in ihrem kreditfinanzierten Wohnhaus vielleicht eine Einliegerwohnung unterhalten, um mit den Mieteinnahmen die monatlichen Zinszahlungen abzufedern. Zu nennen sind
ebenfalls verwitwete Rentner, die aus dem zu groß gewordenen Wohnhaus ausziehen und es vermieten.
Vergessen wir dabei nicht: Hauseigentum muss nichts
mit großem Reichtum zu tun haben; es wird auch vererbt
und dann von den Erben vielleicht nicht selbst genutzt,
sondern vermietet. Auch das gilt es zu berücksichtigen.
Deshalb hat das Mietrecht die Interessen der Mieter und
Vermieter immer in Einklang zu bringen. Das tun wir
mit unserem Gesetzentwurf.
({1})
Wir sehen in zwei Schwerpunktbereichen Reformbedarf; die Ministerin hat es bereits vorgetragen:
Erster Bereich. Der Schutz des Vermieters - Herr
Kollege Egloff, zu Ihren Ausführungen hierzu komme
ich gleich noch - vor Mietbetrügern ist schlicht unzureichend.
({2})
Zweiter Bereich. Wenn wir die Energiewende wollen
und die energetische Gebäudesanierung fordern, dann ist
das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wir kommen um die entsprechende Gestaltung im Mietrecht
nicht herum.
({3})
Kommen wir zunächst zum Problem des Mietbetruges. Sie sagen, es gebe nur eine verschwindend geringe
Zahl an Mietnomaden, und diese Zahl würde - das haben Sie noch einmal wiederholt - von der Boulevardpresse maßlos aufgebauscht. Ja, das ist Gott sei Dank
kein Massenphänomen. Sie kennen aber sicherlich die
Studie der Uni Bielefeld, die besagt, dass es sich aber
tatsächlich um ein Phänomen handelt.
({4})
Meine Damen und Herren, lieber Herr Kollege Egloff,
jeder Mietbetrug ist einer zu viel.
({5})
Schauen Sie sich an - auch das weist die Studie der Uni
Bielefeld aus -, in welcher Größenordnung den oft privaten Vermietern finanzielle Schäden entstehen.
Herr Kollege Egloff, Sie haben einmal in einer anderen Debatte gesagt: Wenn man mit Wohnungsbaugesellschaften redet, stellt man fest, dass diese das Phänomen
nicht groß beeinträchtigt. - Das ist nicht verwunderlich.
Große Wohnungsbaugesellschaften haben eine Vielzahl
von Mitarbeitern, gar Rechtsabteilungen, die sich mit der
Thematik befassen können. Ich frage mich, Herr Kollege
Egloff: Sehen das die privaten Vermieter auch so? Ich
hatte bereits gesagt, dass es sich beim überwiegenden
Teil der Vermieter um private Vermieter und Kleinvermieter handelt. Diese Vermieter, nicht die großen Wohnungsbaugesellschaften, sind unser Maßstab. Sie haben
einen Anspruch darauf, bei der Bekämpfung des Mietbetruges Unterstützung zu erhalten.
({6})
Die Ministerin hat die Instrumente, die wir in diesem
Zusammenhang anbieten, genannt. Ich halte sie für ausgewogen.
({7})
Wer die zum Schutz des Mieters eingefügten Normen im
Bereich des Räumungsschutzes in dieser Weise missbraucht, wie es Mietbetrüger tun, hat unseren Schutz
nicht verdient.
({8})
Wir haben Maßnahmen entwickelt, damit diese Schutzrechte nicht missbraucht werden können. Eine beschleunigte Zwangsräumung muss möglich sein, und zwar mit
verschiedenen Instrumenten, die heute bereits genannt
wurden. Das ist im Interesse eines ausgewogenen Mietverhältnisses sinnvoll und notwendig.
({9})
Kommen wir nun zum zweiten Schwerpunktbereich.
Die energetische Gebäudesanierung ist bereits angesprochen worden. Wer immer davon redet, dass er die energetische Gebäudesanierung will, der muss auch entsprechend handeln. Da kommen wir am Mietrecht nicht
vorbei. Ich finde, wir haben die Möglichkeiten, die wir
nutzen konnten, sehr sorgsam und schonend genutzt, und
zwar zugunsten des Mieters.
Natürlich beeinträchtigt der Mietminderungsausschluss für die ersten drei Monate einer Sanierung das
Äquivalenzprinzip; da haben Sie recht, Herr Egloff. Wir
wissen jedoch, auch von vielen Vermietern, dass gerade
die Mietminderungsansprüche der Mieter eine große
Barriere für die Entscheidung zur energetischen Gebäudesanierung darstellen.
Darum haben wir eine Begrenzung auf die energetische Sanierung vorgenommen, die bezogen auf die
Mietsache auch nachhaltige Einspareffekte erbringt; das
heißt, dass der Mieter im Umkehrschluss eine Entlastung
erfährt. Das alles darf man nicht außer Acht lassen. Die
Zahlen beweisen es: Der Gebäudebereich ist für 40 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs und für ein
Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Hier müssen
wir handeln; das gilt eben auch für das Mietrecht. Dabei
gilt es, durch behutsames Vorgehen die Interessen der
Mieter zu wahren.
Der Gesetzentwurf enthält hierzu viele gute Ansätze.
Ich denke daher, wir sollten die entsprechenden Beratungen im Rechtsausschuss unter diesem Gesichtspunkt
durchführen.
Sie haben die 11-Prozent-Umlage für die Modernisierungskosten kritisiert. Wir haben sie nicht verändert. Die
Umlage bleibt so, wie sie ist.
Es gibt viele private Vermieter, die wissen, dass sie diese
Modernisierungsumlage nicht auf die Miete schlagen
können, die aber froh wären, wenn einige Barrieren, die
im Mietrecht vorhanden sind, abgebaut würden, damit
sie überhaupt erst sanieren können. Es gibt Vermieter,
die bereit sind, die Modernisierungsumlage gar nicht zugrunde zu legen, weil sie wissen, dass Angebot und
Nachfrage die Höhe der Mieten steuern. Das sollten wir
durchaus von der Entwicklung am Markt abhängig machen; wir sollten uns das anschauen. Ich denke aber, es
ist ein guter Weg, den wir hier gehen, weil gerade private
Vermieter entsprechende Sanierungsmaßnahmen bisher
scheuen. Diese Bremse wollen wir lösen.
({10})
Das Thema Contracting ist erwähnt worden; auch darüber ist viel gesprochen worden. Da gibt es sicherlich
an der einen oder anderen Stelle Beratungsbedarf. Aber
es ist die christlich-liberale Koalition, die jetzt dem Contracting erstmals einen Rechtsrahmen gibt. Wir wollen
die Kostenneutralität für den Mieter erreichen. Da gibt
es im Einzelfall sicherlich noch Diskussionen. So gesehen wird die Anhörung, die wir dazu durchführen werden, sicherlich sehr zielführend und sinnvoll sein; vielleicht erhalten wir noch die eine oder andere Anregung.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, es
mit der energetischen Sanierung ernst meinen, dann sollten Sie sich dem Thema auch im Mietrecht nicht verschließen. Eine ausgewogene Reform ist in diesem Entwurf erkennbar. Alle weiteren Details können wir im
Beratungsverfahren sicherlich noch miteinander erörtern.
Ich darf mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Mietrechtsänderungsgesetz“ - das hört sich total
neutral an, ist es aber nicht. Der Titel des Gesetzentwurfs
heißt nämlich korrekt: „Entwurf eines Gesetzes über die
energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und“ - darauf kommt es an - „über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“. Damit ist
auch klar: Es handelt sich um ein Gesetz zum Abbau von
Mieterinnen- und Mieterrechten zugunsten der Vermieterinnen und Vermieter.
Die energetische Modernisierung ist wichtig und richtig. Nur leistet der Gesetzentwurf keinen Beitrag zur
nachhaltigen energetischen Modernisierung; er wendet
sich - der Kollege Egloff hat darauf hingewiesen - den
eigentlichen Problemen der Mieterinnen und Mieter
überhaupt nicht zu.
Was regeln Sie in diesem Gesetz eigentlich wirklich?
Es ist schon gesagt worden: Bei der energetischen Sanierung wird das Recht auf Mietminderung in den ersten
drei Monaten ausgeschlossen. Ein Einwand gegen die
Modernisierung, dass die zu erwartende Mieterhöhung
eine Härte darstellen würde, kann nicht mehr sofort geltend gemacht werden, sondern erst im Mieterhöhungsverfahren, und das dann auch nur noch einen Monat
lang. Das heißt, Mieterinnen und Mieter haben keine
Chance mehr, Einspruch zu erheben. Die Anforderungen
an die Begründung der Modernisierung und Sanierung
werden für den Vermieter gesenkt. Die Umlage von jährlich 11 Prozent der Kosten der Modernisierung wird beibehalten. So weit, so schlecht.
Dann kommen Sie noch mit der Sicherungsanordnung, die die Vermieter unangemessen gegenüber Mieterinnen und Mietern schützt, die die Mietzahlungen nicht
mehr leisten können. Sie schaffen Regelungen für ein
vereinfachtes Räumungsverfahren, das heißt, Sie erleichtern es, Mieterinnen und Mieter einfach auf die
Straße zu setzen.
({0})
Ich muss einmal sagen: Ich halte das für eine bodenlose
Frechheit.
({1})
Das ist ein gnadenloses Ausspielen der Macht des wirtschaftlich Stärkeren. Das bringt mich dermaßen auf die
Palme.
Ich will jetzt einmal versuchen, Ihnen zu erklären,
was Sie da eigentlich machen:
({2})
Erstens. Jemand befindet sich legal in einer Wohnung,
beispielsweise durch einen Untermietvertrag. Jetzt gibt
es einen Räumungstitel gegen den Hauptmieter. Und
was machen Sie? Sie stellen fest: Den Untermieter, der
sich legal in der Wohnung befindet, kann man leider
nicht herausklagen. Also ermöglichen Sie eine einstweilige Anordnung, um ihn rauszuschmeißen. Das ist absurd.
({3})
Zweitens. Eine Mieterin oder ein Mieter wird wegen
Zahlungsverzug verklagt. Es soll nunmehr auf Wunsch
des Vermieters möglich sein, dass der Mieter oder die
Mieterin, der oder die die Miete nicht zahlen kann, einen
Betrag hinterlegen muss, einen sogenannten Sicherungsbetrag. Wenn man keine Miete zahlen kann, hat man
möglicherweise ein existenzielles Problem, kann also
auch diesen Betrag nicht hinterlegen. Und wofür sorgen
Sie jetzt? Wenn man diesen Sicherungsbetrag nicht hinterlegen kann, dann droht Ordnungsgeld oder Ordnungshaft. Das heißt, Sie stecken die Leute in den Knast. Das
ist doch absurd.
({4})
Dazu fallen mir, ehrlich gesagt, nur noch unparlamentarische Begriffe ein.
Es geht aber noch weiter. Wenn jemand in einer existenziellen Not seine Miete nicht mehr zahlen kann und
der Sicherungsanordnung keine Folge leisten kann, dann
müsste man sich normalerweise Gedanken machen: Wie
kann man den Menschen helfen, die in einer existenziellen Not sind und ihre Miete nicht mehr zahlen können?
Stattdessen wollen Sie durch eine einstweilige Anordnung die Leute aus ihrer Wohnung rausschmeißen. Das
ist so unfassbar, da fehlen mir echt die Worte.
({5})
Letzter Punkt. Sie führen einen neuen Kündigungstatbestand ein, nämlich Zahlungsverzug bei der Mietkaution. Das heißt, eine fristlose Kündigung kann ohne vorherige Absprache oder Abmahnung erfolgen. Damit
stellen Sie die Mieterinnen und Mieter übrigens schlechter als Gewerbetreibende.
Ich will Ihnen einmal sagen, was der Bundesrat zu Ihrem ach so tollen Gesetz geäußert hat. Der Bundesrat hat
gesagt: Streichen Sie den Punkt mit der Mietminderung,
streichen Sie den Punkt mit dem neuen Kündigungstatbestand „Verzug von Mietkautionszahlung“, und streichen Sie diese wirklich unsinnige Sicherungsanordnung.
({6})
Der Mieterbund spricht von zahlreichen Mietrechtsverschlechterungen. Die mit dem Mietrechtsänderungsgesetz verfolgten Ziele werden im Übrigen nicht erreicht.
Ihr gesamter Gesetzentwurf hinterlässt bei mir den
Eindruck: Die Notwendigkeit der energetischen Modernisierung ist eigentlich nur ein Vorwand. Vielmehr geht
es doch darum, ein nur in geringem Umfang vorhandenes Problem, das sogenannte Mietnomadentum, auf
Kosten von Mieterinnen und Mietern zu lösen. Darüber
wurde heute schon viel gesprochen.
Was heißt Mietnomadentum eigentlich? Dabei handelt es sich um eine Konstellation, in der von Anfang an,
also mit Unterzeichnung des Mietvertrages, jemand die
Absicht hat, niemals seine Miete zu zahlen.
({7})
Das sind die Fälle, über die wir reden. Das ist Mietnomadentum.
Jetzt muss man feststellen, dass es das Problem in dieser Größenordnung überhaupt nicht gibt.
({8})
Die FDP hat in der 16. Legislaturperiode im Rahmen einer Kleinen Anfrage von den „drängendsten wohnungswirtschaftlichen und mietrechtlichen Problemen“ gesprochen.
({9})
Die Antwort der Bundesregierung, damals CDU/CSU
und SPD: „Die der Bundesregierung vorliegenden Zahlen bestätigen diesen Eindruck nicht“.
Der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und
Immobilienunternehmen hat 2008 festgestellt, die Ausstände der Mitgliedsunternehmen seien seit 2003 um ein
Viertel gesunken. Im Rahmen einer Studie zum Thema
Mietnomaden der Universität Bielefeld, von der hier
schon die Rede war, wurde Folgendes gemacht: Der
Hausbesitzerverband hat seine Mitglieder - das sind Besitzer von 24 Millionen Mietwohnungen - gebeten, sich
zu melden, wenn es mit dem Mietnomadentum ein Problem gibt. Rückmeldung: rund 1 400 Mitglieder, davon
gab es 400 Fälle von wirklichem Mietnomadentum. Damit liegt die Zahl im Promillebereich.
Der Abgeordnete Mayer - darauf wurde schon hingewiesen - hat auf eine Nachfrage meines Kollegen
Bockhahn, wie hoch der Anteil der sogenannten Mietnomaden in Deutschland wirklich sei, gesagt: „Ich bin der
festen Überzeugung, dass es hier kein verlässliches und
auch kein belastbares Zahlenmaterial gibt …“. Er sprach
von „Überzeugung“. Der Kollege Krings hat dazwischengerufen: „Darauf kommt es nicht an!“.
({10})
Hallo? Sie haben keine messbaren Zahlen, Sie sagen, es
komme darauf überhaupt nicht an: Aber Sie schränken
die Rechte von Mieterinnen und Mietern ein?
({11})
Das ist keine Politik, das ist verrückt. Sie jagen Phantome.
({12})
Reden wir über die tatsächlichen Probleme in Bezug
auf das Mietrecht, reden wir über die tatsächlichen Probleme von Mieterinnen und Mietern, reden wir einmal
über Mietsteigerungen. Der Mieterbund hat gesagt, dass
ein Drittel der Mieterinnen und Mieter mehr als ein Drittel ihres Haushaltseinkommens für Miete und Energie
bezahlen müssen. Mietsteigerungen bei Neuvermietungen in Großstädten betragen 20 bis 30 Prozent. Eine Anfrage meiner Kollegin Lay hat ergeben, dass 5,6 Millionen Sozialwohnungen benötigt werden, aber nur
1,6 Millionen vorhanden sind.
Die Regelungen zum sogenannten Mietwucher im
Wirtschaftsstrafgesetzbuch, wonach Mieterhöhung bei
Neuvermietung nicht mehr als 20 Prozent der Vergleichsmiete betragen dürfen, laufen leer. Die Regelungen finden nämlich nur Anwendung, wenn eine sogenannte angespannte Marktsituation vorliegt. Das sind die
Dinge, um die Sie sich wirklich kümmern müssten, tun
Sie aber nicht.
Wir als Linke haben das Problem gesehen und deshalb bereits im Februar 2011 einen Antrag eingebracht.
Nach der heutigen Rechtslage ist es so, dass die Miete
innerhalb von drei Jahren um bis zu 20 Prozent erhöht
werden kann. Das ist nicht nur eine nicht hinzunehmende Mietsteigerung für Mieterinnen und Mieter, es ist
auch ein Beitrag zur generellen Mietsteigerung. Der
Bundesrat hat hier einen konkreten Vorschlag gemacht.
Die SPD hat ihn aufgegriffen, nämlich: Mietsteigerungen in Höhe von 15 Prozent binnen vier Jahren. Wir sagen Ihnen: Auch das ist noch zu viel.
Wir finden, bei bestehenden Mietverhältnissen soll
ohne wohnwertverbessernde Maßnahmen eine Mietsteigerung nur im Rahmen des Inflationsausgleichs möglich
sein. Jetzt brüllen Sie wahrscheinlich gleich wieder: Investitionsanreize! Investitionsanreize! - Egal. Investitionen lohnen sich langfristig, weil das Geld durch die
Mieteinnahmen wieder reinkommt. Wir sagen Ihnen
- das ist der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und
uns -: Wohnungen sind ein Zuhause für Mieterinnen und
Mieter und kein Anlageobjekt, mit dem man Geld machen will.
({13})
Sie wollen die Umlage bei 11 Prozent belassen. Wir
wollen eine Umlage von 5 Prozent. Auch das rechnet
sich im Übrigen rein betriebswirtschaftlich; denn die
Modernisierungskosten sind im Rahmen der Abschreibungsfristen zu refinanzieren. Bisher sprachen wir übrigens noch nicht einmal darüber, dass der Mieter oder die
Mieterin, nachdem die Modernisierungskosten wieder
reingekommen sind, weiterhin die höhere Miete zahlen
muss.
Sie werden unserem Vorschlag vermutlich nicht folgen, und zwar aus absurden Gründen. Sie sollten an dieser Stelle aber zumindest dem Bundesrat folgen, der
9 Prozent vorschlägt.
({14})
- Herr Kauder, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann
melden Sie sich und krakeelen Sie nicht dazwischen.
Okay?
({15})
Wir Linke sagen: Mieterhaushalte, deren Einkünfte
unterhalb des jährlich festzustellenden bundesdurchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens liegen, dürfen
maximal 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für alle anfallenden Wohnkosten aufwenden. Das ergibt sich aus
unserer sozialen Verantwortung.
Darf ich einen Augenblick um Ruhe bitten? - Ich
glaube, wir können uns darauf verständigen, dass Zwischenrufe nach unserer Geschäftsordnung erstens zulässig und zweitens nachweislich nicht unüblich sind.
({0})
Es soll gelegentlich auch vorkommen, dass sie aus den
Reihen Ihrer eigenen Fraktion kommen, Frau Kollegin.
({1})
Ferner entspricht es einer guten parlamentarischen
Praxis, das Volumen der Zwischenrufe so zu dosieren,
dass überwiegend der Redner zu Wort kommt, der gerade das Wort erteilt bekommen hat. Können wir bitte so
verfahren? - Bitte schön.
({2})
Wir fordern Sie auf: Passen Sie das Wohngeld an die
tatsächliche Miet- und Einkommensentwicklung an. Ändern Sie das Gesetz so, dass Sanierungen nur dann duldungspflichtig sind, wenn sie keine unzumutbare Härte
bedeuten, und lassen Sie bitte die Finger von den vereinfachten Räumungen. Wenn Sie wirklich etwas tun wollen, dann stellen Sie gesetzlich sicher, dass eine ersatzlose Räumung von Wohnungen nach Kündigung
unzulässig ist.
({0})
Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung kann die
Linke unmöglich zustimmen. Wir fordern Sie auf: Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, und überarbeiten
Sie ihn grundlegend. Das wäre eine richtig gute Tat.
Dann können wir vielleicht auch miteinander reden, aber
nicht so.
({1})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Daniela
Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Frau Kollegin Wawzyniak, selbstverständlich darf man mit Mietwohnungen Geld verdienen,
aber es muss dabei fair zugehen.
Wir haben eines der besten und ausgewogensten
Mietrechte im europäischen Vergleich. Das sagt der Europäische Mieterbund. Das wollen Sie, Frau Ministerin,
nun ändern. Eine Ihrer wesentlichen Begründungen für
eine Mietrechtsnovelle war immer - das gilt auch heute
wieder - die Durchsetzung der Gebäudesanierung und
der Energiewende. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass die Energiewende nicht vorankommt, liegt an sehr
vielem, aber nicht am Mietrecht.
({0})
In diesem Zusammenhang ist, glaube ich, eher der Kollege Ramsauer gefordert als Frau Schnarrenberger;
({1})
denn hierbei geht es auch darum, die fehlende Planungssicherheit für Eigentümer zu beenden. Es geht darum,
dass die Eigentümer klare Optionen auf Fördermittel haben, um eine energetische Gebäudesanierung durchführen zu können.
Mit Ihrer Mietrechtsnovelle spielen Sie Mieterinnen
und Mieter unter dem Vorwand der Energiewende gegeneinander aus. Wenn Ihre Vorschläge umgesetzt werden, die eins zu eins den Wünschen der Wohnungswirtschaft entsprechen, dann verschärft sich dadurch
natürlich die schon heute teilweise dramatische Situation
auf den Wohnungsmärkten in Ballungsgebieten. Wenigstens 30 bis 40 Prozent des Nettoeinkommens für Miete,
das ist eindeutig zu viel.
({2})
Sie haben kein Gesamtkonzept für die energetische
Gebäudesanierung und die Energiewende, und Sie haben
Ihre bundespolitische Verantwortung für die steigenden
Mieten in Boomregionen immer noch nicht anerkannt.
Sie haben auch vorhin wieder auf andere verwiesen. So
geht es aber nicht.
Ein Schlüssel liegt natürlich im Mietrecht. Sozialer
Wohnungsbau genügt schon lange nicht mehr. Wir werden in absehbarer Zeit eine Situation haben, in der sich
bis weit in die Mitte der Gesellschaft Menschen ihre
Wohnungen nicht mehr leisten können. Das Mietrecht ist
ein zentrales Instrument, um die Lasten gerecht und fair
zwischen Mietern und Eigentümern zu verteilen, aber es
ist kein Instrument, um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen. Allerdings muss es in Planungssicherheit für die Akteure und in ein verlässliches Anreizsystem mit zielgruppengerechter Förderung eingebettet
sein. Ihr derzeitiges Förderchaos erzeugt nur Stillstand.
Wenn Sie die energetische Sanierung zum Beispiel
dadurch beschleunigen wollen, dass Sie die Duldungsbestimmungen erleichtern, dann müssen Sie gleichzeitig
die Mieterrechte stärken. Stattdessen bauen Sie Mieterrechte ab. Sie schränken zum Beispiel das Mietminderungsrecht ein, und Sie verändern die Regelung für Härtefallgründe zuungunsten der Mieterinnen und Mieter.
So erreichen Sie bei der Mieterschaft keine Akzeptanz
für die Energiewende, und Sie erreichen auch nicht, dass
Hausbesitzer auch nur einen Cent mehr investieren.
({3})
Der richtige Weg ist, das Mietminderungsrecht auf
nicht umgesetzte, allerdings gesetzlich vorgeschriebene
Maßnahmen auszuweiten. Bei den Mieterhöhungsmöglichkeiten müssen wir die Refinanzierungszeiträume
verlängern. Das heißt, wir müssen die Modernisierungsumlage von 11 auf 9 Prozent senken. Sie sagen ja selbst,
dass sie überhaupt nicht mehr durchsetzbar ist. Wenn uns
Hauseigentümer entgegenhalten, dass dann überhaupt
keine energetische Gebäudesanierung mehr geschehen
wird, dann frage ich mich - wenn das ein so bedeutender
Faktor ist -, wieso bei bestehender Modernisierungsumlage in Höhe von 11 Prozent nicht schon längst alle Gebäude energetisch saniert sind.
Die ortsübliche Vergleichsmiete ist ebenfalls eine entscheidende Schraube bei der Mietenentwicklung. Hier
fehlen uns begrenzende Mechanismen. Die Neuvertragsmieten von heute sind die Bestandsmieten von morgen.
Deswegen schlagen wir vor, in Kommunen oder in Teilgebieten von Kommunen, in denen nachgewiesener
Wohnraummangel herrscht, per Landesermächtigung
Obergrenzen mit dem Ziel einzuführen, dass die Neuvertragsmieten dort auf keinen Fall mehr als 10 Prozent
über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Sie
sehen: Es gibt tatsächlich auch ausgewogene Vorschläge,
um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen,
ohne dabei die Rechte der Mieterinnen und Mieter einzuschränken.
Die Energiewende im Gebäudebereich muss gelingen. Dazu müssen wir die Menschen mitnehmen. Das
leistet Ihr Gesetzentwurf bei weitem nicht. Man merkt
dem Gesetzentwurf auch an, dass Sie die verlorenen drei
Jahre - etwa so lange kündigen Sie die Novelle bereits
an - einholen müssen. Sie bauen im Hauruckverfahren
einfach nur Mieterrechte ab. Dieses einseitige Vorgehen
wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen, und das
wird auch die Energiewende in keiner Weise beflügeln.
Das sage ich Ihnen schon heute voraus.
Die Mietpreisspirale wird auf jeden Fall, auf die eine
oder andere Art und Weise, auszubremsen sein. Das
ganze Gerede von energetischer Gebäudesanierung erscheint uns in diesem Fall vor allen Dingen ein Vorwand, um die Wünsche aus bestimmten Vermieterkreisen zu erfüllen. Wir wollen, dass es so bleibt, wie es
bisher war. Wir wollen ein faires und ausgewogenes
Mietrecht, das sowohl die Interessen der Mieterinnen
und Mieter als auch der Hauseigentümer in den Blick
nimmt. Das leistet Ihr Gesetzentwurf nicht. Ich wünsche
mir daher noch sehr eingehende Beratungen im Rechtsausschuss und im Bauausschuss, und ich wünsche mir,
dass es bei den Anhörungen viele Beiträge gibt, die Ihren Entwurf des Mietrechtsänderungsgesetzes verbessern helfen.
Danke schön.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Jens
Koeppen, der neben seinen sonstigen parlamentarischen
Aufgaben auch die besonders dankbare Aufgabe der Koordination unserer Schriftführerinnen und Schriftführer
wahrnimmt, feiert heute seinen 50. Geburtstag. Er beginnt die Gestaltung dieses besonderen Tages, wie es
sich gehört, im Präsidium des Deutschen Bundestages.
Das ist ein besonders schöner Platz, um ihm die gesammelten Glückwünsche des Deutschen Bundestages zu
übermitteln, was ich hiermit gerne tue.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich nutze die eher seltene Gelegenheit, ihm stellvertretend für alle Schriftführerinnen und Schriftführer für
die unauffälligen, aber wichtigen Dienstleistungen zu
danken, die er regelmäßig für die Gestaltung unserer
Plenarsitzungen erbringt. Herzlichen Dank!
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae für
die FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wenn man die Reden der
Opposition hört, dann kann man nur froh sein, dass Sie
in diesem Land nicht regieren.
({0})
Die Vorschläge der Opposition sind einfach, grotesk und
schräg. Herr Kollege Egloff, Sie haben es in Ihrem letzten Satz durchblicken lassen. Da haben Sie gesagt: Lassen Sie uns an diesem Entwurf im Interesse der Mieter
arbeiten;
({1})
das waren Ihre Worte.
({2})
Aber da verwechseln Sie Mietrecht und Mieterrechte.
({3})
Das Mietrecht ist ein Recht, das die Rechtsverhältnisse
zwischen Mieter und Vermieter ausbalanciert regeln soll.
({4})
Genau das gelingt dem Regierungsentwurf.
Schauen wir uns schlaglichtartig ein paar Vorschläge
der Opposition an.
({5})
Führen wir uns Ihre Forderung zu Gemüte, dass die
Höhe der Wohnkosten für angemessenen Wohnraum
höchstens 30 Prozent des Nettoeinkommens eines
Mieterhaushalts betragen darf. Da fragt man sich: Können Sie das eigentlich ernst meinen?
({6})
Was ist denn in Ihren Augen „angemessener Wohnraum“? Die Antwort auf diese Frage ist doch höchst subjektiv. Der eine ist bereit, für seinen Wohnraum viel
Geld zu bezahlen, weil er sagt: Ich will einen schönen,
großen Garten haben. Dafür fahre ich weniger häufig in
Urlaub. - Der andere sagt: Ich verbringe in meiner Wohnung den großen Teil meiner Zeit, auch meiner Freizeit.
Sie ist für mich nicht nur eine Schlafstätte. - Noch ein
anderer sagt: Ich bin sowieso kaum zu Hause. In meiner
Freizeit treibe ich Sport und fahre lieber häufiger in Urlaub. - Man muss also feststellen: Es gibt völlig unterschiedliche Lebensentwürfe. Wir nennen das Freiheit der
Lebensentwürfe. Das hat für uns mit Eigenverantwortung zu tun.
({7})
Was jemand für angemessen hält, ist eine höchstpersönliche Angelegenheit. Sie wollen den Menschen ihren Lebensentwurf vorschreiben. Wir wollen Privatautonomie
und Vertragsfreiheit. Das ist der Unterschied.
({8})
Schauen wir uns einen anderen Vorschlag, den Sie
schon in aller Breite ausgeführt haben, an. Da heißt es,
dass die höchstmögliche Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete auf 5 Prozent begrenzt werden soll.
Das feiern Sie als sehr soziale Errungenschaft.
({9})
Aber was wäre die Folge eines solch abstrusen Vorschlags? Eine solche Regelung würde dazu führen, dass
die Eigentümer ihre Modernisierungsinvestitionen herunterfahren und sie auf das Nötigste beschränken würden.
({10})
Würde die höchstmögliche Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete auf 5 Prozent beschränkt,
müssten die Eigentümer nämlich bis zu 20 Jahre warten,
bis sich ihre Investition in eine fremdgenutzte Wohnung
refinanziert hat. Also werden Investitionen unterbleiben;
das ist doch völlig logisch.
({11})
Das heißt, das Handwerk hätte weniger Aufträge, Arbeitsplätze im Handwerk und im Baugewerbe gingen
verloren, und der Baubestand der Mietwohnungen
würde an Qualität verlieren, weil Investitionen unterblieben. Somit hätte Ihr Vorschlag zur Folge, dass die Wohnund damit die Lebensqualität der Mieter sinken würden.
({12})
Das kann nicht Ihr Ernst sein. Aber so würde die Zukunft des deutschen Wohnungsmarkts, des deutschen
Handwerks und des Arbeitsmarkts in Deutschland ausseStephan Thomae
hen, wenn die Linke eine Chance erhalten würde, ihre
Pläne zu verwirklichen. Das kann doch nicht wahr sein!
({13})
Aber: Man muss Ihnen dankbar dafür sein, dass Sie
diesen Antrag eingebracht haben. Denn jetzt können die
Menschen im Lande klar erkennen, was sie erwarten
würde, wenn Sie an der Regierung beteiligt wären. An
dieser Stelle wird der Unterschied zwischen den Vorstellungen der Linken und dem, was eine bürgerliche Regierung auf die Beine stellt, deutlich.
({14})
Genauso doll ist der Antrag der Grünen. Da steht zum
Beispiel, dass „die Ausweitung des Mietminderungsrechts auf nicht umgesetzte, jedoch gesetzlich vorgeschriebene Energieeffizienzstandards im Gebäudebereich“ festgeschrieben werden soll. Ganz unabhängig
von der Frage, welches Streitpotenzial darin liegt, ob die
Energieeffizienzstandards vom Vermieter eingehalten
werden, verbunden mit allen Fragen der Beweis- und
Darlegungslast und allem Pipapo, heißt das doch nicht
weniger, als dass der Eigentümer mittelbar gesetzlich zu
einer Investition gezwungen wird - ohne Rücksicht auf
seine wirtschaftlichen Möglichkeiten. Ob der Eigentümer genügend liquides Eigenkapital hat, das er einsetzen kann, ob er überhaupt Fremdkapital aufnehmen
kann, ob ihm die Bank ein Darlehen gibt: Alles egal,
sagen Sie von den Grünen. - Geld regnet ja vom Himmel. - Sie sagen: Der Eigentümer muss sanieren bzw.
renovieren, egal ob er es sich leisten kann oder nicht.
Dabei gibt es im Land übrigens eine ganze Menge
von Vermietern, die ganz schön aufs Geld achten müssen, und zwar deswegen, weil eine Immobilie auch eine
enorme Belastung darstellen kann.
Wie wohltuend ausgewogen ist dagegen der Entwurf
der Regierung,
({15})
der die Rechte der Mieter und der Vermieter wirklich in
ein gutes Verhältnis bringt. Kollege Egloff, ich kann nur
sagen: Wenn Sie einmal einen Einmietbetrüger in Ihrer
Wohnung haben, dann ist der Scheinriese Tur Tur, den
Sie so gerne zitieren, kein Scheinriese mehr, sondern
dann ist das Problem höchst real.
({16})
Frau Kollegin Wawzyniak, Sie sagen, das sei ein
minimales Problem, es gebe ja kaum solche Fälle.
({17})
Na ja, dann betrifft das auch nur ganz wenige Mieter.
Wir schützen den redlichen, den vertragstreuen Mieter,
während Sie sich zum Anwalt der Einmietbetrüger
machen. Das kann doch nicht wahr sein!
({18})
Meine Damen und Herren, man kann es nur immer
und immer wieder sagen: Wir denken an beide Parteien,
an Mieter und Vermieter. Unser Entwurf ist ausgewogen.
Wenn man das mit Ihren Vorschlägen vergleicht, dann
kann jeder vernünftige Mensch im Lande nur sagen: Wie
gut, dass in diesem Land Schwarz-Gelb regiert.
Vielen Dank.
({19})
Der Kollege Florian Pronold ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Menschen, die in Metropolregionen
leben, wie hier in Berlin, wie in München oder in Hamburg, müssen sich bei diesem kabarettistischen Auftritt,
den wir gerade erlebt haben, richtig verarscht vorgekommen sein.
({0})
Herr Kollege, so richtig parlamentarisch war die
letzte Formulierung nicht.
Ja, aber Sie wissen ja: Eine Beleidigung ist umso
schlimmer, je mehr sie der Wahrheit entspricht. Insofern
war die Beleidigung gegenüber dem Kollegen ziemlich
schlimm.
({0})
Wir haben folgende Situation: Immer mehr Menschen
in Metropolregionen haben Angst davor, dass sie ihre
Heimat nicht erhalten und in ihrer Wohnung nicht bleiben können. Die energetische Sanierung ist für uns alle,
die wir darüber reden, etwas Positives, weil wir wissen,
dass sie notwendig ist und dass wir das tun müssen, um
das Klima zu retten. Für viele Menschen ist dies aber
eine Bedrohung, weil sie Angst davor haben, dass sie
ihre Miete nicht mehr zahlen können. Das trifft die
Krankenschwester genauso wie den Polizeibeamten und
die Reinigungskraft, die alle ein sehr niedriges Einkommen haben, aber trotzdem in einer Wohnung in der
Innenstadt leben wollen.
Derzeit kommt es zu einer Verdrängung. Sie unternehmen mit Ihrem Gesetzentwurf nichts dagegen und
schaffen keinen fairen Ausgleich zwischen Vermietern
und Mietern.
({1})
Die Anzahl der Haushalte, die 40 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben müssen, hat sich in
den letzten zehn Jahren verdoppelt. Nicht wenige Menschen leben von 1 300 Euro netto. Sie geben 50 Prozent
ihrer Nettoeinnahmen für die Miete aus. Jetzt kommen
Sie, wischen das alles weg und sagen: Na ja, es gibt nur
wenige Fälle, in denen das umgelegt wird und man die
11 Prozent im Rahmen einer Mieterhöhung durchsetzen
kann. Genau in den Metropolregionen findet das aber
statt,
({2})
weil es dort, liebe FDP, eben kein freies Spiel der Kräfte
gibt, weil dort der Markt eben nicht funktioniert. Die
Mieterinnen und Mieter sind die Leidtragenden, und Sie
unternehmen nichts dagegen.
({3})
Ich will es einmal auf Deutsch sagen, sodass es jeder
versteht: Wenn eine Wohnung für 25 000 Euro energetisch saniert wird, dann bedeutet das, dass auf den Mieter
jedes Jahr Kosten von 2 750 Euro umgelegt werden können, im Monat 230 Euro. Wenn die Sanierungskosten
10 000 Euro ausmachen, sind es immer noch 1 100 Euro
im Jahr, also für viele Menschen oft ein Nettomonatsgehalt. Das sind fast 100 Euro im Monat. Dass Sie nicht
in diesen Kategorien denken, ist klar. Aber es gibt eine
ganze Menge Menschen - die Krankenschwester, den
Wachmann -, die von einem solchen Gehalt leben müssen. Wenn sie schon in der Stadt arbeiten sollen, dann
sollen sie auch in der Stadt wohnen können und nicht
50 Kilometer hinausgetrieben werden.
({4})
Das ist doch das, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
vorhaben. Hier versagen Sie, weil Sie nämlich versuchen, die energetische Sanierung nur über das Mietrecht
zu machen. Der Kollege hat darauf hingewiesen, welch
große Probleme und welche zusätzliche Rechtsunsicherheit dadurch entstehen. Das bekommen wir nicht über
das Mietrecht hin, sondern nur dann, wenn es einen vernünftigen Mix aus staatlicher Förderung - Sie haben die
KfW-Mittel für die energetische Sanierung gekürzt und Teilung der Lasten und Nutzen von energetischer
Sanierung zwischen Mietern und Vermietern gibt.
Sie begrenzen die Mieterhöhung auch nicht. Es ist
doch nicht so, dass die Mieterhöhung dann, wenn die
energetische Sanierung abbezahlt ist, wieder zurückgenommen wird. Nein, sie läuft unendlich weiter. Das ist
zutiefst ungerecht. Daran ändern Sie nichts.
({5})
Wir sind dafür, ein faires Modell zu finden, bei dem
Mieter und Vermieter vernünftig an Kosten und Nutzen
beteiligt werden. Wir sind dafür, dass man Mieterhöhungen begrenzt.
({6})
- Entschuldigen Sie, wir haben hier in diesem Hause
fünfmal über diese Frage debattiert.
({7})
Wir Sozialdemokraten haben vor der Sommerpause zum
Beispiel einen Antrag zur energetischen Sanierung vorgelegt, wo wir alles genau ausgeführt haben.
Wissen Sie, Frau Ministerin, was mich besonders ärgert? Wir haben im Sommer erlebt, um wen Sie sich Sorgen machen: um Steuerflüchtlinge, die in der Schweiz
ihr Geld anlegen.
({8})
Diese wollen Sie schützen. Aber für die Mieterinnen und
Mieter, für die Krankenschwester, für den Wachmann
haben Sie überhaupt keinen Cent übrig. Das ist der
Skandal Ihres Entwurfes.
({9})
Sie sind sozial ungerecht. Das ist typisch FDP. Es ist gut,
wenn Sie nicht mehr regieren.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir behandeln heute ein Thema mit wirklich
hoher gesellschaftsrechtlicher und gesellschaftspolitischer Relevanz.
Wir haben es gehört: Fast die Hälfte der Menschen in
unserem Land lebt in Mietwohnungen. Das, was uns die
Opposition hier darbietet und was in den Reden und
Anträge zu hören und zu lesen ist, ist schon bemerkenswert: Hier wird ein Mietrechtsentwurf pauschal als
schlecht abqualifiziert. Hier wird davon geredet, dass
Mieterrechte geschleift werden.
({0})
Hier wird sogar davon geredet, dass wir Mieter in den
Knast stecken wollen.
({1})
Ich muss wirklich sagen: Ich vermisse bei diesem Thema
den angemessenen Respekt und Ernst bei der Opposition.
({2})
Den Menschen in unserem Land, denen es darum
geht, sachgerechte und zielführende Lösungen zu finden,
um bei der energetischen Sanierung weiterzukommen
und beim Contracting voranzukommen,
({3})
und darum, dass den Vermietern gegenüber den Mietnomaden ein vernünftiger Schutz zuteilwird, werden Sie
mit Ihrer Schaufensterpolitik, mit Ihren Plattitüden und
mit Ihrem Populismus in keiner Weise gerecht, liebe
Opposition.
({4})
Ich will eines hinzufügen - mich ärgert das wirklich,
das merken Sie vielleicht auch -: Sie tun hier gerade so,
als ob Sie hier das soziale Gewissen wären.
({5})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir als
christlich-liberale Koalition haben sehr darauf geachtet,
dass dieser Gesetzentwurf ausgewogen ist, sowohl für
die Mieter als auch für die Vermieter.
({6})
Wir brauchen Sie nicht als soziales Gewissen. Das ist für
uns eine bare Selbstverständlichkeit.
({7})
Jetzt komme ich zu dem Punkt der energetischen
Sanierung. Das ist in der Tat ein wirklich wichtiger
Bereich. Deswegen sage ich: Hier müssen alle an einem
Strang ziehen. Das gilt für die Vermieter, das gilt für die
Mieter; aber das gilt selbstverständlich auch dann, wenn
es um staatliche Unterstützung geht. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich alle beteiligen
müssen.
Ich erinnere an den Bundesrat. Die Frau Ministerin
hat es schon angesprochen: Man muss darüber reden,
dass das Vorhaben schon seit Monaten im Bundesrat blockiert wird.
({8})
Wir wollen alle gemeinsam etwas für Vermieter, Mieter
und vor allen Dingen für den Klimaschutz tun.
({9})
Deswegen müssen die Länder endlich aufhören, sich
querzustellen, und ihre Blockade aufgeben, meine
Damen und Herren.
({10})
Wenn die Linken sagen: „Mit Vermietungen darf man
eigentlich kein Geld verdienen“,
({11})
frage ich Sie, liebe Frau Kollegin Wawzyniak: Bei den
Problemen, die wir in den Metropolen - in Berlin, Hamburg, München und anderswo - im Zusammenhang mit
Mietpreissteigerungen haben, geht es doch gerade
darum, dass wir auf den Wohnungsmärkten Knappheit
haben. Wie beseitigen wir die Knappheit? Wie wollen
wir das denn schaffen? Indem wir mehr Angebote schaffen. Aber man kann nicht immer nach dem Staat rufen,
wie es in Ihren Anträgen der Fall ist, mit denen Sie einen
Rechtsanspruch auf staatliche Förderung generieren
wollen. Es geht darum, dass wir für die privaten Vermieter, die an dieser Stelle investieren wollen, Anreize
schaffen. Das kann nicht alles der Staat machen.
({12})
Wenn wir schon von den privaten Kleinvermietern
reden - Sie beziehen sich in Ihrer ganzen Argumentation, angefangen bei den Mietnomaden bis zur energetischen Modernisierung, immer nur auf die großen Wohnungsgesellschaften -, dann muss man aber auch sagen:
Tatsächlich werden 60 Prozent der Wohnungen in unserem Land von privaten Kleinvermietern angeboten. Für
diese ist es in der Tat ein Problem, wenn eine energetische Sanierung durchgeführt werden soll und die Mieter
daraufhin ihre Miete kürzen wollen.
Deswegen haben wir uns das genau angeschaut. Wir
wollen in unserem Land mehr energetische Modernisierung. Deshalb wollen wir das fördern und gezielt Anreize setzen. Es gibt viele Vermieter in unserem Land,
die schon etwas älter und vielleicht schon im Ruhestand
sind. Sie können nicht einfach zur Bank gehen und einen
Kredit in der entsprechenden Größenordnung aufnehmen. Sie werden durch Mietminderungen durchaus wirtschaftlich belastet. Gerade diese Vermieter, die für
60 Prozent der Mietwohnungen in unserem Lande verantwortlich sind, müssen wir ermutigen, verstärkt in die
energetische Modernisierung zu investieren und auch
mehr Wohnungsbau zu betreiben. Deswegen wollen wir
sie fördern und ihnen Anreize bieten. Diese Vermieter
müssen wir stärken, und das machen wir mit unserem
Gesetzentwurf.
({13})
Wir stellen die Mieter aber in keiner Weise schutzlos.
Wir haben das sehr genau geprüft. Wir meinen, drei
Monate auf eine Mietminderung zu verzichten, das ist
ein vertretbarer und überschaubarer Zeitraum. Es ist
auch nicht so, dass die Mieter nicht von einer energetischen Sanierung profitieren würden. Es geht vielmehr
darum, die zweite Miete, wie man die Betriebskosten
heute nennt - es geht schließlich nicht nur um die Nettomieten; gerade die Betriebskosten sind in den vergangenen Jahren angestiegen -, zu senken.
({14})
Das schaffen wir nur über energetische Modernisierung.
({15})
Deswegen glaube ich, dass es ein vertretbarer und
zumutbarer Aufwand für die Mieter ist, für die ersten
drei Monate zu tolerieren, dass der Wohnwert etwas
beeinträchtigt wird, und auf das Minderungsrecht zu
verzichten.
Jetzt will ich noch darauf eingehen, was verschiedentlich angesprochen worden ist, nämlich dass wir Mieterrechte schleifen würden und wirtschaftliche Härtefallgründe nicht mehr angeführt werden könnten. Das
stimmt einfach nicht. Ich frage mich immer, ob Sie unsere Gesetzentwürfe nicht lesen oder ob Sie sie nicht
verstehen. Schauen Sie sich diese einmal genau an! Bei
den persönlichen Härtefallgründen wird überhaupt
nichts geändert; es bleibt bei der bestehenden Rechtslage.
Bei den wirtschaftlichen Härten haben wir allerdings
richtig gehandelt. Das ist im Übrigen der weit, weit überwiegende Teil, was eingewendet wird, die sagen: Wenn
du jetzt modernisierst, lieber Vermieter, dann können wir
aber hinterher die Miete nicht mehr zahlen. Bisher haben
die Mieter in solchen Fällen Einspruch eingelegt, und
dann ist unterm Strich im Wohnungsbestand gar nichts
passiert. Das wollen wir nicht. Es soll erst einmal modernisiert werden können. Deshalb soll hier eine Duldungspflicht eingeführt werden. Aber hinterher, wenn es um
die essenzielle Frage geht, ob die Miete erhöht werden
kann, dann kann ein Mieter selbstverständlich einen
wirtschaftlichen Härtegrund anführen.
Es werden also in keiner Weise irgendwelche Rechte
beschnitten, sondern diese werden lediglich nach hinten
verlagert. Denn wir wollen, dass die energetische
Modernisierung in unserem Land vorankommt, meine
Damen und Herren.
({16})
Jetzt komme ich zum Contracting. Das ist auch ein
wichtiger Baustein für die Energiewende, weil damit
sehr viel an Effizienzsteigerung erreicht werden kann.
Wir sehen sehr wohl, dass es ein Zugeständnis ist, das
wir den Mietern an dieser Stelle abverlangen, wenn wir
das Mietminderungsrecht für drei Monate ausschließen.
Ich finde, wie gesagt, es ist ein vertretbares und zumutbares Zugeständnis. Aber wir sehen natürlich, dass es
auch eine Belastung ist. Deswegen haben wir im Zusammenhang mit dem Contracting ganz klar gesagt: Es muss
eine kostenneutrale Regelung her. Es soll keine Gewinne
auf Kosten der Mieter geben.
({17})
Das ist der eine politische Punkt, der uns wichtig war.
Aber es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund, wieso
wir für die Kostenneutralität streiten. Wir wollen nämlich einen Anreiz setzen, dass möglichst effizient umgestellt wird, indem sich der Gewinn des Contractors aus
den beiden Punkten Kostenneutralität und Einsparung
von Brennkosten ergibt. Ein sehr kluger Bedingungszusammenhang ist: Je effizienter umgestellt wird und je
größer die Spanne der Kostenneutralität ist, desto mehr
Anreiz besteht, überhaupt umzustellen. Das ist gut für
unser Klima und für die Mieter.
({18})
Deswegen bin ich auch skeptisch - darauf möchte ich
als Letztes hinweisen -, wenn es darum geht, den Contractoren Gewinnzuschläge zuzubilligen. Richtig ist,
dass das Contracting auch in der Praxis funktionieren
muss. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wie man
die Kostenneutralität berechnet. Dazu soll jetzt drei
Jahre zurückgeschaut werden. Vielleicht muss man aber
auch die Einsparung von Brennkosten in der Zukunft berücksichtigen. Das diskutieren wir. Wir haben noch viele
Punkte, die wir in den Anhörungen klären müssen.
Die können aber nicht mehr vorgetragen werden.
Zu Mietnomaden kann ich nichts mehr sagen, weil
der Präsident mich unterbricht.
Zum Schluss: Ich bin Berliner Bundestagsabgeordneter. Ich habe, da ich die Probleme des Mietrechts hier in
Berlin kenne, wirklich sehr darauf geachtet, dass unsere
Vorlage ausgewogen ist. Wir haben hier einen sehr guten, ausgewogenen Entwurf. Sie sollten sich einen Ruck
geben, von Ihrem Populismus Abstand nehmen und diesen Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ingrid Hönlinger,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich mir den Gesetzentwurf dieser Regierung zum
Bereich Mietnomaden anschaue, dann drängt sich mir
der Verdacht auf, dass die damit befassten Regierungsmitglieder zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht
({0})
und sich dabei auch noch die falschen Sendungen angeschaut haben.
({1})
Meine Damen und Herren, nur weil in Spiegel TV
eine reißerische Sendung mit dem Titel „Mietnomaden:
Pöbeleien am Gartenzaun“ lief, müssen Sie noch lange
nicht das Prozessrecht ändern!
({2})
Als Mietnomaden werden Menschen bezeichnet, die
ein Mietverhältnis bereits in der betrügerischen Absicht
begründen, keine Miete zu zahlen. Sie ziehen von Wohnung zu Wohnung und hinterlassen diese in einem verwahrlosten Zustand; das ist ein Problem. Aber Mieterinnen und Mieter, die nach dem Eingehen eines
Mietverhältnisses zahlungsunfähig werden - sei es wegen
Arbeitslosigkeit oder Krankheit -, fallen nicht in diese
Kategorie.
({3})
Sehen wir uns die Fälle echter Mietnomaden an,
({4})
stellen wir fest, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt. Von einem Phänomen zu sprechen, ist der Versuch
der Eskalierung, um bestimmte Interessen durchzusetzen.
({5})
Sie nennen auch gar keine konkreten Zahlen. Das hat
auch seinen Grund: Das Gutachten, das von Bundesjustizministerium und Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegeben worden ist, hat in ganz Deutschland
426 Fälle von Mietnomadentum festgestellt. Frau Kollegin Voßhoff von der CDU sagt zu Recht: Deutschland ist
ein Land der Mieter. - Das bestätigt auch das Statistische
Bundesamt, das feststellt: Die Hälfte der Bevölkerung in
Deutschland lebt zur Miete.
({6})
Also stellen die Mietnomaden einen Anteil im Promillebereich dar. Und damit wollen Sie eine massive Gesetzesänderung rechtfertigen? Glaubwürdigkeit und argumentative Überzeugungskraft sehen anders aus.
({7})
Dabei sind die Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfs
äußerst weitreichend.
({8})
Sie schaffen nämlich Regelungen, die alle Mieterinnen
und Mieter treffen. Sie wollen ein neues Instrument in
die Zivilprozessordnung einführen, die sogenannte Sicherungsanordnung. Damit kann ein Gericht schon vor
dem Hauptsacheverfahren anordnen, dass der Mieter einen Geldbetrag hinterlegen muss, auf den der Vermieter
möglicherweise einen Anspruch hat. Hinterlegt der Mieter das Geld nicht, so kann der Vermieter die Wohnung
räumen lassen. Seinen Räumungsanspruch kann er durch
eine einstweilige Verfügung durchsetzen, mit der bloßen
Begründung, dass der Mieter das Geld nicht hinterlegt
hat. Auf ein Verschulden des Mieters kommt es dabei
gar nicht an.
({9})
So haben Sie zwei Verfahren, nämlich die Anordnung
der Sicherungsleistung und das Räumungsverfahren,
aber keine Beweiserhebung. Vollendete Tatsachen werden geschaffen, ohne dass jemals ein Hauptsacheverfahren durchgeführt wurde. Der Mieter sitzt auf der Straße.
({10})
Bisher kennt die Zivilprozessordnung nur Sicherheitsleistungen im Rahmen der Vollstreckung von Endurteilen. Wenn wir nun Zahlungspflichten für Mieter
schaffen, die auf nur kursorischer Prüfung und prognostizierten Erfolgsaussichten einer Klage basieren,
({11})
greifen wir tief in die Systematik des Zivilprozessrechts
ein. Das ist ein systematischer Bruch, den wir Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker nicht mittragen sollten.
({12})
Sie wollen das Gesetz aber noch weiter verschärfen.
Die Sicherungsanordnung soll nicht nur für Mieten gelten. Sie wollen auch andere Geldforderungen - das können zum Beispiel Werklohnforderungen oder Forderungen aus Versicherungsverträgen sein - einbeziehen. Da
drängt sich die Frage auf: Wieso müssen wir für Geldforderungen neue und systemwidrige Regelungen einführen,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition?
Sie bauen einen Buhmann auf - die Mietnomaden - und
benutzen diesen als Vorwand, um das Prozessrecht für
Schuldner inklusive aller Mieter zu verschlechtern und
für Gläubiger inklusive aller Vermieter zu verbessern.
Wir stellen fest: Diese schwarz-gelbe Koalition wird
getrieben von der Durchsetzung von Vorteilen für die eigene Klientel wie keine andere Regierung zuvor. Mal
sind es die Hotelbesitzer. Jetzt sind es die großen Immobilien- und Vermietungsfirmen, deren Profit gesichert
werden soll. Wir als grüne Parlamentarierinnen und Parlamentarier fühlen uns dem Wohl der gesamten Bevölkerung verpflichtet. Deswegen lehnen wir diesen Teil des
Gesetzes rundweg ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der
Kollege Dirk Fischer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zur sozialen Absicherung des Wohnens gehören sozialer Wohnungsbau, Wohngeld und soziales Mietrecht.
Das erklärte der Kanzler der deutschen Einheit,
Helmut Kohl, in seiner ersten Regierungserklärung nach
der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 30. Januar 1991. Das ist von ihm oft wiederholt worden. Für
uns ist das soziale Mietrecht seit Jahrzehnten ein wichtiger Aspekt des gesamten Wohnungswesens in Deutschland.
({0})
Es war immer unser politisches Bemühen, eine angemessene Balance zwischen Vermieter- und Mieterinteressen herzustellen. Der Vermieter muss in der Lage
sein, sein Eigentum ökonomisch angemessen zu nutzen.
Sonst wird in diesen Sektor kein privates Kapital investiert. Es hat keinen Sinn, heute die Voraussetzungen dafür zu zerstören und morgen zu beklagen, dass zu wenig
Geld in den Wohnungsbau investiert wird. Man muss
wissen, was man tut.
({1})
Für die Mieter gelten besondere Schutzvorschriften;
denn die Ware Wohnung ist nicht irgendeine Ware, sondern stellt eine existenzielle Voraussetzung für die Menschen dar, in Ruhe und Sicherheit zu leben.
Diese bewährte Zielsetzung muss also erhalten werden. Aber natürlich muss das Mietrecht von Zeit zu Zeit
überprüft werden. Wir müssen es an gesellschaftliche
Veränderungen anpassen. Der Kern der von der Bundesregierung vorgelegten Mietrechtsnovelle ist die Anpassung an die Herausforderungen der Energiewende. In
puncto Energieeffizienz und Klimaschutz kommt dem
Gebäudebereich eine Schlüsselrolle zu.
Herr Kollege Egloff, Ihre Rede hat bei mir den Eindruck erweckt, dass Sie sich von den ökologischen Zielsetzungen in Wahrheit völlig verabschiedet haben. Dann
müssen Sie das auch deutlich sagen.
({2})
Wie Sie aufgrund der Statistik wissen, bietet der Gebäudesektor mit Abstand das größte Einsparpotenzial. Wenn
wir das nicht nutzen,
({3})
können wir alle uns gesetzten Ziele aufgeben. Hier muss
also gehandelt werden.
({4})
Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund gerade für den Gebäudesektor ein ganzes Maßnahmenbündel im Energiekonzept verankert, immer streng an das
Wirtschaftlichkeitsgebot gekoppelt und ohne staatlichen
Sanierungszwang. Klar ist aber auch, dass die energetische Sanierung des Gebäudebestands nicht zum Nulltarif
zu haben ist, weder für die Vermieter noch für die Mieter
noch für den Staat auf allen Ebenen.
Hauseigentümer haben sukzessiv steigende Anforderungen zu erfüllen, wenn sie ein neues Haus errichten
wollen, und haben bereits sehr hohe Anforderungen zu
erfüllen, wenn sie den Bestand energetisch sanieren wollen. Derzeit befinden wir uns beim Gebäudebestand
schon an der Grenze des wirtschaftlich Verkraftbaren
und Vertretbaren; das müssen wir wissen. Bei noch höheren Anforderungen besteht die Gefahr, dass viele
Hauseigentümer ihre Sanierungspläne verschieben oder
ganz aufgeben. Das muss verhindert werden.
Ergänzend zu den Anforderungen bedarf es aber auch
der Förderung von Investitionen, nicht nur finanziell,
sondern eben auch durch die mietrechtlichen Rahmenbedingungen. Der größte Gewinner einer energetischen Sanierung eines Gebäudes ist der Nutzer, das heißt in
Deutschland vor allem der Mieter. Das hat die Vorrednerin gerade klargemacht.
({5})
Denn die Differenz zwischen den Heizkosten eines sanierten und eines unsanierten Gebäudes ist enorm. Ob
das am Ende zu einer finanziellen Einsparung führt, ist
neben dem Verbrauch leider auch von der allgemeinen
Preisentwicklung abhängig, und wir wissen, dass Energie teurer wird.
Ich sehe drei relevante Problemkreise, auf die sich die
Diskussion über den Änderungsbedarf beim Mietrecht in
Bezug auf die energetische Sanierung konzentriert. Dazu
kommt die Frage, wie wir mit vorsätzlichen Mietschuldnern umgehen wollen. Ich komme zunächst zum Mietminderungsrecht. Wie bereits ausgeführt, ist der Nutzer
einer Wohnung der Hauptgewinner einer energetischen
Sanierung. Es bedarf bei einem Mietverhältnis schon besonderer Anreize, damit sich ein Hauseigentümer für
eine derartige Sanierung entscheidet, vor allem, wenn
sich sein Haus nicht in den nicht sehr zahlreichen, also
eher überschaubaren Toplagen befindet. Wenn der Vermieter dann auch noch zusätzliche wirtschaftliche Verluste durch Mietminderungen befürchten muss, dann ist
das nicht gerade ein besonderer Anreiz. Es ist doch für
einen Mieter zumutbar, eine in drei Monaten zügig
durchgeführte energetische Sanierung zu ertragen. Dies
darf ihm nicht noch das Recht verschaffen, denjenigen,
der letztlich an ihm eine gute Tat begeht, auch noch
durch eine Mietminderung bestrafen zu können.
({6})
Diesen Widersinn können wir doch nicht gutheißen.
Liebe Kollegen von den Grünen, welche mietrechtlichen Anreize bieten Sie den Sanierungsträgern? Überhaupt keine. Ihr Antrag geht nämlich an den berechtigten
Interessen der Hauseigentümer vollständig vorbei. So ist
keine Steigerung der Investitionstätigkeit zu erwarten.
Wie können Sie es eigentlich mit Ihrem grünen Gewissen vereinbaren, so viele dringend notwendige Sanierungsprojekte zu behindern, ja in Wahrheit sogar masDirk Fischer ({7})
senhaft ganz zu verhindern? Das kann doch von Ihnen
überhaupt nicht akzeptiert werden.
({8})
So funktioniert die Energiewende nicht, schon gar nicht
mit Ihren Vorstellungen von Sanierungszwängen und
Energiepolizei.
({9})
Ich komme zur Umlage. Die Koalition hat sich entschieden, an der möglichen Höhe der Modernisierungsumlage nicht zu rütteln. Ich halte auch nichts davon, die
Modernisierungsumlage auf ausgewählte Modernisierungsformen zu begrenzen, nur weil jetzt die energetische Sanierung im Vordergrund steht. Wer weiß, vielleicht gerät in fünf Jahren der Wasserverbrauch in die
Schlagzeilen. Für die allgemeine Verbesserung von
Wohnverhältnissen sollte die Modernisierungsumlage
weiterhin möglich bleiben.
Zum Contracting. Der Regierungsvorschlag ist eine
gute Entscheidungsgrundlage. Ob dabei das Optimum
gefunden worden ist, werden wir nach der Anhörung im
Rahmen der Beratungen zu prüfen haben. Aber immerhin - das hat die Bundesjustizministerin ausgeführt -:
Diese Bundesregierung ist die erste, die überhaupt einmal einen vernünftigen und diskussionswürdigen Vorschlag gemacht hat. Daran muss weiter gearbeitet werden.
({10})
Zum Problem der Mietnomaden. Dabei geht es um
vorsätzliche Mietschuldner, also Menschen, die mit Absicht anderen Menschen wirtschaftlichen Schaden zufügen und oftmals vorsätzlich betrügerisch handeln. Mir
ist egal, wie viele Fälle das sind. Die große Masse der
Mietverhältnisse funktioniert reibungslos. Die sind von
den neuen Regelungen, zum Beispiel der Sicherungsanordnung, überhaupt nicht betroffen.
({11})
Der Gesetzgeber darf aber prinzipiell nicht akzeptieren,
dass einige die derzeit bestehenden Regelungslücken
und die oftmals viel zu langen Prozesse nutzen, um sich
einen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Große Wohnungsbaugesellschaften haben einen langen Atem und können das durchstehen, aber für
einen kleinen Vermieter mit ein oder zwei Wohnungen
ist dies oftmals mit dem wirtschaftlichen Ruin verbunden.
({12})
Ich will am Ende meiner Rede auf Folgendes hinweisen: Für uns alle ist die Energiewende auch im Gebäudesektor eine große Herausforderung. Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht: Förderung über
die mit Bundesmitteln finanzierten Programme der KfW,
Konzept zur Fortentwicklung der EnEV, Mietrechtsentwurf, Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung
der Gebäudesanierung. Der Beitrag, den die von der
SPD oder von den Grünen geführten Bundesländer
hierzu im Bundesrat liefern, ist alles andere als konstruktiv.
Ich frage wiederum: Wie können die Freunde von den
Grünen mit ihrem grünen Gewissen vereinbaren, dass so
jegliche energetische Sanierung vor allem im Eigenheimsektor, dem die normalen Häuslebauer, Normalverdiener, oft ältere Menschen angehören, die darauf angewiesen sind, steuerliche Förderungen zu empfangen,
konterkariert wird?
Lieber Kollege.
Ich sage Ihnen voraus: Ohne eine steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung werden wir
die anspruchsvollen Ziele nie erreichen. Sie müssen sich
in diesem Fall einen Ruck geben.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Michael Groß ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt ungefähr anderthalb Stunden viel über marktliberale Philosophien gehört. Deswegen ist es wichtig, hier einen Gegenpart zu setzen.
({0})
Ich will zu Beginn deutlich machen, dass die SPD
zum Thema Klimaschutz steht. Anders ausgedrückt: Wir
müssen das Ziel erreichen, genug CO2 einzusparen.
({1})
Wir müssen aber auch die Energieeffizienz in den Griff
bekommen. Die Wege sind allerdings unterschiedlich:
Sie wollen die Mieterinnen und Mieter belasten; wir
wollen sie in diesem Rahmen schützen.
({2})
Die Miete muss bezahlbar bleiben; das Wohnen muss
bezahlbar bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, vor kurzem hat der Bundesverband deutscher
Wohnungs- und Immobilienunternehmen veröffentlicht,
dass eine energetische Standardsanierung 3,50 Euro pro
Quadratmeter kostet. Einzusparen sind 38 Cent. Die
Frage an Sie ist: Wie wollen Sie diese Schere schließen?
Die Einkommensentwicklung in Deutschland ist gerade
schon beschrieben worden. Es gibt in Wachstumsregionen Menschen, die 50 Prozent ihres Einkommens für das
Wohnen und 15 Prozent für die Mobilität ausgeben müssen. Wovon sollen diese Menschen dann noch leben? Sie
haben darauf keine Antwort. Ganz im Gegenteil: Sie
sagen, wir müssten die Mieter noch mehr belasten.
Sie spielen auf dem falschen Spielfeld. Sie wollen die
Mietrechtsreform nutzen, um die soziale Funktion des
Mietrechts auszuhöhlen. Das sieht man an dem Titel
Ihres Gesetzentwurfs, in dem es sowohl „energetische
Modernisierung“ als auch „vereinfachte Durchsetzung
von Räumungstiteln“ heißt.
Sie haben gerade nach den Antworten der SPD gefragt. Ich kann Ihnen welche geben. Sie müssen energetische Sanierung als Bestandteil der Stadtentwicklung
begreifen und sich davon lösen, dass es nur um einzelne
Gebäude geht. Sie müssen verstehen, dass wir viele Fragen beantworten müssen. Unsere demografische Entwicklung stellt die Menschen, aber auch die Städte vor
große Probleme. Uns stellt sich die Frage des guten,
bezahlbaren Wohnens in den Städten. Die energetische
Sanierung kann ein Bestandteil dieser Stadtentwicklung
sein. Da man den Euro nur einmal ausgeben kann, müssen wir dafür sorgen, dass Quartierskonzepte entwickelt
werden, durch die die Städte in die Lage versetzt werden, vernünftig zu steuern, zu entscheiden, welche energetischen Maßnahmen richtig sind und welche wir umsetzen müssen und umsetzen können.
Neben der Gebäudesanierung spielen die Fragen eine
Rolle: Wie gewinnen wir Energie? Wie versorgen wir
die Wohnungen mit Energie? Wie speichern wir Energie? Die Antworten darauf müssen wir mit einem Gesamtkonzept geben.
Wir Sozialdemokraten haben die Vorstellung, dass
wir die Stadt als soziale Stadt wiederbeleben müssen.
({3})
Dazu gehören eben auch bezahlbare Energie, Energieeinsparungen und CO2-Reduktion.
({4})
Wir haben Angst, dass sich zahlreiche Menschen in
bestimmten Stadtteilen demnächst keine energetisch
sanierten Wohnungen mehr leisten können, mit der Konsequenz, dass sie vertrieben werden. Das ist dem ähnlich, was im Bereich „soziale Segregation“ festzustellen
ist: Es kommt zu einer Wanderungsbewegung von Menschen, die aus ihren Stadtteilen vertrieben werden, weil
das Wohnen dort zu teuer wird. Das müssen wir verhindern. 6 Millionen Menschen in Deutschland verdienen
weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Sie können sich vorstellen, was die Umlage der voraussichtlichen Investitionssummen auf die Mieter bedeutet.
In Deutschland gibt es zurzeit 1,5 Millionen gebundene Sozialwohnungen. Das ist ein wichtiges Thema,
das Sie überhaupt nicht angehen.
({5})
Zur Frage der sozialen Wohnraumförderung: Sie sagen nicht, dass Sie die 518 Millionen Euro bis 2019 verlängern wollen, sondern Sie halten das Thema völlig
offen. Wenn der Bund überhaupt noch eine Verantwortung in der Steuerung der Wohnungspolitik übernehmen
will, dann müssen Sie dort handeln.
({6})
Abschließend noch ein Satz zur Mietminderung: Ihr
Vorschlag ist ungefähr so, als würden Sie ein Auto kaufen und bekämen es ohne Windschutzscheibe und ohne
Heizung. Dann würde Ihnen aber versprochen werden,
in fünf Monaten bekämen Sie es eingebaut, weil man
gerade noch in der Entwicklung und in der Produktion
sei. 100 Prozent Leistung und 100 Prozent bezahlen, das
ist unser Thema, und so muss es auch sein. Dies gilt
auch für die Mietminderung.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, das Mietnomadentum wurde heute
schon mehrfach dargestellt. Wir haben 24 Millionen
Mieter. Nach Schätzungen des GdW gibt es vielleicht
15 000 Menschen, die bewusst, zielgerichtet betrügen
wollen; andere sprechen von 1 000. Sie diskriminieren
die 24 Millionen Mieter in diesem Land, wenn Sie
sagen, in Sachen Mietnomadentum müssten wir handeln.
Ich verstehe Sie da wirklich nicht.
Danke schön.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner
Norbert Geis.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Wagner hat vorhin bei ihrem Eingangsstatement zu ihrer Rede festgestellt, dass wir in Deutschland ein ausgewogenes Mietrecht und damit wohl auch
das beste Mietrecht in ganz Europa haben. Ich kann
Ihnen nur beipflichten. Es ist auch notwendig; denn das
Mietrecht spielt eine ganz bedeutende Rolle in unserer
Rechtsordnung überhaupt und hat eine wichtige Ordnungsfunktion in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben.
Wir haben es schon oft genug gehört: Es gibt in unserem Lande 24 Millionen Mieter. Von 40 Millionen Wohnungen sind 24 Millionen Wohnungen vermietet. Also
ist das ein ganz großer Anteil der Bevölkerung. Es ist
immer schwierig, einen Interessenausgleich zwischen
dem Vermieter und dem Mieter zu finden, weil die Interessen in bestimmten Situationen ganz weit auseinandergehen können.
Hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden, das ist
ebenfalls nicht einfach. Ich bin aber der Meinung, dass
dieser Gesetzentwurf einen guten Mittelweg darstellt.
Natürlich kann man da und dort noch eine Änderung
herbeiführen; aber alles in allem gesehen werden wir an
diesem Gesetzentwurf in seinen Grundlinien in jedem
Fall festhalten, weil wir der Meinung sind, dass er ganz
sicher besser nicht gestaltet werden kann, jedenfalls in
seinen Grundlinien nicht.
({0})
Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Ich sagte schon,
von den 40 Millionen Wohnungen seien 24 Millionen
Mietwohnungen. Diese 24 Millionen Mietwohnungen
werden nicht in erster Linie von den großen Wohnungsbaufirmen gestellt, auch nicht vom sozialen Mietwohnungsbau, sondern von den kleinen Anbietern. Die kleinen Anbieter wollen mit einem ganz großen Eifer, mit
einem starken Willen zur Selbstbeschränkung Eigentum
durch ein Haus erwerben, das sie bauen; da ist Urlaub
nicht angesagt. In diesem Haus haben sie dann zwei oder
drei Mietwohnungen. Diese Vermieter stellen nicht nur
einfach das Geld zur Verfügung - sie müssen auch zur
Bank; denn sie werden das alles nicht so aus eigener
Tasche finanzieren können -, sondern bringen auch in
höchstem Maße Eigenleistungen. Auch viele Nachbarn
werden helfen. Auf dem Dorf ist es üblich, dass man
sich hilft und eine Wohnung mit der Hilfe vieler anderer
baut. Das muss man bedenken.
Diese kleinen Vermieter bilden den größten Teil der
Vermieter, und all diese kleinen Vermieter haben ein
größtes Interesse daran, dass das, was sie sich abgespart
haben, was sie an Eigenleistung erbracht haben, in vernünftige Hände gerät und sie daraus auch einen Vorteil
haben. Sie wollen einen Vorteil nicht nur für den Augenblick, sondern vor allen Dingen für ihre Altersversorgung haben. Das ist vernünftig, und dieses Wollen müssen wir auch unterstützen,
({1})
weil sie damit einen großen Beitrag leisten, um der
Nachfrage nach Wohnungen gerecht werden zu können.
Deswegen halte ich es schon für richtig, dass wir uns
Gedanken darüber machen, wie wir dieses Mietnomadentum bekämpfen. Das ist keine Bagatelle. Wer ein
bisschen damit zu tun hat - als Anwalt hat man damit zu
tun -, der weiß, wie schwierig die Situation ist. Der Vermieter bekommt keine Miete, während der andere in der
Wohnung sitzt. Ich bin froh darüber, dass wir nicht so
viele Mietnomaden haben.
({2})
- Nein, wir müssen es aber gesetzlich regeln. Bei
15 000 Mietnomaden - eine Zahl, die hier genannt worden ist - müssen wir eine gesetzliche Regelung finden.
Wir können doch nicht einfach das Faustrecht gelten
lassen.
({3})
Was will denn ein Vermieter machen, wenn der Mieter partout nicht bezahlen will? Der Vermieter hat zwar
einen vollstreckbaren Titel, aber der Mieter geht zum
Amtsgericht und bringt irgendeine Härte vor, die der
Richter dann wahrscheinlich auch noch anerkennt. Dann
sitzt er über ein halbes Jahr oder ein dreiviertel Jahr in
der Wohnung, ohne einen Mietzins zu zahlen. Das können wir so nicht hinnehmen; damit verderben wir es uns
mit den Kleinanbietern. Aber das wollen wir nicht, weil
wir sie brauchen.
({4})
Wir alle zusammen wissen, dass die Energieeffizienz
ein wichtiger Bestandteil unserer Energiewende ist.
Ohne die Steigerung der Energieeffizienz werden wir die
Energiewende, so wie wir sie vorhaben, nicht schaffen.
Effizienzsteigerung heißt ja auch Einsparen, heißt, Maßnahmen zu treffen, damit man nicht so viel Energie verbrauchen muss. Das versuchen wir jetzt natürlich auch
im Mietrecht umzusetzen. Wie wollen wir denn den
Kleinanbieter dazu bringen, noch einmal Geld in die
Hand zu nehmen, um jetzt auch noch diese Maßnahmen
zur Effizienzsteigerung durchzuführen, ohne dass er die
Ausgaben umlegen kann? Das macht doch kein vernünftiger Mensch mehr, vor allen Dingen dann nicht, wenn er
kurz vor der Rente steht und eigentlich mit den Mieteinnahmen seine Rente aufbessern möchte. Also müssen
wir doch dafür Sorge tragen, dass es für ihn interessant
bleibt, diese Maßnahmen zur Effizienzsteigerung vorzunehmen und zu finanzieren.
({5})
Diese Möglichkeit wollen wir schaffen. Herr Fischer
hat es vorhin schon erklärt: Wenn wir dem Mieter nun
anbieten, dass während der Zeit, in der diese Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz durchgezogen
werden, Mietminderungen möglich sind, der Vermieter
also Minderungen hinnehmen muss, dann denkt der
nicht im Traum daran, überhaupt eine solche Maßnahme
durchzuführen.
Ich sehe durchaus ein: Der Mieter muss insoweit
zunächst einmal in Vorleistung treten. Er muss damit
zurechtkommen, wenn im Haus im Zuge dieser Maßnahmen umgebaut wird. Das stellt zunächst einmal eine Belastung des Mieters dar. Das sehen wir. Aber wie sollen
wir denn den Kleinanbieter dazu bringen, entsprechende
Maßnahmen zur Effizienzsteigerung durchzuführen,
wenn er dann auch noch eine Mietminderung hinnehmen
muss? Wir werden ihn nicht dazu zwingen können. Deswegen müssen wir auch innerhalb des Mietrechts eine
Möglichkeit des Ausgleichs schaffen. Das haben wir in
diesem Entwurf so vorgesehen. Ich meine, es ist auch insoweit ein gelungener Entwurf.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Contracting
sagen. Das ist natürlich eine Sache, die immer mehr
kommen wird. Im Moment haben wir in den großen
Wohnanlagen die Heizungsanlagen noch irgendwo im
Keller. Sie sind zum Teil sehr ineffizient. Es ist gut, dass
es dieses Contracting in Zukunft geben wird, bei dem
gewerbliche Wärmeanbieter in der Lage und bereit sind,
die Wärme in die verschiedenen Wohnhäuser zu bringen,
und zwar effektiver, als wenn die Wärme im eigenen
Haus hergestellt wird. Deswegen meine ich, dass wir
dies unterstützen sollten. Wir dürfen dies nicht bagatellisieren, sondern sollten Contracting insbesondere für
Kleinanbieter interessant machen, damit diese bereit
sind, das Geld hierfür in die Hand zu nehmen. Am Ende
hat der Mieter insofern Vorteile davon, als die eigenen
Aufwendungen geringer sein werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch kein
Gesetz ist so aus dem Bundestag herausgekommen, wie
es hineingekommen ist. Wir werden darüber beraten,
dazu Anhörungen machen und gute Argumente anhören
und sie umsetzen.
Danke schön.
({6})
Dr. Norbert Lammert:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte noch einmal auf die Dimensionen, insbesondere
die Herausforderungen, die wir uns mit dem Energiekonzept vorgenommen haben, eingehen. Wir wollen in
Deutschland bis zum Jahr 2050 den Primärenergiebedarf
um 80 Prozent vermindern. Das Zwischenziel ist, dass
wir bis 2020 20 Prozent gegenüber 2008 einsparen.
({0})
Über das Ziel sind wir uns einig. Alle in diesem Hause
haben diesem zugestimmt. Ich arbeite noch einmal die
Punkte ab, in denen wir uns einig und auch nicht einig
sind. Das Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir alle
Potenziale beim Energiesparen und bei der Energieeffizienz nutzen bzw. heben. Auch darüber sind wir uns einig. Hier spielt der Gebäudesektor - das ist vielfach angeklungen - eine zentrale Rolle. 40 Prozent des
Endenergieverbrauches - und damit der größte Sektor in Deutschland entfallen auf die Gebäude. Wenn wir dort
nicht ansetzen und nicht die richtigen Instrumente finden, dann wird das Energiekonzept - das weltweit ambitionierteste, das wir uns gemeinsam vorgenommen haben - so nicht umzusetzen sein.
Beim Thema Neubau sind die Probleme mehr oder
weniger gelöst. Es gibt heute Passivhäuser, Nullenergiehäuser, Plusenergiehäuser. Hier werden im Bereich moderne Haustechnik und Isolierung mit neuen Baustoffen
nahezu alle Möglichkeiten genutzt. Man verbraucht hier
nur noch wenig Energie. Das Problem ist, dass wir in
Deutschland nur 200 000 Neubauten im Jahr verzeichnen. Zum Teil sind es sogar weniger. Das heißt, bei den
bereits erwähnten 40 Millionen Wohnungen in Deutschland würden wir 200 Jahre benötigen, um die gesteckten
Ziele zu erreichen. Dies macht die Dimension der Herausforderung noch einmal deutlich.
Wir müssen uns um den Gebäudebestand kümmern
und dort die Potenziale nutzen. Hier gibt es vielfältige
Möglichkeiten. Einige Zahlen möchte ich nennen. Die
Haustechnik: 90 Prozent der Kessel in deutschen Kellern
sind veraltet. Wenn nur diese Kessel durch neue mit hohen Wirkungsgraden ersetzt würden, dann könnten beispielsweise 55 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Von den Heizkesseln werden im Moment
180 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr emittiert. Es geht
also um rund 30 Prozent.
Auch vermeintlich kleine Dinge können einen Beitrag
leisten. Ich nenne hier die Fenstereinheiten. Es gibt
580 Millionen Fenstereinheiten in Deutschland. Von diesen sind 30 Millionen einfachverglast. 250 Millionen
sind technisch und energetisch veraltet. Hier könnten wir
27 Millionen Tonnen CO2 einsparen oder - in Heizöl
ausgedrückt - 8,6 Milliarden Liter Heizöl pro Jahr. Auch
hier sind wir uns einig.
Wenn wir die Ziele erreichen wollen, dann müssen
wir alle Instrumente nutzen. Zwang führt nicht zu den
gewünschten Ergebnissen. In den Bereichen, in denen
man mit Zwang und Verpflichtung gearbeitet hat, ist das
Gegenteil erzielt worden. In der Großen Koalition forderte die SPD einen Zwang zur Nutzung erneuerbarer
Energien bei energetischen Sanierungen. Dieses wurde
auf Bundesebene nicht eingeführt, weil wir Technologievorgaben für Solarthermie machen wollten. In BadenWürttemberg wurde von der damaligen CDU-Regierung
zusammen mit der FDP die Integrationspflicht für erneuerbare Energien bei der energetischen Sanierung, technologieoffen, eingeführt. Hierfür gab es noch zusätzliche
Förderungen. Trotzdem zeigt die erste Bilanz nach zwei
Jahren, ob es einem gefällt oder nicht, dass die Menschen in die energetische Sanierung weniger investieren,
also Investitionsattentismus betreiben. Das heißt also,
Zwang führt nicht zum Erfolg.
Deshalb muss mit Anreizen gearbeitet werden. Es
gibt das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, was erfolgreich ist, aber nicht ausreichend. Dies betrifft vor allem
selbstgenutztes Eigentum. Die Marktanreizprogramme,
die damit verbunden sind, haben wir ebenfalls. Dann
gibt es die steuerliche Absetzbarkeit. Es ist ein Skandal,
dass dies seit über einem Jahr von den Ländern im Bundesrat blockiert wird. Dadurch kommt die energetische
Sanierung nicht so voran, wie es notwendig ist.
Der beste Mieterschutz ist, wenn wir Instrumente finden - das ist angeklungen -, um den Mieter von den
Energiepreissteigerungen abzukoppeln. Der Mieter muss
die Energiepreise selber zahlen, und zwar über die Nebenkosten. Es ist das bekannte Dilemma: Der Vermieter
hat kein Interesse daran, zu investieren, wenn er nichts
davon hat, außer vielleicht einer Wertsteigerung. Er wird
aber natürlich nicht investieren, wenn er damit rechnen
muss, dass auch noch eine Mietkürzung auf ihn zukommt. Deshalb muss es einen Ausgleich geben, sodass
beide Seiten etwas davon haben. Der Mieter muss mittel- und langfristig durch Energieeinsparungen bei den
Nebenkosten etwas davon haben, sodass er sich dort abkoppeln kann.
Dann werden die Mieter auch nicht aus der Innenstadt
vertrieben. Der Kollege Pronold hat es angesprochen:
Wenn in den Großstädten, in den Altstädten, in den Zentren keine energetisch sanierten Wohnungen und Gebäude vorhanden sind, dann wird nämlich genau das die
Folge sein, weil die Nebenkosten in astronomische Höhen steigen. Das werden sich die Mieter nicht mehr leisten können, und dann werden sie vertrieben. So wird ein
Schuh daraus.
({1})
Wir versuchen jetzt, dieses Dilemma aufzulösen. Auf
der einen Seite muss die Investition getätigt werden, auf
der anderen Seite müssen sowohl der Mieter als auch der
Vermieter etwas davon haben.
Ein entscheidender Punkt ist - das ist bereits angeklungen -, dass im Bereich des Contracting im weiteren
parlamentarischen Verfahren nachgebessert werden
muss. Hier kann ich nur den Gedanken des Kollegen
Geis unterstützen: Kein Gesetz hat den Bundestag so
verlassen, wie es hineingekommen ist.
Beim Contracting übernimmt der gewerbliche Energiedienstleister im Auftrag des Vermieters beispielsweise Wärmelieferungen und Investitionen in die Technik. Hier muss die Neutralität im Hinblick auf den
Zeitraum gewährleistet sein.
Herr Kollege.
Eine Investition, mit der eine Energieersparnis von
30 oder 40 Prozent erreicht werden soll, kann natürlich
nicht im Laufe eines Jahres erwirtschaftet werden. Hier
muss man sich Überlegungen im Hinblick auf eine intelligente Ausgestaltung machen, sodass sowohl der Mieter
etwas davon hat als auch derjenige, der für das Contracting zuständig ist.
Insofern freue ich mich auf gute Beratungen in den
Ausschüssen, auf dass wir den bisher schon guten Gesetzentwurf noch besser machen und die Ziele, die wir
uns vorgenommen haben, gemeinsam erreichen und
nicht bei der Umsetzung auf der Strecke bleiben.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10485, 17/10776 und 17/10120 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich hoffe, dass dies jedenfalls nicht streitig
ist. - Das ist offenkundig so. Dann sind die Überweisungen damit so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 sowie den Tagesordnungspunkt 4 b auf:
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Lisa
Paus, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe
- Drucksache 17/10770 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
4 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Reichtum umFAIRteilen - in Deutschland und
Europa
- Drucksache 17/10778 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer über
Armut spricht, darf über Reichtum nicht schweigen.
Deutschland ist ein reiches Land, aber Deutschland hat
enorme Schulden. Reden wir also über privaten Reichtum und öffentliche Armut.
In den letzten vier Jahren ist die gesamtstaatliche Verschuldung Deutschlands von 1,6 Billionen Euro auf über
2 Billionen Euro gestiegen. Das sind 81,2 Prozent des
Bruttosozialprodukts, also schlechter als in Spanien. Wir
verwenden heute 11 Prozent unseres Haushaltes für die
Begleichung von Zinsen. Man kann es auch anders sagen: 32,8 Milliarden Euro - der zweitgrößte Haushaltstitel - fließen cash an Vermögende, und das in Zeiten historisch niedriger Zinssätze.
Im gleichen Zeitraum, über den wir hier sprechen, ist
der private Wohlstand in Deutschland um 1 400 Milliarden Euro, also 1,4 Billionen Euro gestiegen. Nach den
Zahlen des neuen Armuts- und Reichtumsberichts der
Bundesregierung beträgt das Privatvermögen heute
10 Billionen Euro, und weit mehr als die Hälfte davon
gehören lediglich 10 Prozent dieser Gesellschaft.
Ziehen wir also eine Bilanz der Kanzlerschaft von
Frau Merkel: 500 Milliarden Euro neue Schulden für
den Staat, 1 400 Milliarden Euro neuer Reichtum für die
Vermögenden. Das ist die Bilanz der selbsternannten
„schwäbischen Hausfrau“. Man könnte auch sagen: Das
ist die Bilanz einer unverschämten schwarz-gelben
Klientelpolitik.
({0})
Sie vertreten nicht das bürgerliche Lager; die politische
Rechte in diesem Lande vertritt ausschließlich das besitzbürgerliche Lager.
Sie werden einwenden, das habe etwas mit der Finanzkrise zu tun. Richtig.
({1})
- Sie überschätzen mich, Herr Kollege. - Sie organisierten einen Bail-out von Bankschulden, um eine Wirtschaftskrise abzuwenden. Das war übrigens notwendig.
Dabei wurden aber die privaten Vermögen der Gläubiger
der Banken massenhaft mit gerettet. Die Folge davon
waren überall in Europa explodierende Staatsschulden.
Die große Mehrheit dieses Hauses hat sich gemeinsam dazu bekannt, dass man der Neuverschuldung einen
Riegel vorschieben muss. Deswegen haben wir den Fiskalpakt auf den Weg gebracht. Wir müssen aber feststellen: Neuverschuldung bedeutet nichtsdestotrotz mehr
Schulden; der Prozess wird nicht gestoppt. Was müssen
wir tun? Wir müssen Schulden abbauen, um die Souveränität der Demokratie wiederherzustellen.
({2})
Wir müssen Schulden abbauen, damit wir diese Lasten
nicht unseren Kindern und Enkeln aufhalsen. Das heißt,
es geht überhaupt nicht um die Frage, ob Schulden abgebaut werden, sondern darum, wer dafür bezahlt. Das ist
die Frage, um die wir streiten.
Nach Ihren Vorstellungen soll all dies über Einsparungen bei öffentlichen Leistungen erreicht werden, über
Kürzungen bei Sozialleistungen, bei Personal usw. Man
kann es auch anders ausdrücken: Sie wollen die Schulden durch eine Vergrößerung der öffentlichen Armut abbauen. Sie retten die Privatvermögen über staatliche Rettungspakete und lassen die Mehrheit der Bevölkerung
dafür bezahlen. Sie unternehmen nichts, um die Kosten
der Krise fair zu verteilen.
Aus diesem Grunde legt meine Fraktion heute eine
Alternative vor: die Einführung einer zweckgebundenen
Vermögensabgabe zum Schuldenabbau.
({3})
Wir ziehen das Vermögen der deutschen Millionäre heran, um die Schulden abzutragen, die durch die Kosten
der Bankenkrise entstanden sind. Diese Abgabe betrifft
1 Prozent der Bevölkerung. Es gibt einen Freibetrag von
1 Million Euro, 250 000 Euro für Kinder, einen Freibetrag für Betriebsvermögen von 5 Millionen Euro.
({4})
Wenn wir diese Abgabe zum Lastenausgleich zehn Jahre
lang erheben, dann kommen bei einem Abgabesatz von
jährlich 1,5 Prozent über 100 Milliarden Euro zusammen. Damit können wir die Schulden unter anderem des
Soffin gut bewältigen.
({5})
Manche glauben, man würde plötzlich dem Sozialismus
anheimfallen, wenn Millionäre pro Million pro Jahr
15 000 Euro in den Schuldenabbau investieren müssten.
Ich glaube, diese Argumentation ist absurd.
({6})
Ob man es nun durch Leistung, durch Erbschaft oder
durch einen Rentiersgewinn erreicht hat: Es steht doch
fest - das belegt Ihr Armuts- und Reichtumsbericht -,
dass sich das Leben in Deutschland zumindest für die
oberen 10 Prozent der Bevölkerung lohnt. Wir wollen
nur eine Minderheit davon, nämlich jene 1 Prozent der
Bevölkerung heranziehen, die allein über ein Vermögen
von 2,5 Billionen Euro verfügen.
Meine Damen und Herren, auch Reiche wissen, dass
Wohlstand etwas mit funktionierender staatlicher Infrastruktur zu tun hat. Es gibt einen oft zitierten Satz: „Nur
Reiche können sich einen armen Staat leisten.“ Ich will
ausdrücklich sagen: Dieser Satz ist falsch. Seit 2008 wissen wir: Auch Reiche können sich einen armen Staat
nicht leisten.
({7})
Auch Reiche brauchen einen handlungsfähigen Staat.
Dafür müssen wir Staatsschulden abbauen, und dazu
müssen die Vermögenden in unserem Lande einen fairen
Anteil aufbringen;
({8})
dem dient die grüne Vermögensabgabe.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält das Wort nun der
Kollege Christian von Stetten.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Durch die Progression in unserem Einkommensteuergesetz erreichen wir genau das, was wir wollen, nämlich
dass starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Bürger mit geringen Einkommen und Personen mit besonderen Lasten,
die überhaupt keine Einkommensteuer zahlen - sie sind
von dieser Steuerart befreit -, auf der anderen Seite gibt
es die Spitzenverdiener - also die kleine Gruppe der
10 Prozent an der Gesamtbevölkerung -, die über 50 Prozent der gesamten Einkommensteuerlast tragen. Das
muss hier erwähnt werden; denn es muss ihnen zugutegehalten werden. Unser Steuersystem ist so angelegt:
Wenn jemand erfolgreich ist und ein hohes Einkommen
hat, dann leistet er einen höheren finanziellen Beitrag an
den Staat.
Herr Trittin, was Sie heute für die Grünen zum Thema
Vermögensabgabe in den Bundestag eingebracht haben,
hat nichts mit leistungsabhängiger und gewinnabhängiger Besteuerung zu tun. Sie wollen eine staatliche Umverteilung, das wird mittlerweile auch deutlich ausgesprochen.
({0})
- Sie können das von Ihnen bejubelte Wort „staatliche
Umverteilung“ auch als „staatliche Teilenteignung“ beschreiben,
({1})
dann ist der Jubel vielleicht gar nicht mehr so groß.
({2})
Sie haben ausgeführt, dass Sie zunächst einen Freibetrag festlegen wollen. In den nächsten zehn Jahren wollen Sie dann eine Teilenteignung in Höhe von insgesamt
15 Prozent des abgabepflichtigen Vermögens durchsetzen. Dabei machen Sie überhaupt keinen Unterschied,
ob der betroffene Bürger in dem betreffenden Jahr etwas
verdient hat oder nicht.
({3})
Er wird seinen Beitrag auch leisten müssen, wenn er in
jenem Jahr Verluste gemacht hat. Das ist eine Substanzsteuer, die wir als CDU/CSU-Fraktion für unverantwortlich halten.
({4})
- Ja, Sie sind da schon einen Schritt weiter.
Die SPD diskutiert derzeit noch. Vielleicht wird Herr
Gabriel heute anschließend seinen Enteignungszinssatz
bekanntgeben. Die Linksfraktion ist hier schon etwas
weiter. Ihr vorliegender Antrag ist zwar etwas weiter gefasst, aber ich stelle wieder einmal fest: Wir beschäftigen
uns in schöner Regelmäßigkeit mit Ihrem Lieblingsthema, der Vermögensteuer.
({5})
Zum wiederholten Male fordern Sie einen Zinssatz von
5 Prozent jährlich auf den Verkehrswert.
({6})
Sie wissen: Bei 5 Prozent auf den Verkehrswert ist nach
20 Jahren - ({7})
- Herr Gysi, nach 20 Jahren ist es weg, und auch das
Haus ist weg: Im ersten Jahr ist es die Diele, im zweiten
Jahr das Bad, im dritten Jahr das Wohnzimmer, und nach
20 Jahren haben Sie aus einem stolzen Hausbesitzer wieder einen Mieter gemacht.
({8})
Alle drei Oppositionsparteien betonen bei diesem
Thema immer wieder, dass sie nur die Vermögenden,
also die Millionäre treffen wollen. In diesem Zusammenhang nennen Sie auch immer die Banken und die
Euro-Krise. Sie mobilisieren gemeinsam gegen „die da
oben“, gegen die Vermögenden, und erklären, dass Ihre
Vorschläge letzten Endes nur 1 Prozent der Bevölkerung
treffen. Aber es stellt sich die Frage: Mindert das den
schädlichen Effekt der Abgabe? Ist es gut und gerecht,
weil es nur wenige trifft?
({9})
Uns ist völlig klar: Sie spekulieren auf die Wählerstimmen der übrigen 99 Prozent der Bevölkerung. Ihre Politik ist volkswirtschaftlich gesehen schädlich und auch
sehr gefährlich.
({10})
Mich bedrückt besonders, dass Sie - obwohl Herr
Trittin ausgeführt hat, dass er hiermit die Bankenkrise
bewältigen will - überhaupt nicht ausgeführt haben, wie
hoch das Aufkommen sein wird.
({11})
In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass „ein großes Aufkommen realisierbar ist“. Mit solchen Initiativen leisten Sie
keine große Hilfe zur Bewältigung der jetzigen Finanzkrise.
({12})
Wenn Sie in der Debatte zum Thema Mietrecht zugehört hätten, dann wäre Ihnen jetzt klar, was Sie da beschließen wollen. Sie treffen doch in der Summe nur die
Bürger mit kleinen Einkommen und die Mieter.
({13})
Das gilt sowohl für den Vorschlag, 1,5 Prozent pro Jahr
zu erheben, als auch für den Vorschlag, 5 Prozent zu erheben.
({14})
- Herr Kollege, nehmen Sie beispielsweise den Besitzer
eines großen Mietshauses. Gehen wir davon aus, dass
mit den Wohnungen eine Verzinsung von 3,5 Prozent
erwirtschaftet wird. Wenn der Hausbesitzer, wie die
Linkspartei es vorschlägt, pro Jahr 5 Prozent auf den
Verkehrswert zahlen muss - wir können auch von den
vorgeschlagenen 1,5 Prozent ausgehen -, dann wird er
dieses Haus verkaufen wollen. Er wird jedoch keinen
Käufer finden, weil das Haus kein Renditeobjekt mehr
ist.
({15})
Was wird er machen? Er wird diese hohen Abgaben
selbstverständlich auf den Mieter umlegen. Ein Vermögensteuersatz von 5 Prozent würde demnach eine glatte
Verdoppelung der Miete bedeuten. 1,5 Prozent würden
eine Mieterhöhung um 25 Prozent bedeuten. Diese mieterfeindliche Politik werden wir von CDU und CSU
nicht mitmachen.
({16})
Zum Abschluss darf ich noch daran erinnern, dass wir
die gleiche Neiddiskussion vor einigen Jahren im
Zusammenhang mit der Reform der Erbschaftsteuer
geführt haben. Damals haben Sie die gleichen Argumente vorgebracht. Gott sei Dank haben wir ein vernünftiges Erbschaftsteuergesetz mit vernünftigen Freibeträgen und guten Übergangsmöglichkeiten für die
Unternehmenserben durchgesetzt. Wir haben die Abwanderung der Vermögen und der Unternehmen ins
Ausland gestoppt. Was mich besonders freut, ist, dass
Unternehmen mit zahlreichen Arbeitsplätzen nach
Deutschland zurückgekehrt sind.
Ich empfehle Ihnen, einmal mit Gewerkschaftsmitgliedern darüber zu diskutieren. Sprechen Sie einmal mit
den Kollegen. Dann werden sie feststellen, dass sie froh
sind, dass wir ein Erbschaftsteuerrecht auf den Weg
gebracht haben, das es ermöglicht, dass die Familienunternehmen in Deutschland bleiben. Die Menschen
arbeiten nämlich lieber in Familienunternehmen. Auch
Gewerkschaftsmitglieder möchten wissen, wo ihr Chef
wohnt, und schätzen den familiären Anschluss, den auch
große Familienunternehmen bieten. Sie schätzen Unternehmen, in denen verantwortungsvoll gearbeitet wird.
Sie wollen keine anonymen Chefs, die irgendwo in Chicago oder sonst wo sitzen; denn das ist problematisch,
wenn sie konsultiert werden müssen, zum Beispiel, weil
ein Unternehmen verkauft werden soll.
({17})
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Das, was Sie
heute vorgelegt haben, ist weit entfernt von einer vernünftigen Regelung. Deswegen sehe ich auch keine
Chance für eine Umsetzung durch den Deutschen Bundestag.
Herzlichen Dank.
({18})
Vielen Dank, Kollege von Stetten. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Sigmar Gabriel. Bitte schön,
Kollege Sigmar Gabriel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege von Stetten, wenn Sie sagen, dass die Progression in
der Einkommensteuer ausreicht, dann müssen Sie hinzufügen, dass die Einkommensteuer einen immer kleineren
Anteil an der Lastenverteilung in Deutschland hat und
die ganz normalen Menschen inzwischen einen Riesenanteil über andere Steuerarten bezahlen und die Spitzenverdiener relativ wenig zur Lastenverteilung beitragen
müssen.
({0})
Sie haben sich eben versprochen. Sie haben gesagt, Sie
seien von dem Thema betroffen. Ich glaube, da ist etwas
dran.
({1})
Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Absicherung der
Arbeitnehmer zu einer Disparität, die der persönlichen
Freiheit jede Grundlage entzieht. Gehört das Unternehmen irgendwelchen Erben, die im sonnigen Süden leben,
so erhöht sich auch deren Vermögen täglich, ohne dass
diese einen Handschlag tun, wenn das Unternehmen von
fähigen Angestellten gut geleitet wird. Auch das unternehmerische Risiko ist in der Praxis geringer als das
Risiko eines Arbeitnehmers. Der Unternehmer haftet bei
Kapitalgesellschaften nur mit seiner Einlage, der Arbeitnehmer aber häufig mit seiner ganzen Existenz, vor
allem wenn er älter ist. Der Staat könnte eine gemeinwirtschaftliche Entwicklung fördern, ohne einen einzigen Enteignungsakt zu vollziehen. Entscheidender
Hebel ist das Steuerrecht.
Ich wundere mich, warum die FDP dabei nicht applaudiert. Das stammt nämlich von Ihrem FDP-Generalsekretär, natürlich nicht von Ihrem jetzigen; der käme
auf eine solche Idee nicht. Es gibt ein Buch, das Sie angesichts Ihrer derzeitigen Verfassung einmal lesen sollten. Der ehemalige Generalsekretär der FDP, KarlHermann Flach, hat das in seinem Buch mit der Überschrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ geschrieben. Wenn Sie das machen würden, hätten Sie eine.
({2})
Es gab Zeiten, in denen in Deutschland über Parteigrenzen hinaus klar war - bei der CDU/CSU, bei der
FDP, bei uns -, dass die wachsende Disparität von Einkommen und die ungleiche Verteilung der Lasten gefährlich ist für die Demokratie. Klar ist übrigens auch, dass
es nicht um technische Details einer vernünftigen Vermögensteuer oder -abgabe geht. Wir sind eher für eine
Steuer, die Grünen sind eher für eine Abgabe. Die Grünen machen einen exzellenten Vorschlag, durch den sie
dafür sorgen wollen, dass es nicht zur Substanzsteuer
wird.
({3})
Das ist ein guter Vorschlag.
({4})
Insgesamt geht es darum, einmal darüber zu reden,
wozu das eigentlich dient. Deswegen will ich mich ausdrücklich dafür bedanken, dass es zumindest ein Mitglied der Bundesregierung gibt, das den Mut hatte, dafür
zu sorgen, dass wir heute eine Grundlage dafür haben,
über eine Vermögensabgabe oder -steuer zu diskutieren.
({5})
Grundlage ist der Armuts- und Reichtumsbericht, den
die Sozialministerin, Frau von der Leyen, vorgelegt hat.
({6})
- Na klar, das lese ich Ihnen gleich vor. Keine Sorge. Im
Gegensatz zu Ihnen habe ich den Bericht gelesen.
Herr von Stetten, es geht doch nicht darum, eine ideologische Debatte über Sozialneid oder darüber, Reiche
zu verfolgen, zu führen, sondern es geht um den Zusammenhalt und das Leben in Deutschland und um die
Frage, wer eigentlich welche Lasten trägt. Im Bericht
steht, dass inzwischen mitten in Deutschland 1,5 Millionen Menschen Schlange stehen, um sich an den Tafeln
altes Brot abzuholen, um etwas zu essen zu haben. Im
Bericht steht, dass es nicht nur um Altersarmut geht,
sondern auch um 2,4 Millionen armutsgefährdete Kinder. In Deutschland geht es also nicht nur um Altersarmut, sondern auch um Jugendarmut, Familienarmut,
die Armut der Alleinerziehenden und die Armut der
Menschen, die fleißig arbeiten und trotzdem keinen anständigen Lohn erhalten.
({7})
Wir wollen in einer wohlhabenden Gesellschaft leben,
aber wir wollen auch endlich, dass diejenigen, die diesen
Wohlstand erarbeiten, fair und gerecht daran teilhaben
und die Lasten wieder fairer verteilt werden.
({8})
- Ich kann ja verstehen, dass es Sie aufregt, dass es eine
CDU-Politikerin ist, die das aufgeschrieben hat. Aber
das ändert doch nichts daran, dass sie sich mit der Wirklichkeit beschäftigt. Sie können die Wirklichkeit nicht
einfach ignorieren, auch dann nicht, wenn sie Ihnen
nicht gefällt.
Bei der ganzen Debatte geht es darum, Deutschland
wieder in ein soziales Gleichgewicht zu bringen. Es geht
nicht um Reichenverfolgung oder irgendwelche Ideologien, sondern es geht darum, dass wir etwas, das wir
schon einmal hatten, wiederherstellen.
({9})
- Wenn hier jemand beim Thema Ideologie zurückhaltend sein sollte, dann nun wirklich Sie.
({10})
- Herr Kauder, ich weiß, das ärgert Sie,
({11})
aber ich trage nur vor, was Ihr eigenes Regierungsmitglied aufgeschrieben hat.
({12})
Der Armutsbericht deckt schonungslos auf: Jenseits
einer kleinen Oberschicht mit rasant steigenden Einkommen und Vermögen hat die große Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der Steigerung des
Wohlstands keinen Anteil. Das ist nicht nur sozial ungerecht, sondern es gefährdet auch die Grundlage, auf der
Deutschland einmal stark und wirtschaftlich erfolgreich
geworden ist. Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern ist nicht die Geschichte der sozialen Auseinanderentwicklung. Sie wussten, dass das Land und sie selber
nur eine Chance haben, wenn man sich im Land gemeinsam entwickelt und nicht auseinander. Wir wollen
darüber reden, wie wir das wiederherstellen. Wir haben
das in Deutschland schon einmal geschafft. Darum geht
es.
({13})
50 Prozent der neuen Beschäftigungsverhältnisse sind
befristet. 5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten
für 8 Euro die Stunde und weniger. 12 Millionen Menschen in Deutschland leben an oder unter der Armutsgrenze. Das Armutsrisiko liegt bei 15 Prozent. Das sind
keine Erfindungen der SPD, der Grünen oder der Linkspartei, sondern das sind die Daten und Fakten aus dem
Bericht Ihrer eigenen Regierung.
({14})
- Er sagt: Nein! Nein! Nein! Das sei nur Frau von der
Leyen.
Ich finde, das ist eine spannende Debatte. Erst kommt
Herr Rösler, Ihr Vizekanzler, und sagt: Der ganze
Bericht ist Unsinn, wir werden ihn jetzt einmal ressortabstimmen und dann verändern. Frau Merkel sagte - ich
zitiere -:
… jetzt wird dieser Bericht … abgestimmt in der
Bundesregierung. Da ist noch nicht mal die erste
Runde gelaufen. Und dann werden wir das im November im Kabinett beraten. Und ich bin ganz optimistisch, dass wir dann auch einen gemeinsamen
Standpunkt finden.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Wirklichkeit
lässt sich nicht ressortabstimmen, und sie lässt sich auch
nicht fälschen.
({15})
Es geht auch nicht darum, dass CDU, CSU und FDP zu
einem gemeinsamen Standpunkt kommen, sondern es
geht darum, dass Sie einmal merken, was in Deutschland
los ist, und dass wir gemeinsam hier im Haus versuchen
müssen, das zu verändern.
({16})
Über Steuerpolitik allein schafft man noch keine bessere Gesellschaft, aber sie soll die Instrumente schaffen,
die es ermöglichen, dass die Lasten fair verteilt werden.
Auch da zeigt der Armuts- und Reichtumsbericht ein
Bild der Wirklichkeit: Die vermögensstärksten 10 Prozent vereinigen mehr als die Hälfte des Nettovermögens
auf sich, die unteren 50 Prozent gerade einmal 1 Prozent.
So geht das weiter. Das DIW - es ist ja nicht gerade eine
linkssozialistische Einrichtung ({17})
hat unlängst dargestellt, dass genau deswegen die Mittelschicht schrumpft und zwischen den Polen zerrieben
wird. Das ist doch nicht ideologisch.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich
haben Sozialdemokraten und Grüne in ihrer Regierungspolitik beim Thema Steuerentwicklung auch Fehler gemacht; das ist doch gar keine Frage.
({18})
Frau Kramp-Karrenbauer - sie ist übrigens eine CDUMinisterpräsidentin - hat recht, wenn sie sagt, ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent, wie ihn Gerhard Schröder
eingeführt hat, sei zu niedrig. Die Frage ist nur, warum
Sie diese Fehler fortsetzen wollen. Ein Spitzensteuersatz
bei der Einkommensteuer in Höhe von 53 Prozent ab
einem Einkommen von 50 000 Euro gehörte übrigens
einmal zu Ihrer eigenen Steuerpolitik. Das fordern in der
SPD nicht einmal mehr die Jusos, meine Damen und
Herren.
({19})
Von daher: Ich glaube, es geht wirklich darum, zu merken, dass sich die Wirklichkeit verändert hat und dass
wir die Lastenverteilung in Deutschland nicht mehr so
unfair belassen dürfen.
Ihre Ministerin ist so mutig, im Reichtums- und Armutsbericht zu schreiben, wie man das machen muss.
Ich zitiere:
Die Bundesregierung prüft, ob und wie über
- Herr von Stetten, hören Sie genau zu die Progression in der Einkommensteuer hinaus
privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung
öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.
Zitat Ende. Unterschrift: Frau von der Leyen.
({20})
Genau darum geht es.
({21})
Wir dürfen nicht nur über den Anteil der Einkommensteuer reden, sondern wir müssen auch über den Beitrag
von hohen Vermögen, Erbschaften und Kapital sprechen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde schon
den Begriff „Reichensteuer“ schlecht.
({22})
Hier geht es auch nicht um Sozialneid.
({23})
Wenn Leute wohlhabend und reich geworden sind,
steckt dahinter bei den allermeisten unglaublich viel persönliche Leistung und ganz viel Anstrengung. Aber niemand wird alleine reich. Immer gehören Arbeitnehmer
dazu. Ein Land muss sozial sicher sein, über Infrastruktur verfügen, gute Bildungschancen bieten, und es muss
sozialer Friede herrschen. Das alles und persönliche
Leistung führen zu Wohlstand und Reichtum. Wenn das
Land, das mitgeholfen hat, einige Menschen sehr reich
und wohlhabend werden zu lassen, Schulden abbauen
und trotzdem in Bildung investieren muss, aber auch
seine Städte und Gemeinden nicht verkommen lassen
darf, dann ist es doch die Aufgabe derjenigen, die auch
mithilfe dieses Landes wohlhabend geworden sind,
etwas mehr mitzuhelfen als die, denen es nicht so gut
geht. Das hat nichts mit Sozialneid zu tun. Das ist Patriotismus für unser Land, den wir einfordern - nichts anderes, meine Damen und Herren.
({24})
Ich verstehe nicht, warum Sie es sich beim Thema
Vermögensteuer so schwer machen. Das ist doch keine
Erfindung von Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht.
Sie ist die erste Steuer, die in der Verfassung der Bundesrepublik benannt wird. Sie ist übrigens eine reine Ländersteuer; schließlich brauchen die Länder das Geld, um
Ganztagsschulen zu bauen. Darum geht es bei der Vermögensteuer.
({25})
Die CDU feiert ja gerade gerne Jubiläen. Es ist übrigens nicht nur Helmut Kohl, der ein Jubiläum hat. Ich
habe einmal nachgeschaut, wann das erste Mal in
Deutschland eine Vermögensteuer erhoben wurde und
wer es gemacht hat. Das war vor exakt 60 Jahren. Im
Jahre 1952 haben der damalige Bundespräsident Heuss,
FDP, Herr Bundeskanzler Adenauer, CDU - auf ihn berufen Sie sich doch gerne -, und der Bundesfinanzminister Schäffer, CSU, das Gesetz über die VermögensteuerVeranlagung unterschrieben, und sofort danach ist es in
Deutschland erstmalig in Kraft getreten. Es gab also Zeiten, in denen CDU, CSU und FDP nicht so ideologisch
dahergequatscht haben wie ihr letzter Redner, sondern in
denen sie wussten, was Verantwortung für dieses Land
bedeutet. Ich hoffe, dass das bei Ihnen wieder ein bisschen zunimmt.
({26})
Weil die FDP und insbesondere Herr Brüderle so
gerne Ludwig Erhard, den Begründer der sozialen
Marktwirtschaft, zitieren - obwohl er ja der CDU angehörte -, sage ich Ihnen Folgendes: Er hat am Gesetz über
die Vermögensteuer-Veranlagung mitgewirkt. Ich frage
mich, was er wohl heute sagen würde, wenn er erleben
müsste, wie Sie soziale Marktwirtschaft definieren, und
wenn er feststellen müsste, dass Sie nicht einmal bereit
und in der Lage sind, den entfesselten Finanzmärkten
Fesseln anzulegen, damit die soziale Marktwirtschaft
nicht immer mehr zerstört wird. Sie haben nichts mit
dem Erbe Ihrer Parteien gemein.
({27})
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass es in
unserem Land eine Schieflage gibt. Wir wollen Schulden
abbauen, in Bildung investieren, unsere Städte und Gemeinden und unsere Heimat nicht verkommen lassen,
Investitionen in Forschung, Entwicklung und Wachstum
tätigen und die enormen Herausforderungen des demografischen Wandels bewältigen.
Das alles versprechen alle Parteien fast jeden Tag
unseren Bürgerinnen und Bürgern. In der Summe dieser
Versprechungen unterscheiden wir uns praktisch überhaupt nicht. Worauf es aber ankommt, ist, auch zu sagen,
wie wir das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern ständig versprechen, eigentlich bezahlen wollen. Die Leute
haben doch die Nase voll davon, dass wir ihnen immer
sagen: Keine Sorge, wir senken Schulden, wir senken
Steuern, und wir geben mehr für Bildung und alles mögliche andere aus. Die Quadratur des Kreises glaubt uns
doch kein Mensch mehr.
({28})
- Wenn Sie den Mut haben, zu sagen, was Sie davon alles nicht machen wollen, dann kommen wir in der
Debatte ins Geschäft. Es wäre spannend, zu hören, was
Sie nicht tun wollen.
Wir sagen Ihnen: Wir wissen, wie wir eine faire
Finanzierung all dieser Aufgaben hinbekommen wollen,
nämlich durch den Abbau überflüssiger Steuersubventionen - damit haben wir übrigens einmal gemeinsam
angefangen; warum setzen wir das eigentlich nicht
gemeinsam fort? -, durch die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Einkommen von
100 000 Euro pro Person und auch durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die den Ländern bis zu
10 Milliarden Euro mehr für Ganztagsschulen, für
Kindergärten und für Hochschulen verschaffen würde.
({29})
- Bei der Vermögensteuer geht es um 1 Prozent,
genauso, wie wir das in der Vergangenheit debattiert
haben, aber eben in der Art und Weise, dass die Betriebsvermögen herausgenommen werden.
({30})
- Sie haben doch noch nicht einmal den Gesetzentwurf
der Grünen gelesen; denn sonst wüssten Sie die Antwort
darauf: Die Abgabe darf nicht mehr als 35 Prozent des
Jahresertrages des Betriebs betragen. Das ist doch deren
vernünftiger Vorschlag - verbunden mit riesigen Freibeträgen!
({31})
Wir sollten uns einmal darauf verständigen, über die
Details zu reden. Ich habe gar kein Problem damit, zu
sagen, dass ich manchen von Ihnen bestimmt recht geben würde. Sie wollen aber die soziale Spaltung des
Landes weiter vergrößern. Sie ignorieren die Wirklichkeit, wollen den Bericht darüber fälschen und der Öffentlichkeit sagen, man müsste hier nichts tun.
({32})
Das ist doch das, was Sie hier machen!
({33})
Ich sage Ihnen: Wir sagen, wie wir das bezahlen wollen. Sie haben keine Antwort darauf, sondern wollen die
Wirklichkeit ignorieren. Das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({34})
Vielen Dank, Kollege Gabriel. - Nächster Redner in
unserer Aussprache ist unser Kollege Dr. Volker Wissing
für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Dr. Volker
Wissing.
({0})
Ich danke Ihnen. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Gabriel, ich finde es bedauerlich, dass Sie hier ein solches Zerrbild von unserer
Gesellschaft gezeichnet haben.
({0})
Jemand, der sich hinstellt und sagt, er könnte die Republik besser regieren, während er die Realität dabei aber
völlig ausblendet,
({1})
kann nicht wirklich besonders ernst genommen werden,
lieber Herr Gabriel.
({2})
Sie haben aber auch etwas Kluges gesagt. Sie haben
nämlich gesagt, dass die Sozialdemokraten Fehler gemacht haben. Das ist in der Tat richtig. Sie haben gravierende Fehler gemacht, und Sie machen auch heute noch
gravierende Fehler. Ich will Ihnen zunächst einmal die
Fehler der Vergangenheit vorhalten:
Bevor Sie zuletzt Regierungsverantwortung übernommen haben, haben Sie der Öffentlichkeit erklärt,
dass Sie Reiche höher besteuern wollen. Durch die Einführung der Reichensteuer haben Sie von Vermögenden
ein paar Hundert Millionen Euro mehr abkassiert. Aus
der Mitte der Bevölkerung haben Sie aber 25 Milliarden
Euro durch eine Mehrwertsteuererhöhung herausgezogen. Die Binnennachfrage und der kleine Mann wurden
geschwächt, die Empfänger unterer Einkommen und die
Mitte wurden höher belastet. Das war die Realität Ihrer
Politik. Deswegen glaubt Ihnen in Deutschland niemand
mehr, dass es Ihnen um das Geld der Reichen geht. Sie
schielen längst wieder auf die Mitte, auf die Empfänger
unterer und mittlerer Einkommen, weil man da Kasse
machen kann. Darum geht es Ihnen.
({3})
Sie wollen Ihre überzogene Ausgabenpolitik auf Kosten der Mitte in Deutschland finanzieren. Das ist genau
die falsche Politik, um aus dieser Krise herauszukommen, weil diese Politik wachstumsfeindlich ist.
({4})
Ich bin nicht der Einzige in Deutschland, der das so
sieht. Sie tun ja so, als würden Sie mit Ihren Erklärungen
zur Gerechtigkeit die geballte Linke in Deutschland hier
vertreten.
Herr Gabriel, der Spiegel hat sich in dieser Woche
unter dem Titel „Jagd auf Reiche“ mit den Vorschlägen
der SPD auseinandergesetzt.
({5})
Er kommt hinsichtlich der Vermögensteuer, wie die SPD
sie vorschlägt, zu dem Ergebnis - ich zitiere:
Vor allem … belastet sie
- die Vermögensteuer der SPD gerade jene Bevölkerungsgruppe, deren Besitz
weniger aus Yachten, Wertpapieren oder Gemälden
besteht, sondern vor allem aus Maschinen und Fabriken.
Selbstständige mit mindestens zehn Beschäftigten
verfügen über das höchste Durchschnittsvermögen
aller Bundesbürger.
So schreibt der Spiegel. - Das ist genau die Bevölkerungsgruppe, die die meisten Arbeitsplätze in Deutschland schafft. Genau da wollen Sie als Arbeitnehmerpartei Hand anlegen. Das ist doch absurd. Was Sie
vorschlagen, würde dazu führen, alles ein bisschen
schlechter zu machen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schwächen, das Wachstum in unserem
Land zu schwächen und den Bundeshaushalt zu destabilisieren. Deswegen ist das keine zukunftsgerichtete Politik. Damit können Sie in Deutschland nichts verbessern.
({6})
Es ist doch keinem geholfen, wenn es allen ein bisschen
schlechter geht.
Dann stellen Sie sich - deswegen haben Sie ein Zerrbild gezeichnet - vor die Öffentlichkeit und sagen, wir
hätten ein Problem damit, dass es in Deutschland eine
Gruppe von Menschen gibt, denen es gut geht. - Was ist
denn das für ein Problem, dass es Menschen gut geht? Ist
es nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man in
Deutschland im Wohlstand leben kann? Das Problem
sind nicht die Menschen, denen es gut geht. Das Problem
sind Menschen, denen es noch nicht gut geht. Zu denen
haben Sie, Herr Gabriel, in Ihrer Rede äußerst wenig gesagt.
({7})
Es ist niemandem geholfen, wenn man Arbeitgebern
die Substanz wegbesteuert. Es ist niemandem geholfen,
wenn Sie Investitionen in Deutschland verhindern. Geholfen ist den Menschen, wenn man unseren Standort als
Investitionsstandort stärkt.
Was die Grünen vorschlagen, 15 Prozent des Vermögens an den Staat abzuführen, ist nicht nur absurd, sondern das ist - das sollten Sie eigentlich wissen, Herr
Trittin - verfassungswidrig.
({8})
- Nein, schauen Sie einmal: Ihr Gesetzentwurf ist deswegen verfassungswidrig, weil Sie der Öffentlichkeit etwas verschwiegen haben. Sie haben nämlich der Öffentlichkeit verschwiegen, dass der Staat in Deutschland
Eigentum zu schützen hat.
({9})
- Wenn Sie zuhören, Frau Roth, werden Sie heute Morgen noch etwas lernen.
({10})
Es ist nämlich so, dass man in Deutschland, wenn
man in das Eigentum von Bürgerinnen und Bürgern
eingreift, die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs
rechtfertigen muss, Herr Trittin. Wir leben immer noch
in einem Rechtsstaat mit einem Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland. Das gilt auch für die
Grünen.
({11})
Wenn Sie in einer Zeit, in der der Staat Steuereinnahmen in Rekordhöhe hat, die Öffentlichkeit glauben
machen, dass wir ein Finanzierungsproblem haben, dann
ist das schlicht gelogen. Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit für den Eingriff in das Privateigentum der
Bürgerinnen und Bürger.
({12})
Wir haben die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte. Der Staat schafft es, den Haushalt auszugleichen. Wir werden bald einen ausgeglichenen Haushalt
haben. Ihnen geht es darum, Menschen in Deutschland
zu enteignen, weil Sie eine Neidgesellschaft wollen.
({13})
Sie glauben, wenn es allen gleich schlecht geht, dann
wäre das Gerechtigkeit. Wir sagen: Wir müssen den
Schwachen helfen und sie stärken, aber wir dürfen nicht
mit Neid auf die blicken, denen es schon gut geht.
({14})
Sie sind in der Rechtfertigungspflicht. Sie sagen, der
Staat bräuchte das Privateigentum der Bürgerinnen und
Bürger. Wir beweisen Ihnen das Gegenteil, indem wir
den Bundeshaushalt schrittweise ausgleichen. Wir werden die Regeln der Schuldenbremse vorzeitig einhalten
können.
Sie sollten als Partei, die sich gerne als Bürgerrechtspartei geriert, Rechtsstaat und Verfassung ernst nehmen.
Was sich die Menschen an zu versteuerndem Vermögen
und Einkommen aufgebaut haben, gehört ihnen. Es gehört nicht den Grünen für neue Ausgabenprogramme.
({15})
Was machen Sie denn in den Ländern? In BadenWürttemberg machen Sie neue Schulden. In RheinlandPfalz bauen Sie mit der SPD Vergnügungsparks und
Freizeitparks. Dabei haben Sie 500 Millionen Euro versenkt. Das ist sozialdemokratische und grüne Politik.
({16})
Sie verschwenden Steuergelder und reden dann den
Menschen ein, man müsste ihnen jetzt das Privateigentum wegnehmen. Absurd ist das!
({17})
Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin privat investiert wird. Wir glauben nicht, dass Sie mit dem Geld
besser umgehen können als private Investoren und private Unternehmerinnen und Unternehmer. Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen mit Ihren Ausgabenprogrammen und einem privaten Investor ist folgender:
Sie übernehmen keine Verantwortung, keine Haftung für
Ihre Politik. Die Privatleute haften mit ihrem Privateigentum und fügen jedem Euro, den sie privat investieren, Verantwortung und Haftung hinzu. Das schafft
Arbeitsplätze. Das schafft Wachstum. Das ist die richtige
Politik für die Bundesrepublik Deutschland.
({18})
Wir werden im nächsten Jahr mit einem soliden Bundeshaushalt dastehen.
({19})
Die Bundesrepublik Deutschland hat unter dieser Koalition die höchste Beschäftigung seit Jahrzehnten. Wir
haben die höchsten Steuereinnahmen seit Jahrzehnten.
Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir werden dafür sorgen,
dass linke Kräfte in diesem Land Sie nicht kalt enteignen.
Wenn Sie wirklich etwas für die Schließung einer Gerechtigkeitslücke tun wollten, dann könnten Sie dem Abbau der kalten Progression für untere und mittlere Einkommen zustimmen. Aber weil es Ihnen genau darum
geht, bei den unteren und mittleren Einkommen abzukassieren, und weil Sie auf das Geld der kleinen Leute
schielen, lehnen Sie das im Bundesrat ab. Sie sind entlarvt durch Ihre frühere Politik und Ihre arbeitnehmerfeindliche Politik im Bundesrat.
({20})
Unter Schwarz-Gelb findet in Deutschland Gerechtigkeit statt. Sie wollen ein ungerechtes Land schaffen.
({21})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wissing. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön, Kollege
Dr. Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Wissing, so viel ideologischen Irrsinn und juristischen
Blödsinn wie das, was Sie hier verzapft haben, habe ich
selten gehört - wirklich.
({0})
Es haut mich richtig um. Ich werde versuchen, im Einzelnen darauf einzugehen.
Es geht um eine Vermögensabgabe und eine Vermögensteuer, und Sie machen sich Sorgen um die Reichen.
Das ist überhaupt nicht auszuhalten. Wie sieht denn die
Situation in Europa aus? Sie sagen: Mit der Steuergerechtigkeit ist doch alles geklärt.
Nehmen wir nur die EU: Die Unternehmensteuern
sind um 9 Prozent gesunken und liegen jetzt bei
23,3 Prozent. Die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer sind EU-weit im Schnitt um 7,3 Prozent gesunken. Die Reichen- und Vermögensteuern liegen EU-weit
bei 2,1 Prozent, übrigens in Großbritannien bei 4,2 Prozent, in Frankreich bei 3,4 Prozent und in Deutschland
nur bei 0,9 Prozent. Das ist die Realität. Selbst in den
USA liegen diese Steuern bei 3,3 Prozent.
Nein, Sie haben die Finanzmärkte völlig dereguliert,
und es ist eine gigantische Umverteilung von unten nach
oben organisiert worden.
({1})
Das ist die Hauptursache für die Banken- und Finanzkrise und damit auch für die hohen Staatsschulden. Das
ist die Wahrheit.
({2})
Nein, Sie retten keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber jede Bank und jeden Hedgefonds retten
Sie, und dafür zahlen Sie das ganze Geld. Das ist unverantwortlich, was hier geschieht. Damit wahren Sie übrigens auch den Reichtum.
({3})
Interessant ist auch, wo das viele Geld hinwandert.
Das wird nämlich nicht mehr in die Wirtschaft investiert,
sondern es fließt überwiegend in sogenannte Kapitalvernichtungssammelstellen: in Banken, Vermögensfonds,
Hedgefonds und Private Equity Fonds. Ich kann nicht zu
allem Stellung nehmen, aber da fließt das Geld hin.
Schauen wir uns einmal die Größenordnung an. Die
Vermögenswerte von Privatanlegern liegen jetzt bei
100 Billionen Euro weltweit. Die Wirtschaftsleistungen
aller Staaten betragen die Hälfte davon. Das ist die Situation, mit der wir es zu tun haben. Nichts wollen Sie
daran ändern. Das illusorische Ziel, aus Geld Geld zu
machen, nicht dafür zu arbeiten, sondern mit Spekulationen Geld zu machen, führt zu diesen Krisen. Nichts ändern Sie daran. Das ist das Problem.
({4})
Wir haben in Deutschland einen Armuts- und Reichtumsbericht. Herr Gabriel hat recht: Sie können doch
nicht im Kompromisswege die Wahrheit verschieben.
Das geht nicht.
({5})
- Lieber Herr Kauder, zu Ihnen komme ich noch. - Er
sagt die Wahrheit, und deshalb ist es auch öffentlich geworden.
Seit 20 Jahren erleben wir eine Verdoppelung des
Nettovermögens aller Haushalte in Deutschland: von
5 Billionen auf 10 Billionen Euro. Nur, das Problem ist:
0,6 Prozent der Haushalte besitzen 20 Prozent davon,
das heißt 2 Billionen Euro. Die 19-Jährige, die das erbt,
kann nicht so fleißig gewesen sein, wie Sie es hier schildern, ohne dass da etwas passiert.
({6})
Jetzt nehme ich zur Zahl der Euro-Millionäre in
Deutschland Stellung. Wir hatten vor der Krise 799 000,
jetzt sind es 830 000. Auf Dollar bezogen haben wir
922 000 Dollar-Millionäre. Und da, meinen Sie, darf
man nicht einen einzigen zusätzlichen Euro kassieren?
Was ist das für eine alberne Ideologie, die Sie hier vertreten!
({7})
10 Prozent der Bevölkerung besitzen 50 Prozent des
Vermögens. Das sind 5 Billionen Euro. Die untere Hälfte
der Bevölkerung, auch wieder 50 Prozent, hat nur 1 Prozent des Vermögens. Das ist die Realität in Deutschland.
Übrigens hatte die untere Hälfte früher wenigstens
4,5 Prozent des Vermögens. Jetzt ist es nur noch 1 Prozent.
({8})
So sieht die Schere aus, die sich ständig weiter öffnet.
({9})
Die Reallohnsenkung lag bei 4,5 Prozent. Die unteren
10 Prozent, also die, die am wenigsten verdienen, hatten
sogar einen Reallohnverlust von 9 Prozent.
Darf ich Ihnen eine Wahrheit zum Niedriglohnsektor
verraten? In den 80er-Jahren war Deutschland mit einem
Anteil des Niedriglohnsektors von 14 Prozent Schlusslicht im internationalen Vergleich. Heute sind wir mit
25 Prozent zusammen mit den USA Spitzenreiter beim
Anteil des Niedriglohnsektors.
({10})
Das ist ein Skandal, mit dem Sie sich einmal auseinandersetzen müssen.
({11})
Jetzt hat Frau von der Leyen ihren ganzen Mut zusammengenommen, und dann kommt in ihrem Bericht
ein Satz vor, der besagt, dass man doch prüfen müsse,
welche Rolle das Vermögen finanzpolitisch für die Finanzierung der Staatsaufgaben spielen kann. Da dreht
die FDP durch. Davon wollen Sie keinen Euro haben.
Mein Gott! Schon eine Prüfung wollen Sie nicht hinnehmen.
({12})
Das ist doch wohl das Mindeste, was man machen darf,
wenn man regiert.
Aber abgesehen davon - Sie haben es selbstkritisch
gesagt, Herr Gabriel, und es stimmt -: Unter Rot-Grün
hat eine Steuerreform stattgefunden, die natürlich ganz
entscheidend zu dem Desaster beigetragen hat.
({13})
Die Unternehmensteuern sind von 51,6 Prozent auf
29,8 Prozent nominal gesenkt worden; effektiv - das,
was wirklich gezahlt wird - sind es nur 22 Prozent. Der
Spitzensteuersatz ist von 53 Prozent - unter Kohl übrigens - auf 42 Prozent gesenkt und dann bei Merkel und
Steinmeier für die ganz hohen Einkommen noch einmal
auf 45 Prozent erhöht worden.
Was ist denn in Ihrer Regierungszeit erhöht worden,
Herr Lindner? Gar nichts. Nichts haben Sie erhöht. Ganz
im Gegenteil: Die Einnahmeausfälle seit 2001 betragen
schon 380 Milliarden Euro. Das ist eine Steuerungerechtigkeit, die als Umverteilung von unten nach oben wirkt.
Herr von Stetten, Sie sagen hier, dass Sie gegen eine
Umverteilung sind - Sie organisieren permanent eine
Umverteilung von unten nach oben!
({14})
Machen Sie doch einmal eine von oben nach unten! Dafür wird es höchste Zeit in unserer Gesellschaft.
Ich bin es auch leid, dass diejenigen, die die Krise
verursacht haben und an der Krise verdienen,
({15})
nicht mit einem einzigen zusätzlichen Euro herangezogen werden, sondern Leute, die nichts damit zu tun haben, das Ganze bezahlen müssen. Genau das ist nicht gerechtfertigt.
({16})
Im Übrigen, Herr Wissing, Sie sagen: Das ist Enteignung. Und: Das Grundgesetz schützt das Eigentum. Das ist ein solcher Blödsinn. Denn dann dürften Sie
überhaupt keine Steuern erheben.
({17})
Da greifen Sie immer in Eigentum ein. Außerdem, Herr
Wissing, steht in Art. 14 des Grundgesetzes, Eigentum
soll zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Was glauben
Sie, wie schwer es einem Milliardär fällt, seine Milliarde
immer so einzusetzen, dass es dem Allgemeinwohl
dient. Da können wir ihm doch solidarisch helfen, nehmen ihm was weg und führen es dem Allgemeinwohl zu.
({18})
Wir fordern eine Vermögensabgabe, die gegebenenfalls auch in Raten bezahlt werden kann, und zwar nach
dem Vorbild des Lastenausgleichgesetzes von 1952, 23368
({19})
auf private Vermögen von über 1 Million Euro. Für Betriebsvermögen gelten selbstverständlich Ausnahmen,
um die Liquidität nicht zu gefährden. Das ist eine einmalige Abgabe.
Jetzt komme ich zur Wiedererhebung der Vermögensteuer. Diesbezüglich haben Sie auch Blödsinn über unseren Antrag erzählt.
({20})
- Hören Sie zu, Herr Wissing. Es soll eine Steuer von
5 Prozent auf das erhoben werden, was man über
1 Million Euro hinaus besitzt - außer Betriebsvermögen.
({21})
Deshalb sind auch die Gewerbegrundstücke, die an Mieterinnen und Mieter vermietet werden, nicht dabei. Operieren Sie also nicht mit den Mieterinnen und Mietern.
Ihr Herz gehörte denen noch nie - aber unser Herz! Deshalb haben wir sie selbstverständlich ausgenommen und
geschont.
({22})
Erklären Sie mir einmal Folgendes: Wenn jemand
1 Million Euro im Jahr verdient, dann muss er darauf
über 40 Prozent Steuern bezahlen. Wenn er sein Geld irgendwo anlegt und noch einmal 1 Million Euro Zinsen
bekommt, dann muss er nur 25 Prozent Steuern bezahlen. Dafür waren Sie immer. Warum kann man das nicht
gleich behandeln und sagen: „Zinseinnahmen sind wie
Einkommen“?
({23})
Das wäre eine ganz einfache Logik. Aber die FDP sagt:
Um Gottes willen, wir müssen alle Zinsen schützen bloß nicht die der Bevölkerung.
({24})
Dann kommt immer der Einwand der Steuerflucht.
Das bin ich leid. Es gibt zwei Möglichkeiten, Steuerflucht zu verhindern.
({25})
- Da sieht man einmal, wie begrenzt Ihre Fantasie ist.
Ich kann nichts dafür, dass Sie Anhänger der Mauer
sind. Ich bin kein Anhänger der Mauer.
({26})
Es gibt zwei Wege, Steuerflucht zu verhindern. Der
erste Weg ist: Wir binden die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft. Dann kann ein Deutscher etwa in Liechtenstein oder auf den Seychellen wohnen - wo auch
immer -, muss aber hier angeben, was er verdient, welches Vermögen er hat und was er dafür an Steuern zu bezahlen hat. Wenn er bei uns mehr zu bezahlen hätte, dann
bekommt er hinsichtlich der Differenz einen Steuerbescheid. Es gibt ein Land, das das so macht: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die machen damit gute Erfahrungen. Und Sie drücken sich davor.
Der zweite Weg, Steuerflucht zu verhindern, wäre,
Banken, die uns Transaktionen dieser Art nicht mitteilen, die Lizenz in Deutschland zu entziehen. Was glauben Sie, wie das funktioniert?
({27})
Es gibt also Wege. Man muss es nur wollen. Sie wollen
es nicht. Das ist das Problem.
Nehmen wir Griechenland als Beispiel. Die Rentner
dort müssen jetzt die Medikamente selbst bezahlen, obwohl sie krankenversichert sind und ihre Beiträge zahlen. Frauen, die in Griechenland entbinden, müssen die
Entbindung selbst bezahlen. Sonst bekommen sie keine
ärztliche Hilfe und müssen nach Hause gehen. Eine Lehrerin in Griechenland hat ein Anfangsgehalt von
575 Euro. 2 000 Familien in Griechenland gehören
80 Prozent des Vermögens. Dann stellen Sie sich hierhin
und sagen: Diese 2 000 Familien sollen nichts bezahlen.
Alle anderen sollen das tragen. - Das ist unerträglich.
({28})
Wir haben in Europa 3,1 Millionen Dollar-Millionäre.
Diese haben schon 10,2 Billionen Dollar als Vermögen.
Solche Menschen gibt es auch in Griechenland, Italien,
Spanien und Portugal. Ich sage Ihnen: Auch diese müssen herangezogen werden.
({29})
- Sie sollten sich einmal mit diesen Menschen unterhalten, weil Sie ja Millionäre lieben.
In Hamburg hat sich ein Verein von Millionären gegründet. Dessen Mitglieder möchten endlich eine Vermögensabgabe und Vermögensteuern zahlen.
({30})
Wissen Sie, warum diese klüger sind als Sie? Weil die es
begriffen haben. Erstens werden sie ein bisschen patriotisch sein, und vielleicht wollen sie auch ein bisschen
mehr soziale Gerechtigkeit. Zweitens wissen sie: Wer in
der Not nicht abgibt, gefährdet sich selbst. - Die sind
klüger als Sie. Jetzt müssen Sie eine Vermögensabgabe
und auch eine Vermögensteuer einführen, wenn Sie den
Bestand der Bundesrepublik Deutschland nicht gefährden wollen. Das ist das Entscheidende.
({31})
Nun komme ich zum Schluss. Herr Kauder, Sie sind
doch Christ; deshalb versuche ich es jetzt mit der Bibel.
Sie müssen einmal mit den Millionären reden. Passen
Sie auf! Apostel Paulus hat seinem Weggefährten
Timotheus einen guten Rat gegeben. Ich zitiere Ihnen
das wörtlich:
Den Reichen musst du unbedingt einschärfen, dass
sie sich nichts auf ihren irdischen Besitz einbilden
oder ihre Hoffnung auf etwas so Unsicheres wie
den Reichtum setzen. … Sage ihnen, dass sie Gutes
tun sollen und gern von ihrem Reichtum abgeben,
um anderen zu helfen. So werden sie wirklich reich
sein und sich ein gutes Fundament für die Zukunft
schaffen, um das wahre und ewige Leben zu gewinnen.
Das ist aus dem 1. Brief an Timotheus.
({32})
Jetzt zitiere ich Ihnen noch Matthäus 19,24 und Lukas
18,25:
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass
ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.
({33})
- Einen Moment! - Sie müssen den Reichen doch eine
Chance eröffnen, in das Reich Gottes zu kommen. Das
geht nur über eine Vermögensabgabe und eine Vermögensteuer. Glauben Sie es mir!
({34})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Volker Kauder.
({0})
Herr Kollege Gysi, ich glaube, es ist zwingend notwendig, eine richtige Bibelauslegung - ich würde mich
auch bereiterklären, das zu machen - vorzunehmen und
Ihre Auslegung zu korrigieren.
({0})
Im Gegensatz zu dem, was Sie zitiert haben, steht in
Timotheus nicht, dass die Menschen Steuern zahlen sollen, sondern, dass sie etwas Gutes tun sollen. Genau das
ist der Unterschied zu dem, was Sie formulieren. Sie
wollen, dass der Staat die Menschen zur Kasse bittet.
Damit provozieren Sie nur Ungerechtigkeiten. Es ist unanständig, wie Sie die Heilige Schrift im Deutschen
Bundestag eingesetzt haben.
({1})
Aus der Heiligen Schrift ergibt sich kein politisches Programm. Deswegen rate ich dringend dazu, hier etwas
mehr Zurückhaltung zu üben.
Da ich das Wort habe, will ich noch einen Hinweis
geben. Ja, es ist völlig richtig, dass wir uns alle Gedanken machen müssen, wie wir den Menschen, die jeden
Tag zur Arbeit gehen, mehr von ihrem Lohn lassen können. Deswegen wundere ich mich sehr, dass die linke
Seite dieses Hauses im Bundesrat einen Abbau der kalten Progression nach wie vor verhindert.
({2})
Das ist das glatte Gegenteil von dem, was Sie hier sagen.
Sie können in der nächsten Sitzung des Vermittlungsausschusses dafür sorgen, dass die Menschen mehr von ihrem Lohn haben, als Sie ihnen jetzt lassen.
({3})
Das Wort erhält der Kollege Dr. Gysi.
Ich will zunächst auf Ihre letzte Bemerkung antworten.
Seit Jahren fordern wir, dass der Steuerbauch, unter dem
die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die Meister, übrigens auch Ärzte und andere, zu leiden haben, beseitigt
wird. Das geht aber nur, wenn wir den Spitzensteuersatz
erhöhen, und genau dagegen wehren Sie sich.
({0})
Wenn wir das nicht machen, kommt es zu einem reinen
Verlust. Es wird höchste Zeit, den Steuerbauch abzuschaffen. Darin stimmen wir überein; denn auch ich
finde, dass diese Personen zu viel Einkommensteuer bezahlen müssen. Aber die müssen nur deshalb so viel zahlen, weil wir oben so viel nachgelassen haben. Genau
das ist nicht erträglich.
({1})
Nur noch eine Bemerkung, Herr Kauder. Die Bibel zu
zitieren, ist jedem erlaubt, auch mir. Ich finde, ich interpretiere sie besser als Sie. Es tut mir leid.
({2})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erhält
unser Kollege Sigmar Gabriel.
Ich will zunächst meiner Genugtuung Ausdruck verleihen, dass auch Gregor Gysi inzwischen bei der Bibel
angekommen ist. Ich halte das für einen großen Fortschritt.
Zum Kollegen Kauder, weil er uns wegen der kalten
Progression angegriffen hat. Herr Kollege Kauder, als
Sie das erste Mal öffentlich darüber debattiert haben,
habe ich Ihnen das Angebot gemacht, sofort über die
Abschaffung der kalten Progression zu verhandeln,
wenn wir im Gegenzug den Spitzensteuersatz erhöhen;
denn zwischen diesen beiden Dingen besteht ein Zusammenhang. Sie müssen erklären, wie Sie trotzdem Schulden abbauen und in Bildung investieren wollen. Sie haben darauf nie reagiert. Es gab Einzelne aus Ihrer
Fraktion, die gesagt haben, darüber könne man reden.
Sie persönlich haben das Angebot nie aufgegriffen. Wir
würden uns freuen, wenn man mit Ihnen ernsthaft über
die Erhöhung des Spitzensteuersatzes reden könnte.
Dann würden wir auch relativ schnell einig bei der von
Ihnen beabsichtigten, Gott sei Dank geringen Einkommensteuersenkung.
Ich will noch eine Bemerkung zu der Behauptung machen, mit der Senkung der Einkommensteuer könne man
unheimlich viel für normale Beschäftigte tun. 40 Prozent
der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer
mehr, weil wir, anders als Herr Gysi gesagt hat, gemeinsam - wenn ich mich richtig erinnere, auch gemeinsam
mit Ihnen - hier im Haus dafür gesorgt haben, dass der
Eingangssteuersatz deutlich gesenkt wurde. 40 Prozent
der deutschen Haushalte zahlen keine Einkommensteuer,
und das ist gut so. Aber das bedeutet auch, dass Ihr Versprechen, durch eine drastische Senkung der Einkommensteuer könne man den mittleren und unteren Einkommensbeziehern helfen, eine glatte Unwahrheit ist;
denn wer keine Steuern zahlt, dem kann man auch keine
senken.
({0})
Deswegen noch einmal ausdrücklich mein Angebot,
Herr Kauder: Wir sind sofort im Gespräch, wenn Sie in
der Lage sind, mit uns darüber zu sprechen, die Abschaffung der kalten Progression mit einer deutlichen Anhebung des Spitzensteuersatzes ab einem Einkommen von
100 000 Euro pro Person zu verbinden. Alles andere ist
eine Milchmädchenrechnung, mit der Sie der Öffentlichkeit vormachen wollen, dass man Steuersenkungen,
Mehrausgaben und Schuldenreduzierung gleichzeitig erreichen könne. Das kann man nur, wenn man die Hoffnung hat, das nie realisieren zu müssen.
({1})
Vielen Dank, Kollege Sigmar Gabriel. - Wir fahren in
der Reihenfolge unserer Redner fort. Als nächster hat für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Hans
Michelbach das Wort. Bitte schön, Kollege Hans
Michelbach.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion hat ein zielführendes Konzept zur Krisenbekämpfung und zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und seiner Arbeitsplätze.
Wir sind die Koalition der sozialen Marktwirtschaft. Wir
sind für die Sicherung des Eigentums unserer Bürger.
Wir sind für eine leistungsfähige Gemeinschaft mit allen
Bürgern, und wir wollen Arbeit und Wohlstand für alle
in diesem Land.
({0})
Wir können zweifellos die größeren Erfolge vorweisen. Wir haben weniger Arbeitslosigkeit und eine höhere
Beschäftigung, wir konsolidieren den Haushalt und haben Wachstumsimpulse durch mehr Kaufkraft und die
höhere Beschäftigung. Wir haben auch höhere Einnahmen, wie die Steuerschätzung beweist. Wir haben gegenwärtig die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten. Es
gibt überhaupt keinen Grund, eine neue Steuer- und Belastungsorgie, wie sie Rot-Grün hier vorschlägt, vorzunehmen.
Wir wollen nicht immer mehr Staat, weil wir glauben:
Das erwirtschaftete Geld gehört zuerst den Menschen
und den Betrieben. Sie können mit den Erträgen am
meisten anfangen. Durch ihr Handeln entsteht ein Mehrwert daraus. Darauf kommt es in einer Volkswirtschaft
an.
({1})
Nur mit Wachstum können wir unsere Vorbildfunktion
in Europa erhalten. Vorrang hat jetzt die Bekämpfung
der Staatsschuldenkrise. Diese Krise überwinden wir
nicht durch eine Flutung der Haushalte, durch höhere
Steuern. Wir müssen deutlich machen: Der richtige Weg
kann nur sein, auf der einen Seite Haushaltskonsolidierung zu betreiben, die Schuldenbremse einzuhalten und
auf der anderen Seite die Staatsfinanzierung zukunftsfest
zu machen. Das süße Gift der Steuererhöhungen lässt
diese Bemühungen bekanntlich immer wieder erlahmen.
Es ist ganz vernünftig, wenn man mit dem haushalten
muss, was einem die Bürger zur Verfügung stellen.
({2})
Ich weiß, meine Damen und Herren, mit Sparen hat
sich Rot-Grün schon immer sehr schwergetan. Das, was
im Antrag steht, ist keine Alternative zum Schuldenabbau. Wir haben darauf hinzuwirken, dass die Menschen
heute den Unterschied der Positionen erkennen. Sie sollen sehen, dass der vorliegende Antrag einer Oppositionsfraktion ein ideologischer Gegenentwurf ist. Sie
wollen mehr oder minder Staatssozialismus, nach dem
Motto „der Staat als Raupe Nimmersatt“. Das kommt
hier zum Ausdruck. Wir dagegen wollen, dass das erwirtschaftete Geld zunächst einmal in die Privatwirtschaft hineinfließt und damit letzten Endes für das Gemeinwohl arbeitet, den Arbeitsplätzen dient. Daher darf
ich die Betriebe, die Menschen nicht überfordern, sonDr. h. c. Hans Michelbach
dern ich muss die Marktkräfte wirken lassen. Dann hat
jeder etwas davon, und wir haben Wohlstand und Arbeit
für alle - das ist unser Grundprinzip.
({3})
Ich weiß, dass gegen uns die „Verteilungskeule“ geschwungen wird. Wir sehen bei der Opposition einen
Neidkomplex. Man möchte mit populistischen Themen
Wahlkampf bestreiten. Ich kann nur deutlich machen:
Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler bestreiten
5 Prozent, die oberen 50 Prozent bestreiten 95 Prozent
des Einkommensteueraufkommens. Es ist nicht richtig,
dass der Einkommensteueranteil geringer wird. Herr
Gabriel, wenn Sie die Steuerschätzung anschauen, dann
sehen Sie, dass im Moment gerade die Einkommensteuer explodiert und so viele Einnahmen für den Staat
wie noch nie generiert werden.
({4})
Das, was Volker Kauder gesagt hat, ist einfach sinnvoll: Hören Sie mit der Blockade des Abbaus der heimlichen Steuererhöhung, der kalten Progression, auf! Das
dient den Menschen.
({5})
Herr Gabriel, Sie wollen sogar noch eine Hebelung
vornehmen - das verstehe ich überhaupt nicht -: Sie
wollen den normalen Bürgern und Steuerzahlern keine
Entlastung gönnen, sofern nicht auch die Oberen belastet
werden. Das muss man sich erst einmal vor Augen führen: Sie nehmen die Masse der Steuerzahler in eine Art
Steuerzahlergruppenhaft. Ja, wo sind wir denn? Wir
müssen die Masse entlasten. Den Menschen in Deutschland insgesamt und nicht einigen wenigen muss es gut
gehen. Das ist die Situation.
({6})
Sie erwecken immer wieder den Eindruck, dass die
Leistungswilligen, die Leistungsfähigen in unserem
Land keine Steuern zahlen. Das Gegenteil ist der Fall.
Sie wollen immer wieder nur Politik über Transfer machen. Wir haben in Deutschland eine hohe Sozialleistungsquote. Darauf dürfen wir stolz sein. Das Geld für
den Transfer muss zunächst einmal erwirtschaftet werden. Wenn man Geld ausgibt, muss es zunächst einmal
eingenommen werden. So ist das in einer Volkswirtschaft. Was Sie machen, dazu passen die Stichworte:
Perpetuum mobile, Schneeballsystem, volkswirtschaftliche Voodoo-Politik. Das führt nicht zum Ziel. Deswegen
ist es ganz wichtig, dass wir hier dank eines klaren Konzeptes, wie wir es in dieser Koalition vertreten, eindeutige volkswirtschaftliche Erfolge feiern können.
Die Vermögensteuer ist so, wie Sie sie anlegen, betriebs- und arbeitsplatzfeindlich. Die Vermögensteuer
für Betriebsvermögen vernichtet eben Arbeitsplätze,
({7})
weil letzten Endes mit dem Geld, das an den Staat abgegeben wird, keine neuen Maschinen gekauft, keine neue
Halle gebaut und keine Investitionen bestritten werden
können. Das ist eben der falsche Ansatz, wenn Sie die
Leute überfordern. Wir brauchen die Wertschöpfung für
die Arbeitsplätze, für die Wettbewerbsfähigkeit des
Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Die Personengesellschaften lassen sich nun einmal
natürlich nicht zwischen einem Produktiv- und einem
Verwaltungsvermögen aufteilen, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen. So, wie Sie das Verwaltungsvermögen
darstellen, gibt es das in der Abgrenzung bei einer Personengesellschaft überhaupt nicht. Deswegen ist das ein
völlig falscher Ansatz. Ich muss Ihnen sagen: Es ist ernüchternd, dass Sie letzten Endes die Grundsätze einer
Steuerpolitik in Deutschland gar nicht erkennen.
({8})
Mit einem solchen Antrag zeigen Sie, dass Sie von der
Steuerpolitik und dem Steuerrecht in Deutschland null
Ahnung haben.
({9})
Ich darf Ihnen nur sagen: Die Verwaltungskosten lassen Sie in diesem Antrag, in dem Sie die Vermögensteuer erheben wollen, völlig außen vor. Schon 1997 hat
das Bundesverfassungsgericht gesagt: Das ist letzten Endes kein Ertrag für den Staat. Vielmehr machen die Verwaltungskosten zwei Drittel der Einnahmen aus. - Wenn
Sie daher eine solche Bürokratie entfachen wollen, dann
ist das absolut kontraproduktiv.
({10})
Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ganz klar, wir müssen für die Menschen arbeiten und nicht gegen die Menschen. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt letzten Endes mit dieser Koalition in der sozialen Marktwirtschaft
auf dem richtigen Weg weiter vorankommen. Das ist der
Erfolgsweg, den wir beschreiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Lothar
Binding. Bitte schön, Kollege Lothar Binding.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Wissing
Lothar Binding ({0})
hat mich motiviert, erst einmal etwas zu Baden-Württemberg zu sagen. Er hat irgendwie gesagt, die Rot-Grünen machten im Land eine schlechte Haushaltspolitik.
Ich will nur einmal sagen, dass ich einen kleinen Streit
mit Nils Schmid hatte, dem dortigen Finanzminister. Er
hat einen Kassensturz gemacht und dramatische Dinge
festgestellt.
({1})
Das wurde dann vergessen und von ihm, höflich und sanft
wie er ist, nicht weiter thematisiert. Ich hatte gesagt: Er
soll ein Bad Budget machen, er soll den Mappus-Deal auf
Kosten der Staatskasse explizit ausweisen und die
2,5 Milliarden Euro als strukturelles Defizit - da geht es
nicht um eine einfache Verschuldung - aufschreiben, damit die Bürger merken, was Schwarz-Gelb dort angerichtet hat. Insofern hat, wenn man es ein bisschen ändert,
Hans Michelbach recht: Mit Sparen tut sich SchwarzGelb schwer.
({2})
Herr Gysi hat gesagt, was er immer vorbringt, und
über Steuersätze gesprochen. Ich will das hier so erklären, wie ich es manchmal in Schulklassen mache. Dort
frage ich: Hat jemand einen Garten? Manche sagen
dann: Ja, meine Eltern haben einen Garten. Dann frage
ich: Wie groß ist der? Dann sagen die Schüler meistens:
So etwa 40 Quadratmeter. Dann frage ich: Warum haben
Sie Quadratmeter gesagt, warum haben Sie nicht nur gesagt, 4 Meter? Dann sagen sie: Ich habe da doch eine
Fläche. Darauf sage ich: Ja, der Gysi spricht auch immer
nur vom Spitzensteuersatz. Er muss aber den Spitzensteuersatz quasi als Länge mal Bemessungsgrundlage als
Breite anschauen. Wenn man beide zusammennimmt,
sieht die rot-grüne Steuerpolitik, die von 1998 bis 2005
gemacht wurde, ganz anders aus, nämlich sehr gut, weil
sie uns auf ein Niveau brachte, das Deutschland in Europa sehr gut dastehen lässt. Das ist ein Erfolg.
({3})
Vielleicht nur als Nebenbemerkung zu dem Stichwort
„kalte Progression“. Heute haben ja Leute der Koalition
uns das erklärt. Ich habe einen Brief vom Bundesfinanzministerium, in dem es heißt: Die kalte Progression hatte
bisher gar keine Wirkung, weil entsprechende Anpassungen immer vorgenommen worden sind. Jeder - das
hat unser Parteivorsitzender Sigmar Gabriel schon erklärt -, der sich damit befasst, weiß, dass Ihr Vorschlag
starken Schultern hilft, den Reichen mehr gibt und die
Armen nicht entlastet und die ganz Armen nicht entlasten kann, weil sie nichts bezahlen.
({4})
Aber in einem hat Herr Wissing recht. Herr Wissing
hat von Zerrbildern gesprochen. Interessanterweise hat
er auch die Mehrwertsteuer angesprochen. Es ist schon
richtig: Mithilfe der FDP wurde die Mehrwertsteuer
auch in dieser Legislaturperiode angepasst, um alle Fehler, die zuvor gemacht wurden, zu korrigieren. An welche Steuer ich denke, das kann sich jetzt jeder vorstellen.
Ich sage auch nichts zu Hotels. Insofern ist es klar, und
jeder weiß, was gemeint ist.
Er hat aber tatsächlich Recht mit dem Begriff „Zerrbild“. Wir haben nämlich ein Zerrbild zwischen Arm
und Reich. Der Reichtumsbericht sagt uns sehr genau,
wie sich private Vermögen entwickeln, wie sie steigen,
wie sie konzentriert werden, und ebenso, wie sich Einkommen entwickeln. Wir sehen, dass die Schere immer
weiter auseinandergeht.
Das Gute ist, dass wir uns sogar freuen, wenn Leute
reicher werden. Das ist in Ordnung; denn viele von den
Reichen sind sich wirklich ihrer Verantwortung bewusst.
Viele wollen sich sogar stärker beteiligen und machen
das auch. Viele haben auch ein Gerechtigkeitsgefühl.
Aber - Joachim Poß hat das einmal in einer Rede
gesagt - wenn die Konzentration des Vermögens explosionsartig zunimmt - das sind Wachstumsfunktionen, die
im Zeitverlauf extrem ansteigen -, dann merkt man, dass
man etwas tun muss; denn man mag sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn diese Entwicklung weiter voranschreitet. Man fragt sich, wie lange eine Gesellschaft
das aushält.
Schauen wir uns in der Welt um: Natürlich gibt es Gesellschaften, in denen mancher noch viel, viel reicher ist
als mancher Deutscher und viele sehr viel ärmer sind.
Die Frage ist aber: Wie lange würde das unsere Gesellschaft aushalten? Außerdem merkt derjenige, der die
Wirtschaftsentwicklung dieser Länder mit der unseren
vergleicht, dass ein gewisser Ausgleich zwischen Arm
und Reich für eine prosperierende Wirtschaft sehr klug
ist, alles andere aber wirtschaftsfeindlich und wachstumsgefährdend.
({5})
Diese Auseinanderentwicklung zwischen Arm und
Reich ist aber ein strukturelles Problem; es geht auf viele
gesellschaftliche Voraussetzungen zurück. Hier komme
ich auf die Idee von den Grünen zu sprechen, die wir
sehr gut finden. Die Idee, eine Vermögensabgabe zu
wollen, um Gerechtigkeitslücken zu schließen, um auch
ganz Reiche stärker zu beteiligen, hat den Nachteil
- auch wenn die Zahlung gestreckt wird -, dass sie eine
Einmalabgabe ist, die auf strukturelle Probleme nicht adäquat reagiert. Wir bevorzugen eine strukturelle Lösung
und arbeiten auch an ihr, und das ist eben eine jährlich
wiederkehrende Vermögensabgabe, die auf diese strukturellen Verwerfungen konstruktiv reagiert. Deshalb
glauben wir, dass wir, ausgehend von einer Überlegung
der Grünen, weiterentwickelt zu einer Vermögensteuer,
da sehr gut gemeinsame Ideen entwickeln können, um
diese Verwerfungen zu überwinden.
Wir haben aber nicht nur ein Problem zwischen Arm
und Reich im Privaten, im Individuellen, sondern wir haben auch ein Problem zwischen Arm und Reich im Verhältnis zwischen Öffentlichen und Privaten. Wer da genauer hinschaut, der merkt, dass wir seit vielen Jahren
eine exorbitante Zunahme privaten Reichtums haben
- einige haben die Zahl genannt: 10 Billionen Euro -,
({6})
Lothar Binding ({7})
aber auch eine exorbitant zunehmende öffentliche Armut, die letztendlich alle bezahlen müssen, im Notfall
über Zinsen, aber noch viel schlimmer durch Verwerfungen an den Finanzmärkten, die dann interessanterweise
ja nicht diejenigen bezahlen, die die Risiken eingehen,
sondern die, die Steuern zahlen. Das ist auch ein Transferkanal von Arm nach Reich, wobei die Armen die Reichen noch dabei unterstützen, dass sie ihre hohen Risiken eingehen können. Auch hier sind die Verhältnisse
aus dem Ruder gelaufen, und ich glaube, dass das auch
deutlich macht, warum Herr Wissing recht hat, wenn er
sagt: Es gibt hier große Verwerfungen und große Probleme, aber man muss es halt anpacken.
Bezogen auf unser Steuersystem, beobachten wir,
dass man permanent zwischen privatem und Betriebsvermögen hin- und herschieben kann und dass Bezieher
hoher Einkommen diese Möglichkeiten auch nutzen. Sie
schieben ihr Einkommen mal in ein unternehmerisches
Vermögen, in das Betriebsvermögen; dann wieder wird
es privat verwaltet, mal international, mal in Deutschland. All diese Verschiebebahnhöfe führen dazu, dass die
Schere, von der ich sprach, immer weiter auseinandergeht. Deshalb glauben wir, dass das Steuersystem, das
wir haben, ideal durch eine Vermögensteuer ergänzt
wird, bei der genau darauf geachtet wird, den Kanal
dichtzumachen, wenn jemand nur von dieser Verschiebung lebt und so sein Vermögen vergrößert. Das ist sicherlich eine sehr gute Angelegenheit.
Herr Michelbach, Sie haben gesagt, wir würden damit
Unternehmen ruinieren oder so. Wenn Sie die Angabe
zur Größenordnung sehen, dann merken Sie, dass das
gar nicht sein kann.
({8})
Außerdem: Sowohl bei den Grünen als auch bei unseren
Überlegungen wird die Steuer nach oben plafondiert.
Außerdem schonen wir Betriebsvermögen - das ist ja
das Besondere -,
({9})
weil wir eine Steuer machen, die Arbeitsplätze sichert.
Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es ist eine Ländersteuer, die dann natürlich hilft, in den Ländern Bildung und Familienförderung zu unterstützen und dort all
das zu tun, was es dort zu tun gibt.
({10})
Insofern ist auch der Satz von Herrn Wissing, Arbeitgebern würde die Substanz wegbesteuert, natürlich
falsch. Wer sich jetzt noch einmal ausrechnet - das kann
ich aus Zeitgründen nicht mehr machen -, wie viel Prozent 10 Milliarden von 10 Billionen Euro sind, der muss
erkennen, wie hoch die jetzt angedachte tatsächliche Belastung für die wirklich großen Vermögen ist. Er wird
dann feststellen, wie klein die Belastung ist. Eigentlich
könntet ihr euch das auch überlegen; denn es gibt auch
in der Regierungskoalition Leute, die an Gerechtigkeit
denken und an die öffentlichen Aufgaben, die wir erfüllen müssen. Deshalb wäre es schön, wenn auch ihr euch
zu einer Vermögensteuer durchringen würdet.
({11})
Vielen Dank, Kollege Lothar Binding. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Daniel Volk. Bitte schön, Kollege Dr. Volk.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der heutigen Debatte haben
wir gesehen, dass zumindest die Opposition den Wahlkampf eröffnet hat, und zwar einen Wahlkampf, der sehr
stark durch unsachliche Beiträge geprägt sein wird,
({0})
der sehr stark auf Sozialneid und eine Spaltung der Gesellschaft hinauslaufen wird. Da sind mehr oder weniger
kompetente Finanzpolitiker, die hier Äußerungen treffen, zum Beispiel Jürgen Trittin von den Grünen, der
von den reichen Bürgern und dem armen Staat gesprochen hat, allerdings leider Gottes verschwiegen hat, dass
in den Bundesländern, in denen die Grünen regieren, der
Staat noch viel, viel ärmer ist als in anderen Bundesländern, in denen eine vernünftige Haushalts-, Wirtschaftsund Steuerpolitik betrieben wird.
({1})
Sigmar Gabriel als Vorsitzender der SPD malt das
Bild an die Wand, dass, wenn die Steuerbelastung der
Bürger erhöht würde, mehr Schulen und mehr Kindergärten usw. usf. gebaut würden, verschweigt leider Gottes aber, dass im Bundesland Baden-Württemberg nach
der Übernahme durch eine grün-rote Landesregierung
Lehrerstellen abgebaut werden - und das zuzeiten, in denen Steuern in einer solchen Höhe in die Staatskasse
fließen wie noch nie.
({2})
Gregor Gysi von der Linkspartei stellt zwei Zahlen
gegenüber: die Anzahl der Millionäre vor der Krise und
die Anzahl der Millionäre nach der Krise. Für ihn ist es
dann selbstverständlich, dass die zusätzlichen Millionäre
nur deswegen Millionäre werden konnten, weil sie sozusagen an der Krise verdient hätten.
({3})
Möglicherweise ist das eher der erfreuliche Beweis dafür, dass während der Krise eine Regierung in Deutschland die Verantwortung übernommen hat, die mit einer
vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik dafür gesorgt hat, dass die einzelnen Bürger ihr Vermögen, ihren
privaten Anteil steigern konnten. Das ist ein gutes Zeichen für die Bürger dieses Landes.
({4})
Wir brauchen keine sozialspalterische Debatte, wie sie
hier von der Opposition angezettelt wurde.
({5})
Herr Kollege Dr. Volk, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?
Ja, sehr gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Schick.
Herr Kollege, Sie haben auf die Bundesländer und
den Wechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün hingewiesen.
({0})
- Grün-Rot. Danke, dass Sie das präzisieren.
Ich möchte zwei Fragen an Sie stellen. Die erste
Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Neuverschuldung in
Baden-Württemberg unter der grün-roten Landesregierung geringer ist als die Zinsausgaben, dass also, wenn
die schwarz-gelbe Landesregierung unter Herrn Mappus
keinen Schuldenberg zurückgelassen hätte, wir heute ein
Plus im Haushalt hätten, sodass die Neuverschuldung allein auf das schwarz-gelbe Konto geht?
({1})
Die zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass BadenWürttemberg beim Zahlenverhältnis „Schüler zu Lehrer“ durch die Politik der grün-roten Landesregierung
eine Spitzenposition einnimmt und dass es nicht, wie Sie
sagen, andersherum ist?
({2})
Zum Zweiten. Dass die neue Landesregierung innerhalb eines Jahres dieses Verhältnis so entscheidend geändert hat, halte ich für absolut unwahrscheinlich.
({0})
Ich glaube, das sind eher die Vorteile, von denen die
neue Landesregierung zehren kann aufgrund der hervorragenden Regierungstätigkeit der schwarz-gelben Regierung in Baden-Württemberg.
({1})
Wissen Sie, Herr Kollege: Es ist immer sehr erstaunlich, mit welcher Kreativität die Staatsverschuldungspolitiker, die eher im linken Bereich dieses Hauses anzutreffen sind, Argumente aufbringen, warum man jetzt in
weitaus mehr Staatsverschuldung hineingehen kann.
Was mir in diesem Zusammenhang auffällt: Wenn
bürgerliche Regierungen die Regierungsverantwortung
übernehmen,
({2})
geht die Staatsverschuldung immer herunter, unabhängig
davon, welcher haushaltspolitische Kurs vorher gefahren
wurde.
({3})
Sie sehen es in meiner Heimat, in Bayern. Bayern ist
das einzige Bundesland in Deutschland, das nicht nur die
Neuverschuldung herunterfährt, sondern sogar Schulden zurückzahlt.
({4})
Sie sehen es an der christlich-liberalen Bundesregierung,
({5})
die von einem Finanzminister der SPD, Peer Steinbrück,
eine Neuverschuldungsplanung von 80 Milliarden Euro
übernommen hat, jetzt aber auf dem Weg ist zu einem
ausgeglichenen Haushalt 2013, 2014.
({6})
Der Beweis in der Praxis ist erbracht. Das sollte Ihnen
zu denken geben. Das gilt vor allem angesichts Ihrer
ewigen Forderung nach stärkerer Belastung der Bürger,
und zwar mit dem wirklich immer sehr wohlklingenden
Argument, dass das, von dem Sie erwarten, dass es zusätzlich eingenommen würde - hier werden Sie wahrscheinlich stark enttäuscht werden -, eins zu eins in den
Schuldenabbau fließen würde.
Ein Gegenbeispiel dazu.
Ich gehe davon aus, dass Sie diese Frage beantwortet
haben. Es gibt nämlich noch eine weitere Frage.
Ich möchte gerne zur Beantwortung der Frage weiter
ausführen. - Ein Gegenbeispiel ist die Anhebung der
Umsatzsteuer von 16 auf 19 Prozent im Jahr 2007. Damals wurde gesagt: Wir müssen die Steuer anheben, weil
wir dadurch die Staatsverschuldung zurückfahren. - Ein
Bruchteil dieser Einnahmen ist in das Zurückfahren der
Staatsverschuldung geflossen. Der Rest ist in allgemeine
Haushaltsausgaben geflossen. Insofern kann ich den einzelnen Bürger nur davor warnen, zu glauben, dass eine
höhere steuerliche Belastung des Bürgers automatisch
zum Abbau der Staatsverschuldung führt. Das Gegenteil
ist in der Vergangenheit bewiesen worden.
({0})
Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen
Andreas Scheuer?
({0})
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Volk, da wir gerade beim Thema BadenWürttemberg sind,
({0})
nutze ich die Gelegenheit, um auf die neue Politik dort
hinzuweisen. Würden Sie auch mit Besorgnis bestätigen ({1})
die Antwort könnte mit Ja oder Nein abgehandelt werden -, dass, seitdem Grün-Rot in Baden-Württemberg
regiert, die laufenden Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur so erhebliche Kostensteigerungen erfahren, dass
der Bund zurzeit keine neuen Maßnahmen mehr in Angriff nehmen kann,
({2})
weil im Koalitionsvertrag von Grün-Rot steht, dass erst
die laufenden Maßnahmen abgearbeitet werden, was als
wirtschaftspolitische Ausrichtung für die Bauindustrie in
Baden-Württemberg ein fatales Signal bedeutet?
({3})
Herr Kollege Scheuerle, ich bestätige diese Ansicht
mit größter Besorgnis.
({0})
Scheuer. Andreas Scheuer.
Ich kann nur noch ergänzen, dass die größte Gefahr
für ein Land wie Baden-Württemberg, das über Jahrzehnte hervorragend regiert wurde,
({0})
darin besteht, dass es in der Zukunft erheblich von der
Substanz leben wird. Was das Leben von der Substanz
für ein Land bedeutet, kann man auch in anderen Regionen der Republik beobachten.
({1})
In den nächsten Jahren wird es Baden-Württemberg insofern wahrscheinlich nicht besonders gut gehen. Wir
werden jedoch sehen, ob sich die Landesregierung möglicherweise eines Besseren besinnen wird.
Herr Kollege, es gibt eine weitere Zwischenfrage.
({0})
Herr Präsident, ich würde jetzt gerne meine Ausführungen fortsetzen.
({0})
- Herr Gysi wollte eine Zwischenfrage stellen? Herrn
Gysi lasse ich natürlich zu.
Sehen Sie: Hier wird also differenziert; nicht jeder
darf. Bitte schön, Kollege Dr. Gysi.
Herr Kollege, ich habe eine Frage. Sie haben gesagt,
dass es das Verdienst der klugen Politik der Bundesregierung ist, dass selbst in der Krise die Zahl der Vermögensmillionäre in Deutschland zugenommen hat.
({0})
Ist es dann auch ein Verdienst der klugen Politik der
Bundesregierung, dass in derselben Zeit der Vermögensanteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung von
4,5 Prozent auf 1 Prozent zurückgegangen ist?
({1})
Nein. Wissen Sie, was das ganz große Verdienst dieser christlich-liberalen Regierung in der Krise ist? Dass
es uns gelungen ist, die Arbeitslosenzahlen noch einmal
deutlich zu senken, dass es uns gelungen ist, gerade die
unteren Lohngruppen und die Familien mit einer Steuerentlastung zum 1. Januar 2010 zu unterstützen!
({0})
Das ist das Verdienst dieser christlich-liberalen Koalition.
Ich weiß, dass Sie gerne mit Statistiken arbeiten. Aber
gehen Sie einmal hinaus und fragen Sie die Leute! Fragen Sie den kleinen Arbeitnehmer, wie froh er über diese
Regierungspolitik ist,
({1})
wie froh er ist, dass er keine Angst um seinen Arbeitsplatz haben muss, dass er bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen entlastet wurde! Das ist das Verdienst
dieser christlich-liberalen Koalition.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
hier einen weiteren Aspekt anführen. Ich habe mich sehr
über den bereits zitierten Artikel aus dem Spiegel dieser
Woche gefreut, in dem, wie ich finde, sehr kenntnisreich
dargelegt wird, wo denn auf der einen Seite überhaupt
das Missverständnis derjenigen liegt, die glauben, über
eine Vermögensteuer oder eine Vermögensabgabe deutlich mehr Einnahmen des Staates erzielen zu können,
und wo auf der anderen Seite die großen Schwierigkeiten einer solchen Vermögensteuerbelastung liegen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie hier in Ihren
Redebeiträgen immer das Bild an die Wand malen: Na
ja, wir reden doch nur über die oberen 0,5 Prozent oder
1 Prozent der Bevölkerung mit einem Vermögen von
1 Million oder von 2 Millionen Euro - es kommt auf die
Höhe des Grundfreibetrages an -, die durch eine entsprechende Steuererhebung belastet werden würden. - Ja,
glaubt denn irgendjemand von Ihnen, dass es für diejenigen, die ein Vermögen von weniger als 1 Million Euro
haben, also unterhalb der Freibeträge liegen, ausreicht,
einfach ein Schreiben an das Finanzamt zu schicken:
„Liebes Finanzamt, vielen Dank, aber ich kann Ihnen
versichern, dass mein Vermögen niedriger ist als das,
was zu versteuern ist“? Das wird nicht passieren. Wenn
man eine Vermögensteuer einführt, gibt es in Deutschland 82 Millionen potenziell Steuerpflichtige, die jeweils
ihre Vermögenssituation darlegen müssen, mit dem entsprechenden Veranlagungsverfahren, mit dem Bewertungsverfahren. Sie nehmen hier einen Bürokratieaufbau
vor und belasten die Bürger mit Bürokratie, obwohl Sie
- das folgt aus Ihrer eigenen Argumentation - vielleicht
nur 0,5 Prozent der Bevölkerung treffen wollen. Ich
glaube, das ist auch vor diesem Hintergrund nicht besonders sinnvoll.
({3})
Ich glaube, dass man in der Zeit der höchsten Steuereinnahmen dieses Staates eher darauf achten sollte, sich
mit den Steuermitteln, die in dieser Zeit zur Verfügung
stehen, auf die Aufgaben zu konzentrieren, die für dieses
Land und seine Bürger wirklich wichtig sind.
({4})
Sie sollten in Baden-Württemberg eben nicht Lehrerstellen abbauen und im Gegenzug andere Beamtenstellen
aufbauen. Sie sollten in Nordrhein-Westfalen eben nicht
verpassen, ausreichend Kinderbetreuungsstätten zu errichten. Sie sollten sich mit dem Geld, das dem Staat
momentan aufgrund einer hervorragenden Finanz-,
Steuer- und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung
zur Verfügung steht, auf die wesentlichen Punkte konzentrieren: Bildung, steuerliche Entlastung des Mittelstandes, damit sich Arbeit auch wieder lohnt, Schaffung
von Arbeitsplätzen.
({5})
Das sind die Herausforderungen für dieses Land. Bitte
kommen Sie uns nicht weiter mit der Chimäre einer Vermögensabgabe oder Vermögensteuer!
({6})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Lisa Paus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Volk,
Sie sagen, wir sollten Schulden zurückzahlen. Ich sage:
Warum tun Sie es dann nicht?
({0})
Warum bringen Sie in diesem Jahr wiederum einen
Haushalt in den Bundestag ein, der eine Nettoneuverschuldung vorsieht?
({1})
Herr Scheuer - Sie sind Staatssekretär im Verkehrsministerium und haben eben eine Zwischenfrage
gestellt -, allein das Verkehrsministerium muss in diesem Jahr Mehrausgaben in Höhe von 320 Millionen
Euro gewärtigen, weil der Bund an dem Desaster „Flughafen BER“ in Berlin beteiligt ist. Sie sehen Mehrausgaben vor und bauen eben nicht die Verschuldung ab.
({2})
Wir reden seit über einer Stunde über dieses Thema,
und ich muss feststellen: Bisher hat es noch keiner von
Ihrer Seite gewagt, sich mit unserem Gesetzentwurf konkret auseinanderzusetzen.
({3})
Offenbar ist er so gut, dass Sie sich gar nicht trauen, sich
mit der Sache zu beschäftigen.
({4})
- Doch, habe ich; auch Sie haben zu unserem Gesetzentwurf nichts Konkretes gesagt.
({5})
Ich werde Ihnen unseren Gesetzentwurf erklären. Wir
legen ihn heute vor, um Schulden tatsächlich abzubauen.
Wir wollen eine einmalige Vermögensabgabe, weil wir
der Überzeugung sind: Dieses Land braucht endlich eine
Antwort auf die Frage: Wer zahlt die Kosten der Krise?
({6})
Wir werben seit 2009 dafür. Die Vermögensabgabe ist
das richtige Instrument. Wir freuen uns, dass wir inzwischen nicht mehr alleine sind, sondern dass quer durch
die Lager alle - von Attac bis zu Paul Kirchhof, von der
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Boston Consulting bis
hin zur IG Metall - unseren Vorschlag unterstützen, und
das ist gut so.
({7})
Es ist einfach richtig, dass der Staat, der in der Krise
in Vorleistung gegangen ist, der mit Rettungsschirmen
und Konjunkturpaketen die privaten Vermögen vor Entwertung geschützt hat, das Geld von denjenigen einfordert, die davon am stärksten profitiert haben und die deswegen auch einen höheren Beitrag zum Abbau der
Verschuldung leisten können.
({8})
Ein Herr Ackermann oder ein Herr Winterkorn von VW
mit einem Jahresgehalt von 17 Millionen Euro leben
nicht auf einem anderen Planeten, sie leben auf dieser
Welt, sie haben einen Wohnsitz in diesem Land, und dieser Staat hat unter anderem auch ihr Vermögen gerettet
und sich dafür verschuldet.
({9})
Mit unserem Gesetz wollen wir die Kosten der Krise von
bisher geschätzten mindestens 100 Milliarden Euro finanzieren und die daraus entstandenen Schulden tilgen,
also Schulden abbauen.
Die grüne Vermögensabgabe belastet nicht die Armen
und auch nicht den Mittelstand, sondern ganze 330 000
Privatpersonen in Deutschland, das heißt - auch wenn
Sie noch so sehr daran herumdeuteln wollen -: 99 Prozent der Menschen in diesem Lande sind nicht betroffen.
({10})
Die wenigen, die unter die Abgabepflicht fallen, haben
zehn Jahre Zeit, die Abgabe zu zahlen, jährlich 1,5 Prozent. Wir sagen: Das ist nun wirklich leistbar.
({11})
- Sie müssen aber nicht zahlen, Herr Volk, das wissen
Sie.
({12})
Unser Gesetzentwurf sieht außerdem großzügige Verschonungsregelungen für Betriebsvermögen vor. So
muss zum Beispiel ein Einzelunternehmer einen jährlichen Gewinn von über 500 000 Euro haben, um in den
Kreis der Abgabepflichtigen aufgenommen zu werden.
Auch das finden wir hinnehmbar.
Durch die grüne Vermögensabgabe wird auch niemand aus diesem Land vertrieben - auch wenn die
Kanzlerin etwas anderes behauptet -; denn es zählt der
Stichtag 1. Januar 2012. Es gibt also keinen Grund, wegzuziehen; denn auch dadurch kann sich niemand der Abgabe nachträglich entziehen. Es ist vielmehr ein Grund,
in diesem Land zu bleiben; denn durch die Schuldentilgung bekommen wir wieder einen handlungsfähigen
Staat, der in die Energiewende, in Bildung und in Gerechtigkeit investieren kann.
({13})
Ich komme zum Schluss. Es bleibt noch Ihr Schreckgespenst der Substanzbesteuerung. Das trifft unseren
Gesetzentwurf nicht - wenn Sie ihn lesen, werden Sie es
feststellen; Sie wissen es eigentlich -; denn durch unsere
zusätzliche 35-Prozent-Regelung, die Verschonungsregelung, ist die Substanzbesteuerung von Betriebsvermögen zu 100 Prozent vollständig ausgeschlossen.
({14})
Deswegen können Sie das Gespenst in den Schrank stecken.
({15})
Nehmen Sie die Ergebnisse Ihres Armuts- und Reichtumsberichtes endlich ernst. Unser Gesetz ist mit einfacher Mehrheit in diesem Hause zu beschließen. Schließen Sie sich unserem Gesetzesvorschlag an! Wenn Sie es
nicht tun, dann wird es die Bundestagswahl im nächsten
Jahr regeln.
({16})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Frank Steffel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gabriel, Sie
haben das dialektisch geschickt gemacht, wie ich fand.
Sie haben manche Zusammenhänge hergestellt, die man
so, glaube ich, nicht herstellen sollte. Aber natürlich
enthielt Ihre Rede vieles, über das wir in diesem Land in
der Tat nachdenken müssen und auch nachdenken sollten. Auch für uns geht es - ich sage das in aller Deutlichkeit - um eine permanente Überprüfung von Steuerpolitik und Sozialpolitik sowie um eine kontinuierliche
Weiterentwicklung unseres weltweit einmaligen Erfolgsmodells „soziale Marktwirtschaft“. Das ist die Kernfrage.
Da müssen wir uns natürlich mit der Frage beschäftigen, wie viel Freiheit wir brauchen, weil das die eine
Seite der Medaille, die eine Seite des Erfolgsmodells
von Ludwig Erhard ist. Die Freiheit des Individuums
fängt bei denen an, die sich die Freiheit herausnehmen,
nie zu arbeiten, die wir trotzdem nicht verhungern lassen, die trotzdem eine medizinische Versorgung erhalten, die trotzdem ein Dach über dem Kopf haben. Es
geht um die Freiheit von Menschen, mit ihrem Eigentum
das zu tun, was sie wollen, in Deutschland oder anderswo.
({0})
- Frau Roth, natürlich geht es auch darum, dass Eigentum verpflichtet. Meine Damen und Herren, über diesen
Satz muss in diesem Hause doch niemand ernsthaft streiten.
({1})
Das ist doch selbstverständlich.
Wir ringen also um die Frage, wie wir diese soziale
Marktwirtschaft weiterentwickeln. Für uns als CDU/
CSU ist es eine Selbstverständlichkeit, dass starke
Schultern deutlich mehr tragen als schwache Schultern.
Wer will das angesichts der Fakten in Deutschland denn
infrage stellen? Ich will das sehr deutlich sagen: Eine Familie, zwei Erwachsene und zwei Kinder, zahlt in diesem Land bis zu einem Jahreseinkommen von knapp
40 000 Euro nicht einen Cent Lohn- und Einkommensteuer. Weniger als null geht nun mal nicht.
({2})
10 Prozent der Steuerzahler erbringen 55 Prozent des
Lohn- und Einkommensteueraufkommens. 56 Prozent
des Bundeshaushalts, der von dieser christlich-liberalen
Koalition verantwortet wird, wird für Soziales aufgewendet. Das ist doch der Versuch, die Balance zu wahren. Wir brauchen starke Schultern. Wir müssen diese
Menschen, diese Unternehmen motivieren, in Deutschland zu bleiben und zu investieren. Kapital ist leider
- das wissen wir - nicht nur ein schwieriges, sondern
auch ein sehr scheues Reh. Wenn es woanders Rahmenbedingungen findet, die deutlich besser sind, macht das
die Sache nicht leichter.
Ich will auch etwas zu dem Spitzensteuersatz sagen.
Über den können wir übrigens miteinander ringen. Natürlich müssen wir das immer wieder miteinander tun.
Herr Gabriel, Herr Trittin, ich spare mir den Hinweis,
dass die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder und
Fischer die deutlichste Steuerentlastung der Wohlhabenden in diesem Land im Bereich von Spitzensteuern, Einkommensteuern und Körperschaftsteuern vorgenommen
hat. Das war die deutlichste Steuerentlastung für Reiche,
die es jemals in der Geschichte der Republik gab. Auch
das gehört zur Wahrheit.
({3})
Sie haben das damals auch getan, weil Sie der Auffassung waren, dass wir die Rahmenbedingungen anpassen
müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu
verbessern. Ich will Ihnen gar nichts anderes unterstellen.
Wie hoch ist der Spitzensteuersatz? Das sollten wir
gerade den jungen Menschen, die heute zuhören, einmal
kurz vorrechnen: Ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent
und 3 Prozent Reichensteuer macht 45 Prozent. Jetzt
kommt der Solidaritätszuschlag dazu. Damit sind wir bei
47,48 Prozent. 55 Millionen Deutsche sind in einer der
großen Kirchen. 61 Prozent der Steuerzahler zahlen Kirchensteuer. Inklusive Kirchensteuer zahlen diese Menschen einen Spitzensteuersatz von 51 Prozent auf ihr
Einkommen. Das ist mehr als die Hälfte! Ich will das gar
nicht verfassungsrechtlich beurteilen. Ich will nur feststellen: Wenn man hier den Eindruck erweckt, diese
Menschen würden wenig oder fast gar nichts zu unser aller Gemeinwohl beitragen, wird man diesen Menschen
nicht gerecht, die in der Regel auch von Montag bis
Freitag oder von Montag bis Samstag oder von Montag
bis Sonntag, wenn ich an manch einen kleinen Mittelständler denke, arbeiten und gerne in diesem Land Steuern zahlen. Auch das gehört zur Wahrheit.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Gerhard Schick?
Bitte. Gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Schick.
Manchmal muss man für die Öffentlichkeit ein bisschen zur Verständlichkeit beitragen.
({0})
Ich bemühe mich darum.
Ich möchte zwei Fragen stellen.
Erstens. Wenn der Steuertarif gesenkt worden ist und
der Anteil, der von den oberen 10 Prozent gezahlt wird,
steigt, heißt das doch, dass sich die Verteilung von Einkommen immer stärker verändert hat und auf wenige
Personen konzentriert. Würden Sie mir also zustimmen,
dass das Argument, das Sie gebracht haben, zeigt, dass
wir dringend etwas für mehr Verteilungsgerechtigkeit in
Deutschland tun müssen?
({0})
Zweitens. Wollen Sie der Bevölkerung vielleicht noch
einmal darlegen, wie die Verhandlungen zur Steuerreform verlaufen sind? Die Opposition hatte im Bundesrat
einen Steuersatz von weit unter 40 Prozent gefordert,
({1})
und wir als rot-grüne Koalition sind damals mit der Forderung von 45 Prozent in die Verhandlungen eingetreten
und haben gesagt: Ein noch niedrigerer Steuersatz wäre
unverantwortlich, weil man dann zu viele Schulden machen müsste. Man hat sich dann auf einen Kompromiss
von 42 Prozent geeinigt. Die Kritik an der Steuersenkung vonseiten der CDU/CSU ist also ziemlich wohlfeil, weil Sie den Steuersatz damals noch stärker senken
wollten. Wir haben das nicht mitgemacht; denn das wäre
nicht verantwortungsvoll gewesen.
({2})
Herr Schick, ich habe doch eben gesagt: Wir werden
in einem Land, in einer Welt, die sich heute noch schneller verändert als in den letzten 60 Jahren - auch das ist
eine Lehre der letzten fünf Jahre -, immer darum ringen
müssen, wie wir das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln. Das ist, wie ich glaube, eine
sehr komplizierte Frage. Übrigens hat dies auch verfassungsrechtlich sehr enge Grenzen. Ich weiß nicht, ob Ihr
Vorschlag verfassungsfest ist. Er ist durchaus durchdacht; das muss man fairerweise sagen. Der Vorschlag
der Grünen ist - das muss man sagen, egal ob man ihn
ablehnt oder gut findet - im Ergebnis relativ durchdacht.
Meine Sorge wäre, dass die Freigrenzen den Eindruck
erwecken: Hier wird eine Lex, ein Gesetz für eine sehr
kleine Minderheit gemacht. Eigentlich ist das nicht im
Einklang mit unserer Verfassung. Ich bin kein Verfassungsjurist; das haben mir jedoch Fachleute dazu gesagt.
Übrigens, die entscheidende Fragestellung, mit der
wir uns beschäftigen müssen, ist: Wählen wir eine Substanzbesteuerung oder eine Ertragsbesteuerung?
({0})
Es ist doch Konsens in diesem Saal, dass jemand, der
Wohnungen hat, diese vermietet und Mieterträge hat, auf
diese Mieterträge natürlich Steuern zahlen muss. Die
Frage ist doch nur: Wie schaffe ich die Anreize, dass immer noch Immobilien gebaut werden, dass Menschen
immer noch in Immobilien investieren? Die gleiche
Frage stellt sich bei Kapitalerträgen. Wir alle wissen,
wie unser Mittelstand, unsere kleinen Unternehmen
ächzen, wenn sie 50 Prozent des Jahresgewinns an das
Finanzamt abführen müssen, obwohl sie dieses Geld
eigentlich gerne im Betrieb investieren würden.
({1})
Gleichzeitig sagen wir alle: Natürlich wollen wir,
dass breite Schultern, dass große Vermögen mehr tragen
als kleine. Jetzt sind wir bei einer Verfassungsfrage. Das
fängt übrigens beim Eigenheim an. Der Großteil des
Wohneigentums in Deutschland besteht doch nicht aus
Millionen- oder Milliardenvillen, sondern das sind
kleine Eigenheime. Deren Besitzer haben sie in der
Regel gebaut oder angeschafft, weil sie der staatlichen
Rente nicht mehr hinreichend vertrauen, weil sie glauben, dass sie ihr Eigenheim brauchen, damit sie im Alter
sorgenfrei leben können.
({2})
Nun müssen wir uns mit der Frage beschäftigen: Gehen
wir an die Substanz, oder gehen wir an die Erträge?
Ich gehe davon aus, dass die Beantwortung der Frage
beendet ist.
({0})
Herr Kollege, bleiben Sie ganz gelassen. - Ich habe
mit dem ersten Satz gesagt: Natürlich müssen wir das
weiterentwickeln. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich
der rot-grünen Bundesregierung von damals unterstelle,
dass sie sich bemüht hat, zum Wohle des Wirtschaftsstandortes Deutschland die im historischen Kontext
richtige Entscheidung zu treffen. Es gibt ja nicht wenige
bei Ihnen, die der Meinung sind, dass sie aufgrund der
damaligen Politik der Vater oder die Mutter des jetzigen
Aufschwungs sind.
Herr Kollege, geben Sie mir die Chance, Sie zu fragen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen.
Bitte. Gerne.
Kollege Manfred Grund.
Vielen Dank. - Es geht in dieser Debatte ja um Vermögen und Einkommen. Es gibt einen Koeffizienten,
mit dem die Einkommensverteilung in Volkswirtschaften bzw. Staaten gemessen wird, und zwar einen weltweit anerkannten Koeffizienten. Dieser Koeffizient zur
Einkommensverteilung bzw. zur Einkommensgerechtigkeit ({0})
- die Frage, um die es eben ging, betraf die Einkommen hat einen Wert zwischen 0 - gleiches Einkommen - und 1.
Bis 2005/2006 ist dieser Koeffizient, was die Situation
in Deutschland betrifft, angestiegen. Jetzt meine Frage:
Herr Kollege, können Sie bestätigen, dass dieser Koeffizient im Hinblick auf Deutschland seit 2006 stabil bei
0,29 liegt, was bedeutet, dass sich die Einkommensverteilung in Deutschland in den letzten Jahren nicht
dramatisch verändert hat?
Diese Zahlen und dieser Koeffizient sind in der Tat
zutreffend, Herr Kollege. Ich bin für Ihre Frage und
Ihren Hinweis dankbar.
Ich will diesen Hinweis gern damit verbinden, auf
Folgendes hinzuweisen: Da Sie uns ja tendenziell weniger glauben als anderen - das ist in der Politik manchmal
so -, mache ich Sie auf den Spiegel von dieser Woche
aufmerksam; er wurde schon zitiert. Meine Damen und
Herren, die Überschrift eines Artikels im Spiegel, in dem
es um Ihre Konzepte geht, lautet: „Jagd auf Reiche“. Der
Spiegel kommt zu vielen Ergebnissen, die am Ende übrigens alle das Gleiche zum Inhalt haben:
Die geplante Abgabe schröpft nicht nur reiche
Müßiggänger, sondern vor allem investierende
Unternehmer.
({0})
Sie gefährdet Betriebe, die in der Krise stecken.
({1})
Und sie gilt international als Auslaufmodell. Von
den 27 EU-Ländern hat nur Frankreich eine dauerhafte Abgabe …
Die Vermögensteuer hat nämlich einen entscheidenden Nachteil: Sie ist unter Finanzbeamten als
besonders ineffizient bekannt. Einem geringen
Ertrag steht ein hoher Aufwand gegenüber. Jedes
Jahr müssen die Behörden den Besitz von Millionären und Firmen bewerten … Maschinen, Häuser,
Hallen, Gemälde oder Schmuck.
… Am Ende könnte die Vermögensteuer vor allen
Dingen ein Beschäftigungsprogramm für Juristen
und Steuerberater werden.
Vor allem aber belastet sie … Maschinen und Fabriken.
Sie belastet die Unternehmerinnen und Unternehmer, die
wir in diesem Land ganz dringend brauchen. Das zeigt
das Dilemma.
Ich rate uns: Lassen Sie uns über die Ertragsteuern
diskutieren! Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wir
sicherstellen können, dass auch in den nächsten zehn
Jahren starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern! Lassen Sie uns über den Sozialstaat diskutieren!
Aber wir sollten nicht den komplizierten Versuch unternehmen, die Substanz zu besteuern und jemandem, der
ein Gemälde besitzt, sagen: Du musst jetzt jedes Jahr
10 000 Euro zahlen, weil du ein teures Gemälde besitzt.
({2})
Dieser Versuch hört sich schön an, und man kann ihn
rhetorisch wunderbar verpacken. Aber er wird die Probleme in Deutschland nicht lösen.
({3})
Ich empfehle uns: Wir sollten über den richtigen Weg
diskutieren. Wir dürfen aber keine Neiddebatten oder
Missgunstdebatten führen. Erst recht, lieber Herr Gysi,
sollten wir nicht solche Modelle befördern, die in
Deutschland schon einmal gescheitert sind. Denn eines
ist klar: Wir brauchen auch starke Schultern und Investitionen in Deutschland, insbesondere Unternehmen, die
investieren, und wir brauchen unseren Mittelstand, wenn
wir die Entwicklung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, in den kommenden Jahren fortsetzen wollen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert
Schindler. Bitte schön, Kollege Norbert Schindler.
({0})
Einen schönen guten Morgen bzw. guten Tag, auch
den Gästen auf der Tribüne!
Es ist 12.38 Uhr.
({0})
In Ordnung. Dann sage ich: Guten Tag!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man sich
vor Augen führt, wie sehr wir 1997 bei der Abschaffung
der Vermögensteuer gerungen haben
({0})
und wie dankbar uns die Finanzbeamten waren, weil die
Effizienz dieser Steuer - ({1})
- Alle, die dazwischenrufen, haben davon so viel
Ahnung wie eine Kuh vom Eierlegen. Reden Sie mit der
Finanzverwaltung vor Ort! Ich muss das einmal so deutlich und treffend sagen. Damals hatten die Bundesländer
Einnahmen in Höhe von 4 Milliarden D-Mark, und die
Verwaltungskosten betrugen über 2 Milliarden D-Mark.
Die Vermögensteuer war die uneffektivste Steuer, die es
in dieser Republik jemals gab.
Wer war davon betroffen? Erfasst wurden Leute, die
ein Vermögen über 120 000 D-Mark hatten. Es war genau wie beim Lastenausgleich; er ist von den Linken
heute Morgen ja schon als Modell ins Gespräch gebracht
worden. Die Grünen schlagen eine Steuer vor, die, über
zehn Jahre verteilt, mit jährlich 1,5 Prozent die Reichsten der Reichen abschöpfen soll.
({2})
- Wenn es nur so wäre, Herr Trittin. Durch all die Ausnahmen, die in Ihrem Gesetzeswerk enthalten sind, wird
das komplizierte Verfahren, das es bis 1997 gab, noch
viel komplizierter.
({3})
Vergleichen Sie das damalige Gesetz mit Ihrem heutigen
Gesetzentwurf!
Auf was zielt man ab? Man zielt darauf ab, 200 000
bis 300 000 Leute zu erfassen, von denen man sagt: Das
sind die Reichsten der Reichen. Wenn Fußballspieler,
bekannte Filmschauspieler oder Industriellenfamilien
irgendwo in den Alpenrepubliken einen Wohnsitz haben,
dann geht in der medialen Landschaft jeder zur Tagesordnung über; sie werden trotzdem bejubelt. Wenn
jemand von uns einen Wohnortwechsel und einen Steuerstandortwechsel vornehmen würde, dann wäre der
Teufel los. Ich stelle das nur fest; ich beklage das nicht.
Vorhin wurden die Begriffe „Staatsangehörigkeit“
und „Steuerpflicht“ als Argument genannt. Vergessen
Sie bitte nicht: Eben diese genannten Personen sind
durch die Doppelbesteuerungsabkommen geschützt, die
wir mit unseren Nachbarstaaten abgeschlossen haben.
Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die linke
Seite dieses Hauses mit einer Neidkampagne den Wahlkampf beginnen will. Wer Neid sät, wird Hass ernten.
({4})
- Es ist so. Wer Neid sät, wird Hass ernten.
({5})
Es wird kritisch darauf geschaut, welche Steuereinnahmen wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten.
Wir haben - das ist auch schon einige Male gesagt worden; ich muss das wiederholen - kein Problem der
Staatseinnahmen - sie sind die besten von allen Seiten -,
sondern wir haben ein Problem der Staatsausgaben. Ihre
Vertreter in den Ausschüssen fordern, dass die Regierung noch viel mehr für den Sozialbereich und vieles andere ausgeben soll. Gleichzeitig hören wir hier heute in
der Fensterdebatte andere Töne. Das passt einfach nicht
zusammen.
({6})
Ich sage für die Koalitionsparteien: Das, was wir seit
2008 auch mit dem roten Koalitionspartner, vor allem
aber in unserer christlich-liberalen Koalition an kluger
Finanzpolitik geleistet haben - auch hinsichtlich der
Bankensicherung und der Steuerabkommen mit unseren
Nachbarstaaten -, war nicht selbstverständlich.
Warum haben wir die Probleme? Die linke Seite hat
am Anfang der Debatte durch Herrn Gysi behauptet, wir
seien sogar schuld an dem Schlendrian des griechischen
Staates. Bei einer solchen Schuldzuweisung trotz unserer
guten Regierungspolitik frage ich mich: Wer hat denn
hier Fieber in diesem Haus?
({7})
Liebe Barbara, da kriege ich einen dicken Hals.
({8})
Wir sind an allem schuld, auch an der Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, nur weil wir in Deutschland erfolgreich und tüchtig waren, weil wir der größte Nettoeinzahler in der Europäischen Union sind, weil wir den
europäischen Gedanken auch bei jeder Nachtsitzung betonen und weil wir den Einspruch des Parlaments zu
Hause zu Recht in harte Sparbeschlüsse umsetzen? Wir
sind auch daran schuld, dass sie da unten aufgrund der
Sünden der Vergangenheit zu Recht demonstrieren? Das
ist doch nicht das Ergebnis unserer Politik.
Wir haben Deutschland stabil gemacht, nicht nur
hinsichtlich der Steuereinnahmen. Wir haben auch die
Fähigkeit, die Europäische Union mitzufinanzieren.
Welcher Staat in Europa könnte derzeit die Kraft aufbringen, dies so durchzuhalten?
({9})
Das wird auch durch die große Mehrheit in diesem Parlament getragen. Liebe Freunde, Sie fangen pünktlich
zum Wahljahr 2013 mit einer Neiddebatte an. Erinnern
Sie sich einmal an den Ärger, den die Finanzverwaltung
hatte!
Nach dem Gesetzentwurf der Grünen ist abgegebenes
Vermögen an Dritte vermögensteuerpflichtig. Nur
30 Prozent der Flächen, die die Bauern bewirtschaften,
befinden sich noch in ihrem Eigentum. Die restlichen
70 Prozent sind gepachtet. Das heißt aus der Sicht der
ländlichen Regionen: All diese Eigentümer belastet ihr
in Zukunft mit der Vermögensteuer. Sie müssen erfasst
werden, sie werden dann wieder befreit,
(Jürgen Trittin ({10}): Die superreichen Bauern!
und sie werden alle Jahre wieder kontrolliert. So ergeht
es jedem Immobilienbesitzer.
Dadurch wird eine Neiddebatte eröffnet, die Sie gerne
führen wollen. Durch all die Ausnahmen in Ihrem
Antrag, die Sie abwägen, wird er sehr kompliziert. Deswegen könnte man sagen: Er ist durchdacht. Aber er ist
in der politischen Richtung verkehrt.
({11})
Im Zusammenhang mit der kalten Progression in unserem Steuersystem - darauf hat Volker Kauder vorhin
mit Recht hingewiesen - verweigern Sie sich, den kräftigen Zugriff des Staates bei Lohnzuwächsen zu beenden.
Das ist die größte Ungerechtigkeit, die wir seit sechs
oder sieben Jahren haben.
({12})
Sie sind nicht bereit, hier zu mehr Gerechtigkeit beizutragen. Nein, Sie wollen ablenken und sprechen stattdessen ein anderes Thema an.
({13})
Leute, das werden wir seitens der Koalition mit Erfolg
verhindern.
Deswegen ist das Thema Vermögensteuer in Deutschland erledigt. Es muss auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten erledigt bleiben, sonst hätten wir mit
der Einführung einer neuen Steuer für noch mehr Steuerungerechtigkeit gesorgt. Diesen Vorschlag werden die
Wählerinnen und Wähler in einem Jahr mit Sicherheit
entsprechend quittieren.
Danke schön.
({14})
Vielen Dank, Kollege Norbert Schindler. - Letzte
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unsere Kollegin Frau Bettina Kudla. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Lassen Sie mich als letzter Redner der
Debatte
({0})
hier noch einmal die wichtigen Punkte zusammenfassen.
Uns liegen zwei Vorschläge vor: ein Gesetzentwurf
von der Fraktion der Grünen und ein Antrag von der
Fraktion der Linken. Der Gesetzentwurf der Grünen
wird damit begründet, man wolle die hohen Staatsschulden tilgen. In dem Gesetzentwurf wird auf den Anstieg
der Staatsschulden in den letzten Jahren verwiesen, auch
aufgrund der Finanzkrise und der Konjunkturprogramme. Wohlgemerkt: Die Einzahlungen in den ESM
werden beispielsweise nicht erwähnt.
({1})
In dem Gesetzentwurf wird auch eine Parallele zum
Lastenausgleich gezogen; das wurde mehrfach angesprochen. Die Grünen wissen hier offenbar recht wenig
von der Geschichte.
({2})
Offenbar wollen Sie auch nichts davon wissen. Deswegen sind Sie stets gegen die Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung.
({3})
Der Vergleich mit dem Lastenausgleich ist hier einfach nicht zutreffend. Den damaligen Lastenausgleich
hat die gesamte deutsche Bevölkerung getragen, nicht
nur ein kleiner Teil der Menschen, obwohl es der Bevölkerung damals sehr schlecht ging.
({4})
Schließlich muss man feststellen, dass die Staatsschulden seit Jahrzehnten unter Regierungen jeder Couleur
erhöht wurden, allerdings unter den CDU-geführten
Regierungen wesentlich geringer als unter den rot-grüngeführten Regierungen.
({5})
Was den Bundeshaushalt betrifft - das hat Bundesfinanzminister Schäuble vergangene Sitzungswoche eindrucksvoll dargelegt -: Das riesige Finanzloch von Peer
Steinbrück aus dem Jahr 2008 mit 100 Milliarden Euro
ist auf ein sehr kleines Finanzloch geschrumpft.
({6})
- Herr Trittin, zu Ihren Zwischenrufen kann ich jetzt nur
sagen: Als Sie vorher über Finanzen gesprochen haben,
musste ich an Atomkraft denken.
({7})
Eigentlich habe ich nicht an Atomkraftwerke gedacht,
sondern an den Super-GAU. Bleiben Sie bei den Themen, die zu Ihnen passen!
({8})
Zum Antrag der Linken. Die Linken nehmen Bezug
auf den Armutsbericht der Bundesregierung und fordern
eine Enteignung vermögender Personen im Rahmen
einer Vermögensabgabe. In beiden Vorschlägen wird die
Einführung einer Vermögensteuer von 1,5 bzw. 5 Prozent gefordert.
({9})
Lassen Sie mich auf drei Schwerpunkte eingehen:
Erstens. Löst eine Vermögensabgabe die Probleme der
öffentlichen Haushalte?
({10})
Zweitens. Was sind die Folgen einer Vermögensabgabe
und einer zu hohen Besteuerung? Drittens. Ein paar
Ausführungen zum Armutsbegriff: Wie wird der Armutsbegriff eigentlich verwendet?
Zum Ersten, der Vermögensabgabe: Kann man die öffentlichen Haushalte sanieren, indem man nur an der
Einnahmenschraube dreht? Antwort: ein klares Nein.
({11})
Die Sanierung eines öffentlichen Haushaltes allein über
die Einnahmenseite ist nicht möglich. Sobald es höhere
Einnahmen gibt, steigen die Ausgabenwünsche. Hier
zeigt sich auch die fehlende Logik der Anträge der Fraktionen der Grünen und der Linken. Wenn Sie die Mehreinnahmen wirklich zur Schuldentilgung verwenden
wollten, dann dürften Sie doch nicht permanent gegen
die Schuldenbremse wettern.
({12})
Die Sanierung der öffentlichen Haushalte - auch das haben die Redner betont - kann nur durch strukturelle
Maßnahmen auf der Ausgabenseite erreicht werden.
Dem Bundeshaushalt geht es auch deswegen besser,
weil der Ausgabenanstieg gestoppt werden konnte.
({13})
Verbunden mit höheren Einnahmen aufgrund von Wirtschaftswachstum wurde durch eine umsichtige Politik
unserer Bundesregierung der Weg der Konsolidierung
gestärkt. Der Bundeshaushalt erfüllt die verfassungsmäßigen Vorgaben der Schuldenbremse,
({14})
und im Rahmen des Fiskalvertrages sind auch die anderen europäischen Länder gehalten, eine Trendumkehr in
ihrer Haushaltspolitik einzuleiten.
Zum Zweiten. Was wären die Folgen einer übermäßigen Steuerbelastung? Würden die Bürger übermäßig
durch eine Vermögensabgabe belastet,
({15})
würde der Schutz des Eigentums, den unser Grundgesetz
garantiert, infrage gestellt. Dann würden die wohlhabenden Bürger ihren Wohn- oder Firmensitz eben ins
Ausland verlegen. Das sieht man jetzt schon bei Spitzensportlern, Schauspielern und bedeutenden Unternehmern. Die Leistungen dieser Menschen würden in
unserem Land fehlen. Gerade ihre Beiträge zu Wohlstand und sozialer Sicherung wären im Inland gefährdet.
Dies hat auch der Kapitalabfluss, der in den vergangenen
Jahren in Deutschland besonders stark war, gezeigt.
Zum Dritten. Nun noch ein paar Sätze zum Armutsbegriff: Geld ist für den Bürger immer knapp. Jemand,
der SGB II bezieht, muss sicherlich jeden Euro zweimal
umdrehen, bevor er ihn ausgibt. Das gilt aber für einen
Familienvater, der 2 000 Euro brutto durch seine eigene
Arbeitskraft verdient, vermutlich auch.
({16})
Aber man muss auch sehen, dass über 50 Prozent des
Bundeshaushaltes für Sozialleistungen ausgegeben
werden. Der Mensch steht in der Politik der Bundesregierung im Vordergrund,
({17})
aber das System an sich muss funktionieren. Der Armutsbegriff wird einfach am verfügbaren Haushaltseinkommen festgemacht. Dabei wird keine Unterscheidung
getroffen, ob es sich um ein Arbeitseinkommen oder um
ein Transfereinkommen handelt. Soziale Errungenschaften, zum Beispiel dass jemand, der - aus welchen Gründen auch immer - kein eigenes Arbeitseinkommen hat
und trotzdem sein Leben lang krankenversichert ist,
blenden Sie in Ihren Anträgen völlig aus.
Wenn Sie bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin.
({0})
Das Gleiche gilt beispielsweise für die Grundsicherung, welche die Menschen, die keine eigene Rente
erwirtschaften konnten, ihr Leben lang absichert.
Ziel unserer Politik muss immer sein, die soziale Ausgewogenheit weiterhin zu erhalten.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10770 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/10778 soll ebenfalls
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen
die Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion
Die Linke wünscht die Federführung beim Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Feder-
führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer
stimmt dagegen? - Das sind alle anderen Fraktionen des
Hauses. Enthaltungen? - Keine. Somit ist der Überwei-
sungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? -
Das sind alle anderen Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? -
Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 47 a bis 47 g und
47 i bis 47 r sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:
47 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen
- Drucksache 17/10486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivil-
prozess
- Drucksache 17/10490 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister und zur Änderung
anderer Gesetze
- Drucksache 17/10749 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/10750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Groß-
herzogtum Luxemburg zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und Verhinderung der
Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu-
ern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/10751 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem König-
reich der Niederlande zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Vizepräsident Eduard Oswald
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen
- Drucksache 17/10752 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 17. November 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Fürstentum Liechtenstein zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 17/10753 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
weitere Bereinigung von Übergangsrecht aus
dem Einigungsvertrag
- Drucksache 17/10755 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Globa-
len Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt
über den Sitz des Globalen Treuhandfonds für
Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/10756 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Rahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwi-
schen der Europäischen Union und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und der Republik
Korea andererseits
- Drucksache 17/10757 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Freihandelsabkommen vom 6. Oktober 2010
zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik
Korea andererseits
- Drucksache 17/10758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Rechtsausschuss
m) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung ({5}) Nummer 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euroraums
- Drucksache 17/10759 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
n) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes und der Schiffsregisterordnung
- Drucksache 17/10772 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln
- Drucksache 17/9426 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausbau des Truppenübungsplatzes Altmark
sofort stoppen - Colbitz-Letzlinger Heide zivil
nutzen
- Drucksache 17/10684 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für einen wirksamen Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der Europäischen Union und in Deutschland
- Drucksache 17/10786 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Eduard Oswald
r) Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über den Vollzugsaufwand bei der Gewährung von Unterhaltsvorschuss und Wohngeld an Kinder mit Anspruch auf Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Drucksache 17/10322 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({11})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 4a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens ({12})
für die Agentur der Europäischen Union für
Grundrechte
- Drucksache 17/10760 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern - Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken
- Drucksache 17/10787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({14})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staaten
- Drucksache 17/10791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Angelika Graf ({16}), Dr. Marlies
Volkmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichheiten beseitigen - Versorgungslücken schließen
- Drucksache 17/9059 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({17})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10322 - Tagesordnungspunkt 47 r - soll federführend beim Haushaltsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 48 a bis 48 m
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 48 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Statistik
im Produzierenden Gewerbe
- Drucksache 17/10493 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({18})
- Drucksache 17/10850 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({19})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10850, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10493 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? Keine. Stimmenthaltungen? - Das sind die Fraktionen
der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 b:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Vizepräsident Eduard Oswald
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli
2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Bermuda über den Auskunftsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/10043 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
28. Oktober 2011 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Montserrat über die Unterstützung
in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/10044 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({20})
- Drucksache 17/10847 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Lothar Binding ({21})
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
3. Juli 2009 mit der Regierung von Bermuda über den
Auskunftsaustausch in Steuersachen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10043
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das ist die
Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
28. Oktober 2011 mit der Regierung von Montserrat
über die Unterstützung in Steuer- und Strafsachen durch
Informationsaustausch. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10847, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10044 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Das sind die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({22}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Vierundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 17/10542, 17/10707 Nr. 2.1,
17/10851 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10851, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/10542 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber die Gegenprobe! - Keine. Stimmenthaltungen? - Keine. Somit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 48 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 463 zu Petitionen
- Drucksache 17/10671 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 463 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 464 zu Petitionen
- Drucksache 17/10672 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Keiner.
Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 464 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 465 zu Petitionen
- Drucksache 17/10673 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/
Die Grünen. Sammelübersicht 465 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 466 zu Petitionen
- Drucksache 17/10674 23388
Vizepräsident Eduard Oswald
Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 466
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 467 zu Petitionen
- Drucksache 17/10675 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht
467 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 468 zu Petitionen
- Drucksache 17/10676 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen dieses Hauses.
Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 468 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 469 zu Petitionen
- Drucksache 17/10677 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 469 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 470 zu Petitionen
- Drucksache 17/10678 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Somit ist Sammelübersicht 470 angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 471 zu Petitionen
- Drucksache 17/10679 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Sammelübersicht 471 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 48 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 472 zu Petitionen
- Drucksache 17/10680 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 472 ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun
zum Zusatzpunkt 5:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der
CDU/CSU und FDP
Das Wort als Erster in unserer Aktuellen Stunde hat
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Thomas Oppermann. Bitte schön, Kollege Thomas
Oppermann.
({33})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Vor drei Wochen hat
die Bundesregierung das Euro-Krisenmanagement an
die Europäische Zentralbank abgetreten. Seitdem muss
sich die Bundesregierung wieder mit innenpolitischen
Fragen befassen. Das staunende Publikum stellt fest:
Nichts hat sich verändert. Überall herrscht Streit. Egal
ob Frauenquote, Betreuungsgeld, Mindestlohn oder
Rente,
({0})
in keinem Bereich kann diese Regierung sich einigen. In
allen wichtigen innenpolitischen Fragen ist diese Bundesregierung handlungsunfähig.
({1})
Frau von der Leyen will die Quote. Frau Schröder
lehnt sie ab. Frau Schröder hat einen Gesetzentwurf zum
Betreuungsgeld vorgelegt, den sie selber eigentlich gar
nicht will. Frau von der Leyen hat dagegen eine Rentenreform vorgelegt, die aber die Kanzlerin verhindern will.
Die Kanzlerin hofft dabei auf die Unterstützung von
Herrn Rösler. Der ist aber damit beschäftigt, gegen die
Energiewende, gegen das Betreuungsgeld und gegen den
Reichtums- und Armutsbericht zu kämpfen. So wird das
nichts, meine Damen und Herren.
({2})
In dieser Regierung kämpf jeder gegen jeden, und niemand kümmert sich darum, die Probleme in diesem
Lande zu lösen.
Der vergangene Freitag war ein schwarzer Freitag für
diese Bundesregierung. Mehrere Ministerpräsidenten
haben im Bundesrat den Aufstand gewagt. Sie wollen
sich nicht mehr mit dem Stillstand abfinden. Sie spüren
genau: Die Zeit dieser Regierung läuft ab. Sie haben gemerkt, dass die Bevölkerung hinter den Forderungen der
Opposition steht.
({3})
- Lachen Sie nur, Sie werden dafür noch die Quittung
bekommen.
({4})
76 Prozent der Bürger sind für den gesetzlichen Mindestlohn. 69 Prozent sind gegen das Betreuungsgeld.
56 Prozent der Frauen befürworten eine Quote in den
Aufsichtsräten und Vorständen von Unternehmen. Deshalb, meine Damen und Herren, haben einige CDU-Ministerpräsidenten bei Mindestlohn und Frauenquote gegen Frau Merkel gestimmt. Sie handeln nach dem
Motto: Rette sich, wer kann!
Die Kanzlerin muss jetzt die Abtrünnigen zu einem
Krisengipfel einladen. Ich glaube nicht, dass das hilft.
Wer übrigens glaubt, dass es nicht schlimmer als am
letzten Freitag, diesem schwarzen Freitag kommen
konnte, der sieht sich getäuscht. Es kam noch schlimmer.
({5})
Nach dem schwarzen Freitag folgte der Knall am
Montag. Die FDP sabotiert das Betreuungsgeld.
({6})
In dieser Koalition funktioniert nichts mehr, weil jeder
nur noch an sich selber denkt.
({7})
Obwohl diese Koalitionspartner, diese drei Koalitionsparteien eigentlich miteinander fertig sind, haben
Sie noch ein gemeinsames Interesse, das sie verbindet:
({8})
Sie wollen den Machterhalt in den letzten zwölf Monaten dieser Wahlperiode sichern. Deshalb beginnt in diesen Tagen ein großer Kuhhandel. Die FDP sagt: Wir halten das Betreuungsgeld für grundfalsch, wir lehnen es
entschieden ab, aber wir würden zustimmen, wenn wir
dafür eine extra Gegenleistung bekämen.
({9})
Es wird über die Reduzierung des Soli und über die
Streichung der Praxisgebühr verhandelt. Herr Kauder hat
schon die Währungseinheit dieser Verhandlungen in ein
oder zwei Porsche Cayenne definiert. Ich weiß gar nicht,
was im Augenblick der Kurs bei Ihnen, Herr Kauder, ist.
({10})
- Kamele, genau, das glaube auch ich, aber davon haben
Sie selber in der Fraktion genug. Damit sind Sie reich
gesegnet.
({11})
Im Ernst: Die Gegenleistung mag noch so bedeutend
sein,
({12})
das falsche Betreuungsgeld wird doch dadurch nicht
richtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
({13})
Es bleibt doch dabei, dass das Betreuungsgeld der Rückmarsch in das Familien- und Frauenbild der 50er-Jahre
ist.
Ich will hier nicht gegen den Kompromiss reden. Der
Kompromiss gehört zur Demokratie. Der Kompromiss
ist eine demokratische Tugend, aber der Kompromiss
muss aus der Sache heraus begründet sein. Was Sie hier
vorhaben, ist ein sachfremder Kuhhandel nach dem
Motto „Schenkst du meiner Tante etwas, kriegt auch
deine Tante etwas“.
({14})
So machen Sie Politik. Sie sind jetzt drei Jahre an der
Regierung. Das ist die peinlichste Regierung, die das demokratische Deutschland je hatte.
({15})
Dazu gibt es eine gute Nachricht: In zwölf Monaten ist
die Zeit dieser Regierung abgelaufen. Und es gibt eine
schlechte Nachricht: Jeder Tag bis dahin ist ein verlorener Tag für Deutschland.
Vielen Dank.
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Michael Kretschmer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Viele von Ihnen erinnern sich sicherlich an das
Buch Momo von Michael Ende und den darin beschriebenen Kampf gegen die Zeitdiebe. Die grauen Männer
von heute, die uns die Zeit stehlen wollen,
({0})
kommen gerade von der SPD.
({1})
Anstatt mit uns darüber zu diskutieren, was die wirklichen Probleme des Landes sind und wie wir sie lösen
können, versuchen Sie, eine Show zu initiieren. Doch für
Show fehlt uns die Zeit. Die Lösung der Probleme, die
dieses Land hat, gerade im internationalen Kontext, ist
zu wichtig.
({2})
Deswegen werden wir diese Debatte auch nicht unnötig
verlängern. Ich denke, das ist gut für unser Land.
({3})
Wir nehmen die Verantwortung wahr, die uns die
Menschen mit der Wahl aufgegeben haben. Wir werden
diese für Deutschland bis zum Ende der Legislaturperiode und gern auch darüber hinaus mit Freude tragen.
({4})
Es gibt zum heutigen Zeitpunkt kaum einen anderen
Ort auf der Welt, an dem die Menschen sicherer und mit
größerer Stabilität leben können, als die Bundesrepublik
Deutschland. Dass das so ist, das hat diese Koalition, das
hat diese Regierung maßgeblich mitzuverantworten.
({5})
Wir werden auch in Zukunft um die Bewältigung der
großen Herausforderungen für dieses Land ringen. Wir
werden auch über Themen wie Betreuungsgeld, Frauenquote, Mindestlohn ernsthaft debattieren,
({6})
und zwar nicht in einer Aktuellen Stunde mit der Dauer
von einer Stunde, sondern in einer breiten Diskussion.
Denn das sind Themen, die die Gesellschaft bewegen,
die in jeder Familie, die bei den Gewerkschaften, die an
den Stammtischen
({7})
und die natürlich auch in den politischen Parteien intensiv und auch kontrovers diskutiert werden.
Es wäre schlimm, wenn über solche Themen nicht
diskutiert werden würde, wenn es nur eine Einheitsmeinung geben würde; denn das würde bedeuten, dass es
keine Ideen, keinen Diskurs gibt. Aber gerade das macht
die Demokratie aus: dass es einen Streit um die besten
Ideen gibt.
({8})
Streit in der Sache ist das eine; das bringt uns voran.
Zerrissenheit in einer Partei in Personalfragen ist das andere. Genau das erleben wir bei der SPD: Sie kann sich
nicht einigen, mit welcher von drei Personen sie bei der
nächsten Bundestagswahl antreten will. Bei den Grünen
sind es sogar 15 Personen, die für eine Spitzenkandidatur gegeneinander kämpfen, nach dem Motto: „Wer sind
wir und wenn ja, wie viele?“ Meine Damen und Herren,
so wird es nichts!
Deshalb gehen wir mit Freude in die Diskussion über
die angesprochenen Themen und an die Arbeit im kommenden Jahr. Wir freuen uns auf eine Bundestagswahl,
bei der wir darum ringen, unseren Kurs fortzusetzen.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Yvonne
Ploetz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Es ist erbärmlich, welches miserable Bild die Bundesregierung abgibt.
Das schreibt das Westfalen-Blatt.
Und weiter:
Das einstige Wunschbündnis hat schon jetzt den
Eintrag in die Geschichtsbücher als „schwarz-gelbe
Koalition des Dauerstreits“ sicher.
Sehr treffend, wie ich finde.
Aktuell streiten sie sich wieder um das Betreuungsgeld. Gerade dieses Thema ist beispielhaft für das, was
ich gleich ausführen werde: Sie schaffen es nämlich nur
noch mit den größten Anstrengungen gegen gesellschaftliche Stimmungen, gegen rebellierende Bürgerinnen und
Bürger und jetzt auch gegen den Widerstand des Bundesrats zu regieren - auch wenn Sie es immer wieder
versuchen.
Wir kommen nun zum Versagen der Bundesregierung, belegt an vier Beispielen.
Erstens: das Meldegesetz. Der Aufschrei war groß,
als der Bundestag bzw. das, was von ihm noch übrig war,
eine Neufassung des Meldegesetzes beschlossen hatte.
Hier passierte das, was wir von der Koalition schon seit
Monaten oder Jahren geboten bekommen: Sie legt einen
Entwurf vor, streitet, streitet, wartet ein bisschen, streitet
noch einmal, um irgendwann die Änderung des Entwurfs oder die Änderung der Änderung des Entwurfs
durch den Bundestag zu peitschen. So war es auch beim
Meldegesetz. Es gab einen Änderungsantrag, mit dem
Sie den Datenschutz in den Meldeämtern de facto abschaffen wollten. Wie Sie die Daten der Menschen an
den prächtig blühenden Adresshandel zu Werbezwecken
verhökern wollten, ist an Dreistigkeit wirklich nicht zu
überbieten.
({0})
Heute tut CSU-Ministerin Aigner so, als habe sie damit nichts zu tun. Angela Merkel wünscht sich Überarbeitungen durch den Bundesrat, und die einstige Bürgerrechtspartei FDP ist ein Totalausfall.
({1})
Was ist passiert? Ihr Gesetz traf nach der Verabschiedung hier im Haus auf die gesellschaftliche Realität und
auf den weit verbreiteten Wunsch nach Datenschutz,
neuerdings auch auf den Widerstand im Bundesrat und
auf rebellierende Bürgerinnen und Bürger. Sie macht das
nervös; mich macht der Widerstand unglaublich stolz.
({2})
Nächstes Thema: Frauenquote. Bis heute sind Männer
ein bisschen gleichberechtigter: mehr Geld, mehr Aufstieg, mehr Aufsichtsrat. Nachdem Sie alle von uns hier
im Bundestag gestellten Anträge abgeschmettert haben,
hat nun die Hamburger SPD einen Antrag in den Bundesrat eingebracht, in dem es um eine 40-prozentige
Quote für Frauen in Aufsichtsräten geht, und sie hat die
Unterstützung von einem CDU-Ministerpräsidenten und
einer CDU-Ministerpräsidentin bekommen.
Und damit auch gleich zu den Happenings hier in der
Koalition rund um die Quotendebatte: Frauenministerin
Schröder darf mit ihrer Flexi-Quote schon lange nicht
mehr mitspielen, und das ist auch gut so. Volker Kauder
mahnt panisch zur Geschlossenheit, und die Unionsfrauen im Bundestag drängen auf eine Abstimmung
ohne Fraktionszwang, damit die Abgeordneten ihrem
frauenpolitischen Gewissen folgen können. Liebe Unionsfrauen, bei solchen Bitten zucke ich innerlich immer
zusammen. Stehen Sie doch einfach einmal zu Ihrer
Meinung!
({3})
Aber was bringt Sie so ins Schleudern? Es ist, dass
immer mehr Menschen der Meinung sind, dass Frauen in
Kontrollgremien wichtig sind, zum einen, weil es geschlechtergerecht ist, und zum anderen, weil sie darüber
vielleicht auch andere Frauen motivieren und fördern
können. Es gibt immer mehr Menschen, die für die
Quote streiten, und der Bundesrat beschließt sie einfach.
Schwarz-Gelb ist verdutzt; mir zaubert es ein Lächeln
auf die Lippen.
Nun eiert die Koalition beim Betreuungsgeld herum,
das bekanntermaßen bis heute wirklich niemand will.
Für eine Zustimmung fordert die FDP Gegenleistungen
von der Union: Dabei könne es zum Beispiel um die Abschaffung der Praxisgebühr gehen. Nichts gegen die Abschaffung der Praxisgebühr; aber es ist unfassbar, wie
tief Ihre Schamgrenze ist. Dieses unwürdige Geschacher
rund um das Betreuungsgeld ist wirklich für niemanden
mehr zu ertragen.
({4})
Der FDP-Haushaltspolitiker Koppelin sagte vor drei
Tagen, das Betreuungsgeld sei nur ein „Steckenpferd
von Herrn Seehofer und ein, zwei anderen“. Ich will
festhalten: Steckenpferde sind tot, so tot wie dieses Projekt. Also steigen Sie endlich von Ihrem toten Gaul ab
und investieren Sie das Geld in den Ausbau der Kitabetreuung!
({5})
Abschließend haben wir noch die abstrusen Vorgänge
rund um den Armuts- und Reichtumsbericht: Da legt von
der Leyen einen Entwurf vor, der belegt: Die Reichen
werden reicher, die Armen rutschen immer mehr ab.
Und: Nötig wäre eine höhere Besteuerung von Millionärsvermögen. Diese Passage treibt Philipp Rösler auf
die Barrikaden. Er verweigert dem Bericht einfach seine
Zustimmung. Man staunt wirklich nicht schlecht, wie
der Lobbyismus Sie vor sich her treibt.
Dennoch: Wissen Sie, was mich auch hier wieder
freut? Die Rebellion der Bürgerinnen und Bürger steht
bereits in den Startlöchern. Spätestens die Kampagne
„UmFAIRteilen“ wird den Frust über die krassen Ungerechtigkeiten, die Sie hier alle mit zu verantworten haben - SPD, Grüne, Union und FDP -, auf die Straße
bringen.
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Nicole Bracht-Bendt.
({0})
Liebe Frau Ploetz, ich gehöre zu den Frauen, die auch
ohne Freigabe des Fraktionszwanges zu ihrer Meinung
stehen. Es wird Ihnen vielleicht nicht so gefallen, wie ich
zur Quote stehe; aber ich habe eine Meinung.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie alle wissen, dass es bei uns zu wenige
Frauen in Führungspositionen in Unternehmen gibt. Niemand streitet ab, dass in der Vergangenheit viele Spitzenjobs in Männerrunden gekungelt wurden. Ich frage
mich aber, warum gerade jetzt der Streit um die Einführung einer Frauenquote so eskaliert und diese Quote
schließlich auch im Bundesrat eine Mehrheit findet.
({0})
Der Ruf nach dem Gesetzgeber wird ausgerechnet zu
einem Zeitpunkt immer lauter
({1})
- hören Sie bitte einmal zu -, an dem endlich Bewegung
in die Sache gekommen ist. Laut der Beratungsgesellschaft Egon Zehnder International spiegelt sich das auch
in ganz aktuellen Zahlen wider. Untersucht wurden rund
350 der größten europäischen Unternehmen in 17 Ländern. Die dabei befragten 41 deutschen Unternehmen
hatten zwischen Mai 2011 und Mai 2012 insgesamt
81 Führungsposten neu zu besetzen, von denen 41 Prozent an Frauen gingen. Das ist zwar in der Tat ausbaufähig, aber der Trend ist eindeutig. Im Übrigen liegt
Deutschland damit über dem europäischen Durchschnitt.
Demnach wurden rund 33 Prozent der vakanten Positionen mit Frauen besetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen Sie doch
einmal mit Personalberatern. Sie werden Ihnen bestätigen, dass ihre Kunden explizit Kandidatinnen suchen.
Als überzeugte Quotengegnerin kann ich der öffentlichen Debatte über eine Frauenquote aber dennoch etwas
Positives abgewinnen:
({2})
Die Unternehmen sind sensibilisiert. Mittlerweile gilt es
doch als imagefördernd, Frauen im Vorstand zu haben.
Hinzu kommt: Frauen machen heute durchschnittlich
bessere Universitätsabschlüsse.
({3})
Auch das ist den Unternehmen natürlich nicht entgangen. Insofern gibt es aus meiner Sicht keinen Grund für
eine staatliche Reglementierung. Die FDP setzt auf
Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Die Telekom hat es
vorgemacht. Mit einer selbst auferlegten Frauenquote für
Führungspositionen kann man wunderbar als attraktiver
Arbeitgeber punkten.
Ich möchte nun auf die mittelständischen Unternehmen zu sprechen kommen. Was in DAX-Unternehmen
noch eher die Ausnahme ist, ist in mittelständischen und
familiengeführten Unternehmen heute schon fast selbstverständlich: Der Anteil leitender Mitarbeiterinnen und
Geschäftsführerinnen ist dort mit über 20 Prozent wesentlich höher als in börsennotierten Unternehmen. Deshalb bin ich dafür, dass die Frauenpolitik, statt weiter
über eine Quote für die vergleichsweise kleine Zahl an
Vorständen und Aufsichtsratsposten zu streiten,
({4})
wieder die wirklich wesentlichen Punkte in den Fokus
nehmen sollte.
({5})
Erstens möchte ich noch einmal klarstellen: Der Staat
hat kein Recht, die Wirtschaft zu dirigieren.
({6})
Und Frau Reding hat schon einmal gar kein Recht, sich
in die Belange deutscher Wirtschaft einzumischen.
({7})
Das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen. Ich
finde Frau Redings Einmischungen unerträglich.
({8})
Zweitens ist es Aufgabe des Staates - das ist für mich
als frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion das
Entscheidende -, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Das
beginnt schon im Kleinkindalter.
Wir sind uns alle einig: Die gläserne Decke muss
weg. Aber hierbei hat sich der Staat herauszuhalten. Hier
ist, wie gesagt, nicht der Staat, sondern hier sind die
Tarifpartner in der Pflicht.
({9})
Die Aufsichtsräte und Vorstände, aber auch die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren nicht genügend
Frauen im mittleren Management auf Führungsaufgaben
vorbereitet. In anderen Ländern gibt es viel mehr Nachwuchsprogramme in den Unternehmen. Kreativität ist
vonnöten - überall. Nächstes Jahr werden viele Aufsichtsratsmandate und Vorstandsposten neu zu besetzen
sein. Ich bin optimistisch, dass bis dahin die Unternehmen nach vollmundigen Ankündigungen auch Taten folgen lassen.
({10})
Die FDP-Fraktion sieht jedenfalls keinen Anlass, von
ihrer Position abzurücken. Wir lehnen eine staatliche
Einmischung als unverhältnismäßigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Wirtschaft ab. Wenn Ergebnisgleichheit wichtiger als Rechtsfreiheit ist, dann ist das
Planwirtschaft, und das werden wir auf jeden Fall verhindern.
Ganz herzlichen Dank.
({11})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Renate Künast das Wort.
({0})
Danke, Herr Lindner. - Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es ist irgendwie schon eine ganz tolle Art
seitens der Koalition, eine solche Debatte ernst zu nehmen. Herr Kretschmer erzählt hier über die grauen Männer, die uns die Zeit stehlen. Ich sage einmal: Herr
Kretschmer, Sie im dunkelblauen Anzug haben diesem
Land drei Jahre gestohlen. Das ist noch viel schlimmer.
({0})
Da stellt er sich hier hin und sagt, natürlich würden er
und die anderen ernsthaft über Quoten und über die Situation von Kindern diskutieren. Gucken Sie doch einRenate Künast
mal auf die Zettel auf Ihren Plätzen, wer in dieser Aktuellen Stunde überhaupt Redezeit angemeldet hat! Drei
mögliche Redebeiträge seitens der CDU/CSU-Fraktion
sind gar nicht angemeldet; Sie nehmen 15 Minuten Redezeit gar nicht wahr. Warum denn? Weil sich bei Ihnen
außer Herrn Kretschmer keiner traut, oder wie?
({1})
Oder weil Sie keine Frau finden, die sagt, ich stelle mich
hier oben hin und erkläre die unsinnige schwarz-gelbe
Politik?
Herr Kretschmer, wahr ist: Sie haben es drei Jahre
lang zerredet. Sie haben drei Jahre lang die Sorgen der
Menschen in diesem Land überhaupt nicht wahrgenommen, weder die Sorgen im Alltag noch die Situation in
diesem Land.
Frau Bracht-Bendt, ich habe meine Schublade aufgezogen und bin fast geneigt, Ihnen von der FDP das
Grundgesetz, mein Grundgesetz, zu geben, nachdem Sie
sagten, der Staat habe kein Recht, sich einzumischen. In
meinem Grundgesetz, Art. 3 - Gleichheit vor dem Gesetz - Abs. 2, steht:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
({2})
Erstes Semester bei der Ausbildung von Juristinnen und
Juristen: Sie haben eine Pflicht. Daraus leitet sich eine
staatliche Pflicht ab.
Frau Reding leitet ihre Zuständigkeit aus der Zuständigkeit für den Arbeitsmarkt ab. So einfach ist das,
meine Damen und Herren. Sie hat festgestellt, dass quer
durch Europa Frauen und Männer am Arbeitsmarkt nicht
gleichgestellt sind.
Wir blicken auf drei Jahre ganz großes Kino zurück:
Erst kommt Frau Schröder und sagt: Flexi-Quote, so ein
bisschen, die Wirtschaft macht das schon selber. - Wir
gucken und gucken und sehen nichts. Dann kommt Frau
von der Leyen, breitet die Arme weit aus - eine typische
Handbewegung - und
({3})
erzählt uns etwas. Früher hat sie uns erzählt: Jedes Kind
in Deutschland wird eine Chipkarte haben. Mit dieser
Chipkarte wird das Mittagessen, der Sport, der Musikunterricht und vieles andere bezahlt. - Fragen Sie doch einmal, wer eine Chipkarte hat. Keiner hat eine Chipkarte.
Die meisten haben aber auch keinen Nachhilfeunterricht.
So machen Sie Politik. Genau so reden Sie über die
Quote. Die eine so, die andere so. Was kommt dabei heraus? Gar nichts kommt dabei heraus.
Die Eltern in diesem Land, die wenig Geld haben, fragen sich: Wo ist die gute Ausbildung mit individueller
Förderung für mein Kind? Gerade die Eltern mit wenig
Geld fragen sich: Wird der Nachhilfeunterricht in Mathe
für mein Kind bezahlt, oder wird er in der Schule durchgeführt? Null. Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer
fragen: Kann ich bei einem Vollzeitjob von meinem
Lohn leben? Die Antwort wäre: Mindestlohn. Sie sagen
gar nichts. Frauen fragen sich: Kann ich erwerbstätig
sein? Wo ist die Betreuung meiner Kinder möglich? Sie
sagen am Ende auch nichts dazu; denn Sie haben mit
Herrn Röttgen voran in der Föderalismuskommission
dem Bund quasi verboten, den Kommunen Geld für die
Bildung zu geben. Das alles ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ob Frauenquote, Bildung, Mindestlohn oder Betreuungsgeld: Es wird immer ein großes Theater gemacht,
aber für die Menschen kommt dabei nichts, gar nichts
heraus.
({4})
Deshalb verstehe ich, dass auch den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der CDU/CSU so
langsam die Sicherungen durchbrennen und sie sagen:
Das lassen wir nicht mehr zu. Ich verstehe, dass Frau
Merkel die Gefolgschaft von Frau Kramp-Karrenbauer
und von Herrn Haseloff versagt wird, zum Beispiel als
es um die Abstimmung über den Hamburger Antrag auf
Einführung einer Frauenquote ging.
Ich sage Ihnen noch eines ganz klar: Nicht wir Frauen
müssen begründen, warum Frauen, die gut ausgebildet
und eine Berufsqualifikation haben, in die Vorstände und
Aufsichtsräte wollen. Nein, wir leben im Jahr 2012. Vor
dem Hintergrund des genannten Grundgesetzartikels
müssen die Männer erklären, warum die Vorstände und
Aufsichtsräte ein letzter Ort reiner Männerherrlichkeit
sein sollen. Sie können es nicht begründen.
({5})
So wird ein Schuh daraus. Ich erwarte, dass sich dieser Bundestag damit auseinandersetzt. Wenn Sie sich
nicht trauen dürfen, helfen wir Ihnen, die Abstimmung
vom Bundesrat zu wiederholen, und zwar mit einer namentlichen Abstimmung. Verzeiht mir, liebe CDUFrauen: Dann will ich nicht nur Tränen sehen, sondern
Hände, die hochgehen;
({6})
denn nur dann kann man euch glauben.
Ich, meine Damen und Herren, weiß eines: Diese Regierung kreist um sich selbst und kreist nicht um die Probleme der Menschen. Ich finde es richtig, dass der Bundesrat den Vorschlag von Frau Schavan zum Thema
Kooperationsverbot nicht mitmacht. Sie tut ja so, als
gäbe es wieder eine Kooperationsmöglichkeit bei der
Bildung. Dabei lässt die grundgesetzliche Regelung nur
den Zusammenschluss von Eliteeinrichtungen zu. Das
sind aber nicht die Probleme des Landes.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zu den Bereichen anführen, in denen Sie am Land vorbeiregieren:
Das Betreuungsgeld wird spätestens in Karlsruhe gekippt. Warten wir einmal auf die Ministerpräsidenten. Es
kann nicht sein, dass die Kommunen am Ende kein Geld
haben, um die Betreuung weiter auszubauen, Sie aber für
die Propagierung des altmodischen Gesellschaftsbildes
der 50er-Jahre Geld ausgeben. Dieses Land braucht eine
andere Regierung, und zwar eine, die nicht um sich
selbst kreist, sondern die die Alltagsprobleme der Menschen löst. Die wird nächstes Jahr kommen.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dagmar Ziegler.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wer, Herr Kretschmer, Sie selbsternannter Hüter des Zeitmanagements, wer klaut hier eigentlich wem die Zeit?
Das Versagen der Regierung Merkel hat viele Namen,
unter anderem ist da das „Betreuungsgeld“ zu nennen.
Da verwundert es natürlich nicht, wenn sich bei der
CDU/CSU nur einer traut, jetzt hier zu reden. Das Betreuungsgeld steht für den Komplettausfall des Politikmanagements im Bundeskanzleramt. Herr Pofalla ist
zwar ausnahmsweise hier;
({0})
aber man denkt, es gäbe ihn gar nicht mehr.
Das Betreuungsgeld steht für eine Koalition, die sich
um die wichtigen Probleme im Lande nicht wirklich
schert, die keine Antwort auf den Armuts- und Reichtumsbericht gibt, der nichts einfällt, um die soziale Kluft
in unserem Land zu schließen. Stattdessen reibt sich die
Koalition dabei auf, so etwas Sinnvolles wie die Frauenquote zu verhindern, für die es eine Mehrheit gibt, und
mit Brachialgewalt das Betreuungsgeld einzuführen,
wofür aus gutem Grund die Mehrheit fehlt.
Das Betreuungsgeld steht für die schlimmste Altherrenpolitik, bei der nur entscheidend ist, was Horst
Seehofer in Bayern für seine Stammtischhoheit zu brauchen glaubt, und bei der bessere Bildungschancen von
Kindern, eine bessere Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und kontinuierliche Erwerbsverläufe von Frauen gewissenlos geopfert werden.
Das Betreuungsgeld steht für eine realitätsblinde, arrogante und bürgerfeindliche Bundesregierung, die gegen den Widerstand der Menschen, gegen den Widerstand von Kinderverbänden, Bildungsforschern, Arbeitgebern und Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und
Kirchen eine Leistung durchdrücken will, die keinem
nützt, aber vielen schadet. Wer, Herr Kretschmer, klaut
hier eigentlich wem die Zeit?
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben sich mit dem Betreuungsgeld zum Gespött gemacht.
Den wievielten Anlauf haben Sie jetzt eigentlich unternommen, um das Betreuungsgeld in Ihren eigenen Reihen mehrheitsfähig zu machen? Es ist uns schwergefallen, die vielen Versuche noch nachzuvollziehen. Jetzt
sollen die Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und die
Riester-Förderung herhalten. Das ist eine völlig sachfremde Verknüpfung, die nicht retten kann, was doch
nicht zu retten ist.
Sie verkündeten am vergangenen Freitag schon die
große Einigung beim Betreuungsgeld, hatten dabei aber
leider vergessen, dass Sie noch einen kleinen Koalitionspartner fragen müssen. Nur wegen Ihres Problembären
in Bayern gibt es im Bundestag jetzt wieder Kauderwelsch und singt die Union in Richtung FDP „Ihr
Brüderle kommet“, um ihr unsinniges Betreuungsgeld
doch noch durchzusetzen.
({2})
Herr Kretschmer, wer klaut hier eigentlich wem die
Zeit?
({3})
Meine verehrten Damen und Herren von der FDP, lassen Sie sich nicht kaufen,
({4})
gehen Sie keinen Kuhhandel ein! In der Causa Betreuungsgeld schaut das ganze Land sehr aufmerksam zu.
Sie haben gesagt, das Betreuungsgeld sei möglicherweise verfassungswidrig. Sie haben gesagt, es sei nicht
zu finanzieren. Sie haben ferner gesagt, es setze falsche
Anreize. Sie haben in jedem dieser Punkte recht.
Deshalb lassen wir auch Ihnen keinen Deal in dieser
Frage durchgehen. Denn beispielsweise der Wegfall der
Praxisgebühr macht das Betreuungsgeld in keiner Weise
richtiger. Lassen Sie es sein, geben Sie das Projekt auf!
Der Schaden, den Sie verursacht haben, ist so oder so angerichtet. Gesichtswahrend kommen Sie aus dieser
Nummer nicht mehr heraus.
({5})
Die Bundeskanzlerin ruft die Abweichler in Sachen
Frauenquote - eine Ministerpräsidentin und einen Ministerpräsidenten - zum Fahnenappell ins Bundeskanzleramt. Für die Gesamtheit der Ablehner des Betreuungsgelds wird der Platz im Kanzleramt nicht ausreichen. In
diesem Falle braucht die Bundeskanzlerin einfach nur
vor die Tür zu treten; dann steht sie sofort inmitten der
Ablehnung.
Machen Sie endlich das, was zu tun Sie ja immer vorgaukeln: Packen Sie es endlich an, und packen Sie den
Gesetzentwurf ein!
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich das Thema der Aktuellen Stunde wörtlich
nehme, kann ich mich eigentlich kurzfassen. Das Thema
lautet nämlich: unterschiedliche Auffassungen innerhalb der CDU/CSU und FDP. Ich kann vermelden: Innerhalb der FDP gibt es keine unterschiedlichen Auffassungen
({0})
zu den Themen Frauenquote, Mindestlohn und Betreuungsgeld, ebenso wenig zum Thema Rente,
({1})
das Sie, Herr Kollege Oppermann, dankenswerterweise
mit in die Debatte eingeführt haben; ich komme nachher
gerne darauf zurück.
({2})
Wenn Sie allerdings das Miteinander in der Koalition
meinen, dann muss ich Sie warnen. Sie haben versucht,
ein bisschen Endzeitstimmung zu verbreiten, so wie es
der eine oder andere Redner bereits in der Haushaltsdebatte versucht hat.
({3})
Ich kann Ihnen nur sagen: Totgesagte leben länger. Ich
verstehe die Debatten in der Koalition eher als ein lebendiges Miteinander.
({4})
Sie werden sehen, dass wir am Ende mit guten Lösungen
aus dieser Diskussion herauskommen.
({5})
Damit wäre nach einer Minute eigentlich schon alles
zu diesem Thema gesagt. Aber ich bedanke mich für die
Gelegenheit, Herr Oppermann, den Ball zurückzuspielen
und einmal auf die unterschiedlichen Auffassungen in
der SPD, zum Beispiel beim Thema Rente, einzugehen.
({6})
Herr Kollege Oppermann, Sie erinnern sich: In der
letzten Sitzungswoche stand hier Herr Steinmeier am
Rednerpult. Er hat der Koalition vorgeworfen, einen
Haushalt mit einem Defizit von 18 Milliarden Euro zu
präsentieren; wohlgemerkt, wir haben ihn mit 70 Milliarden Euro Defizit von Ihnen übernommen.
({7})
Er sagte, wir müssten unsere Anstrengungen verstärken
und härter rangehen. Fast zeitgleich präsentierte der
SPD-Bundesvorstand ein Rentenkonzept mit Kosten von
35 Milliarden Euro, darunter 25 Milliarden Euro, die
über Steuern zu finanzieren sind, also mehr, als wir überhaupt als Defizit für das kommende Jahr vorgesehen haben. Das ist absolut unseriöse Politik.
({8})
Das ist bei dieser Geschichte aber noch nicht der Gipfel. Jetzt geht der Kuhhandel im SPD-Bundesvorstand
erst so richtig los: Damit das Ganze mit den Vorstellungen der Linken kompatibel werden kann, soll jetzt der
Zugang zur Rente für langjährig Versicherte erleichtert
werden. So kommen 6 Milliarden Euro zu den 35 Milliarden Euro hinzu.
({9})
Die Reaktion der Linken in Richtung von Herrn Gabriel:
Das reicht uns aber nicht, was hier vorgelegt wird. Jetzt soll auch noch die Absenkung des Netto-Standardrentenniveaus vor Steuern rückgängig gemacht werden.
Damit will sich die SPD vollkommen von der Rente mit
67 verabschieden.
({10})
Da kann ich nur sagen, Herr Oppermann: Wer im Glashaus sitzt, muss seine Steine, seine Stones, zusammenhalten.
({11})
Das ist genau das Problem, das Sie auch in der aktuellen
Debatte haben.
Dann schauen wir uns einmal die Grünen an. Frau
Kollegin Künast, Sie haben gesagt, es habe die Ansage
gegeben, eine Bildungskarte einzuführen, aber am Ende
sei keine Bildungskarte herausgekommen.
({12})
Ich kann mich an die Verhandlungen, die wir dazu geführt haben, noch relativ gut erinnern; denn ich war
nächtelang dabei.
({13})
In diesen Verhandlungen haben sich die Grünen, wo immer es ging, quergelegt.
({14})
Als es am Schluss zum Schwur kam, sind Sie in der allerletzten Verhandlungsrunde ausgestiegen und wollten
mit dem Ganzen überhaupt nichts mehr zu tun haben.
({15})
So kann man das doch nicht machen, Frau Kollegin
Künast. Es ist doch Wahnsinn, wie Sie dieses Geschäft
betreiben.
Wenn Ihnen dieses Beispiel noch nicht reicht, dann
schauen wir doch einmal nach Baden-Württemberg:
Frauenquote, Parité-Gesetz, wenn Ihnen das etwas sagt.
Da haben sich die Grünen mächtig aufgebockt: Sie wollten ein Gesetz vorlegen, nach dem bei der Kommunalwahl nur noch Listen zum Zuge kommen dürfen, auf denen Männer und Frauen gleichberechtigt erscheinen.
({16})
- Würden Sie mir bitte einmal Ihre Aufmerksamkeit
schenken, Frau Kollegin Künast? ({17})
Ich höre von diesem Parité-Gesetz gar nichts mehr. Vielleicht können Sie nachher noch kurz erklären, wann es
denn kommen wird. Nach meinen Informationen ist
auch dieses Thema abgehakt. Auch bei Ihnen also nichts
als heiße Luft.
({18})
Ich finde, es ist in einer Demokratie normal, dass man
in einer Regierung miteinander streitet. Es gehört zum
Meinungsbildungsprozess dazu, dass man sich über unterschiedliche Positionen austauscht. Aber dass es die
Opposition nicht einmal schafft, ihren internen Klärungsprozess einigermaßen reibungsfrei zu gestalten,
das finde ich dann doch bemerkenswert. Insofern hat
sich die Aktuelle Stunde heute doch gelohnt. Ich bedanke mich, Herr Oppermann, für Ihren entsprechenden
Antrag.
({19})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hubertus
Heil das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kolb, wir sollten uns eines nicht wechselseitig unterstellen - ich sage das in aller Ernsthaftigkeit - ({0})
- Hören Sie doch erst einmal zu und seien Sie nicht
gleich so nervös.
({1})
Herr Kolb, wir kennen uns ein bisschen und schätzen
uns durchaus persönlich, aber eines will ich Ihnen sagen:
Keiner von uns sollte die Tatsache, dass zwischen Ressorts, zwischen Koalitionspartnern und innerhalb demokratischer Parteien diskutiert wird, für Diffamierungen
nutzen.
({2})
- Moment! Hören Sie gut zu! - Das tut niemand; das
sollte auch niemand tun, weil dann ein falsches Bild entsteht. Hier geht es nicht um Kasernenhöfe, hier geht es
um demokratische Parteien. Aber eines ist auch klar:
Wer regiert, der sollte nicht nur diskutieren, sondern der
muss auch irgendwann auf den Punkt kommen!
({3})
Das möchten wir heute ansprechen: Sie kommen in dieser Koalition nicht auf den Punkt, Herr Kolb. Da können
Sie uns nichts vormachen.
({4})
Lassen Sie mich an einem Beispiel Folgendes verdeutlichen: Als wir mit Rot-Grün an der Regierung waren, haben wir diskutiert, manchmal sogar heftig gestritten; das will ich gerne einräumen. Beim Thema
Energiepolitik beispielsweise war zwischen Werner
Müller und Jürgen Trittin nicht immer eitel Sonnenschein - gar keine Frage. Da gab es unterschiedliche
Ressortlogiken in den Bereichen Umwelt und Wirtschaft. Aber es gab einen Unterschied zu Ihrer Regierung: Am Ende des Tages wurden Entscheidungen gefällt, gerade weil man diskutiert und dann entschieden
hat. Vom damaligen Kanzleramt wurde eine koordinierende Funktion wahrgenommen.
({5})
Das fehlt dieser Koalition: politische Führung.
({6})
Sie machen nichts anderes als Selbstblockade und Klientelpolitik. Das ist der Unterschied zu unserer Arbeit,
meine Damen und Herren. In einer Demokratie müssen
Sie es sich gefallen lassen, von der Opposition darauf
angesprochen zu werden.
({7})
Drei Jahre lang herrschte Stillstand. Wenn es einmal
vorangegangen ist, lief das wie beim Basarhandel: Jeder
darf sich einen Keks aus der Schublade nehmen. Die
FDP hat sich die Hotelsteuer gegriffen und die CSU das
Betreuungsgeld. Das ist aber keine ordentliche RegieHubertus Heil ({8})
rungsführung, das ist Basarhandel und nicht das, was unser Land braucht.
({9})
Ich wiederhole: Kein Mensch diskreditiert das Ringen
um gute Lösungen in Parteien, Koalitionen oder zwischen Ministerien - das gehört zur Demokratie dazu -,
aber es muss Ihnen doch bewusst sein, dass Sie auch
noch nach drei Jahren um dieselben Themen und Begriffe kreisen und es trotzdem nicht schaffen, eine anständige Gesetzgebung hinzubekommen.
Herr Kolb, Sie haben die Verhandlungen angesprochen, die wir nächtelang geführt haben. Dabei ging es
um drei Themen: Es ging um das Bildungspaket, es ging
um die Regelsätze, und es ging um Recht und Ordnung
auf dem Arbeitsmarkt.
Zum Thema Mindestlohn. Wir haben eine Bundesministerin, nämlich Frau von der Leyen - dass ich diesen
Punkt anspreche, werden Sie sich schon gefallen lassen
müssen -, der es in der Debatte möglicherweise mehr
um den öffentlichen Effekt geht als um die Sache. Dass
dieser Begriff ständig im Mund geführt wird, ohne dass
tatsächlich Fortschritte beim gesetzlichen Mindestlohn
zu verzeichnen sind, das enttäuscht viele Menschen in
unserem Land. Dass es dazu nicht kommt, dafür tragen
Sie von CDU/CSU und FDP die Verantwortung. Ein
Jahr vor der Wahl hören Sie gänzlich auf, Politik zu machen. In der Koalition geht es Ihnen nur noch um das
Profil von FDP, CDU oder CSU. Thomas Oppermann
hat es vorhin so beschrieben: eine Zeit, die diesem Land
gestohlen wird.
Wir haben Ihnen die Regierung in einer Zeit übergeben, in der wir schwierige Aufgaben gelöst hatten, auch
im Streit und durch Konflikte miteinander, und wir haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Aber am Ende sind
wir immer in der Lage gewesen, zu politischen Ergebnissen zu kommen. Sie aber verweigern die politische
Arbeit, weil die einzelnen Koalitionspartner nur noch an
das Überstehen der nächsten Wahl denken, aber nicht
mehr an den Fortschritt in unserem Land.
({10})
Das Thema Frauenquote ist ein Beweis dafür: Die einen reden so und die anderen reden so, und es kommt
nichts dabei heraus. Das Thema Mindestlohn ist ein weiterer Beweis dafür: Die einen reden so und die anderen
reden so. Auch beim Thema Betreuungsgeld gilt: Die einen reden so und die anderen reden so. - Beim letzten
Punkt ist Ihnen wirklich zu wünschen, dass dabei nichts
herauskommt. In diesem Zusammenhang wäre eine Blockade einmal eine gute Sache. Aber ob Sie den Mut haben, die Mehrheit, die es im Volk gegen diesen Unsinn
gibt, zu einer Mehrheit hier im Hause zu machen, ist zu
bezweifeln. Am Ende des Tages wird sich jeder wieder
einen Keks aus der Schublade nehmen.
Am Ende muss die Bundeskanzlerin die Verantwortung dafür tragen, dass das alles nicht zusammengeführt
wurde. Ich sage Ihnen: Eine Bundeskanzlerin, die so tut,
als hätte sie mit ihrer eigenen Regierung nichts zu tun,
hat Deutschland noch nicht gesehen. Frau Merkel trägt
die Verantwortung dafür, dass unser Land drei Jahre lang
durch Führungslosigkeit gelähmt wurde. Wir werden das
nächstes Jahr ändern.
Herzlichen Dank.
({11})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Christine Lambrecht von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Normalerweise ist der Schluss einer Aktuellen Stunde
ein bevorzugter Rednerplatz, weil man auf die vorgetragenen Argumente eingehen und sich ein bisschen daran
reiben kann. Es ist ja auch Sinn einer Aktuellen Stunde,
dass nicht jeder vorgefertigte Reden hält.
Heute fällt das ein bisschen schwer, weil ich nicht so
richtig weiß, auf welche Argumente ich eingehen soll.
Von Ihnen sind heute so gut wie keine Argumente vorgetragen worden, weil Sie bei den einzelnen Fragen zerstritten sind wie die Kesselflicker. Das Ganze eskaliert
darin, Beschimpfungen auf SPD, Grüne oder Linke zu
lenken. Der Blick auf die Themen, die doch eigentlich so
wichtig sind - Herr Kretschmer, Sie haben es selbst gesagt -, lässt die Zerrissenheit der Koalition deutlich werden. Zu diesen Themen habe ich aber von Ihnen so gut
wie kein einziges Wort gehört.
Das eine oder andere Thema möchte ich jetzt ansprechen. Sie haben gesagt, Herr Kretschmer, wir müssten
über Betreuungsgeld und Frauenquote ausführlicher diskutieren. Dazu hätten Sie heute die Gelegenheit gehabt.
Sie hätten drei weitere Redner ins Rennen schicken können. Dann hätten wir einmal darüber reden können, welche sachlichen Argumente gegen eine Quote sprechen.
Dann wäre schnell herausgekommen, dass es diese sachlichen Argumente nicht gibt. Deswegen stand ja auch
beispielsweise Frau Winkelmeier-Becker heute nicht am
Rednerpult. Sie hätte nämlich etwas ganz anderes gesagt. Hier wurden keine sachlichen Argumente angeführt, die tatsächlich begründen, warum wir auf eine
Quote verzichten sollten.
Frau Bracht-Bendt, Sie haben gesagt, dass Sie eine
Selbstverpflichtung der Wirtschaft wollen und dass das
Ihr Kurs ist. Dazu kann ich nur sagen: Damit sind Sie elf
Jahre zu spät dran. Bereits im Jahr 2001, also vor elf Jahren, gab es eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft
- man kann beklagen, dass wir das damals so gemacht
haben -, und auch damals wurde gesagt: Führt die Quote
nicht ein, wir regeln das alleine, wir klären das, wir sorgen dafür, dass Frauen in entsprechende Führungspositionen kommen. - Jetzt schauen wir uns doch einmal die
Bilanz an. Wie sieht es heute aus? 85 Prozent der Aufsichtsräte und 97 Prozent der Vorstände sind weiterhin
Männer. Jetzt frage ich mich: Was hat diese Selbstverpflichtung in den letzten elf Jahren gebracht?
({0})
Nichts! Und darauf wollen Sie weiter setzen. Das kann
doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
({1})
Herr Kolb, Sie haben gesagt, dass alle in der FDP einer Meinung sind. Sie sollten einmal Ihre Sitznachbarin
fragen. Frau Laurischk sieht das nämlich ganz anders.
Sie ist eine Unterstützerin der Berliner Erklärung. Sie
unterstützt die Forderung nach einer Quote. Sie ist nicht
irgendwer, sondern Vorsitzende eines der wichtigsten
Ausschüsse, nämlich des Ausschusses für Frauen, Familie, Jugend und Senioren.
({2})
Vielleicht klären Sie erst einmal in Ihrer eigenen Fraktion, ob man tatsächlich geschlossen gegen die Quote ist.
Selbst in solchen Beiträgen wird deutlich, dass Sie total
zerstritten sind.
Ich möchte noch auf ein Argument von Frau BrachtBendt eingehen. Sie hat gesagt, jetzt werde alles besser
werden, das entwickle sich alles, die Frauen sollten nur
noch ein bisschen Geduld haben. Wir müssen feststellen,
dass Frauen mindestens genauso gut ausgebildet sind
wie Männer, dass Frauen mindestens genauso gute Qualifikationen mitbringen, aber dennoch - ich habe die
Zahlen genannt - 85 bzw. 97 Prozent der Führungspositionen an Männer gehen. Da stellt man sich doch die
Frage: Wird wirklich nach Qualität entschieden?
Ich zitiere den Personalvorstand der Telekom. Er hat
auf die Frage, ob die Qualität entscheidet, ziemlich freimütig geantwortet - das kann man nachlesen -:
Entscheidungen fallen ebenso durch Seilschaft,
Treuebonus, Netzwerke, strategisches Platzieren
von Vertrauten und Vitamin B wie durch Qualität.
Das wollen Sie weiterhin so haben. Sie wollen akzeptieren, dass Entscheidungen weiterhin so gefällt werden.
Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
({3})
Deswegen kann ich sehr gut verstehen, dass den Kolleginnen und Kollegen, insbesondere den Kolleginnen,
im Bundesrat die Hutschnur geplatzt ist und dass sie gesagt haben: Uns reicht es jetzt. Es gibt keine Sachargumente gegen eine Quote, und deswegen lassen wir uns
nicht länger an die Leine nehmen. Wir lassen uns nicht
länger verpflichten, gegen ein sinnvolles Instrument zu
stimmen. - Deswegen gab es dieses Abstimmungsverhalten. Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen aus der
CDU/CSU-Fraktion, vielleicht auch Frau Laurischk,
sich im anstehenden Verfahren verhalten.
Frau Winkelmeier-Becker hat in einer Debatte im Dezember letzten Jahres erklärt:
Wer glaubt, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode abwarten, ohne dass sich an dieser Stelle
etwas tut, der hat den Schuss nicht gehört.
Damit hat sie recht. Deswegen hätte ich mir gewünscht,
dass sie sich heute hier hingestellt und sich den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundesrat angeschlossen
hätte.
Es wird spannend werden, zu beobachten, wie Sie mit
der Zerrissenheit in Ihren eigenen Reihen - jeder gegen
jeden - umgehen werden: die Bundesländer gegen die
Bundestagsfraktion, und innerhalb der Bundestagsfraktion gibt es auch eine große Gruppe, die anderer Auffassung ist. Dann haben Sie einen Koalitionspartner, der der
Meinung war, dass Sie alle auf Linie sind, wenn es um
die Quote geht. Jetzt muss er aber feststellen, Herr Kolb,
dass einige doch anders denken. Ich bin gespannt, wie
Sie mit dieser Zerrissenheit umgehen werden. Vielleicht
holen Sie ja die Keule „Fraktionsdisziplin“ heraus. Ich
bin gespannt, ob selbstbewusste Abgeordnete sich das
gefallen lassen, ob sie sich in so einer Frage an die Leine
nehmen lassen, ob sie sich einen Maulkorb verpassen
lassen und gegen ihre Überzeugung stimmen. Wir werden diese Abstimmung sehr genau verfolgen.
({4})
Herr Kretschmer, Sie haben gesagt, dass Sie Ihren
Kurs innerhalb der Koalition fortsetzen werden.
({5})
Dazu muss ich zum Schluss sagen: Die Menschen empfinden so eine Ansage als Drohung. Dass Sie diesen
Zickzackkurs, diese Geisterfahrt weiter fortsetzen wollen, kann in diesem Land nur als Drohung empfunden
werden. Ich freue mich darauf, wenn damit endlich
Schluss ist.
Vielen Dank.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen
Rentenversicherung für das Jahr 2013 ({0})
- Drucksache 17/10743 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenbeiträge nicht absenken - Spielräume
für Leistungsverbesserungen nutzen
- Drucksache 17/10779 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Haushaltsausschuss
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzentwicklung ({3})
- Drucksache 17/10775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht darüber Einvernehmen? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen heute den Entwurf des Beitragssatzgesetzes 2013
ein. Die vorgesehene Senkung der Beiträge entspricht
der Rechtslage und ist auch eine Frage von Verlässlichkeit. In einem solchen Umlagesystem wie dem unseren,
einem System einer solidarischen Rentenfinanzierung,
muss sich die einzahlende Generation darauf verlassen
können, dass sie nur so stark belastet wird, wie es die
Renten der aktuellen Rentnergeneration tatsächlich erforderlich machen, und nicht darüber hinaus.
({0})
Es geht um eine Entlastung um voraussichtlich
5,4 Milliarden Euro. Die Rücklage der Rentenkasse läuft
- untechnisch gesprochen - gewissermaßen über, und
zwar dank der guten Konjunktur. Die aktuelle Debatte
dreht sich aber nicht darum, sondern eher um ein strukturelles Problem in der Rentenversicherung, nämlich um
die Frage: Wie können wir die Gerechtigkeitslücke im
Rentensystem, die sich für Geringverdiener immer weiter auftut, schließen? Gerade auch für Geringverdiener,
die jahrzehntelang Vollzeit gearbeitet und eingezahlt haben, muss die goldene Regel einer solidarischen Rentenversicherung gelten: Leistung muss sich auch im Rentensystem lohnen, sonst verliert das Rentensystem seine
Legitimation. Ich finde, auch zusätzliche Vorsorge muss
sich zum Schluss auszahlen.
Es ist gut, dass das Problem inzwischen erkannt worden ist; sonst wäre die Debatte nicht so breit. Es geht um
das Problem, dass, wenn wir jetzt nichts tun, bei sinkendem Rentenniveau
({1})
eine Situation eintritt, dass Geringverdiener nach 35, 40
oder 45 Jahren Beitragszahlungen zum Sozialamt gehen
und dort Grundsicherung beantragen müssen, statt eine
auskömmliche Rente aus dem Rentensystem zu bekommen.
({2})
Wenn es nach langem Arbeitsleben für den Lebensunterhalt nicht reicht, werden wir - nur so kann eine Lösung aussehen - durch Steuermittel aufstocken müssen.
Die Frage ist - das ist eine Gretchenfrage -: Wo? Für die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist es erst einmal irrelevant, ob die Steuermittel in die Grundsicherung gehen oder in das Rentensystem. Aber für die Menschen,
die jahrzehntelang eingezahlt haben und die immer unabhängig von Leistungen des Staates waren, macht es einen himmelweiten Unterschied, ob sie am Ende eines
arbeitsreichen Lebens den Gang zum Sozialamt antreten
müssen und Grundsicherung bekommen oder ob sie ihre
eigene Rente aus der Rentenversicherung bekommen.
Das ist auch eine Frage von Würde und Wert von Arbeit.
({3})
Deshalb steht hier auch die Legitimität des Rentensystems auf dem Prüfstand. Wenn wir nichts tun und
wenn in den kommenden Jahren Geringverdiener nach
40 oder 45 Jahren Arbeit und Beitragszahlungen zunehmend in der Grundsicherung landen, dann blutet das solidarische Rentensystem langsam, aber sicher von unten
aus. Deshalb finde ich, dass wir hier in einer grundsätzlichen Debatte und auch an einer Wegscheide sind.
Es muss einen Unterschied machen, ob man ein Leben lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet und
Pflichtbeiträge gezahlt hat und dann im Alter eine eigene
Rente aus der Rentenversicherung bekommt, oder nicht.
Es kann nicht sein, dass man dann im Alter in die Grundsicherung fällt wie diejenigen, die keinen Cent eingezahlt haben und keinen einzigen Tag gearbeitet haben.
({4})
Das entwertet nicht nur Arbeit, sondern das entwertet
auch Leistung. Für mich gilt immer noch das Prinzip,
dass sich Lebensleistung und Arbeit auch in der Rente
auszahlen müssen, meine Damen und Herren.
({5})
Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD. Was das Prinzip der Solidarrente betrifft, haben
Sie die richtige Entscheidung getroffen, nämlich die Entscheidung, nach einer Lösung im Rahmen der Rentenversicherung zu suchen; das macht die Solidarrente ja
der Zuschussrente so ähnlich. Aber was für eine Enttäuschung sind die letzten 14 Tage gewesen, als Sie angefangen haben, Ihr Rentenkonzept zu präzisieren! Ihnen
ist innerhalb von 14 Tagen plötzlich der Mut abhandengekommen, zu Ihren eigenen Reformvorschlägen zu stehen.
({6})
Jetzt schlagen Sie vor, man solle nach 45 Versicherungsjahren - nicht Beitragsjahren, sondern Versicherungsjahren - abschlagsfrei in Rente gehen können. Das ist die
klare Absage an „Arbeiten bis 67“. Sie machen eine
Rolle rückwärts.
({7})
Dass Sie von Versicherungsjahren sprechen, hat zur
Folge, dass auch Zeiten des Studiums, Zeiten von
Krankheit, die Schulzeit, Zeiten der Kindererziehung
und der Pflege berücksichtigt werden. Für Akademikerinnen und Akademiker wie mich - ich habe acht Jahre
studiert - bedeutet dies, dass die Zeit des Studiums als
Versicherungszeit mitgezählt wird.
({8})
Abschlagsfrei nach 45 Jahren in Rente gehen zu können,
ganz egal, wie alt man ist, bedeutet: Dann können sehr
viele frühzeitig in Rente gehen und unbegrenzt hinzuverdienen. Ihr System hätte zur Folge, dass man 8 bis
10 Milliarden Euro obendrauf benötigen würde. Wer
muss das zahlen?
({9})
Die junge Generation.
({10})
Diese Rechnung geht nicht auf.
Die Lebenserwartung unserer Generation ist in den
letzten 50 Jahren um durchschnittlich zehn Lebensjahre
gestiegen. Unsere Generation hat allerdings nur relativ
wenige Kinder bekommen. Diese Kinder werden später
unsere Renten zahlen müssen. Es kann doch nicht sein,
dass Sie mitten in dieser Zeit eine Rolle rückwärts machen und sagen: Ihr könnt früher aus dem Arbeitsleben
ausscheiden.
Ich bin dafür, dass Menschen, die körperlich am Ende
sind, aus dem Arbeitsleben ausscheiden können - für sie
müssen wir einen Übergang organisieren -,
({11})
aber ich bin nicht dafür, dass Leute, die topfit sind, nach
45 Jahren einfach Tschüss sagen können. Das, meine
Damen und Herren, geht nicht.
Wenn man sich Ihr Rentenkonzept anschaut, dann
sieht man, dass Sie bei den Beitragsmitteln auf einen Betrag von bis zu 25 Milliarden Euro zusätzlich kommen,
den Sie der jungen Generation mal eben vor die Füße
werfen.
({12})
Hinzu kommen Steuermittel in Höhe von 8 bis 10 Milliarden Euro. Deshalb, meine Damen und Herren von der
Opposition: Wer das Rad der Reformen zurückdrehen
will, der schließt keine Gerechtigkeitslücke.
Frau von der Leyen?
Stellen Sie sich dieser Lücke, ohne eine Rolle rückwärts zu machen.
Danke schön.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der
Kollegin Bulling-Schröter.
({0})
- Das Unterbrechen einer Rede ist manchmal nicht so
leicht, wenn keine Pause zum Luftholen gemacht wird.
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Josip Juratovic
von der SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Nach Ihrem Vortrag habe ich das Gefühl, Sie
haben sich in der Tagesordnung vertan.
({0})
Sie haben gerade zu einem völlig anderen Thema als zu
dem gesprochen, das wir laut Tagesordnung jetzt zu behandeln haben.
({1})
In der Tagesordnung steht, dass es in dieser Debatte um
die Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen
Rentenversicherung für das Jahr 2013 geht. Aber Sie haJosip Juratovic
ben über eine Rentenreform gesprochen und einen
Rundumschlag gemacht.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, hier
wird ja oft und gerne die schwäbische Hausfrau zitiert,
wenn es um die Haushaltspolitik geht. Für mich als
Schwaben gilt die Weisheit: Man muss in guten Zeiten
sparen, um in schlechten Zeiten etwas zu haben.
({2})
Diese Weisheit muss auch im Hinblick auf die Rentenversicherung gelten.
({3})
Wir müssen in konjunkturell guten Zeiten etwas zurücklegen, damit wir davon zehren können, wenn die Wirtschaft nicht so gut läuft, wenn viele Renten ausgezahlt
werden müssen und es weniger Beitragszahler gibt, sei
es aufgrund höherer Arbeitslosigkeit oder aufgrund des
demografischen Wandels.
({4})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Sie planen das Gegenteil dessen, was die schwäbische
Hausfrau machen würde.
({5})
Sie wollen jetzt die Ersparnisse der Rentenversicherung
ausbezahlen und die Beitragssätze später schnell und
kräftig erhöhen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, dass
Sie sich schon jetzt überlegen müssen, wie Sie den Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Jahre 2020 erklären
wollen, dass die Beiträge zur Rentenversicherung ziemlich abrupt stark steigen werden.
({7})
- Möglicherweise werdet ihr nicht regieren.
({8})
Wir Sozialdemokraten wollen dagegen einen stabilen
Beitragssatz von 19,6 Prozent, der bis 2025 gesichert ist.
Wir wollen kein Hickhack wie die Bundesregierung, die
die Beiträge jetzt wahrscheinlich aus wahltaktischen
Gründen senken will, um sie später massiv zu erhöhen.
({9})
In unserem SPD-Gesetzentwurf wird zudem das Sparen
erlaubt, indem die Regelung aufgehoben wird, dass die
Rentenversicherung maximal bis zum Eineinhalbfachen
ihrer monatlichen Ausgaben ansparen darf.
Die schwäbische Logik, dass man in guten Zeiten
spart, wird auch von den allermeisten Menschen in unserem Land geteilt.
({10})
Knapp 80 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger sind dafür, jetzt bei der Rentenversicherung Geld zu belassen,
anstatt später mit einem hohen Anstieg der Beiträge konfrontiert zu werden. Ich freue mich, dass auch einige
junge CDU-Abgeordnete dies so sehen.
({11})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
man muss keine Politik nach Umfrageergebnissen machen, aber wenn eine derart breite Mehrheit gegen die eigenen Pläne ist, dann sollte man schon noch einmal darüber nachdenken, ob die Menschen in unserem Land
nicht vernünftiger sind, als es ihnen einige hier zutrauen.
({12})
Herr Kolb, Sie sagen öffentlich: Die Rentenversicherung ist keine Sparkasse, deswegen muss das überschüssige Geld ausbezahlt werden.
({13})
Gleichzeitig nutzt Ihre Regierung die Rentenversicherung im aktuellen Haushalt aber als Sparkasse, und zwar
zum Abheben.
({14})
Mit dem sogenannten Konsolidierungsbeitrag und dem
Vorwegabzug bedient sich die Bundesregierung munter
mit über 2 Milliarden Euro jährlich aus der Rentenkasse.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie sagen, dass Sie der Rentenversicherung das
Ansparen von Geld verbieten, weil sie keine Sparkasse
sei, dann dürfen Sie die Rentenversicherung auch nicht
als Sparkasse zum Abheben benutzen.
({16})
Sie kennen mich hier im Plenum des Bundestages als
einen Verfechter von guten Löhnen für gute Arbeit. Das
ist eines der wichtigsten Elemente, um Altersarmut in
Zukunft zu vermeiden. Nur wer einen guten Lohn hat,
bekommt später auch eine gute Rente.
({17})
Frau von der Leyen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie sich endlich auch einmal dafür einsetzen würden,
dass wir einen flächendeckenden Mindestlohn bekommen,
({18})
und Sie nicht immer nur von Armut reden und nicht immer nur die Menschen bemitleiden und der Welt erklären
würden, wie schlimm es mit den Armen aussieht. Man
muss auch etwas dagegen tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
lesen Sie unseren Gesetzentwurf sorgfältig, und handeln
Sie mit uns Sozialdemokraten und damit mit 80 Prozent
unserer Gesellschaft, die vernünftigerweise dagegen
sind, den Beitragssatz zu senken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Juratovic,
um mit Ihrer Bemerkung zur Sparkasse anzufangen: Ja,
die Nachhaltigkeitsrücklage hat in der Tat eine Liquiditätsausgleichsfunktion. Das hat man an dem früheren
Namen „Schwankungsreserve“ noch deutlicher erkennen
können, aber auch bei der Nachhaltigkeitsrücklage geht
es schlicht und einfach darum, unterjährige Schwankungen der Liquidität der Rentenversicherung,
({0})
aber auch kurzfristigere Schwankungen der Liquidität
im Konjunkturzyklus auszugleichen.
({1})
Ich will zunächst einmal sehr deutlich darauf hinweisen, dass das auch nach der von uns beabsichtigten Beitragssenkung so sein wird.
({2})
Am Ende des Jahres 2013 wird die Nachhaltigkeitsrücklage trotz Beitragssenkung 28 Milliarden Euro betragen
und damit den höchsten Stand in der jüngeren Geschichte der Rentenversicherung haben. Das heißt, hier
sind ausreichend Mittel und Reserven vorhanden, um
auch künftig solche Ausgleiche darstellen zu können.
({3})
Der Gesetzgeber hat 1992 Bandbreiten festgelegt, die
immer wieder einmal variiert wurden. Auch die SPDFraktion hat hieran zu ihrer Regierungszeit kräftig mitgewirkt. Aber es bestand immer Konsens darüber, dass
es erstens darum geht - ich könnte Ihnen dazu Zitate liefern, ich habe sie dabei -, mit möglichst niedrigen Rentenbeiträgen dämpfend auf die Lohnnebenkosten einzuwirken. Das hat hier Herr Riester betont. Das hat Frau
Mascher, als sie noch Staatssekretärin war, in diesem
Hause erklärt.
({4})
- Ich weiß, Frau Kollegin Ferner, das spielt für die SPD
keine entscheidende Rolle mehr.
({5})
Für uns ist das zweitens weiterhin ein Argument, weil
es darum geht, in einer globalen Wirtschaft wettbewerbsfähig zu sein und dafür zu sorgen, dass in Deutschland ein möglichst hohes Maß an Beschäftigung erhalten
wird. Dann spielen auch solche Fragen eine Rolle.
Es geht hier drittens schlicht und einfach um die Entlastung der Beitragszahler in einer Größenordnung von
6 Milliarden Euro.
({6})
Das ist deren Geld. Es muss den Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmen auch zurückgegeben
werden, weil sie es in die Kasse eingebracht haben.
Wenn es derzeit nicht gebraucht wird, dann ist es gut investiertes Geld.
Ich will Ihnen das einmal vor Augen führen. Wenn
wir zu der Entlastung von 6 Milliarden Euro das Entlastungsvolumen von 6,5 Milliarden Euro durch die Beseitigung der kalten Progression hinzufügen, was Sie derzeit im Vermittlungsausschuss blockieren, dann ist das
ein recht schönes, ansehnliches Konjunktur- und Wachstumspaket von 12,5 Milliarden Euro, mit dem man gerade in der jetzigen Situation, in der wir nicht so recht
wissen, wie es mit der Konjunktur weitergeht, einen
nachhaltigen Effekt erzielen könnte.
Sie wollen das nicht. Sie marginalisieren das. Sie sagen: Das sind vielleicht 3,50 Euro oder 4 Euro pro Beitragszahler. Für einen Durchschnittsverdiener, einen Arbeitnehmer, ist das immerhin eine Entlastung von
100 Euro.
({7})
- Nein, im Jahr. - Sie sagen vielleicht: Das ist wenig.
Für die betroffenen Menschen ist das aber wirklich Geld.
Ich glaube, sie sind dankbar, wenn sie es zurückbekommen.
Aber es ist längst nicht nur das - das vergessen Sie
nämlich in der Debatte immer -: Es werden noch andere
entlastet.
({8})
Durch den abgesenkten Beitrag werden zum Beispiel die
Länder und Kommunen entlastet, in denen nicht nur Beamte, sondern auch Angestellte tätig sind, für die Rentenbeiträge entrichtet werden müssen. Von der Absenkung des Rentenbeitrags profitieren am Ende auch die
Rentner, die im folgenden Jahr eine um 0,8 Prozentpunkte höhere Rentenanpassung bekommen werden,
weil wir zum 1. Januar 2013 den Rentenbeitrag senken.
Diese Mechanismen in der Rentenversicherung sind
nicht immer für jeden durchschaubar. Aber das ist ein
Argument. Ich glaube, die Rentnerinnen und Rentner in
diesem Lande werden uns sehr dankbar dafür sein, dass
wir durch die Ausnutzung von Spielräumen positiv auf
ihre Renten einwirken.
({9})
Schließlich komme ich auf Ihre Idee zu sprechen:
Man möge doch auf die Beitragssenkung verzichten und
das Geld ansammeln, dann sei genug da, um das Rentenniveau bis 2030 zu stabilisieren. Die Wahrheit, die dahintersteckt, ist folgende: Wer das wirklich will, der
muss den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel abschaffen.
({10})
Da warne ich aber Neugierige. Herr Kollege Juratovic,
Sie erinnern sich noch: Die SPD war schon einmal auf einem solchen Trip. Die Koalition Kohl/Kinkel hatte einen
demografischen Faktor eingeführt. Schröder hat damit
Wahlkampf gemacht, dass er ihn beseitigen werde. Fünf
Jahre nach seiner ersten Wahl hat er in diesem Haus, an
diesem Podium einräumen müssen: Es war ein Fehler gewesen, dass wir diesen demografischen Faktor abgeschafft haben. Er hat den Nachhaltigkeitsfaktor - er sollte
mit einem anderen Namen ein bisschen besser aussehen,
ist aber wirkungsgleich - wieder eingeführt.
Nur wenn Sie diesen Nachhaltigkeitsfaktor abschaffen, können Sie die Absenkung des Rentenniveaus verhindern, die im Übrigen nicht im Gesetz steht. Auch da
denken Sie falsch, an dieser Stelle liegen Sie nicht richtig. Es steht nicht im SGB VI: Das Rentenniveau wird
auf 43 Prozent abgesenkt. - Dort ist nur von einer Überwachungsmarke die Rede. Sollte das Niveau in diese
Größenordnung absinken, muss der Gesetzgeber tätig
werden. Aber die Entwicklung ist durchaus differenziert
zu sehen. Im letzten Jahr hat der Nachhaltigkeitsfaktor
sogar rentensteigernd gewirkt.
({11})
Das ist also kein Automatismus. Wir sind derzeit deutlich besser unterwegs, als man es vermuten konnte. Das
Rentenniveau wird nach allem, was wir wissen, auch im
Jahr 2025 noch deutlich über 46 Prozent liegen. Das ist
auch ein Erfolg der guten Beschäftigungspolitik dieser
Bundesregierung.
({12})
Wenn Sie jetzt wissen wollen: „Was kann man tun?“,
dann empfehle ich Ihnen den Kommentar von Peter
Thelen in der heutigen Ausgabe im Handelsblatt. Er
sagt: Es geht jetzt darum, die Erwerbstätigenquote möglichst hoch zu halten. Es war richtig, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen. Er schreibt, wir sollten
versuchen, mehr Teilzeitbeschäftigung in Vollzeitbeschäftigung umzuwandeln, weil das - das ist im SGB VI
geregelt und kompliziert - zu mehr Äquivalenzrentnern
und Äquivalenzbeitragszahlern führt, also über den
Nachhaltigkeitsfaktor positiv auf das Rentenniveau
wirkt. Er schreibt, der Effekt wäre auch dann positiv,
wenn es uns gelingt, mehr über 60-Jährige als bisher in
Beschäftigung zu halten. Dafür werben wir seit Jahren
mit flexiblen Übergängen vom Erwerbsleben in den Ruhestand.
Schädlich, schreibt er, wären Mindestlöhne. Denn
diese würden wahrscheinlich dazu führen, dass in
Deutschland viele Arbeitsplätze von Beschäftigten verloren gingen,
({13})
die heute mit in unsere Sozialkassen einzahlen.
Deswegen: Sie sollten von Ihren Plänen Abstand nehmen. Das Fairste und Gerechteste wäre es, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jetzt das zurückzugeben, was ihnen zusteht, nämlich das, was zu viel an
Beiträgen in der Rentenkasse vorhanden ist.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Matthias Birkwald.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundesministerin von der Leyen hat gesagt:
„Wir müssen heute handeln, damit uns diese Welle der
Altersarmut nicht eines Tages überrollt.“ Sie hat völlig
recht.
Doch was tut sie? Ihre Zuschussrente gleicht dem
Versuch, eine Flutwelle mit Regenschirmen bekämpfen
zu wollen. Aber die Mehrheit von CDU/CSU und FDP
gönnt den Menschen nicht einmal die Regenschirme.
Das ist bitter, und das ist schäbig. Doch das ist SchwarzGelb, und genau das muss sich ändern.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und
FDP wollen nichts Wirksames gegen die Rentenarmut
tun. Das ist schlimm genug. Aber schlimmer noch:
Union und Liberale sind dabei, mit der Beitragssatzsenkung weiter Öl ins Feuer zu gießen. Das ist ungeheuerlich.
Alle drei Vizekanzlerkandidaten der SPD spielen dieses böse Spiel auch noch mit, wenn sie an der Absenkung des Rentenniveaus weiterhin festhalten wollen.
({1})
Das müssen alle wissen, wenn wir heute auch über den
Gesetzentwurf der SPD reden. Denn dieser Gesetzentwurf sieht keine Leistungsverbesserungen vor, weder für
die heutigen Rentnerinnen und Rentner noch für die zukünftigen.
Ich sagen Ihnen: Wir brauchen keinen Demografiefonds. Wir brauchen einen Rentenarmutsverhinderungsfonds, um es mal auf Von-der-Leyisch zu sagen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union, FDP und
SPD, Sie wollen über Rentenarmut reden - gut. Aber
eine zentrale Ursache dafür wollen Sie unangetastet lassen, nämlich das Rentenniveau. Es soll weiter bis zum
Jahr 2030 beständig sinken, und zwar - ich formuliere
korrekt, Herr Kollege Kolb - im schlimmsten Fall von
heute knapp 50 Prozent auf magere 45 oder sogar nur
43 Prozent. Wenn sich daran nichts ändert, werden in
Zukunft Millionen von fleißigen Menschen, Frau Ministerin, mit Armutsrenten in der Altersarmut landen.
Darum sagen wir Linken Ihnen: Das Rentenniveau
muss wieder angehoben werden, und zwar so, dass der
Lebensstandard wieder gesichert wird,
({3})
und so, wie es vor dem Rentenkahlschlag von SPD und
Grünen gewesen war. Das Mindeste ist, das Rentenniveau jetzt nicht weiter zu senken. Darum dürfen auch die
Rentenversicherungsbeiträge nicht weiter gesenkt werden.
({4})
Meine Damen und Herren, der Deutsche Gewerkschaftsbund hat recht. Das Vorstandsmitglied Annelie
Buntenbach hat gestern gesagt: „Wer den Rentenbeitrag
senkt, erhöht das Altersarmutsrisiko der jungen Generationen.“ So ist es. Darum ist es kein Wunder, dass
86 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dafür sind, Frau
Ministerin, die Beiträge jetzt nicht zu senken. Das ist der
größte Wert in der gesamten Bevölkerung. Das ist auch
verständlich. Denn wer 2 000 Euro brutto im Monat verdient, würde für den Rentenbeitrag nur 6 Euro weniger
zahlen. Für Beschäftigte mit Durchschnittsverdienst wären es gerade einmal 8 Euro.
Was aber sind 8 Euro weniger im Vergleich zu den
drastischen Rentenkürzungen, die mit dem sinkenden
Rentenniveau zu erwarten sind? Was ist, Herr
Straubinger, noch nicht einmal eine Maß Bier auf dem
Oktoberfest im Vergleich zu den drastischen Kürzungen
durch die Rente erst ab 67?
({5})
Die jungen Beschäftigten haben das verstanden, und genau deshalb dürfen die Beiträge im Interesse der jungen
Generation, Frau Ministerin, nicht abgesenkt werden.
Wenn Union und FDP heute die Beiträge senken wollen, dann müssen sie auch sagen, dass den heute jungen
Beschäftigten morgen, im Rentenalter, die Rechnung dafür präsentiert wird. Die Rechnung wird für die jungen
Beschäftigten heute heißen: niedrige Renten und massenhaft Armutsrenten. Das darf nicht sein. Ihnen das zu
sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU,
CSU und FDP, dazu sind Sie aber leider zu feige.
Wir brauchen wirklich jeden Cent, um Altersarmut zu
vermeiden. Dazu gehört: Die Rente erst ab 67 abschaffen! Dazu gehört auch, die ungerechten Abschläge für
Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen - oder
weil sie schlicht nicht mehr arbeiten können - vorzeitig
in die Erwerbsminderungsrente gehen müssen, abzuschaffen. Dazu gehört, endlich die Rehaleistungen nach
dem tatsächlichen Bedarf und nicht nach der Kassenlage
zu finanzieren.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Eine andere,
eine bessere Rentenpolitik ist nötig, und sie ist machbar.
Herzlichen Dank.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, wir haben im Moment ja eine ganze
Reihe von Baustellen in der Rentenversicherung: Dabei
geht es um die Altersarmut und die soeben zu Recht angesprochene Erwerbsminderungsrente. Wir müssen etwas beim Rehadeckel ändern, und die bessere Absicherung von Selbstständigen sowie die Angleichung der
Renten in Ost und West müssten eigentlich angegangen
werden. Die Liste ließe sich noch weiter verlängern.
In so einer Situation sind zwei Dinge wichtig: Erstens. Man muss all diese Projekte zusammendenken.
Zweitens. Man muss langfristig herangehen. Denn die
Rente braucht vor allen Dingen eines: Verlässlichkeit.
In beiden Punkten versagt diese Bundesregierung,
insbesondere die Ministerin, weil die einzelnen Aspekte
nicht zusammengedacht werden. Es wird alle paar Wochen wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Gestern war es die Riester-Rente, vor ein paar Wochen war
es die Altersarmut und vor ein paar Monaten waren es
die Selbstständigen, die sich zu Recht dagegen gewehrt
haben, was ihnen in diesem Zusammenhang vorgeschlagen worden ist. Man muss die Dinge wirklich zusammendenken.
({0})
Das geschieht aber nicht.
Außerdem muss man langfristig denken. Damit bin
ich bei dem Beitragssatz. Es hat bisher noch niemand
deutlich gesagt, dass die jetzige Beitragssatzsenkung in
bereits wenigen Jahren eine um so stärkere Beitragssatzsteigerung bedeutet.
({1})
Das kann man den Berechnungen der Bundesregierung
entnehmen und im letzten Rentenversicherungsbericht
nachlesen, Herr Straubinger. Spätestens 2019 soll der
Beitragssatz wieder stärker ansteigen. Das ist auch logisch; denn wir brauchen aufgrund der demografischen
Entwicklung in der Zukunft ja einen höheren Beitrag.
Wenn wir jetzt weiter heruntergehen, muss der Beitragssatz später umso stärker ansteigen. Auch von daher wäre
es das Beste, eine möglichst konstante Beitragssatzentwicklung zu haben. Das ist insbesondere für die Wirtschaft, die Ökonomie, aber auch für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger besser, weil sie sich darauf verlassen
können.
({2})
Also, das Ganze ist Stückwerk und sehr kurzfristig
gedacht. Das ist vielleicht verständlich; denn die Regierung plant nur noch bis September nächsten Jahres, weil
es dann eine neue Regierung geben soll.
Jetzt, da so viel grundsätzlich über die Rente diskutiert wird, wäre der richtige Zeitpunkt, über diesen Anpassungsmechanismus nachzudenken. Wir haben jetzt
sinkende Renten und sinkende Beitragssätze, und das
kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
In der Haushaltsdebatte gab es zum Beispiel einen
Vorschlag des Kollegen Karl Schiewerling aus Ihrer
Fraktion, über den man nachdenken könnte, nämlich die
Nachhaltigkeitsrücklage auf drei Monatsausgaben zu erhöhen. Es ist wichtig, die Dinge einmal zusammenzudenken und zu schauen: Was brauchen wir, wie soll es finanziert werden, und wie bekommen wir das mit
stabilen Beitragssätzen hin?
Ich möchte zum Schluss noch auf das Rentenniveau
eingehen. Dazu hatte Herr Kolb tatsächlich etwas Richtiges gesagt.
({3})
Er hat gesagt, die Senkung des Rentenniveaus stehe in
keinem Gesetz und sei auch von niemandem - auch
nicht von Rot-Grün - beschlossen worden. Wir haben
damals vielmehr gesagt, dass wir die Rente umstellen
und eine konstante Beitragssatzentwicklung wollen. Das
ist eine sehr vernünftige Sache. Das Rentenniveau entwickelt sich dann nach der Rentenformel.
In der Rentenformel gibt es zwei wesentliche Punkte,
nach denen sich das Rentenniveau bestimmt.
({4})
Der erste ist die Lohnhöhe, und der zweite sind die Menschen, die in die Rentenversicherung einzahlen. Bei beiden Punkten gibt es noch sehr viel Luft nach oben.
Punkt eins. Wir brauchen bessere Löhne. Wir brauchen
einen Mindestlohn, branchenspezifische Mindestlöhne
und eine stärkere Tarifbindung. Insgesamt brauchen wir
höhere Löhne. Allein dadurch würde das Rentenniveau
steigen.
({5})
Punkt zwei. Auch bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist noch Luft nach oben, und zwar
deutlich. Es wird gerühmt, dass wir zurzeit mit ungefähr
29 Millionen relativ hoch liegen. Aber es gibt insgesamt
40 Millionen Erwerbstätige. Die Lücke zwischen der
Zahl der Erwerbstätigen und der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war selten so groß wie
heute. Das heißt, wir müssen dazu kommen, dass diejenigen, die erwerbstätig sind und nicht in die Rentenversicherung einzahlen, wieder rentenversicherungspflichtig werden.
Auch das ist eine Möglichkeit, um langfristig das
Rentenniveau zu erhöhen, und zwar bei einer stabilen
Beitragsentwicklung. Aber dafür muss man nachhaltig
agieren und die Dinge zusammendenken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, die Lücke zwischen der
Zahl der möglichen Erwerbstätigen - das sind 50 Millionen - und den tatsächlich Erwerbstätigen - das sind
41 Millionen - war noch nie so klein. Früher war das anders. Als noch Rot-Grün regiert hat, gab es nur 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Nun
sind es 29 Millionen. Das ist der große Erfolg der Bundesregierung.
({0})
Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der Rentenversicherung wider.
Die Koalition steht für Verlässlichkeit in der Rentenpolitik. Unter Rot-Grün wurde die Nachhaltigkeitsrücklage auf 1,5 Monatsausgaben festgesetzt. Möglicherweise hat damals niemand von Rot-Grün daran gedacht,
dass diese Rücklage jemals erreicht werden wird.
({1})
Nun haben wir es erreicht. Das führt automatisch dazu,
dass wir die Rentenversicherungsbeiträge zu senken
haben. Das tun wir auch. Unser Ansinnen ist nicht wahlkampftaktisch geprägt. Vielmehr kommen wir dem gesetzlichen Auftrag nach, die Rentenversicherungsbeiträge zu senken. Dies ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, der Betriebe in unserem Land sowie
der Rentnerinnen und Rentner. Aufgrund der Nettolohnbezogenheit werden höhere Rentenanwartschaften im
nächsten Jahr erworben. Dies ist die positive Botschaft,
die aus unserer Rentengesetzgebung resultiert.
({2})
Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Birkwald von der Fraktion Die Linke?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank, Herr
Straubinger, dass Sie meine beiden Zwischenfragen zulassen. - Die erste Frage lautet: Sie haben eben gesagt,
es sei gesetzlich festgelegt, dass die Nachhaltigkeitsrücklage ab einer bestimmten Größenordnung gesenkt
werden müsse. Stimmen Sie mir zu, dass wir als Gesetzgeber das Gesetz ändern könnten?
Meine zweite Frage lautet: Sie stellen das alles so dar,
als ob Einigkeit in der Union herrschte. Mir liegt ein Antrag vor, der vom Saarland - dessen Ministerpräsidentin
ist Ihre CDU-Kollegin mit dem schönen, langen Namen
Kramp-Karrenbauer - im Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik des Bundesrates eingebracht wurde. Sie hat
etwas sehr Vernünftiges eingebracht. Ich zitiere:
Der Bundesrat lehnt die sich aus der aktuellen Gesetzeslage voraussichtlich ergebende Senkung des
Beitragssatzes für die gesetzlichen Rentenversicherung ab. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung stattdessen auf, dafür Sorge zu tragen, dass in
der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Ausbau der Nachhaltigkeitsrücklage zu einer Generationen-Reserve zügig begonnen wird.
Thüringen und Sachsen-Anhalt finden das auch gut.
Was sagen Sie denn dazu?
Zu Ihrer ersten Frage. Natürlich könnten wir als Gesetzgeber das ändern. Aber wir wollen das nicht ändern,
({0})
weil es im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Betriebe sowie der Rentnerinnen und Rentner
ist, wenn der Beitragssatz zum 1. Januar nächsten Jahres
auf 19 Prozent abgesenkt wird. Dann haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld in der Tasche. Sie werden bei den Beiträgen entlastet. Ich bin
schon verwundert: Die SPD und vor allen Dingen die
Linken sagen immer, die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse gestärkt werden. Wir stärken die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber Sie stellen sich dagegen. Das verstehe ich
nicht.
({1})
Wir machen das auch generationengerecht. Das Rentenniveau hängt von der Beschäftigungslage ab. Das Beschäftigungsniveau ist zurzeit sehr hoch. Ich bin zuversichtlich, dass wir es auch in Zukunft hoch halten bzw.
sogar ausbauen werden, insbesondere wenn Union und
FDP weiterhin gemeinsam regieren.
({2})
Frau Ferner, da täuschen Sie sich gewaltig.
Zu Ihrer zweiten Frage. Sicherlich gibt es auch Stimmen in der Union, die für eine höhere Nachhaltigkeitsrücklage sind. Ich frage mich aber, ob das auch gut angelegtes Geld ist. Die gesetzliche Rentenversicherung
verfügt derzeit über eine Rücklage von 28 Milliarden
Euro. Die Anlagemöglichkeiten für die Rentenversicherung sind bekanntermaßen sehr begrenzt.
({3})
Sie beschränken sich auf den Kauf von Staatsanleihen
Deutschlands - das ist in Ordnung und richtig so - und
vielleicht noch anderer Länder, die auch als sicher gelten. Diese erwirtschaften aber in der Regel einen Ertrag,
der so gering ist, dass er durch die Inflation wieder aufgezehrt wird und somit eine negative Rendite erwirtschaftet wird.
({4})
- Herr Birkwald, bleiben Sie stehen. Sie haben mich gefragt, und so viel Anstand müssen Sie schon aufbringen.
({5})
Das bedeutet: Wenn wir die Nachhaltigkeitsrücklage
noch erhöhen würden,
({6})
was Sie in Ihrem Antrag fordern und was auch im Gesetzentwurf der SPD beabsichtigt ist, würden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Verluste erleiden. Das
können wir diesen nicht zumuten.
({7})
Mit unserem Gesetzentwurf schaffen wir die gesetzliche Grundlage. Ich bin überzeugt - das habe ich schon
zum Ausdruck gebracht -, dass damit letztendlich den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betrieben
und den Rentnerinnen und Rentnern gedient ist. Angesichts der Tatsache, dass die konjunkturellen Aussichten
nicht mehr ganz so positiv sind wie in der Vergangenheit, setzen wir mit unserer Maßnahme einen konjunkturellen Impuls. Kollege Kolb hat darauf hingewiesen: Es
handelt sich um eine Entlastung von knapp 6 Milliarden
Euro für die Betriebe bzw. die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Sie blockieren zusätzlich im Bundesrat
eine steuerliche Entlastung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer durch die Abschaffung bzw. Abflachung
der kalten Progression. Insgesamt wäre das eine Entlastung von 12 Milliarden Euro. Dies würde wirtschaftsMax Straubinger
politisch einen kräftigen Impuls darstellen und für mehr
Arbeitsplätze und damit mehr Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler in unserem Land sorgen.
({8})
Deshalb sollten Sie von der Opposition sich diesem Ansinnen der Bundesregierung nicht entziehen. Im Gegenteil, Sie sollten den Gesetzentwurf der Bundesregierung
unterstützen. Das wäre meines Erachtens die bessere
Position.
Die SPD hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der
zum Ziel hat, die Begrenzung der Nachhaltigkeitsrücklage auf 1,5 Monatsrenten abzuschaffen und von jeglicher Begrenzung abzusehen. Sie von der SPD bleiben
natürlich die Antwort schuldig, wie hoch eine Nachhaltigkeitsrücklage überhaupt sein soll. Möglicherweise ist
das gar nicht vorgesehen, weil Ihr Rentenkonzept darauf
abzielt - die Kollegen haben schon darauf hingewiesen -, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ständig zu belasten, damit Sie die Rente mit 67 wieder rückgängig machen können - die Frau Bundesministerin hat
darauf hingewiesen ({9})
und um andere rentenpolitische Entscheidungen, die notwendig waren, um eine dauerhafte Beitragssatzstabilität
in der gesetzlichen Rentenversicherung in Zukunft zu erreichen, zu revidieren.
Möglicherweise wollen Sie weitere Ausgaben damit
finanzieren. Das ist das einzige Ansinnen der SPD - Herr
Kollege Juratovic, Sie schütteln mit dem Kopf -, das in
dem Gesetzentwurf, der in den Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, zum Ausdruck kommt. Sie wollen
letztendlich Finanzmittel bei den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern abkassieren, um sich eigene Wünsche zu
erfüllen und sich den Gewerkschaften wieder anzunähern. Das ist das Ansinnen Ihres Gesetzentwurfes und Ihrer Politik.
Herr Straubinger, der Kollege Ernst würde Ihnen auch
gern die Gelegenheit geben, auf eine Zwischenfrage zu
antworten.
Dem bin ich so in Herzlichkeit verbunden, da kann
ich nicht ablehnen.
Bitte schön, Herr Ernst.
Herr Straubinger, danke. - Würden Sie mir zustimmen, dass die Gelder, die jetzt in der Rentenkasse sind,
den Rentnern dann zugutekommen, wenn sie in irgendeiner Form ausgezahlt werden? Würden Sie mir auch zustimmen, dass, wenn man dieses Geld jetzt durch eine
Beitragssenkung verbrät, dies den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, die irgendwann Rentnerin und
Rentner werden, nur zur Hälfte zugutekommt, weil die
andere Hälfte ja den Arbeitgebern zugutekommt? Würden Sie unter dieser Bedingung tatsächlich den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen der SPD, die Rentenbeiträge jetzt nicht zu kürzen, ein Griff in die Tasche der
Menschen ist, die diese Beiträge erwirtschaftet haben,
also die abhängig Beschäftigten? Ist es nicht vielmehr eigentlich im Interesse gerade der jungen Generation, jetzt
durch eine vernünftige Verwendung der Rentenbeiträge
zu einer Sicherung des Rentenniveaus beizutragen, damit sie später nicht in Altersarmut geschickt wird?
({0})
Meine letzte Frage: Würden Sie unter all diesen Bedingungen den Satz aufrechterhalten, dass das Ansinnen,
den Rentenbeitrag jetzt nicht zu kürzen, darauf abzielt,
in die Tasche der Menschen zu greifen, die in den Betrieben arbeiten?
({1})
Natürlich ist das Ganze ein Griff in die Taschen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch der
Betriebe. Vor allen Dingen, Herr Kollege Ernst, ist Ihr
Ansinnen ja nicht, eine Demografierücklage zu bilden.
({0})
Ihr Ansinnen ist, mehr Leistungsversprechen zu erfüllen.
({1})
Genau das ist nicht im Sinne der jungen Generation.
Herr Kollege Ernst, derzeit sind in Deutschland 50 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl
wird sich bis zum Jahr 2030 auf 42 Millionen vermindern. Die Prognosen besagen, dass es in Deutschland im
Jahr 2060 nur noch 32 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter geben wird. Angesichts dessen würde man
den künftigen Generationen, gerade denen, die heute
jung sind - Sie glauben, ihnen dadurch helfen zu können, dass Sie dafür eintreten, dass der Beitragssatz hoch
bleibt -, eine gewaltige Last aufbürden, eine Last, die sie
nicht mehr tragen könnten.
({2})
Das ist es, und das wollen Sie nicht wahrhaben. Sie wollen Menschen in irgendeiner Art und Weise zusätzlich
beglücken.
({3})
Aber wir stehen für eine langfristige Politik, weil wir
auch langfristig Regierungsverantwortung tragen. Das
ist entscheidend.
({4})
Wir können das verantworten.
Sie in der Opposition denken von heute auf morgen,
und damit ist die Sache für sie erledigt.
({5})
Wir bringen zielorientierte rentenpolitische Entscheidungen zustande. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur empfehlen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in
zweiter und dritter Lesung zuzustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Bettina Hagedorn von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Das, was uns die Koalition hier gerade an Redebeiträgen
geboten hat, ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten.
({0})
Da sagt die Ministerin, sie fühle sich der einzahlenden
Generation verpflichtet, und vergisst dabei, zu erwähnen, dass sie das auf dem Rücken der künftig einzahlenden Generationen tut, die sie in ihren Sonntagsreden
sonst immer so gerne vor sich herträgt. Herr Kolb deklariert die 5,4 Milliarden Euro, die durch diese Beitragssatzsenkung den Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegeben werden sollen, quasi als eine karitative
Veranstaltung. Er sagt: Die Betroffenen werden uns
dankbar sein.
({1})
Genau das ist Ihr Kalkül. Das, was Sie hier machen
- eine Rentenbeitragssatzsenkung -, ist der Kitt, der Ihre
Koalition ein Jahr vor der Bundestagswahl zusammenhalten soll. Das Ganze ist eigentlich ein Wahlgeschenk.
Es soll ein Wahlkampfschlager werden.
({2})
- Genau. Die Leute wollen es gar nicht. Sie sind
vernünftiger, als Sie denken. - Wissen Sie was? Dieses
Vorgehen ist unverantwortlich.
Vor allen Dingen versuchen Sie zu kaschieren, dass
die Bundesregierung bei dieser ganzen Nummer, mit
dieser Senkung, den eigenen Haushaltsentwurf frisiert,
und zwar um exakt 2 Milliarden Euro. Das tun Sie auf
dem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
Sie tun so, als könnten Sie im Schlafwagen die Schuldenbremse einhalten. Diese Frisiernummer machen Sie
nicht nur bei der Rente, die machen Sie auch beim
Gesundheitsfonds, die machen Sie auch bei der Bundesagentur für Arbeit und auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen, und das im milliardenschweren Bereich.
Das ist einfach unverantwortlich.
({3})
„Beitrag zur Konsolidierung“ nennt Herr Schäuble
- der Stuhl des Finanzministers ist bei dieser Debatte erstaunlicherweise leer - seinen „Vorwegabzug“ zulasten
der Rentenkasse. Das sind 1 Milliarde Euro im Jahr 2013
und 1,25 Milliarden Euro jeweils bis 2016, sprich
4,75 Milliarden Euro bis zum Ende des Finanzplanraums, die er von der Rentenkasse zugunsten seines
Bundesetats umschaufelt. Ab 2017 soll dann paradoxerweise diese Maßnahme wieder umgekehrt werden, 2017,
wenn wir unter einem verschärften Konsolidierungszwang aufgrund der Schuldenbremse stehen werden.
Hinzu kommt, dass wir noch nicht wissen, ob die ganzen
Steuerquellen und Beitragsquellen dann genauso sprudeln werden, wie es in der jetzigen konjunkturellen Lage
der Fall ist. Aber dann wollen Sie das Rad zurückdrehen.
Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Noch eine zweite Stellschraube nutzen Sie - das ist
genau die, die wir hier jetzt diskutieren -, um Ihren
Haushalt zu frisieren. Das ist diese Beitragssatzsenkung.
Etwas ist ja ganz erstaunlich: dass der Finanzminister die
1 Milliarde Euro, von der hier noch nicht die Rede war,
die der Bund bei dieser Nummer „spart“, schon im Juli
in seinen Haushaltsentwurf eingerechnet hat. Das heißt,
er hat schon im Juli seinen Haushaltsentwurf um 2 Milliarden Euro schöngerechnet.
({4})
Wissen Sie, was? Das sind insgesamt 9,5 Milliarden
Euro während des Finanzplanraumes, die er hier einkassiert hat. Dann will ich noch einmal daran erinnern, dass
diese Regierung ja auch schon 2011 1,8 Milliarden Euro
zulasten der Rentenkasse „konsolidiert“ hat, wie sie es
so schön nennt, nämlich zulasten der Langzeitarbeitslosen.
({5})
Wenn ich das noch einmal dazurechne, dann sind das
bis 2013 5,4 Milliarden Euro und 10,8 Milliarden Euro
bis zum Ende des Finanzplanraums. Bei diesen Zahlen
wird deutlich, dass Sie Ihre Schuldenbremse bis 2016
nur deshalb angeblich erreichen können, weil Sie einen
schamlosen Griff in die Sozialkassen machen.
({6})
In Europa baut man den Popanz Deutschlands als Supersparregierung auf, und in der Realität bedient man
sich vor allem an den Sozialkassen, und das in konjunkBettina Hagedorn
tureller Boomphase. Das ist genau das, was mein
Kollege über die schwäbische Hausfrau gesagt hat. Wir
haben jetzt - wir sagen ausdrücklich: glücklicherweise eine Zeit, in der die Steuereinnahmen und die Beitragseinnahmen sprudeln. Aber was machen Sie? Sie schöpfen den konjunkturell entstandenen Rahm auf den
Sozialkassen ab, um so zu tun, als würden Sie sparen.
Aber Sie tun es gar nicht. Sie machen keine Strukturveränderung, wie Sie es einmal zugesagt haben, Sie
bauen keine Subventionen und all diese Dinge ab, und
vor allen Dingen machen Sie es wieder nur auf dem Rücken der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und auf
dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wissen Sie, was? Ich empfehle Ihnen dringend: Stimmen Sie dem Antrag der SPD zu, einen Demografiefonds aufzubauen! Das ist die richtige Antwort in dieser
Zeit, und das ist das, was die Menschen auch von uns
erwarten.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10743, 17/10779 und 17/10775 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({1}), Dr. Hans-Peter
Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Gesundes Aufwachsen von Kindern und
Jugendlichen fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich machen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Lebenssituation junger
Menschen und die Leistungen der Kinderund Jugendhilfe in Deutschland
- 13. Kinder- und Jugendbericht und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksachen 17/3178, 17/3863, 16/12860,
17/4754 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Marlene Rupprecht ({2})
Miriam Gruß
Katja Dörner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß,
Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die jugendfreundlichste Kommune
Deutschlands
- Drucksachen 17/9397, 17/7846, 17/9840 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Florian Bernschneider
Katja Dörner
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Peter Tauber
von der CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz
gut, dass wir uns wieder einmal Zeit nehmen, über die
Kinder- und Jugendpolitik in diesem Land zu reden, und
dass wir uns bei dieser Gelegenheit mit dem Kinder- und
Jugendbericht und mit den Anträgen aus dem Hause, die
vorliegen, beschäftigen und uns ein bisschen die aktuelle
Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland
vor Augen führen.
Ich wage die Prognose - auch wenn ich der erste Redner in der Debatte bin -, dass das Bild der Situation der
Kinder und Jugendlichen in diesem Land, das die Vertreter der Opposition zeichnen werden, eines sein wird, bei
dem man sich fragen muss: Lohnt es sich, in diesem
Land Kind oder Jugendlicher zu sein?
Deshalb möchte ich mit Blick auf die aktuelle Situation an den Anfang meiner Rede eher die positiven
Aspekte stellen: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Während der Durchschnitt bei mehr als 20 Prozent liegt, sind
in Deutschland nur knapp 8 Prozent der Jugendlichen
ohne Job.
Wir haben fast 200 000 freie Ausbildungsplätze in
diesem Land. Das ist eine Entwicklung, die sensationell
ist, wenn man sich die Situation von vor zehn Jahren vor
Augen führt. Damals war ich noch ehrenamtlicher Stadtverordneter in meiner Heimatgemeinde. Seinerzeit sind
alle Stadtverordneten quer durch die Fraktionen zu den
Unternehmen gepilgert, um auf Knien darum zu bitten,
Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Unternehmer haben
alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und
haben gesagt: Jetzt kommt ihr noch, wir leiden schon unter der rot-grünen Bundesregierung; wir können keine
Ausbildungsplätze bereitstellen. - Die gibt es heute im
Übermaß. Fast jeder junge Mensch, der einen Schulabschluss hat, findet den Ausbildungsplatz, den er sich
wünscht.
({0})
Das heißt, in nur einem Jahr ist die Jugendarbeitslosigkeit um 14 Prozent gesunken, während sie anderswo in
Europa steigt. Das ist eine wirklich gute Nachricht für
die jungen Menschen in diesem Land.
Dasselbe gilt, wenn auch nur eingeschränkt, für die
Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Hartz IV angewiesen sind. Diese ist immer noch viel zu hoch, aber
auch sie sinkt, und auch das ist eine gute Nachricht.
Man sollte bei dieser Gelegenheit durchaus einmal in
den Blick nehmen, dass in Berlin 33 Prozent der Kinder
und Jugendlichen auf Hartz IV angewiesen sind, in Bayern aber nur 6,2 Prozent.
({1})
Jetzt kann man sich durchaus die Frage stellen: Hat das
etwas mit Politik zu tun? Hat das etwas mit Familienbildern zu tun, die gelebt werden? Ich glaube, ja.
({2})
- Nein, ich werfe das niemandem vor, Frau Kollegin. Ich
bin für Ihren Zwischenruf sehr dankbar. Vielleicht kleiden Sie ihn beim nächsten Mal in eine Frage; ich greife
ihn jetzt trotzdem auf.
Ich werfe das niemandem vor. Aber ich frage mich
schon, welche Familienbilder man vorlebt und vorgibt
({3})
und welche Rahmenbedingungen man setzt, damit Familie gelebt werden kann. Offensichtlich sind diese in
Bayern nun einmal ein bisschen besser als in Berlin. Das
zeigen zumindest die Zahlen.
({4})
Wir haben Weiteres geleistet. Wir haben das Deutschlandstipendium auf den Weg gebracht, wir haben in das
BAföG investiert. Erstmals stehen für das BAföG mehr
als 3 Milliarden Euro zur Verfügung. Mehr als 900 000
Menschen profitieren davon. Auch das ist eine gute
Nachricht.
Die weitere gute Nachricht ist, dass die Zahl der
Schulabbrecher deutlich gesunken und die Zahl der
Gymnasiasten deutlich gestiegen ist. Wir machen also
ernst mit der Bildungsrepublik. Das sind gute Nachrichten für die jungen Menschen in diesem Land.
({5})
Was tun wir darüber hinaus? Wir haben in die Schulsozialarbeit investiert, weil wir wissen, dass junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen Hilfesysteme
brauchen. Der Bund ist hier in die Finanzierung eingestiegen, obwohl das eigentlich Aufgabe der Länder
und der Schulträger ist.
Wir haben das Bildungs- und Teilhabepaket auf den
Weg gebracht. Von den Klassenfahrten über die Schülerbeförderung über die Nachhilfe bis hin zur Mitgliedschaft in Vereinen - wir leisten einen Beitrag dazu, dass
junge Menschen in diesem Land Perspektiven haben.
({6})
Wir haben die Jugendfreiwilligendienste in einem
Maße ausgebaut, von dem Sie zu Beginn der Legislaturperiode nur geträumt haben. Die Botschaft, die wir damit
den jungen Menschen mit auf den Weg geben, ist eine
ganz klare: Ihr werdet gebraucht. Wir wollen, dass ihr in
dieser Gesellschaft Verantwortung übernehmt, dass ihr
Erfahrungen sammelt. - Mehr als 90 000 Menschen engagieren sich in den verschiedenen Säulen der Freiwilligendienste. Das ist eine Leistung dieser Politik, aber vor
allem der jungen Menschen, die einen solchen Freiwilligendienst leisten.
({7})
Wir haben die Förderung des Kinder- und Jugendplans konstant gehalten, um selbstständige Jugendarbeit
zu ermöglichen. Das ist die Grundlage für die Verbände,
das ist die Grundlage für die ehrenamtliche Betätigung
von jungen Menschen in diesem Land, und das trotz der
Vorgaben der Schuldenbremse. Auch das ist ein klares
Bekenntnis zu einer eigenständigen Kinder- und Jugendpolitik.
Dieses Thema kann man jetzt weiter ausführen. Ich
nenne die Verbesserung der Mobilität. Für Jugendliche
im ländlichen Raum ist der Führerschein ab 17 interessant. Erstmals unterscheiden wir zwischen Kinder- und
Jugendpolitik, weil wir anerkennen, dass Jugendliche
andere Bedürfnisse haben als Kinder. Mit 13 Jahren ist
es nicht mehr sexy, in den Streichelzoo zu gehen. Dann
hat man andere Wünsche, was die eigene Freizeitgestaltung betrifft. Das symbolträchtige Thema Kinderlärm
und die Tatsache, dass man dagegen nicht mehr klagen
kann - es war ein wichtiger Schritt, dass wir das auf den
Weg gebracht haben.
({8})
Neben den positiven Beispielen und Zahlen, sollte
man auch das in den Blick nehmen, was schwierig ist. Es
gibt Kinder und Jugendliche in unserem Land, die unsere Hilfe brauchen, weil sie sie in ihrer Familie nicht in
ausreichendem Maße bekommen, weil sie es nicht schaffen, ihren Weg zu gehen. Das ist eine zusätzliche Aufgabe, die sich für uns stellt. Natürlich müssen wir uns
um diese jungen Menschen kümmern.
Die Probleme sind vielfältig. Mit Blick auf meine Generation könnte man sagen: Junge Leute sind heute ein
bisschen langweiliger als wir früher. Sie sind zumindest
sehr viel vernünftiger, als es vielleicht meine Generation
war. Die Zahl derer, die exzessiv trinken, die rauchen
und kiffen, geht deutlich zurück. Ob es vor diesem Hintergrund vorbildlich ist, wenn führende grüne Spitzenpolitiker darüber räsonieren, welche Farben die Drachen
haben, die sie im Drogenrausch gesehen haben, sei dahingestellt.
({9})
Wir erkennen, dass die Zahl junger Menschen, die
suchtgefährdet sind, deutlich zurückgeht. Wir erkennen
aber auch neue Herausforderungen: Glücksspiel, Onlineabhängigkeit, Internetsucht. Wir haben die Aufgabe, präventive Angebote zu machen und für Aufklärung zu sorgen.
Ich habe einleitend gesagt, dass in diesem Land die
Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, noch
viel zu hoch ist. Das ist eine Aufgabe, die wir angehen
müssen. Wir müssen uns aber auch fragen, ob wir das allein mit staatlichen Hilfesystemen schaffen. Am Ende
müssen wir Eltern ermutigen und in die Lage versetzen,
ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Wir Politiker können zwar viele Dinge wollen, wir brauchen aber
Menschen, die sich dieser Herausforderung stellen. Dies
sind am Ende des Tages in erster Linie immer die Eltern.
Es bleibt dabei, dass der demografische Wandel eine
große Herausforderung für unser Land ist. Wenn man
auf meine eingangs gestellte Frage zurückkommt und
sich überlegt, ob in diesem Land Kinder und Jugendliche
Chancen haben, groß zu werden, ihre Ideen und Wünsche zu verwirklichen, sich ein selbstbestimmtes Leben
aufzubauen, dann kann man zu dem Ergebnis kommen,
dass es wahrscheinlich wenig Länder auf diesem Globus
gibt, in denen junge Menschen solche Chancen haben.
Wenn wir - ohne die Probleme beiseiteschieben zu wollen - das nicht stärker in den Mittelpunkt rücken, dann
brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn junge Paare
sagen: Warum soll ich in diesem Land Kinder in die
Welt setzen? Es ist viel zu gefährlich. - Ich bleibe dabei:
Sie zeichnen hier oft ein Bild, das nicht der Lebenswirklichkeit entspricht.
({10})
Gleich können Sie wieder das Leben von jungen
Menschen in den schwärzesten Farben beschreiben. Die
Lebenswirklichkeit sieht jedoch ein bisschen anders aus.
Deswegen brauchen junge Menschen keine Angst vor einem Land zu haben, wie Sie es beschreiben. Sie müssten
vielleicht Angst vor einem Land haben, das Sie regieren.
Das ist der entscheidende Unterschied. Ich freue mich
auf die weitere Debatte.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Marlene Rupprecht.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Der Anlass unserer heutigen Debatte ist der 20. September, nämlich der Weltkindertag. An diesem Tag lassen
wir in Deutschland - in anderen Ländern geschieht das
an anderen Tagen - Revue passieren, was für Kinder getan worden ist bzw. getan wird. Hierzu gibt es aus den
unterschiedlichen Fraktionen einige Anträge, die dem
Parlament zum Teil schon länger vorliegen. Man sieht,
dass einiges von dem, was in diesen Anträgen steht, bereits abgearbeitet wurde.
Ich ziehe es vor, keine Bierzeltrede zu halten. Ebenso
ziehe ich es vor, keine Konfrontationspolitik zu betreiben, weil Eltern und Kinder davon die Nase voll haben.
Sie wollen nämlich ganz schlicht und ergreifend, dass
ihre Situation wahrgenommen wird und dass wir alles
tun, um die Lebensbedingungen möglichst so zu verändern, dass sie lebenswert sind.
In unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht, geht es darum, wie Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Behindertenhilfe besser vernetzt und verzahnt werden können, sodass Kinder nicht zwischen den
Rastern der Systeme - die für sich gesehen gut sind hindurchfallen.
Das heißt: Die einzelnen Hilfen stehen zwar zur Verfügung, jedoch wird nicht immer optimal zusammengearbeitet. Seit 21 Jahren ist gesetzlich vorgeschrieben - in
§ 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes -, dass sich
alle rund um das Kind Beteiligten zusammensetzen und
absprechen sollen. Das wird leider nicht gemacht.
Es geht darum, dass Eltern, wie es in Art. 6 des
Grundgesetzes festgeschrieben ist, ihre Aufgabe gut
wahrnehmen können. Dazu brauchen sie alle diese Systeme. Wenn ein Kind in die Schule geht, braucht es dort
ein entsprechendes Umfeld, in dem es gesund aufwachsen kann. Das Gleiche gilt, wenn ein Kind in den Kindergarten geht. Wenn das Kind behindert ist, soll es ohne
Ansehen der Behinderung auch dort unterrichtet oder betreut werden. In diesem Bereich gibt es in Deutschland
nach wie vor ein großes Defizit, obwohl internationale
Marlene Rupprecht ({0})
Konventionen unterzeichnet worden sind. In unserem
Antrag findet sich einiges zu diesem Thema. Inklusion
muss für alle Orte und bei allen Planungen von vornherein berücksichtigt werden, sodass Kinder - egal aus
welcher sozialen Schicht sie kommen - so angenommen
werden, wie sie sind, und es eben kein Muster gibt, wie
sie sein sollen.
Es ist die große Aufgabe der Politik, darauf hinzuwirken. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt, weil
wir noch gelernt haben, dass es „normale“ und „nicht
normale“ Kinder gibt, und dass die nicht normalen Kinder ausgesondert werden. Dieser Weg ist ein Lernprozess. Wir müssen endlich lernen, dass Kinder eigene
Rechtspersönlichkeiten, eigene Rechtssubjekte sind.
Auch wenn die Eltern die vornehme Pflicht und das
Recht haben, sie zu erziehen, haben sie nicht das Recht,
die Kinder so zu verformen oder zu verändern, dass sie
Schaden nehmen. Ich erinnere hier nur an die derzeitige
Diskussion über die Beschneidung; ich kann es nicht lassen. Hierbei zeigt sich ganz klar, wie wichtig es ist, sich
wirklich für die Kinderinteressen einzusetzen und Kinder als Rechtssubjekte zu sehen, die von niemandem,
egal welchen Auftrag sie haben, auch nur berührt werden dürfen, um sie dauerhaft zu verändern. Diese Diskussion müssen wir hier führen. In diesem Haus wird sie
leider immer nur aus Erwachsenensicht geführt und
nicht aus Kindersicht.
Uns liegen Anträge vor, bei denen das Kindeswohl
und das Wohlergehen beim Aufwachsen im Mittelpunkt
stehen. Grundlage unserer Anträge war der 13. Kinderund Jugendbericht. Hierin ging es um die Verzahnung
von Kinder- und Jugendhilfe sowie Gesundheitsförderung. Der Titel lautete: „Mehr Chancen für gesundes
Aufwachsen - Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“.
Lassen Sie mich sagen, wie schwer es uns schon hier
im Hause fällt, zusammenzuarbeiten. Es ist äußerst
schwierig, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend und den Gesundheitsausschuss unter ein
Dach zu bringen. Wenn wir beispielsweise die Mitarbeiter des Gesundheitsausschusses bitten, sich etwas für
den präventiven Bereich zu überlegen, dann heißt es:
Was habt ihr uns schon vorzuschreiben?
Dann denke ich: Wenn wir, die wir täglich miteinander umgehen, schon nicht zusammenkommen können,
wie soll das dann erst draußen gelingen? Es ist unsere
Aufgabe, das in Angriff zu nehmen. Das kann man nicht
schlechtreden oder schönreden, sondern man muss
schlicht zugeben, dass wir unsere Hausaufgaben noch
nicht gemacht haben.
Gestern waren zwei Fachleute in der Kinderkommission, die uns gesagt haben, sie könnten keine Daten über
psychisch kranke Kinder erfassen, weil es eine Richtlinie gebe, die das verbietet. Keiner jedoch konnte erklären, warum es diese Richtlinie noch gibt.
Könnt ihr mir mal erklären, warum wir es hier nicht
auf die Reihe bringen, dass wir wirklich alle Dinge für
Kinder so regeln, dass es vom Kind, von der Familie aus
gedacht ist, nicht von der Institution aus?
Wir haben es hier im Deutschen Bundestag immer
noch nicht geschafft, die Kinderrechte ins Grundgesetz
zu bringen, damit eindeutig nachzulesen ist, dass die
Kinder Rechtssubjekte sind. Ich wünsche mir, dass an
drei Stellen des Grundgesetzes Änderungen vorgenommen werden: In Art. 2, in dem es um das Individuum
geht, sollte das Recht auf die Entwicklung - das steht
dort nämlich nicht - und die freie Entfaltung aufgenommen werden. In Art. 6 sollten die gemeinsamen Rechte
von Eltern und Kindern gestärkt werden, um kindgerechte Lebensverhältnisse zu garantieren. Zudem hätte
ich gern eine Änderung an Art. 45. Dort ist geregelt, dass
es für die 180 000 Soldaten - Wehrpflichtige gibt es jetzt
nicht mehr - einen Wehrbeauftragten mit fast 40 Mitarbeitern gibt. Wenn man das hochrechnet, dann kommt
man für die 12 Millionen Kinder und Jugendlichen auf
ein Amt mit über 2 000 Beschäftigten. Mir würden
40 Mitarbeiter reichen, wenn hier im Bundestag, neben
dem Stuhl, auf dem unser Wehrbeauftragter sitzt, ein
Kinderbeauftragter sitzen und die Interessen der Kinder
wahrnehmen würde. Mit 40 Mitarbeitern wäre ich ganz
zufrieden.
Danke schön.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Florian
Bernschneider das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir
alle sind froh, dass wir heute zu einer recht prominenten
Tageszeit die Gelegenheit haben, über Jugendpolitik zu
diskutieren. Entsprechend verantwortungsvoll sollten
wir diese Debatte führen.
({0})
Bevor ich zu den Punkten komme, wo wir uns nicht einig sind - ich verspreche Ihnen: auch dazu komme ich -,
möchte ich vielleicht erst einmal eine Gemeinsamkeit
herausstellen. Wir sind uns in einem Punkt einig: Die
christlich-liberale Koalition geht mit der Etablierung einer Eigenständigen Jugendpolitik einen richtigen und
wichtigen Schritt in die Zukunft.
({1})
Ich betone diese Gemeinsamkeit auch deswegen, weil
ich der festen Überzeugung bin, dass die eigenständige
Jugendpolitik nur dann gelingen kann, wenn wir alle an
einem Strang ziehen. Denn wir alle wissen: Das ist kein
Projekt für eine oder zwei Legislaturperioden, sondern
eine langfristige Ausrichtung der Jugendpolitik.
Wir alle wissen auch, dass nicht die Politik allein die
Eigenständige Jugendpolitik gestalten wird, sondern es
darauf ankommt, verschiedenste Akteure - Jugendverbände, Bildungsträger, Unternehmen, Medien - mitzunehmen. Deswegen ist es so wichtig und richtig, dass das
Ministerium eine Allianz für Jugend etabliert hat, um all
diese Akteure zusammenzubringen.
Das alles, meine Damen und Herren, reicht natürlich
nicht aus. Ich sage auch offen, dass wir uns als christlich-liberale Koalition natürlich daran messen lassen
wollen, was wir mit konkreten politischen Handlungen
für junge Menschen in diesem Land erreichen. Ich
glaube, wir brauchen uns, was unsere Bilanz an dem
Punkt angeht, nicht zu verstecken. Wir alle sind uns einig, dass es bei der Eigenständigen Jugendpolitik auch
zählt, über die Ressortgrenze des BMFSFJ hinaus zu
denken. Wenn man sich einmal anschaut, was wir da geschafft haben, erkennt man: Das ist keine schlechte Bilanz. Wir haben uns mit der Einführung des Führerscheins ab 17 verstärkt dem Aspekt der sicheren
Mobilität Jugendlicher gewidmet. Wir haben mit dem
Deutschlandstipendium und der Sommerferienjobregelung dafür gesorgt, dass sich Leistung eben auch für
junge Menschen lohnt. Wir haben das BAföG erhöht und
mit der Weiterführung des Programms „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ dafür gesorgt, dass auch diejenigen Jugendlichen mitgenommen werden, die es nicht
immer ganz leicht haben. Das alles sind Punkte - man
könnte das fortführen -, an denen man deutlich machen
kann, dass in dieser Legislaturperiode schon viel passiert
ist und viel auf den Weg gebracht wurde. Wir alle miteinander wollen nicht so tun, als ob das in jeder bisherigen Legislaturperiode auch so gut gelaufen wäre.
({2})
Wenn ich an jugendrelevante Diskussionen aus bisherigen Legislaturperioden denke, dann fallen mir die Diskussionen über Killerspielverbote, Alkoholverbotszonen, Alkopopsteuer usw. ein. All das hat doch mit dazu
beigetragen, dass in unserem Land ein Bild von der Jugend von heute herrscht ({3})
- da muss Politik auch einmal ganz selbstkritisch sein nach dem Motto: Die sitzen zu lange vor dem Computer,
die trinken zu viel Alkohol und überhaupt sind sie nicht
in der Lage, Verantwortung für sich und erst recht nicht
für das Land zu übernehmen.
Ich finde, die Koalition hat mit dem Freiwilligendienstkonzept den besten Gegenbeweis zu diesem falschen Bild ermöglicht - der Kollege Tauber hat es
gesagt -:
({4})
Wir hatten im Jahr 2009 im Durchschnitt 68 000 Zivildienstleistende; heute haben wir über 80 000 Freiwillige,
die einen großen Dienst erweisen, und das ohne jeden
Zwang. Das zeigt im Übrigen nicht nur, dass das Konzept Freiwilligendienst funktioniert, es zeigt auch, dass
junge Menschen in unserem Land sehr wohl bereit sind,
Verantwortung zu übernehmen.
Nehmen wir den Bereich Partizipation, der in den Anträgen eine wesentliche Rolle spielt. Ehrlich gesagt: Von
der Opposition höre ich dazu zu wenig. Ja, die Linken
bringen zwar einen Antrag zum Thema „jugendfreundlichste Kommune“ ein - das Thema Kommune spielt in
Bezug auf die Partizipation tatsächlich eine wichtige
Rolle -, aber seien wir ehrlich: Das reicht nicht aus.
Von SPD und Grünen höre ich den Klassiker: Absenkung des Wahlrechtalters. Es ist nicht nur so, dass ich
immer noch nicht verstanden habe, wie man den jungen
Menschen erklären soll, dass man zwar mit 16 zur Bundeswahl gehen soll, aber keinen Handyvertrag abschließen kann, auch allein die Tatsache, dass ich, wenn ich im
falschen Jahrgang geboren wurde, von der Absenkung
des Wahlalters überhaupt nicht profitieren würde, zeigt
doch, dass das kein sinnvoller Schritt zur Partizipation
junger Menschen sein kann. Deswegen ist die Förderung, die wir Ihnen in unserem Antrag vorschlagen,
nämlich der U-18-Wahl - anders als die Kollegin Deligöz
zu Protokoll gegeben hat - kein Feigenblatt, sondern tatsächlich ein guter Schritt, um junge Menschen an politischen Prozessen partizipieren zu lassen, egal wie alt sie
sind: ob 14, 15 oder 17 Jahre und 364 Tage.
Aber auch hier bleiben wir nicht bei Sonntagsfloskeln, die wir alle meiner Meinung nach viel zu lange und
viel zu häufig benutzt haben, wenn es um das Thema
Partizipation ging, sondern wir machen weitere konkrete
Vorschläge, zum Beispiel zum Kinder- und Jugendplan.
Es ist doch schlicht nicht zu erklären, warum es beim
größten monetären Förderinstrument, das wir in der Kinder- und Jugendpolitik haben, für die jungen Menschen
kaum Möglichkeiten gibt, dieses in irgendeiner Form beeinflussen zu können. Es ist so intransparent und in seinem Antragsverfahren so schwierig, dass es junge Menschen einfach abhängt. Deswegen ist die Reform, die wir
hier vorschlagen, auch im Sinne von Partizipation wichtig.
({5})
Ich habe alle Anträge und auch die zu Protokoll gegebenen Reden sehr aufmerksam gelesen. Der Höhenflug,
den die Grünen an Kreativität beim Thema Partizipation
hatten, war die Forderung nach der Festschreibung von
Beteiligungsinstrumenten in den Kommunalordnungen.
Das ist vielleicht gut gemeint, aber man muss so ehrlich
sein und sagen: Das können wir hier im Bundestag nicht
entscheiden, das müssen die Bundesländer machen. Sie
können gerne dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen, mit gutem Beispiel vorangehen.
Ich will noch kurz auf den 13. Kinder- und Jugendbericht eingehen, besonders unter dem Aspekt der Eigenständigen Jugendpolitik. Unsere Eigenständige Jugendpolitik soll sich dadurch auszeichnen, dass wir zeigen,
dass wir die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir stehen, ernst nehmen, dass wir aber auch den
„ganz normalen“ Jugendlichen in unserem Land berücksichtigen. Der Kinder- und Jugendbericht zeigt deutlich,
dass der überwiegende Teil junger Menschen und Kinder
in unserem Land gesund und wohlbehütet aufwächst. Das
sollten wir in der Politik betonen.
({6})
Trotzdem - Frau Rupprecht, Sie haben natürlich recht darf man die Augen nicht vor den Herausforderungen
verschließen. Es ist schlicht nicht akzeptabel, dass die
sozialen und finanziellen Verhältnisse des Elternhauses
über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen entscheiden. Wir alle wissen um die Herausforderungen,
die uns der Kinder- und Jugendbericht aufträgt. Wir alle
- zumindest wir Familienpolitiker - sind der festen
Überzeugung, dass eine große Lösung sicherlich die
beste Lösung wäre.
({7})
Wir alle wissen auch, wie schwierig diese große Lösung
ist. Deswegen bin ich Frau Rupprecht sehr dankbar, dass
wir nicht anfangen, gegenseitig mit dem Finger aufeinander zu zeigen und zu sagen: Warum hast du nichts erreicht?, sondern gemeinsam versuchen, weiter konstruktiv an einer großen Lösung zu arbeiten.
Als Koalition haben wir vielleicht nicht die große Lösung, aber in vielen kleinen Bereichen einiges auf den
Weg gebracht haben. Ich will mir keine Tatenlosigkeit
vorwerfen lassen. Wir haben das Teilhabepaket auf den
Weg gebracht, wir haben das Bundeskinderschutzgesetz
- mit deutlichem Akzent auf dem Thema Prävention,
zum Beispiel durch Familienhebammen - und die Offensive „Frühe Chancen“ - bis zu 4 000 Schwerpunktkitas
zum Thema „Sprache und Integration“ - auf den Weg
gebracht. Vieles andere mehr ließe sich noch aufführen.
Sie sehen: Auch in diesem Bereich geht die Koalition
voran. Ich finde, wir können stolz auf die bisherige Bilanz unserer Kinderpolitik und der Eigenständigen Jugendpolitik sein. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich
in Ihren Anträgen statt auf blumige Worte auf konkrete
Forderungen konzentrierten. Lassen Sie uns gemeinsam
konkret an der weiteren Verbesserung der Situation von
Kindern und Jugendlichen arbeiten. Beide Gruppen hätten es verdient.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Tauber, ich bin ein Stück weit
verwundert über Ihre Aussage. Sie haben einen Vergleich zwischen Bayern und Berlin angestellt, dabei wissen Sie sehr genau, dass sich die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung in Berlin deutlich von der in
Bayern unterscheidet. Sie wissen genauso gut wie ich,
dass es Familienkonstellationen gibt, Alleinerziehende
zum Beispiel, die im Durchschnitt deutlich stärker von
Sozialleistungen abhängig und von Armut betroffen
sind. Den Alleinerziehenden das zum Vorwurf zu machen und an die Berliner Politik zu appellieren, für bessere Vorbilder zu sorgen, finde ich, gelinde gesagt, ziemlich arrogant.
({0})
Das hat mit einem Politikansatz, der danach fragt, wie
man den Betroffenen helfen kann, überhaupt nichts zu
tun.
Schön finde ich aber, dass Sie zumindest zur Kenntnis
nehmen, dass wir in unserem Land ungleiche Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche haben. Wir wissen aus diversen Untersuchungen - das wissen wir nicht
erst seit diesem Kinder- und Jugendbericht, der sich
auch mit der Kindergesundheit beschäftigt -, dass sich
diese ungleichen Lebensbedingungen auf die psychische, die körperliche und die soziale Entwicklung von
Kindern auswirken. Die Expertenkommission, die diesen Kinder- und Jugendbericht erarbeitet hat, hat nicht
ohne Grund gesagt, dass Armut und soziale Benachteiligung die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gefährden.
Nun ist die Frage, wie man mit solchen Erkenntnissen
umgeht. Es ist bestimmt nicht sinnvoll, die Debatte über
diesen Bericht immer wieder zu vertagen. Deshalb bin
ich sehr froh darüber, dass aufgrund der Anträge der Opposition heute endlich über diesen Bericht diskutiert
wird. Sinnvoll war mit Sicherheit auch das nicht, was
diesbezüglich in der Bundespolitik in den letzten Jahren
passiert ist. Ich will das kurz nennen: Die Regelsätze für
Kinder und Jugendliche sind nach wie vor nicht nach ihrem Bedarf bemessen. Es tut mir leid, das hier noch einmal feststellen zu müssen, aber der Paritätische Wohlfahrtsverband hat schon vor Jahren eine Expertise vorgelegt, die belegt, dass diese Regelsätze deutlich unterbewertet sind. Allein in der Altersgruppe der 6- bis unter
14-Jährigen liegt der Regelsatz monatlich 86 Euro unter
dem tatsächlichen Bedarf, und das hat eine Unterversorgung in den Bereichen Nahrung, Kleidung und Bildung
zur Folge. Die Bundespolitik schaut seit Jahren zu, obwohl sie weiß, dass einige Eltern gar keine Chance haben, ihre Kinder gesund zu ernähren, sie ausreichend zu
kleiden und zu fördern.
Diesbezüglich ist in den letzten Jahren nichts passiert.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil hatte bezüglich der
Kinderregelsätze keinerlei Konsequenz. Man muss es
sogar als Gunst der christlich-liberalen Koalition verstehen, dass die Sätze nicht abgesenkt wurden. Das wurde
uns hier häufig genug erzählt. Das kann nicht sein. Ich
sage immer noch und immer wieder: Kinder sind keine
kleinen Erwerbslosen, und deshalb muss endlich ein
kindgerechter Regelsatz berechnet werden.
({1})
Weitere Stichworte möchte ich hier kurz nennen. Das
Stichwort Präventionsprogramme ist in der Debatte schon
gefallen. Von einem Präventionsgesetz sind wir meilenDiana Golze
weit entfernt. Was es gibt, sind bunte Broschüren und
Projekte, die in der Realität aber nicht helfen.
Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde angesprochen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass das
Geld nicht einmal bei der Hälfte der berechtigten Jugendlichen ankommt. Natürlich kann man den Eltern
vorwerfen, dass sie die Anträge nicht stellen. Wer aber
ein so kompliziertes Konstrukt erfindet, in dem Wissen,
dass das Geld bei den Kindern und Jugendlichen nicht
ankommt, muss sich doch an die eigene Nase fassen und
hier endlich etwas ändern. Das setzt aber voraus - Marlene
Rupprecht hat angesprochen, dass wir gestern in der
Kinderkommission über Beteiligung gesprochen haben -,
dass man Kindern und Jugendlichen gegenüber eine gewisse Haltung hat. Das setzt voraus, dass man Kinder
und Jugendliche endlich als eine eigene Bevölkerungsgruppe mit eigenständigen Ansprüchen an die Gesellschaft begreift.
Damit bin ich bei dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu einer Eigenständigen Jugendpolitik. Ich wusste,
dass Sie das Deutschlandstipendium nennen. Die Zielgruppe dieses Stipendiums ist so klein, dass das für mich
kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik ist.
Auch aufgrund der unübersehbaren Zahl an Prüfaufträgen habe ich nicht die Hoffnung, dass Sie in dieser Regierungszeit zu einem Ende der Prüfungen, geschweige
denn zu wirklichen Verbesserungen kommen. Dass Sie
in diesem Zusammenhang die Privilegierung des Kinderlärms nennen, verstehe ich überhaupt nicht. Ich bitte
Sie! Sie schließen den Jugendlärm damit explizit aus.
Das ist doch kein Beispiel für eine Eigenständige Jugendpolitik. Das ist hier völlig fehl am Platz.
Es bleibt dabei: Die Tatsache, dass man eine Eigenständige Jugendpolitik in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben hat, bringt noch nichts. Dass Sie die Fachgespräche mit den Verbänden aufgenommen haben, ist
löblich, aus meiner Sicht aber selbstverständlich und
kein Bestandteil einer Eigenständigen Jugendpolitik.
Das heißt zusammenfassend: Wenn wir diesen Kinder- und Jugendbericht und die Kinder- und Jugendberichte der letzten Jahre ernst nehmen, dann müssen wir
uns den Kindern und Jugendlichen als eigenständige Bevölkerungsgruppe nähern. Wir müssen den Vorrang des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor den anderen Sozialgesetzbüchern - das ist der allererste und wichtigste
Schritt - endlich in der Realität durchsetzen. Wir müssen
ein Aufwachsen in Armut verhindern. Diesbezüglich ist
noch eine ganze Menge zu tun.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben einen sehr aufschlussreichen
Bericht mit durchaus spannenden und bemerkenswerten
Handlungsvorschlägen vorgelegt bekommen. Erstmals
hat sich ein Kinder- und Jugendbericht dezidiert mit der
gesundheitsbezogenen Prävention und der Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen befasst, und
erstmals - auch das finde ich sehr bemerkenswert wurde die Situation von Kindern mit Behinderung ausdrücklich aufgenommen und mit in den Blick genommen.
Mich irritiert aber sehr - das muss ich sagen -, dass
die Regierungsfraktionen zum gesamten Bericht wenig
beizutragen und nichts zu sagen haben. Sie haben sich
offensichtlich nicht mit den Handlungsvorschlägen auseinandergesetzt, und sie befinden es auch nicht für notwendig, der Regierung einen klaren Auftrag im Sinne eines Forderungskatalogs, beispielsweise in Form eines
Antrags, zum 13. Kinder- und Jugendbericht mitzugeben.
({0})
Diese Geringschätzung eines so wichtigen Themas das muss ich sagen - lässt eine gewisse Fassungslosigkeit bei mir aufkommen. Denn es ist bei weitem nicht so,
als wäre alles in Butter. Der 13. Kinder- und Jugendbericht, aber auch viele Studien belegen, dass die Kinder in
Deutschland sehr unterschiedliche Chancen haben, gut
und gesund aufzuwachsen. Die Gesundheitsrisiken konzentrieren sich bei ungefähr 20 Prozent der Kinder und
Jugendlichen. Betroffen sind insbesondere diejenigen
aus sozial schwächeren Familien und diejenigen mit Migrationshintergrund. Diese Ungerechtigkeit darf uns doch
nicht kalt lassen.
Wir wissen auch, dass es eine Verlagerung innerhalb
des Krankheitsspektrums gegeben hat, und zwar von den
akuten zu den chronischen Erkrankungen, von den somatischen zu den psychischen Störungen. Die Ursachen
dafür liegen unter anderem im Bewegungsmangel, in
falscher Ernährung, aber eben auch in einem zunehmenden Verlust von Sicherheit und von sozialer Einbindung.
All das zeigt, wie wichtig es ist, heute konsequent zu
handeln. Man darf sich vor diesen Problemen nicht einfach wegducken, wie diese Bundesregierung und die Regierungsfraktionen es tun.
({1})
Es wurde nach konkreten Vorstellungen und Forderungen gefragt. Diese möchte ich hier gerne anbringen.
Wir brauchen beispielsweise ein Präventionsgesetz, das
alle Akteure zusammenbringt und in dem verbindlich
geregelt wird, wie die Zusammenarbeit und die Finanzierung zu gestalten sind. Wir müssen beispielsweise die
Bundesländer darin unterstützen, in den Schulen gesundheitsförderliche Lernbedingungen zu schaffen. Die Vermittlung von Gesundheits- und Ernährungskompetenzen, Bewegungsangebote und eine ausgewogene Ernährung gehören unbedingt dazu.
Wir haben eine Reihe ungelöster Schnittstellenprobleme; sie sind eben schon angesprochen worden. Diese
müssen wir uns auch dringend vorknöpfen. Ich erwähne
als Beispiel die Komplexleistung Frühförderung. Dies
betrifft insbesondere auch die Aufsplitterung der Leistungen für Kinder mit Behinderung zwischen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe; auch das ist hier
schon angesprochen worden. Ich freue mich, dass hier
offensichtlich ein breiter Konsens besteht, dass wir aus
kinder- und familienpolitischer Perspektive eine große
Lösung anstreben sollten. Ich bin froh, dass dieser Vorschlag in der Stellungnahme der Bundesregierung zum
13. Kinder- und Jugendbericht explizit gemacht wird.
Wir brauchen viel mehr Vernetzung zwischen den
Angeboten aus dem Gesundheitsbereich und der Kinderund Jugendhilfe. Aber das darf man von der Bundesebene aus nicht immer nur von den anderen einfordern
und erwarten, sondern man muss da selber auch mit gutem Beispiel vorangehen. Doch davon ist leider bei dieser Bundesregierung überhaupt nichts zu spüren. Bei
ganz zentralen Aufgaben der letzten Monate und Jahre
war das leider sehr eindeutig. Ich nenne als Beispiel nur
das Programm „Frühe Hilfen“ und die Familienhebammen. Es ist sehr offensichtlich, dass der Gesundheitsminister die Familienministerin ziemlich schnöde hat auflaufen lassen. Wir alle haben das Programm unterstützt;
wir alle fanden, dass das ein richtiges Programm ist. Angedacht war jedoch eine notwendige Vernetzung von
Gesundheits- und Familienpolitik mit einem gemeinsamen Konzept und strukturell verankerter Finanzierung
und nicht ein kleines Progrämmchen im Familienministerium.
Hier hat - auch das muss man einmal sagen - das Gesundheitsministerium offensichtlich die Zeichen der Zeit
und auch die Notwendigkeiten der Zeit nicht erkannt.
Vielleicht hat die Koalition ja auch deshalb keinen eigenen Antrag zum 13. Kinder- und Jugendbericht vorgelegt. Ich finde jedenfalls, dass das ein Armutszeugnis für
die schwarz-gelbe Politik ist.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unser Antrag betont die Eigenständigkeit der
Jugendpolitik. Das setzt voraus, dass die Jugendzeit tatsächlich eine eigenständige Zeit ist. Das hat die Politik
nicht immer erkannt. Es gab ja eine Zeit, in der wir die
Jugend- und die Kinderpolitik als einen Politikbereich
angesehen haben. Wir wollen die Selbstständigkeit der
Jugendpolitik. Das haben Sie, Herr Bernschneider, betont, und das kann man nur unterstreichen; denn die Jugendzeit ist eine selbstständige Zeit. Sie hat ihren Sinn in
sich. Sie ist eine Zeit, in der der Jugendliche zwar noch
nicht Erwachsener ist, in der er aber nicht mehr Kind ist.
Die Jugendzeit ist ihre Zeit, genauso wie die Kindheit
ihre Zeit ist. Jeder Abschnitt hat seinen Sinn in sich.
Deswegen ist es richtig, eine Eigenständige Jugendpolitik zu betonen. Wer dies nicht tut, nimmt die Jugend eigentlich nicht ernst genug.
Natürlich wollen wir dabei nicht nur die Problemgruppen betrachten; das haben wir früher vielleicht zu
oft getan. Wir haben manchmal nur die Problemgruppen
gesehen, nicht aber die Gesamtheit der Jugendlichen; darauf kommt es uns aber an. Wir wollen die Interessen aller Jugendlichen erkennen und versuchen, sie zu vertreten. Es kommt natürlich entscheidend darauf an, dass wir
den Jugendlichen die Chance geben, sich zu entwickeln.
Wir dürfen sie aber nicht bevormunden. Wir müssen sie
fördern, dürfen ihnen aber keinen Lebensentwurf vorschreiben.
Zugleich müssen wir es schaffen, den Jugendlichen
beizubringen - und zwar so, dass sie es in sich aufnehmen und dafür eintreten -, dass dieser Staat auf gewissen
Voraussetzungen beruht, die man nicht einfach preisgeben darf und für die man kämpfen muss, die der Staat
aber, wie Böckenförde gesagt hat, nicht selber garantieren kann. Die Jugendlichen und die anderen Menschen,
die in einem Staat leben, können diese Grundlagen garantieren. Geben wir diese Grundlagen auf, dann geben
wir unser ganzes Staatsgebilde auf. Dies deutlich zu machen, ist, wie ich meine, ein wichtiger Auftrag der Jugendpolitik.
({0})
Ein Weiteres scheint mir wichtig zu sein: Es kommt
immer wieder vor, dass der Übergang von der Bildungszeit zur Berufszeit schwierig wird. Die Entscheidung für
einen bestimmten Beruf erfordert Mut. Die ganz breite
Perspektive, dass einem Jugendlichen die Welt gewissermaßen offensteht, wird in dem Augenblick verengt, in
dem er sich entscheidet, einen bestimmten Beruf zu ergreifen. Diese Entscheidung ist allerdings eine Zukunftsentscheidung, in der die Zukunft zugleich Gestalt
annimmt. Wenn sich nämlich jemand entscheidet,
Schlosser, Schreiner, Arzt oder Anwalt zu werden, dann
ist das eine Verengung, aber zugleich die Gestaltung der
Zukunft.
Wir wissen aus den Informationen, die uns vorliegen,
dass gerade diese Phase für Jugendliche schwierig ist,
weil die Entscheidung für einen bestimmten Beruf Mut
erfordert. Viele bringen diese Entscheidung nicht zustande, und sie tauchen ab. Deswegen gibt es in manchen
Kommunen - nicht in allen; aber eigentlich sollte sie in
allen Kommunen eingeführt werden - eine Stelle, die
sich um die Jugendlichen kümmert, die fragt: „Was ist
eigentlich aus dem und dem, der sein Abitur oder seine
mittlere Reife gemacht hat, geworden?“ und dem nachgeht. Dafür stellt das Ministerium Geld bereit. Es muss
nur in Anspruch genommen werden.
Ich meine, es ist auch notwendig, dass wir den Jugendlichen einen vernünftigen Umgang mit den Medien
zu vermitteln versuchen. Die Medien sind eine hervorragende Einrichtung. Gerade für Jugendliche aus nicht
sehr wohlhabenden Familien und für Jugendliche mit
Migrationshintergrund ist der Laptop eine Möglichkeit,
an Wissen heranzukommen, an das sie sonst nicht so
schnell kommen würden. Insofern ist das Internet, sind
die Medien eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit für
die Jugendlichen. Aber zugleich bergen sie Gefahren;
das darf man nicht übersehen. Wir müssen dafür sorgen
- das scheint mir auch Auftrag der Politik zu sein -, dass
die Jugendlichen Medienkompetenz erlangen, dass sie
nicht einfach alles in sich aufnehmen, sondern auch lernen, Inhalte einzuordnen und Abstand zu nehmen; das
ist wichtig. Hier ist die Kommunalpolitik gefordert.
({1})
Aber noch viel mehr sind an dieser Stelle die Schulen
gefordert. Dafür zu sorgen, ist ein wichtiger Auftrag der
Schule. Wir haben die Verpflichtung, den Schulen dies
mitzuteilen. Es kommt darauf an, dass gerade in den
Schulen die Medienkompetenz gestärkt wird.
({2})
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich die Jugend
für die Öffentlichkeit engagiert und sich für die Aufgaben in der Öffentlichkeit interessiert. Es gibt Politikverdrossenheit - das stellen wir immer wieder fest -, und
zwar in allen Schichten. Woher kommt sie? Eine Ursache mag sein, dass die Jugend nicht richtig informiert ist
bzw. vielleicht auch gar nicht richtig informiert wird,
weil die Jugendlichen, wenn sie abends den Fernseher
einschalten, zu jedem Thema diese und jene Meinung
hören und oft nur Streit wahrnehmen.
Das alles mag richtig sein, aber das bringt uns ja nicht
weiter und nützt ja nichts. Wir müssen die Jugend trotzdem an die Öffentlichkeit heranführen.
Hier scheint es mir wichtig zu sein, sich die Gedanken
zu machen, die Sie, Herr Bernschneider, hier vorgetragen haben. Wir müssen die Frage stellen: Wie können
wir die Jugendlichen stärker teilhaben lassen und die
Partizipation der Jugendlichen an der Öffentlichkeit und
an den Aufgaben der Öffentlichkeit verstärken? Ich weiß
nicht, ob es der richtige Weg ist, dass man jetzt das
Wahlalter senken und Volksentscheide herbeiführen will.
Wenn sie nicht zur Bundestagswahl gehen, dann gehen
sie über kurz oder lang auch nicht zu Volksentscheiden.
Das scheint nicht der richtige Weg zu sein.
Ich glaube auch, dass die plebiszitären Elemente mit
etwas mehr Vorsicht diskutiert werden müssen; denn
durch die plebiszitären Elemente wird in einer Massendemokratie die Verantwortung ausgeschaltet. Ich kann
das Volk für eine falsche Entscheidung nicht verantwortlich machen, aber ich kann eine Partei oder eine Regierung für eine falsche Entscheidung verantwortlich machen. Das Prinzip der Verantwortung gehört zu einer
Massendemokratie.
Ich glaube, dass die Jugendpolitik ein sehr wichtiger
Ansatz in der Politik insgesamt ist. Deshalb freue ich
mich über diese Diskussion heute. Sie soll unterstreichen, wie wichtig uns dieses Anliegen ist.
Danke schön.
({3})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Stefan Schwartze für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Eckpunkte der Bundesregierung für eine Eigenständige Jugendpolitik liegen uns jetzt seit über einem
Jahr vor, aber erst durch unsere Kleine Anfrage ist das
Parlament darüber informiert worden, was die Bundesregierung eigentlich plant.
Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen im Dialog
mit verschiedenen Akteuren Leitlinien für eine Eigenständige Jugendpolitik erarbeitet und dem Kabinett vorgelegt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die
Absicht, Jugendpolitik wieder sichtbar zu machen.
Wenn in den letzten Jahren über Jugendpolitik diskutiert worden ist, dann sehr oft defizitorientiert: über Jugendkriminalität, über Alkohol oder über Jugendarbeitslosigkeit. Wer redet aber eigentlich über die große
Mehrheit der Jugendlichen, die ihren Weg geht?
({0})
Wer hat eigentlich über die Probleme der Jugendlichen
in Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf diskutiert?
Wer hat darüber diskutiert, dass junge Menschen Zeit zur
Orientierung, Zeit für die eigene Entwicklung und Zeit
für das Meistern von Übergängen brauchen?
Wir brauchen ein Klima der Anerkennung und des
Respekts gegenüber den Jugendlichen, und wir müssen
wieder einen eigenständigen Politikbereich für die Jugend begründen. Ziel muss eine jugendpolitische Gesamtstrategie sein, wie sie leider schon lange nicht mehr
sichtbar ist. Das sage ich an dieser Stelle auch ganz
selbstkritisch.
Jede neue politische Maßnahme und jedes neue Gesetz müssen im Hinblick auf die Gesamtstrategie überprüft werden. Wir brauchen einen Jugendpolitik-TÜV.
({1})
Es ist wichtig, dass die Leitlinien einer Eigenständigen Jugendpolitik auch ressortübergreifend diskutiert
werden. Das Jugendministerium muss zumindest eine
Koordinationsfunktion für alle Politikfelder bekommen,
die für die Jugend relevant sind. Dabei darf es keine Ressortstreitereien geben. Ich weiß, Ihre Kernkompetenz
von Schwarz-Gelb ist eigentlich der Streit miteinander,
aber den müssen Sie an dieser Stelle einmal unter den
Tisch fallen lassen.
({2})
Die SPD hat die Jugendpolitik zum Thema ihres ersten Parteikonvents gemacht, und wir haben im Juni einen
Leitantrag zur Eigenständigen Jugendpolitik verabschiedet. Das war ein wichtiger und gut beachteter Impuls für
die Jugendpolitik.
({3})
Wo bleibt aber eigentlich Ihr Impuls?
({4})
Die Koalition schreibt den Antrag der Linken zum
Thema „Jugendfreundlichste Kommune“ ab.
({5})
Von uns kopieren Sie den Antrag zum Erhalt des Projekts der U-18-Wahlen. Herzlichen Glückwunsch! Das
hat die SPD schon für den letzten Haushalt gefordert.
Gut, dass Sie diesen Weg jetzt mitgehen.
Gegen die einzelnen hier geforderten Maßnahmen ist
nicht viel zu sagen:
({6})
ob das die Ausschreibung eines Preises für ein Praxishandbuch zur kulturellen Bildung ist oder der Preis für
die jugendfreundlichste Kommune. Aber das kann doch
an dieser Stelle nicht wirklich alles sein.
Jugendpolitik muss die Interessenvertretung für alle
jungen Menschen sein.
({7})
Die SPD will weder eine defizit- noch eine elitefixierte
Politik.
({8})
Wir wollen alle befähigen, ihre Talente zu entdecken und
ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
({9})
Im Bildungssystem brauchen junge Menschen auch
zweite und dritte Chancen. Man muss Fehler machen
dürfen.
({10})
Junge Leute brauchen diese Freiräume.
({11})
Sie brauchen Unterstützung beim Übergang von Schule
in Beruf. Sie brauchen einen Rechtsanspruch auf einen
Schulabschluss und auf eine Berufsausbildung.
({12})
Was tun Sie gegen die prekäre Beschäftigung, die besonders oft die jungen Menschen nach der Ausbildung
trifft? Wir dürfen an dieser Stelle keinen jungen Menschen zurücklassen. Wir brauchen eine echte Partizipation von jungen Menschen. Wir brauchen das Wahlrecht
ab 16 Jahren auch auf der Bundesebene.
({13})
Dazu findet sich in Ihren Anträgen kein Wort.
Eine Eigenständige Jugendpolitik ist eindeutig mehr
als das, was Sie hier auf den Tisch legen. Sie brauchen
eine Gesamtstrategie und das notwendige Geld. Beides
spielt in Ihren Anträgen leider keine Rolle.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/4754. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des 13. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung auf Drucksache 16/
12860, unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/3178 mit dem Titel „Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der
Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3863 mit dem Titel „Gesundes
Aufwachsen für alle Kinder möglich machen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/
10777. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9840. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9397 mit dem
Titel „Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen für
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
junge Menschen in Deutschland“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7846 mit dem Titel „Die jugendfreundlichste
Kommune Deutschlands“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung
- Drucksache 17/10773 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Max
Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bringen heute einen Gesetzentwurf ein, mit dem die Geringfügigkeitsgrenzen von 400 Euro auf 450 Euro und die Grenze für
das monatliche Gleitzonenentgelt ebenfalls um 50 Euro
auf 850 Euro angehoben werden sollen. Wir sind der
Meinung, dass diese Erhöhung angemessen und notwendig ist, weil wir seit 2003 eine starke Lohnentwicklung
feststellen können, aber die starre Entgeltgrenze bei geringfügiger Beschäftigung bei 400 Euro geblieben ist.
Dies wollten wir ändern.
({0})
Ich möchte zunächst anmerken, dass eine Geringfügigkeitsgrenze notwendig ist. SPD und Grüne haben in
ihrer Regierungszeit die Möglichkeit der geringfügigen
Beschäftigung stark eingeschränkt, um nicht zu sagen:
letztendlich ad absurdum geführt, und zwar dadurch,
dass sozialversicherungspflichtig Beschäftigte keine zusätzliche geringfügige Beschäftigung als bezahlte Arbeit
aufnehmen konnten. Infolgedessen musste festgestellt
werden, dass es vermehrt Schwarzarbeit gab. Die jüngste
dazu durchgeführte Umfrage zeigt das sehr deutlich.
({1})
- Zu den Haushalten wurde angegeben, Frau Kollegin
Ferner, dass 10 Prozent Hausarbeiten grundsätzlich in
Schwarzarbeit verrichten.
({2})
- Doch, das ist sogar heute noch der Fall.
({3})
18 Prozent haben erklärt, dass sie, wenn sie Arbeit anzubieten hätten, diese ebenfalls in Schwarzarbeit verrichten lassen.
Deshalb ist es meines Erachtens notwendig, dass wir
die Geringfügigkeitsgrenze regeln, weil es um Beschäftigung unsteter Art geht, die freundlich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auszugestalten ist, nämlich indem sie brutto für netto ausgezahlt bekommen.
Das ist der Sinn.
({4})
Das bedeutet auch, Frau Kollegin Ferner, dass es damit
mehr Rechtstreue auf dem gesamten Arbeitsmarkt gibt.
({5})
- Natürlich geht es um Rechtstreue. - Darüber hinaus ist
auch mit wesentlich stärkeren Sozialversicherungsbeiträgen für unsere sozialen Sicherungssysteme zu rechnen.
Die Arbeitgeber sind bei einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis verpflichtet, eine pauschale Umlage von
30,88 Prozent abzuführen. Davon erhalten die gesetzliche Rentenversicherung 15 Prozent und die gesetzliche
Krankenversicherung 13 Prozent.
({6})
2 Prozent fließen in die Arbeitslosenversicherung. Hinzu
kommen die pauschale Lohnsteuer bzw. die Kirchensteuer.
Frau Kollegin Ferner, es wird immer wieder unterstellt, dass Arbeitgeber in ihrer Gesamtheit ein Interesse
daran haben, Aufgaben zu stückeln und möglichst viele
geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen.
Das kann nicht im Interesse eines Arbeitgebers sein.
Denn die 30,88 Prozent muss der Arbeitgeber alleine tragen,
({7})
während er bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nur den hälftigen Satz zu tragen hat, nämlich
rund 19 Prozent.
Sehr deutlich ist auch, dass es ein großes Interesse der
Bürgerinnen und Bürger an diesen Beschäftigungsver23420
hältnissen gibt. Darüber hinaus können damit unregelmäßig vorkommende Arbeitsspitzen bewältigt werden.
Das hilft dem Betriebsinhaber.
Die Tankstelle, an der ich zu tanken pflege, wird vom
Betriebsinhaber und seiner Ehefrau betrieben. Sie sagen:
Wir brauchen ab und zu eine Entlastung beim Kassieren.
- Die Tankstelle ist bis 10 Uhr abends geöffnet. Deshalb
werden Schüler und Studenten eingesetzt, die froh sind,
in einem solchen Beschäftigungsverhältnis arbeiten zu
können und damit eine Zuverdienstmöglichkeit zu haben,
({8})
weil sie als Schüler oder Studenten nicht Vollzeit erwerbstätig sein können. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bieten diese Möglichkeit.
({9})
Deshalb schlagen wir die Erhöhung vor.
Zusätzlich schlagen wir vor, dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zukünftig generell rentenversicherungspflichtig sind.
({10})
Wenn wir zum 1. Januar des nächsten Jahres den Beitragssatz absenken, bedeutet das für den Einzelnen einen
Beitragsaufwand von 4 Prozent. Bei 450 Euro sind das
22 Euro Eigenbeitrag bei voller Leistung aus der Rentenversicherung - ob im Erwerbsunfähigkeitsfall oder
im Alter. Dafür plädieren wir.
Leider ist eine Opt-out-Regelung vereinbart, die es ermöglicht, dass man sich letztendlich wieder davon verabschiedet.
({11})
Ich bin davon überzeugt, dass Sie das nicht tun werden.
Ich appelliere auch an unseren Koalitionspartner, nochmals über eine generelle Rentenversicherungspflicht
nachzudenken, weil das weniger Bürokratie in den Betrieben bedeuten würde
({12})
und im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die dann versichert sind, ist. Auch die Arbeitgeberverbände - der HDE und die Gebäudereinigerverbände plädieren für eine generelle Rentenversicherungspflicht
für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.
Es wird immer insinuiert, geringfügige Beschäftigung
sei prekäre Beschäftigung.
({13})
Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind aber ganz
reguläre Arbeitsverhältnisse
({14})
mit Anspruch auf Urlaubsgeld und mit Anspruch auf
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
({15})
Das ist alles gesetzlich geregelt, werte Kolleginnen und
Kollegen aus den linken Reihen dieses Hauses. Wir müssen vielleicht daran arbeiten, dass dies noch stärker
durchgesetzt wird.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit
und bitte um Ihre Unterstützung unseres Gesetzes.
({16})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Bei
diesem Gesetzentwurf zeigen Sie, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, Ihr wahres Gesicht. Sie sind sich selbst für den gröbsten Unfug nicht
mehr zu schade.
({0})
- Entweder wissen Sie nicht, was Sie beschließen, oder
Sie kennen die Realität nicht. Eines von beidem muss es
sein.
Wer sich nämlich die Zahlen zu den Minijobstrukturen anschaut, kann einen solchen Gesetzentwurf nicht
ernsthaft zur Abstimmung stellen. Denn anstatt prekäre
Beschäftigung abzubauen, vergrößern Sie sie noch. Sie
sollten wissen, Herr Straubinger, was unter prekärer Beschäftigung zu verstehen ist. Ich will deshalb die Zahlen
noch einmal ein bisschen deutlicher machen.
Minijobs sind weiblich. Mehr als zwei Drittel der Minijobs werden von Frauen ausgeübt. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass zwei Drittel gerne mehr arbeiten würden, als sie es in einem Minijob oder auch in
Teilzeit tatsächlich tun. Aber insbesondere die Frauen
sind in den Minijobs gefangen. Sie verfestigen mit dieser
Minijobvariante in Verbindung mit der beitragsfreien
Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, dem Ehegattensplitting und der Steuerklasse V
auch noch die Rolle der Ehefrauen als Zuverdienerinnen
der Familie. Das kann ja wohl niemand ernsthaft bestreiten, auch bei Ihnen nicht.
({1})
Über 5 Millionen Menschen haben nur einen Minijob,
sonst keinen. Wenn man sich anschaut, welche Rentenansprüche daraus entstehen - darauf komme ich noch
zurück - und dass gerade in der Gruppe der 40- bis
55-Jährigen 1,4 Millionen Menschen nur einem Minijob
- keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Elke Ferner
nachgehen, dann kann man sagen, dass heute die Grundlagen für die Altersarmut von morgen gelegt werden. Sie
verschärfen dieses Problem mit Ihrem Gesetzentwurf
noch.
({2})
Sie erhöhen die Einkommensgrenzen, bis zu denen
Menschen ohne eigenständige soziale Absicherung arbeiten. Das ist absurd, und das ist vor dem Hintergrund
der Debatte, die Frau von der Leyen eben in Bezug auf
den Rentenversicherungsbeitrag noch einmal geführt
hat, auch scheinheilig. Frau von der Leyen beklagt in
Sonntagsreden die Altersarmut, insbesondere die von
Frauen, und werktags lässt sie ihr Ministerium eine Formulierungshilfe für einen Gesetzentwurf schreiben wie
den, den Sie heute einbringen, mit dem die Altersarmut
noch vergrößert wird. Die Wahrheit ist: Sie erhöhen die
ungeschützte Beschäftigung, statt sie zu verringern, und
verringern die geschützte Beschäftigung, statt sie zu erhöhen. Das ist die Folge dessen, was Sie machen.
({3})
Herr Straubinger, Sie haben zu Recht auf die gesetzlichen Regelungen verwiesen. Aber in Wahrheit - das wissen wir alle - sind die ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse, also Minijobs und geringfügige Beschäftigung
- das suggeriert der Name schon -, in der Realität Arbeitsverhältnisse nicht zweiter, sondern dritter Klasse.
Die Beschäftigten wissen häufig nicht um ihre Rechte.
Sie wissen nicht, dass sie einen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben. Sie wissen in der Regel
nicht um ihr Recht auf bezahlten Urlaub. Und sie wissen
auch nicht um ihr Recht auf gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit. Die Arbeitgeber enthalten ihnen diese
Rechte vor; denn nur so lohnt sich das für die Arbeitgeber,
Herr Straubinger. Ich möchte den Arbeitgeber kennenlernen, der freiwillig 30 Prozent zahlt, wenn er nur 20 Prozent Sozialversicherungsabgaben zahlen muss. Die Arbeitgeber sparen an anderen Stellen. Sie zahlen zwar
28 Prozent Sozialabgaben plus Pauschalsteuer, sparen
das aber ein, indem sie den Minijobberinnen und Minijobbern das vorenthalten, was ihnen gesetzlich zusteht.
Sie, Herr Straubinger, haben eben gesagt, dass Sie Gesetzestreue einfordern. Da frage ich mich: Wo enthält denn
Ihr Gesetzentwurf Maßnahmen, die dazu dienen, den
Missbrauch, der Tag für Tag bei den Minijobs stattfindet,
zu bekämpfen?
({4})
Die Minijobberinnen werden in der Regel schlechter
bezahlt. Zwei Drittel aller Minijobberinnen arbeiten für
Stundenlöhne in Höhe von weniger als 8,50 Euro. Sie erhalten häufig weniger Geld als die Teilzeitkollegin oder
der Vollzeitkollege, obwohl sie die gleiche Arbeit machen. Sie erhalten kein Geld, wenn sie krank werden,
und auch keinen bezahlten Urlaub.
Es gibt auch ganz Schlaue, die die Gesetze formal
einhalten; das hören wir ja immer wieder. Zuerst wird
eine niedrige Stundenzahl vereinbart. Dann gibt es regelmäßig Mehrarbeit. Wenn die Menschen dann krank werden oder bezahlten Urlaub machen wollen, dann werden
die Lohnersatzleistung und das Urlaubsgeld auf Basis
der geringen Stundenzahl berechnet. Das hat doch nichts
mit Gesetzestreue zu tun. Das kann auch niemand ernsthaft wollen. So kann man auf keinen Fall sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde Beschäftigung
schaffen. Vor diesem Hintergrund kann ich, ehrlich gesagt, nicht verstehen, warum Sie einen solchen Vorschlag machen, der vor allem zulasten der Frauen geht.
Von der FDP erwartet man eigentlich nichts anderes.
Aber dass die Union einen solchen Gesetzentwurf unterstützt, ist mir ein Rätsel.
Herr Straubinger, Sie begründen diesen groben Unfug
mit dem Hinweis, dass es nun endlich einen Inflationsausgleich geben muss. Das ist schon sehr bemerkenswert. Ich finde das, was Sie da machen, ziemlich schräg.
Sie erdreisten sich sogar, das in die Begründung des Gesetzentwurfs aufzunehmen. Einen Inflationsausgleich
bekommen die Beschäftigten, um die es hier geht, nicht
dadurch, dass man die Grenzen anhebt. Das bringt noch
keinen Cent mehr in die Taschen. Eigentlich müsste ein
Inflationsausgleich bzw. eine Lohn- oder Gehaltserhöhung parallel zur Entwicklung bei den regulär Beschäftigten erfolgen.
({5})
Herr Weiß, Sie suggerieren den Menschen: Weil wir
die Grenze auf 450 Euro erhöhen, bekommt ihr ab 1. Januar nächsten Jahres statt 400 Euro 450 Euro. - Das
stimmt aber nicht. Wenn die Arbeitszeit gleichbleibt,
gibt es nicht 50 Euro mehr. Was Sie hier machen, ist
mehr als schräg. Das Schlimmste ist, dass Sie mehr
Menschen in ungeschützte Beschäftigung drängen, als
wir heute ohnehin schon haben.
Schauen wir uns einmal an, wie sich das Ganze auswirkt. Wer heute 450 Euro brutto verdient, bekommt
nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen in der Steuerklasse V 314 Euro netto; nach der
Gleitzonenvariante sind es ungefähr 350 Euro. Jetzt
brauche ich doch nicht lange zu raten, wie sich Menschen, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, verhalten werden, damit ihnen 450 Euro netto ausbezahlt
werden können. Denn die Ehefrau ist beim Ehemann
beitragsfrei mitversichert, die hohen Steuern in der Steuerklasse V fallen auch nicht an, und der Splittingvorteil
erhöht sich sogar noch, welch Wunder. Man muss schon
sehr willensstark sein, wenn man diesen Verlockungen
widersteht. Es werden viele in dem Einkommenssegment die Minijobvariante wählen und damit aus der Sozialversicherung ausscheiden; denn diese Option besteht
immer noch. Das scheint Ihrem Kalkül zu entsprechen.
({6})
Ich muss sagen: Dieser Gesetzentwurf ist das Papier
nicht wert, auf dem er steht. Ich hoffe, dass er nicht beschlossen wird. Am besten würden Sie, Herr Straubinger,
diesen Gesetzentwurf einfach zurückziehen; denn er wird
nicht gebraucht.
({7})
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minijobs - das ist der Grund, warum wir als Koalitionsfraktionen diesen Gesetzentwurf hier vorlegen - sind ein Teil
des erfolgreichen deutschen Arbeitsmarkts;
({0})
sie werden von den Menschen nicht nur gebraucht, sondern sie sind auch beliebt - und das hat Gründe.
({1})
Sie leisten einen positiven Beitrag zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit - Kollege Straubinger hat es ausgeführt -, gerade in den privaten Haushalten. Frau Kollegin Ferner, Sie haben sich eben nicht vorstellen können,
warum auch Unternehmen Interesse an Minijobs haben.
Der Kollege Straubinger hat ein Beispiel aus der Praxis
gebracht, nämlich das des Tankstellenbetreibers; denn
Unternehmen brauchen zum Beispiel Flexibilität.
({2})
Vor allem leisten Minijobs einen positiven Beitrag für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt; denn sie ermöglichen ganz vielen unterschiedlichen Menschen in diesem Land, die aus den unterschiedlichsten Altersgruppen kommen und sich in den
unterschiedlichsten Lebenssituationen befinden, sich unkompliziert etwas dazuzuverdienen, und das ist richtig.
Deshalb ist es auch richtig, dass wir uns zu den Minijobs
bekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({3})
In Minijobs ist die vielfältigste Gruppe beschäftigt,
die wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben. Da ist
die Studentin, die sich neben ihrem Studium mit Kellnern etwas dazuverdient; da ist der Feuerwehrmann, der
am Wochenende gerne beim Cateringservice ein paar
Stunden aushilft; da ist die Seniorin, die noch bei einer
Nachbarin ein paar Stunden im Haushalt tätig sein will.
Das sind nur drei Beispiele, die ich aus meinem persönlichen Bekanntenkreis nennen will. All diese Menschen
üben Minijobs aus. Sie können die Minijobs nicht auf
wenige Fälle, wo wir möglicherweise Probleme haben,
reduzieren. Das wird diesem Instrument einfach nicht
gerecht. Es gibt 7 Millionen Minijobber in diesem Land,
Frau Kollegin Ferner.
({4})
Weil Minijobs ein beliebter Teil des erfolgreichen
deutschen Arbeitsmarkts sind, ist es auch richtig, dass
wir den Minijobbern zum ersten Mal seit zehn Jahren einen Inflationsausgleich ermöglichen. Immerhin ein Drittel der Minijobber arbeitet an der Grenze zu 400 Euro.
({5})
Es gibt viele, denen der Arbeitgeber gerne eine Gehaltserhöhung geben würde. Früher waren die Minijobs sogar
indexiert. Da ist die Grenze automatisch gestiegen. Es ist
richtig, dass wir jetzt, nach zehn Jahren, eine Erhöhung
vornehmen und die Grenze von 400 auf 450 Euro anheben.
({6})
Es ist auch richtig, dass wir im Bereich der Rentenversicherung ein System von Opt-out einführen;
({7})
denn wir reden darüber, bei Menschen mehr Bewusstsein zu schaffen, damit sie sich mehr Gedanken über ihre
rentenrechtliche Absicherung machen. Auch wenn Minijobs oft nur für eine kurze Zeit im Leben das Instrument
der Wahl sind, ist es richtig, dass derjenige, der sich
keine Gedanken macht, automatisch die vollen Beiträge
in die Rentenversicherung einzahlt und dadurch Vorteile
erwirbt. Gleichzeitig muss niemand, der das nicht will,
weil er etwa als Student noch nichts einzahlen will, mehr
einzahlen als heute. Deshalb ist Opt-out eine gute Lösung, der auch Sie eigentlich zustimmen könnten.
({8})
Ich will in der zweiten Hälfte meiner Redezeit,
({9})
weil die Argumente, warum man das dringend machen
muss, eigentlich auf der Hand liegen, darauf eingehen,
was Sie den Minijobs vorwerfen. Was haben wir eben
wieder gehört? Es würde eine Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch die Minijobs
stattfinden.
({10})
Da hilft es, sich einfach einmal die Fakten anzuschauen.
Ich zitiere jetzt die offiziellen Zahlen der Minijobzentrale, also der zuständigen Behörde. Drei Viertel der Arbeitgeber, die Minijobber beschäftigen, beschäftigen nur
bis maximal drei Minijobber.
({11})
Wenn Sie eine Vollzeitstelle durch Minijobs ersetzen
wollten - und das wird immer wieder behauptet -,
Johannes Vogel ({12})
bräuchten Sie schon vier. Das kann schon einmal nicht
aufgehen.
({13})
- Ich antworte gerne auf eine Zwischenfrage.
Sie sind schon zu einer Zwischenfrage eingeladen,
Frau Kollegin Zimmermann.
Eine Frage von der Kollegin Zimmermann, der Ausschussvorsitzenden, immer gern.
({0})
Danke, Herr Vogel; danke, Herr Präsident.
Herr Vogel, stimmen Sie mir zu oder ist Ihnen bekannt - fragen wir lieber so -, dass es gerade im Handel
durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten einen
Verdrängungseffekt bei Vollzeitarbeitsplätzen gibt und
dass dort aus Vollzeitarbeitsplätzen ein, zwei oder drei
Minijobs entstanden sind? Ist Ihnen das bekannt?
Mir sind die Zahlen im Handel sehr gut bekannt, denn
auch sie kann man bei der Minijobzentrale erfragen. Dabei kommt Folgendes heraus: Erstens. Für den gesamten
Arbeitsmarkt gilt, was ich eben gesagt habe: Drei Viertel
der Arbeitgeber beschäftigen gar nicht so viele Minijobber, dass sie auch nur eine Vollzeitstelle ersetzen könnten.
({0})
- Ich komme gleich zum Handel.
Zweitens. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen, die ja in diesen Monaten in
Deutschland Rekordwerte erreicht, wächst erheblich
stärker als die Zahl der Minijobber in Deutschland insgesamt.
({1})
Das heißt, offensichtlich findet hier keine Ersetzung
statt.
({2})
Das führt dazu, dass der Anteil von Minijobs im Verhältnis zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen
seit 2003, seitdem die rot-grüne Regierung die heutige
Regelung eingeführt hat, gar nicht zugenommen hat.
({3})
Es sind also im Verhältnis nicht mehr Minijobs entstanden, sondern eine Zunahme erfolgte zugunsten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Das, Frau
Kollegin Zimmermann, gilt genauso für den Handel und
übrigens ebenso für das Gaststättengewerbe. Eine Ersetzung müsste ja dazu führen, dass der Anteil der Minijobber im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten zunimmt.
({4})
Das Gegenteil ist der Fall, Frau Kollegin Zimmermann.
Ersetzung sieht bei aller Liebe anders aus. Sie ist einfach
nicht festzustellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Kommen wir zu dem zweiten Argument, das ich immer wieder höre, Minijobs würden bedeuten, die Menschen in den Niedriglohn abzuschieben.
({6})
Jetzt muss man berücksichtigen, dass den Minijob aus
Sicht des Arbeitnehmers ja gerade ausmacht, dass er sein
Gehalt brutto für netto bekommen kann. Das heißt, hier
ist es nicht fair, das Bruttogehalt zu vergleichen;
({7})
vielmehr müssen wir uns das Nettogehalt anschauen.
({8})
Dann schauen wir uns einmal das durchschnittliche
Nettogehalt von Minijobbern an. Wir sind uns, glaube
ich, alle einig: Minijobber sind in der Regel nicht Raketenwissenschaftler;
({9})
vielmehr handelt es sich natürlich eher um einfache Tätigkeiten. Trotzdem liegt das Nettodurchschnittsentgelt
({10})
von Minijobbern über der Niedriglohngrenze, auf netto
bezogen, sogar 2 Euro darüber. Das heißt, im Durchschnitt wird bei einem Minijob netto deutlich über dem
Niedriglohnsektor verdient. Dass also die Minijobs per
se Niedriglohn bedeuten würden, kann am Ende, netto
für den Beschäftigten in der Tasche, auch nicht stimmen,
und Sie sollten hier keine Unwahrheiten verbreiten, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({11})
Kommen wir zum letzten Aspekt, einem ernsten Aspekt, über den wir uns Gedanken machen sollten. Sie haben nämlich die Frage angesprochen, Frau Kollegin
Ferner: Wie sorgen wir dafür, dass Frauen, die nur einen
Minijob machen und gern mehr arbeiten wollen, aus
dem Minijob herauskommen können? - Ich glaube, das
Johannes Vogel ({12})
ist ein Ziel, das wir alle teilen. Jetzt muss man natürlich
nur - ({13})
- Hören Sie doch kurz zu, wenn wir uns ernsthaft darüber unterhalten wollen; vielleicht folgen Sie dann auch
meinem Gedankengang ein wenig.
({14})
Jetzt muss man sich in meinen Augen auch einmal anschauen: Liegt das wirklich an den Minijobs, oder hat
das andere Ursachen? In diesem Zusammenhang muss
man sich erst einmal vergegenwärtigen, dass ausweislich
aller Umfragen drei Viertel aller Minijobber gar nichts
anderes als einen Minijob machen wollen. In der Gruppe
derjenigen, die gern mehr arbeiten wollen, sind in der
Tat viele Frauen. Ich glaube, Sie haben die wahren
Gründe dafür auch benannt. Natürlich ist die Steuerklasse V hier ein Hindernis; natürlich geht es um die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf und um Betreuung.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns dem Ausbau von Betreuung widmen. Deshalb würde ich auch sagen: Lassen
Sie uns darüber diskutieren, ob die Steuerklasse V nicht
verzichtbar ist.
({15})
Nur hat dies mit dem Minijob an sich überhaupt
nichts zu tun. Der Minijob ist nicht die Ursache dieser
Probleme. Deshalb den Minijob jetzt kaputtmachen zu
wollen oder ihn zu diffamieren, das ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn Sie, falls Sie einen Motorschaden am
Auto haben und sich nicht leisten können, den Motor zu
reparieren, einfach das Getriebe austauschen, weil das
Auto nicht mehr fährt.
({16})
Das bringt nichts. Das bringt Ihrem Auto nichts,
({17})
und das löst auch das Problem nicht. Deshalb ist es auch
falsch, hier die Minijobs anzugehen, wenn die Ursachen
der Probleme in Wahrheit woanders liegen. Es ist übrigens vor allem auch unfair gegenüber denjenigen, die
eben gar nicht mehr wollen als einen Minijob. Die
größte Alterskohorte derjenigen, die einen Minijob machen, liegt im Alter zwischen 20 und 25 Jahren. Das gilt
für Männer wie für Frauen; das sind die Studenten. All
denen würden Sie einen Bärendienst erweisen, wenn Sie
hier den Minijob diffamieren.
({18})
Ich kann nur sagen: Die Kritikpunkte -
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Der letzte Satz: Die Kritikpunkte am Minijob halten einer Faktenüberprüfung nicht
stand. Ich freue mich, wenn wir das in der zweiten und
dritten Lesung noch vertiefen können. Auf der bisherigen Grundlage kann ich nur sagen: Dann sollte man den
Minijobs aber auch nicht über die Inflation langsam die
Luft abschnüren, sondern muss eine Anhebung der
Grenze vornehmen, so wie wir das hier machen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und deshalb ist das auch
richtig für die Minijobber in diesem Land.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich darf Ihnen von der Koalition erst einmal
ein ganz großes Kompliment aussprechen: Sie schaffen
es immer wieder - Herr Kober lächelt schon -, den Menschen im Lande Ihre Arbeitsmarktpolitik unter dem Label „hohe Zuverlässigkeit und hohe Konstanz“ zu verkaufen. Ich will es Ihnen auch erklären. Konstant und
zuverlässig können die Beschäftigten im Niedriglohnsektor erwarten, dass sie von Ihrer Arbeitsmarktpolitik
keine Verbesserungen bekommen werden.
({0})
Konstant und zuverlässig dürfen sie damit rechnen, dass
Sie diesen Niedriglohnsektor weiter ausbauen werden.
Das beweisen Sie heute mit Ihrem Gesetzentwurf einmal
mehr.
({1})
Durch die Anhebung der Entgeltgrenze bei geringfügig entlohnter Beschäftigung auf 450 Euro bauen Sie
den Niedriglohnsektor weiter aus - das ist heute des Öfteren schon gesagt worden - und setzen den Weg fort,
den die SPD unter Kanzler Schröder mit der Deregulierung der Minijobs 2003 begonnen hatte. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird dargelegt, dass noch nie
so viele Menschen in Beschäftigung waren wie heute.
Dies ist heute ja schon öfter von Ihrer Seite gefallen.
Sie verschweigen aber, dass noch nie so viele Menschen in prekärer Arbeit wie heute waren. Wir müssen
doch feststellen, dass in den letzten Jahren der Niedriglohnbereich stark angewachsen ist. Dazu geht die sozialSabine Zimmermann
versicherungspflichtige Beschäftigung in Vollzeit beständig zurück und wird von Teilzeit und Minijobs
abgelöst. Immer mehr Menschen finden keine existenzsichernde Arbeit, und das ist der Skandal, meine Damen
und Herren.
({2})
Dies ist ein spezifisch deutsches Problem. In keinem
anderen europäischen Land ist der Niedriglohnbereich
so rasant gewachsen wie bei uns. Deutschland ist in Europa zum Motor der Niedriglohnbeschäftigung geworden. Dies wollen Sie jetzt auch noch über den Fiskalpakt
zum Exportschlager für Europa machen.
({3})
Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, und darüber sollten Sie
vielleicht einmal nachdenken.
({4})
Viele Arbeitgeber haben in den letzten Jahren reguläre Beschäftigung in Minijobs umgewandelt, um flexibel zu bleiben und Geld einzusparen. In manchen Bereichen ist die geringfügige Beschäftigung kurz davor, zur
Regelbeschäftigung zu werden, zum Beispiel in der Gastronomie, Herr Vogel.
Lieber Herr Vogel, sosehr ich Sie als Kollege schätze,
so wenig - das muss ich Ihnen sagen - kann ich Ihre arbeitsmarktpolitischen Überlegungen nachvollziehen. In
der vergangenen Woche haben Sie in den Medien darüber gesprochen, dass Minijobs eine beliebte Möglichkeit seien, sich etwas dazuzuverdienen. Vorhin haben Sie
das ja hier auch gesagt. Ich sage Ihnen: Die Leute wollen
aber keine Minimalbeschäftigung zu Hungerlöhnen.
({5})
Sie wollen eine Arbeit, von der sie ihre Familie ernähren
können und von der sie auch noch etwas für ihre Rente
ansparen können.
({6})
Darüber sollten Sie nachdenken.
Hinzu kommt, dass Sie die Anhebung der Entgeltgrenze der Minijobs als eine Art Lohnerhöhung darstellen - Frau Kollegin Ferner ist schon darauf eingegangen -, da Sie anscheinend davon ausgehen, dass die
Arbeitgeber sogleich die 50 Euro mal eben obendrauf
aufschlagen. Hätten Sie sich aber vorher einmal sachkundig gemacht, wüssten Sie, dass ein Minijobber im
Schnitt nur 260 Euro verdient, nein, bekommt - er verdient das ja nicht, er bekommt es - und eben nicht die
400 Euro. Somit ist Ihre Argumentation doch ein totaler
Unsinn, oder man muss feststellen, dass Sie die Öffentlichkeit bewusst täuschen wollen.
({7})
Von einem besonderen Zynismus zeugt die Begründung des Gesetzentwurfes, dass die nun einzuführende
Rentenversicherungspflicht das Bewusstsein der geringfügig Beschäftigten für ihre Alterssicherung stärken
solle. Glauben Sie denn wirklich, dass die Menschen
nicht wissen, dass sie in die Altersarmut reingehen,
wenn sie einen Minijob haben, und dass sie damit auch
gar keine nennenswerten Rentenansprüche erarbeiten?
Da ist doch Altersarmut vorprogrammiert.
Meine Damen und Herren der Regierung, ich sage Ihnen: Verlassen Sie endlich diesen Irrweg der Niedriglohnpolitik, tun Sie etwas für gute Arbeit, für einen guten Lohn, damit die Menschen auch etwas für ihre Rente
ansparen können.
In diesem Sinne: Danke schön.
({8})
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die negativen Auswirkungen von Minijobs sind allenthalben bekannt, außer bei Herrn Vogel natürlich.
({0})
Die Stichworte sind genannt worden: Niedriglohnfalle;
84 Prozent aller Minijobberinnen arbeiten im Niedriglohnbereich; berufliche Sackgasse für die Frauen; Einnahmeverluste für die Sozialversicherung; Altersarmut.
Mit anderen Worten: Die Ausweitung der Minijobs ist
eine Politik, die in die völlig falsche Richtung geht.
({1})
Herr Vogel, daran ändert das Feigenblatt der Opt-outRegelung wirklich gar nichts, und zwar deshalb nicht,
weil diese Regelung nicht wirkt. Sie ist unwirksam.
Wenn Sie einmal die Begründung in Ihrem eigenen Gesetzentwurf lesen, dann stellen Sie das fest. Sie selber
gehen davon aus, dass sich 90 Prozent aller Minijobber
und Minijobberinnen von der Pflicht befreien lassen, in
die Rentenversicherung einzuzahlen. Das heißt, für einen minimalen Effekt von zehn Prozent erzeugen Sie einen maximalen bürokratischen Aufwand
({2})
für die Betroffenen selbst.
({3})
Sie selber gehen davon aus, dass ein Antrag auf Optout bei dem Betroffenen 40 Minuten Zeit in Anspruch
nimmt, bei dem Betrieb 15 Minuten. Sie selber gehen
davon aus, dass 3 150 000 Opt-out-Anträge gestellt werden. 3 150 000 Anträge verursachen einen Zeitaufwand
von 787 500 Stunden. Das entspricht 22 Millionen Euro
Lohnkosten in den Betrieben.
({4})
Meine Damen und Herren, das ist kafkaesk. Ich fordere
Sie auf: Stoppen Sie diesen Wahnsinn!
({5})
Ich frage mich wirklich, wo in dieser Debatte eigentlich die Arbeitsministerin ist.
({6})
Noch vor einem Jahr hat die Arbeitsministerin der Wochenzeitung Die Zeit ins Blatt diktiert - ich zitiere -:
... ich bin eine entschiedene Gegnerin der Ausweitung von Minijobs.
({7})
Aus dieser entschiedenen Gegnerin ist jetzt aber eine
Handlangerin geworden. Frau Ferner hat schon darauf
hingewiesen: Dieser Gesetzentwurf ist im Bundesarbeitsministerium entstanden.
({8})
Die Autorin dieses Gesetzentwurfs ist diese Gegnerin
der Ausweitung von Minijobs. Frau Ministerin von der
Leyen warnt intensiv vor Altersarmut und tut so, als
wollte sie die Altersarmut bekämpfen. Die Ausweitung
von Minijobs ist die Ausweitung von Altersarmut, meine
Damen und Herren,
({9})
insbesondere die Ausweitung der Altersarmut von
Frauen.
Nun vergeht zumindest gefühlt kein einziger Tag, an
dem diese Bundesarbeitsministerin nicht den Eindruck
erweckt, als sei sie die Speerspitze der Frauenbewegung.
Ganz besonders groß ist ihr Engagement, wenn es um
den Zuständigkeitsbereich ihrer Kabinettskollegin geht.
({10})
Zur Frauenquote, zum Betreuungsgeld, zur Altersarmut
von Frauen - Frau von der Leyen hat eine dezidierte
Auffassung, und damit hält sie auch nicht hinterm Berg.
Sie weiß wirklich alles, und im Zweifel weiß sie es auch
besser, zumindest besser als die Frauenministerin. Nun
werden Sie sagen: Das ist keine Kunst.
({11})
Aber, meine Damen und Herren, wenn es um ihre originäre Zuständigkeit geht, dann lässt diese Speerspitze der
Frauenbewegung die Frauen im Stich.
({12})
Aus der Vorkämpferin für Frauenrechte wird dann ein
Duckmäuschen.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie kennen wahrscheinlich
alle die von breiten Kreisen getragene Kampagne „Nicht
meine Ministerin“. Diese Kampagne richtet sich noch
gegen Frauenministerin Schröder. Frau von der Leyen
muss aufpassen, dass nicht auch sie bald Gegenstand
dieser Kampagne wird.
Ich danke Ihnen.
({14})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Heute Nachmittag muss man sich ernsthafte Sorgen um
unsere Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion
und aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen machen.
({1})
Wenn ich die Debattenbeiträge des heutigen Nachmittags Revue passieren lasse, frage ich mich: Wer hat Regierungsverantwortung getragen, als in das Gesetz geschrieben wurde: „Bei einer Nachhaltigkeitsrücklage
von 1,5 Monatsausgaben muss automatisch der Rentenversicherungsbeitrag gesenkt werden“?
({2})
Welcher Partei gehörte jener Finanzminister an, der
schon einmal zur Haushaltskonsolidierung befristet den
allgemeinen Bundeszuschuss zur Rente abgesenkt hat?
Wer hat am 1. April 2003 dieses Land regiert, als das
heute gültige Minijobgesetz in Kraft getreten ist?
({3})
- Es war nicht die CDU/CSU. Es war nicht die FDP. Es
waren auch nicht die Linken. Wer hat denn unser Land
in dieser Zeit regiert? Es war Rot-Grün!
({4})
Alles, was Rot-Grün in der heutigen Debatte als Konsequenz der eigenen Gesetzgebung beklagt, kann sie nicht
bei der heutigen Regierungsbank abladen. Das muss sie
bei sich selber abladen.
({5})
Peter Weiß ({6})
Alle Finger, mit denen auf diese Regierungsbank gezeigt
wird, zeigen automatisch auf euch, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, zurück.
({7})
Genauso ist es bei der Grenze von 400 Euro bei einem
Minijob.
({8})
Der Kollege Straubinger hat zu Recht vorgetragen:
Wenn heute bei den Minijobs eine Grenze von 450 Euro
vorgeschlagen wird, dann ist das exakt die Nachholung
der Lohnsteigerung, der Inflation, der Preissteigerung, in
den letzten zehn Jahren, nichts anderes.
({9})
Wenn heute 450 Euro falsch sind, dann waren 400 Euro
im Jahr 2003 erst recht falsch. Das ist einfache Mathematik.
({10})
Deswegen ist alle Kritik, die Sie hier an dem Betrag vortragen, völlig falsch und völlig fehlgeleitet. Es fällt auf
Sie zurück.
({11})
Es gibt einen wichtigen Punkt, den ich herausheben will.
Es ist schon eine entscheidende Frage, ob die Masse der
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ohne Ansprüche an die Sozialversicherung bleibt oder nicht. Deswegen ist es ein entscheidender Schritt, den wir heute vorschlagen,
({12})
dass künftig auch eine Minijobberin oder ein Minijobber
in die Rentenversicherung einzahlt und damit Rentenversicherungsansprüche begründet.
({13})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man Altersarmut verhindern will, dann muss der Grundsatz gelten: Ab dem ersten Euro, der verdient wird, Beiträge in
die Rentenversicherung!
({14})
Den Grundsatz setzen wir heute durch.
({15})
Natürlich, aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis oder einem anderen Beschäftigungsverhältnis,
bei dem man nicht sehr viel verdient, erwachsen nicht
massenhaft Rentenansprüche. Für einen Schüler oder
Studenten zum Beispiel, der einen 400-Euro-Job hat, ist
es aber doch gut, erste Ansprüche in der Rentenversicherung zu erwerben,
({16})
auf die er später hoffentlich mit einem guten Gehalt aufbauen kann. Es ist doch für jemanden, der zusätzlich zu
seinem normalen Job noch einmal 400 oder 450 Euro
verdient, gut, wenn er auch hieraus Rentenansprüche erwirbt und nicht nur aus seinem eigentlichen Gehalt.
({17})
Selbst für denjenigen, der zeitweise oder auch für etliche
Jahre nur einen Minijob hat, ist doch diese Ergänzung
für die Rente wichtig.
({18})
Es ist wichtig, dass er auch in dieser Zeit Rentenansprüche erwirbt.
Im Übrigen ist nicht nur die Frage wichtig, „Wie viel
Entgeltpunkte habe ich in der Rentenversicherung durch
konkrete Beitragszahlungen angesammelt?“, sondern die
Frage ist auch: „Habe ich die Anwartschaftszeiten in der
Rente erfüllt?“ Dass die Zeit, in der ein Minijob ausgeübt wird, mitzählt, ist ebenfalls ein wichtiger Gewinn für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land.
({19})
Heute wird gegenüber dem Gesetz aus rot-grüner Zeit
nichts verschlechtert, sondern etwas Entscheidendes verbessert, indem Rentenbeiträge für Minijobber zur Regel
werden. Das ist der eigentliche große Erfolg, den wir in
dieser Koalition schaffen. Wir verbessern das, was in
rot-grüner Zeit nur schlecht gemacht worden ist.
({20})
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der Grünen? Ich habe jetzt nicht aufgepasst.
Ja, wenn die Debatte verlängert werden soll, bitte.
Kollegin Pothmer, bitte.
Herr Kollege Weiß, ich frage Sie, ob Sie die Begründung Ihres Gesetzentwurfes gelesen haben
({0})
und ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass Sie selber - sozusagen die Autorinnen und Autoren des Gesetzentwurfes - davon ausgehen, dass diese Opt-out-Regelung dazu führen wird, dass 90 Prozent aller
Minijobberinnen und Minijobber eben nicht die Rentenbeiträge zahlen, sondern einen Antrag stellen werden,
um sich davon zu befreien?
({1})
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es über diesen Weg
unmöglich zu erreichen sein wird, dass alle Minijobberinnen und Minijobber Beiträge in die Rentenversicherung zahlen?
Verehrte Frau Kollegin Pothmer, es gibt einen entscheidenden Unterschied zur heutigen Situation. Wer
heute einen Minijob annimmt, muss von sich aus tätig
werden
({0})
und einen Antrag stellen, dass er gerne einen Beitrag in
die Rentenversicherung zahlen will. Künftig - das ist der
entscheidende Unterschied - ist man automatisch in der
Rentenversicherung versichert, muss seinerseits aktiv
werden
({1})
und eine Erklärung abgeben: Ich möchte keinen Rentenversicherungsbeitrag zahlen.
Frau Kollegin Pothmer, es wird auch an uns selber
liegen, ob wir als Abgeordnete zum Beispiel in unseren
Wahlkreisen bei den Betroffenen dafür werben, diese gesetzliche Regelung zu akzeptieren und zu praktizieren
({2})
und nicht die Ausnahmeregelung für sich in Anspruch zu
nehmen.
({3})
Ich gebe ehrlich zu - damit möchte ich zum Abschluss kommen -, dass die Arbeitgeber zu Recht darauf
hinweisen, dass eine solche Opt-out-Regelung zusätzliche Bürokratie für sie bedeutet.
({4})
Deswegen bin ich der Auffassung, dass es gut wäre,
wenn wir noch einmal über diese Opt-out-Regelung
nachdächten.
({5})
Aber, Frau Kollegin Pothmer, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, ist
immerhin eine deutliche Verbesserung gegenüber dem,
was heute im Gesetz steht. Wir sind also auf dem richtigen Weg: für mehr Sozialversicherung, auch für Minijobber, und damit für mehr Ansprüche in der Rentenversicherung.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10773 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Dorothée Menzner, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein Sponsoring
der Konzerne durch Stromkunden
- Drucksachen 17/8608, 17/9999 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Marco Bülow
Eva Bulling-Schröter
Hans-Josef Fell
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Wir haben einen Antrag vonseiten der Linken
zum Thema Energieintensive Industrie vor uns liegen.
Ich möchte ganz offen für diesen Antrag danken, weil er
noch einmal deutlich macht, welche Wahlkampfstrategie
Sie schon jetzt für die nächsten Monate einleiten.
Sie möchten im Zuge der Energiedebatte, die für unser Land sehr wichtig ist, im Wahlkampf eine reine Verteilungsdebatte führen. Ihnen geht es nicht mehr darum,
wie wir die Energiewende gemeinsam meistern, wie wir
es schaffen, die Energiewende für jeden bezahlbar zu
machen, sondern Sie fragen nur noch, wer diese Energiewende bezahlt.
Ich glaube, dass die Debatte, die Sie anstoßen - übrigens auch mit Unterstützung der Grünen und der SPD
oftmals -, uns auf einen Irrweg führt und Sie damit eine
Zündschnur an die Energiewende legen. Sie sind damit
eine große Gefahr für die Energiewende.
({0})
Wir sind der Auffassung: Die Energiewende muss für
alle bezahlbar sein. Jeder muss Gewinner der Energiewende sein. Deshalb sollten wir andere Debatten führen.
Ich nehme Ihren Antrag jedoch gerne zum Anlass, dass
wir einmal sehr grundsätzlich über die Frage diskutieren,
wie wir die energieintensiven Industrien schützen, weil
wir damit auch Arbeitsplätze schützen. Ich unterstütze
gerne deutsche Arbeitsplätze und innovative Unternehmen in unserem Land.
({1})
Deshalb ist es richtig, sich die energieintensiven Industrien einmal genau anzuschauen.
Wir haben in Deutschland 5,7 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie, die wiederum 45 Prozent des
Stroms verbraucht. Knapp 1 Million Arbeitsplätze gibt
es in den energieintensiven Industrien; 53 Milliarden
Euro werden in diesen Industrien erwirtschaftet. Dazu
gehören die Papierindustrie, die Glasindustrie, die Chemieindustrie. Die wichtigen Werkstoffe Aluminium,
Kupfer und Zink werden hier produziert. Diese Werkstoffe bilden die Grundlage unserer Energiewende. Beispielsweise braucht man für den Bau einer Offshorewindanlage allein 30 Tonnen Kupfer. Das zeigt, dass wir
diese Werkstoffe brauchen, dass wir günstige und bezahlbare Werkstoffe brauchen, um die Energiewende tatsächlich zu meistern.
({2})
Wir brauchen in Deutschland wettbewerbsfähige Energiepreise.
({3})
Wenn man sich die Preise anschaut, dann bereitet das
schon Sorge. Die Stromkunden aus der Industrie zahlen
in Deutschland bereits heute 10 Eurocent je Kilowattstunde. In Frankreich sind es nur 5,6 Cent je Kilowattstunde. In den USA liegen die Preise bei 4 bis 5 Cent je
Kilowattstunde.
({4})
Da zeigt sich, dass wir bereits heute einen erheblichen
Wettbewerbsnachteil haben und dafür sorgen müssen,
dass dieser Nachteil nicht noch ausgeweitet wird. Deshalb müssen wir großes Augenmerk auf diese Preise legen. Eine mittelständische Chemiefirma hat heute schon
500 000 Euro bis 1 Million Euro mehr Energiekosten als
eine vergleichbare Firma in Frankreich.
({5})
Die Zahlen allein zeigen schon, lieber Herr Krischer,
dass das arbeitsplatzgefährdend sein kann.
({6})
Es ist deshalb richtig - jetzt ist auch mal ein Lob für
Rot-Grün fällig -, dass Rot-Grün diese damals neuen
Kosten für die energieintensiven Industrien zum Anlass
genommen hat, diese Industrien zu entlasten.
({7})
Sie haben damals, im Jahr 2000, die EEG-Befreiung auf
den Weg gebracht. Nur war es damals falsch, dass Sie
von Rot-Grün nur die großen Konzerne mit einem Verbrauch von mehr als 10 Gigawattstunden entlastet haben. Wir haben in der jetzigen Koalition dafür gesorgt,
dass auch der industrielle Mittelstand entlastet wird,
({8})
der in einem enormen Wettbewerb steht; er muss stärker
im Fokus stehen.
({9})
Das haben wir in der jetzigen Koalition entsprechend angepasst.
Wir haben klare Kriterien eingeführt.
({10})
Wir haben gesagt: Internationaler Wettbewerb und Energieintensität müssen vorliegen, und der Verbrauch muss
mehr als 1 Gigawattstunde betragen. Das sind klare Kriterien, die Willkür verhindern und klar regeln, wer Nutznießer ist.
({11})
Beim Netzentgelt haben wir an das angeknüpft, was
Rot-Grün gemacht hat, und sind sogar noch weiter gegangen, indem wir gesagt haben, dass wir auch die Systemrelevanz als Grundlage sehen müssen, angefangen
beim großen Pumpspeicherkraftwerk, das wir für die
Energiewende brauchen, bis hin zu kleinen Wärmepum23430
pen und Nachtspeichern. Ich glaube, das ist der richtige
Weg. Auch das muss der Wahrheit halber gesagt werden.
({12})
Auch beim Spitzenausgleich führen wir fort, was RotGrün begonnen hat. Wir gehen sogar noch einen Schritt
weiter als Rot-Grün:
({13})
Wir zahlen den Spitzenausgleich ab 2013 nur noch dann,
wenn in dem Unternehmen wirklich ein Energiemanagementsystem eingeführt wird
({14})
und wenn ganz klar und deutlich eine Energieeffizienzsteigerung zu erkennen ist. Auch da gehen wir sogar
noch weiter als Rot-Grün.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entlastungen sind notwendig. Ich will den Vorwurf ausräumen,
dass die energieintensiven Industrien nichts zahlen. Die
chemische Industrie allein zahlt 720 Millionen Euro
EEG-Umlage. Das sind pro Arbeitsplatz 1 800 Euro
EEG-Umlage.
({16})
Wenn Sie diese Zahl noch nicht überzeugt, dann rate ich
gerade Ihnen von den Linken zu Gesprächen mit den Gewerkschaften, die vehement für Entlastungen für die
energieintensiven Industrien kämpfen. Vor wenigen Tagen hat die Kanzlerin, wie man in der Zeitung liest, ein
Schreiben von den Gewerkschaften bekommen. Herr
Vassiliadis schreibt hier:
Eine der wichtigsten Standortbedingungen für die
energieintensive Chemieproduktion ist die Gewährung von Entlastungsregelungen, beispielsweise bei
EEG, Ökosteuer und Emissionshandel.
In diesem Sinne packen wir die Energiewende an,
entlasten diejenigen, die es brauchen,
({17})
und sichern damit Arbeitsplätze. Ich denke, wir machen
dort weiter, wo Rot-Grün aufgehört hat.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen hier
doch einmal die Wahrheit auf den Tisch bringen.
({0})
Heute hat der Herr Kollege Bareiß gesprochen. In der
ersten Lesung am 29. März dieses Jahres hat der CDUKollege Koeppen über den Titel des Antrags der Linken
- ich will ihn noch einmal nennen: „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein
Sponsoring der Konzerne durch Stromkunden“ - gesprochen. Der Herr Kollege bemühte an dieser Stelle den
Duden. Er hat gesagt:
„Unberechtigt“ heißt rechtswidrig, heißt ungesetzlich, heißt illegal oder auch, wenn man es weitertreiben würde, kriminell.
Mal ganz abgesehen davon, dass „kriminell“ im Duden
nicht als Synonym für „unberechtigt“ geführt wird, ist
das ja nur eine der Bedeutungen.
({1})
„Unberechtigt“, so sagt der Duden, kann ebenfalls
„grundlos“ oder „unbegründet“ heißen, aber die Begriffe
„grundlos“ und „unbegründet“ sind weniger spektakulär,
und - was noch viel wichtiger ist - darauf kann man
keine billige Polemik aufbauen.
({2})
Ich persönlich halte diese Art des Umgangs mit dem
Duden für bezeichnend für die Regierungskoalition.
({3})
Sie sehen immer nur die halbe Wahrheit. Was Ihnen
nicht passt, das blenden Sie einfach aus.
({4})
Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir alle uns in einem Punkt sehr einig sind, nämlich dass die energieintensiven Unternehmen, die auch im internationalen
Wettbewerb stehen, nicht zusätzlich belastet werden sollen. Dazu stehen wir als SPD, und so hatten wir es damals unter Rot-Grün bei der Ökosteuer festgeschrieben.
Ausnahmeregelungen müssen begründet sein; auch dazu
stehen wir. Genau diese Regelung - das gehört ebenfalls
zur Wahrheit - hat Schwarz-Gelb in diesem Jahr entscheidend geändert. Früher galt, dass ein Unternehmen
ab einem Stromverbrauch von 10 Gigawattstunden pro
Jahr als energieintensives Unternehmen geführt wurde.
Heute reicht ein Jahresverbrauch von 1 Gigawattstunde.
Waltraud Wolff ({5})
Was - meine Damen und Herren hier oben, Sie wissen es
bestimmt nicht - bedeutet das denn?
({6})
Das bedeutet, dass heute statt 540 Unternehmen - ich
beziehe mich jetzt auf Zahlen der Bundesregierung 1 600 oder mehr Unternehmen entlastet werden. Mit anderen Worten: Statt 2,1 Milliarden Euro werden künftig
bis zu 3,2 Milliarden Euro an Erneuerbarer-EnergienUmlage von kleinen Unternehmen und von den Privathaushalten bezahlt. Das ist doch wieder eine richtige
Entscheidung à la FDP. Irgendwie hat mich das an die
Steuergeschenke an die Hoteliers erinnert.
({7})
Da fragt sich natürlich auch der kleine Handwerker,
weshalb er eigentlich für ein großes Kaufhaus die EEGUmlage zahlen soll, und auch die Rentnerin fragt sich,
wieso sie eigentlich die Kosten schultern soll, damit ein
Hotel entlastet werden kann. Diese besondere Ausgleichsregel ist einzig und allein für die energieintensiven Unternehmen geschaffen worden, weil wir die Arbeitsplätze und Deutschland als Industriestandort erhalten wollen. Es muss die Frage erlaubt sein: Ist die
massive Ausweitung, die diese Koalition jetzt vorgenommen hat, überhaupt begründbar?
Die Bundesnetzagentur hat im März dieses Jahres einen Bericht vorgelegt, in dem sie zu dieser Frage Stellung explizit genommen. Sie hat gefragt, ob das wirklich
noch die richtige Balance ist. Es wird ausgeführt, dass
im Jahr 2012 die begünstigten Unternehmen zwar
18 Prozent des gesamten Stroms verbraucht haben, aber
- das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen sage und schreibe nur einen Anteil von 0,3 Prozent an
der Erneuerbaren-Energien-Umlage bezahlt haben. Mit
anderen Worten: Die Umlage, die uns demnächst ins
Haus steht, nämlich 3,59 Cent je Kilowattstunde, läge
ohne dieses Privileg bei genau 3 Cent pro Kilowattstunde.
Ich sage es noch einmal: Wir als SPD stehen zu einer
Ausnahmeregelung. Die Bundesnetzagentur hat doch
völlig recht, wenn sie infrage stellt, ob hier noch die
richtige Balance gewahrt wird und ob kleine Unternehmen und Privathaushalte an dieser Stelle in die Bresche
springen sollten für Unternehmen, die neuerdings zu den
intensiven Energieverbrauchern gehören sollen.
Übrigens klagte Schwarz-Gelb die ganze Zeit - auch
das ist sehr bezeichnend - über die hohen Kosten, die
mit der Erneuerbaren-Energien-Umlage für die privaten
Haushalte verbunden sind. Bei dieser Geschenkerunde
jetzt sagt aber niemand von Ihrer Seite, dass die Privathaushalte und die kleinen Unternehmen die Zeche dafür
bezahlen. Das ist doch die Wahrheit.
({8})
Sie selber mit Ihrer Gesetzgebung sind die Kostentreiber
bei der Umlage für erneuerbare Energien.
Ich bin Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Wir sind lange der
Frage nachgegangen, wie wir unseren Wohlstand erhalten und trotzdem den unsäglich großen Verbrauch unserer Umwelt begrenzen können. Ist es möglich, diese Prozesse zu entkoppeln und unser Klima zu schützen? Ein
Baustein - das ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg unstrittig - ist der sparsame Umgang mit Energie. Wird der
Strom teurer, sieht jeder zu, dass er Strom sparen kann.
Das machen auch Unternehmen. Diesen Fakt haben besonders die Unionspolitiker und die FDP-Politiker betont. Klar ist aber, dass die Ausweitung dieser Ausnahmeregelung diesem Ansatz widerspricht. Damit kommt
man nicht zu Einsparungen, und so verbessert man auch
nicht die Energieeffizienz.
Was spräche eigentlich gegen ein verpflichtendes
Energiemanagement als Voraussetzung für die Begünstigung bei der Energiesteuer? Darüber sollte man einmal
nachdenken. Ein Energiemanagement, das nicht nur den
Energieverbrauch und die Einsparpotenziale bewertet,
sondern auch die Umsetzung von empfohlenen Maßnahmen vorschreibt, wäre eine Möglichkeit, um in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für diese Begünstigung zu
erreichen.
Ein Teil unserer Industrie, an dem Arbeitsplätze und
Wohlstand hängen, ist stromintensiv, keine Frage. Niemand will die Produktion aus Deutschland verbannen.
Fakt ist aber, dass bis 2020 - nach Schätzungen - 20 bis
40 Prozent des Energieverbrauchs in der Industrie durch
einen wirtschaftlicheren Einsatz eingespart werden
könnten. Dieses Potenzial müssen wir heben. Hier muss
man ansetzen und nicht entlasten, wenn mehr verbraucht
wird.
({9})
Entlastungen dürfen nur dort erfolgen, wo sie notwendig
sind.
Zum Schluss: Viele Fragen, die in Ihrem Antrag, im
Antrag der Linken, gestellt werden, sind richtig. Ihr Antrag enthält aber viele pauschale Äußerungen in Bezug
auf Industrie und Standortfragen, die Arbeitsplätze betreffen. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Meine Fraktion wird sich der Stimme enthalten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Wolff, Sie sollten sich vielleicht nicht nur mit Professoren in Enquete-Kommissionen beschäftigen, sondern als
Sozialdemokratin auch einmal in die Betriebe in
Deutschland gehen und sich den industriellen Mittelstand anschauen.
({0})
Sie sollten sich anschauen, wie die Arbeitswirklichkeit
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der chemischen
Industrie aussieht. Die meisten Unternehmen in der chemischen Industrie sind nämlich nicht so groß wie die
BASF.
({1})
Man muss sich einmal genau anschauen, was Sie gerade gesagt haben. Sie haben, wie ich unserem sogenannten Parlamentsbuch entnommen habe, einen Abschluss als Unterstufenlehrerin für Mathematik. In der
Unterstufe lernt man ja schon Prozentrechnung.
({2})
Das scheint bei Ihnen nicht mehr so ganz präsent zu sein,
Frau Wolff.
({3})
Sie haben uns hier erzählt, das Kriterium für Energieintensität sei der Energieverbrauch. Den Schwellenwert,
den Sie angesprochen haben - 1 Gigawattstunde oder
10 Gigawattstunden -, den gibt es. Das Kriterium dafür,
ob ein Unternehmen zu den energieintensiven Unternehmen zählt oder nicht, ist aber ein Prozentsatz: 14 Prozent
der Wertschöpfung. Das ist das Kriterium, das die SPD
eingeführt hat. Diese Koalition hat es nicht geändert.
({4})
Den Schwellenwert haben wir in der Tat geändert. Sie
haben nur die Großunternehmen befreit, nur die
Thyssens und die BASFs dieser Republik. Es ist an ihrer
Politik unschwer erkennbar. Sie sind die Genossen der
Bosse. Wir sind diejenigen, die für den industriellen
Mittelstand und für die Arbeiter in diesen Unternehmen
stehen.
({5})
Den Grünen ist die Wertschöpfung ja egal. Man fährt im
Porsche Cayenne zum Bioladen, und die Arbeiter in der
Chemieindustrie sind einem egal.
({6})
Aber von Sozialdemokraten würde ich einen anderen
Ansatz erwarten und nicht, dass Sie hier so tun, als seien
die Industrieunternehmen im Mittelstand nicht im internationalen Wettbewerb.
({7})
Sie wollen das deutsche Volk täuschen, indem Sie sagen:
Alle Kostensteigerungen gibt es nur deswegen, weil wir
hier jetzt irgendwelche Unternehmen begünstigen.
({8})
Nein, die Wahrheit ist, dass wir an dieser Stelle Arbeitsplätze in Deutschland, die im internationalen Wettbewerb stehen, schützen.
({9})
Dazu stehen wir. Wir sind stolz auf die Arbeiterinnen
und Arbeiter in diesem Land.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Ja bitte, er hat wahrscheinlich wieder keine Redezeit
von seiner Fraktion bekommen.
({0})
Ich werde als stellvertretender Fraktionsvorsitzender
in meiner Fraktion laufend unterdrückt, was die Redezeit
angeht.
({0})
Ich fand es übrigens nicht gut - eine kurze Bemerkung dazu möchte ich machen -, über die Berufe anderer
herzuziehen. Vor allem sollte man, wenn man selber
auch noch nie in der freien Wirtschaft gearbeitet hat, das
nicht jemandem anders vorwerfen.
({1})
Meine Frage: Sie nennen die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen als Kriterium - das ist
eines der drei Kriterien, die auch wir in unseren Anträgen nennen - und benennen dann erst einmal Firmen, die
schon zu Regierungszeiten der SPD diese Ausnahmen
bekommen haben und von denen wir sagen, dass sie
auch beibehalten werden sollen. Ich möchte Sie hinsichtlich ein paar Unternehmen, die auch schon in der Öffentlichkeit genannt wurden, fragen,
({2})
was dort die internationale Wettbewerbsfähigkeit ausmacht.
Der Deutsche Wetterdienst, eine Behörde, ist jetzt
durch Sie von der EEG-Umlage befreit. Der Flughafen
Stuttgart lagert alles, was mit Energie zu tun hat, in einen
neuen Konzern mit einem Mitarbeiter aus und lässt diesen von der EEG-Umlage befreien. Glauben Sie, dass
dieser eine Mitarbeiter gefährdet wäre, wenn der Flughafen Stuttgart weiter EEG-Umlage zahlen müsste? Sie
und auch ich lieben ein gepflegtes Bier. NordrheinWestfalen ist ja das wirkliche Hauptland der Bierbrauerei. Glauben Sie, dass sich niemand mehr für unsere
Biere entscheiden würde, wenn Sie die Brauereien in
Deutschland nicht von der EEG-Umlage befreien
würden? Wo sehen Sie da die internationale Wettbewerbsfähigkeit? Sie weiten doch im Augenblick die
Ausnahmen mit der Gießkanne zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher aus.
Lieber Herr Kelber, ich wiederhole es: Wir haben das
Energieintensitätskriterium nicht geändert. Die Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Bahn, die in Ihrer Zeit
bereits als energieintensives Unternehmen eingestuft
wurde, ist im internationalen Wettbewerb zumindest auf
den deutschen Strecken auch nicht gefährdet. Wenn Sie
also das kritisieren, dann gebe ich diese Kritik gerne an
Sie zurück.
({0})
Die Frage ist in der Tat, ob wir uns ganz sachlich und
unemotional anschauen müssen, ob man die unterschiedlichen Kriterien, die wir bei den Bereichen Emissionshandel, Energiesteuer und EEG für die Ausnahme- und
Reduktionstatbestände anwenden, besser angleichen
könnte. Da können wir gerne zusammenarbeiten, um
solche Beispiele, wie Sie sie - ({1})
- Herr Krischer, Sie kommen noch dran. Das können Sie
dann gleich alles erzählen.
({2})
Herr Kelber, wir können gerne seriös darüber sprechen, wie man diese Stilblüten, die Sie hier vortragen,
zum Beispiel den Deutschen Wetterdienst, dort wieder
herausbekommt. Aber ich sage noch einmal ganz deutlich: Am Energieintensitätskriterium der SPD haben wir
nichts geändert. Wir haben nur die Schwellenwerte abgesenkt, damit Chemieunternehmen in Chemieparks und
Zulieferer, zum Beispiel im Sauerland - Sie haben gerade auf NRW verwiesen -, die auch energieintensiv
sind, genau die gleichen Rechte haben wie Thyssen,
BASF, Lanxess oder andere Großunternehmen in dieser
Republik.
({3})
Herr Präsident, der Kollege möchte eine Zwischenfrage stellen. - Ja, gerne.
Sie haben schon voreilig Ja gesagt. - Also, bitte
schön, Herr Kollege.
({0})
Ich möchte in der Tat eine Nachfrage stellen, ganz im
Sinne von Herrn Kelber.
({0})
Sie stimmen mir doch sicher zu, dass wir keine einzelbetriebliche Regelung getroffen, sondern Kriterien festgelegt haben, nach denen sich die Unternehmen melden
können.
({1})
Wir haben bei dieser Reform die Unternehmen, die Sie
befreit hatten, die aber, wie wir festgestellt haben, nicht
dem europäischen oder dem weltweiten Wettbewerb
unterliegen, sofern sie identifiziert werden konnten,
herausgenommen.
({2})
Ein Beispiel, von dem ich leider persönlich betroffen
bin - genau -, ist der Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung. Dieses Unternehmen ist ein energieintensives. Das führt - im Übrigen nicht zur Freude derjenigen,
die insbesondere in der Region Stuttgart betroffen sind zu einer rund 10-prozentigen Wasserpreiserhöhung.
Aber in der Tat: Beim Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Unternehmen nach Hongkong oder nach Paris auswandert,
relativ gering. Deshalb ist das Unternehmen bei der letzten Reform, als es als energieintensives Unternehmen
erkannt wurde, herausgenommen worden.
({3})
Ich gehe davon aus, dass wir uns mit diesem Thema gemeinsam mit der FDP und mit Herrn Kauch, sobald die
entsprechenden Erkenntnisse vorliegen, befassen und
die Regelung verändern werden.
({4})
Aber wir sollten jetzt nicht versuchen, uns gegenseitig
mit Einzelbeispielen, die die energieintensive Industrie
insgesamt in ein falsches Licht rücken, vorzuführen.
({5})
Herr Kollege Pfeiffer hat völlig recht; er sieht das
richtig. Die FDP wird gerne mit Ihnen darüber diskutieren, wie wir die Ausnahmeregelungen treffsicher gestalten.
({0})
Unser gemeinsames Anliegen ist, Arbeitsplätze in energieintensiven Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, zu befreien, damit es nicht zu Verzerrungen im internationalen Wettbewerb kommt; da sind wir
ganz einer Meinung.
Meine Damen und Herren, noch einmal: Wir müssen
die unterschiedlichen Reduktions- und Befreiungstatbestände möglichst einheitlich und treffsicher gestalten
und sie zusammenführen. Das ist auch im Interesse der
Unternehmen, für die unterschiedliche Vorgaben gelten,
was den Emissionshandel, die Energiesteuer und das
EEG angeht.
Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie schaffen
wir es, dafür zu sorgen, dass nicht immer mehr auf immer weniger Schultern lastet? Das ist ja der Ausgangspunkt dieser Debatte. Wie können wir verhindern, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher, also die Privathaushalte, am Schluss allein die Zeche zahlen?
({1})
An dieser Stelle sage ich ganz klar in Richtung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie: Es ist keine gute
Lobbyarbeit, kein gutes Vorschlagsmanagement, wenn
vonseiten der Industrie ständig die Forderung nach weiteren Befreiungen erhoben wird. Es darf nicht so weit
gehen, dass wir die gesamte deutsche Wirtschaft von
EEG-Umlage, Energiesteuer usw. befreien; das ist völlig
klar.
({2})
Am Schluss muss Energie für alle Bürgerinnen und Bürger bezahlbar sein.
({3})
Ihre Strategie, Ihre Ablenkungsstrategie, wird nicht
verfangen. Es ist ja ganz klar, was Sie mit Blick auf den
15. Oktober dieses Jahres machen. Am 15. Oktober wird
die EEG-Umlage um voraussichtlich 50 Prozent steigen.
({4})
Ihre Antwort ist ganz einfach:
({5})
Das liegt nur an der Befreiung der energieintensiven
Unternehmen. - Das ist doch Volksverdummung, was
Sie hier betreiben.
({6})
Zu einem großen Teil liegt diese Steigerung der EEGUmlage nämlich am unkoordinierten Ausbau der Photovoltaik in der Vergangenheit.
({7})
Diese Koalition aus FDP und Union hat diesen Missstand beseitigt. Wir als FDP gehen noch weiter: Wir
wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Energiewende auf Dauer nicht überlastet werden
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
- und dass bei jedem Cent, den wir den Bürgerinnen
und Bürgern hier aufbürden, möglichst viel an erneuerbaren Energien herauskommt. Deshalb sollten Sie nicht
ablenken, sondern gemeinsam mit uns an einer wirklichen Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes arbeiten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist eine interessante Debatte.
({0})
Ich habe das Gefühl, wir haben eine empfindliche Stelle
getroffen. Inzwischen haben die Medien ja schon sehr
viel über das Thema berichtet. Sie ist auch deshalb empfindlich, weil bei den Kosten der Energiewende bzw. der
Energiepolitik sehr oft die Unwahrheit gesagt und auch
geheuchelt wird.
({1})
Wenn es um die Kostenrechnung geht, dann machen
Sie Stimmung; denn es geht Ihnen darum, regenerative
Energien zurückzudrängen. Das Stichwort von Herrn
Kauch war „unkoordinierter Ausbau“. Stellen Sie sich
vor: Jetzt bauen die einfach unkoordiniert regenerative
Energien aus! Frechheit!
Herr Rösler und Herr Altmaier übersehen geflissentlich - das muss man den Wählerinnen und Wählern
sagen -, was die Kosten von Kohle- und Atomstrom
sind. Darüber haben wir heute noch gar nicht gesprochen. Wir reden hier über Kosten von 1 Euro pro Kilowattstunde. Die Wählerinnen und Wähler sind nicht so
dumm, wie Sie glauben.
Es geht natürlich um Umverteilung; das ist richtig.
Sie haben richtig erkannt, dass es uns, den Linken, um
Umverteilung geht, nämlich um die Umverteilung der
Energiekosten. Es kann eben nicht sein, dass immer
mehr ausgenommen wird und dass Otto Normalverbraucher und der Mittelstand das alles dann bezahlen müssen. Das wird ihnen übergestülpt, und sie sollen dann
schauen, wie sie damit zurechtkommen.
Es wird dann immer das Argument Wettbewerbsprobleme genannt. Das haben wir rauf und runter gehört.
Darüber, ob sie tatsächlich existieren oder herbeifantasiert werden, reden wir nicht. Wir müssten eine Debatte
darüber führen, aber die Lobby der Firmen - die kennen
wir ja alle -, die viel verbrauchen, schafft es einfach immer wieder, Gesetze zu beeinflussen, sodass sie sauber
dabei herauskommen, manchmal sogar mit einem leistungslosen Gewinn. Die privaten Verbraucherinnen und
Verbraucher bezahlen das dann. Wir halten das für unsozial und auch für wirtschaftsfeindlich.
Ich sage Ihnen: Ich war letzten Samstag beim Technischen Hilfswerk, der Helferorganisation, in Bayern. Dort
waren auch drei CSU-Abgeordnete; einer sitzt hier.
({2})
Das THW hat sich auch über die Stromkosten beschwert, weil es immer mehr bezahlen muss. Sie haben
uns gebeten, den Haushalt für das THW zu erhöhen, weil
sie die Energiekosten nicht mehr bezahlen können. So
läuft eins ins andere.
Jetzt noch einmal zu unserem Antrag. Es geht um die
Privilegien beim EEG, bei der Energie- und bei der
Stromsteuer. Der Spitzenausgleich bei der Ökosteuer
soll bis 2022 verlängert werden. Auch hier werden Unternehmen im zweistelligen Milliardenbereich entlastet.
Das ist jetzt neu und wird demnächst erst beschlossen.
Es geht um Netzentgelte usw. In der Summe macht das
9 Milliarden Euro im Jahr aus. Den größten Teil davon
würden wir anders verwenden, nämlich zur Abfederung
der Kosten der Energiewende, nicht nur im privaten Bereich, sondern auch zur Begleitung von Strukturbrüchen,
also für Umschulung, Weiterbildung, Umzugsfinanzierung und einen gut abgesicherten Vorruhestand, worum
es heute bei der Debatte um die Rente auch ging.
({3})
Ich meine, das sind wir den Kohlekumpels und vielen
anderen, um deren Lebensleistung es hier nämlich geht,
auch wirklich schuldig; denn zum Teil werden Arbeitsplätze vor Ort verloren gehen, ob mit oder ohne Privilegierung. Wir müssen in neue Zukunftsbranchen investieren; das ist dringend notwendig.
({4})
Noch einmal: Es geht uns nicht darum, energieintensive Unternehmen niederzumachen. Das ist eine Lüge,
die verbreitet wird.
({5})
Bei dieser Lüge - die Gewerkschaften wurden angesprochen - mischen auch einige Kollegen von den Grünen
und der SPD mit, die mir geschrieben haben. Sie müssten es eigentlich besser wissen; denn Ihre Kollegen hier
wissen es besser.
({6})
Es geht uns darum, zu unterstützen und zu gucken,
wer wirklich im Wettbewerb steht. Ich meine, hier können wir gemeinsam mit den kleinen Firmen kämpfen,
die die steigenden Energiepreise zum Teil eben nicht
überleben werden. Wir kämpfen für Menschen mit niedrigem Einkommen. Das macht nicht die FDP. Das machen wir.
({7})
Wir wollen eine lebenswerte Zukunft und zukunftsfeste
Arbeitsplätze.
Noch eine Information: Ich bin von Beruf Schlosserin. Das habe ich gelernt. Ich war bis zu meiner Wahl in
den Bundestag als Schlosserin tätig.
({8})
Ich war acht Jahre im Bundestag und habe dann wieder
drei Jahre an der Basis gearbeitet. Ich kenne die Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Job gemacht. Ich besuche meine Kolleginnen und Kollegen auch.
({9})
Im Gegensatz zu Ihnen habe ich schon meine Schaufel in
der Hand gehabt, wie das Polt, der Kabarettist, sagen
würde.
({10})
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist völlig klar: Es gibt in Deutschland energieintensive
Branchen, die im internationalen Wettbewerb stehen.
({0})
Diese brauchen Ausnahmen bei Umlagen und Steuern,
weil sie sonst im internationalen Wettbewerb keine
Chance haben. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass es
in Deutschland niedrigere Industriestrompreise und vor
allen Dingen fallende Industriestrompreise gibt.
Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Wir waren neulich bei der Firma Bayer MaterialScience. Dort wurde
uns eine schöne Grafik aufgelegt, und es hieß: Ja, in
Deutschland ist das Niveau der Industriestrompreise
günstiger als beispielsweise in Frankreich, günstiger als
in Teilen des osteuropäischen Auslands. - Fragen Sie bei
Bayer MaterialScience nach, nicht unbedingt verdächtig,
eine den Grünen besonders nahestehende Organisation
zu sein.
Ein weiteres Beispiel: Norsk Hydro, ein Alukonzern,
verlagert seine Produktion nach Deutschland, weil hier
die Industriestrompreise niedrig sind, gefallen sind, unter anderem gesenkt durch den Ausbau der erneuerbaren
Energien, den Sie abbremsen wollen. Das ist die Realität.
Der bekannteste Aluhersteller, der größte private
Stromverbraucher in Deutschland, die Firma Trimet in
Essen - Herr Kauch, Sie kennen sie - meldet einen Verlust, aber - jetzt hören Sie zu! - nicht wegen gestiegener
Strompreise, sondern wegen gefallener Strompreise. Die
Firma hatte darauf gewettet, dass die Strompreise steigen werden, hatte dafür entsprechende Versicherungen
abgeschlossen, und jetzt muss sie zahlen. Das ist Realität
in Deutschland, nicht das Bild, das Sie hier zeichnen.
({1})
Unser Problem - das ist schon eine Reihe von Malen
angesprochen worden - ist: Wir haben überbordende
Ausnahmeregelungen. Das beste Beispiel dafür - ich
meine, Sie haben es eben eine Stilblüte genannt, Herr
Kauch - ist der Deutsche Wetterdienst. Ihr Minister, das
wirtschaftspolitische Schwergewicht Herr Rösler, hat in
der letzten Sitzungswoche hier gestanden und auf meine
Zwischenfrage geantwortet: Der Deutsche Wetterdienst
braucht diese Ausnahmeregelungen, weil er leistungsfähige Computer hat. - Meine Damen und Herren, auf diesem Niveau arbeiten Sie.
Erklären Sie mir bitte einmal, warum die Rechenzentren von Telekommunikationsunternehmen in Deutschland von den Netznutzungsentgelten befreit werden.
Keine Erklärung! Es ist niemandem zu erklären, warum
Sie das wollen und warum Sie das machen. Sie können
auch überhaupt niemandem erklären, warum RWE und
Vattenfall bei der Braunkohlenförderung von der EEGUmlage befreit sind. Das ist eine Absurdität im Quadrat.
Sie müssen tagtäglich daran arbeiten, das zu ändern.
Es kommt hinzu, dass diese ganzen Regelungen völlig intransparent sind. Bei der EEG-Umlage ist es 1 Gigawatt, beim Netznutzungsentgelt haben Sie 10 Gigawatt festgelegt. Bei der Haftungsumlage Offshore, die
Sie als Protokolldebatte einbringen, sind es plötzlich
100 000 Kilowattstunden. Dann gibt es noch ein Eigenstromprivileg für Unternehmen mit Kraftwerken. Das
führt zu der Absurdität, dass die Bundesregierung selber
nicht mehr sagen kann, welche Industriezweige welche
Befreiungen haben. Das können Sie niemandem erklären. Das können Sie draußen niemandem mehr verständlich machen.
({2})
Diese ganzen Subventionen summieren sich inzwischen auf über 10 Milliarden Euro. Über diesen Betrag
reden wir. Diesen müssen am Ende die privaten Verbraucher zahlen. Herr Kauch, wenn Sie hier den BDI kritisieren, dann müssen Sie einmal mit dem Kollegen Pfeiffer
von der Wirtschafts-AG der CDU/CSU - Pfeiffer mit
drei f - in einen Dialog eintreten. Er schickt nämlich ein
Papier herum, in dem steht: Die Befreiungstatbestände
sind noch lange nicht ausreichend. Wir wollen noch viel
mehr. Er sagt offen und ehrlich und deutlich: Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen die Energiewende, dann sollen sie sie auch bezahlen. - Das ist das
Credo von Herrn Pfeiffer und weiten Teilen Ihrer Koalition.
({3})
So kann es ja nun nicht laufen, dass auf der einen
Seite die Industrie durch Aufträge und sinkende Preise
von der Energiewende profitiert und auf der anderen
Seite die privaten Verbraucher nur bezahlen. Das werden
wir nicht hinnehmen. Das muss ordentlich debattiert und
am Ende geändert werden.
({4})
Der Antrag der Kollegen der Linken benennt die Probleme in der Tat richtig. Aber wenn es an die Lösung
geht, wird es reichlich nebulös.
({5})
Dazu finde ich keinen guten Vorschlag. Deshalb werden
wir uns an dieser Stelle enthalten.
Ich kann Ihnen ankündigen - das steht schon auf der
Tagesordnung -: Wir werden in der nächsten Woche einen Antrag einbringen, in dem wir konkrete Vorschläge
machen, wie wir das Problem am Ende regeln werden.
Es kann nur in der Weise sein, dass wir klare Grenzen
ziehen, was Energieintensität und Außenhandelsintensität von Unternehmen angeht. Ich sage bewusst „und“,
nicht „oder“; denn das sind die Kriterien.
Wir müssen vor allen Dingen die absurden Schwellen
und Stufenwerte abschaffen, die dazu führen, dass einzelne Unternehmen ihren Energieverbrauch künstlich
hochschrauben, damit sie über eine bestimmte Schwelle
hinauskommen. Dafür müssen wir Lösungen schaffen.
Dazu sind Debattenbeiträge gefordert.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir werden sie liefern. Von Ihnen höre ich leider nur,
dass es immer noch mehr werden soll. Das wird nicht
funktionieren. Das zerstört die Akzeptanz der Energiewende.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Krischer, wenn das alles überhaupt
kein Problem ist und die Industrie über die Strompreise
so wettbewerbsfähig ist, wie Sie es beschreiben, dann
stellt sich mir die dringende Frage, warum Rot-Grün seinerzeit bei der Einführung des EEG zu genau dem Härtefallmechanismus gekommen ist, den wir jetzt ausgeweitet haben.
({0})
Aber warum denn? Ich möchte das einmal sagen. Wir
lagen damals bei Differenzkosten von 0,2 Cent. Bei
0,2 Cent haben Sie gesagt: Es gibt in Deutschland eine
Industrie, die man von dieser Umlage befreien muss,
weil sie sonst in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefährdet
ist. Wir sind jetzt - ich ziehe ausdrücklich das ab, was
tatsächlich auf die Umlage entfällt - in etwa bei 3 Cent
Umlage. Das ist das Fünfzehnfache. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass man sehr genau fragt, ob man die
Befreiung für die energieintensive Industrie nicht ausweiten und auch dafür Sorge tragen muss, dass gerade
der industrielle Mittelstand davon profitiert. Das ist ganz
klar.
Das haben wir getan. Wenn man allgemeine Regelungen schafft, kann man kritisieren, dass das eine oder
andere nicht so trennscharf geschieht. Man kann auch
kritisieren, dass es den einen oder anderen Gestaltungsmissbrauch gibt. Aber das spricht nicht gegen die Regelung.
({1})
Es spricht vielleicht dafür, dass man im Nachgang noch
einmal darüber nachdenkt, wie man den Gestaltungsmissbrauch unterbinden kann.
Aber wir haben bewusst gesagt: Wer einen Stromkostenanteil von 14 Prozent an der Bruttowertschöpfung
hat, ist aus unserer Sicht ab einer bestimmten Schwelle
energieintensiv. 14 Prozent der Kosten sind - Sie können
Kaufleute danach fragen - eine ganze Menge. Deshalb
war die Entscheidung richtig.
({2})
Weil man Ihnen das offenbar immer wieder sagen
muss, will ich noch einmal unterstreichen: Wir sind das
letzte verbliebene wirkliche Industrieland in der Europäischen Union. Unsere Industrie hat uns in der Krise
stabilisiert. Gerade der industrielle Mittelstand hat uns
stabilisiert. Deshalb ist es richtig und wichtig, ein besonderes Augenmerk darauf zu richten. Wer das kritisiert,
soll - das richte ich bewusst an die Linke - mir bitte
nicht morgen mit Sozialtarifen und anderen Ideen kommen, was man noch alles tun sollte, um von der unteren
Seite letztendlich dafür Sorge zu tragen, dass nur die
Mittelschicht die Mehrkosten der Energiewende zahlen
wird. Das wird nicht gehen.
({3})
Wenn man schon an dieser Stelle über Schuldfragen
diskutiert:
({4})
Letztendlich geht es Ihnen nur darum, ein Ablenkungsmanöver zu starten. Von was wollen Sie ablenken? Sie
wollen davon ablenken, dass die jetzige Höhe der EEGUmlage insbesondere darin begründet liegt, dass Sie mit
der Photovoltaik zu früh und viel zu teuer an den Markt
gegangen sind und sie viel zu früh und zu hoch subventioniert haben
({5})
und dass Sie uns immer wieder gebremst haben, wenn
wir das auf ein normales Niveau zurückführen wollten.
({6})
Das haben Sie getan, und das müssen Sie sich letztendlich anrechnen lassen.
({7})
- Nein.
({8})
- Es liegt mir völlig fern, irgendwelche SchwarzerPeter-Spielchen, die Sie hier gerne spielen wollen, mitzuspielen. Aber man muss schon einmal sagen, wo welche Kosten herkommen. Es wäre mir persönlich sehr
viel lieber, wenn wir die Energiewende endlich weniger
problem- und stärker lösungsorientiert diskutieren würden.
({9})
Wir sollten uns einmal ernsthaft Gedanken darüber
machen, welchen Beitrag wir alle miteinander dazu leisten können, dass dieses schwierige Experiment gelingt.
({10})
Sie haben seinerzeit nur einen Beitrag zum Aufbau teurer Kapazitäten geleistet. Jetzt geht es darum, wie man
aus den teuer aufgebauten Kapazitäten eine Versorgung
aufbaut.
({11})
Dazu höre ich relativ wenig Konstruktives von Ihrer
Seite. Wenn es um die Netze geht, höre ich von Ihnen
mehr Widerstand als Unterstützung zu dem, was man da
reduzieren kann. Ich sage Ihnen jetzt schon, dass wir bei
der Speicherförderung etwas auf den Weg bringen werden.
Wir müssen schauen, wie wir schneller und mehr
Marktnähe hinbekommen. Auch da sind wir seit der letzten EEG-Novelle auf einem ausgesprochen guten Weg.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lenkert?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. - Ich hätte zwei
kurze Fragen an Sie.
Erstens. Wie erklären Sie sich, dass der Strompreis
zwischen 2002 und 2012 von 14 Cent auf etwa 26 Cent
pro Kilowattstunde gestiegen ist, obwohl die EEG-Umlage nur um 3,5 Cent pro Kilowattstunde gestiegen ist?
Wo kommt der restliche Anstieg her?
Zweitens. Wissen Sie, dass die Hauptwiderstandskraft
gegen den Neubau eines Pumpspeicherwerkes, das wir
für die Energiewende dringend brauchen, ein ehemaliger
Landesminister der CDU in Thüringen, Herr Trautvetter,
ist? Was sagen Sie dazu? Wer steht hier der Energiewende im Weg?
Entschuldigung, Herr Kollege, den letzten Teil habe
ich akustisch nicht verstanden.
In Thüringen ist ein Pumpspeicherwerk geplant, das
wir für die Energiewende brauchen. Ein ehemaliger Landesminister der CDU, Herr Trautvetter, ist die Speerspitze des Widerstandes gegen dieses Pumpspeicherwerk. Was sagen Sie dazu?
Zunächst einmal kann ich nicht für ehemalige Landesminister sprechen und Ihnen auch nicht erklären, was
sie denken. Das ist etwas, was man sie selber fragen
muss. Das ist das eine.
({0})
Das andere kann ich Ihnen erklären. Die Anstiege der
Strompreise sind auch bedingt durch die Ökosteuer und
die Stromsteuer - ein Werk der linken Seite dieses Hauses -, die dafür gesorgt haben, dass der Strom deutlich
teurer wird. Das muss man in dieser Klarheit einfach
einmal sagen.
Ein Haushalt zahlt momentan, bezogen auf den Preis
einer Kilowattstunde Strom, 8 Prozent Ökosteuer und
16 Prozent Mehrwertsteuer. Das ist eine ganze Menge.
Irgendwann wird man auch darüber diskutieren müssen,
wie genau man da einen Ausgleich hinbekommt. Das
sage ich ganz offen und ehrlich. Ich glaube, dass eine
Haltet-den-Dieb-Diskussion uns nichts bringt. Wir dürfen nicht einseitig nur auf die EEG-Thematik schauen,
sondern müssen auch einmal in Augenschein nehmen,
was beispielsweise Ihre Ökosteuer den Verbraucher kostet, und darüber nachdenken, wie man da einen Ausgleich hinbekommt. Auch das gehört zur Wahrheit.
Ich weiß aber auch, wie unsere Haushalte aussehen
und wie problematisch es ist, solche Steuern zu kürzen.
Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir in dieser
Debatte ein bisschen ehrlicher, konstruktiver und zielorientierter miteinander umgehen und Sie nicht jede Woche mit derselben Leier und denselben Vorwürfen kommen,
({1})
statt endlich konstruktiv darüber zu reden, wie man die
Energiewende voranbringt. Vielleicht hat der eine oder
andere von Ihnen auch dazu eine Idee. Das wäre zur Abwechslung gar nicht schlecht.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie
abschaffen - Kein Sponsoring der Konzerne durch
Stromkunden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9999, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8608 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2011 ({0})
- Drucksache 17/8400 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus.
({2})
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Bitte erlauben Sie mir, als Erstes einen
herzlichen Gruß nach Bosnien-Herzegowina zu schicken. In diesen Minuten wird im EUFOR-Hauptquartier
in Sarajevo die deutsche Flagge eingeholt. Damit endet
der bislang längste Auslandseinsatz der Bundeswehr.
Mehr als 63 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten waren dort seit 1996 im Einsatz. Beim Besuch dort habe ich
mich selbst von der hervorragenden und auch erfolgreichen Arbeit unserer Soldaten überzeugen können.
Mein Dank gilt allen Soldatinnen und Soldaten, die
durch ihren Dienst in Bosnien-Herzegowina maßgeblich
zur Stabilisierung der Region beigetragen haben.
({3})
Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle aber auch
ihren Angehörigen, die viel zu häufig vergessen werden
und manche Entbehrung und Belastung tragen mussten.
Und: Ich gedenke in Trauer der Soldaten, die bei diesem
Einsatz wie auch bei den anderen Einsätzen ihr Leben
lassen mussten oder die gesundheitlichen oder seelischen Schaden erlitten haben. Ihre Opfer werden uns
stets mahnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, bitte erlauben Sie mir vorab zwei weitere kurze
Anmerkungen zu aktuellen Fragen.
Erstens. Auch wenn es immer wieder bedauerliche
Einzelfälle gibt, die zu Recht hart geahndet wurden: Der
Wehrbeauftragte hat keine Erkenntnisse darüber, dass es
allgemeine rechtsradikale Tendenzen in der Bundeswehr
gibt. Bei noch immer beinahe 200 000 Soldatinnen und
Soldaten liegen jedenfalls die bekanntgewordenen Vorfälle glücklicherweise hinsichtlich Anzahl und Schwere
unterhalb der Durchschnittswerte in der Gesellschaft.
Dies gilt zweitens auch für die beklagenswerten sexuellen Übergriffe und Sexualdelikte, von denen wir lesen
mussten. Ich möchte diese Vorfälle nicht bagatellisieren.
Aber man darf sie auch nicht verallgemeinern. Auch die
entsprechenden Zahlen hierfür liegen unter dem statistischen Mittel der allgemeinen Kriminalitätsstatistik. Dennoch ist jede dieser schändlichen Taten eine zu viel. Ich
werde diesen beiden Bereichen auch in Zukunft besondere Aufmerksamkeit widmen.
({4})
Nun zum Jahresbericht. Mehr denn je bestimmt weiterhin die laufende Neuausrichtung die Diskussion über
die Bundeswehr. Über die Probleme, die beim Übergang
von der Wehrpflicht zum Freiwilligendienst in den
Streitkräften aufgetreten sind, habe ich berichtet. Sie
sind inzwischen größtenteils gelöst. Dennoch ist die
Stimmung unter den Soldatinnen und Soldaten und mehr
noch unter ihren Angehörigen noch immer schlecht. Die
jüngsten Erhebungen der TU Chemnitz, im Auftrag des
Deutschen BundeswehrVerbandes erstellt, und des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr haben nun
auch wissenschaftlich belegt, was bereits Tenor meines
Jahresberichts in diesem Punkt war. Die Soldaten vermissen ein klar umrissenes Ziel der Reform und bezweifeln, dass die jetzt eingeleiteten Umstrukturierungen Bestand haben können. Vor allem kritisieren sie die
Umsetzung der Reform. Ich bin dem BundeswehrVerband und seinem Vorsitzenden Oberst Kirsch - ich sehe
ihn jetzt nicht; er wollte eigentlich anwesend sein; aber
andere Vertreter des Verbandes sind da - sehr dankbar
für die klare Positionierung in diesem Punkt.
Meine Damen und Herren, es gibt eben zu viele Baustellen, und zu wenige Lösungen prägen die Situation.
Dazu einige Beispiele.
Frauen steht der Dienst in den Streitkräften in allen
Verwendungsreihen offen. Ihr Anteil ist auf zurzeit
9,6 Prozent gestiegen. Zweifellos ist das ein großer Erfolg; denn ohne die Frauen wird die Bundeswehr angesichts der demografischen Entwicklung in Zukunft noch
weniger auskommen als heute. Frauen aber bekommen
erfreulicherweise Kinder, die meisten jedenfalls.
Dieses Hohe Haus hat eine ganze Reihe von Gesetzen
beschlossen, um Frauen dazu zu ermutigen und es ihnen
auch zu erleichtern, sich für ein Kind zu entscheiden. In
der Bundeswehr aber fehlt es vielfach noch an einem
solchen ermutigenden Klima. Stattdessen wird häufig
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
darauf verwiesen, dass in der Zeit der Schwangerschaft,
des Mutterschutzes oder auch der Elternzeit der Soldatin
oder auch des Soldaten andere deren Arbeit miterledigen
müssten. Das ist wahr und leider unter den derzeitigen
Gegebenheiten auch unvermeidbar. Gerade deshalb ist
es aber die Aufgabe des Dienstherrn, Strukturen zu
schaffen, die dieses Problem lösen. Bis heute fehlt es an
dem dazu notwendigen personellen Vorhalten zur Kompensation familienbedingter Abwesenheiten. Hier muss
bald etwas geschehen, übrigens nicht nur für die Mütter,
sondern auch für die Väter, damit sie den vom Gesetz
her besonders geförderten Anspruch auf Elternzeit auch
wahrnehmen können.
({5})
Auch bei der Kinderbetreuung gibt es kaum Fortschritte. Für die Bundeswehrkrankenhäuser in Ulm, Koblenz und Berlin sollen jetzt zwar eigene Kindergärten
eingerichtet werden. Ohne solche Einrichtungen wären
die Krankenhäuser nach Aussage des Ministeriums im
Wettbewerb um die Gewinnung qualifizierten medizinischen Personals nicht konkurrenzfähig. Das ist wahr.
Wahr ist aber auch, dass das nicht nur für die Krankenhäuser gilt. Angesichts des von der demografischen Entwicklung angetriebenen Wettbewerbs mit der Wirtschaft
um den Nachwuchs werden sich bald alle Bereiche der
Streitkräfte einem solchen scharfen Wettbewerb stellen
müssen. Hier muss also an flächendeckenden Angeboten
gearbeitet werden, bevor es zu spät ist.
Bei Besoldung und Betreuung gibt es dagegen durch
die Übernahme des Tarifabschlusses für die Soldaten
spürbare Verbesserungen. Das wird in der Truppe auch
anerkannt. Die Angebote bei einem früheren Ausscheiden aus dem Dienst nach dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz werden indessen insbesondere von Portepeeunteroffizieren als nicht ausreichend empfunden. Die
Entwicklung in diesem Bereich werde ich natürlich weiter verfolgen.
Meine Damen und Herren, erhebliche Sorgen bereitet
mir weiterhin der Sanitätsdienst; denn die sanitätsdienstliche Versorgung in der Fläche ist weiteren Einschränkungen ausgesetzt. Die Zahl der regionalen Sanitätseinrichtungen wird nahezu halbiert. Dieser Verlust soll
durch einen stärkeren Rückgriff auf niedergelassene
Ärzte kompensiert werden, was aber nicht überall gelingen kann. Deshalb muss gerade dort eine stärkere Präsenz des Sanitätsdienstes gesichert bleiben, wo bereits
die ärztliche Regelversorgung zu stark ausgedünnt ist.
Weiterer Anstrengungen bedarf auch die Behandlung
und Betreuung einsatzgeschädigter, insbesondere traumatisierter Soldatinnen und Soldaten. Ziel muss hier die
Versorgung aus einer Hand auch über das Ende der
Dienstzeit hinaus sein.
Positiv hervorzuheben sind die durch den Deutschen
Bundestag beschlossenen Verbesserungen bei der Versorgung durch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz und das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz. Das
sind Maßnahmen, die die Situation der Betroffenen deutlich verbessert haben. Den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages, die diese Verbesserungen, die übrigens
weit über die Vorstellungen der beteiligten Ministerien
hinaus gingen, für unsere Soldatinnen und Soldaten
durchgesetzt haben, gilt mein besonderer Dank.
({6})
Meine Damen und Herren, auch Ausstattung und
Ausrüstung im Einsatz sowie in der einsatzvorbereitenden Ausbildung wurden weiter verbessert. Das ist anzuerkennen. Aber es sind noch weitere erhebliche Anstrengungen nötig, die ich dem Verteidigungs- und dem
Haushaltsausschuss bereits gesondert dargestellt habe.
Dabei sollten übrigens bei der Beschaffung bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. Nicht immer muss
für den Einsatz neuer Systeme jede zivile verkehrstechnische oder arbeitsrechtliche Anforderung erfüllt sein,
insbesondere dann nicht, wenn dadurch im militärischen
Einsatz andere Einschränkungen der Sicherheit hingenommen werden müssen. Entscheidend ist doch, dass
die Truppe Systeme erhält, die den Anforderungen des
Einsatzes gerecht werden und den Schutz der Soldatinnen und Soldaten verbessern. Das muss die Richtschnur
zukünftiger Beschaffungs- und Entwicklungsverfahren
sein.
Inakzeptabel war im Berichtsjahr das Fehlen von Munition für Handfeuerwaffen und die dadurch bedingte
unzureichende Schießausbildung. Die Stellungnahme
des Ministeriums dazu erschöpft sich in einer Erklärung,
wie es zu dem Missstand gekommen ist, und sie gibt lediglich einen Ausblick, wann die ergriffenen Maßnahmen voraussichtlich greifen werden. Das reicht in einer
Einsatzarmee für die Behebung eines so eklatanten Mangels nicht aus. Unsere Soldaten brauchen jeden Tag ihre
erforderliche Munition, sie brauchen jeden Tag die entsprechende Ausrüstung. Ich bin froh, dass der Inspekteur
der Streitkräftebasis nun eine neue Initiative zur Verbesserung der Situation ergriffen hat.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
möchte ich kurz auf die Kritik eingehen, die jüngst auch
von Abgeordneten an einigen meiner Äußerungen vorgebracht wurde. Der Wehrbeauftragte des Deutschen
Bundestages ist nicht für konkrete Beschaffungsentscheidungen und deren haushalterische Legitimation zuständig;
dessen bin ich mir bewusst. Es ist aber meine Aufgabe,
soweit erforderlich, auf Fähigkeitslücken hinzuweisen,
auch wenn es natürlich Stimmen gibt, die das anders sehen. Dies haben übrigens auch meine Vorgänger bereits
zu Recht so gehalten, und so wird es auch anderswo gesehen. Im Vereinigten Königreich haben sich schon Gerichte mit Vorwürfen über unzureichende Ausrüstung
und Bewaffnung im Einsatz befassen müssen. So weit
muss es bei uns hoffentlich nicht kommen.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole gerne, was
ich an dieser Stelle schon einmal gesagt habe: Die
Grundrechte unserer Soldatinnen und Soldaten, insbesondere der Anspruch auf den Schutz ihrer körperlichen
Unversehrtheit, würden verletzt, wenn andere Gesichtspunkte wie etwa Fragen der politischen Opportunität, industriepolitische Gesichtspunkte oder Kostengründe
Vorrang vor den Schutzansprüchen der Soldatinnen und
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
Soldaten fänden. Ich bedauere aber, dass mein Hinweis
auf eine anerkannte Fähigkeitslücke vereinzelt als das
Abwürgen einer ethischen Debatte empfunden wurde.
Das war nicht meine Absicht, und es steht ja auch gar
nicht in meiner Macht.
Frau Präsidentin, wenn ich darf - ich sehe, dass meine
Zeit abgelaufen ist -,
({7})
würde ich gerne noch einen Dank sagen. Abschließend
bedanken möchte ich mich zuallererst natürlich bei unseren Soldatinnen und Soldaten, die einen hervorragenden
Dienst leisten, sowie selbstverständlich bei ihren Familien.
({8})
Ich danke auch Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Ihre stets wohlwollende Begleitung meiner Arbeit. Danken möchte ich auch dem Minister, dem Ministerium, militärischen Dienststellen und allen, die mit
meinem Amt zusammenarbeiten, für die zumeist konstruktive Zusammenarbeit.
Ein besonders herzlicher Dank gilt aber natürlich
meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt des
Wehrbeauftragten. Sie sind hier durch die Führungskräfte vertreten. Sie alle haben in dieser Zeit des Umbruchs viele zusätzliche Belastungen hervorragend gemeistert. Dafür bin ich Ihnen dankbar.
Meine Damen und Herren, Ihnen bin ich dankbar für
Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich im Namen des gesamten Hauses dem Wehrbeauftragten und natürlich seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2011 und
ebenso für ihr Engagement danken.
({0})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
heute eine Debatte des Dankes, aber das ist ja auch richtig so. Herr Königshaus, ich möchte deshalb gerne die
Gelegenheit nutzen, Ihren Mitarbeitern, aber auch Ihnen
selbst für Ihre Arbeit zu danken. Wir mussten uns auch
erst ein bisschen aneinander gewöhnen, als ich ins Amt
kam und Sie ins Amt kamen.
({0})
- So wechselseitig. - Wir hatten auch Debatten über Aktenzugänge und all das; da hat es auch manchmal ein
bisschen gerumst. Aber das ist alles, glaube ich, einvernehmlich gelöst. Ich bedanke mich auch für die differenzierte Art und Weise, in der Sie vorgehen, in der Sie hier
vorgetragen haben. Es gefällt einem Minister nicht immer, wenn man in die Ecken guckt, wo vielleicht ein
bisschen Staub ist. Aber das gehört dazu, und deswegen
herzlichen Dank dafür.
Ich möchte auf ein paar einzelne Punkte eingehen, die
Sie angesprochen haben, und auch auf einen Punkt hinweisen, den Sie in Ihrem Bericht aufgeführt hatten, aber
heute nicht angesprochen haben.
Zunächst: In der Haushaltsdebatte hatten wir schon
darüber debattiert, dass es infolge der Neuausrichtung
der Bundeswehr, insbesondere in einer Phase, in der die
Umsetzungsschritte noch nicht für jeden Mitarbeiter, für
jeden Soldaten und jede Soldatin, für jede Mitarbeiterin
klar sind, zu Unsicherheit kommt. Das ist verständlich,
und wir müssen daran arbeiten, dass diese Unsicherheit
schnell abgebaut wird. Das tun wir, und dazu gehört natürlich auch, den Dienst in der Bundeswehr attraktiv zu
halten. Es war gestern vorgesehen, dazu im Verteidigungsausschuss umfangreich vorzutragen. Dazu kam es
nicht; das wird dann sicherlich in der nächsten Sitzung
erfolgen. Aber ich glaube, in dieser Hinsicht ist doch einiges passiert, auch im Bereich der Kinderbetreuung.
Dazu will ich gern eine Ergänzung anbringen; ich
weiß nicht, ob wir uns da unterscheiden. Sie haben von
einem flächendeckenden Angebot gesprochen. - So
weit, so gut. Ich bin aber nicht der Auffassung, dass es
sich um ein flächendeckendes Angebot der Bundeswehr
handeln sollte. Das hängt nämlich von den Umständen
vor Ort ab. Es mag manchmal nicht nur billiger, sondern
für das Aufwachsen der Kinder auch besser sein, dass
vor Ort mit Belegungsrechten und in anderer Weise dafür Sorge getragen wird, dass die Kinder von Soldatinnen und Soldaten anständig betreut werden.
({1})
Es kann sogar ein Fehler sein, Kindergärten einzurichten, in denen nur Soldatenkinder sind. Ich habe in
Amerika Großstandorte besucht. Da ist alles von der Armee belegt: die Häuser, die Schulen, die Kindergärten,
die Sportplätze. Ich möchte das in Deutschland nicht,
sondern ich möchte, dass die Soldatinnen und Soldaten
und ihre Angehörigen Teil der Gesellschaft sind und
Kinderbetreuung für sie stattfindet, ganz gleich wo. Das
heißt, durch uns organisierte Kinderbetreuung wird es
nur an Großstandorten geben. Selbst in Ulm - Sie haben
das Beispiel erwähnt - soll zusammen mit der Universitätsklinik ein Kindergarten eingerichtet werden, in dem
die Kinder zusammen aufwachsen und spielen.
Wenn wir unter Kinderbetreuung also verstehen, dass
jeder ein Angebot haben soll, aber es kein bundeswehreigenes Angebot sein muss, dann sind wir, glaube
ich, einig.
Zur Sanität vor Ort: Ich hatte schon im Ausschuss und
hier bei verschiedener Gelegenheit vorgetragen, dass die
Realisierungsplanung bis auf die Standortschießplätze
und damit zusammenhängende Fragen und bis auf Sanität abgeschlossen ist. Warum? Weil Sanität akzessorisch
ist; Sanitätsversorgung muss ja da sein, wo Menschen
sind. Deswegen muss sich die Sanitätsversorgung etwa
an die zeitliche Abfolge der Schließung von Standorten
anpassen und ihr nachlaufen.
Nun wird überlegt - das ist im Grunde unser Anspruch -,
dass wir jedem Soldaten eine sanitätsdienstliche Versorgung von uns zur Verfügung stellen. Nur, in kleinen
Standorten ist dann diese Versorgung, wenn sie denn
stattfindet, nicht nur teuer, sondern schlechter; denn wir
können gar nicht so viel Sanitäts- und ärztlichen Sachverstand in kleinen Standorten vorhalten, dass es dort für die
Fülle der denkbaren Krankheitsbilder eine gute Versorgung gibt. Es kann nicht im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten liegen, dass sie vor Ort zu wenig Ärzte haben,
die etwas von der Sache verstehen, oder für eine vielleicht
harmlose Krankheit eine Stunde zu einem Sanitätsversorgungszentrum fahren müssen, sondern es kann viel eher
im Interesse der Soldatinnen und Soldaten sein, dass wir
mit dem Hausarzt um die Ecke oder dem Internisten um
die Ecke einen Vertrag abschließen und sie zu ihm gehen
können und die Kosten erstattet bekommen, sodass nur
dann, wenn es um Dinge geht, die in besonderer Weise sanitätsdienstlich für uns von Interesse sind, eine spezielle
Versorgung in einem Sanitätsversorgungszentrum erfolgt. Ich glaube, das ist im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade an kleinen Standorten, wenn wir diese vertragsärztliche Versorgung ausbauen können. Das Konzept kommt
demnächst.
({2})
Nun zur Ausrüstung: Das ist, wie Sie ja wissen, wie
wir alle wissen, ein ständiger, wenn Sie so wollen, mahnender Zeigefinger, den Sie erheben. Durch Sie, aber
auch durch die Haushälter, durch den Verteidigungsausschuss und durch meine Vorgänger ist in diesem Bereich
sehr viel passiert. Sicherlich ist manches zu spät gewesen, was Afghanistan angeht. Aber ich würde einmal die
Behauptung aufstellen, dass heute die Soldatinnen und
Soldaten unserer Bundeswehr sowohl hinsichtlich ihrer
Ausrüstung wie auch bei der Fortbewegung und bei anderen Formen im Schnitt besser geschützt sind als unsere
Verbündeten. Das ist so. Ich will jetzt nicht die Staaten
miteinander vergleichen, weil sich das nicht gehört.
Aber wenn man mit den Soldaten vor Ort spricht und
wenn man manche Folgen von Anschlägen sieht, dann
stellt man fest, dass das inzwischen so ist. Dies ist auch
Ihr Verdienst, und das ist gut so. Dass Sie weiterhin in
diese Richtung drängen, versteht sich von selbst.
Eine Bemerkung will ich mir nicht verkneifen, die Sie
natürlich auch kennen: Nicht immer liegt das Abstellen
von Mängeln am Ministerium oder am Geld, sondern
manchmal liegt es auch an dem, der etwas liefern sollte.
Das ist ein leidgeprüftes Thema, das ich jetzt auch nicht
an Beispielen vertiefen will. Aber auch das gehört zur
Wahrheit.
Herr Königshaus, Sie haben in Ihrem schriftlichen
Bericht einen Punkt angesprochen, auf den ich und viele
unserer Kollegen auch bei jedem Truppenbesuch angesprochen werden: Das ist das Thema Weiterverpflichtung. Viele Zeitsoldaten fragen: Warum können wir nicht
weiterverpflichtet werden, obwohl wir jetzt erfahren
sind, gut sind und gut ausgebildet sind? Stattdessen werden heurige Hasen eingestellt, die keine Ahnung haben.
Wie kann das gehen in einem Einsatz? - Das ist, glaube
ich, ein zentraler Punkt. Ich will dazu gern zwei Dinge
sagen.
Zunächst muss es immer eine richtige Mischung zwischen sehr Erfahrenen, mittelmäßig Erfahrenen und Anfängern geben. Wir würden unseren Nachfolgern ja keinen Gefallen tun, wenn wir jetzt alle erfahrenen Leute
weiter verpflichten. Denn wenn diese in fünf oder sechs
Jahren auf einmal ausscheiden, sind überhaupt keine erfahrenen Kräfte mehr da. Deswegen muss es immer eine
Mischung geben.
Nun ist der Eindruck erweckt worden - nicht von Ihnen, aber von manchen in der Truppe -, das sei alles viel
zu wenig, da finde nichts statt. Deswegen habe ich mir
für die heutige Debatte die Zahlen besorgen lassen, wie
hoch die Zahl der Weiterverpflichtungen von Zeitsoldaten ist, die als Z 4, Z 8 oder Z 12 angefangen haben, denen es dann gefallen hat oder bei denen der Vorgesetzte
gesagt hat: „Junge, bleib doch bei uns“, und bei denen
die Prüfung der Weiterverpflichtung zu einem positiven
Ergebnis gekommen ist. Wie viele dieser Weiterverpflichtungen hat es also gegeben? Es waren im Jahr 2010
3 180, es waren im Jahr 2011 - in dem Jahr, in dem die
Wehrpflicht ausgesetzt worden ist und in dem die Lücke
natürlich besonders groß war - 6 340, davon allein fast
5 000 beim Heer, wo das Problem am größten war, und
es sind im Jahr 2012 bisher fast 2 800. Das wird also
schon gemacht.
Natürlich wird jeder Fall, der abgelehnt wird, besonders betont, während die Fälle, die bewilligt werden, als
selbstverständlich angesehen werden. Wir bleiben dabei.
In diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal auf
den Bundeshaushalt, für den wir die Höherbewertung
von rund 5 000 Stellen gerade für Mannschaftsdienstgrade beantragt haben in der Hoffnung, dass sie bewilligt wird. Einem Zeitsoldaten geht es ja nicht nur darum,
länger zu bleiben; vielmehr verbindet er mit dem
Wunsch, länger zu bleiben, auch die Erwartung, befördert zu werden. Dafür braucht man dann auch die entsprechenden Stellen.
Wir brauchen hier Augenmaß und wir brauchen Verständnis für beide Positionen, nämlich die Weiterverpflichtung von Erfahrenen und das Bemühen um die Rekrutierung von Neuen, die später die Erfahrenen sein
werden. Das ist der Sinn und Zweck einer Armee, die
eben keine Berufsarmee, sondern eine Freiwilligenarmee ist, die zu zwei Dritteln aus Zeitsoldaten und zu einem Drittel aus Berufssoldaten besteht.
Meine Damen und Herren, das Ministerium wird weiterhin die Arbeit des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konstruktiv begleiten. Wenn
es einmal knirscht, werden sich immer Wege finden, auf
denen wir das abzustellen versuchen. - Herzlichen
Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Karin Evers-Meyer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrter Herr Wehrbeauftragter!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass
wir heute den Jahresbericht 2011 des Wehrbeauftragten
im Plenum behandeln können.
Wir haben eine Bundeswehr, die Hervorragendes leistet. Das hat der Herr Wehrbeauftragte eben schon ausführlich gewürdigt. Ich möchte nicht nur als Verteidigungspolitikerin, sondern auch im Namen meiner
Fraktion allen Diensttuenden für ihren Einsatz und für
ihr Engagement bei der Bundeswehr herzlich danken.
({0})
Ich wünsche mir natürlich, dass die im Bericht aufgezeigten Defizite und Mängel zügig behoben werden, damit unsere Soldaten auch in Zukunft erfolgreich und sicher ihren Dienst leisten können.
Herr Wehrbeauftragter Königshaus, auch wenn wir
von der SPD noch in der Opposition sind,
({1})
möchte ich für Ihren Bericht nicht mit Lob sparen. Er
spricht offen und mutig Missstände an, die es schnell abzustellen gilt. Der Bericht zeigt, wo angesetzt werden
muss. Das verdient unser Lob. Wir schließen ausdrücklich Ihre Mitarbeiter darin ein.
({2})
Ich denke, dass wir Dinge anpacken müssen, Dinge
aus der Welt schaffen müssen, die immer noch die Qualität und Sicherheit der Arbeit unserer Streitkräfte gefährden. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den Bedürfnissen und Sorgen unserer Soldatinnen und Soldaten
in der besonderen Weise nachzukommen, wie auch sie
für unser Land in ganz besonderer Weise Belastungen
tragen. Lassen Sie uns Lösungen finden, damit sich vor
allen Dingen in Zukunft Dienst und Familie besser vertragen.
({3})
Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass Mütter
mit Kindern unter zwei Jahren nicht in einen Auslandseinsatz geschickt werden.
({4})
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Bundeswehr
mehr Anstrengungen unternimmt, Kinderbetreuung zu
ermöglichen. Herr Minister, ich habe mit Freude zur
Kenntnis genommen, dass Sie gesagt haben, dass Weiteres folgen soll. Auch die Kooperation mit den Kommunen ist sicherlich sinnvoll. Das passt aber sehr oft nicht
zusammen. Die Bundeswehr kauft sozusagen Plätze,
aber die Öffnungszeiten der Einrichtungen entsprechen
nicht den Schichtdiensten der Soldaten. Schon stehen
diese Eltern wieder ohne eine adäquate Betreuung da.
Ich finde, da könnte man noch eine Schippe drauflegen.
Das wäre sehr schön. Die Bundeswehr will doch ein attraktiver Arbeitgeber sein. Ein attraktiver Arbeitgeber
muss auch für vernünftige Kinderbetreuung sorgen.
({5})
Ein für meine Fraktion ganz wichtiges Thema ist die
Belastung von Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen. Das muss besser werden. Das muss in einem
erträglichen Rahmen bleiben. Drei Auslandseinsätze in
zwei Jahren sind zu viel für einen Soldaten oder eine
Soldatin. Ich denke zum Beispiel an das deutsch-österreichische ORF-Bataillon in Bruchsal. Wir sind es den
Soldatinnen und Soldaten schuldig, realistische Ruhezeiten zwischen den Einsätzen sicherzustellen und die Belastung auf ein erträgliches Maß zu bringen.
({6})
Auch der Einwand, dass diese zusätzlichen Belastungen freiwillig übernommen werden, überzeugt mich
nicht. Das ist doch dann eher freiwilliger Zwang. Natürlich lässt man seine Kameraden, mit denen man in mehreren Einsätzen zusammen war, nicht im Stich, wenn sie
sagen: Du willst doch unsere Truppe nicht alleine gehen
lassen. - Was nützt es, wenn diese Soldaten, die sehr oft
junge Familienväter sind, zurückkommen und vor den
Trümmern ihrer Ehe stehen bzw. ihre Familie daran zerbrochen ist? Dieses Thema muss man viel ernster nehmen. Auch dieses Thema trägt zur Attraktivität der Bundeswehr bei.
Herr Wehrbeauftragter, eines muss ich noch anmerken, auch wenn Sie es schon angesprochen haben: Über
eine Sache haben wir uns in den letzten Tagen etwas gewundert: Uns von der Opposition ist vielleicht entgangen, dass der Wehrbeauftragte neuerdings auch Einkaufsberater der Bundeswehr ist. Anders können wir uns
Ihre Kaufempfehlung für bewaffnete Drohnen nicht erklären. Dabei ist Ihr Ansinnen sicherlich honorig: Die
Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz soll gesteigert werden. Das sehen wir auch nicht
anders. In der Frankfurter Rundschau vom Montag werden Sie allerdings mit den Worten zitiert:
„Hätten unsere Soldaten bewaffnete Drohnen zur
Verfügung, müssten sie nicht mehr hilflos zuschauen, wenn unsere eigenen Leute bedroht werden“, …
({7})
Herr Königshaus, wenn Sie es ernst meinen mit der
Sicherheit unserer Soldaten, dann lesen Sie doch bitte
noch einmal in Ihrem Bericht nach, was dort zur Ausrüstung unserer Truppen geschrieben steht. Aus den Zeilen
… im zehnten Jahr des Afghanistan-Einsatzes bestanden zahlreiche … Mängel im Bereich der Ausrüstung fort
geht doch eindeutig hervor, wo nachgebessert werden
muss. Die von Ihnen im Bericht ebenfalls beschriebenen
Mängel an Handwaffen und Munition geben zusätzlichen Aufschluss. Jetzt auf ein schussbereites fliegendes
Auge zu setzen, trägt eventuell in einigen Jahren zu
mehr Sicherheit bei. Aber diese Diskussion hilft doch
nicht unseren Truppen, die heute im Auslandseinsatz
sind.
({8})
Verstehen Sie mich bitte richtig: Wir finden wirklich,
dass Sie ordentliche Arbeit leisten. Aber nehmen Sie
bitte Ihre gesetzlichen Aufgaben als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrollen wahr. Das operative Geschäft und die Materialund Waffenbeschaffung fallen unserer Meinung nach in
ein anderes Ressort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht
des Wehrbeauftragten von 2011 zeigt, wo gehandelt werden muss. Verteidigungsministerium und Bundeswehrführung sind gefordert, den Rahmen so zu gestalten, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst bestmöglich und mit möglichst geringer Gefährdung tun können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Christoph Schnurr hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Am 24. Januar
2012 haben Sie, Herr Königshaus, uns den aktuellen Bericht vorgelegt. Sie haben damit neue Maßstäbe gesetzt,
was die zeitliche Unterrichtung des Deutschen Bundestages betrifft.
({0})
Manchmal wäre man froh, wenn der eine oder andere
Bericht ebenfalls zeitnah vorläge. Wenn das dann, wie
jetzt beim Wehrbericht, einmal der Fall ist, Herr Kollege
Koch, dann muss man das auch positiv erwähnen.
In diesem Zusammenhang möchte ich im Namen
meiner Fraktion insbesondere Ihrem Hause meinen
Dank aussprechen; denn ohne Ihre Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter wäre diese schnelle Umsetzung sicherlich
nicht gelungen.
Ich möchte gleichzeitig aber auch all denjenigen danken, die die unterschiedlichsten Eingaben - ob es nun
Briefe, E-Mails, Faxe oder teilweise auch Telefonate waren - Ihnen zukommen ließen, auf deren Grundlage Sie
diesen Bericht verfasst haben. Im Grunde sind die Petenten die eigentlichen Verfasser dieses Berichtes. Sie schildern ihre Erfahrungen mit diversen Missständen und leider teilweise auch mit dem gelegentlichen Fehlverhalten
von Kameraden.
Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten wird eben auch von denjenigen Menschen in Deutschland gelesen, die sich eine
Karriere bei der Bundeswehr vorstellen können. Das Interesse an diesem Jahresbericht 2011 ist vorhanden. Seit
der Übergabe wurde er über 36 000-mal heruntergeladen. Das zeigt, dass er nicht nur eine von vielen Drucksachen ist, die sicherlich in der Bundeswehr interessiert
zur Kenntnis genommen wird, sondern dass dieser Bericht auch in der Breite der Gesellschaft Beachtung findet. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Der Bericht
und die darin beschriebenen Missstände sind entscheidend dafür, wie die Bundeswehr im Lande wahrgenommen wird.
Ich möchte auf drei wesentliche Punkte eingehen, die
Herr Königshaus und der Minister zu Beginn schon angesprochen haben.
Erstens. Ein wichtiger Punkt ist die wesentliche Verbesserung von Ausstattung und Ausrüstung über die
letzten Jahre hinweg. Hierzu gehört auch - wenn ich das
an dieser Stelle ergänzen darf - die immer besser werdende einsatzvorbereitende Ausbildung. Hier sind viele
finanzielle Mittel geflossen, damit unsere Soldatinnen
und Soldaten eben nicht erst im Einsatz die entsprechenden Fahrzeuge oder Systeme bedienen müssen, ohne sie
vorher erprobt zu haben. Sie sollen schon hier in
Deutschland bestmöglich ausgerüstet werden.
Momentan haben wir über 1 000 geschützte Fahrzeuge; das ist ein sehr hoher Stand. Es ist nur richtig,
dass diese Fahrzeuge, die derzeit wieder aus dem Auslandseinsatz zurückgeführt werden, unmittelbar für die
einsatzvorbereitende Ausbildung genutzt werden. Damit wird sichergestellt, dass die Fahrer einen routinierten
Umgang mit den jeweiligen Fahrzeugen erlernen können. Hier sind wir auf einem guten Weg.
Natürlich gab es in der Vergangenheit immer wieder
einzelne Probleme. Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass wir auch die Erfahrungen, die wir bei den unterschiedlichsten Gesprächen im Rahmen von Truppenbesuchen im Inland oder im Ausland gesammelt haben,
in den Verteidigungsausschuss oder in den Haushaltsausschuss einbringen konnten. An dieser Stelle geht mein
expliziter Dank an unsere Haushälter dafür, dass für
wichtige Investitionen, für wichtige Beschaffungsvorhaben, für Ausrüstung und für Ausbildung die jeweils benötigten finanziellen Mittel bereitgestellt wurden.
Wenn wir über den Schutz im Einsatz sprechen, dann
darf der Tiger nicht unerwähnt bleiben. Ich glaube, dass
wir recht gut in der Zeit liegen, und hoffe, dass es in diesem Zusammenhang keine weiteren Verschiebungen
mehr gibt.
Zweitens. Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir
im Deutschen Bundestag schon einmal diskutiert haben,
ist die Betreuungskommunikation. Es gab einen interfraktionellen Antrag, der eine sehr starke Wirkung hatte.
Einiges aus diesem Antrag ist bereits umgesetzt worden.
So sind die praktischen Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre durchgeführt worden. Die Erhöhung der
Bandbreite für die Internetnutzung sollte zeitnah erfolgen und bald auch abgeschlossen sein.
Selbstverständlich - darauf möchte ich an dieser
Stelle noch einmal hinweisen - erwarten wir auch weiterhin die volle Umsetzung des kompletten Antrags, den
wir im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Das
gilt insbesondere für das zum Ende dieses Jahres angekündigte Umsetzungskonzept zur kostenfreien Nutzung
des Internets.
({1})
Dazu gehört auch, dass wir uns nicht nur die Bereiche
anschauen, die oft im Fokus der politischen und gesellschaftlichen Diskussion stehen, wie beispielsweise der
Einsatz in Afghanistan. Wir müssen uns vielmehr auch
den Bereich der Marine im Einzelnen vornehmen; denn
auch hier gibt es vermehrt Baustellen, was die Telekommunikationsmöglichkeiten auf Schiffen anbelangt.
({2})
Drittens: die Neuausrichtung. Die Frage der Attraktivität der Bundeswehr wurde immer wieder gestellt; sie
begleitet uns seit Jahren und wird uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Denn die Bundeswehr ist natürlich
ein Arbeitgeber, der um die qualifiziertesten und fähigsten jungen Männer, aber auch Frauen wirbt. Wir haben
hier einen guten Weg eingeschlagen; die ersten Maßnahmen sind beschlossen und auch umgesetzt. Aber ich
glaube, dass dies nicht das Ende sein darf.
Die Zahlen sprechen für sich: Am 1. Oktober, kommenden Montag, werden 3 500 Freiwillige ihren Dienst
antreten und circa 3 000 Soldaten auf Zeit ihren Dienst
beginnen. Das zeigt doch, dass die Bundeswehr nach der
Aussetzung der Wehrpflicht durchaus noch attraktiv ist.
Wir haben erreicht, dass die Bundeswehr weiterhin in
unserer Demokratie verankert ist, und wir konnten sie
als attraktiven Arbeitgeber positionieren und darstellen.
Wenn ich es in der heutigen Meldung richtig gelesen
habe, haben sogar mehr als 50 Prozent derjenigen, die
am kommenden Montag ihren freiwilligen Wehrdienst
bei der Bundeswehr beginnen werden, Abitur. Die ursprüngliche Befürchtung, dass keiner mehr zur Bundeswehr gehen will, wenn die Wehrpflicht ausgesetzt ist, hat
sich nicht bestätigt. Insofern glaube ich, dass wir auch in
diesem Punkt auf einem guten Weg sind.
({3})
Ich sehe, dass meine Redezeit rasant schwindet. Ich
möchte noch einen Punkt ansprechen, der ebenfalls zum
Thema Neuausrichtung gehört. Frau Präsidentin, ich verspreche Ihnen: Es geht schnell.
Herr Wehrbeauftragter, ich glaube, Sie haben schon
viele Gespräche zum Thema Neuausrichtung geführt.
Wir dürfen nicht vergessen: Es geht hier nicht nur um
eine strategische Frage, die sicherheitspolitisch abgeleitet wird, sondern es geht bei dieser ganzen Reform auch
um Menschen; es geht um unsere Soldatinnen und Soldaten und um die zivilen Angestellten. Deswegen ist es
wichtig, dass wir uns unter anderem die Studie des Deutschen BundeswehrVerbandes sehr detailliert anschauen.
Darin steht nicht nur Negatives, allerdings auch nicht
nur Positives.
Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: Ich
glaube, nicht alles ist perfekt. Aber für uns ist klar: Reformen bedeuten Veränderungen. Wer diese Veränderungen nicht haben will, der sollte nicht nach Reformen rufen. Mein Dank gilt den Angehörigen der Bundeswehr,
unseren Soldatinnen und Soldaten, den Zivilisten, aber
auch den Reservisten und ganz besonders den Familien.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Harald Koch hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Wir reden heute
über den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr
2011, also über all diejenigen Probleme, Verfehlungen,
Mängel und Unzufriedenheiten, wegen denen sich die
Soldatinnen und Soldaten im letzten Jahr an Sie gewandt
haben. Dabei ist ein Phänomen zu beobachten, nämlich
dass die aufgezählten Defizite Jahr für Jahr nahezu identisch sind.
Wir sprechen jedes Jahr aufs Neue über die unzureichende medizinische Versorgung und Absicherung der
Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz verwundet
oder traumatisiert werden. Wir sprechen jedes Jahr wieder über grobes Fehlverhalten von Vorgesetzten oder
über unangemessene und herabwürdigende Aufnahmerituale. Auch die ausbleibenden Fortschritte bei der Vereinbarkeit von Dienst und Familie und die daraus resultierenden Trennungs- und Scheidungsquoten unter den
Soldatinnen und Soldaten von zum Teil über 80 Prozent
sind immer wieder ein Thema, ganz zu schweigen von
der kritischen Personalsituation im Sanitätsdienst oder
der Unzufriedenheit über die halbherzigen Entschädigungsanstrengungen gegenüber den Radarstrahlenopfern.
Herr Königshaus, verstehen Sie mich nicht falsch: Es
ist gut und richtig, dass Sie all diese Mängel und Probleme Jahr für Jahr auflisten und zur Sprache bringen.
Es ist aber äußerst bedenklich, dass dies anscheinend gar
nichts an der Situation ändert. Da muss ich in Richtung
des Ministers die Frage stellen: Wie lange soll das noch
so weitergehen?
({0})
Sie sprechen in Ihrem Bericht von schlechter Stimmung und tiefgreifender Verunsicherung in der Truppe.
Dies wurde mittels der Studie des Deutschen BundeswehrVerbandes nun auch wissenschaftlich belegt. Ich
sage Ihnen: Das Ganze kommt nicht von ungefähr, es hat
hausgemachte Ursachen.
Zum einen wird in der Bundeswehr alles der uneingeschränkten Einsatzfähigkeit untergeordnet. Wenn das
Geld nach der Beschaffung von millionenschweren
Kriegsgeräten ausgegangen ist oder es in den Augen der
Einsatzleitung nötig ist, dass Soldatinnen und Soldaten
sechs Monate oder länger am Stück im Einsatz sind,
dann fallen die Interessen der Betroffenen hinten herunter und werden als nicht so wichtig erachtet. Das spüren
die Soldatinnen und Soldaten auch. Das ist für die Linke
nicht hinnehmbar und muss dringend überdacht werden.
({1})
Zum anderen wurde von Anfang an vergessen, die
Soldatinnen und Soldaten bei der Reform der Bundeswehr mitzunehmen. Stattdessen wird jetzt versucht, ein
unausgegorenes und falsch konstruiertes Konzept von
oben herab überzustülpen. Dass da massive Unzufriedenheiten entstehen und gut 90 Prozent der Befragten
- das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: 90 Prozent - im Rahmen der Studie des BundeswehrVerbandes der Meinung sind, dass diese Reform
nicht von Dauer sein wird und Korrekturen unumgänglich sind, kann ich nur zu gut nachvollziehen. Daher
kann ich dem Verteidigungsminister nur raten, diese Probleme nicht länger abzutun bzw. zu ignorieren. Nehmen
Sie die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten endlich ernst und ändern Sie etwas. Es wird höchste Zeit.
({2})
Eines möchte ich dennoch betonen: Der Wehrbeauftragte - ich schließe seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ein - macht eine sehr gute Arbeit. Er trägt
dazu bei, dass Verfehlungen nicht unter den Teppich gekehrt werden, dass aufgeklärt wird und dass manchmal
auch unangenehme Fragen auf der Tagesordnung stehen.
Dafür möchte ich ihm und seinen Mitarbeitern danken.
({3})
Herr Königshaus, was aber meines Erachtens gar
nicht geht - das ist heute schon mehrfach angesprochen
worden -, ist, dass Sie sich zum Gehilfen der Rüstungslobby machen und nun bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr fordern. Als Begründung führen Sie an - das
haben Sie noch einmal gesagt -, dass das die Sicherheit
der Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen
erhöhen würde. Aber was ist mit der Sicherheit der vielen unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten, die durch
bewaffnete Drohnen ums Leben kommen? Ist die weniger wichtig? Was ist mit der moralischen und ethischen
Dimension des Ganzen?
({4})
Was ist mit dem Herabsinken der Schwelle für Gewaltanwendung, der drohenden Abstumpfung, wenn der potenzielle Gegner von weit weg per Knopfdruck ausgeschaltet wird? Ist das auch nur um einen Deut besser?
Für mich definitiv nicht.
({5})
Herr Königshaus, Ihre Aufgabe ist es, die Rechte der
Soldatinnen und Soldaten zu schützen sowie dem Bundestag bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte behilflich zu sein. Verwenden Sie daher Ihre Energie lieber
darauf, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr endlich beendet werden.
({6})
Das bedeutet Sicherheit für die Soldatinnen und Soldaten.
({7})
Das würde zeigen, dass die Bedürfnisse der Soldatinnen
und Soldaten ernst genommen werden. Konzentrieren
Sie sich auf Ihre eigentliche Aufgabe und lassen Sie die
Finger von Drohnen und anderem Kampfgerät. Damit ist
den Soldatinnen und Soldaten am meisten geholfen.
Danke schön.
({8})
Der Kollege Omid Nouripour hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
gute und es gibt schlechte Routinen. Zu den guten Routinen gehört, dass wir immer wieder zusammenkommen,
um über den jährlichen Bericht des Wehrbeauftragten zu
sprechen. In diesem Zusammenhang gehört es dazu, Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für die gute Arbeit, die Sie leisten,
herzlich zu danken. Der Wehrbeauftragte ist eine Institution, die international einmalig und für eine Parlamentsarmee zwingend notwendig ist.
({0})
Keine Routine ist der Bericht selbst, der in der Regel
sehr gründlich und sehr gut strukturiert vorliegt.
Sie haben vorhin gesagt, dass ich Ihnen in Bezug auf
das Thema Kampfdrohnen das Abwürgen der Debatte
vorgeworfen habe. Dazu möchte ich ein paar Sätze sagen. Wir brauchen bei diesem Thema Zeit für eine Diskussion, die sowohl die ethischen als auch die rechtlichen Aspekte berücksichtigt.
({1})
Den Zeitdruck, der hier immer wieder herbeigeredet
wird, indem gesagt wird, dass wir jetzt schnell entscheiden müssen, gibt es schlicht nicht. Wenn Sie diesem
Zeitdruck sozusagen das Wort reden, dann würgen Sie
damit die Debatte ab. Das habe ich gemeint. Helfen Sie
uns bitte, dass wir diese Debatte führen können.
({2})
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, ich kann nur festhalten: Der Kollege Ernst-Reinhard Beck von der CDU/
CSU hat in der letzten Haushaltsdebatte gesagt, dass es
durchaus möglich und kein Problem wäre, den Einsatz
von Heron 1 erst einmal zu verlängern. Dann hätten wir
ausreichend Zeit, um diese Debatte zu führen. Natürlich
ist es Ihr gutes Recht und es ist auch Teil Ihrer Aufgabe,
auf Fähigkeitslücken hinzuweisen. Das ist unbestritten.
Lassen Sie mich aber drei Gründe nennen - und das sind
nicht die einzigen -, warum wir diese Debatte brauchen:
Erstens. Es gibt unglaublich viele Großinvestitionen
bei der Bundeswehr, bei denen erst beschafft und dann
diskutiert wurde. Das wissen Sie selbst.
({3})
Es gibt so viele Investitionsruinen. Das hat mit dem
Schutz der Soldatinnen und Soldaten nichts zu tun.
Zweitens. Wenn wir über den Schutz der Soldatinnen
und Soldaten reden, dann sollten wir auch darüber reden,
dass in den US-Streitkräften die Suizidrate bei denjenigen, die Kampfdrohnen steuern, höher ist als bei denjenigen, die Bomber fliegen.
({4})
Drittens. Wenn Sie betonen, dass der Schutz der Soldatinnen und Soldaten gewährleistet sein muss, dann
müssen wir natürlich auch solche Aspekte, die die ethische Grundlage eines solchen Einsatzes berühren, berücksichtigen.
Der Minister hat, sofern das gestern in der Stuttgarter
Zeitung richtig zitiert wurde, gesagt:
Gezieltes Töten ist ein Fortschritt. Es vermindert
Kollateralschäden und sorgt für weniger nicht gewollte Opfer und Geschädigte.
Dass es einen Fortschritt bringen soll, wenn man auf Gerichtsverfahren verzichtet, ist etwas, worüber man hier
unter ethischen Geschichtspunkten einmal ganz dringend diskutieren muss.
({5})
Wir brauchen ganz dringend ausreichend Zeit, um die
Debatte führen zu können.
In dieser Debatte gibt es auch eine schlechte Routine.
Zur schlechten Routine gehört, dass wir gewisse Punkte
Jahr für Jahr im Bericht des Wehrbeauftragten finden.
Lassen Sie mich auch hier einige Beispiele anführen:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schon
mehrfach genannt worden. Es hilft einfach nicht, immer
wieder darauf hinzuweisen, dass es 300 Eltern-KindZimmer gibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie besonders häufig genutzt werden und dass sie besonders
hilfreich sind. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
ist aber von zentraler Bedeutung, wenn es um das Thema
Attraktivität geht und wenn es um die Frage geht, wen
man für die Bundeswehr gewinnen kann.
Der Sanitätsdienst ist ein immer wiederkehrendes
Thema. Das gilt auch für die psychologische Betreuung.
Dabei geht es insbesondere um die Betreuung derjenigen, die zu Schaden gekommen sind, und um die Betreuung der Angehörigen der Versehrten. Das ist natürlich
ein sehr wichtiges Thema. Die Tatsache, dass die Hälfte
der Dienstposten in diesem Feld nicht besetzt ist - auch
das liest man in Ihrem Bericht -, stellt ein erhebliches
Problem dar.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bitte äußern, die Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, nicht neu ist; wir
haben sie in den letzten Jahren immer wieder formuliert.
Wenn man sich anschaut, wer sich freiwillig zur Bundeswehr meldet, dann stellt man fest, dass über 25 Prozent
der Bewerber einen Migrationshintergrund haben. Das
bringt langfristig eine massive Veränderung des Charakters der Bundeswehr mit sich.
({6})
Ich glaube, dass das auch große Veränderungen für die
Gesellschaft mit sich bringen kann. Es würde mich sehr
freuen, wenn Sie sich in Ihrem Bericht eingehend mit
diesem Thema beschäftigen würden, mit den Chancen
und den Problemen, die damit verbunden sein können.
Ich glaube, dass uns das in den nächsten Jahren sehr
stark beschäftigen wird.
Herr Wehrbeauftragter, herzlichen Dank für den Bericht, den Sie vorgelegt haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anita
Schäfer das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Ihr
Bericht für das Jahr 2011 ist eine Besonderheit; denn er
umfasst erstmals einen Zeitraum nach der Aussetzung
der Wehrpflicht im vergangenen Sommer. Das war der
größte Umbruch in der Geschichte der Bundeswehr, und
das bei weiterlaufenden, auch sehr gefährlichen Einsätzen. Das entspricht, wie der Bundesverteidigungsminis23448
Anita Schäfer ({0})
ter es damals bei der Vorstellung der Reform bemerkt
hat, in etwa einer „Operation am offenen Herzen bei einem Patienten, der noch die Straße entlangläuft“.
Angesichts dieser Umstände können wir feststellen,
dass der Patient das erste Jahr nach der Operation bemerkenswert gut überstanden hat. Dabei will ich nicht verschweigen, dass es im Zusammenhang mit der Umsetzung der Reform noch einige Beschwerden gibt, die sich
im Bericht des Wehrbeauftragten, aber auch in der kürzlich vom BundeswehrVerband vorgestellten Befragung
militärischer Führungskräfte wiederfinden.
Uns als Regierungskoalition muss es also vor allem
darum gehen, die Soldaten und zivilen Mitarbeiter dabei
mitzunehmen. Deswegen wird es eine wesentliche Aufgabe des Verteidigungsministeriums, aber auch von uns
Abgeordneten bleiben, die Kommunikation mit der
Truppe auf allen Ebenen weiterzuführen, die Reformbemühungen zu vermitteln und die Rückmeldungen, Beschwerden und Vorschläge der Soldaten aufzunehmen.
Trotz der gegenwärtig noch schwierigen Situation ist
das Bewerberaufkommen aber weiterhin hervorragend,
obwohl die Bundeswehr nun auf einem Markt mit den
niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit 20 Jahren um ihren
gesamten Nachwuchs werben muss. Es kommen also
nicht einfach diejenigen, die sonst nichts finden, wie von
manchen prophezeit. Neben der Rekrutierung von Zeitsoldaten erfüllt auch der neue freiwillige Wehrdienst die
Erwartungen, wobei es allerdings eine Abbrecherquote
von etwa 27 Prozent in den ersten zwei Monaten des
Dienstes gibt. Das kann uns zwar nicht befriedigen, entspricht aber ziemlich genau den Erfahrungen der Wirtschaft. Selbst so verbleiben mehr als ausreichend freiwillig Wehrdienstleistende.
Von denen, die ihren Dienst jetzt im Oktober antreten,
hat über die Hälfte Abitur, fast ein Drittel die mittlere
Reife und jeder Neunte bereits einen Berufsabschluss.
Es sind also junge Männer und Frauen, die durchaus alle
Möglichkeiten haben, die sich aber für eine gewisse Zeit
für unser Land und unsere Gesellschaft engagieren wollen, wobei wir ja beispielsweise auch schon den Fall einer 41-jährigen Mutter von drei erwachsenen Kindern
hatten, die kurzerhand diese Möglichkeit wahrgenommen hat. Insgesamt - auch das muss man sagen - ist allerdings der Frauenanteil unter den freiwillig Wehrdienstleistenden mit 6 bis 8 Prozent relativ gering. Da
gibt es also noch Potenzial, das man ausschöpfen kann.
Ein wichtiger Punkt bei der Nachwuchsgewinnung ist
die Attraktivität des Dienstes. Für engagierte Staatsbürger war die Bundeswehr schon immer attraktiv, aber wir
müssen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen, die auch vor Soldaten nicht haltmachen, wie zum
Beispiel die zunehmende Zahl von Beziehungen zwischen berufstätigen Partnern, mehr Pendler etc. Deswegen freut es mich besonders, dass die über 40 Maßnahmen aus dem Attraktivitätspaket des Bundesministeriums
der Verteidigung im Haushalt 2013 voll abgedeckt sind.
Wir müssen jungen Menschen ein Angebot machen,
das ihnen die Entscheidung für die Bundeswehr erleichtert. Dazu gehört nach meiner Überzeugung auch eine
weitere Verbesserung des Standards der Unterkünfte.
Kürzlich war ich mit dem Verteidigungsminister bei seinem Besuch am Standort Zweibrücken in meinem Wahlkreis einig: Es müssen ja keine Hotelzimmer sein, aber
die alten Sechsbettstuben werden es künftig auch nicht
mehr tun. Das Gleiche gilt für die Modernisierung der
Ausrüstung. Hier wollen wir trotz knapper Kassen alles
Mögliche tun, damit das bestmögliche Gerät die Soldaten auf dem schnellstmöglichen Weg erreicht.
({1})
Den hierzu vorgesehenen neuen integrierten Planungsprozess begrüße ich deshalb ausdrücklich. Es wird
nun darauf ankommen, diesen Prozess in den neuen
Strukturen des Bundesministeriums der Verteidigung
und seines nachgeordneten Bereichs mit Leben zu erfüllen und zu einem Erfolg vor allem für die Menschen im
Einsatz zu bringen. Wir von der Koalition werden diesen
Prozess aufmerksam begleiten und, wo immer wir gefordert sind, tatkräftig unterstützen.
Ich möchte noch einen Einzelpunkt aus dem Bericht
herausgreifen, weil sich Soldaten im Gespräch mit mir
recht häufig dazu äußern. Es handelt sich dabei um das
seit 2007 geltende Beurteilungssystem. Bekanntlich
wurde es eingeführt, um der Inflation von Bestnoten unter dem vorherigen System entgegenzuwirken. Diese
wurde mit der Quotierung von Bewertungsstufen innerhalb der Vergleichsgruppen abgestellt. Wie sich aber gezeigt hat, bringt das neue Verfahren seine eigenen Probleme mit sich. Weil Bestnoten nur noch begrenzt
vergeben werden dürfen, teilen wohlmeinende Vorgesetzte sie häufig denjenigen Soldaten zu, die sie für weitere Beförderungen oder die Übernahme zum Berufssoldaten brauchen, was natürlich ungerecht gegenüber
ebenso leistungsstarken Kameraden ist, für die aber
keine guten Noten mehr übrig sind.
Ein wesentlicher Grund für diese unbeabsichtigten
Folgen ist der immer wieder angesprochene Beförderungsstau. Ich hoffe, dass das künftig flexiblere Verpflichtungssystem dieses Problem an der Wurzel packt,
da hiermit der Anteil an Berufssoldaten, die vorhandene
Planstellen für lange Zeit besetzen, verringert wird.
Auch die demografische Entwicklung wird sicher einiges dazu beitragen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge
aus dem Dienst scheiden. Dann sollten wir ein fertiges
Konzept zur weiteren Verbesserung des Beurteilungssystems haben; denn auch gute Karriereaussichten gehören
zur Attraktivität des Dienstes.
Letztlich gehört dazu auch die gesellschaftliche Anerkennung im Hinblick auf den Wert dieses Dienstes. Ich
habe den Mangel daran hier oft beklagt, sodass ich jetzt
auch einmal ein Lob aussprechen möchte; denn langsam
ändert sich etwas. Das sehen wir gerade an der wachsenden Zahl von Repräsentanten nicht nur aus der Politik,
sondern auch aus der Kunst und der Unterhaltung, die
sich dafür engagieren. Wir brauchen all diese Formen.
Ich möchte allen danken, die sich auf verschiedenste Art
dafür engagieren. Denn unsere Soldaten leisten ihren
Dienst für uns alle, und sie sollten dafür auch den entsprechenden Rückhalt in der Gesellschaft finden. Daran
sollten wir alle arbeiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege
Wolfgang Hellmich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst
möchte ich mich beim Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages für den sehr ausführlichen Bericht für das
Jahr 2011 herzlich bedanken. Ausdrücklich möchte ich
das Bemühen des Wehrbeauftragten hervorheben, die
Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten deutlich zu
verbessern. Damit steht er in der guten Tradition seiner
Vorgänger; das ist auch in der Truppe angekommen.
({0})
Die Frage ist: Trifft dieser Bericht die Realität? Die
Messlatte ist schließlich der Alltag unserer Truppe, die
alltägliche Situation der Soldatinnen und Soldaten.
Meine Damen und Herren, verunsicherte Soldatinnen
und Soldaten sind keine gute Werbung für die Bundeswehr. Der Reformprozess und der damit verbundene
Um- und Abbau sowie die Reduzierungen und Schließungen drücken auf die Stimmung in unserer Truppe;
das ist schon an vielen Stellen erwähnt worden. Dass die
Kommunikation über die Neuausrichtung der Bundeswehr erheblich verbessert werden muss, ist zwischen allen Fraktionen dieses Hauses Konsens.
Die Vielzahl der Veränderungen verstärkt die Aufstiegsunsicherheit innerhalb der Bundeswehr. Wie geht
es wo in welcher Verwendung und mit welchen Karriereoptionen weiter? Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Soldaten beschäftigen, nicht nur diejenigen, die
hierzulande ihren Dienst tun, sondern auch diejenigen,
die im Ausland im Einsatz und von diesen Entscheidungen noch weiter entfernt sind als diejenigen, die hier
sind. Das sind die Fragen, die viele Soldatinnen und Soldaten beschäftigen, und das in einer Truppe, die strukturell und personell so ausgedünnt ist, dass sie ihre Aufgaben im Alltag manchmal kaum noch erfüllen kann. Die
Frage, die sich einige stellen - manchmal wird sie eher
ironisch gestellt -, lautet: Wann haben wir den Punkt erreicht, an dem die Offiziere die Wache übernehmen müssen?
Gerne hätte ich vonseiten des Ministers etwas zu der
Frage gehört, warum Soldatinnen und Soldaten in immer
dichterer Folge lange Auslandseinsätze absolvieren müssen. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit ist keine Antwort, weil es in einer modernen Armee die Aufgabe des
Arbeitgebers ist, sich um seine Soldatinnen und Soldaten, seine Beschäftigten, zu kümmern. Den einen oder
anderen muss man dabei schlichtweg vor seiner eigenen
Entscheidung schützen. Freiwilligkeit ist kein Argument.
({1})
Hierzu hätte ich, wie gesagt, gerne etwas gehört, damit an
dieser Stelle auch den Soldatinnen und Soldaten klar
wird, in welche Richtung es gehen soll. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Unseren Soldatinnen und Soldaten wie auch den zivilen Beschäftigten stehen Planungssicherheit und Teilhabe bei Strukturentscheidungen
zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist die
Aufgabe des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, sich aktiv in die Bundeswehrreform einzuschalten,
und das zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten. Fürsorge und Betreuung sind das eine. Die Evaluierung eines
Reformprozesses aber muss im Interesse der Soldatinnen
und Soldaten reformbegleitend angelegt und organisiert
werden, und zwar jetzt, damit uns dann, wenn wir in der
Lage sind, Korrekturen vorzunehmen, das nötige Material zur Verfügung steht.
Meine Damen und Herren, Betroffene wie Vorgesetzte beklagen, dass der Dienstherr Bundeswehr mehr
auf Neueinstellungen anstatt auf bereits ausgebildete Bewerber aus der Truppe setzt. Ich denke, es muss auch darüber gesprochen werden, dass die Binnenwerbung eindeutig verstärkt und anders angegangen werden muss.
Eine moderne Armee braucht eine besser organisierte
Weiterbildung in den Bereichen Sprache, Führungskompetenzen und berufliche Qualifizierung und eine zukunftsorientierte Personalentwicklung im Bestand. Das
wird die Attraktivität des Dienstes steigern.
Das Soldatengesetz verpflichtet den Bund, seiner Fürsorgeverantwortung gegenüber den Soldaten selbst nachzukommen. Das steht deutlich im Bericht und ist dort
hervorgehoben.
Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis,
wenn ich Ihnen mitteile, dass Auslandseinsätze mit hohen physischen und psychischen Belastungen verbunden
sind. Das ist auch eine Konsequenz daraus, wie sie organisiert sind. Posttraumatische Belastungsstörungen sind
für 2 bis 4 Prozent aller im Einsatz befindlichen Kräfte
leider Realität, wie im Deutschen Ärzteblatt jüngst veröffentlichte Studien noch einmal aufweisen, wobei man
sagen muss: Die wissenschaftliche Begleitung dieses
Faktors und dieser Umstände ist in der Bundesrepublik
im Vergleich zu allen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern weit unterdurchschnittlich entwickelt. Hier muss dringend nachgearbeitet werden.
({2})
Der Begriff des sogenannten Einsatzunfalls wurde
durch das Einsatzversorgungsgesetz, das am 27. Dezember 2004 im Bundesgesetzblatt verkündet wurde und
rückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft trat, in das
Soldatenversorgungsgesetz eingefügt. Mit dem am
13. Dezember 2011 in Kraft getretenen Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz wird unter anderem der
Stichtag für die Anwendbarkeit des Einsatz-Weiterverwendungsgesetzes zurückdatiert. Die rückwirkende Veränderung der Anspruchsvoraussetzungen war jedoch
nicht Gegenstand dieses Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetzes. Somit wurde die Stichtagsregelung zur
Gewährung einer entsprechenden Entschädigungszahlung nicht geändert.
Worauf will ich hinaus? Innerhalb der Bundeswehr
gibt es noch zwei verschiedene Gruppen von Entschädigungszahlungen bei auslandsgeschädigten Soldaten mit
PTBS - je nachdem, wann das schädigende Ereignis
stattgefunden hat. Soldaten, die bis zum 30. November
2002 geschädigt wurden, erhalten keine Entschädigung.
Soldaten, die vom 1. Dezember 2002 bis zum 12. Dezember 2011 geschädigt wurden, erhielten erst 80 000 Euro
und nach der Verabschiedung des Reformbegleitgesetzes
noch einmal 70 000 Euro, insgesamt also 150 000 Euro.
Diese erhalten ebenso Soldaten, die ab dem 13. Dezember 2011 geschädigt wurden.
Hierbei handelt es sich nicht um zwingend vorgegebene Daten, sondern um eine rein politische Entscheidung, die allein an den Absturz des CH-53 im
Dezember 2002 in Kabul anknüpft. Das hat zur Folge,
dass 36 Soldatinnen und Soldaten, die in IFOR-,
SFOR- und KFOR-Einsätzen waren und vor dem
1. Dezember 2002 geschädigt wurden, keine Entschädigung erhalten. Daneben gibt es eine Dunkelziffer von
circa 20 Fällen. Das ist eine grobe Ungleichbehandlung
und Ungerechtigkeit, die man aufheben muss.
Ein im Kosovo-Einsatz geschädigter Soldat wandte
sich mit diesem Anliegen an den Wehrbeauftragten des
Deutschen Bundestages. In dem Antwortschreiben eines
Mitarbeiters vom August 2012 findet sich folgendes Zitat: Ich sehe zurzeit jedoch keine Möglichkeit, mich im
parlamentarischen Raum mit Aussicht auf Erfolg für
eine weitergehende Ausweitung im Sinne einer rückwirkenden Änderung der Tatbestandsvoraussetzungen hinsichtlich des Anspruchs auf Einmalentschädigung für die
vor dem 1. Dezember 2002 geschädigten Soldatinnen
und Soldaten einzusetzen.
Sehr geehrter Herr Königshaus, ich kenne diese Initiative nicht - und auch keine Anfrage in dieser Richtung. Würden Sie eine in dieser Richtung starten, wäre
ich gerne dabei und würde Sie dabei unterstützen, um
diesen 56 Soldatinnen und Soldaten Gerechtigkeit in ihrer Lage zukommen zu lassen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke
mich an dieser Stelle für Ihre freundliche Aufmerksamkeit und hoffe, dass das noch lange so bleiben wird.
Vielen Dank und Glück auf!
({4})
Kollege Hellmich, diese Rede wird im Protokoll des
Deutschen Bundestages als Ihre erste Rede vermerkt
sein. Ich gratuliere Ihnen dazu recht herzlich und wünsche Ihnen, sicherlich im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen, viel Erfolg für Ihre Arbeit.
({0})
Es sei mir allerdings auch der Hinweis erlaubt, dass
man, egal wer hier vorne gerade präsidiert, seine Redezeit tatsächlich nur einmal um fast die Hälfte überziehen
kann. Ich bitte Sie also, in Zukunft auf das Signal auf
dem Redepult zu achten.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt ({3}), Doris Barnett, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kultur für alle - Für einen gleichberechtigten
Zugang von Menschen mit Behinderung zu
Kultur, Information und Kommunikation
- Drucksachen 17/8485, 17/10030 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Ulla Schmidt ({4})
Dr. Rosemarie Hein
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die Unionsfraktion.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
SPD-Fraktion hat vor einiger Zeit einen Antrag vorgelegt, in dem sie feststellt, dass nur durch den gleichberechtigten Zugang auch zu kulturellen und medialen Angeboten und durch barrierefreie Informationen dem
Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention Genüge getan wird. Diese Feststellung ist richtig. Dieser
Feststellung schließen wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich an.
({0})
Die größte Behinderung ist nicht die körperliche Behinderung, sondern es sind die vielen kleinen und großen
Barrieren in unserem Alltag, die Menschen mit Behinderung tagtäglich im Wege sind und ihnen die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben erschweren. Im kulturellen LeMaria Michalk
ben sieht das genauso aus. Ein Beispiel: Ein Mensch in
einem Rollstuhl möchte ins Kino gehen, doch es gibt
keinen barrierefreien Eingang, keine Möglichkeit, den
Rollstuhl im Vorführsaal zu platzieren, weil dafür gar
kein Platz vorgesehen ist. Die Barriere ist also nicht der
Rollstuhl an sich, sondern die bauliche Gegebenheit. Sie
schließt ihn von dem aus, was er in seiner freien Zeit
gerne machen möchte, was alle Menschen tun, mit oder
ohne Behinderung.
Menschen mit Behinderung wollen im Grunde genau
das tun, was alle anderen, wir alle, selbstverständlich
tun. Sie wollen vor allem keine Sonderaufführungen im
Theater oder im Kino, keine Sonderlesungen oder -konzerte, keine Sonderfernsehprogramme. Sie wollen Spielfilme, Talkshows, Kochsendungen, Serien, die auf den
regulären Kanälen angeboten werden, anschauen und ihnen folgen können. Wir müssen weg von der Vorstellung, dass für Menschen mit Behinderung ganz besondere, ganz spezielle Angebote bereitgehalten werden,
irgendwo da, wo wir alle nicht hinkommen. Das ist nicht
die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie wir sie
verstehen. Das ist erst recht nicht der Grundgedanke der
Inklusion.
({1})
Wir müssen hin zu der Haltung, dass das Thema Behinderung immer und bei allen Entscheidungen von uns
allen mitgedacht wird. So wie wir ganz persönlich, jeder
von uns, eine grundsätzliche Haltung zu Sprache, Kultur
und Kunst haben, so müssen wir uns eine ganz persönliche Haltung zu dieser grundsätzlichen Teilhabe, zu Inklusion auch im kulturellen Leben unserer Gesellschaft
für Menschen mit Behinderung angewöhnen, sie uns
einverleiben. Das muss eine Selbstverständlichkeit werden.
({2})
Es muss das Prinzip des universellen Designs gelten.
Das heißt, alles muss so aufbereitet, konstruiert, gebaut,
gedacht werden, dass es von allen Menschen genutzt
werden kann. Dies ist ein sehr hoher Anspruch; denn wir
kommen aus einer Welt, in der wir immer meinten, Gutes zu tun, wenn wir Sonderangebote geschaffen haben.
Wir müssen uns angewöhnen, alles gemeinsam zu tun.
({3})
In dem vorliegenden Antrag wird gefordert, mehr Angebote in leichter Sprache bereitzuhalten. Ja, nicht nur
Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit
Lernschwäche würden davon profitieren. Wir alle sind
doch - seien wir einmal ganz ehrlich - selber froh, wenn
wir verständliche, kurze, prägnante Informationen in die
Hand bekommen und nicht erst dreimal den Text lesen
müssen, bevor er im Kopf ankommt.
Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag anlässlich unseres gemeinsamen Projektes „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“, das im Oktober
stattfinden wird, die Idee aus dem Antrag aufgegriffen
hat und wir jetzt in der Realisierungsphase sind.
Die leichte Sprache ist jedoch nur ein Teil dessen, was
Barrierefreiheit insgesamt ausmacht. Für ein umfangreiches Angebot an Information für alle Menschen mit ganz
unterschiedlichen Behinderungen sind sehr viel mehr
Dinge zu bedenken.
Für Blinde und Sehbehinderte ist es wichtig, dass zum
Beispiel Fernsehprogramme eine Audiountertitelung haben, dass Internetseiten oder PDF-Dokumente barrierefrei gestaltet sind, dass Broschüren in Brailleschrift angeboten werden und vieles mehr. Sie sind zudem auf
Blindenleitsysteme in Kinos, Theatern, öffentlichen Einrichtungen, Museen, bei Denkmälern usw. angewiesen.
Nehmen wir als weiteres Beispiel die gehörlosen
Menschen. Sie brauchen Gebärdendolmetscher, wenn
sie einer Theateraufführung folgen wollen. Vor Ort gibt
es Gott sei Dank sehr viele praktische und persönliche
Initiativen, durch die man diese Teilhabe über Spenden
und ehrenamtliches Engagement zusätzlich verbreitert.
Das sollten wir einmal positiv hervorheben und den
Menschen, die sich vor Ort in diesem Bereich engagieren, sehr herzlich danken. Denn sie tun das in der Regel
ehrenamtlich.
({4})
Art. 30 der auch von Deutschland ratifizierten UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet uns alle, dafür zu sorgen, dass Kunst und Kultur ohne Abstriche
auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind.
({5})
Nach der Erarbeitung und Beschlussfassung zum nationalen Aktionsplan fußt die Umsetzung der Konvention
auf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Insofern
ist der Antrag durchaus eine Gelegenheit, wieder und
wieder über diese Themen zu sprechen.
Manche reden den Aktionsplan leider gerne schlecht.
Ich bin nicht derselben Meinung und bin davon überzeugt, dass dieser Aktionsplan und all die Aktivitäten in
den unterschiedlichsten Lebensbereichen - dazu gehören
Kultur und Kunst -, die sich entwickeln, unsere Gesellschaft durchdringen. Denn Barrierefreiheit ist kein Geschenk für Menschen mit Behinderung, sondern sie erleichtert unser aller Leben,
({6})
vor allem mit Blick auf die kulturelle Teilhabe.
Wer Kultur anbietet - um einmal von der Angebotsseite auszugehen -, wird künftig an alle diese Menschen
denken müssen. Denn in unserer älter werdenden Gesellschaft sind Menschen mit Behinderung auch eine wichtige Kundengruppe. Immerhin leben zurzeit 7,3 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung.
1,5 Millionen davon sind entweder blind, sehbehindert,
schwerhörig oder taub. Die Zahl wird steigen, weil wir
Gott sei Dank älter werden und es unserem menschlichen Körper immanent ist, dass wir zunehmend auf
Hilfe und Unterstützung angewiesen sind.
Selbst in einem Lebensbereich, in dem man vielleicht
selber weder künstlerische Aktivitäten bestreiten noch
Kultur aktiv konsumieren kann, sind kulturelle Ange23452
bote wichtig, zum Beispiel dass älteren kaum noch handlungsfähigen Personen aus guten Büchern vorgelesen
wird und sie vielleicht ein Fernsehprogramm sehen können, das die wunderbaren Denkmäler Deutschlands
zeigt, damit auch diese Menschen an unserem kulturellen Gut in Deutschland teilhaben können.
Deshalb lassen die Fernsehmacher die Menschen mit
Behinderung längst nicht mehr links liegen: Sie haben
sie als Zielgruppe entdeckt. Manche Sender schaffen
neue Angebote, um auch diese Zuschauer für ihr Programm zu gewinnen.
Ein wirklich gutes Beispiel, wie Teilhabe über das
Fernsehen gelingen kann, haben wir im Deutschen Bundestag am 18. März bei der Wahl unseres Bundespräsidenten erlebt, als die Übertragung auf Phoenix erstmals
live mit Einblendungen in Gebärdensprache stattgefunden
hat. Kompliment dafür an die Initiatoren und Macher!
Solchen guten Beispielen sollten andere folgen.
Sie fordern in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD-Fraktion, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stärker in die Pflicht zu nehmen, was barrierefreie Angebote betrifft. Ist das wirklich
nötig?
({7})
Unsere Rundfunkräte, in denen auch Sie vertreten
sind, haben mit der neuen Gebührenordnung ab Januar
des nächsten Jahres große Erwartungen geweckt; da sind
wir uns einig. Es ist klar: Wenn auch von dieser Personengruppe höhere Gebühren eingezogen werden, dann
sind bessere Angebote notwendig. Aber ich denke, dass
die Herren und Damen in den Anstalten jetzt auf dem
Weg sind, das zu organisieren und die entsprechenden
Voraussetzungen zu schaffen. Hinsichtlich derer, die
noch nicht daran gedacht haben, ist hier ein entsprechender Appell durchaus angebracht.
({8})
Denn Barrierefreiheit ist ein Prozess, der nur dann vorankommt, wenn viele Impulse aus vielen Richtungen
gegeben werden.
({9})
Das zeigt zum Beispiel auch die Filmförderung. Durch
den Einsatz aller Fraktionen hat die Filmförderungsanstalt eine barrierefreie Fassung der Förderungsbedingungen der Filmschaffenden erstellt. Sie will darüber hinaus
Barrierefreiheit in die Richtlinien des Deutschen Filmförderfonds verpflichtend aufnehmen. Dies ist eine gute
Initiative, die wir ausdrücklich begrüßen.
({10})
Damit hat sich eine weitere Forderung Ihres vorliegenden Antrags erledigt.
Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag weiter die
Umsetzung der BITV 2.0. Diese ist vor ziemlich genau
einem Jahr in Kraft getreten. Diesbezüglich können auch
wir nur hoffen, dass nach Veröffentlichung des Leitfadens, der jetzt noch in Arbeit ist, die Umsetzung auch
mit Unterstützung der Länder zügig geschieht, sodass
auch im Internet Barrierefreiheit erreicht wird.
Denn wir wollen, dass auf jedem Kulturfeld eine
nachhaltige Lösung gefunden wird. Deshalb geht das
nicht schnell und über Nacht, sondern muss systematisch
und vor allen Dingen nachhaltig angegangen werden.
Ein Teil des bunten Straußes an Forderungen aus Ihrem Antrag ist also, wie gesagt, schon realisiert bzw. auf
einem guten Weg, und nicht alle haben einen originären
kultur- oder medienpolitischen Hintergrund. Deshalb
freue ich mich immer wieder, wenn ich kreativen Menschen begegne, die mit ihrer und trotz ihrer Behinderung
kulturelle Meisterwerke hervorbringen - für Menschen
mit Behinderung und mit ihnen.
Es kommt darauf an, dass wir das Kunst- und Kulturschaffen dieser Menschen würdigen und es auch als
Menschen ohne Behinderung in einer würdigen Form
bewerten, als Kulturgut anerkennen sowie konsumieren
und entsprechend verbreiten.
({11})
Ich möchte, dass die eigene Kreativität auch bei Preisverleihungen eine stärkere Rolle spielt. Auch da gibt es
gute Beispiele. Ich denke etwa an den Deutschen Hörfilmpreis. Das ist seit vielen Jahren eine gute Initiative,
die Jahr für Jahr zeigt, welche qualitativen Verbesserungen sich da entwickeln.
Dies alles muss wachsen. Klar, wir sind ungeduldig.
Auch in unserem Herzen sind wir ungeduldig. Aber
wenn wir es schaffen, dass diese Form der kulturellen
Teilhabe kein Thema für Experten oder behindertenpolitische Sprecher bleibt, sondern Herzenswunsch von uns
allen wird, dann haben wir einen guten Beitrag für unsere Kulturgemeinschaft geleistet.
Ich danke für die heutige Debatte. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses hat deutlich gezeigt, dass wir
bereits viele Dinge auf den Weg gebracht haben und diesen Weg weitergehen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich für
diesen großen und wichtigen Bereich engagieren.
Herzlichen Dank.
({12})
Die Kollegin Ulla Schmidt hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Michalk, ich mache Ihnen einen einfachen Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
({0})
Ulla Schmidt ({1})
Wenn alles schon erledigt oder auf einem guten Weg ist,
dann weiß ich nicht, warum die CDU/CSU-Fraktion und
die FDP diesen Antrag ablehnen. Ich kann Ihnen den
Grund aber nennen. Der steht in Ihrer Beschlussempfehlung. Da heißt es, dass zweifelsohne vieles auf dem Weg
ist. Es sei aber auch unbestritten, dass noch viel zu tun
sei.
({2})
Aber im Hinblick auf andere Anliegen und die begrenzten Finanzmittel müsse endlich anerkannt werden, dass
mehr im Moment nicht erledigt werden könne.
({3})
Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben da eine andere Auffassung. Die UN-Behindertenrechtskonvention zu ratifizieren, ist das eine. Sie
umzusetzen und dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in
diesem Land, egal ob behindert oder nicht behindert,
ob alt oder jung, ob zugewandert oder hier geboren, das
Recht hat und die Chance erhält, das Beste aus seinem
Leben zu machen, ist das andere. Wir müssen die in der
UN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Rechtsansprüche erfüllen. Bei dieser Aufgabe ist das Bohren
dicker Bretter, wie es Max Weber formuliert hat, notwendig.
({4})
Sie haben recht: Es muss etwas in der Gesellschaft, in
den Köpfen der Menschen verändert werden. Aber es ist
auch klar: Wenn wir Bundestagsabgeordnete als Gesetzgeber nicht für entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen sorgen und die Strukturen, in denen wir leben,
nicht so verändern, dass die Teilhabe und das Mitmischen aller garantiert sind, dann bleibt die UN-Behindertenrechtskonvention reines Wunschdenken und wird in
diesem Land nicht gelebte Realität.
({5})
Wir wollen mehr und haben deshalb als SPD-Fraktion
eine Reihe von Anträgen eingebracht. Wir wollen, dass
über dieses Thema hier im Bundestag diskutiert wird
und dass wir uns damit auseinandersetzen. Sie haben
recht: Das ist nicht allein eine Aufgabe der Behindertenbeauftragten der Fraktionen und des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. Vielmehr geht es um eine
große gesellschaftspolitische Aufgabe. Wir sollten uns
zum Ziel setzen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts entscheidende Schritte voranzukommen, und zwar in allen
wichtigen Bereichen wie Verkehr, Mobilität, Bildung,
Arbeitswelt, politische Teilhabe und gesundheitliche
Versorgung.
Wir fordern in unserem Antrag, die Barrierefreiheit
im gesamten Bereich von Kultur und Medien zu garantieren. Das ist wichtig; denn durch die Ratifizierung der
UN-Behindertenrechtskonvention erkennen wir an, dass
es um die Verwirklichung von Rechtsansprüchen jedes
einzelnen Menschen und nicht um ein Goodwill geht. Es
spielt als keine Rolle, ob wir das machen wollen oder
nicht. Wir müssen es machen.
({6})
Wir wollen alles unternehmen, um dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen und darüber
zu debattieren. Uns ist die Barrierefreiheit gerade im
Bereich von Kultur und Medien wichtig, weil es darum
geht, dass sich in den Köpfen - darauf haben Sie zu
Recht hingewiesen - vieles verändert. Wir in Deutschland neigen dazu, Menschen bestimmte Eigenschaften
oder Fähigkeiten zuzuschreiben. Das geht oft mit dem
Ausschluss von bestimmten Aufgaben einher. Gerade
Kultur und Medien, die daran mitwirken, dass sich die
Gesellschaft verändert und dass es keine kritische Auseinandersetzung ohne diejenigen gibt, die betroffen
sind, kommt eine ganz wichtige Aufgabe zu, wenn es
darum geht, die Teilhabe aller zu garantieren. Wir haben
große Chancen, unsere Ziele im Bereich von Kultur und
Medien zu erreichen. Es geht nicht nur um passive Teilhabe. Wir fördern viele Bereiche und wollen erreichen,
dass die aktive Teilhabe behinderter Menschen genauso
selbstverständlich ist wie die nicht behinderter Menschen.
Ich habe viele Theaterstücke gesehen und Musicals
besucht, an denen Behinderte und Nichtbehinderte mitgewirkt haben. Die Nichtbehinderten haben gesagt:
Nach einer gewissen Zeit haben wir gar nicht mehr bemerkt, wer behindert ist und wer nicht. Wir alle haben
unser Bestes eingebracht. - So etwas verändert mehr in
den Köpfen als viele andere Aktionen.
Es nutzt aber nichts, allein Postulate aufzustellen und
ständig nur darüber zu reden, was wir wohl noch machen
könnten. Wir sagen in unserem Antrag ganz klar: Die
rechtlichen Voraussetzungen für Barrierefreiheit müssen
geschaffen werden. Das bedeutet im Bereich von Kultur
und Medien, dass wir uns darauf verständigen müssen,
dass kein einziger Euro mehr - das gilt auch für die
Filmförderung - in Projekte fließt, wenn die Barrierefreiheit nicht gesichert ist. Das kann der Bundestag beschließen. Dann wird wirklich etwas geschehen.
({7})
Es geht darum, bei der Unterstützung kultureller Projekte Barrierefreiheit einzufordern und alle dazu zu verpflichten, sich für Barrierefreiheit einzusetzen. Dann
sind wir auf dem richtigen Weg. Damit setzen wir
Signale, so wie wir es mit unserem Antrag gemacht haben.
Ich weiß sehr wohl, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist. Das spreche ich hier an, weil auch das
etwas mit kultureller Bildung zu tun hat. Inklusion ist
vor allen Dingen da wichtig, wo es um die gemeinsame
Erziehung und Beschulung geht. Dafür brauchen wir
Geld. Wir brauchen die entsprechenden Rahmenbedingungen, damit Inklusion erfolgreich ist. Im Bereich der
Kultur und der Medien können wir mit dem, was wir
derzeit auf den Weg bringen, Verbesserungen erreichen.
Ulla Schmidt ({8})
Wir können etwas verändern. Deshalb war es uns wichtig, einen Weg aufzuzeigen und ein Signal zu senden.
Das Ziel meiner Fraktion ist eine Gesellschaft, an der
alle gleichberechtigt teilhaben und in der alle mitmachen
können. Das gilt für Menschen mit Behinderung, die in
ihrem Umfeld auf Barrieren stoßen, aber auch für Menschen ohne Behinderung oder diejenigen, die teilweise
Einschränkungen haben. Das gilt für lernschwache und
lernstarke Menschen, Ältere und Jüngere, Zugewanderte
und für diejenigen, die hier geboren wurden. Sie alle
können von der Inklusion profitieren.
({9})
Frau Kollegin Schmidt.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, dies perspektivisch umzusetzen. Ich weiß, dass wir dafür Zeit brauchen.
Kollegin Schmidt, der Kollege Kurth will Ihnen durch
eine Bemerkung oder Frage die Gelegenheit geben, Ihre
Redezeit zu verlängern. Deswegen versuche ich die
ganze Zeit, Sie zu unterbrechen.
Bitte schön.
Frau Kollegin, herzlichen Dank. - Wir alle setzen uns
für Barrierefreiheit ein. Bitte richten Sie dringend meinen Gruß an Ihre famose Landesregierung in NordrheinWestfalen aus. Sie hat neulich die Teilnehmer der Paralympics in Nordrhein-Westfalen auf einer Bühne begrüßt, die für Rollstuhlfahrer nicht geeignet war.
Herr Kollege Kurth, ich bin sehr froh, dass die jetzige
Regierung von SPD und Grünen
({0})
die schwarz-gelbe Regierung abgelöst hat. Mit dem Koalitionsvertrag, aber auch schon vorher, ist Inklusion
überhaupt erst zu einem wichtigen Thema in NordrheinWestfalen geworden.
({1})
Bedauerlich ist, dass es heute noch Bühnen gibt, die
für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind.
({2})
- Das ist bedauerlich. Das muss man kritisieren. Ich
richte das gerne aus.
({3})
Aber, Herr Kollege Kurth, wir können darauf hinwirken, dass Barrierefreiheit beim Bau berücksichtigt wird,
damit so etwas der Vergangenheit angehört. Das muss in
die Köpfe aller Beteiligten.
Ich habe am Wochenende in Marburg erlebt - das
habe ich bedauert -, dass eine Bühne für Menschen mit
einer Gehbehinderung nicht so umgebaut war, dass sie
für diese zugänglich gewesen wäre. Das zeigt, Frau Kollegin Michalk, dass wir noch vieles zu tun haben und es
durchaus nicht so ist, als habe sich das alles schon von
allein erledigt.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich war am
Wochenende in Marburg und habe dort erlebt, was geschieht, wenn Menschen, auch solche mit einer geistigen
Behinderung, dauerhaft zu Partizipation, zu Teilhabe angeregt werden. Ich habe die Diskussionen verfolgt und
gesehen, wie die behinderten Menschen ihre Rechte
wahrgenommen haben. Das ist für geistig Behinderte
eine besondere Herausforderung. Dafür bedarf es einer
leichten, einfachen Sprache, und dazu bedarf es Informationen. Sie haben in die Debatten eingegriffen, für ihre
Rechte gekämpft und waren in der Lage, auf alle Beiträge, die dort geleistet wurden, einzugehen.
Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, damit endlich Teilhabe für alle möglich ist. Das ist unabhängig davon, ob
sie blind oder sehbehindert sind, ob sie taub oder
schwerhörig sind, ob sie körperlich oder geistig behindert sind. Das ist völlig egal. Diese Menschen gehören in
unsere Mitte, sie gehören zu uns, und sie haben das
Recht auf Teilhabe wie alle anderen Menschen auch.
Dafür werben wir als SPD-Fraktion. Ich würde mir
wünschen, Sie würden das unterstützen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Altbundespräsident Richard
von Weizsäcker hat einmal gesagt - ich zitiere -:
Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst,
sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit
genommen werden kann.
Mit diesem Ausspruch wollte Altbundespräsident von
Weizsäcker uns für die Belange von Menschen mit Behinderung sensibilisieren und deutlich machen, dass uns
die Belange dieser Menschen auch deshalb nicht gleichgültig sein können, da es jeden von uns jederzeit betreffen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir ehrlich
sind, dann ist es doch häufig so, dass wir im alltäglichen
Leben - am Wohnort, am Arbeitsort, im Freizeitvergnügen - nicht an Barrieren denken, die sich auf unseren
täglichen Wegen für Menschen mit Behinderung auftun.
Wir nehmen unser quasi barrierefreies Leben als selbstverständlich hin. Für Menschen mit Behinderung gibt es
dieses Selbstverständnis der Barrierefreiheit nicht. Sie
sind mit Barrieren konfrontiert, die aufgrund baulicher
oder räumlicher Aspekte sofort sichtbar sind, aber auch
mit Barrieren, die nicht sofort zu erkennen sind, wie zum
Beispiel im Internet, bei Filmangeboten oder im Kommunikationsbereich.
Thomas Hänsgen, der Stiftungsratsvorsitzende und
Geschäftsführer von „barrierefrei kommunizieren!“,
sagte im Fachgespräch des Unterausschusses Neue
Medien am 19. September 2011 - ich zitiere -:
Barrierefreiheit ist eine Vision. Bisher haben wir es
im besten Falle mit barrierearmen Angeboten zu
tun.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns, Politik und
Gesellschaft, die Bedürfnisse von behinderten Menschen
vergegenwärtigen und Barrieren sowie Hindernisse
abbauen. Menschen mit Behinderung haben wie jeder
Bürger in Deutschland das Recht auf gleichberechtigte
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, und dies umfasst ganz
selbstverständlich auch das Recht auf Nutzung von kulturellen und medialen Angeboten.
Schon in der ersten Lesung und auch in den Beratungen im Ausschuss für Kultur und Medien habe ich den
Kolleginnen und Kollegen von der SPD für die Anregungen gedankt, die sie mit ihrem Antrag unterbreitet
haben. Ihr Antrag enthält eine ganze Reihe von Punkten,
die wir durchaus mittragen, daneben andere, über die
man nachdenken kann, und viele, die inzwischen schon
in der Umsetzung sind. Ich könnte mir durchaus vorstellen, die Denkmalförderung an Kriterien der Barrierearmut, nicht aber der Barrierefreiheit zu knüpfen.
Allerdings gibt es einen konkreten Punkt, weshalb wir
nicht zustimmen können: das Vergaberecht, denn es ist
nicht der geeignete Weg, Ausschreibungen mit der Erfüllung von Beschäftigungsquoten für Menschen mit
Behinderung zu verknüpfen. Nicht jedem kleinen und
mittelständischen Unternehmen wird es möglich sein,
die Voraussetzungen für barrierefreie Arbeitsplätze zu
schaffen; damit würden aber diese Unternehmen von der
Auftragsvergabe ausgeschlossen.
Uns Liberalen kommt es darauf an, dass wir Wege
finden, die allen Interessen weitgehend gerecht werden.
Es ist uns wichtig, dass wir den Weg des gesellschaftlichen Umdenkens, des Bewusstmachens der Bedürfnisse
der Menschen mit Behinderung, konsequent weitergehen. Allerdings müssen wir auch so realistisch sein,
um zu erkennen, dass wir nicht alles durch Gesetze
erzwingen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was unser Haus
selbst angeht, so wird im Oktober im Bundestag eine
Broschüre vorgestellt werden, die in Leichter Sprache
über die Arbeit dieses Hohen Hauses informiert. Dies ist
ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Inklusion, den wir
Liberale durchaus begrüßen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Rosemarie Hein das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein Professor soll zu seinen Studierenden einmal gesagt
haben: Ich bin Professor; mit mir müssen Sie einfach
reden. - Das war ein kluger Mann.
Wir denken nicht selten, wir seien besonders klug,
wenn unsere Reden mit möglichst vielen Fremdwörtern
gespickt sind und wir Fachbegriffe verwenden. Das ist
falsch. Wer klug ist, kann Kompliziertes einfach erklären. Da nehme ich mich selbst aus der Kritik nicht aus.
Die SPD hat mit der Übersetzung ihres Antrags in eine
einfache Sprache ein Beispiel gegeben: So geht es auch.
Manche und mancher meint immer noch, dass man
mit einer einfachen Sprache Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Behinderungen abwertet. Das ist
falsch. Mit der Verwendung einer einfachen Sprache
zeigt man vielmehr, dass man sie ernst nimmt. Umgekehrt bedeutet man ihnen mit einer Sprache, die sie
nicht verstehen können, dass man sie für dumm hält, was
sie nicht sind.
({0})
Darum halte ich es für wichtig, politische Entscheidungen auch in einer einfachen Sprache zu veröffentlichen. Ebenso wichtig ist es - das ist hier heute schon gesagt worden -, sie für Gehörlose in Gebärdensprache
oder Schriftsprache anzubieten.
({1})
Vielleicht ist Ihnen ja an der Tür unseres Plenarsaales
das kleine blaue Bildchen mit der Abbildung eines Ohres
und einem „T“ aufgefallen. Das ist das Zeichen dafür,
dass hier im Sitzungssaal eine Hörschleife liegt. Das
heißt, alle Menschen mit einer Hörhilfe können sich über
eine gesonderte Schalterstellung an ihrem Hörgerät in
die Lage versetzen, das besser zu hören und zu verstehen, was hier im Saal gesagt wird. Ich bin mir nicht
sicher, ob dies alle wussten.
Ich kenne die Einschränkungen von Hörgeschädigten
seit meiner Kindheit durch meine Mutter gut. Ich weiß,
was sie braucht, um am kulturellen Leben teilnehmen zu
können. Aber wirklich gut kenne ich eben nur die Besonderheiten dieser Beeinträchtigungen.
Es gibt aber unendlich viel mehr Barrieren beim Zugang zu Kultur und Medien: zum Beispiel der Zugang
zur Stadtbücherei über eine Treppe. Wenn dann noch die
einzige öffentliche Bibliothek aus Geldmangel geschlos23456
sen wird, wie es zum Ende dieses Jahres in der Stadt
Calbe in meinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt vorgesehen ist, wird für viele auch der Zugang zu guter Literatur
abgeschnitten werden. Übrigens ist die Leiterin dieser
Bibliothek schwerbehindert.
Oder nehmen wir die Haltestelle vorm Zoo in meiner
Stadt Magdeburg: Man kann zwar in die Straßenbahn
möglicherweise barrierefrei einsteigen und zum Zoo fahren, aber man kommt an Ort und Stelle alleine im Rollstuhl nicht wieder heraus. Zum Zoo hat man dann sehr
weite Wege.
Die Aufzählungen lassen sich nahezu unbegrenzt
fortsetzen. Hier sind heute auch schon einige weitere
Beispiele genannt worden. Der Antrag der SPD kann
helfen, das Verständnis dafür zu schärfen und das Problembewusstsein zu entwickeln.
({2})
Die meisten von uns haben sicherlich mit großer
Bewunderung die Leistungen der Sportlerinnen und
Sportler mit Handicaps bei den Paralympics in London
verfolgt. Mir scheint, noch in keinem Jahr wurde so umfassend davon berichtet. Auch das ist ein Fortschritt.
({3})
Da konnte man auch sehen, was alles möglich ist,
wenn entsprechende Hilfen gewährt werden: nahezu alles. Die Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen
sind darum auch Vorreiterinnen und Vorreiter; denn noch
lange nicht allen Menschen mit Handicaps werden diese
Hilfen gewährt. Dies erfährt man sehr schnell, wenn man
plötzlich in die Lage versetzt ist, dass man sich um Angehörige kümmern muss, die pflegebedürftig werden.
Wir haben eine Verantwortung dafür, dass Menschen
mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen am öffentlichen Leben uneingeschränkt teilnehmen können; denn
wir machen die Gesetze. Aber von den notwendigen
Gesetzesveränderungen ist im Nationalen Aktionsplan
gerade bei dem Thema Zugang zu Kultur und Informationen eben nichts zu lesen, und darum ist Nachbesserung angesagt. Wenigstens für öffentliche Einrichtungen
könnten wir diese Regelungen schaffen. Wir müssen
endlich dafür sorgen, dass Städte und Gemeinden finanziell so ausgestattet werden, dass sie ihre einzige kulturelle Einrichtung nicht schließen müssen. Kultur ist eben
nicht Luxus und freiwillig, sondern sie gehört zum Leben in den Städten und Dörfern dazu, und zwar für alle.
({4})
Wir können mit gutem Beispiel vorangehen, indem
zum Beispiel die Internetseite dieses Parlaments so gestaltet wird, dass man auch erfährt, welche Barrieren
nicht mehr vorhanden sind. Auch könnte diese Internetseite selbst barrierefrei gestaltet werden. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses empfiehlt nun aber leider
als Lösung, diesen Antrag abzulehnen.
Kollegin Hein, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich bin sofort fertig. - Es steht in dieser Beschlussempfehlung, es gebe keine Alternativen. Nach dem, was
ich heute gehört habe, bin ich da sehr enttäuscht; denn
Sie haben davon gesprochen, dass Sie das alles als wichtig ansehen. Nun bitte ich Sie: Lehnen Sie die Beschlussempfehlung ab; denn Alternativen bietet der Antrag der
SPD sehr wohl.
Danke schön.
({0})
Ein kleiner geschäftsleitender Hinweis sei uns gestattet: Bis vor zwei Sekunden konnten wir Sie im Saal nicht
sehen, da wir hier den Platz an der Sonne hatten. Wir
haben der Rednerin eben und auch ihrem Vorredner
zugestanden, dass sie wahrscheinlich das Signal nicht erkennen konnten. Ich bitte aber jetzt darum, die Signale
aus dem Präsidium zu beachten. Sollten wir eine
Meldung aus dem Saal aufgrund der Verhältnisse hier
übersehen, bitte ich, es uns irgendwie akustisch noch anzuzeigen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Barrierefreiheit beginnt hier im Parlament.
Wenn Gesetze und Anträge so formuliert sind, dass die
meisten Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen können, worum es geht, läuft etwas falsch. Verklausulierte
Sprache führt zur Ausgrenzung und verstärkt die Kluft
zwischen Politik und Bevölkerung. Die Anregung der
SPD zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung, bei zentralen Debatten die Leichte Sprache zu berücksichtigen,
unterstützen wir daher ausdrücklich.
({0})
Wir begrüßen den Antrag der SPD, weil er konkrete
Vorschläge macht für mehr Barrierefreiheit in Kultur,
Medien und Politik - ganz im Gegensatz zum Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung. Dieser verliert
sich nämlich in vagen Kannbestimmungen. Ende 2012
laufen viele Maßnahmen des Aktionsplans auch schon
wieder aus, ohne dass sich im Bereich Inklusion Entscheidendes verändert hat.
Ab 2013 ist beispielsweise die Förderung für das
Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit nicht mehr
gesichert. So kommen wir in Deutschland bei der Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte der
Menschen mit Behinderung nicht weiter.
Meine Fraktion denkt bei ihren Anträgen Barrierefreiheit immer mit. Unser Antrag zum Aufbau der Deutschen Digitalen Bibliothek enthält auch die Forderung,
die Bedürfnisse hörgeschädigter, gehörloser und
taubstummer Menschen bei der Bereitstellung digitaler
Kulturgüter mit einzubeziehen. Seit einem Jahr steht
unsere Forderung nach einem Sofortprogramm „Barrierefreier Film“ im Raum. Auch in den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten müssen mehr Angebote
für hör- und sehbeeinträchtigte Menschen geschaffen
werden.
({1})
Nicht nur Verbesserungen beim substanziellen Zugang zu unserer medialen und kulturellen Infrastruktur
für Menschen mit Behinderung sind notwendig. Es geht
auch darum, wie wir ihre Mitgestaltung individuell fördern können. Ansonsten geht unserer Gesellschaft viel
kreatives Potenzial verloren.
Was wäre unsere Musiklandschaft ohne die Stimme
eines Thomas Quasthoff? Seine Karriere hätte beinahe
geendet, bevor sie begonnen hat: vor den Türen der
Musikhochschule, die ihn nicht aufgenommen hat, weil
er aufgrund seiner Conterganschädigung nicht Klavier
spielen kann. Ohne das Pflichtfach Klavier ist an unseren Musikhochschulen auch heute noch offiziell kein
Gesangsstudium möglich.
Alle Ausbildungseinrichtungen im Bereich Kultur
und Medien müssen sich auf die Besonderheiten von
Menschen mit Behinderung einstellen. Ihr kreatives,
künstlerisches und intellektuelles Potenzial muss sich
entfalten können - das fordert auch die UN-Behindertenrechtskonvention.
({2})
In meinem Wahlkreis Ingolstadt gibt es an einer Förderschule eine Tanzgruppe mit besonderen Kindern.
Einmal in der Woche kommt eine Tänzerin, um mit ihnen zu arbeiten. Vor der Sommerpause habe ich dort eine
Aufführung besucht. Es war berührend und beeindruckend, wie sich diese Kinder mit teilweise schwersten
Behinderungen zur Musik bewegten. Durch die Musik
und den Tanz wurden ihre Persönlichkeiten sichtbar.
Und ich rede hier von Kindern, die für uns oft nicht
sichtbar sind.
Ich wünsche mir, dass vielfältige künstlerische Angebote für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne
Behinderung gleichermaßen selbstverständlich werden.
Es geht um die Entfaltung von Fantasie und Empathie,
um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.
Sorgen wir gemeinsam dafür, dass Barrierefreiheit in
Kunst und Kultur für alle Menschen nicht nur ein
Wunsch auf dem Papier bleibt, sondern umgesetzt wird.
Vielen Dank.
({3})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Burkhardt Müller-Sönksen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Inklusion geht uns alle an, nicht nur als breite gesellschaftliche Initiative. Insbesondere uns hier in diesem
Hause sollte sie ein ganz besonderes Anliegen sein.
Frau Kollegin Schmidt, Sie haben es in der letzten
Debatte auf den Punkt gebracht: Wenn wir Volksvertreter sein wollen, dann müssen wir für alle Menschen
Klartext reden und Klartext schreiben. Diese Äußerung
möchte ich ausdrücklich zitieren.
({0})
Den Antrag der SPD-Fraktion können wir zwar, wie
mein Kollege Reiner Deutschmann ausgeführt hat, nicht
in allen Punkten mittragen. Ich möchte aber den Impuls
des Antrags gerne aufgreifen, weil das gesellschaftliche
Umdenken jetzt beschleunigt werden muss.
({1})
Nach den Empfehlungen des Vereins „Mensch zuerst Netzwerk People First Deutschland e. V.“ habe ich Teile
meiner Homepage in Leichte Sprache übersetzt. Ich bin
dem Beispiel meiner Kollegin Gabi Molitor gefolgt, weil
ich der Auffassung bin, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten meine parlamentarische Arbeit verfolgen sollen. Liebe Gabi, das machst du genau richtig.
Alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Hause sollten
deinem Beispiel folgen.
({2})
Und wie Sie, Frau Schmidt, stand ich vor der Herausforderung, im Wortsinne unübersetzbare Begriffe allen
Besuchern zugänglich zu machen. Es ist nicht einfach,
sich in Leichter Sprache auszudrücken. Es ist aber notwendig, und deshalb werbe ich bei allen Kolleginnen
und Kollegen, sich damit zu beschäftigen und den zusätzlichen Aufwand, den die Übersetzung in Leichte
Sprache mit sich bringt, bei der Bearbeitung der Homepage auf sich zu nehmen.
Bei der Übersetzung fiel mir auf, was die Koalition
schon geleistet hat. Vor noch nicht einmal einem Jahr haben wir den Antrag zur Ausweitung des barrierefreien
Filmangebotes beschlossen. Die Koalitionsfraktionen
haben die Bundesregierung aufgefordert, das Kriterium
des barrierefreien Zugangs zu Filmen bei der Filmförderung stärker zu berücksichtigen. Nun wurden die Förderrichtlinien des Deutschen Filmförderfonds entsprechend
angepasst und treten zu Beginn des nächsten Jahres in
Kraft. Damit haben wir einen Anreiz für mehr barrierefreie Filmangebote gesetzt, von denen viele hör- und
sehbehinderte Menschen profitieren werden.
Als Beispiel für die Umsetzung der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung möchte ich auf das Auswärtige Amt verweisen. Auf dessen Website finden sich
zum Beispiel sehr informative Texte in Leichter Sprache
zur Menschenrechtspolitik und Videos mit Gebärdensprache.
Außerdem möchte ich die Bemühungen des Verteidigungsministeriums - gerade war der Wehrbeauftragte
hier - hervorheben. Die Komplexität sicherheitspolitischer Begriffe in Leichter Sprache wiederzugeben, ist
wirklich eine anerkennenswerte Leistung.
({3})
Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns nach alledem
auf einem guten Weg: Ein Antrag der SPD, mein Beispiel
einer Homepage oder der Beschluss des Ältestenrates,
zum Beispiel bei www.bundestag.de, sind erste Schritte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir diesen
Weg konsequent gemeinsam weiter, dann wird die Inklusion in allen Bereichen gelingen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Kultur für alle - Für einen
gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10030, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8485 abzulehnen.
({0})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Bericht des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2011
- Drucksache 17/9900 -
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({1})
Elektronische Petitionen und Modernisierung
des Petitionswesens in Europa
- Drucksache 17/8319 Überweisungsvorschlag:
Petitionsausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsitzende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten
Steinke.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Der Petitionsausschuss war auch im Jahr 2011
wieder Anlaufpunkt für viele Menschen, die sich Hilfe
erhofften. Zwei Zahlen prägten die Arbeit des Petitionsausschusses im Jahr 2011: 15 191 Petitionen wurden im
vergangenen Jahr eingereicht, und 1,1 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich auf der Internetseite des
Petitionsausschusses angemeldet, um Petitionen auf
elektronischem Weg einzureichen oder öffentliche Petitionen mitzuzeichnen oder zu diskutieren.
Ein Drittel aller Eingaben, also circa 5 000, wurden
per E-Mail eingereicht. Knapp ein Viertel der Gesamteingaben, nämlich 3 364 Vorgänge, fielen auf das Ressort Arbeit und Soziales. Damit belegt es, wie auch in
den Vorjahren, den Spitzenplatz unter den betroffenen
Bundesministerien.
Allein zum ALG II gab es 937 Petitionen. Hier ging
es zum Beispiel um Fehler bei der Berechnung, um die
Aussetzung von Leistungen, um Sanktionen oder Sonderregelungen für unter 25-Jährige, um die Verrechnung
mit anderen Einkommen wie Ferienjobs oder Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeit.
Zahlreiche Beschwerden gingen beim Petitionsausschuss ein, weil bei der Anrechnung einer Verletztenrente
aus einer gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente
aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Ost und
West unterschiedliche Freibeträge galten. Die Petenten
forderten die Abschaffung dieser Ungleichbehandlung.
Dieser Forderung schloss sich der Petitionsausschuss einstimmig an, blieb aber im ersten Anlauf erfolglos. Doch
es wäre nicht unser Petitionsausschuss, wenn er die Erfolglosigkeit einfach so akzeptieren würde. Es wurde ein
weiteres Gespräch mit Regierungsvertretern geführt und
um eine Lösung gerungen. Das Ergebnis: Seit dem 1. Juli
des vergangenen Jahres gelten für Ost und West einheitliche Freibeträge.
({0})
Das Bundesministerium der Justiz mit 1 885 Eingaben bzw. 12 Prozent der Gesamteingaben lag auch im
vergangenen Jahr auf dem zweiten Rang der Eingabenstatistik. Adoptionsrecht, Unterhaltsrecht, Mietrecht und
Verbraucherschutz sind nur einige Themen aus diesem
Bereich, mit denen sich die Bürgerinnen und Bürger an
uns wenden.
Neben seinen 22 regulären Sitzungen hat der Ausschuss 32 Berichterstattergespräche mit einzelnen Ministerien geführt, um Lösungen für schwierige Fälle zu finden. Hier wurden beispielsweise das Verbot von ActionComputerspielen, der Lärmschutz im Luftverkehr und an
Schienenwegen, die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts und die wohnortnahe Versorgung mit
Hebammenhilfe thematisiert.
Hervorzuheben sind vier öffentliche Sitzungen, in denen zehn Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen wurden. Themen waren unter anderem: die Verankerung des
Klimaschutzes als Staatsziel im Grundgesetz, das Verbot
des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, die nukleare Ver- und Entsorgung, die Ambulante Kodierrichtlinie, die Finanztransaktionsteuer und die Kopfpauschale
zur Finanzierung der GKV.
In drei Fällen führte der Ausschuss Ortstermine
durch. Besprochen wurden gemeinsam mit den Petenten
und den Vertretern der zuständigen Verwaltungen die
Trassenführung der S-Bahn bei Fürth, die Nutzung der
Ferienanlage Prora auf Rügen sowie der Bau einer
Ortsumgehung bei Ratzeburg.
Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass sich die
Mitglieder des Petitionsausschusses mit großem Engagement darum bemühen, die bestmögliche Lösung für jede
Petentin und jeden Petenten zu erreichen und dabei in vielen Fällen eine über die Fraktionsgrenzen hinausgehende
konstruktive Zusammenarbeit praktizieren. Selbstverständlich ist aber auch, dass es zu manchen Themen sehr
unterschiedliche Sichten gibt und somit unterschiedlich
von den Fraktionen votiert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere mithilfe des Internets eröffnen sich den Bürgerinnen und
Bürgern seit 2005 völlig neue Arten der Beteiligung. Die
Möglichkeit, Petitionen im Internet zu veröffentlichen
und online zu unterstützen, erlaubt es den interessierten
Menschen, sich zusammenzutun und sich gemeinsam für
ein Anliegen starkzumachen. Ziel der öffentlichen Petition ist es, der Öffentlichkeit Themen von allgemeinem
Interesse vorzustellen und zu diskutieren. Auf diese
Weise wird die Informationsbasis des Ausschusses, die
die Grundlage seiner Empfehlungen an das Plenum des
Deutschen Bundestages bildet, erheblich erweitert.
Seit 2005 besteht die Möglichkeit, Petitionen per Internet einzureichen, öffentlich zu stellen und mitzudiskutieren. Und die Zahlen beweisen: Die Entscheidung für
das Internet war richtig, und wir tun gut daran, das Angebot immer weiter zu verbessern.
({1})
Neben den bereits erwähnten 1,1 Millionen registrierten Nutzern auf der Internetseite wurden auch die 650
im Berichtsjahr veröffentlichten Petitionen insgesamt
1 Million Mal mitgezeichnet und 66 000-mal kommentiert.
Eine weitere Zahl ist imposant: 4 bis 5 Millionen Seitenaufrufe pro Monat zeigen das rege Interesse der Bevölkerung an diesem Angebot des Petitionsausschusses.
Unser Internetportal ist damit klarer Spitzenreiter unter
den Internetangeboten des Deutschen Bundestages.
Die am häufigsten über das Internetportal mitgezeichneten öffentlichen Petitionen im Berichtsjahr waren die
Petition zum Verbot der Vorratsdatenspeicherung mit
über 64 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern
und zum Verbot des Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen mit über 43 000 elektronischen Mitzeichnungen.
Ich bin der festen Überzeugung: Insbesondere das Instrument der öffentlichen Petitionen kann helfen, die Demokratie zu stärken und Mitwirkung auf eine breitere
Basis zu stellen. Doch bei all den Möglichkeiten, die das
Petitionsrecht in Verbindung mit dem Internet bringt,
dürfen wir eines nicht vergessen: die sehr persönlichen
Sorgen und Nöte des einzelnen Bürgers, die quasi das
Kerngeschäft des Petitionsausschusses sind und auch
den Kernanteil unserer Arbeit ausmachen. Bei all den
persönlichen Bitten und Beschwerden, etwa wegen falscher Berechnung der Rente, Nichtfinanzierung eines
Rollstuhls oder Ablehnung eines Besuchervisums, geht
es für den Einzelnen, der sich an uns wendet, um existenzielle Probleme. Diese Eingaben eignen sich aber
nicht für Diskussionsforen und öffentliche Beratungen.
Doch auch diese Beschwerden zeigen, wo in der Politik
etwas nicht funktioniert.
Der Petitionsausschuss wird täglich mit diesen Einzelschicksalen konfrontiert, bei denen Bürgerinnen und
Bürger in die Mühlen der Bürokratie geraten sind und
nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen. Hier ein
Beispiel: Eine Petentin, die an einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems leidet, wandte sich an uns,
damit die Deutsche Rentenversicherung Bund die Kosten
der Wartung der Rollstuhlladehilfe an ihrem Pkw übernehme; denn trotz ihrer Erkrankung war es der Dame mit
dem entsprechend ausgestatteten Pkw möglich, am Berufsleben teilzunehmen. Durch eine verzögerte Bearbeitung durch die Deutsche Rentenversicherung Bund war
sie jedoch gezwungen, die Wartungskosten selbst zu
übernehmen, wenn sie weiter dem Beruf nachgehen
wollte. Durch die vom Petitionsausschuss eingeleitete
Ermittlung konnte der Frau dann doch geholfen werden.
Der Petentin wurden die Wartungskosten erstattet und
die Finanzierung eines Kraftverstärkers am Rollstuhl bewilligt, um ihr auch weiterhin die Teilnahme am aktiven
Leben zu ermöglichen. Ja, die Lösung solcher Probleme
ist zeitaufwändig und in aller Regel auch wenig öffentlichkeitswirksam. Aber diese Anfragen sind genauso
wichtig wie die Petitionen mit Hunderttausenden Unterschriften.
({2})
Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Der Bericht des
Büros für Technikfolgen-Abschätzung, der heute auch
auf der Tagesordnung steht, kommt zu der Einschätzung:
Der Petitionsausschuss ist für die Bürger relativ
einfach erreichbar, gleichzeitig aber in der Durchsetzung von Bürgerinteressen schwach.
So weit, so gut bzw. so schlecht. Ich frage mich allerdings, wie wir diese Einschätzung ins Gegenteil kehren
wollen, wenn wir nicht einmal die Anerkennung des Parlaments, geschweige denn ausreichend Gehör zur Durchsetzung im Parlament finden.
({3})
Wie sonst soll ich es bewerten, dass der Tagesordnungspunkt so aufgesetzt wurde, dass unsere Debatte erst zu
dieser späten Uhrzeit stattfindet? Die Obleute aller Fraktionen haben sich gemeinsam dafür stark gemacht, diesen Tagesordnungspunkt zu einer früheren Tageszeit im
Plenum aufzurufen, und sind den Kompromiss eingegangen, den Jahresbericht nicht im Juni, sondern im September zu debattieren. Das Ergebnis der Bemühungen
- und damit die mangelnde Akzeptanz und Würdigung
unserer Arbeit - wurde heute wieder sichtbar.
({4})
Doch seien Sie sicher: Wir werden uns nicht entmutigen
lassen und immer wieder anmahnen, unsere Arbeit und
ihre Ergebnisse zu achten, aber vor allem ernst zu nehmen. Denn bei unserer Arbeit geht es um die Menschen
in unserem Land, um ihre Rechte, ihre Fragen, ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Vorschläge und Anregungen. Es geht
also um die Ausübung und Achtung eines demokratischen Rechts, des Petitionsrechts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die heutige Debatte auch dazu nutzen, mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes
ganz herzlich zu bedanken. Sie sorgen trotz stetigen
Wechsels und dünner Personaldecke für einen kontinuierlichen Zustrom an beratungsreifen Petitionen, arbeiten konstruktiv mit den Abgeordneten zusammen und
stehen uns Abgeordneten stets unterstützend zur Seite.
Dafür ganz herzlichen Dank!
({5})
Darüber hinaus möchte ich mich natürlich bei den Ausschussmitgliedern aller Fraktionen ganz herzlich für ihr
Engagement und für die gute Zusammenarbeit bedanken.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das kommende Jahr wünsche ich mir von den Mitgliedern unseres Parlaments, des Petitionsausschusses und den Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes eine weiterhin
konstruktive und respektvolle Zusammenarbeit, um unsere Bemühungen für die Bürgerinnen und Bürger noch
effektiver zu gestalten.
Georg Christoph Lichtenberg sagte einmal:
Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein
Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu
versengen.
Ich sehe unseren Petitionsausschuss als Fackelträger.
Wenn bei unserer Tätigkeit der eine oder andere Bart
versengt wird, können Sie gesichert davon ausgehen,
dass dies immer im Sinne der Petentinnen und Petenten
geschieht.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Günter Baumann hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir stellen oft fest, dass sich in unserem Land ein gewisses Maß an Politikverdrossenheit breit macht. Besonders
stellen wir das bei Wahlen fest, da manchmal nur 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen.
Der ehemalige
„Wir dürfen nicht müde werden, uns zu fragen, was wir
tun können, um unsere Demokratie attraktiv, aktuell und
lebendig zu erhalten.“ Mein persönlicher Eindruck ist:
Der Petitionsausschuss wird nicht müde, sich Tag für
Tag mit den Problemen der Menschen zu beschäftigen
und zu versuchen, Abhilfe zu schaffen. Nach dem Wahlrecht bietet der Petitionsausschuss den Bürgerinnen und
Bürgern die wichtige Möglichkeit, sich direkt an der
Politik beteiligen.
Die Bürgerinnen und Bürger haben nach meiner Ansicht Vertrauen in unsere Arbeit, und das, obwohl es neben uns in Behörden und Institutionen eine Vielzahl von
Beauftragten gibt. Trotzdem kommen seit vielen Jahren
15 000 bis fast 20 000 Petitionen pro Jahr zusammen.
Auch im letzten Jahr, 2011, belegen das die Zahlen in
eindrucksvoller Weise; die Vorsitzende hat darauf hingewiesen.
Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dank
an die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss richten.
Wir pflegen ein kollegiales Miteinander. Wir haben nicht
immer die gleiche Meinung - das ist normal -, aber
trotzdem geht es kollegial zu und wir versuchen gemeinsam, Lösungen zu finden. Wir danken unseren MitarbeiGünter Baumann
terinnen und Mitarbeitern, die uns zuarbeiten, um die
Berge von Akten zu bewältigen. Ohne sie wäre unsere
Arbeit nicht möglich. Ein herzliches Dankeschön gilt natürlich auch dem Ausschussdienst, der uns mit sehr hohem Sachverstand zuarbeitet, sonst könnten wir unsere
Aufgaben nicht packen.
Meine Damen und Herren, ich möchte behaupten: Die
Arbeit im Ausschuss ist erfolgreich, auch wenn wir an
manchen Stellen etwas zu kritisieren haben. Wir können
auf unsere Arbeit ein Stück stolz sein, auch wenn wir
heute Abend erst um 19 Uhr hier im Plenum sprechen
dürfen.
Wenn wir als Delegationen in verschiedene Länder
der Welt reisen, stellen wir fest, dass Bürgerprobleme
teilweise anders behandelt, teilweise ignoriert werden.
Wir können daher stolz darauf sein, wie das bei uns
läuft.
Die eindrucksvollen Zahlen hat die Vorsitzende genannt. Es gab reichlich 15 000 Petitionen. Zur Ergänzung ist zu erwähnen: Das sind immerhin fast 60 Petitionen pro Tag, die im Bundestag eingehen. Die müssen
erst einmal bearbeitet werden, der Aufwand ist also groß.
500 000 Mitzeichnungen im Internet sind ebenfalls eine
eindrucksvolle Zahl. Wir haben im Ausschuss 728 Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen, das heißt, wir hatten sie in den Büros, in den Arbeitsgruppen zu bearbeiten. Das war ein riesiger Aufwand. Eine Zahl noch, die
die Vorsitzende nicht genannt hat: Immerhin konnten wir
bei rund 6 500 Petitionen, also rund 43 Prozent, den Petenten helfen, in welcher Form auch immer.
Auffällig ist, dass auch 22 Jahre nach der deutschen
Einheit prozentual immer noch die meisten Petitionen,
auf die Einwohner bezogen, aus den neuen Bundesländern kommen. Aus Berlin, Brandenburg, Sachsen und
Thüringen sind das zwischen 200 und fast 500 Petitionen
pro Land. Im Vergleich dazu Bayern: 137. Das heißt
nicht - das sage ich jedes Jahr wieder -, dass die Ossis
am meisten meckern, sondern es gibt im Osten eine
Reihe von Problemen - bedingt durch die Geschichte
und durch die Erwerbsbiografien der Menschen -, und
nicht alles konnte durch den Einigungsvertrag komplett
geregelt und aufgearbeitet werden. Einige Herausforderungen liegen noch immer vor uns: Ich denke an offene
Vermögensfragen, an das Sachenrechtsbereinigungsgesetz, an Rentenfälle und die Zusatzversorgung, wo immer noch die berühmten „Ostfälle“ bei uns aufschlagen.
Wir nutzen unsere besonderen Befugnisse im Ausschuss sehr stark, um höhere Sachkenntnis für die einzelne Petitionsbearbeitung zu erreichen und die Fachministerien einzubeziehen. Die Vorsitzende sprach bereits
von 32 Berichterstattergesprächen zu den Themen Gesundheit, Verkehr, Lärmschutz, Vermögensfragen, Renten, Asyl und Spätaussiedler. Wir haben im Zuge der Gespräche für eine Reihe von Petitionen Lösungen finden
können, nicht immer komplett im Interesse des Petenten,
aber zumindest Teillösungen wurden erzielt.
Ich möchte die Verhandlungen mit dem BMVBS und
der Flugsicherung über das Thema Südabkurvung am
Flughafen Leipzig ansprechen. Dabei ging es um Lärmschutz. Wir haben nach mehreren Gesprächen erreicht,
dass die Trassen verändert wurden. Das Problem wurde
nicht vollkommen gelöst, heute sind aber wesentlich weniger Bürger durch Lärm belästigt als vor den Verhandlungen. Das ist ein Erfolg des Petitionsausschusses.
Ich möchte erwähnen, dass wir im letzten Jahr durch
Härtefallregelungen Spätaussiedler in bereits genehmigte Fälle einbeziehen konnten. Damit konnten wir einer Reihe von Bürgerinnen und Bürgern helfen.
Wir nutzen die Möglichkeit von Ortsterminen. Die
Vorsitzende hat das schon erwähnt. In Prora auf Rügen
haben wir uns nicht um eine Ferieneinrichtung gekümmert, sondern wir haben uns bemüht, ein kulturhistorisches, geschichtsträchtiges Museum zu erhalten. Ich
denke, das war eine ganz gute Aktion. Wir haben einen
Kompromiss ausgehandelt, sodass das Museum erst einmal erhalten bleibt. Jetzt müssen wir schauen, wie es
dort weitergeht.
Ich möchte auch die Lärmbelästigung durch abgestellte Züge in der Nähe von Wünsdorf auf der Eisenbahnstrecke Dresden-Berlin erwähnen. Wir haben dazu
eine Reihe von Stellungnahmen des Ministeriums erhalten, auch von der Deutschen Bahn, die uns nicht befriedigt haben. Man hat das Thema nicht ernst genommen.
Erst nach dem Ortstermin kam Bewegung in die Sache.
Nach einer langen Verhandlungszeit haben wir nun erreicht, dass die Lärmsanierung für 2015 im Plan steht.
Die Bürger sind nun ein ganzes Stück zufriedener.
({0})
Der schönste Erfolg für uns im Petitionsausschuss ist,
wenn Bürger uns schreiben und sich dafür bedanken,
dass etwas erreicht worden ist. Ich freue mich immer
über solche Briefe. Im letzten Jahr haben uns mehrere
Briefe erreicht, in denen die Bürger einfach geschrieben
haben: Danke. Durch Ihre Arbeit habe ich wieder Mut
gefunden. Mein Problem konnte gelöst werden.
Auch der TAB-Bericht steht heute zur Diskussion. Es
ist ein Novum, dass wir heute in der Zeit, in der wir
sonst nur über den Petitionsbericht debattiert haben,
zwei Berichte bereden müssen. Also haben wir nur sehr
wenig Zeit dafür. Daher nur einige kurze Bemerkungen
dazu: In dem Bericht, der am 15. März 2012 veröffentlicht wurde, wird empfohlen, dass öffentliche Petitionen
von der Ausnahme zur Regel erklärt werden. Ich möchte
für meine Fraktion deutlich sagen: Diese Einschätzung
teilen wir nicht. Petitionen können elektronisch eingereicht werden. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie
im Internet veröffentlicht werden. Wir haben einvernehmlich Kriterien festgelegt, an die wir uns halten. Petitionen, die nicht elektronisch eingereicht wurden, müssen nicht im Internet veröffentlicht werden. Das
Instrument der öffentlichen Petitionen, das 2005 als Modellprojekt eingeführt wurde, hat sich als ständige Einrichtung auf der Internetseite des Deutschen Bundestages bewährt. Inzwischen werden monatlich zwischen 30
und 80 Petitionen neu eingestellt. Das ist also ein gutes
System. Die Veröffentlichung hat allgemeines Interesse
gefunden.
In dem Bericht wird ferner bemängelt, dass nur ein
Siebtel aller Petitionen, die öffentlich sind, bei uns zugelassen wird.
Herr Kollege, nicht dass Sie denken: „Ossis meckern
doch“,
({0})
aber ich muss Ihnen sagen: Ihre Redezeit ist zu Ende.
Okay. Ich nehme den Hinweis sehr gerne ernst. - Ich
glaube, über den TAB-Bericht müssen wir noch einmal
sprechen. Die Zeit reicht dafür heute absolut nicht aus.
Ja.
Ein letzter Satz, wenn Sie gestatten. - Wir wollen,
dass alle Petitionen gleich behandelt werden, egal ob sie
öffentlich oder nichtöffentlich sind, ob sie von einem
oder von 50 Leuten eingereicht werden. Für uns ist jeder
Petent gleich. Daran wollen wir festhalten und dieses
System in der Form weiter ausbauen.
Recht vielen Dank.
({0})
Klaus Hagemann hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich zwar in
jeder Sitzungswoche hier im Plenum mit Petitionen, aber
es wird nur über Listen abgestimmt, und zwar ohne Debatte. Einmal im Jahr haben wir die Möglichkeit - das ist
der Höhepunkt -, hier über das Petitionswesen und das
Thema Petitionen öffentlich zu diskutieren. Heute diskutieren wir zu einer Uhrzeit - Frau Vorsitzende, diesbezüglich stimme ich Ihnen vollkommen zu -, wie ich es
noch nie erlebt habe, seitdem ich Mitglied des Petitionsausschusses bin. In der Zeit von Rot-Grün haben wir
festgelegt, dass wir in der Kernzeit miteinander diskutieren. Ich verstehe nicht, warum die Fraktionsführungen
der Koalitionsfraktionen diese Debatte so weit nach hinten geschoben haben. Es gibt doch gar keinen Grund, unsere Arbeit zu verstecken. Auch ihr von den Koalitionsfraktionen müsst eure Arbeit nicht verstecken. Ihr müsst
doch nicht versteckt werden. Ihr macht, genauso wie wir,
gute Petitionsarbeit. Deswegen habe ich überhaupt kein
Verständnis dafür, dass man den Tagesordnungspunkt
zeitlich so weit nach hinten geschoben hat.
({0})
Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, stelle ich
fest, dass es dieses Jahr eine deutliche Verstärkung gibt.
Kompliment an die Herren Staatssekretäre. Aber ich
muss rügen, dass der Staatssekretär, der eben noch hier
gewesen ist und dem die meisten Petitionen zugeleitet
werden, nämlich der aus dem Bereich Arbeit und Soziales, nicht mehr anwesend ist. Dieses Ministerium ist
nicht vertreten. Das will ich hier rügen.
({1})
Ich muss sagen, dass es so aussieht, als wollten die
Fraktionsführungen hier nicht zuhören. Mein stellvertretender Fraktionsvorsitzender ist anwesend; das freut
mich.
({2})
- Entschuldigung. - Damit signalisiert man den Petenten, dass man ihnen nicht zuhören will. Das schließe ich
daraus, dass man die Debatte auf eine derart späte Tageszeit verschoben hat. Ihre Nervosität zeigt, dass ich gar
nicht so falsch liege. Liebe Frau Piltz, das ist wohl der
Grund, und diesen musste ich hier herausstellen.
({3})
- Passen Sie auf, es zeigen immer drei Finger auf einen
selbst zurück, wenn man mit dem Finger auf andere
zeigt.
({4})
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag ansehe, der von
Schwarz-Gelb vor drei Jahren geschlossen worden ist,
dann sehe ich, dass dort steht - ich hatte die Hoffnung,
dass es auch weiterentwickelt wird -: Das Petitionswesen soll weiterentwickelt und verbessert werden. - Was
ist geschehen? Bisher nichts. Dort steht: Das Anhörungsrecht soll verbessert werden. - Was ist geschehen?
Bisher nichts. Vom Kollege Thomae wurde in der Presse
vorgeschlagen - das finde ich ganz toll; wir haben uns
dem auch angeschlossen -, mehr Petitionen hier im Plenum zu behandeln und nicht nur einmal im Jahr über das
Thema zu diskutieren. Was ist geschehen? Ich weiß es
nicht, lieber Kollege Thomae, ich vermute, nicht viel;
sonst würde es hier schon Vorlagen geben. Hier muss
also noch etwas mehr Butter bei die Fische gegeben werden.
Petitionsrecht ist nicht nur der Kummerkasten der Nation. Unsere Frau Vorsitzende hat darauf hingewiesen.
Das ist wichtig und die Hauptsache. Aber Petitionswesen bedeutet auch, die Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen im Deutschen Bundestag teilnehmen
zu lassen. Nach unserem Grundgesetz ist das die einzige
Möglichkeit der Bürger, auf das politische Geschehen
hier im Parlament, aber auch auf die Regierung direkt
Einfluss zu nehmen. Das hat man nicht genügend herausgestellt.
Wir haben im Jahre 2005 - Kollege Baumann hat darauf hingewiesen; er musste damals ein bisschen zum Jagen getragen werden ({5})
unter Rot-Grün eine Reform durchgeführt. Sie war gut.
Wir haben die elektronischen Petitionen eingeführt. Wir
haben die öffentlichen Petitionen eingeführt. Wir haben
die Diskussionsforen eingeführt. Unsere Frau Vorsitzende hat deutlich gemacht, wie stark diese Möglichkeiten wahrgenommen werden und dass wir auf einem guten Weg sind. Der TAB-Bericht, also die wissenschaftliche Untersuchung, die das evaluiert, belegt, dass wir
auf einem guten Weg sind. Von dieser Innovation, die
wir damals im Petitionswesen gestartet haben - lieber
Josef Winkler, liebe Gabriele Lösekrug-Möller, wir haben hier an einem Strang gezogen -, leben wir noch
heute; aber es folgt nichts, es kommt nichts nach. Deswegen bitte ich darum, dass wir uns dieses Thema noch
einmal zusammen ansehen.
Was ist bei den öffentlichen Anhörungen nicht alles
besprochen worden? Wir haben öffentlich über Internetsperren diskutiert. Das Gesetz wurde zwischenzeitlich
aufgehoben. Das Thema ACTA ist zu den Akten gelegt
worden; auch damit haben wir uns im Petitionsausschuss
beschäftigt. Zur Finanztransaktionsteuer liegt immer
noch nichts vor; darüber wird immer noch beraten.
Stichwort „Hebammen“: 200 000 Unterschriften waren
eingegangen. Was ist geschehen? Bisher noch nichts. Es
ist noch nichts Konkretes vorgelegt worden. Ich denke
auch an das Beispiel Vorratsdatenspeicherung, an die
Diskussion, die wir dazu geführt haben. 65 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger hatten diese öffentliche Petition
unterschrieben. Dreimal haben wir von der Opposition
versucht, das Thema hier auf die Tagesordnung zu setzen, aber Sie haben dem nicht zugestimmt, obwohl der
Rechtsanspruch gegeben war; denn die Koalition war
zerstritten, und dies wollten Sie nicht zeigen.
Ähnliches gilt auch im Hinblick auf das Thema „Generation Praktikum“. Wir haben dazu eine Anhörung
durchgeführt. Fünf, sechs Jahre hat es gedauert, bis ein
paar Konsequenzen gezogen worden sind.
({6})
Schließlich hat man eine Broschüre vorgelegt - Frau
Piltz, es ist nun einmal so; die Wahrheit tut manchmal
weh -,
({7})
die man „Leitfaden für die Generation Praktikum“
nennt. 100 000 junge Menschen haben hier unterschrieben, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Die
jungen Menschen sind enttäuscht worden. Das ist der
falsche Weg.
Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, aber
meine Redezeit ist leider zu Ende.
({8})
- Es ist schwierig, die Wahrheit zu ertragen, Herr Kollege, nicht wahr?
Wie sieht es im Hinblick auf die Beschlüsse zu
Berücksichtigungen oder Erwägungen aus, die wir gemeinsam gefasst haben?
({9})
Nur die Hälfte von ihnen ist von der Regierung bisher
erledigt worden.
Herr Kollege?
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Das muss konsequenter aufgearbeitet werden; denn Petitionsrecht ist
auch Teilhabe an der Politik.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Otto Fricke.
Herr Kollege Hagemann, es ist ja immer möglich, ein
Thema auf eine billige parteipolitische Ebene zu schieben. Aber ich glaube, dafür ist das Thema Petitionen zu
schade.
({0})
Sie haben gerade behauptet - das bekommen die Bürger dann ja auch mit -, die Koalitionsfraktionen hätten
diesen Tagesordnungspunkt auf diese Uhrzeit gelegt. Ich
darf Sie darauf hinweisen - ich habe mich extra noch
einmal informiert -, dass sich die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen darauf geeinigt
haben, diese Debatte zu diesem Zeitpunkt durchzuführen. Man sollte eher sagen - dafür plädiert meine
Fraktion -: Lasst uns alle noch einmal auf die Parlamentarischen Geschäftsführer zugehen, um dafür zu sorgen,
dass das beim nächsten Mal nicht wieder passiert! Wir
sollten daraus nicht eine parteipolitische Sache machen,
sondern im Interesse der Petenten und im Interesse des
Petitionsverfahrens handeln.
Da Sie darauf hingewiesen haben, wie viele Abgeordnete hier anwesend sind, muss ich Ihnen entgegnen: Ich
werde den Linken nicht vorwerfen, dass nur drei von ihnen hier sind; denn auch sie machen noch ihre Arbeit.
Ich werde auch Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie, obwohl
Ihre Fraktion etwas größer ist als unsere, nicht in der
Lage sind, mehr Leute als unsere Fraktion hier aufzubieten. Wir sollten wirklich versuchen, Herr Kollege
Hagemann, beim wichtigen Thema Petitionen, bei der
Anknüpfung von Bürgern ans Parlament, nicht auf parteipolitischer Ebene, sondern gemeinschaftlich zu agieren. Das wäre sehr schön.
Herzlichen Dank.
({1})
Herr Hagemann, bitte.
({0})
Wahlkampf brauche ich nicht mehr zu machen, weil
ich nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidiere.
({0})
Insofern, meine Damen und Herren, war dieser Zwischenruf falsch.
Erstens, lieber Kollege Otto Fricke. Es geht nicht
darum, irgendjemanden anzugreifen,
({1})
sondern ich habe, um das deutlich zu machen, die Realitäten geschildert, um auch den Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Fraktion und aus der Unionsfraktion, mit
denen wir gemeinsam an einem Strang ziehen, den
Rücken zu stärken.
Zweitens: zum Termin. Das Aufsetzungsrecht haben
die Koalitionsfraktionen.
({2})
Wir haben versucht, um auch das noch einmal zu sagen,
den Termin in eine andere Sitzungswoche zu verschieben, damit wir dann die Möglichkeit haben, früher zu
tagen. Ich könnte Ihnen Kollegen, die mit dabei waren,
als Zeugen nennen; das geschah sogar auf Anregung des
Kollegen Baumann.
({3})
Aber man hat sich nicht durchgesetzt. Meine Fraktion
wäre dazu bereit gewesen. Dann hätten wir zu früherer
Stunde über dieses Thema diskutieren können.
({4})
Lieber Otto Fricke, im Petitionsausschuss ziehen wir
bei allen Tagungen gemeinsam an einem Strang; das
möchte ich betonen. Aber man muss auch die Schwachstellen deutlich machen. Petitionswesen heißt nämlich
auch: Lieber Petent, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir wollen Ihr bzw. dein Interesse ernst nehmen. Das muss man deutlich machen, und das muss man auch
zeigen.
({5})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Peter Röhlinger für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Wenn Sie gestatten, kehre ich, ohne das Gespräch über
die Terminierung der heutigen Veranstaltung zu kommentieren, zur Sache zurück und knüpfe an das an, was
der Herr Bundestagspräsident anlässlich der Eröffnung
des Internetportals getan hat. Er hat unseren Ausschuss
nämlich als den fleißigsten und öffentlichkeitswirksamsten bezeichnet und für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr viel Lob übriggehabt.
({0})
Das ist für mich der Anknüpfungspunkt: Lieber Herr
Hagemann, ich kenne Sie auch aus den Ausschusssitzungen als einen sehr konstruktiven Kollegen und bin ganz
überrascht, dass Ihnen das heute so schwerfällt.
({1})
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist
im Grunde genommen tatsächlich Ihr Ausschuss. Über
den Petitionsausschuss kommunizieren wir mit den Bürgerinnen und Bürgern. Jeder von ihnen darf und soll sich
mit Petitionen an uns wenden. So viel zum Werbeblock!
Ich sage Ihnen: Wir haben durchaus damit zu tun, dem
nachzukommen. Es ist uns aber jede Anstrengung recht,
um dieser Verpflichtung nachzukommen - frei nach
Schiller, Herr Hagemann: „Der brave Mann denkt an
sich selbst zuletzt“.
({2})
Die Zahlen sind sehr beeindruckend; sie sind vorgetragen worden. Ich will sie hier nicht noch einmal wiederholen. Eines will ich aber schon sagen: Der Trend ist
positiv. Wir haben die Bürger in den vergangenen Jahren
offensichtlich zunehmend erreicht. Es wurden viele neue
Fragen gestellt - unabhängig von Geschlecht und Alter
und insbesondere auch von dem sozialen Umfeld der
Petenten. Wir freuen uns darüber, dass sich so viele
Menschen an den Deutschen Bundestag wenden und uns
Abgeordneten zutrauen, dass wir ihnen wirklich helfen
wollen. Wir werten das als einen großen Vertrauensbeweis.
Das Interesse an der Ausübung des Petitionsrechts ist
in einer Zeit, in der sich viele Bürgerinnen und Bürger
nicht an Wahlen beteiligen, eine Chance für die Demokratie.
Die Ausschussmitglieder bearbeiten die Eingaben mit
großem Engagement. 2011 haben wir in 26 Sitzungen
über 700 Petitionen behandelt. Das ist ein ordentliches
Pensum. Ich werde oft gefragt, wie das funktionieren
kann, wenn 25, 30 oder noch mehr Petitionen auf der
Tagesordnung stehen. Ich will dazu eine kurze Ausführung machen:
Verstehen Sie den Petitionsausschuss vielleicht so
ähnlich wie den Hausarzt bei den Medizinern, der oft
Eingangsarzt ist. Er wird die Therapie mit der Untersuchung des Patienten auch nicht beenden, sondern er ist
häufig genötigt, ihn zu anderen Ärzten zu schicken. So
ist es bei uns auch. Das heißt, wir legen mit unseren verschiedenen Voten fest, was wir zur Weiterbearbeitung
dieser Petition empfehlen. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass eine Gesetzesänderung geplant ist, dann geben
wir diese Petition dem betreffenden Ministerium oder
Ausschuss zur Beachtung und zur Einarbeitung. Wir
sind dann sicher, dass die Petition dort nicht abgeschmettert, sondern in Ruhe und mit hoher Sachkompetenz bearbeitet wird.
Die Bearbeitung der Petition liegt zunächst einmal in
den Händen von über 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - ein Teil der Führungskräfte ist hier anwesend -,
die die Petitionen dann den Berichterstattern zuleiten
und für den weiteren Verfahrensweg zuständig sind. Ich
muss Ihnen sagen: In den vergangenen Jahren ist hier ein
sehr enges und gutes Vertrauensverhältnis entstanden auch dadurch, dass Mitarbeiter des Ausschussdienstes
uns auf den Auslandsreisen begleitet haben. Auf vielerlei Weise konnten wir uns von deren Kompetenz überzeugen.
Wir sind unsererseits natürlich daran interessiert, die
Mitarbeiter, auch unsere eigenen, durch gute Rahmenbedingungen zu motivieren und in die Lage zu versetzen, diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden.
Ich sage hier aber auch: Wir schieben zurzeit einen
Berg von Petitionen vor uns her, es gibt einen regelrechten Stau. Herr Hagemann, das sollten wir auch sagen.
Wir haben noch keinen Terminkalender, nach dem wir
diesen Berg abarbeiten. Fangen wir doch bei uns einmal
an, Herr Hagemann, bevor wir andere bitten, uns ernst
zu nehmen.
({3})
Uns ist es bislang nicht gelungen, zu konzipieren, wie
wir diesen Stau auflösen. Das ist unsere Sache. Da bin
ich der Auffassung: Das sollten wir selber machen.
Wir bemühen uns - das ist erfreulich, auch wenn es
heute so aussieht, als sei das untypisch - bei der Bearbeitung von Petitionen um Übereinstimmung. Das ist ein
gutes Zeichen, ein Ausdruck dessen, dass wir nicht die
Widersprüche suchen, sondern dass wir froh und dankbar darüber sind, wenn wir das eine oder andere fraktionsübergreifend besprechen und in Übereinstimmung
behandeln können.
Petitionen machen uns Abgeordnete auf die Sorgen
und die Probleme aufmerksam, mit denen Bürgerinnen
und Bürger zu tun haben, wo sie Ungerechtigkeit erfahren und wo die Gesetze unzulänglich sind. Wir müssen
allerdings auch sagen: Wir können nicht in jedem Fall
helfen. Wir können also nicht immer versprechen, dass
das Anliegen im nächsten Gesetzgebungsverfahren aufgenommen wird.
Aber auf eines haben wir Einfluss, nämlich darauf,
dass die Fristen eingehalten werden und dass unsere
Antwort, wie immer sie auch ausfällt, vom Petenten verstanden wird. Er soll merken, dass wir uns nicht nur um
den Inhalt bemühen, sondern auch darum, dass er unsere
Antwort versteht. Er soll nicht das Gefühl haben, mit uns
auf Distanz gewesen zu sein, sondern es soll deutlich
werden: Der Bundestagsabgeordnete hat mich verstanden, der Ausschussdienst hat ihm ordentlich zugearbeitet. Er kann mir vielleicht nicht helfen, aber er ermuntert
mich, am Ball zu bleiben und mein Anliegen gegebenenfalls auf anderem Weg weiter zu verfolgen.
({4})
Ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen. Frau Präsidentin, weil ich das sehr respektiere, bedanke ich mich
sehr freundlich für den Hinweis und wünsche der Veranstaltung einen guten Verlauf.
({5})
Dazu trägt jetzt die Kollegin Sabine Stüber für die
Fraktion Die Linke bei.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter des Ausschussdienstes! Ein Parlament ist laut politi-
scher Theorie eine Volksvertretung. Wir sind also hier
versammelt, um die politischen Meinungen der deut-
schen Wahlbevölkerung zu vertreten und zu repräsentie-
ren.
Tun wir das in einer Art und Weise, die von der Wahl-
bevölkerung akzeptiert wird? Wenn ich mir allein die
zahlreichen Beschwerden vieler Menschen anschaue, die
dem Petitionsausschuss jeden Monat zugehen, beschlei-
chen mich gewisse Zweifel. Da wird bei politischen
Entscheidungen mangelnde Bürgerbeteiligung beklagt.
Uns Abgeordneten wird vorgeworfen, abgehoben und
intransparent nur unsere eigenen Ziele zu verfolgen. Die
Liste ließe sich fortsetzen. Wie also können wir das
ändern?
Ein erster Schritt wäre es, die bereits vorhandenen
Mitwirkungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger,
zum Beispiel den Petitionsausschuss hier im Bundestag,
einfach ernster zu nehmen. Die individuellen Anliegen
von Petentinnen und Petenten werden in der Regel von
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss-
dienstes in einem ersten Schritt sorgfältig geprüft.
Manchmal können sie dabei schon durch eine Nachfrage
bei zuständigen Behörden etwas für diejenigen bewegen,
die sich an den Ausschuss gewandt haben. Das ist
tatsächlich Arbeit in deren Sinn.
Wir Abgeordneten bewerten die Anliegen darüber
hinaus politisch. Wenn sich bestimmte Beschwerden
wiederholen oder in den Fachausschüssen ein Problem
noch gar nicht behandelt worden ist, können wir parla-
mentarisch aktiv werden. In diesem Bereich läuft die
Arbeit des Ausschusses meiner Meinung nach gut.
Im Bereich der öffentlichen Petitionen sehe ich aller-
dings erheblichen Verbesserungsbedarf. Alle reden von
einem notwendigen Liquid Feedback an die Politik, also
von fließenden Übergängen zwischen repräsentativer
und direkter Demokratie. Wir erleben, dass Menschen
ihre Anliegen selbst vorbringen wollen. Jedoch werden
sie durch bürokratische Hürden und unverständliche Hi-
erarchien meist daran gehindert. Würden wir den Peti-
tionsausschuss als bereits vorhandenes Instrument rich-
tig nutzen und optimieren, könnten wir a) mehr über die
Zustände in Deutschland erfahren als aus manch hoch-
wissenschaftlicher Studie und b) dazu beitragen, dass
Menschen ihre Anliegen auch besser selbst vortragen
könnten.
Ein Beispiel dafür ist für mich die öffentliche Ausschusssitzung zum Thema Finanztransaktionsteuer im
Februar 2011. Über 66 000 Bürgerinnen und Bürger haben diese Forderung unterschrieben. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es nun schon über anderthalb Jahre
dauert, das Anliegen des Petenten im Ausschuss voranzubringen.
({0})
Denn die Bürgerinnen und Bürger sind ja nicht blind. Sie
sehen: Unser Nachbarland Frankreich beispielsweise hat
den ersten Schritt gemacht und am 1. August eine Finanztransaktionsteuer eingeführt. Deutschland hat sich
dem bisher nicht angeschlossen und trotz Ankündigung
die zu erwartenden Einnahmen noch nicht einmal in den
Haushaltsentwurf 2013 eingestellt. Das Anliegen der Petentinnen und Petenten wird also gerade nicht vorangebracht. Ihrem Anliegen wird nicht einmal teilweise entsprochen.
Wir müssen uns also nicht wundern, wenn sich zunehmend mehr Menschen von dieser Art und Weise des
Politikmachens nicht mehr vertreten fühlen. Die Regierungsmehrheit erweist damit sowohl dem Anliegen des
Petitionsausschusses als auch der Demokratie insgesamt
einen Bärendienst.
({1})
Ich fordere Sie auf, diese politische Praxis zu ändern.
Gelegenheit dazu haben Sie ausreichend. Laut Koalitionsvertrag soll im kommenden Jahr ein Petitionsgesetz
zur Behandlung von Massenpetitionen dem Plenum und
den Fachausschüssen vorgelegt werden. Ich bin gespannt
darauf.
Die Linke wird im Oktober einen Antrag im Plenum
einbringen. Darin werden unsere Positionen zusammengefasst. Die Menschen werden sich in diesem Lande
besser mit ihren Anliegen vertreten fühlen.
Abschließend bedanke ich mich sehr herzlich bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für die gute Zusammenarbeit und freue mich auf ein
weiteres Jahr im Petitionsausschuss.
Danke schön.
({2})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Demokratie ist kein Zuschauersport. Der Petitionsausschuss ermöglicht allen Bürgerinnen und Bürgern, sich
an der Demokratie zu beteiligen. Deswegen ist es eigentlich unerhört, dass wir heute um diese Uhrzeit diskutieren.
({0})
Der Petitionsausschuss sollte nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch in den Sitzungswochen die Wertschätzung erhalten, die er verdient.
({1})
Nach meinem Dafürhalten ist der Petitionsausschuss
einer der spannendsten Ausschüsse. Das liegt auch an
dem im Bundestag nicht immer üblichen kollegialen und
konstruktiven Umgang der Kolleginnen und Kollegen
untereinander,
({2})
aber insbesondere natürlich an dem breiten Spektrum
von Themen, von der Atombombe bis zur Zahnplombe,
und den zahlreichen Vorschlägen der Petentinnen und
Petenten, die im Ausschuss beraten werden. Nicht nur
das: Es geht auch immer mehr um Petitionen, die die
politische Diskussion in der Gesellschaft mit bestimmen.
Vier Beispiele: Erstens. Die Petition „Steuer gegen
Armut“ von Pastor Jörg Alt hat die Kampagne in
Deutschland für die Finanztransaktionsteuer verstärkt
und einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Finanztransaktionsteuer ganz weit oben auf der politischen
Agenda stand und jetzt vielleicht tatsächlich kommt. Ich
freue mich auf die hoffentlich in absehbarer Zeit stattfindende Sitzung, auf der wir beschließen können: Abschluss, weil dem Anliegen entsprochen werden konnte.
({3})
Zweitens. Die Petition von Susanne Wiest zum
Grundeinkommen mit fast 60 000 Unterstützungen, die
die Idee des Grundeinkommens einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht und damit einen wichtigen Beitrag
zu einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion geleistet hat.
Drittens. Besonders erfolgreich war die Petition von
Martina Klenk vom Deutschen Hebammenverband mit
sage und schreibe rund 190 000 Unterschriften. Der Protest hat sich ausgezahlt: Freiberufliche Hebammen bekommen jetzt von den Krankenkassen tatsächlich einen
Ausgleich für die gestiegenen Haftpflichtversicherungsbeiträge. So erfreulich die Teileinigung der Hebammenverbände mit den Krankenkassen ist, so ist dies doch nur
ein Teilerfolg. Denn noch immer sind eine viel zu geringe Vergütung, der drohende Verlust der flächendeckenden Hebammenversorgung sowie eine zunehmende
Zahl an Kaiserschnitten zu beklagen. Aber ohne die Petition hätte es diesen wichtigen Teilerfolg nicht gegeben.
({4})
Viertens. Ganz aktuell ist die Petition von Tim
Wessels als Reaktion auf die Pläne von Ursula von der
Leyen zur Rentenversicherungspflicht von Selbstständigen, die von 80 000 Menschen unterstützt wurde und in
der nächsten Sitzungswoche, am 15. Oktober 2012, in
öffentlicher Sitzung behandelt wird, die wie alle öffentlichen Petitionsausschusssitzungen live im Internet auf
www.bundestag.de übertragen wird.
Vielen Dank an Susanne Wiest, Tim Wessels, Jörg
Alt, Martina Klenk und den vielen, vielen Tausenden Petentinnen und Petenten, die zeigen, wie lebendig die parlamentarische Demokratie dank des Petitionsausschusses sein kann. Vielen Dank!
({5})
Ganz besonderer Dank natürlich auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes und
- nicht zu vergessen - die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und in den Abgeordnetenbüros!
({6})
Ihrem Einsatz und ihrer Sachkenntnis ist es zu verdanken, dass die Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht
kommen.
Wir sind stolz darauf, dass das 2005 von Rot-Grün
gegen heftige Vorbehalte von CDU/CSU und FDP eingeführte Instrument der öffentlichen elektronischen Petition heute zu einem unverzichtbaren und selbstverständlichen Bestandteil der Demokratie geworden ist.
({7})
Bei aller Freude über das Erreichte bleibt weiterhin
viel zu verbessern. Wir streben deshalb einen grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten an. So
sind beispielsweise die Fristen zur Mitzeichnung zu kurz
und ist das Quorum zu hoch. Darüber hinaus sollte die
öffentliche Petition von der Ausnahme zur Regel gemacht werden, wie es auch der TAB-Bericht vorschlägt.
Wir haben zwar eben gerade gehört, dass die CDU noch
dagegen ist, aber das war bei den elektronischen Petitionen auch einmal der Fall. Ich denke, dass wir auch da
durch Diskussionen wieder vorankommen können.
Wichtig ist uns, auch die Belange der Bürgerinnen
und Bürger zu berücksichtigen, die sich nicht im Internet
bewegen wollen oder können. Wir sprechen uns dafür
aus, in den Kommunen, in den Bürgerämtern und in den
Bürgerbüros Anlaufstellen einzurichten, die den Menschen behilflich sind, ihre Eingaben einzureichen und zu
formulieren. Dort sollte es auch möglich sein, mündlich
vorgetragene Petitionen verschriftlichen zu lassen. Wir
hatten eben die Diskussion über Barrierefreiheit in der
Kultur. Wir sollten auch mehr Barrierefreiheit im Petitionsrecht schaffen.
({8})
Auch bei den Onlinepetitionen sehen wir die technischen und grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitionsrechts noch lange nicht ausgeschöpft. Wir wollen das Instrument der öffentlichen Petition zu einer offenen
Petition für die Bürgerinnen und Bürger weiterentwickeln. Petitionen sollten nicht nur, wie bisher, gemeinsam im Onlineangebot des Petitionsausschusses diskutiert, sondern auch gemeinsam erarbeitet und eingereicht
werden können. Derart gemeinsam von Bürgerinnen und
Bürgern erarbeitete und eingereichte Bitten zur Gesetzgebung bis hin zu Gesetzentwürfen sollten dann auch in
den Fachausschüssen und im Plenum des Bundestages
beraten werden können.
Mit dieser Vision schließe ich meine Rede und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat Stefanie Vogelsang für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Strengmann-Kuhn, eigentlich wollte ich über etwas ganz
anderes reden, aber als ich Ihren Beitrag gehört habe,
habe ich mir überlegt: Darauf musst du eingehen. Natürlich ist es richtig und sinnvoll, sich modernen Möglichkeiten zu stellen. Natürlich muss man jeden Einzelfall
überprüfen. Und natürlich muss man gerade im Zeitalter
von Internet und Computern und dem breiten Zugang
der Bevölkerung dazu auch darüber nachdenken, ob man
diesbezüglich nicht etwas verändert.
Aber ich habe das Gefühl, dass über die Diskussion
dieser Themen der einzelne kleine Fall des einzelnen
Bürgers, der einzelne kleine Bürger, der ganz allein von
etwas betroffen ist, ins Hintertreffen gerät.
({0})
Wir betrachten mit großem Interesse öffentliche Petitionen, die von 50 000, 70 000, 80 000, 120 000 Menschen eingereicht werden. Angesichts solcher Zahlen besteht die Gefahr, dass die Petition, die ein kleiner, aber
genauso wichtiger, großer Bürger unterschrieben hat,
hinten rüberfällt.
({1})
Ich glaube, dass das nicht richtig wäre. Herr Hagemann,
über Ihren Beitrag habe ich mich sehr geärgert,
({2})
weil er auf wesentliche Themen gar nicht zutrifft.
Ein Meinungsforschungsinstitut hat in einer repräsentativen Umfrage 1 000 Menschen in der Bundesrepublik
gefragt: Was ist das Wichtigste für euch, um im Wohlstand zu leben? - Darauf haben 80 Prozent der Befragten
geantwortet: Glücklich zu sein. - Die Meinungsforscher
waren ganz irritiert, weil sie sich gefragt haben: Was ist
denn „glücklich“? Für jeden Einzelnen doch etwas anderes. Daraufhin gab es eine weitere Umfrage, in der die
Menschen gefragt wurden: Was versteht ihr unter
„glücklich sein“? - Daraufhin haben die Befragten geantwortet: gesund zu sein. - Wir nehmen im Petitionsausschuss wahr, dass es ganz viele Petitionen gibt, die
den Gesundheitsbereich betreffen.
In dieser Legislaturperiode haben wir große Kampfansagen erlebt, unterstützt von Verbänden, die meinten,
ihrer politischen Position mit einer Petition mehr Nachdruck verleihen zu können. Es gab aber auch viele kleine
Einzelfälle, um die wir uns intensiv gekümmert haben.
Ich glaube, in den letzten Jahren sind in keinem anderen
Bereich so viele Petitionen berücksichtigt worden wie
im Gesundheitsbereich. Es gab viele Petitionen, deren
Inhalte das Ministerium und wir in der Gesetzgebung
nachvollzogen haben. So war es nicht die Petition einer
Krankenkasse, aufgrund der im Bereich der Hebammen
gesetzlich nachgebessert wurde, sondern die Petition
von Frau Klenk, aufgrund der das Ministerium im Rahmen des Versorgungsstrukturgesetzes Änderungen vorgenommen hat. Auf dieser Grundlage haben wir dann
beraten.
Ich möchte noch auf eine Petition eingehen, die mittlerweile von 800 Menschen unterstützt wird. Diese Petition wurde von einem einzelnen Ehepaar eingereicht und
befasst sich mit einem zuerst sehr tragisch anmutenden
Fall. Die Ehefrau hatte ein Kind tot zur Welt gebracht,
das weniger als 500 Gramm wog. Die Eltern haben im
Krankenhaus zur Kenntnis nehmen müssen, dass man
ihr Kind für Klinikabfall hält, weil es weniger als
500 Gramm wiegt. Die Eltern haben des Weiteren im
Standesamt zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie den
Namen ihres Kindes nicht in das Personenstandsregister
eintragen lassen können, weil es sich um eine Sache, um
Müll und nicht um menschliches Leben handelt. Um die
Petition, die diese Eltern eingereicht haben, habe ich
mich von Anfang an intensiv gekümmert. Wir haben sie
dem Ausschussdienst gegeben. Die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter haben tolle Arbeit geleistet und die Petition an das Ministerium weitergeleitet. Die erste Stellungnahme des Innenministeriums lautete: Das Gesundheitsministerium sagt, wir können das nicht ändern, weil
die WHO weltweit eine Grenze von 500 Gramm vorschreibt; diese können wir nicht unterschreiten. - Das
Familienministerium sagt: Wir können die Grenzen
nicht ändern. - Darauf erklärt das Innenministerium:
Wenn die von der WHO vorgegebene Grenze gilt, kann
der Name des Kindes nicht in das Personenstandsregister
eingetragen werden. - Wir, Herr Schwartze und ich, haben uns erneut an das Ministerium gewandt, die Petition
zurückgeschickt und gesagt: Nein, diese Antwort akzeptieren wir nicht; das wollen wir uns nicht gefallen lassen. So ging es vier-, fünf- oder sogar sechsmal hin und her.
Dann hat die Bundesregierung gesehen, dass ein parlamentarischer, von engagierten Abgeordneten erzeugter
Druck entstanden ist. Die Familienministerin hat nun einen Entwurf zur Änderung des Personenstandsrechts
vorgelegt, über den wir demnächst debattieren werden.
Dieses Personenstandsrechts-Änderungsgesetz stellt einen ersten großen Schritt dar. Ich glaube, dass wir in den
Beratungen über diesen Gesetzentwurf an der einen oder
anderen Stelle noch eine kleine Verbesserung im Sinne
der Betroffenen erzielen werden. Im Petitionsausschuss
gab es jedenfalls ein fraktionsübergreifendes Votum für
die Forderung an die Bundesregierung, diese Verbesserung in Erwägung zu ziehen. Die Bundesregierung hat
reagiert. Wir im Parlament vollziehen es nach.
Ich komme zu den neuen Medien, insbesondere zu
Facebook, zurück. Es handelt sich hier nicht um 80 000,
sondern um rund 800 Menschen. Aber wie glücklich
sind diese Menschen, dass Politik - das war zu der Zeit,
als wir über PID und den Beginn des werdenden Lebens
diskutiert haben - ihre Interessen und Begehren ernst
nimmt.
Ich komme zum Schluss. Ich denke, dass das eine
Sternstunde für den Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages war. Wir brauchen uns mit unserer Arbeit
gar nicht zu verstecken.
({3})
Frau Kollegin.
Man muss die Regierung manchmal etwas pushen.
Das können wir gemeinsam tun. Da haben Sie in Ihrem
Bereich zu arbeiten, wir machen es in unserem.
Frau Kollegin.
Dann wird das schon gut.
Danke schön.
({0})
Michael Groß hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sozusagen Novize im Ausschuss. Ich will damit sagen: Ich bin nicht
einem Orden beigetreten, sondern seit eineinhalb Jahren
ein Neuling im Ausschuss. Für mich ist es wichtig, in
den Sitzungswochen, nachdem man im Wahlkreis alle
Probleme, die die Menschen in diesem Land bewegen,
einatmen konnte, auch hier zu erleben, was die Menschen in Deutschland bewegt und welche Probleme sie
haben. Ich kann nur sagen: Alle im Ausschuss interessieren die Einzelfälle genauso wie öffentliche Petitionen,
die von vielen Hundert Menschen unterschrieben sind.
Es geht um die Lösung von Problemen. Ich glaube, das
liegt uns allen am Herzen. Dafür sollten wir weiter konstruktiv zusammenarbeiten.
({0})
Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
seitens der SPD-Fraktion danken. Ich habe dazu den
Auftrag bekommen, aber ich hätte es auch von selber gemacht. Ich habe im Jahresbericht gelesen, dass Sie auch
Eingaben bearbeiten, die nicht den Anforderungen entsprechen. Ich finde das sehr wichtig; denn wir haben gehört, dass manche Menschen der Schriftform nicht
mächtig sind und manche Leute die Regeln nicht kennen. Sie setzen sich trotzdem hin und bearbeiten diese
Eingaben. Sie kümmern sich darum, sind so etwas wie
Kümmerer bzw. ein Kummerkasten. Ich finde, das ist
eine wichtige Arbeit. Ich hoffe, dass das auch so bleibt
und Sie weiterhin Zeit dafür haben. Letztendlich ist es
wichtig, dass die Menschen eine Rückmeldung bekommen. Herzlichen Dank auch dafür.
({1})
Wichtig ist natürlich - das wurde vorhin angesprochen -, dass hier demokratische Grundrechte wahrgenommen werden. Die Menschen erleben, dass sie Einfluss auf das, was im Parlament geschieht, haben,
Einfluss auf die Gesetze und darauf, was ihr Leben beeinflusst, auch negativ beeinflusst. Ich denke, es ist auch
wichtig, dass die Leute erleben, ob sie Erfolg oder keinen Erfolg haben. Ich habe gerade die Information bekommen, dass in der 17. Wahlperiode von 12 Berücksichtigungen, für die einstimmig im Ausschuss votiert
wurde, erst 6 umgesetzt worden sind. Von 27 Erwägungen wurden 7 umgesetzt, 11 sind offen und 9 wurden abgelehnt. Da stellt sich für mich schon die Frage, warum
es so viele Ablehnungen oder nicht bearbeitete Fälle
gibt, wenn ein einstimmiges Votum vom Ausschuss vorliegt. Ich bin der Überzeugung, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Regierung einen positiven Einfluss auf
ihre Ministerien nehmen können.
({2})
Petitionen sind die älteste Form der Bürgerbeteiligung. Ich bin ganz stolz, dass aus NRW die meisten Petitionen kommen; denn das ist ein Zeichen dafür, dass die
Menschen verstanden haben, worum es geht.
({3})
Ich möchte auf eine Situation hinweisen, die mir Sorgen macht und die zeigt, woran wir arbeiten müssen. Gerade im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist es wichtig,
dass wir die zunehmenden Beschwerden der Bürger
ernst nehmen und neben den strukturierten Verfahren
auch die Petition ernst nehmen. Bei Ortsterminen beschäftigen wir uns insbesondere mit Schienenlärm und
Straßenlärm. Vor Ort kann man sehr gut erleben, unter
welchen Umständen Menschen leben müssen und warum sie sich berechtigterweise gegen Lärm wenden und
dafür den Petitionsausschuss anrufen.
Es ist wichtig, öffentlich auf das Petitionsrecht hinzuweisen. Mich wundert schon, dass der Bundesminister
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seinem neuesten Papier zum Thema Bürgerbeteiligung die Petition
noch nicht einmal genannt hat.
({4})
Es ist nicht erwähnt worden, dass die Petition ein offizieller Weg ist, den Bürgerinnen und Bürger nutzen können, um ihre Einwendungen und Bedenken zu äußern.
Ich kann nur sagen: Mir hat die Arbeit sehr viel gebracht. Ich habe sehr viel gelernt. Ich habe sehr viel über
Dinge gelesen, die mir vorher in dieser Tiefe nicht bekannt waren. Ich glaube, dass in Deutschland viele
Schätze vorhanden sind, die zu Recht bei uns landen und
mit denen auf die Gesetzgebung Einfluss genommen
werden sollte. Ich wünsche uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit.
In diesem Sinne: Glück auf!
({5})
Der Kollege Paul Lehrieder hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Kollege Hagemann, auch ich bedauere, dass wir nicht eher über unser sehr wichtiges
Thema debattieren können. Wenn man sich die heutige
Tagesordnung anschaut, so fällt auf, dass wir zu prominenterer Zeit, etwa von 12.30 bis 13.45 Uhr, über die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Koalition
aus CDU/CSU und FDP diskutieren durften, und zwar
auf Antrag der SPD. Das heißt, der Zusatzpunkt 5, Ak23470
tuelle Stunde, hat unsere Debatte nach hinten geschoben.
Dass man das dazusagt, gehört zur Ehrlichkeit.
({0})
- Doch, wir sind uns schon einig. Aber die SPD wollte
halt darüber debattieren.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich kann Sie beruhigen: Im Petitionsausschuss geht es nicht ganz so kontrovers zu, wie der Kollege Hagemann hier hat vermitteln wollen.
({1})
Lieber Klaus Hagemann, du hast heute die Ritterrüstung angezogen. Spätestens nächsten Mittwoch ziehst du
sie wieder aus. Dann reden wir wieder ganz normal über
Petitionen, um den Leuten zu helfen.
Es ist tatsächlich so: Wenn zu Beginn der Legislaturperiode Abgeordnete für den Petitionsausschuss gesucht
werden, so üben sich viele der Kolleginnen und Kollegen - ich weiß nicht, wie es in der FDP oder der SPD
ausschaut - in Schweigen. Eingezogene Köpfe, Blicke
nach unten gerichtet. Während meiner nunmehr siebenjährigen Arbeit im Petitionsausschuss habe ich schon einiges erlebt. Dass sich aber Kolleginnen und Kollegen
um einen Platz im Petitionsausschuss gestritten haben,
gehört nicht dazu.
Die Arbeit im Petitionsausschuss ist möglicherweise
nicht so prestigeträchtig. Sie mag auch weniger im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen als die in anderen Ausschüssen; wir debattieren nur einmal im Jahr
im Plenum über die Arbeit des Petitionsausschusses.
Dennoch ist sie eine der wichtigsten. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 17 unseres Grundgesetzes - „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder
in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die
Volksvertretung zu wenden“ - wird die besondere Bedeutung, die diesen Ausschuss begleitet, zum Ausdruck
gebracht.
Nachdem bereits von mehreren Vorrednern das Prinzip der grundsätzlichen Öffentlichkeit von Petitionsbehandlungen hier vorgetragen worden ist, möchte ich
schon darauf hinweisen: Es gibt Massenpetitionen, es
gibt Petitionen, die von allgemeinem öffentlichen Interesse sind - sie werden in aller Regel auch in den Fachausschüssen diskutiert und durch Anträge begleitet -,
und es gibt - darauf hat die Kollegin Vogelsang völlig zu
Recht hingewiesen - etwa die Rentnerin, die einen Badewannenlift will, aber nicht möchte, dass ihr Anliegen
in der Öffentlichkeit bekannt wird. Man muss also mit
Augenmaß an die ganze Angelegenheit herangehen.
Was wir verdient haben, ist, dass uns die Öffentlichkeit im Fokus behält, dass sie genau aufpasst, was wir
machen. Aber auch wir müssen aufpassen. Wir wollen
nämlich auch Anwälte der kleinen Leute sein. Das gilt
für alle Mitglieder des Petitionsausschusses. Ich habe
dieses Bemühen, diese Anstrengung bei vielen Kollegen
gespürt. Es tut gut - die beiden Schriftführer hinter mir
können es bestätigen; sie sind ebenfalls im Petitionsausschuss -, wenn man wie in den letzten Sitzungen, etwa
der am vergangenen Mittwoch, parteiübergreifend Einstimmigkeit zustande bringt, liebe Frau Kollegin
Steinke. Da freut sich die Vorsitzende. Wir freuen uns;
denn wir können sagen: Wir haben den Menschen gemeinsam helfen können. - Jetzt hätte ich einen Applaus
erwartet.
({2})
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist
einer der wenigen Ausschüsse, dessen Einrichtung das
Grundgesetz in Art. 45 c zwingend vorschreibt. Die Arbeit im Petitionsausschuss bietet eine Plattform für gelebte Demokratie; die Vorredner haben zum großen Teil
bereits darauf hingewiesen. Hier haben Bürgerinnen und
Bürger die Möglichkeit, aktiv am politischen Geschehen
teilzunehmen und es maßgeblich mit zu beeinflussen,
und zwar durch allgemeine Petitionen, aber auch durch
persönliche Einflussnahme. Von der so oft beschworenen Politikverdrossenheit ist hierbei zu meiner großen
Freude nichts zu verspüren. Im Gegenteil: 2011 wurden
insgesamt 15 191 Eingaben und Petitionen beim Petitionsausschuss eingereicht. Das bedeutet durchschnittlich stolze 60 Zuschriften pro Werktag. Dies erklärt womöglich auch die besagte Zurückhaltung mancher
Kolleginnen und Kollegen bei der Mitarbeit im Petitionsausschuss zu Beginn der Legislaturperiode.
Die Arbeit im Petitionsausschuss eröffnet wie kaum
eine andere die Möglichkeit, ein direktes, ungefiltertes
Feedback über unsere Arbeit im Bundestag zu erhalten
und nah am und mit den Menschen zu arbeiten. Kollege
Groß hat darauf hingewiesen. Ich sehe es genauso wie
Sie.
Wo muss gesetzlich nachgebessert werden? Wo sind
die Bürger mit Entscheidungen der Obergerichte, aber
auch mit gesetzlichen Entscheidungen und Verwaltungsentscheidungen nicht einverstanden? Wo drückt den
Bürger der Schuh?
In keinem Ausschuss ist es leichter als im Petitionsausschuss, die Befindlichkeiten, die Sorgen, die Nöte
unserer Bürger kennenzulernen. Das ist anstrengend,
aber es ist in aller Regel auch sehr befriedigend, wenn
man merkt: Jawohl, man kann etwas erreichen. - Nichts
ist für einen Abgeordneten schöner, als von einem Bürger bzw. von einer Bürgerin nach einer eingereichten Petition, im Rahmen derer man helfen konnte, ein Dankesschreiben zu erhalten, in dem steht: Prima, ihr habt das
gut gemacht.
({3})
Meine Damen und Herren, zu guter Letzt möchte ich
allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes - ähnlich wie die Kollegen vor mir - noch einmal sehr herzlich danken. Sie haben ein immenses Pensum an Arbeit zu bewältigen, und wir diskutieren schon,
ob wir mit einer Stunde für die Ausschusssitzung hinkommen. Wir werden vielleicht irgendwann dahin kommen, dass wir gegen Mitternacht anfangen, in unserem
Ausschuss zu tagen. Denn das Interesse der Bürger, uns
hier kritisch zu begleiten, wächst stetig.
({4})
Ob wir alle Petitionen hier im Plenum diskutieren
können
({5})
und ob, wenn ja, lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn,
wir das zu prominenter Zeit tun können, wage ich zu bezweifeln. Wenn wir irgendwann einmal nach Mitternacht
hier zusammensitzen, geht das Lamentieren wieder los,
dass wir eine prominentere Zeit wollen. Also, es ist
schwierig. Wir haben kontrovers, lieber Herr Kollege
Thomae, darüber diskutiert, ob es Sinn macht. Wir gucken
da noch einmal hin, aber ich habe keine große Hoffnung,
dass wir es bis zum Ende der Legislaturperiode schaffen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Drucksache 17/8319 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in
der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Somit rufe ich jetzt auf den Tagesordnungspunkt 12:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu dem von
den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf
Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und
zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei
sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen
- Drucksachen 17/3646, 17/10697 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder ({1})
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren, und als Erste hat das Wort die Kollegin Sonja
Steffen für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschen - vor allem junge Menschen und insbesondere Kinder - haben oftmals die Gabe, erlittene Gewalt
in eine innere Schublade zu stecken. Dort ruht das Erlebte oft jahrelang, bis die Bilder und das ganze Leid
manchmal aufgrund eines bestimmten Ereignisses wieder an die Oberfläche und ins Bewusstsein gelangen,
und bei Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlitten
haben, ist dies oft der Zeitpunkt, an dem sie selbst eine
Familie gründen.
Das erlittene Trauma ist nie ganz vergessen. Letztendlich muss das Missbrauchsopfer selbst entscheiden, ob
es die Konfrontation mit dem Täter sucht. Denn wer sich
der Konfrontation mit dem Täter stellen möchte, der
braucht eine sehr starke und engmaschige Unterstützung.
Meine Damen und Herren, im Jahr 2010 wurde nach
dem Bekanntwerden einer unglaublich großen Missbrauchswelle in Heimen und Internaten ein Runder
Tisch zum sexuellen Kindesmissbrauch eingerichtet.
Hier haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politik
hervorragende Arbeit geleistet. Innerhalb kürzester
Zeit - und dennoch mit besonderer Sensibilität - hat der
Runde Tisch Empfehlungen erarbeitet, um den Opfern
eine bessere Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Aber jetzt frage ich Sie: Wozu richtet man einen
Runden Tisch ein, der nach getaner Arbeit in seinem
Schlussbericht sinnvolle und fundierte Empfehlungen
abgibt, wenn diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden?
({0})
Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2010 einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich mit dem Thema Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften beschäftigt. Der Opferschutz verlangt eine
solche Verlängerung. Warum? Derzeit liegt die Frist der
strafrechtlichen Verjährung bei sexuellem Missbrauch
von Kindern bei 10 Jahren. Zwar beginnt die Frist erst
mit Vollendung des 18. Lebensjahres der Opfers zu laufen, jedoch bedeutet diese Frist Folgendes: Spätestens
wenn das Opfer Ende 20 ist, können die Täter strafrechtlich nicht mehr belangt werden.
Bei Missbrauch von jugendlichen Schutzbefohlenen
- von Internatsschülern beispielsweise - verjährt die Tat
sogar schon nach fünf Jahren, also spätestens dann,
wenn das Opfer 23 Jahre alt ist.
Es ist doch zutiefst ungerecht, wenn die Täter davon
profitieren sollen, dass ihre Opfer sie aus Scham und oft
auch wegen massiver Drohungen seitens des Täters zunächst nicht anzeigen.
In Ihrem Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, wollen Sie nur die
zivilrechtlichen Verjährungsfristen auf 30 Jahre erhöhen.
Aber das ist doch zu kurz gedacht.
({1})
Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche scheitert
oft genug an dem Mangel an finanziellen Mitteln beim
Täter. Aber was noch viel schlimmer ist: Dem Opfer ist
es doch nahezu unmöglich, ganz auf sich allein gestellt
und höchstens von seinem Anwalt begleitet, den lange
Zeit zurückliegenden Missbrauch zivilrechtlich zu beweisen.
Hier kommt der Runde Tisch übrigens zu folgendem
Ergebnis - ich zitiere -:
Aufgrund der Verlängerung der zivilrechtlichen
Verjährung
- die vom Runden Tisch vorgeschlagen wurde können die Betroffenen in Zukunft den Ausgang eines Strafverfahrens gegen den Täter abwarten, bevor sie vor dem Zivilgericht klagen.
Wem nützt denn dann die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist, wenn die strafrechtliche Verfolgung aufgrund der kurzen Verjährungsfrist gar nicht
mehr möglich ist?
({2})
Am 26. Oktober 2011, also vor fast einem Jahr, hat
eine Anhörung von Experten stattgefunden. Sie alle, zumindest all diejenigen, die bei der Anhörung dabei waren, wissen: Die Sachverständigen haben sich mehrheitlich, nämlich sechs von acht, für eine Modifizierung der
strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen.
Es ist nach der guten Arbeit des Runden Tisches überhaupt nicht zu verstehen, dass sich unser Gesetzentwurf
seit 2010 im Gesetzgebungsverfahren befindet und bis
heute keine Umsetzung erfolgt ist.
Ihr Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, sollte ursprünglich bereits Anfang
2012 in Kraft treten. Doch bis heute ist nichts passiert,
und es bedurfte der Heranziehung einer Geschäftsordnungsvorschrift, damit die heutige Debatte überhaupt
stattfinden kann, leider zu einer sehr unpopulären Zeit.
Im Namen der Opfer fordere ich Sie hiermit auf, sich
des Themas endlich anzunehmen. Die zivilrechtlichen
und die strafrechtlichen Verjährungsfristen für Kindesmisshandlungen müssen verlängert werden. Wir sind es
den Opfern schuldig.
({3})
Ansgar Heveling hat für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Geschäftsordnung sind die Ausschüsse zur baldigen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben verpflichtet, und es gehört damit zum selbstverständlichen
Recht des Parlaments, dann, wenn Aufgaben nicht kurzfristig erledigt werden können, über die Gründe zu debattieren. So beraten wir heute darüber, warum der von
der SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen noch nicht abschließend beraten worden ist.
Zunächst einmal ist es richtig, dass Handlungsbedarf
hinsichtlich der strafrechtlichen Vorschriften zum sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen
Schutzbefohlenen besteht. Das Ausmaß des sexuellen
Missbrauchs in den letzten Jahrzehnten in konfessionellen und nichtkonfessionellen pädagogischen Einrichtungen hat uns sicherlich alle aufgeschreckt. Der zu den
Vorgängen eingerichtete Runde Tisch hat hervorragende
Arbeit geleistet und viele Handlungsfelder, insbesondere
im Hinblick auf Opferschutz- und Verfahrensregeln,
identifiziert und aufgezeigt. Neben nichtlegislativen
Maßnahmen braucht es natürlich auch gesetzgeberische
Entscheidungen zur Umsetzung von vielen Vorschlägen
des Runden Tisches.
Im SPD-Gesetzentwurf wird im Wesentlichen ein Aspekt aufgegriffen, die Frage der strafrechtlichen Verjährung; dazu wird eine einzelne Regelung vorgeschlagen.
Auch wenn anzuerkennen ist, dass Handlungsdruck in
zeitlicher Hinsicht besteht, so ist dieses Vorgehen dennoch insgesamt nicht zielführend, weil die Angelegenheit doch komplexer ist.
Die Bundesjustizministerin hat deshalb richtigerweise
einen anderen Weg gewählt und mit dem Entwurf eines
Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen
Missbrauchs ein erstes Paket verschiedener Maßnahmen
vorgelegt, die sowohl zivilrechtliche wie strafrechtliche
Aspekte betreffen und auch verfahrensrechtliche Regelungen vorsehen. Diesen Gesetzentwurf beraten wir momentan intensiv in der Koalition.
({0})
Das ist der Grund, weshalb wir den SPD-Gesetzentwurf
noch nicht abschließend beraten haben.
({1})
Dabei erkennen wir, so glaube ich, in allen Fraktionen
an, dass wir über den strafrechtlichen und strafgesetzlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch ebenso reden
müssen wie über die zivilrechtlichen, insbesondere die
schadensersatzrechtlichen Fragen. Bei aller Handlungsnotwendigkeit sollten wir aber auch eines bedenken: Das
Strafgesetzbuch ist ein vielfältig ineinandergreifendes
Regelwerk von aufeinander abgestimmten Normen, dessen gesellschaftliche Akzeptanz nicht zuletzt wesentlich
darauf beruht, dass jedermann seine Systematik durchschauen kann. Alle müssen auf das System vertrauen
können. Ständige Durchbrechungen systematischer Linien sind nicht hilfreich. Das sollten wir bei der Diskussion auch bedenken. Deswegen ist der Vorschlag der
SPD, eine Sonderverjährungsvorschrift - 20 Jahre - vorzusehen, sicherlich nicht der richtige Weg. Ich will nicht
verhehlen, dass wir als CDU/CSU-Fraktion das Thema
Verjährungsfrist mit großer Sympathie sehen und da
auch unsere Überlegungen ansetzen. Wir müssen aber
noch beraten, wie wir hier weiterkommen.
({2})
Die Frage ist in diesem Zusammenhang, ob das der
einzige systematische Anknüpfungspunkt ist. Es gäbe sicherlich auch noch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, beim Strafrahmen anzusetzen, und die Frage zu klären, ob wir für die einzelnen Straftatvorschriften eine
Erhöhung des Strafrahmens vorsehen. Das könnte dazu
führen, dass einige Straftaten vom Vergehen zum Verbrechen hochgestuft werden. Das führt aber ohne Frage
auch zu weiteren systematischen Überlegungen; das
sollten wir genau bedenken.
Ein dritter Ansatzpunkt ist, zu überlegen, ob man bei
der Hemmung der Verjährung ansetzt.
({3})
Das ist bereits in den 90er-Jahren diskutiert worden. Seinerzeit hat es eine erste Regelung des Komplexes gegeben. Damals ist festgelegt worden, dass die Verjährung
bis zum 21. Lebensjahr - statt bis zum 18. Lebensjahr gehemmt ist. Auch das ist ein Ansatzpunkt, nämlich darüber nachzudenken, ob man an dieser Stelle die Hemmung der Verjährung nicht weiter hinausschiebt, weil
uns die aktuellen Fälle aus den Institutionen gezeigt haben - anders als in den 90er-Jahren, wo es um Fälle aus
dem unmittelbaren familiären Nahbereich ging -, dass
viele Opfer erst dann, wenn sie älter werden, in der Lage
sind, ihre Erlebnisse zu reflektieren und tätig zu werden.
Man muss sehr sorgsam abwägen und schauen, wie es in
die Systematik des Strafgesetzbuches passt. In diesem
Prozess befinden wir uns noch. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir eine Regelung finden werden und dann die
Beratung des Gesetzentwurfs der SPD abschließen können - sicherlich auf dem Wege, dass deren Gesetzentwurf nicht zum Tragen kommt.
Vielen Dank.
({4})
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir reden über den Bericht des Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, mit welchem die straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen verlängert werden sollen. Dieser Gesetzentwurf war ebenso wie die Gesetzentwürfe von Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregierung Gegenstand einer Anhörung im Rechtsausschuss.
Eine abschließende Beratung hat noch nicht stattgefunden; deshalb jetzt der Bericht.
Lassen Sie mich zunächst eine Bitte äußern. Lassen
Sie uns bitte zukünftig nicht von sexuellem Missbrauch
von Kindern und Schutzbefohlenen reden, sondern von
sexualisierter Gewalt. Der Begriff „Missbrauch“ legt
nämlich unbeabsichtigt nahe, es gäbe auch einen richtigen sexuellen Gebrauch von Kindern und Schutzbefohlenen,
({0})
und - ich glaube, da sind wir uns alle einig - genau den
gibt es nicht.
({1})
Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei stehen,
glaube ich, für alle Fraktionen im Haus der Schutz der
Opfer und die Wiedergutmachung im Zentrum der Debatte.
„Schutz der Opfer“ meint für uns in allererster Linie
Prävention. Es klingt abgedroschen und ist dennoch
wahr: Der beste Opferschutz ist Prävention. Deshalb
müssen die Mittel für Projekte wie „Kein Täter werden“,
die zum Beispiel in der Charité angeboten werden, erhalten bleiben und aus unserer Sicht sogar aufgestockt werden.
({2})
Unser vorrangiges Ziel muss sein, potenzielle Täter
zu erreichen, um sie von Straftaten abzuhalten. Zu Recht
wurde in der Anhörung durch den Sachverständigen
Böhm auf diesen Aspekt hingewiesen. Er forderte frühzeitig einsetzende psychotherapeutische Behandlungen;
die Rückfallraten könnten so erheblich gesenkt werden.
Es geht aber auch darum, Kinder zu stärken. Sie müssen ihre Rechte kennen, in der Lage sein und ermutigt
werden, diese wahrzunehmen. Aus der Sicht der Opfer
von sexualisierter Gewalt spricht viel dafür, die zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften zu verlängern. Soweit ich das sehe, sind sich darin alle Fraktionen einig
und greifen damit eine Empfehlung des Runden Tisches
auf; darauf wurde bereits hingewiesen. Dieses Signal der
Einigkeit sollten die Opfer sexualisierter Gewalt von der
heutigen Debatte mitnehmen; daran wäre mir sehr gelegen. Alle Fraktionen sprechen sich für die Verlängerung
der zivilrechtlichen Verjährungsfristen aus.
Die existierende Frist von drei Jahren zur Geltendmachung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer sexualisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumatisiert
sind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten in
der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen.
Dass Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche
dann nicht mehr geltend gemacht werden können, sehen
wir als erhebliches Problem an. Hier hilft die Hemmung
der Verjährung bis zum 21. Lebensjahr nicht wirklich
weiter. Die Verjährungsfristen müssen - so sieht es der
vorliegende Gesetzentwurf vor - tatsächlich verlängert
werden, um die zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer sexualisierter Gewalt zu erhalten. Wir unterstützen das
ausdrücklich.
({3})
Wir sehen auch das Problem, dass die Verjährungsfristen bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung auf
der einen Seite und die Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern auf der anderen Seite
auseinanderklaffen. Das ist der entscheidende Grund dafür, dass ein Teil unserer Fraktion zu einer Zustimmung
zum SPD-Entwurf tendiert.
Unsere gesamte Fraktion sagt sehr deutlich, dass sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern nicht zu rechtfertigen ist.
Ein anderer Teil von uns tut sich schwer mit einer
Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen.
Sosehr eine Angleichung der Verjährungsfristen auf den
ersten Blick eine innere Logik hat - dieser Teil unserer
Fraktion beurteilt das Ansinnen skeptisch. Es erscheint
diesem Teil unserer Fraktion nicht sinnvoll, für den Fall,
dass beispielsweise ein Täter innerhalb der von der SPD
vorgeschlagenen 20-jährigen Verjährungsfrist eine Therapie gemacht hat und seitdem keine erneute Straffälligkeit aufgetreten ist, noch strafrechtlich aktiv zu werden.
Dem Opfer und dem Täter ist nach Ansicht dieses Teils
unserer Fraktion damit nicht geholfen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Der Kollege Christian Ahrendt hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren die Frage, warum ein Gesetzentwurf der SPD zur Verlängerung der Verjährungsfristen
im Strafrecht und auch im Zivilrecht noch nicht abschließend im Rechtsausschuss beraten worden ist.
Wir haben im Juni zusammen mit den Grünen und bei
Enthaltung der Linken entschieden, diese Beratung noch
einmal zu vertagen. Das hat gute Gründe. Es gab eine
Sachverständigenanhörung - über die ist eben schon berichtet worden -, bei der das Bild bei weitem nicht so
klar war, wie es hier den Eindruck erweckt. Zahlreiche
Sachverständige haben gesagt, dass die Verlängerung
der Verjährungsfristen nicht unbedingt zielführend ist.
Dafür gibt es auch Gründe, die man sorgfältig erwägen
muss.
Je weiter eine Tat in der Vergangenheit liegt, desto
schwieriger ist es, diese Tat aufzuklären. Beweismittel
werden nicht gesichert. Die Zeugen, die über eine solche
Tat Auskunft geben können, verlieren an Erinnerungsvermögen. Insofern führt eine Verjährungsfrist, die es ermöglicht, dass nicht sofort in der Sache ermittelt wird,
nicht dazu, dass der Täter wirklich herangezogen wird.
Der entscheidende Aspekt ist, dass es zu einer Anzeige
kommt; der Kollege Ansgar Heveling hat es eben schon
gesagt. Deswegen kommt es uns auf ein Rechtsregime
an, das in erster Linie darauf ausgerichtet ist, dass das
Opfer die Tat früh anzeigt. Denn je früher die Tat angezeigt wird, desto früher können Beweise gesichert, Zeugen vernommen und der Täter einer Verurteilung zugeführt werden; je früher die Ermittlungen auf das
Tatgeschehen folgen, desto besser ist es möglich, das
Tatgeschehen wirklich gerichtsfest zu beweisen.
Herr Kollege, Frau Steffen würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Sie sind jetzt leider schon in Ihrem Text fortgefahren,
aber Sie haben vorhin gesagt, die meisten Sachverständigen hätten sich bei der Anhörung nicht für eine Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen. Ich habe in meiner Rede bewusst nur von
„Modifizierung“ gesprochen. Sie haben vorhin gesagt,
zahlreiche Sachverständige hätten sich nicht für eine
Verlängerung der Fristen ausgesprochen; das ist richtig.
Wir sind gerade im Gesetzgebungsverfahren; leider fangen wir eigentlich erst mit dem Verfahren an. Es gibt
verschiedene Modelle; wir werden gleich das von den
Grünen hören. So besteht etwa die Möglichkeit, bei der
Hemmung anzusetzen; Ihr Kollege hat diese Möglichkeit auch schon vorgestellt. Würden Sie mir unter diesem Aspekt recht geben, dass sich die Mehrheit der
Sachverständigen für eine Modifizierung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ausgesprochen hat?
Frau Kollegin, Sie sagen jetzt, dass wir die Fristen
modifizieren könnten, und haben so mit Ihrer Frage meinen weiteren Ausführungen vorgegriffen. Wenn es um
die reine Verlängerung der Verjährungsfristen geht, dann
ist das Bild bei den Sachverständigen klar; so habe ich es
gesehen. Wenn wir darüber nachdenken, möglicherweise
den Beginn der Verjährung bis zu einem bestimmten Alter zu hemmen - Sie haben in Ihrer Rede sehr ausführlich dargestellt, dass es oftmals ein Herauslösen aus dem
Familienkreis braucht, um den Mut zur Anzeige zu finden -, wenn es also um die Frage der Hemmung bis zum
18. oder 21. Lebensjahr geht, um die Frage, ob erst dann
die Frist der strafrechtlichen Verjährung beginnen soll,
und Sie das als „Modifizierung“ bezeichnen, dann bin
ich von Ihnen gar nicht so weit weg. Das ist etwas, über
das wir tatsächlich nachdenken, weil es auch sinnvoll ist.
Aber das ist etwas anderes als die pauschale Verlängerung der Verjährungsfristen und ist, wenn ich das so sagen darf - zumindest habe ich es so in Erinnerung -,
nicht Gegenstand Ihres Gesetzentwurfs.
Lassen Sie mich fortfahren. Der entscheidende Aspekt ist - darum ringen wir -, dass wir ein Rechtsregime
schaffen, bei dem es darum geht, dem Opfer frühzeitig
den Mut zu geben, die Tat anzuzeigen. Denn wir haben
die Situation, dass das Opfer nicht nur von der Tat selber
betroffen ist. Es sieht sich nachher auch in der Situation,
das, was geschehen ist, berichten zu müssen. Je öfter das
Opfer davon berichtet, desto gravierender, desto mehr
wird es mit dem Erlebten konfrontiert. Deswegen sind
wir mit dem StORMG auf dem Weg, die Opferrechte so
zu verbessern, dass es einfacher wird, die Tat anzuzeigen. Damit ist das Ziel dieses Gesetzes klar im Fokus.
Wenn wir sexuellen Missbrauch von Kindern erfolgreich bekämpfen wollen, dann müssen wir ihn dort bekämpfen, wo er beginnt. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Taten aus den Familien heraus oder von den Opfern
früh angezeigt werden. Je früher sie angezeigt werden,
desto besser können Beweismittel gesichert werden,
desto klarer ist das Erinnerungsbild der Zeugen, desto
größer ist die Chance, dass es zu einer Verurteilung
kommt. Man muss sich auch Folgendes vor Augen halten: Wenn eine Tat erst spät angezeigt wird, also erst
nach Ablauf einer größeren Zahl von Jahren, das Opfer
erst dann den Mut findet, aber die Tat vor Gericht nicht
mehr bewiesen werden kann, ein Verfahren eingestellt
wird oder es gar zum Freispruch kommt, dann hat das
Opfer nicht nur mit der Tat zu kämpfen, sondern auch
noch mit dem Problem umzugehen, dass das, was es erlebt hat, nicht vor Gericht gesühnt wird.
Deswegen ist es wesentlich sorgfältiger, daran zu arbeiten, die Opferschutzrechte so auszugestalten, dass es
zu einer frühzeitigen Anzeige kommt. Man muss in der
Tat darüber nachdenken - wir tun das in der Koalition -,
einerseits im Zivilrecht und andererseits im Strafrecht zu
einer gemeinsamen Hemmungsregelung zu kommen, die
besagt, wann die Verjährungsfrist beginnt. Meines Erachtens kann man sich sehr gut am 21. Lebensjahr orientieren, aus zwei Gründen: Wir haben hier einen klaren
Anknüpfungspunkt im Jugendstrafrecht. Ab 18 ist man
strafmündig; dann hat man noch die Zeit des Heranwachsenden bis zum 21. Lebensjahr. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass man in einem gewissen Familienverbund noch verfangen ist und deswegen möglicherweise davor zurückschreckt, eine solche Tat anzuzeigen.
Das ist der richtige Ansatz. Dann haben wir auch die
Möglichkeit, mit den Verjährungsfristen, die jetzt im
Strafgesetzbuch stehen, vernünftig auszukommen. Aber
zu sagen: „Wir verlängern jetzt einfach die Verjährungsfrist um fünf oder zehn Jahre und haben damit eine wirkliche Verbesserung für die Opfer erreicht“, den Weg halten wir für falsch. Ich glaube auch nicht, dass wir diesen
Weg gehen werden.
Wichtig ist, dass wir die Sache gut beraten, und wir
werden die Sache gut beraten. Ich gehe davon aus, dass
wir in diesem Herbst zum Abschluss kommen, und
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Ingrid Hönlinger hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle konnten uns in den schlimmsten Alpträumen
nicht vorstellen, was sich seit den 70er-Jahren und teilweise bis in die Gegenwart hinein hinter den Mauern
von kirchlichen, schulischen und anderen Einrichtungen
ereignet hat. Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs
von Kindern und Jugendlichen, schutzbefohlenen Mädchen und Jungen spielte sich jahrelang im Geheimen ab.
Bis heute sind nicht alle Fälle aufgeklärt, die Traumatisierungen der Opfer sind noch lange nicht geheilt, und
diese Untaten sind nicht ausreichend gesühnt, weder moralisch noch finanziell.
Wir wissen heute, dass Opfer von sexuellem Missbrauch oft jahrelang das Erlebte nicht in Worte fassen
können. Sie brauchen Zeit, um über das sprechen zu
können, was ihnen widerfahren ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir unsere rechtlichen Abwägungen treffen.
Das aktuelle Recht räumt den Opfern nicht ausreichend Zeit ein. Bei den Missbrauchsfällen aus den 70erund 80er-Jahren sind die Verjährungsfristen längst abgelaufen, und zwar sowohl die zivil- als auch die strafrechtlichen Fristen. Wir als Gesetzgeber müssen jetzt
den rechtlichen Rahmen dafür schaffen, dass die Menschen, deren Forderungen noch nicht verjährt sind oder
die in Zukunft Opfer sexueller Gewalt werden, ihre Ansprüche in angemessener Zeit durchsetzen können.
Heute sprechen wir über den Gesetzentwurf der SPD.
Auch wir Grünen haben einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der rechtlichen Stellung von Opfern sexuellen
Missbrauchs vorgelegt. Einig sind wir uns mit der SPD
darin, dass die Verjährungsfrist im Zivilrecht für Ansprüche von Opfern sexueller Gewalt viel zu kurz ist.
Wir Grünen wollen, genauso wie die SPD, eine Ausweitung auf 30 Jahre einführen.
Im Gegensatz zur SPD wollen wir die Hemmungsregelungen nicht nur beibehalten, sondern ausweiten. Sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht soll der Beginn der
Verjährung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres eines misshandelten Menschen gehemmt sein.
Die Hemmungstatbestände treffen den Kern der Diskussion - das Schweigen junger Menschen nach sexuellem Missbrauch. Selbst junge Erwachsene sind häufig
emotional nicht in der Lage, ihre Ansprüche wegen solcher Taten geltend zu machen; gerade hier sollten wir
ansetzen.
Nun wende ich mich an die Regierung, die ebenfalls
einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Sie, meine Damen
und Herren, wollen im Zivilrecht ebenfalls die Verjährungsfrist auf 30 Jahre anheben, aber im Gegenzug wollen Sie die Hemmung komplett streichen. Damit beginnt
die Verjährungsfrist bereits mit dem Entstehen des Anspruchs, also sofort nach der Tat und nicht erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie das nach
aktuellem Recht der Fall ist. Das ist ein völlig falsches
Signal an die Betroffenen.
({0})
Der Regierungsentwurf weist auch noch ein weiteres
Problem auf: Die Verjährungsfrist von 30 Jahren soll
nicht nur für Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gelten, sondern auch für sonstige vorsätzliche Verletzungen des Körpers und der Gesundheit. Damit unterfiele jede Beibringung einer Wunde der Verjährungsfrist
von 30 Jahren.
({1})
Sicher stimmen Sie mit mir überein, dass wir hier differenzieren müssen. Dass Sie innerhalb der Koalition noch
über den Gesetzentwurf der Regierung streiten und sich
nicht einigen können, zeigt den Zustand Ihrer Koalition
und schadet den Betroffenen. Meine Damen und Herren
von der Regierung, beschränken Sie Ihren Gesetzentwurf auf die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, verlängern Sie die Verjährungsfrist im Zivilrecht,
und schieben Sie den Verjährungsbeginn im Zivil- und
Strafrecht hinaus! Je länger Sie mit dem Inkraftsetzen
des Gesetzes warten, desto mehr Ansprüche von Opfern
verjähren. Dies sollte für die Rechtspolitik Grund genug
sein, schnell und gründlich zu handeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, dass der Ton in dieser Debatte der Ernsthaftigkeit der Problematik sehr angemessen ist. Bei allen Unterschieden, die es in Detailfragen gibt, sind wir uns alle
darüber einig, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern
und minderjährigen Schutzbefohlenen seelische Schäden
hinterlässt, die irreparabel sind und die die Betroffenen
ein Leben lang belasten. Die körperlichen Schäden, die
damit oft verbunden sind, mögen verheilen, aber die seelischen Wunden kann auch die beste psychologische Betreuung nicht wirklich heilen, auch wenn Therapien helfen, solche schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.
Opfer sexuellen Missbrauchs tragen schwer an dem, was
man ihnen angetan hat, auch noch nach Jahren, nach
Jahrzehnten, oft das ganze Leben lang.
Wir haben nun einen Gesetzentwurf in Vorbereitung,
mit dem die Schwächsten unserer Gesellschaft, Kinder
und Jugendliche, besser geschützt werden sollen. Damit
verfolgen wir einen breiten Ansatz. Ziel ist es, nicht nur
punktuell Verbesserungen für die Betroffenen zu erreichen, sondern umfassendere Lösungen zu finden. Wir
haben dabei auch auf die Empfehlungen des Runden Tisches zurückgegriffen, der wichtige Ergebnisse erarbeitet hat.
Wir wollen beispielsweise die Opfer sexuellen Missbrauchs im Gerichtsverfahren besser schützen und schonen. Das Leid, das sie erfahren haben, soll im Gerichtssaal nicht noch einmal durchlitten werden müssen. Dazu
dient beispielsweise, dass es leichter möglich sein soll,
einen Opferanwalt zu bestellen. Wir erweitern die Informationsrechte von Opfern. Wir vermeiden mehrfache
Vernehmungen. Wir ergänzen die Vorschriften zum Ausschluss der Öffentlichkeit bei Hauptverhandlungen.
Schließlich sind wir uns darin einig, dass die zivilrechtliche Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche
wegen sexuellen Missbrauchs auf 30 Jahre verlängert
werden soll. Das ist dringend notwendig. Spätestens die
in den vergangenen Monaten aufgedeckten gravierenden
Missbrauchsfälle haben deutlich gemacht, dass die Regelverjährung von drei Jahren in diesem Bereich viel zu
kurz bemessen ist. Ich finde, es ist eine wichtige und bedeutende Botschaft der heutigen Debatte, dass wir einen
fraktionsübergreifenden Konsens in der Frage der Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist festhalten können.
Bei dieser Verjährungsfrist setzt auch der Gesetzentwurf der SPD an. Allerdings beschränkt sich die SPD
ausdrücklich auf die Fragen der Verjährung. Das, finde
ich, greift entschieden zu kurz. Man wird den Opfern sexuellen Missbrauchs am ehesten helfen können, wenn
man die Reform ein bisschen breiter aufstellt, so wie das
bei uns mit einem ganzen Maßnahmenbündel angedacht
ist.
({0})
Es gibt immer wieder Fälle, in denen Opfer aufgrund
ihrer starken Traumatisierung im Kindesalter erst sehr
spät in der Lage sind, über eine solche Tat zu sprechen.
Sie sind erst nach vielen, vielen Jahren bereit und fähig,
eine Strafanzeige zu erstatten. Ich persönlich bin der
Auffassung, dass wir deshalb die Möglichkeiten, sexuellen Missbrauch auch strafrechtlich zu ahnden, erweitern
müssen. Wir sollten darauf achten, dass die Hemmung
der Verjährung und die Verjährungsfrist im Strafrecht
und im Zivilrecht nicht zu weit auseinanderfallen. Die
Hemmung der Verjährung zu erweitern und die Verjährungsfrist zu verlängern, das wäre nach meinem Dafürhalten eine unmissverständliche Regelung. Das würde
Rechtsklarheit, auch Rechtssicherheit schaffen. Das
würde auch den Besonderheiten dieser Taten Rechnung
tragen. Bei der strafrechtlichen Verfolgung wird die Beweisführung mit dem Zeitablauf sicherlich immer
schwieriger. Aber es ist ja nicht erst die strafrechtliche
Verurteilung, die eine abschreckende Wirkung auf Täter
hat, auch schon die Anklage und die Ermittlungen signalisieren möglichen Tätern: Wer das tut, muss sehr lange
damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden.
({1})
Natürlich könnte man eine Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen auch automatisch erreichen, indem man den sexuellen Missbrauch zum Verbrechen aufstuft. Ich bin durchaus der Meinung, dass eine
Strafschärfung im Grundsatz angemessen wäre, wenn
man die lebenslange und schwere Beeinträchtigung
durch sexuellen Missbrauch im Kindesalter in Rechnung
stellt. Ich nehme allerdings auch die kritischen Stimmen
zur Kenntnis, die sagen, dass durch eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr - die die Aufstufung zum Verbrechen bedeuten würde - in Grenzfällen unangemessene Härten entstehen könnten. Darüber wird man weiter
diskutieren müssen. Ich finde, wir sollten diese Fragen
weiter erörtern.
Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt eingehen: den Schutz von Schülern gegen sexuelle Übergriffe
durch Lehrer. Wir haben gesehen, dass nach der Rechtsprechung Schüler eines Vertretungslehrers diesem Lehrer unter Umständen nicht zur Erziehung anvertraut sind,
sodass in diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis ein strafbarer sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen nicht
vorliegt. Ich finde, es sollte für uns selbstverständlich
sein, dass wir jegliche sexuellen Übergriffe von Lehrkräften auf Schüler unterbinden und scharf sanktionieren. Wir können das nicht zulassen.
({2})
Ich sage das ausdrücklich auch als Vater. Wenn wir
als Eltern unsere Kinder in die Obhut einer Schule geben, dann müssen wir uns darauf verlassen können, dass
sie dort in jeder Hinsicht vor sexuellen Übergriffen
durch Lehrkräfte geschützt sind. Schüler können sich
den Lehrkräften in ihrer Schule nicht entziehen. Alle
Lehrkräfte haben eine gewisse Machtposition den Schülern gegenüber. Deshalb darf es bei der Strafbarkeit von
sexuellem Missbrauch keinen Unterschied machen, ob
es sich um Klassenlehrer, Aushilfslehrer oder Vertretungslehrer handelt.
Ich bin sehr froh, dass die Bundesländer eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben, um an ihren Schulen zunächst
einmal zu erkunden, wie die Lage ist. Wir werden das in
dieses Gesetzgebungsverfahren nicht mehr einbeziehen
können, aber ich bin auf die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe gespannt.
Ich denke, wir können festhalten: Die Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ist auf einem
guten Weg.
Herr Kollege.
Wir sind zuversichtlich, dass wir unser Verfahren
zeitnah abschließen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Marlene Rupprecht.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben heute diese Debatte, weil ein Gesetzentwurf der SPD nicht innerhalb des Zeitraums, der nach
der Geschäftsordnung vorgesehen ist, beraten wurde. Es
gibt zu diesem Thema auch einen Gesetzentwurf der Regierung, der im Juni letzten Jahres eingebracht wurde,
nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Auch dieser
Gesetzentwurf hängt irgendwo.
Ich bin jetzt lange genug im Parlament, um Ihnen zu
sagen: Es kann immer vorkommen, dass man etwas nicht
debattiert. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass
man dann mit den anderen Fraktionen redet und ihnen
sagt, dass man noch etwas in Vorbereitung hat und etwas
später darüber miteinander debattieren möchte. Diesen
Weg müsste die Regierung eigentlich gehen, um zu zeigen: Wir sind dran. So sollte man miteinander umgehen.
Das scheint nicht erfolgt zu sein. Das bedaure ich sehr,
weil wir vor allem den Menschen, die es betrifft, nämlich
den Opfern sexuellen Missbrauchs - das sage ich bewusst so; hier geht es um das Strafrecht und nicht um
Therapie, sozialpädagogische Betreuung oder Sozialpolitik -, dringend das Signal geben wollen, dass jetzt die
gesetzlichen Maßnahmen kommen. Das, was am Runden
Tisch bearbeitet wurde, wurde bereits schrittweise im
ersten Aktionsplan 2003 umgesetzt. Weiteres wird jetzt
im zweiten Aktionsplan, der auf dem Weg ist, umgesetzt.
({0})
Natürlich reicht das Strafrecht nicht; das ist ganz klar.
Das wäre eine völlige Fehleinschätzung. Zum Umgang
mit Missbrauch und mit massiver Gewalt gegen Kinder
hat der Europarat ein Übereinkommen zum Schutz von
Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch erarbeitet. Die EU hat eine Richtlinie verabschiedet, die mit in die Gesetzgebung einfließen muss. Außerdem gibt es Fakultativprotokolle der UN, die auch
einfließen müssen. Ich denke, wenn wir gut arbeiten, beachten wir das alles und sehen nicht nur durch die nationale Brille.
Beim Übereinkommen des Europarates geht es um
die vier „P“. Ich denke, wir behandeln sie schon in unserem Aktionsplan. Aber für diejenigen, die nicht so nah
an diesem Thema dran sind, sage ich, was die vier „P“
der Konvention bedeuten.
Das erste „P“ steht für Prävention. Das heißt, Bekämpfung sexueller Ausbeutung mit allen Mitteln der
Aufklärung und des Schutzes. Man tut also alles, was
machbar ist, damit es gar nicht erst zu einem Übergriff,
einem Missbrauch oder einer schweren Gewalttat
kommt.
Das zweite „P“ steht für Protektion, also für den
Schutz der Rechte von kindlichen Opfern. Das betrifft
das Gesetz, das gerade in der Pipeline ist und endlich
vorgelegt werden müsste; denn es ist dringend notwendig.
Das dritte „P“ steht für Prosekution, also für Strafverfolgung. In diesen Bereich gehört das Thema, das wir
heute debattieren. Deshalb hätte es überhaupt nicht ge23478
Marlene Rupprecht ({1})
schadet, zu sagen: Wir gehen jetzt an die Verjährungsfristen heran und ändern sie. - Daran kann man Schritt
für Schritt arbeiten. Man kann jemandem auch mit Blick
auf die Schwere der Tat - da stimme ich Ihnen zu - wirklich einen Schuss vor den Bug verpassen und deutlich
machen: Wir, die Gesellschaft, zeigen null Toleranz gegenüber solchen Straftätern.
Das vierte „P“ steht für Promotion. Das heißt, dass
wir Strategien entwickeln und in diesem Bereich national und international kooperieren, damit wir tatsächlich
etwas erreichen.
Diese vier „P“ müssen wir in das, was wir gerade machen, mit einbauen. Da sind natürlich auch wir, die Mitglieder des Familienausschusses, gefragt, vor allem
dann, wenn es um Prävention und Promotion geht. Was
die Strafverfolgung und den Schutz betrifft, wenn es also
um das Recht geht, sind allerdings vor allem die Mitglieder des Rechtsausschusses am Zuge. Das Ganze muss so
ausgestaltet werden, dass man überprüfen kann, ob die
Maßnahmen wirken. Wenn man also beispielsweise die
Verjährungsfristen verlängert oder Hemmnisse einbaut,
muss überprüft werden: Wirkt das, und wie wirkt das?
Das ist sehr wichtig.
Die europäische Kinderrechtekonferenz findet ja in
Deutschland statt. Die heutige Debatte sollte dazu führen, dass wir im März nächsten Jahres auch das Lanzarote-Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor
sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch ratifizieren - wir haben es im Jahre 2007 unterzeichnet, aber
noch nicht ratifiziert - und damit zeigen: Jawohl, wir
schließen uns an. Wir schließen uns auch der Kampagne
des Europarates an.
Frau Kollegin?
Eines von fünf Kindern ist betroffen. Ich denke, das
sollte uns so sehr aufschreien lassen,
Frau Kollegin.
- dass wir jetzt über alle Grenzen hinweg gemeinsam
an diesem Gesetz arbeiten.
Danke.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 und den Zusatzpunkt 7 auf:
18 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung der Verordnung ({0}) Nr. 236/
2012 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe
und bestimmte Aspekte von Credit Default
Swaps ({1})
- Drucksache 17/9665 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 17/10854 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Björn Sänger
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bankenunion - Subsidiaritätsgrundsatz beachten
- Drucksache 17/10781 Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren.
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden zu dieser späten Stunde über Finanzmarktthemen.
Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, über drei
Punkte zu sprechen: erstens über die Umsetzung der EULeerverkaufsverordnung, zweitens über den Antrag zur
Bankenunion und drittens - ich glaube, das bietet sich in
dieser Woche an - über das revolutionäre Papier, das uns
den Durchbruch auf den Finanzmärkten bringen wird,
des ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers
und Ministerpräsidenten sowie ehemaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück.
Fangen wir doch einfach einmal mit der EU-Leerverkaufsverordnung an. Das ist heute für uns ein freudiger
Tag, weil auf europäischer Ebene etwas umgesetzt worden ist, was wir vor zwei Jahren auf den Weg gebracht
haben. Wir sind damals belächelt worden. Man sagte: Ihr
könnt nicht vorangehen und das alleine machen. - Wir
haben es gemacht und sind vorangegangen. Am Ende
des Tages hat das dazu geführt, dass die Europäische
Kommission und der Europäische Rat im Wesentlichen
das abgeschrieben haben, was wir gemacht haben. Das
ist ein großer Erfolg für uns.
Das ist für uns heute auch deswegen ein großer Erfolg,
weil das nunmehr das 17. Finanzmarktgesetz ist, das wir
in den letzten drei Jahren hier verabschiedet haben. DaRalph Brinkhaus
runter waren wichtige Dinge wie Bankenrestrukturierung, Anlegerschutz, Vergütungen, Ratingagenturen,
Verbriefungen und ganz viele andere Dinge. Ich erwähne
das an dieser Stelle ganz besonders gerne, weil man den
Eindruck hat, dass Finanzmarktregulierung in Deutschland erst vor drei Tagen und nicht vor drei Jahren erfunden worden ist.
({0})
Nach mir wird der Herr Kollege Zöllmer von der SPD
reden und zu dem EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz
sagen: Na ja, eigentlich ist das alles ja ganz richtig, aber
eine Sache stört mich. - Dabei geht es darum: Wenn bei
Schieflagen der Handel von irgendwelchen Papieren
ausgesetzt werden muss, soll das nicht, wie bei uns vorgesehen, durch die örtlichen Börsen, sondern zentral
durch die BaFin geschehen. Wir haben das geprüft und
sind der Meinung, dass die örtlichen Behörden das besser machen können, weil sie näher dran sind. Wir sind
auch der Meinung, dass das bewährte Verfahren, bei dem
sie sich abgestimmt haben, fortgesetzt werden kann, sodass wir bundesweit eine gute Regelung erreichen haben.
Herr Zöllmer, Sie werden das gleich aber erläutern.
Man kann auch anders darüber denken. Eines muss ich
Ihnen aber sagen: Wenn Sie das gleich als Begründung
dafür nehmen, sich bei der Abstimmung über dieses Gesetz zu enthalten, dann ist das ein bisschen hochgehängt.
Überdenken Sie das also noch einmal. Ich glaube, das ist
ein gutes Gesetz. Das wird die Finanzmärkte besser und
sicherer machen. Deswegen bitte ich hier um Ihre Zustimmung.
({1})
Zweiter Punkt; die Bankenunion. Am 28. und 29. Juni
2012 fand ein Gipfel statt, auf dem vereinbart worden
ist, dass wir europäische Aufsichtsstrukturen und auch
Haftungsstrukturen zusammenführen. Als erster Schritt
sollte unter dem Dach der EZB, der Europäischen Zentralbank, eine gemeinsame Aufsicht eingerichtet werden.
Das ist gut; das begrüßen wir. Die Kommission ist zum
Arbeiten geschickt worden. In den letzten Tagen ist sie
wiedergekommen und hat ein Papier vorgelegt. Wir sind
nicht mit allem, was in diesem Papier steht, einverstanden, aber wir werden jetzt frohen Mutes in den Verhandlungsprozess hineingehen.
Damit die Bundesregierung in diesem Verhandlungsprozess ein robustes Mandat hat und auch weiß, was der
Deutsche Bundestag über dieses Papier von Herr
Barroso und Herrn Barnier denkt, werden wir der Bundesregierung einige Dinge mit auf den Weg geben.
Herr Kollege, möchten Sie Ihre üppige Redezeit noch
dadurch verlängern, dass Sie dem Kollegen Schick die
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?
Ich weiß jetzt nicht, was er dazwischenfragen möchte,
weil ich ja erst noch etwas sagen möchte, aber er kann
das gerne machen.
Das weiß ich leider auch nicht.
Bitte schön, Herr Kollege.
Bitte.
({0})
Liebe Frau Kollegin, es geht gar nicht so sehr darum,
dass ich viel Zeit habe, aber ich möchte zu Ihrem Antrag
gerne ein paar Fragen stellen, weil wir das im Ausschuss
nicht tun können, da er heute sofort zur Abstimmung
steht.
Ein paar Fragen?
Ja, in der Tat. Hier ist der einzige Ort, an dem ich die
Fragen stellen kann. Deswegen muss ich sie hier stellen.
Mich würde erstens interessieren, was bezogen auf
die Aufsichtsaufgaben der EZB mit einer „ausreichenden demokratischen Kontrolle“ gemeint ist. Soll man die
Stellenbesetzungen vom Europäischen Parlament aus
kontrollieren? Soll es da Auskunftspflichten der EZB gegenüber dem Parlament geben? Ich finde, es ist eine
wichtige Frage, wie die Kontrollmechanismen ausgestaltet sind.
Mich würde zweitens interessieren, wie das mit dem
„Netz nationaler Restrukturierungsfonds“ gedacht ist.
Soll es hier nach Ansicht der Koalitionsfraktionen eine
Überlaufregelung geben oder nicht?
({0})
Drittens würde mich interessieren, was mit „große
systemrelevante und grenzüberschreitend tätige Banken“
gemeint ist. Sind das nur die 25 systemrelevanten Banken, die in dieser Liste stehen, von der wir immer reden,
oder sind darunter auch noch größere Institute im deutschen Raum, wie zum Beispiel die Landesbank BadenWürttemberg oder andere Institute dieser Art?
Ich möchte einfach wissen, was Sie uns hier vorlegen.
An diesen Stellen ist der Antrag in der jetzigen Debatte
für mich nämlich nicht einleuchtend.
Würden Sie diesem Antrag denn zustimmen, wenn
ich Ihre Fragen zufriedenstellend beantworte?
({0})
Das werde ich nachher in meiner Redezeit gerne sagen.
Es ist nicht vorgesehen, dass eine Zwischenfrage der
Beginn eines wunderbaren Dialogs hier im Deutschen
Bundestag ist.
({0})
Herr Brinkhaus, Sie hätten jetzt die Gelegenheit, die
Fragen zu beantworten.
({1})
Ich möchte diese Fragen beantworten. Ich denke, die
erste Frage beantwortet sich im normalen Verlauf meiner
Rede. - Es geht zunächst um die Verknüpfung der nationalen Restrukturierungsfonds. Ich glaube, die erste
Herausforderung ist es, jetzt einen Restrukturierungsfonds aufzubauen, der so groß ist, dass er auch international tätige Banken umfasst. Dann stellt sich die ganz
einfache Frage: Wie gehen wir beispielsweise mit der
Deutschen Bank um? Zahlt sie dann in einen nationalen
Restrukturierungsfonds ein? Zahlt sie in einen europäischen Restrukturierungsfonds ein? Wie erreichen wir da
die Abgrenzung? Das muss also noch geklärt werden.
Wie gesagt, die anderen Fragen klären sich im Laufe
meiner restlichen Rede. Einfach wieder hinsetzen, Herr
Schick, abwarten und danach zustimmen, wenn es gut
war.
({0})
Fangen wir einmal damit an, was wir der Bundesregierung mit auf den Weg geben wollen. Der erste Punkt
ist: Wir wollen mit dem Konstrukt Europäische Zentralbank, die unabhängig ist und die Geldpolitik macht, die
zweite Säule schaffen. Diese zweite Säule ist die Aufsicht. Dann kann aber die Zentralbank nicht unabhängig
sein, sondern die Aufsicht erfolgt im Auftrag der Politik,
des Souveräns. Dementsprechend brauchen wir Mechanismen. Es kann nicht sein, dass ein Aufsichtshandeln
erfolgt und die Europäische Zentralbank sagt: Liebes
Europäisches Parlament, du hast hier nichts zu sagen,
weil wir unabhängig sind. - Das heißt, die Regelungen
zur Aufsicht müssen vernünftig formuliert werden. Wir
müssen eine personelle und organisatorische Trennung
erreichen. Das ist uns wichtig.
Ein zweiter wichtiger Punkt: Die Kommission hat
sehr schnell einen Vorschlag vorgelegt. Für uns geht
Qualität vor Schnelligkeit. Wir haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, wenn Sachen übers Knie gebrochen werden. Wir möchten aber, dass hier etwas Gutes
entsteht, weil wir uns keine Fehler und keinen zweiten
Wurf leisten können.
Der dritte für uns wichtige Punkt ist, dass sich das
Ganze nicht nur auf den Euro-Raum erstreckt, sondern
dass es eine Öffnungsklausel für die Länder gibt, die
nicht zum Euro-Raum gehören. Das heißt, es muss eine
Beitrittsmöglichkeit bestehen.
Der vierte Punkt ist allerdings sehr entscheidend. Auf
dem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni dieses Jahres hat
man unterschiedliche Vorstellungen von dem gemeinsamen Verbund gehabt. Wir als Deutsche hatten die
Vorstellung: Dieses Projekt wird in die Zukunft hineinreichen und wird für die Zukunft stabile Verhältnisse
schaffen. Ich glaube, der eine oder andere südeuropäische Regierungschef hatte so ein bisschen die Vorstellung: Für meine Problembanken soll auf europäische
Ebene eine Lösung gefunden werden, und ich muss mich
dann nicht mehr selber darum kümmern. - Hier besteht
noch eine Menge Klarstellungsbedarf.
Die Restrukturierungsfonds hatte ich bereits angesprochen.
({1})
Wir haben vor zwei Jahren ein Restrukturierungsgesetz
auf den Weg gebracht. Das Restrukturierungsgesetz war
sehr erfolgreich. In den entsprechenden Fonds fließen in
Normaljahren mehr als 1 Milliarde Euro hinein.
({2})
Die Tatsache, Herr Zöllmer - darauf werden Sie gleich
noch eingehen -, dass in den Fonds weniger Geld geflossen ist, liegt einfach daran, dass wir komischerweise
einige Staatsanleihen abschreiben mussten. Welch
Wunder, dass dabei Banken nicht die Gewinne machen,
die wir uns vorgestellt haben.
({3})
Wir wussten gleich, dass uns dieses Restrukturierungsgesetz an Grenzen bringt. Das heißt, die Rettung
der Deutschen Bank wäre auf der Grundlage des
Restrukturierungsgesetzes nicht machbar gewesen. Das
Gleiche gilt wahrscheinlich für eine mittelgroße Landesbank. Deswegen hat diese Bundesregierung, haben die
Koalitionsfraktionen immer auf eine europäische
Lösung gedrängt. Diese muss kommen.
Ein Punkt bereitet insbesondere den Sparkassen und
Volksbanken viele Sorgen. Das ist: Müssen sie jetzt ihre
Einlagensicherungssysteme in einem großen Einlagensicherungssystem auf europäischer Ebene zusammenfassen? Wir denken, das wäre momentan keine vertrauensbildende Maßnahme. Dementsprechend wollen wir die
bewährten nationalen Systeme weiter existieren lassen
und das dann mit einem Kommissionsvorschlag, der
bereits vorliegt, entsprechend abstimmen.
({4})
Am allerwichtigsten ist, dass die Aufsicht das Subsidiaritätsprinzip und das Proportionalitätsprinzip beachtet. Was bedeutet das Subsidiaritätsprinzip? Herr Schick,
bitte drehen Sie sich wieder zu mir um, ich komme jetzt
zu Ihrer letzten noch offenen Frage: Was sind systemische Banken, die europäisch überwacht werden sollen?
Das verändert sich von Jahr zu Jahr. Systemische Banken sind Banken, die ein derartiges Risiko verursachen,
dass das europäische Finanzsystem beschädigt werden
kann. Es muss von Jahr zu Jahr neu entschieden werden,
wer dazugehört. Vielleicht sind das einmal 25 Banken,
vielleicht sind das auch einmal 50 Banken.
({5})
Das ist im Prinzip das Entscheidende.
Wir wollen, dass Banken, die europäisch systemisch
sind, aber auch Banken, die dem europäischen Steuerzahler zur Last fallen, von der EZB zentral überwacht
werden. Wir wollen aber auf der anderen Seite - auch
das heißt Subsidiarität -, dass Dinge, die hier in
Deutschland erledigt werden können, weiterhin von der
nationalen Aufsicht erledigt werden. Das wollen wir der
Bundesregierung mit auf den Weg geben.
Proportionalität heißt in diesem Bereich, dass unterschiedliche Dinge auch unterschiedlich behandelt
werden. Das heißt, die Volksbank Kaunitz bei mir im
Wahlkreis muss nicht mit den gleichen Werkzeugen wie
die Deutsche Bank in Frankfurt, die Santander in Madrid
oder andere Banken überwacht werden. Auch das muss
im europäischen Verhandlungsprozess berücksichtigt
werden. Wir sind optimistisch, dass wir mit dieser Leitlinie, die wir der Bundesregierung mitgeben, erfolgreich
sein werden und ein gutes System bekommen werden.
Jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt, den ich mir
nicht verkneifen kann. Peer Steinbrück hat ein großes
Papier vorgelegt.
({6})
Ich habe großes Verständnis dafür. Peer Steinbrück will
Kanzlerkandidat der SPD werden. Er muss eine Bewerbungsmappe abgeben.
({7})
Normalerweise müsste er sich auch an der Kanzlerin
abarbeiten. Das ist aber momentan schlecht. Die Kanzlerin hat viel Vertrauen in der Bevölkerung. Deshalb hat er
sich ein einfacheres Ziel gesucht: die Banken. Das kann
ich verstehen. Sie sind momentan tatsächlich ein einfaches Ziel. Das ist in Ordnung, auch wenn es nicht besonders originell ist.
Er hat sich dann, wie ich heute gelernt habe, nach
zweijähriger Klausur entschieden, ein Sammelsurium
von Maßnahmen aufzuschreiben, das im Wesentlichen
bis auf einige wenige kleine Ausnahmen in einer Aufzählung von Maßnahmen besteht, die wir bereits umgesetzt haben,
({8})
die momentan in der Umsetzung sind oder die wir momentan intensiv international diskutieren, weil es keinen
Zweck hat, sie allein auf nationaler Ebene durchzuführen.
({9})
Wir freuen uns darüber, dass wir eine große Übereinstimmung haben. Vielen Dank. Auch das ist nicht zu
beanstanden, aber es ist ebenfalls wenig originell. Ich
beanstande es auch nicht, dass jemand, der sich in die
Finanzmarktdiskussion, in der wir alle hier in den letzten
drei Jahren hart gearbeitet und gerungen haben, nicht
eingeschaltet hat, jetzt auf einmal wie Kai aus der Kiste
kommt und sagt: Ich habe jetzt eine Lösung gefunden. Es ist schön, dass er sich wieder einbringt. Auch das ist
nicht zu beanstanden.
Trotzdem ist das Ganze in gewisser Weise auch eine
Zumutung. Es ist deswegen eine Zumutung, weil er
komplett verkennt, was in den letzten drei Jahren passiert ist. Wir haben in den letzten drei Jahren, wenn ich
alle Anträge und Gesetze zusammenzähle, über 20 Projekte gehabt. Wir haben über 50 Debatten geführt und
unglaublich viele Berichterstattergespräche, Anhörungen, Symposien und Ähnliches durchgeführt. Wo war
denn Peer Steinbrück in dieser Zeit?
({10})
Ich wende mich jetzt den Kollegen von der SPD zu.
Ganz ehrlich, irgendwie ist das für Sie doch auch ein
bisschen unangenehm. Sie mühen sich drei Jahre lang
ab, und jetzt kommt jemand, der sagt: Das ist alles nichts
gewesen; ich hab’s jetzt. - Ich würde mir ein bisschen
veralbert vorkommen.
({11})
Das muss man an dieser Stelle einfach sagen.
Was im Grunde genommen auch wenig lustig ist und
so nicht geht, ist die Tatsache, dass der gute Herr
Steinbrück aufgrund seiner guten Erkenntnisse, die er
gewonnen hat, jetzt meint, er hat den großen grünen
Knopf gefunden, und wenn er auf diesen Knopf drückt,
dann wird alles gut. Dieser große grüne Knopf sind die
Trennbanken.
Meine Damen und Herren, wir reden mit unseren
Partnern in Großbritannien und in den USA über das
Trennbankensystem. Wir haben im Übrigen auf EUEbene eine Kommission unter Führung des finnischen
Notenbankchefs Liikanen auf den Weg gebracht, der uns
dazu Vorschläge vorlegen wird. Ich will nicht sagen,
dass Trennbanken grottenfalsch sind. Aber eines ist
Fakt: Die Krise 2008 wäre durch ein Trennbankensystem nicht verhindert worden.
({12})
Fakt ist auch: Ob es die nächste Krise verhindert oder
verschärft, wissen wir ebenfalls nicht. Das heißt, man
kann über die Sache diskutieren und trefflich darüber
streiten, sie aber als Königsweg darzustellen, durch den
alles gut werden soll, halte ich für etwas zu ambitioniert.
Der letzte Punkt ärgert mich wirklich, weil es ein
bisschen zu viel Volksverdummung ist,
({13})
nämlich wenn ein Papier verfasst wird, in dem sinngemäß steht: „Wir machen jetzt das und das und das, und
dann wird alles gut“, und der Eindruck erweckt wird:
Wenn ich in der Regierung bin, dann werde ich das innerhalb von zwei oder drei Wochen umsetzen. - Das ist
doch im Grunde genommen das, was gemacht wird. Die
ganzen Mühen, die da drinstecken, wie die internationale
Abstimmung, weil wir wissen, dass Finanzmarktregulierung auf nationaler Ebene nicht läuft, werden komplett
negiert. Jetzt kommt jemand mit seinen Ideen, und es
wird so getan, als würde das sofort umgesetzt und alles,
was vorher gemacht worden ist, wäre Mist.
Wenn das dann nicht klappt, dann wissen wir, wie das
Ganze bei Herrn Steinbrück weitergeht.
({14})
- Du hast es richtig gesagt: Dann kommt die Kavallerie,
genauso wie bei der Schweiz.
So kann man keine Politik machen. Dementsprechend
kann ich Ihnen nur eines raten: Seien Sie vorsichtig mit
dem, was Sie versprechen. Sie werden es nicht halten
können.
Danke schön.
({15})
Manfred Zöllmer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der Umsetzung der EU-Leerverkaufsverordnung gehen wir grundsätzlich einen richtigen Regulierungsschritt. Denn seit der Finanzmarktkrise wissen wir, wie
schädlich Leerverkäufe sein können. Sie haben ganz wesentlich zu schweren Kurseinbrüchen beigetragen und
dienen letztendlich nichts anderem als Zockerei und sind
damit ein Brandbeschleuniger in der Finanzkrise. Die
Bundesregierung bzw. die EU setzt damit nur das endlich um, was der ehemalige Bundesfinanzminister Peer
Steinbrück, den Sie eben erwähnt haben
({0})
- ich würde da nicht lachen -, bereits 2008, auf dem
Höhepunkt der Finanzkrise, gemacht hat, als er im
Herbst 2008 ungedeckte Leerverkäufe untersagte.
({1})
Nach einem eineinhalbjährigen Verbot war es die
schwarz-gelbe Regierung, die diese Leerverkäufe dann
wieder erlaubt hat.
({2})
Erst im Mai 2010 besann man sich und verbot wieder
bestimmte hochspekulative Finanztransaktionen.
Allein dieses Beispiel, Herr Brinkhaus, belegt sehr
deutlich das ganze unentschlossene Hin und Her dieser
Bundesregierung, der schwarz-gelben Koalition, wenn
es um Fragen der Regulierung der Finanzmärkte geht.
Häufig versuchen Sie, sich einfach mit virtueller Regulierung aus der Affäre zu ziehen, in der Hoffnung, die
Menschen würden das schon nicht merken, weil wir es
hier nun wirklich mit schwer verdaulicher Kost zu tun
haben.
Sie, Herr Brinkhaus, und der Kollege Flosbach haben
sich bei der Vorstellung des Steinbrück-Papiers zur
Regulierung öffentlich echauffiert. Sie haben es hier gerade noch einmal getan. Der Kollege Flosbach hat gesagt, seit drei Jahren arbeite die Regierung an der Regulierung der Finanzmärkte.
({3})
Arbeit allein genügt aber nicht. Es müssen auch die richtigen Ziele verfolgt werden.
({4})
Wenn von Frau Merkel als Ziel Ihrer Politik ausgegeben
wird, dass Sie eine marktkonforme Demokratie wollen,
dann kann bei der Regulierung natürlich nichts Vernünftiges herauskommen.
({5})
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. In dem Teil des
vorliegenden Gesetzentwurfs, den Sie verändern durften,
sehen Sie eine geteilte Zuständigkeit für den Erlass zeitlich befristeter Leerverkaufsverbote vor. Sie haben das
dankenswerterweise ausgeführt. Der Börsenvorstand
soll für Verbote zuständig sein. Damit haben wir insgesamt ein Problem. Nicht nur der Bundesrat hat in seiner
Stellungnahme eine einheitliche Zuständigkeit der BaFin
gefordert. Auch in der Anhörung ist von den meisten
Sachverständigen genau dieser Punkt kritisch beleuchtet
worden.
({6})
Warum? Sie öffnen damit Schlupflöcher für Spekulanten. Das ist nichts anderes als Regulierung light. Denn
wenn die örtliche Börsenaufsicht die gefährliche Zockerei an einer Börse verbietet, besteht für diejenigen, die
zocken, immer noch die Möglichkeit, auf andere Börsenplätze auszuweichen. Dieses Schlupfloch haben Sie
offen gelassen. Und Sie wissen das. Damit wird der
Zweck der Leerverkaufsverbote, die Unterbindung des
Leerverkaufs, im Zweifelsfalle in einer Krisensituation
ad absurdum geführt.
({7})
Das ist Regulierung light. Sie sehen: Arbeit allein genügt
nicht. Man muss auch die richtigen Maßnahmen ergreifen.
({8})
Nun regen Sie sich über die Vorschläge zur Bankentrennung auf. Als ob die Bankentrennung das Übel wäre
und nicht die Zockerei! Sie haben doch bei Ihren Maßnahmen, die Sie selbst immer hochjubeln, weil es sonst
keiner tut, scheunentorgroße Schlupflöcher bei den Bankerboni offen gelassen. Ich erinnere an die Commerzbank-Vorstände, die sich dann bedienen konnten. Sie haben dazu gesagt: Das sieht das Gesetz nun einmal vor.
Sie haben versprochen, die Banken an den Kosten der
Krise zu beteiligen. Was ist geschehen? Nichts. Sie
wollen jetzt den Hochfrequenzhandel regulieren, habe
ich gelesen, aber ohne eine Haltefrist. Damit wird die
Regulierung wieder vollständig ausgehebelt. Denn den
Hochfrequenzhandel können Sie nur dann eindämmen,
wenn Sie auch eine Haltefrist einführen.
({9})
Restrukturierungsfonds: Sie haben eben selbst gesagt,
dass da nichts im Topf ist.
({10})
Das heißt, in einer Krisensituation haben wir keine
Munition. Das, was Sie gemacht haben, wirkt nicht.
({11})
Wir haben es Ihnen gesagt. Finanztransaktionsteuer:
Was ist daraus geworden? Bisher nichts.
Wie plan- und hilflos diese Koalitionsfraktionen häufig agieren, sieht man auch an der heutigen Tagesordnung. Wir sollten hier eigentlich eine halbe Stunde über
Leerverkäufe diskutieren. Flugs haben Sie noch einen
Antrag zur Bankenunion untergeschoben. Als ob das ein
völlig unwichtiges Thema ohne große Relevanz wäre!
({12})
Wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Relevanz dieses Themas ist klar. Es ist für die Euro-Rettung und die
zukünftige Struktur der Finanzmärkte von entscheidender
Bedeutung, wie wir diese Probleme lösen. Das scheint allen klar zu sein, nur nicht den Koalitionsfraktionen. Sie
wollen noch nicht einmal Redezeit dafür opfern und pressen das in eine halbstündige Debatte. - Lieber Herr Kollege Brinkhaus, wenigstens jetzt könnten Sie zuhören. Wie peinlich ist es eigentlich, wenn Sie dies noch nicht
einmal zu einem eigenständigen Tagesordnungspunkt
machen?
({13})
Kann man noch deutlicher machen, wie gering Ihr Gestaltungswille bei zentralen Zukunftsfragen Deutschlands und Europas eigentlich ist? Ich kann das nicht verstehen.
({14})
Warum haben Sie nicht den Versuch unternommen,
sich in wesentlichen Fragen der zukünftigen Finanzmarktpolitik in Europa mit den anderen Fraktionen wenigstens abzustimmen, wenigstens einmal ein Gespräch
zu führen, um herauszufinden, ob es nicht eine gemeinsame Positionierung gibt? Es geht doch um wichtige
Fragen. Die Sparkassen beispielsweise schalten ganzseitige Anzeigen. Es geht um fundamentale deutsche Interessen. Aber Sie versuchen, dieses Thema totzumachen.
Ich sage Ihnen: So geht es nicht.
Wir haben jetzt nicht die Gelegenheit, auf einzelne Inhalte und Punkte, die Sie angesprochen haben, einzugehen, weil Sie mit Ihrem Vorgehen eine Debatte über dieses Thema unmöglich machen. Ich sage Ihnen: Wir
werden uns in der Abstimmung über den Gesetzentwurf
zum Thema Leerverkäufe enthalten - warum, habe ich
bereits begründet - und Ihren Antrag ablehnen. In dieser
Form geht es nicht. Das erinnert mich an den ehemaligen
Trainer von Bayern München Trapattoni, der einmal gesagt hat: Flasche leer!
({15})
Ich sage Ihnen: Genau das trifft auf diese Koalition wirklich zu.
Vielen Dank.
({16})
Der Kollege Dr. Volker Wissing hat für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, die Gegenwart
und die Zukunft kann man gestalten. Mit seiner Vergangenheit muss man leben. Ich weiß, dass Sie als Sozialdemokraten gerne auf die Ära sozialdemokratischer
Finanzminister in der Form zurückblicken würden, dass
Sie mit Stolz auf deren knallharte Regulierungspolitik
verweisen könnten. Ihre Vergangenheit sieht aber anders
aus, und mit der müssen Sie leben.
({0})
Die Zeit, als die Sozialdemokratie Verantwortung für das
Finanzressort in Deutschland trug, war geprägt von einer
Politik der Deregulierung der Finanzmärkte, die zusammen mit den Grünen betrieben wurde.
({1})
Als Peer Steinbrück, der heute den Eindruck zu erwecken versucht, er sei ein Bändiger der Finanzmärkte,
Regierungsverantwortung hatte, hat er sich mit Finanzmarktregulierung nicht befasst.
({2})
Nachdem er dann die Regierungsverantwortung verloren
hatte, die Finanzkrise eskaliert war und die christlichliberale Koalition Verantwortung übernommen hat, hat
Finanzmarktregulierung in Deutschland stattgefunden.
Ratingagenturen wurden unter Aufsicht gestellt - CDU/
CSU und FDP. Leerverkäufe wurden verboten - CDU/
CSU und FDP. Gesetz zur Beschränkung des Hochfrequenzhandels - CDU/CSU und FDP.
({3})
Die Reihe können Sie fortsetzen: Bankenrestrukturierungsfonds - CDU/CSU und FDP. Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise - CDU/CSU und FDP.
Schaffung von Aufsichtsstrukturen auf europäischer
Ebene - CDU/CSU und FDP. Sie waren jedenfalls nie
dabei. Sie haben auch nie eigene Vorschläge gemacht.
({4})
Nun kommt Ihr ehemaliger Finanzminister, der Regulierungsverweigerer in Deutschland, wie Kai aus der
Kiste - so hat es der Kollege Brinkhaus zu Recht formuliert - und sagt: Wir müssen einen großen Katalog an
Regulierungsmaßnahmen auf den Weg bringen.
({5})
Dabei hat er noch nicht einmal bemerkt, dass sein Forderungskatalog genau das enthält, was CDU/CSU und FDP
umgesetzt haben; er aber nicht, als er in der Regierung
war.
({6})
Was Sie machen, ist deswegen nichts anderes als
Regulierungsklamauk. Sie legen die Menschen, die hier
sitzen oder zuschauen, herein, indem Sie ihnen die
Geschichte von der Sozialdemokratie als Finanzmarktregulierer erzählen. Dabei haben Sie mit der Regulierung der Finanzmärkte nichts, aber auch gar nichts zu
tun. Regulierungspolitik ist das Werk der christlich-liberalen Koalition.
({7})
Wir haben Verantwortung und Haftung wieder zusammengeführt. Das ist die Leistung dieser Bundesregierung.
({8})
Wie ich sehe, möchte Herr Schick eine Zwischenfrage stellen. Wenn die Uhr angehalten wird, lasse ich
sie zu. - Bitte, Herr Schick.
({9})
Danke. - Ich will es konkret machen, um die Position
der Koalition zu verstehen. Welche Banken sollen europäisch beaufsichtigt werden?
({0})
- Nein, das war nicht eindeutig. - Es geht mal um 25,
mal um 50 Banken. Es stellt sich konkret die Frage, welche es sein sollen. Das ist die große Streitfrage. Das wird
aus Ihrem Antrag nicht deutlich. Ich möchte wissen, ob
nach dem Willen der Koalitionsfraktionen Banken wie
die Landesbank Berlin mit einer Bilanzsumme von
129 Milliarden Euro, die Berlin Hyp mit einer Bilanzsumme von 38 Milliarden Euro oder die Sparkasse
KölnBonn mit einer Bilanzsumme von 29 Milliarden
Euro europäisch oder national beaufsichtigt werden sollen. Wie sollen wir den Antrag verstehen?
Meine zweite Frage ist, wie das mit den nationalen
und europäischen Restrukturierungsfonds geplant ist.
Ich habe den Kollegen Brinkhaus so verstanden, dass es
einen europäischen Restrukturierungsfonds und nationale Restrukturierungsfonds geben soll. Im Antrag ist
nur von nationalen Restrukturierungsfonds die Rede. Ich
würde gerne verstehen, was die Verhandlungslinie der
Koalition in Bezug auf dieses System von Restrukturierungsfonds ist.
Zunächst zu Ihrer Frage, welche Banken auf europäischer Ebene und welche auf nationaler Ebene beaufsichtigt werden sollen. Sie können das nicht so machen, wie
sich das Peer Steinbrück in seiner Welt vorstellt. Danach
werden alle Banken, die heute systemrelevant sind, auf
europäischer Ebene beaufsichtigt und alle anderen auf
rein nationaler Ebene; denn - das ist in der Debatte heute
schon gesagt worden - das kann sich verändern. Es gibt
Banken, die sich von nicht systemrelevanten Banken zu
systemrelevanten Banken entwickeln können.
({0})
Das war in Deutschland bei der Hypo Real Estate der
Fall. Das hätte ein früherer Finanzminister eigentlich
wissen können, aber mit den Dingen hat er sich schon
damals nicht richtig beschäftigt.
({1})
Wenn Sie sehen, dass man sich damals bei der Hypo
Real Estate monatelang in Deutschland gestritten hat, ob
die Bank systemrelevant ist oder nicht, dann erkennen
Sie auch, dass es keinen Sinn macht, dass man einen klaren Schnitt macht und sagt: Die Banken, die heute sysDr. Volker Wissing
temrelevant sind, werden europäisch beaufsichtigt, die
anderen nur national. - Denn die Instanz, die für die
Kontrolle systemrelevanter Banken zuständig ist, muss
auch die Banken im Blick haben, die jederzeit systemrelevant werden können. Genau das steht in unserem Antrag. Wir wollen die Konzentration der europäischen
Aufsicht auf die Systemrelevanz und die grenzüberschreitende Tätigkeit, wir wollen aber auch, dass sie systemische Risiken jederzeit aufgreifen kann.
Das muss jetzt - wir befinden uns ja nicht in einem
Gesetzgebungsverfahren, sondern es handelt sich bei
unserer Vorlage um einen Antrag - mit den europäischen
Partnern institutionell so auf den Weg gebracht werden,
dass es den Anforderungen des Deutschen Bundestages
genügt. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Antrag
heute beraten wird. Sie können auch einen eigenen Antrag einbringen, wenn Sie eigene Vorstellungen haben.
Peer Steinbrück hat bisher nur ein Papier für die Medien
mit viel Klamauk gemacht, aber einen eigenen Antrag
der SPD gibt es nicht. Vielleicht kommt einer von den
Grünen.
({2})
Jetzt komme ich zu der zweiten Frage, der nach den
Restrukturierungsfonds. Peer Steinbrück lässt hier von
seinen sozialdemokratischen Freunden vortragen, der
deutsche Restrukturierungsfonds sei nicht ausreichend
gefüllt. Gleichzeitig schlägt er vor, dass der Hauptzahler
in den deutschen Fonds künftig in einen europäischen
Restrukturierungsfonds einzahlen soll. Darüber müssen
Sie sich einmal mit Herrn Steinbrück unterhalten. Das
passt nämlich nicht zu dem, was Sie, Herr Zöllmer, hier
vorgetragen haben.
({3})
Dieser europäische Restrukturierungsfonds macht
doch nur dann Sinn, wenn es eine auf europäischer
Ebene exekutiv handelnde Instanz gibt, die in einer Rettungsnacht - wir wissen beide, wie so etwas abläuft; wir
waren zusammen im Untersuchungsausschuss zur Hypo
Real Estate - auch handeln kann. Einen europäischen
Fonds zu schaffen und in diesen die Hauptsummen einzuzahlen, aber am Ende niemanden zu haben, der in
einer Rettungssituation darüber entscheidet, wie restrukturiert wird, das ist Peer Steinbrücks Politik. Wir haben
da andere Vorstellungen. Wir wollen einen handlungsfähigen Staat haben, damit nicht am Ende der Steuerzahler
wieder die Zeche bezahlt, wie es bei dem Konzept von
Peer Steinbrück der Fall ist; die Zeche soll vielmehr aus
dem Restrukturierungsfonds bezahlt werden, den die
Banken gespeist haben. Das verbirgt sich hinter dem Antrag. Er dient dem Schutz der Steuerzahler, damit sie
nicht wieder sozialdemokratischer Deregulierungspolitik
preisgegeben werden.
({4})
- Man muss die Dinge klarrücken. Es hilft nichts, wenn
Sie sich die Welt schönreden. Noch einmal: Sie müssen
mit dieser Vergangenheit leben. Sie hatten die Verantwortung und haben sie leider nicht wahrgenommen.
({5})
Das, was wir in dem Bereich Leerverkaufsverbot auf
den Weg gebracht haben, ist eine Blaupause für Europa.
Jetzt geht es darum, dass die Beschlüsse, die auf europäischer Ebene gefasst worden sind, so konkretisiert werden, dass sie den Anforderungen genügen, die wir für
unser Land für wichtig und erforderlich halten. Das bedeutet für die europäische Aufsicht, dass es eine Einbeziehung der Europäischen Zentralbank geben kann, genauso wie wir national die Deutsche Bundesbank mit
ihrem Sachverstand und ihrer Kompetenz in die Beaufsichtigung einbeziehen. Aber selbstverständlich brauchen wir eine strikte Trennung zwischen Aufsichtspolitik und Geldpolitik, und das kommt in diesem Antrag
klar zum Ausdruck. Deswegen empfehle ich Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, diesem Antrag zuzustimmen.
Dieser Antrag ist wichtig. Er stellt wichtige Weichen
für eine solide, eine schlagkräftige europäische Aufsicht.
Deswegen ist keine Eile geboten, sondern Sorgfalt.
Wichtig ist auch, der Bundesregierung Rückendeckung
zu geben, sie in ihrer Haltung zu stärken, dass es nicht
darauf ankommt, jetzt ganz schnell eine europäische
Aufsicht zu schaffen, sondern darauf, eine solide, sorgfältig verhandelte europäische Aufsichtsinstanz auf den
Weg zu bringen. Darauf kommt es an.
Die weiteren Punkte sind schon genannt worden. Wir
wollen keine europäische Einlagensicherung, sondern
wir wollen nationale Verantwortung für die Einlagensicherung. Wir wollen keine Missachtung des Subsidiaritätsprinzips, zugleich jedoch die systemische Kontrolle
durch die europäische Instanz jederzeit gewährleisten.
Auch das kommt in dem Antrag zum Ausdruck. Wir lehnen außerdem - das habe ich schon deutlich gemacht die Schwächung der nationalen Restrukturierungsfonds,
wie Peer Steinbrück sie will, ab.
Ich glaube, dass wir mit diesem Konzept den richtigen Ansatz haben. Es wird nicht leicht sein, eine europäische Struktur aufzubauen; aber es ist notwendig. Wir
sind es den Menschen schuldig, die in der Vergangenheit
die Defizite der Aufsicht erlebt haben.
({6})
- Sie können ja darüber lächeln. Aber die Leute können
sich noch gut daran erinnern: Damals gab es keinen
Finanzminister, der verhindert hätte, dass die Steuerzahler einspringen müssen.
({7})
Wir stehen hinter der Bundesregierung. Wir unterstützen sie bei ihren Bemühungen auf europäischer Ebene.
({8})
Wir wissen dieses Projekt bei Bundesfinanzminister
Schäuble in guten Händen. Wir wissen, dass die Bundeskanzlerin eine außerordentlich starke Durchsetzungskraft auf europäischer Ebene hat. Nach Annahme dieses
Antrags wird sie mit voller Rückendeckung des Deutschen Bundestages auf europäischer Ebene verhandeln
können. Wir werden eine gute Aufsicht auf europäischer
Ebene bekommen, genauso wie wir mit dieser Regierung und dieser Koalition die beste nationale Finanzmarktregulierung bekommen haben, die wir jemals in
Deutschland hatten. Was Sie als Lücke hinterlassen
haben, konnten wir durch Kompetenz ausfüllen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Zöllmer hat bereits darauf hingewiesen,
dass wir durch die kurzfristige Einbringung eines neuen
Antrags auf einmal zwei völlig unterschiedliche Themenfelder zu behandeln haben. Ich will mich jetzt auf
diesen Antrag zur sogenannten Bankenunion konzentrieren, wobei ich keinen Hehl aus meiner Meinung zu diesem Begriff mache. In meiner Fraktion werde ich immer
gefragt, ob damit die bankenfreundliche Unionsfraktion
mit ihrer Lobbypolitik für Großbanken und den entsprechenden Spenden, die man bekommt, gemeint ist.
({0})
Der Begriff „Bankenunion“ ist also völlig fehl am Platz.
Mit diesem Begriff meint man aber in der Tat, dass ein
neues, gemeinsames europäisches System aus Aufsicht,
Einlagensicherung und Krisenmechanismen für die europäischen Banken gefunden werden soll.
Das Ganze ist kurzfristig verabredet worden in der
Nacht vom 28. auf den 29. Juni, als es darum ging, ob
auch spanische Banken Mittel aus dem ESM bekommen.
Da war die deutsche Verhandlungsposition: Das geht
nur, wenn es bis zum Jahresende eine europäische Bankenunion gibt. Dazu gibt es einen Vorschlag der Kommission, der in der Tat völlig unausgereift ist. Es war genau diese Bundesregierung, die auf dem nächsten Gipfel
gesagt hat: Das muss jetzt wieder weg. Das muss auf die
lange Bank geschoben werden, weil in der Tat völlig unklar ist, was hier wie in welcher Institution geregelt werden soll. - Das macht noch einmal deutlich, dass es dringend erforderlich ist, dass wir darüber im Bundestag
ausführlich diskutieren, statt uns in einer Sofortabstimmung, quasi am Finanzausschuss vorbei, mit diesem
Themenfeld zu beschäftigen.
({1})
In der Tat, wir brauchen eine solche europäische Bankenaufsicht. Aber wo die Aufsicht dann wirklich angesiedelt ist, ob sie bei der EZB oder bei der Europäischen
Bankaufsichtsbehörde, also bei der EBA, richtig angesiedelt ist, das muss man in Ruhe diskutieren. Es gibt auf
europäischer Ebene nämlich genau die gleichen Probleme wie in Deutschland. Im Koalitionsvertrag haben
Sie ja zunächst festgelegt, die nationale Bankenaufsicht
solle bei der Bundesbank angesiedelt werden. Doch
dann haben Sie andere Konsequenzen gezogen: Letztlich
haben Sie eine entsprechende Aufsicht bei der BaFin
organisiert.
Wir brauchen kurzfristig die Rekapitalisierung einiger
Banken aus gemeinsamen Mitteln, zum Beispiel über
den ESM. Aber das darf aus unserer Sicht natürlich nicht
mit völlig verfehlten Auflagen für die Staaten verbunden
sein,
({2})
und es muss in der Tat von den Verursachern der Krise
finanziert werden. Die Stichworte sind heute Morgen gefallen: Vermögensteuer, Vermögensabgabe, Finanztransaktionsteuer, Abgabe systemrelevanter Banken.
Wir müssen also dringend Maßnahmen ergreifen,
aber diese Maßnahmen werden nicht ausreichen. Neben
einem Bankenrettungsfonds müssen wir auch auf ein Zurechtstutzen der Größe der Banken abstellen und Banken
massiv verkleinern, um so das Systemrisiko herunterzufahren. Aus unserer Sicht - das wurde angesprochen ist der Vorschlag, Trennbanken einzuführen,
({3})
noch unzureichend. Ich glaube nämlich, man muss nicht
nur trennen, sondern bestimmte Geschäfte komplett unterbinden, erst entsprechend zusammenschrumpfen und
letztendlich verbieten.
({4})
Das heißt aus unserer Sicht - und das ist die Grundidee -, dass ein Finanz-TÜV einzurichten ist. Nur die
Bankgeschäfte sind dann erlaubt, die vorher genehmigt
worden sind, weil sie relevant, systematisch und sinnvoll
sind. Das muss sozusagen im Mittelpunkt stehen.
({5})
Ganz kurz zum EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz.
Natürlich ist dies vom Prinzip her eine vernünftige Aktivität - Sie haben sich auch lange genug und oft genug
dafür entsprechend gelobt -, aber das Gesetz ist unzureichend; Kollege Zöllmer hat auf viele Fehler hingewiesen. Es regelt schließlich nur einen kleinen Bruchteil des
gesamten Finanzmarktgeschäftes. Insofern gilt: Das
Haus brennt, aber Sie erlassen erst einmal Rauchverbote.
Das ist unzureichend, und deswegen werden wir uns in
diesem Fall auch enthalten. Die Grundrichtung stimmt
zwar, aber es reicht leider nicht.
Danke.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Dr. Gerhard Schick das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Punkte sind anzusprechen. Das eine ist das Thema
Leerverkäufe, das andere die Bankenunion.
Kurz zum ersten Thema: Es ist richtig, ungedeckte
Leerverkäufe zu verbieten; dieses findet jetzt bei Staatsanleihen statt. Deshalb sind weitere Schritte bei anderen
Finanzprodukten notwendig. Die Verordnung auf europäischer Ebene stellt mehr Transparenz her, und sie gibt
auch nationaler und europäischer Aufsicht entsprechende Befugnisse, um einzugreifen. Das ist richtig, und
wir Grünen haben uns im Europaparlament mit dem grünen Berichterstatter Pascal Canfin aktiv dafür eingesetzt,
dass es ein generelles Verbot ungedeckter Leerverkäufe
gibt und dass es auch klare Regeln für die Eindeckungsverfahren bei Leerverkäufen gibt, sodass Anreize für
schädliche Spekulationen verhindert werden.
Das sind wichtige Schritte, die auf europäischer
Ebene unter aktiver grüner Mitwirkung vorangebracht
worden sind. Jetzt haben wir in Deutschland die Umsetzung vor uns. Es ist wichtig, dass es jetzt vorangeht.
Aber der Fehler bleibt natürlich, dass Sie nicht die
BaFin, die Finanzaufsicht, damit beauftragen, das umzusetzen, sondern dass es den Börsen überlassen wird.
Sie machen immer wieder den Fehler, dass Sie auf die
eigeninteressierten Marktakteure vertrauen. Damit haben Sie genau das nicht aus der Krise gelernt, was in vielen Diskussionen - ich erinnere mich an einige Reden
hier - immer wieder gesagt worden ist: Die Selbstregulierung, auf die man vertraut hat, hat nicht funktioniert.
Daraus muss man Konsequenzen ziehen und muss zusehen, dass es wirklich unabhängige staatliche Aufsichtsbehörden gibt, die in den Markt eingreifen können.
({0})
Zum zweiten Punkt, der Bankenunion. Was Sie uns
heute vorgelegt haben, ist offensichtlich sehr kurzfristig
unter großer Hektik entstanden, sodass wir dieses Thema
heute in einer Art und Weise behandeln, die diesem
Thema und seiner Bedeutung nicht angemessen ist.
({1})
Es ist nicht nur so, dass es kurzfristig gemacht wurde.
Vielmehr waren beide Redner der Koalition nicht in der
Lage, die entscheidenden Fragen hier zu beantworten.
({2})
Die erste Frage, die ich gestellt habe, lautete: Wie sehen die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten für
das Europäische Parlament aus? Man muss doch eine
Verhandlungslinie haben, wenn man der Bundesregierung irgendetwas mitgibt. Das kann doch nicht ein bisschen Blubb-blubb sein. Vielmehr besteht die zentrale
Herausforderung darin, dass trotz dieser neuen Mechanismen in Europa die Demokratie nicht auf der Strecke
bleibt.
Deswegen will ich die Frage für unsere Fraktion beantworten: Wir wollen, dass das Europäische Parlament
bei den Stellenbesetzungen im Bereich Bankenaufsicht
konkrete Mitwirkungsrechte erhält. Wir wollen, dass die
Europäische Zentralbank im Bereich Bankenaufsicht
dem Europäischen Parlament Auskünfte geben muss,
also eine klare Auskunftspflicht besteht, sodass es nicht
im Ermessen der Zentralbank steht, was sie erzählt. Wir
wollen, dass es die Pflicht zur regelmäßigen Berichterstattung gibt. Das muss ganz klar festgelegt werden. Es
wäre notwendig, dies in einem solchen Antrag ganz klar
darzustellen.
({3})
- Das steht da so allgemein, dass Sie alles Mögliche darunter fassen können.
({4})
Die zweite Frage lautete: Welche Banken sind denn
drin? - An dieser Stelle ist es ganz wichtig, noch einmal
zurückzublicken. Im Jahr 2008 gab es bereits den Vorschlag, auf europäischer Ebene gemeinsam die Restrukturierung, Abwicklung oder Sanierung von Banken vorzunehmen. Die deutsche Bundesregierung, damals von
der Großen Koalition getragen, hat das abgelehnt. Das
ist einer der zentralen Fehler im Krisenmanagement gewesen.
Im Jahr 2010 hat das Europäische Parlament vorgeschlagen, den europäischen Aufsichtsbehörden klare
Durchgriffsrechte zu geben und Großbanken unmittelbar
auf europäischer Ebene zu beaufsichtigen. Die deutsche
Bundesregierung, damals schon von Schwarz-Gelb getragen, war dagegen.
Jetzt endlich sind Sie auch darauf gekommen, dass es
eine europäische Aufsicht braucht, wenn man eine Augenhöhe zwischen Großbanken und staatlicher Aufsicht
hinbekommen will. Ihre Erkenntnis kommt sehr, sehr
spät. Es ist eine 180-Grad-Wende. Hoffen wir, dass es
diesmal gelingt.
({5})
Unser Vorbild ist, dass es in den USA gelungen ist,
mehr als 450 Regionalbanken abzuwickeln, statt mit
dem Geld der Steuerzahler zu retten;
({6})
für diese Banken mussten die Steuerzahler nicht aufkommen. Das muss auch in Europa das Ziel sein. Jetzt
stehen Sie allerdings wieder auf der Bremse und machen
nicht klar, was Sie wollen. Sie sagen, es soll doch irgendwie nicht richtig europäisch sein. Nach den Antworten von Herrn Brinkhaus und Herrn Wissing ist völlig unklar geblieben, wie das Verhältnis zwischen dem
europäischen und den nationalen Restrukturierungsfonds
aussehen soll. Unsere Vorstellung ist: Es gibt einen europäischen Restrukturierungsfonds, der in der Lage ist,
auch größere Banken abzuwickeln.
Die nächste Frage lautete: Wer ist von der Aufsicht eigentlich eingeschlossen? Ich möchte die konkret gestellte Frage für unsere Fraktion beantworten: Institute
wie die Landesbanken gehören unter eine europäische
Aufsicht, weil sie eben nicht klar abgegrenzte regionale
Geschäftstätigkeiten ausüben, so wie kleine Sparkassen,
und weil sie von den hiesigen Institutssicherungen im
Zweifelsfall nicht gerettet werden könnten. Dieses genau
müssen wir tun.
Ich fordere Sie auf, mit mehr Klarheit heranzugehen
und vor allem die Perspektive für einen europäischen
Restrukturierungsfonds, für klare demokratische Kontrolle und für eine Aufsicht, die wirklich Durchgriffsrechte hat, zu unterstützen und nicht wieder wie 2008
und 2010 auf der Bremse zu stehen. Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10854, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/9665 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDPFraktion bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
({0})
- Enthaltung der Oppositionsfraktionen, Entschuldigung. Das war schon einmal der Aufmerksamkeitstest.
Wir kommen nachher noch zu sehr vielen Abstimmungen. Ich bedanke mich für den Hinweis.
Zusatzpunkt 7. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/10781 mit dem Titel „Bankenunion Subsidiaritätsgrundsatz beachten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit bekämpfen
- Drucksachen 17/5759, 17/6930 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Pascal Kober
Katrin Werner
Volker Beck ({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6930,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5759 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke,
Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Joachim Günther ({4}),
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwicklung durch Wachstum - Der Beitrag
der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der
Millenniumsziele
- Drucksachen 17/9423, 17/9892 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Sascha Raabe
Joachim Günther ({5})
Heike Hänsel
Ute Koczy
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind auch hier einverstanden.1)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9892, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf Drucksache 17/9423 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({6}), Volker Beck ({7}), Marieluise
Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen Konflikt erhalten Entwicklung der C-Gebiete in der Westbank
fördern - Abrissverfügungen für Solaranlagen
stoppen
- Drucksache 17/9981 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({10}), Volker Beck ({11}), Marieluise
Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zwei-Staaten-Perspektive für eine friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen
Konflikts retten
- Drucksache 17/10640 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben bereits vor einem Jahr über den palästinensischen Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationen
debattiert. In diesem Monat, gerade in dieser Woche, findet wiederum die UN-Generalvollversammlung statt. Zu
diesem Zeitpunkt ist dieses Anliegen völlig in den Hintergrund getreten, nicht nur, weil Iran und Syrien die
Nahostdebatte inzwischen dominieren, sondern auch
- das muss man ganz klar und generell sagen -, weil das
vergangene Jahr für eine friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes ein verlorenes Jahr
war. Es war wieder einmal ein Jahr ohne substanzielle
Friedensverhandlungen. Es war ein Jahr von weiterem
massiven Siedlungsausbau und verstärken Angriffen
durch israelische Siedler. Es war auch ein Jahr der dramatischen Verschlechterung der Wirtschaftslage in der
Westbank.
Man muss festhalten, dass es 19 Jahre nach Oslo immer noch keinen palästinensischen Staat gibt. Im Gegenteil: Das international akzeptierte Konzept von zwei
Staaten zur Regelung des Konfliktes verkommt immer
mehr zur Bedeutungslosigkeit. Alternativen sind nicht in
Sicht. Auch deshalb haben wir uns heute entschlossen,
noch einmal zwei Anträge für die Zweit-Staaten-Regelung in den Bundestag einzubringen.
({0})
Es gibt keinen palästinensischen Staat. Es gibt in Zonen geteilte palästinensische Gebiete. Es gibt den Gazastreifen, der von der Hamas beherrscht wird. Dann gibt
es die Westbank, die in drei Zonen geteilt ist: Zone A
wird komplett von den Palästinensern kontrolliert. Zone
B kontrollieren zwar die Palästinenser, aber die Israelis
sind für die Sicherheit verantwortlich. Zone C wird allein von israelischer Seite kontrolliert; sie umfasst immerhin 62 Prozent der Westbank.
Ich habe im März dieses Jahres ein palästinensisches
Dorf in der Zone C besucht. Sie kennen meine Position
zum Nahostkonflikt; ich sehe vieles durchaus auch kritisch. Aber die Lebensbedingungen der Palästinenser in
dieser Zone C sind wirklich erschütternd.
({1})
Sie sind erschütternd, und trotzdem gibt es dort Projekte,
die auch Hoffnung machen. In diesem Dorf beispiels-
weise wurde die Versorgung mit elektrischem Strom
durch ein Windrad und durch Solarpanels sichergestellt.
Es handelt sich um ein sehr kleines Projekt von wenigen
Israelis - medico international -, finanziert durch das
Auswärtige Amt.
Dieses Projekt ist wie andere Projekte diese Art, die
von der EU unterstützt werden, nun vom Abriss der ent-
sprechenden Anlagen bedroht. Warum? In den C-Gebie-
ten gibt es keine Bebauungspläne. Die Palästinenser
können keine Anträge auf Baugenehmigungen stellen;
deshalb werden solche Projekte illegal durchgeführt, und
dann kommt es eben zu jenen Abrissverfügungen.1) Anlage 4
Kerstin Müller ({2})
Warum berichte ich davon? Nach Aussage aller Experten ist völlig klar: Ohne die Entwicklung der C-Gebiete wird es keinen lebensfähigen palästinensischen
Staat oder ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum
für einen solchen noch zu gründenden Staat geben.
({3})
Deshalb habe ich mich entschlossen, hierzu einen Antrag zu erarbeiten, wenngleich die Hintergründe allgemein kaum bekannt sind. Es gibt nämlich Versorgung in
den C-Gebieten. Die findet aber nur für die jüdischen
Siedler statt, nämlich für den massiven Ausbau ihrer
Siedlungen, der dort leider betrieben wird.
Wenn wir zusammen mit der internationalen Gemeinschaft an der Zwei-Staaten-Regelung festhalten wollen,
wenn wir sagen, dass es dazu keine Alternative gibt,
dann muss der israelischen Seite unmissverständlich
klargemacht werden, dass ihre Politik in den C-Gebieten, die auf eine Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung hinausläuft - viele dieser Menschen verlassen
diese Gebiete nämlich -, absolut inakzeptabel ist.
({4})
Es muss auch hier endlich demokratische Planungsverfahren geben, die in die Verantwortung der palästinensischen Autonomiebehörde gehören. Die Abrissverfügungen müssen gestoppt werden. Eine Politik „on the
ground“, die die internationale Politik unterminiert,
muss beendet werden.
Darüber hinaus muss die EU auch endlich zu einem
gemeinsamen Handeln kommen. Die Palästinenser werden in der UN-Generalversammlung zunächst einmal die
Aufwertung ihres Status beantragen. Dafür werden sie
eine Mehrheit bekommen. Ich glaube jedoch, dass es unabhängig von dieser Mehrheit wichtig ist, dass gerade
die Europäer an dieser Stelle einmal gemeinsam Zustimmung signalisieren, weil diese natürlich noch ein ganz
anderes Gewicht in diesem Konflikt hat. Die Palästinenser warten jedenfalls darauf.
Ich hoffe, dass es weitere Initiativen gibt, dass wir
weiter in diesem Sinne handeln werden. Die Vorstellung,
in der derzeitigen Lage ließe sich wegen der Unsicherheiten im Hinblick auf den palästinensischen Konflikt
nichts machen, ist nach meiner Überzeugung ebenso
falsch wie die Vorstellung, dass Fortschritte bei der Regelung automatisch zu einer Lösung der vielfältigen
Spannungen und Konflikte führen würden. Dennoch
müssen wir daran arbeiten.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Jürgen Klimke hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum Abschluss seiner
Nahostreise im Mai dieses Jahres hat Bundespräsident
Gauck das Recht der Palästinenser auf einen eigenen
Staat betont - ich zitiere -:
Deutschland bekennt sich nachdrücklich zur ZweiStaaten-Lösung und unterstützt die Schaffung eines
eigenständigen palästinensischen Staates.
Diese Meinung unseres Staatsoberhaupts steht damit
auch in der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik.
Klar ist: Die vielfältigen Probleme das Nahen Ostens
gehören alle zusammen, doch ist für uns die Lösung der
Zwei-Staaten-Frage im Nahen Osten das wichtigste Element, um den gordischen Knoten zu zerschlagen. Unsere
Bemühungen sind immer wieder auf Wiederaufnahme
direkter Verhandlungen gerichtet, egal wie sprachlos
beide Seiten zurzeit miteinander umgehen. Ein solcher
Verhandlungsprozess steht für uns im Mittelpunkt; denn
die Lösung des Gesamtkonflikts lässt sich nur mit diesen
Mitteln erreichen.
Die Augen der Weltöffentlichkeit sind derzeit auf den
Bürgerkrieg in Syrien gerichtet. Trotzdem dürfen wir die
Sicherheit Israels, die für die CDU/CSU zur Staatsräson
gehört, niemals aus den Augen verlieren. Für dieses
Selbstverständnis gibt es viele ähnliche Formulierungen.
Ich halte nichts davon, in jeder etwas anderen Formulierung eine Verstärkung oder eine Abschwächung dieser
Aussage zu sehen. Die Aussage ist nämlich klar.
Ich bin angesichts der jüngsten Entwicklungen überzeugt: Auch der Nahostkonflikt kann und darf nicht ungelöst bleiben. Anders gesagt: Die Wiederaufnahme der
Verhandlungen duldet keinen Aufschub. Der jetzige
Stillstand hilft niemandem. Aber klar ist auch: Eine tragfähige Lösung erfordert politische Entschlossenheit; sie
erfordert schmerzhafte Kompromisse, und zwar auf beiden Seiten.
Das Ziel müssen zwei Staaten sein: ein demokratischer jüdischer Staat Israel Seite an Seite mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat. Wo immer Deutschland und Europa zusammen mit den USA diesen Prozess
unterstützen können, werden wir das tun; wir unterstützen alles, was den berechtigten Belangen des palästinensischen Volkes entspricht und Rechnung trägt.
Hier geht es um Fragen, die beantwortet werden können, wenn beide Seiten aufeinander zugehen und die
Rechte des jeweils anderen anerkennen und akzeptieren.
Es sind keine leichten Fragen; es sind aber auch keine
abstrakten Fragen. Es sind vielmehr Fragen von sehr
großer Aktualität, die uns alle unmittelbar betreffen.
Nicht alle diese Fragen können wir heute oder morgen
abschließend beantworten.
Verantwortung ist kein Automatismus. Sie bewährt
sich nicht im Falle von Ankündigungen, sondern eher in
einer konkreten Situation. Das Denken in Wenn-dannSätzen wirkt im Nahen Osten eskalierend, vor allem
auch das vorherige öffentliche Ziehen von roten Linien.
„Der Unterschied zwischen Europa und dem Nahen
Osten“, so hat es der israelische Schriftsteller Amos Oz
vor wenigen Wochen in einem Interview mit der Welt gesagt, „ist der Unterschied zwischen Frieden und Krieg.“
Damit hat er wohl recht: Der Nahe Osten ist heute eine
der explosivsten Regionen der Welt, Europa erlebt hingegen eine historisch einmalige Periode des Friedens.
Meine Damen und Herren, nur weil bei uns Frieden
herrscht, dürfen wir nicht nachlässig werden.
Die Hauptfrage ist jedoch: Wo setzen wir an? Diese
Frage stellen auch die Grünen in ihren Anträgen. Wir bedanken uns für den Beitrag. Wir setzen in diesem Bereich aber schon seit Jahren eigene Prioritäten, entsprechend der Überzeugung der Kanzlerin. Nach dieser
Überzeugung geht es um Verständigung und vor allem
um gegenseitigen Respekt. Klare Kante: Die Palästinenser verzichten auf Gewalt, und die palästinensische Führung erkennt Israel an; Israel verzichtet auf den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten.
({0})
Meine Damen und Herren, unser gemeinsames Engagement geht jedoch über diesen Grundsatz hinaus: Wir
sorgen für anhaltende humanitäre Hilfe, Verhütung des
illegalen Handels mit Waffen und Munition, dauerhafte
Öffnung der Grenzübergänge, Instandsetzung und Wiederaufbau von Infrastruktur, Förderung der innerpalästinensischen Versöhnung sowie Unterstützung der EU
Border Assistance Mission im Bereich der Grenzkontrollen.
Für die Unionsfraktion ist jedoch eines klar - hier
liegt im Übrigen der Unterschied zu den Grünen -: Einen unabhängigen demokratischen und lebensfähigen
Staat Palästina kann es nur ohne völkerrechtliches Präjudiz geben. Alle Maßnahmen, die einen palästinensischen
Staat präjudizieren, wie etwa die Aufnahme eines derzeit
nicht existenten Staates Palästina in die UNESCO im
Oktober 2011, sind deshalb abzulehnen. Deutschland hat
gemeinsam mit seinen Verbündeten gegen eine Aufnahme gestimmt.
Weitere Hinderungsgründe für das Erreichen einer
Zwei-Staaten-Lösung liegen im palästinensischen
Schisma zwischen der Hamas im Gazastreifen und der
Fatah im Westjordanland. Solange die Palästinenser
nicht mit einer Stimme sprechen, kann es keine ZweiStaaten-Lösung geben. Wenn im Antrag der Grünen gefordert wird, dass der Bundestag die Aufnahme Palästinas in die UNO unterstützen soll, so ist allein das für uns
ein Grund zur Ablehnung.
Meine Damen und Herren, der Friedensprozess im
Nahen Osten ist ein langwieriger Prozess. Deutschland
nimmt hier auf verschiedensten Kanälen seine Verantwortung wahr. Dazu gehören auch Aufforderungen der
Bundesregierung an Israel, den Bau neuer Häuser in den
Palästinensergebieten zu überdenken.
In der vorliegenden Form sind beide Anträge nicht
zustimmungsfähig, weil die Umsetzung der Forderungen
wiederum Fakten schaffen würde, anstatt einen offenen
Verhandlungsprozess zu ermöglichen.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Rolf Mützenich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass es noch immer
israelische Bürgerinnen und Bürger gibt, die auf der einen Seite eine Debatte über die Voraussetzung für eine
Zwei-Staaten-Lösung in Israel selbst führen und auf der
anderen Seite auch über die bisherigen Versäumnisse auf
dem Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung sprechen.
Ich bin beeindruckt gewesen, dass zum Beispiel ehemalige israelische Soldaten mit einer wichtigen Fotoausstellung, die bis Ende September im Willy-Brandt-Haus
hier in Berlin gezeigt wird, auf das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser aufmerksam machen.
({0})
Es gehört zum Bau einer Friedensbrücke mit dazu, dass
sich die Menschen mit wachen Augen begegnen, und dafür gilt mein Dank.
Die Rahmenbedingungen, zu einer Friedenslösung
zwischen Palästina und Israel zu kommen, sind in den
letzten Jahren in der Tat schwieriger geworden. Der
amerikanische Präsident Obama hat zumindest am Anfang seiner Amtszeit versucht, im Rahmen seiner Möglichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die
Gespräche wieder aufgenommen werden.
Die Spaltung der palästinensischen Bewegung ist ein
Hindernis auf diesem Weg, aber es hat in den letzten
Monaten nach meinem Dafürhalten durchaus den Versuch gegeben, insbesondere Präsident Abbas zu legitimieren, wieder Friedensverhandlungen zu führen.
Im Nahen und Mittleren Osten liegt der Fokus auf den
Umbrüchen in der arabischen Welt und insbesondere auf
der humanitären Katastrophe in Syrien. Dennoch hat es
unter diesen schwierigen Bedingungen Chancen gegeben. Leider hat es die Bundesregierung versäumt, diese
Chancen zu ergreifen. Ich will in diesem Zusammenhang auf drei Punkte aufmerksam machen.
Erster Punkt. Wir hatten die Chance einer Aufwertung der palästinensischen Vertretung hier in Deutschland. Ich unterstelle dem Außenminister durchaus guten
Willen, aber ich glaube, er ist am Bundeskanzleramt und
letztlich an der Bundeskanzlerin gescheitert. Es gehört
zu einer ehrlichen Debatte mit dazu, zuzugeben, dass wir
hier die große Chance verpasst haben, der deutschen
Verantwortung zumindest durch eine leichte Aufwertung
der Palästinenser gerecht zu werden und auf die Interes23492
sen beider Staaten einzugehen. Ich finde, Sie hätten dies
tun können.
({1})
Zweiter Punkt. Hierüber hat es eine Debatte gegeben.
Wir von der SPD haben dazu einen Antrag eingebracht.
Es wäre gut gewesen, in den Unterorganisationen der
Vereinten Nationen eine gemeinsame Haltung der Europäischen Union zum Status Palästinas zu erarbeiten. Das
haben Sie nicht geschafft. Sie haben zum Beispiel auch
dagegen gestimmt, dass Palästina eine wichtige Rolle in
der UNESCO wahrnimmt. Dafür hat es aber eine Mehrheit gegeben, wir waren auf der Ebene der Vereinten Nationen erneut in der Minderheit. Auch hier ist eine große
Chance aufseiten der Bundesregierung verpasst worden,
sozusagen leichte, neue Stützpfeiler für die Friedensbrücke aufzubauen.
({2})
Dritter Punkt. Nach dem Gaza-Krieg - dieser Meinung waren wir alle - gab es verschiedene Möglichkeiten, auch Möglichkeiten aufseiten der israelischen Regierung. Ich sage ganz bewusst: der israelischen
Regierung, weil ich in Israel andere Menschen, viele
Politiker, aber insbesondere eine lebhafte Zivilgesellschaft, kennengelernt habe. Das Upgrade des Assoziierungsabkommens mit der EU ist wegen der Blockade
des Gaza-Streifens und wegen des fortgeführten Baus
von Siedlungen ausgesetzt worden. Was haben wir im
Sommer erlebt? Es wurden 60 Punkte für ein neues Upgrade beschlossen. Ich finde, Sie haben damit leichtfertig ein Instrument aus der Hand gegeben, mit dem Sie
dafür hätten sorgen können, dass die israelische Regierung ihr Verhalten ändert;
({3})
denn die israelische Regierung braucht die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union.
In der Tat versperrt der Siedlungsbau alle Wege in
Richtung Frieden. Ich glaube, dass sollte vom Deutschen
Bundestag sehr deutlich gesagt werden.
({4})
Ich gönne dem Außenminister das Lob des Generalsekretärs der Arabischen Liga, das er, glaube ich, gestern
im Sicherheitsrat ausgesprochen hat. Ich habe überhaupt
keine Bedenken bei diesem Lob, aber vielleicht sollte
sich die Bundesregierung fragen, ob dies möglicherweise ein vergiftetes Lob war. Er hat nämlich Taten anstatt Worte gefordert, und genau daran mangelt es. Das
wird deutlich, wenn man an diese Fragen erinnert. Ich
glaube, der Bundesaußenminister sollte nicht immer nur
gute Worte im Munde führen, sondern er sollte sich
letztlich auch für Taten einsetzen. Daran mangelt es in
der deutschen Politik, und daran wird gerade in diesem
Zusammenhang Kritik geübt.
Wir alle wollen die Sicherheit Israels. Ich glaube,
diesbezüglich gibt es über alle Fraktionsgrenzen hinweg
überhaupt keine Differenz.
({5})
- In einem demokratischen Gemeinwesen müssen Sie
Unterschiede anerkennen. - Dennoch besteht in einem
demokratischen Parlament die Möglichkeit, dass wir bezogen auf einzelne Aspekte gemeinsame Anträge einbringen. So haben wir in den letzten Jahren hier einige
Dinge gemeinsam beschlossen. Manchmal haben wir
wortgleiche Anträge eingebracht, weil der eine oder andere nicht alle Fraktionen mit dabei haben wollte. Ich
glaube, das war ein gutes Signal des Deutschen Bundestages, aber leider hat die Bundesregierung auch diese
Chance nicht ergriffen.
Wenn wir wollen, dass die Menschen in Israel in Sicherheit leben, dann müssen wir die israelischen Partner
und die israelische Regierung fragen, mit wem sie glaubt
in Zukunft einen Frieden schließen zu können, wenn
nicht mit diesem palästinensischen Präsidenten. Sie wird
auf keinen anderen stoßen, der die Hand ausstreckt. Ich
war erschüttert über seine Rede heute vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Daraus hat Frustration, daraus hat Hilflosigkeit und auch Resignation
gesprochen. Wir werden uns noch wundern, was passiert, wenn dieser palästinensische Präsident Israel nicht
mehr die Hand reichen kann, weil er nicht mehr die
Kraft dazu hat und zurücktritt. Ich finde, die deutsche
Bundesregierung täte gut daran, den Worten Taten folgen zu lassen, damit eine der letzten Chancen möglicherweise genutzt werden kann.
({6})
Deswegen möchte ich daran erinnern, dass die tatsächliche Entwicklung auf das Ende der Zwei-StaatenLösung hinausläuft. Schon 1999 hat der damalige und
heutige Verteidigungsminister Barak geäußert, Israel
könne weder als demokratischer noch als jüdischer Staat
überleben, wenn die Zwei-Staaten-Lösung scheitert. Unklar ist mir, ob er heute noch so denkt; aber seine Mahnung ist nach wie vor angebracht und bleibt aktuell.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor zwei Stunden hat in New York Präsident Abbas gesprochen. Vor ungefähr einer Stunde hat Herr Netanjahu
gesprochen. Das Ganze findet in einem Kontext statt, der
uns allen zunehmend Angst machen muss: Kriegsrhetorik ist alltäglich geworden; es wird täglich darüber geDr. Rainer Stinner
sprochen, dass Angriffe unmittelbar bevorstehen. Aus
dem Iran hören wir zum Beispiel immer wieder, dass
dieses zionistische Regime vernichtet werden muss.
Volker Perthes hat neulich in einem Beitrag in der
Süddeutschen Zeitung eine Analogie zu 1914 gezogen.
Damals haben viele Kräfte über Krieg gesprochen. Sie
haben den Krieg quasi herbeigeredet, und dann ist dieser
furchtbare Krieg ausgebrochen. Ich glaube, das sind
Dinge, die uns gemeinsam bewegen müssen. Wir müssen sehen, in welchem Kontext über den Konflikt, über
den wir heute debattieren, gesprochen wird.
Angesichts des Tenors der beiden Anträge, in denen
vieles Richtige steht - das ist gar keine Frage -, muss ich
das wiederholen, was ich in jeder Rede zu diesem
Thema sage: Wir müssen verstehen, dass im Zentrum jeder israelischen Politik die Sicherheit des Staates Israel
stehen muss.
({0})
Wir müssen verstehen, dass die Lage in Israel außerordentlich sensitiv ist. Jeden Tag - das weiß die Öffentlichkeit nicht, weil das nicht immer in der Zeitung steht werden Raketen auf Israel abgefeuert. Und wir wissen,
dass im Südlibanon ein Arsenal von mehr als 45 000
hochmodernen Raketen vorhanden ist, die Israel bedrohen.
({1})
Das ist der Kontext, in dem Israel reagiert.
Nun stimme ich durchaus der Auffassung zu, dass die
israelische Siedlungspolitik sehr kontraproduktiv ist. Sie
ist völkerrechtswidrig. Die Bundesregierung sagt das
deutlich, und zwar nicht nur allein, sondern im europäischen Verbund und auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Es ist völlig richtig, dass die Siedlungspolitik ein
Hindernis ist.
Man muss sich fragen, was man mit solchen Anträgen
bewirkt. Glauben Sie, dass Sie mit diesen Anträgen
wirklich etwas erreichen und die Situation verbessern?
Ich glaube, das ist nicht der Fall.
({2})
Man muss diese Anträge in einen Kontext stellen,
zum Beispiel in den Kontext, den Herr Mützenich eben
richtigerweise angesprochen hat. Nach meinem Dafürhalten - ich glaube, dieses teilen viele hier in diesem
Haus, auch wenn es in den Anträgen nicht zum Ausdruck kommt - ist die Zwei-Staaten-Lösung in Gefahr,
uns zwischen den Fingern zu zerrinnen. Wir halten jetzt
hier die Schimäre aufrecht, dass das ein Ziel ist, das wir
noch erreichen können, und doch wird es von Tag zu Tag
unwahrscheinlicher, dass wir es erreichen. Wir müssen
den Gesamtkontext sehen. Diesen können wir nur betrachten, wenn wir wissen, in welcher Weise wir etwas
erreichen können.
Wir wissen - ich spreche jetzt den zweiten Antrag, in
dem es um den Status Palästinas geht, an -, dass wir
nichts erreichen können, wenn wir nur einseitig Palästina aufwerten und Palästina die Mitgliedschaft in der
UNO verschaffen wollen, wie dies in Ihrem Antrag
steht. Vielmehr müssen wir sagen, dass man nur gemeinsam etwas erreichen kann. Ich bin dafür - und das habe
ich schon vor einem Jahr hier gesagt; ich bitte die Bundesregierung, dies auch durchzusetzen -, den Status Palästinas aufzuwerten. Ich habe mich schon vor einem
Jahr für den Status ausgesprochen, den Sie leider immer
noch als Vatikan-Status bezeichnen. Das klingt etwas
verniedlichend. Das ist der Deutschland-Status, unter
dem wir jahrzehntelang gelebt haben, und das ist auch
der Schweiz-Status.
({3})
- Ja, richtig, aber diese Bezeichnung wird der Situation
nicht gerecht. - Es ist eben kein Status nur für sehr
kleine Staaten, sondern dieser Sonderstatus ist auch für
große Staaten veritabel. Ich bin dafür, dass wir als nächsten Schritt diesen Status einführen. Ich hoffe, dass die
Bundesregierung die Kraft findet, diesen Schritt zu gehen und die europäischen Staaten hier entsprechend mitzunehmen.
Ich spreche mich aber, liebe Frau Kollegin Müller, gegen Ihre weitergehenden Forderungen aus, die Sie erhoben haben. Das werden wir in den Ausschüssen beraten.
In dieser Form ist der Antrag für uns bisher nicht zustimmungsfähig.
In dem ersten Antrag, also dem Antrag zu den C-Gebieten, steht auch sehr viel Richtiges. Ich habe meine
Meinung zur Siedlungspolitik hier sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht. Das war unmissverständlich, das hat
jeder gehört und kann jeder nachlesen. Das ist gar keine
Frage. Aber ich glaube, dass Sie auch mit diesem Antrag
nichts erreichen können, weil Sie der Komplexität des
Problems und der gesamten Situation und Sicherheitslage der Region mit diesem Antrag nicht gerecht werden. Deshalb befürchte ich, dass wir auch diesen Antrag,
wenn er nach Debatten im Ausschuss nicht verändert
wird, ablehnen werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Schönen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um das auszugleichen, was Kollege
Stinner eben gesagt hat, möchte ich am Anfang ankündigen, dass wir den beiden Anträgen zustimmen werden,
weil sie politisch richtig und vernünftig sind.
({0})
Darüber sollte man auch nicht entlang von Parteigrenzen
debattieren.
Ich muss Ihnen sagen: Es hat mich unendlich traurig
gestimmt, einen völlig resignierten und verzweifelten
Präsidenten Abbas vor den Vereinten Nationen zu sehen.
Es ist mir zu Herzen gegangen, diesen Mann, der - auch
in den eigenen Reihen - so lange für einen Ausgleich
zwischen Palästinensern und Israelis gekämpft hat, in
dieser Verfassung zu sehen. Am Ende bleibt ihm eigentlich nur noch die Botschaft: Wir schmeißen alles hin. Das darf man so nicht weitertreiben.
({1})
Ich war gerade wieder einmal in Israel und Palästina.
Ich rede mir ja selber Mut zu: Meine Erfahrung ist, dass
auch die Menschen in Israel einem zu Recht erklären:
Die Zwei-Staaten-Lösung ist die beste Lösung, die man
erhalten kann. Alle Eckpunkte der Zwei-Staaten-Lösung
liegen vor, aber niemand glaubt mehr an ihre Umsetzung. Das ist das eigentliche Problem. Ich möchte, dass
wir den Glauben an die Zwei-Staaten-Lösung erneuern
und politisch untermauern; denn wir brauchen sie, um
Stabilität zu erhalten.
Deswegen nenne ich Ihnen zuerst ein positives Beispiel, das mich sehr glücklich gestimmt hat. Ich habe
zwei Jahre lang mit jüdischen Freunden aus Israel und
mit Palästinensern an einer Ausstellung von jungen
Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet, die unter dem
Namen „Wonderland“, Wunderland, in Haifa eröffnet
worden ist. Sie wird im Februar 2013 im Bundestag gezeigt. Das ist für mich ein Projekt, mit dem man praktisch nachweisen kann, dass Palästinenserinnen und Palästinenser sowie Jüdinnen und Juden an einer gemeinsamen Sache arbeiten können und dass dadurch alle reicher und klüger werden.
Ich möchte dieses Beispiel auf die staatliche Ebene
übertragen. Durch die Zwei-Staaten-Lösung gewinnen in
einem solchen Prozess alle, wenn man sie ernsthaft will
und nicht nur darüber redet. Hören Sie sich nur die Reden von Netanjahu an. Er spricht zwar von einer ZweiStaaten-Lösung. Aber schon in seinen Reden wird deutlich, dass er politisch das Gegenteil betreibt; in der politischen Praxis wird das erst recht deutlich. Was Netanjahu
vorschlägt, ist ein Israel bis an die Grenzen des Jordans,
das mithilfe von Siedlungen durchgesetzt werden soll.
Es reicht aber nicht, nur verbal gegen diese Siedlungen
zu protestieren, sondern man muss auch klarmachen,
dass diese Siedlungen das Ende der Zwei-Staaten-Lösung bedeuten.
Die Palästinenser haben angeboten, dass sie, was die
Siedlerinnen und Siedler betrifft, eine Zweistaatlichkeit
für möglich halten, dass sie also die israelische und die
palästinensische Staatsbürgerschaft haben könnten. Hier
passiert also sehr viel. Ich bin glücklich, dass die Palästinenser nicht zu einer neuen Intifada aufrufen, sondern
versuchen, das Prinzip der Gewaltfreiheit in der Politik
durchzusetzen. Wäre es nicht notwendig, dass dieses
Parlament endlich einmal sagt: „Das ist eine richtige
Entscheidung, und wir helfen euch dabei, eure Rechte zu
verteidigen“? Solche Signale brauchen wir.
({2})
Das Grundproblem ist die Besatzung. Die Besatzung
muss beendet werden. Kerstin Müller und ich waren im
gleichen Ort; Susa heißt die kleine Stadt. Wer in Hebron
an der Grenze gestanden hat, versteht, dass es so nicht
weitergehen kann. Ich finde, das müssen auch wir als
Mitglieder des Deutschen Bundestages Israel sehr deutlich sagen.
Ich erwarte von der Bundesregierung - es ist übrigens
interessant, dass niemand hierzu etwas gesagt hat -, dass
man in der Vollversammlung der Vereinten Nationen
dem minimalen Vorschlag, den Palästinensern einen Beobachterstatus zu verleihen - das ist der sogenannte Vatikan-Status -, zustimmen wird und dass man in Europa
dafür wirbt, damit man endlich einen Schritt vorankommt.
({3})
Was wollen Sie Präsident Abbas denn anbieten? Was
soll er seinen Leuten sagen, wenn es um die Gewaltfreiheit geht? Er hat doch nichts in der Tasche, und ihm ist
nichts in die Tasche gesteckt worden. Das sind die
Dinge, die geändert werden müssen. Ich möchte, dass
wir diesen Mut zusammen aufbringen.
Ich freue mich über die Ausstellung im Willy-BrandtHaus mit dem Titel „Das Schweigen brechen“. Ich war
da und muss sagen: Das ist eine sehr beeindruckende
Ausstellung. Ich finde es toll, dass das Willy-BrandtHaus der Gastgeber ist. Im Bundestag werden wir im
Rahmen der Ausstellung „Wonderland“ sehen können,
wie ein politischer Konflikt kulturell verarbeitet wird.
Ich lade Sie dazu ein und bitte Sie, solche gemeinsamen
Projekte zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon fast ein Ritual: Es ist September, in New
York tagt die Generalversammlung der Vereinten Nationen, und wir diskutieren im Deutschen Bundestag zum
wiederholten Mal über den israelisch-palästinensischen
Konflikt.
Noch vor einem Jahr hat Präsident Abbas seine Initiative gestartet, die Palästinensische Autonomiebehörde
als ordentliches Mitglied in die Vereinten Nationen aufzunehmen. Ein Unterausschuss der Vereinten Nationen
hat festgestellt, dass es nicht möglich sei, eine einstimmige Empfehlung zu diesem Antrag abzugeben. Seither
wird dieses Anliegen von palästinensischer Seite nicht
weiter forciert. Es ist auch fraglich, ob es dafür eine Zustimmung im Sicherheitsrat geben würde.
Trotzdem unternimmt die palästinensische Seite erneut den Versuch einer Internationalisierung des Konflikts, und sie unternimmt einen erneuten Anlauf auf
dem New Yorker Parkett. Der Sinn scheint mir nicht
ganz klar zu sein, auch wenn natürlich zu erwarten ist,
dass man die Anerkennung als staatliches Nichtmitglied
anstrebt. Klar ist aber, dass Deutschland einem einseitigen Vorstoß auch weiterhin nicht wird zustimmen können. Das ist die konsistente Linie der Bundesregierung,
die wir auch beibehalten wollen: keine einseitigen Manöver, sondern direkte Gespräche ohne Vorbedingungen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es würde in
der Tat Sinn machen, wenn beide Seiten Energie und
Kreativität in direkte Friedensgespräche und nicht in einseitige Schritte stecken würden, die die israelische Position im Übrigen aller Erwartung nach nicht verändern
würden. Bei einseitigen Schritten besteht auch die Gefahr, dass es zu Eskalationen kommt, die wir alle gerade
jetzt, in einer Zeit aufgeheizter Stimmung, in der wir alles tun sollten, um eine weitere Verschärfung der Lage
zu vermeiden, nicht wollen.
Der Friedensprozess stockt seit längerem, und es ist
realistischerweise wohl auch nicht mit neuer Bewegung
vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen und vor
der Bildung einer neuen US-Regierung zu rechnen, zumal Präsident Obama mit einer Grundsatzrede im Juli
und mit dem Bekenntnis zu einer Lösung, die Israel in
den Grenzen von 1967 sieht, eine Position definiert hat,
die für Israel noch immer unannehmbar scheint.
Trotzdem wäre es hilfreich, wenn es in den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern neue Bewegung geben würde. Man verheddert sich aber nach
wie vor in Bedingungen und Gegenbedingungen. Man
setzt sich nicht an einen Tisch und ist noch nicht einmal
in der Lage, sich zunächst pragmatisch um die konkreten
Probleme der Bürger zu kümmern.
({1})
Ich bin überzeugt, dass vor allem Israel von einer dauerhaften Friedenslösung profitieren würde. Das würde
Israel nämlich nicht nur aus dem Fokus der Kritik der
arabischen Straße nehmen, sondern auch Mittel für Investitionen in Wirtschaft und Gesellschaft freisetzen, die
angesichts immer wieder aufflammender sozialer Proteste in der Region dringend nötig wären.
Wir müssen aber konstatieren, dass wir auf der israelischen Seite derzeit nur wenig Interesse sehen, sich den
Verhandlungen mit den Palästinensern zu widmen. Fast
im Gegenteil: Es wird über die Gefahr eines iranischen
Nuklearschlags diskutiert. Damit wird der Fokus natürlich auf ein Thema außerhalb des Israel-Palästina-Konflikts gelenkt. Gleichzeitig geht der Siedlungsbau - das
ist angesprochen worden - unvermindert weiter. Hier
teilen wir die Position, die im Antrag der Grünen formuliert wird. Insbesondere in der Westbank ist die Lage besonders unbefriedigend, was sowohl die Europäische
Union als auch die deutsche Seite immer wieder anmerken.
Die Sorge, dass Fakten geschaffen werden, die eine
Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rücken, ist
schon begründet, zumal die wirtschaftlichen Perspektiven für die palästinensischen Gebiete nicht besser werden. Gerade weil deutsche Entwicklungsprojekte in der
Region betroffen sind, muss diese israelische Siedlungspolitik immer wieder thematisiert werden, was nach
meiner Kenntnis auch geschieht.
Es mag monoton klingen, aber eine dauerhafte Friedenslösung zur Stabilisierung der Lage im Nahen Osten
wird es nur mit Gewaltverzicht der Palästinenser einschließlich einer Anerkennung Israels geben; das ist
schon angesprochen worden.
Man wird aber auch nicht darum herumkommen, die
Hamas einzubeziehen, die im Zuge der arabischen Revolutionen stärker geworden ist und sich besser vernetzt
hat. Genauso werden wir im Übrigen in der Zukunft mit
den Muslimbrüdern als relevante Akteure auskommen
müssen. Man kann sich seine Verhandlungspartner eben
nicht immer aussuchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kernelemente einer Verhandlungslösung liegen seit langem auf
dem Tisch. Neu ist aber: Die Weichen im Nahen Osten
werden in dieser Zeit neu justiert. Kurzfristiges Denken
in Nullsummenkategorien wird es in Zukunft immer weniger geben können. Die Zeichen stehen auf Emanzipation und hoffentlich zunehmend auch auf Demokratisierung.
Deshalb wird es nicht viel weiterhelfen, wenn die eine
Seite versucht, auf internationaler Bühne immer wieder
Knalleffekte zu setzen, die am Ende wirkungslos bleiben, und die andere Seite versucht, dauerhaft rechtlich
verbindliche Abreden zu unterminieren. Beide Seiten täten besser daran, aufeinander zuzugehen und sich für
eine kluge Steuerung einzusetzen.
Deswegen dürfen wir nicht müde werden, zu appellieren: Setzt euch an einen Tisch! Dieser Konflikt braucht
direkte Gespräche ohne Vorbedingungen auf beiden Seiten.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin gehört, was Herr Stinner gesagt hat. Er hat sich dafür ausgesprochen, dass Deutschland den Antrag, den Präsident
Abbas heute in der UN-Generalversammlung angekündigt hat, unterstützt. Ich habe Herrn Silberhorn so verstanden, dass er das für falsch hält. Wir haben Vertreter
der Bundesregierung hier. Ich erwarte, dass hierzu eine
klare Aussage gemacht wird.
({0})
Der Wunsch nach Unterstützung dieses Antrages ist in
der Breite des Deutschen Bundestages sehr deutlich vorhanden.
Das ist für die Palästinensische Autonomiebehörde
vielleicht die allerletzte Chance, hier einen Erfolg zu erzielen. Diese Behörde ist im Grunde doch die einzige auf
der palästinensischen Seite, die sagt: Wir wollen Verhandlungen, wir wollen gewaltfreie Lösungen. Wer diesen Antrag, der bald in der UN-Generalversammlung
vorliegen wird, ablehnt, der bestärkt nur diejenigen, die
gewaltsame Lösungen wollen. Deshalb müssen wir dazu
beitragen, dass Abbas mit seiner Initiative einen Erfolg
erzielt.
Es wird eine klare Mehrheit in der Generalversammlung geben. Ich erwarte, dass die Bundesregierung nicht
wieder verzögert, taktiert oder sich enthält. Das ist das
Mindeste, was wir aus der heutigen Debatte lernen können.
({1})
Wünschen Sie noch einmal das Wort, Kollege
Silberhorn?
({0})
- Wir haben hier Regeln. Die Kurzintervention ist wäh-
rend der Rede des Kollegen Silberhorn angemeldet wor-
den. Da er jetzt auf eine Erwiderung verzichtet, schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9981 und 17/10640 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/10771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({2}), Arnold Vaatz, Daniela
Ludwig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick
Döring, Michael Kauch, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schienenlärm wirksam reduzieren - Schienengüterverkehr nachhaltig gestalten
- Drucksache 17/10780 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Sobald
die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen
vorgenommen sind, kann ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wo möchten Sie lieber wohnen? An einer Autobahn
oder an einer Zugstrecke?
({0})
Jetzt werden Sie vermutlich sagen: An keinem von beidem, wenn es irgendwie geht. Wenn Sie sich aber entscheiden müssten, müssten Sie nach geltender Rechtslage erwidern: Dann lieber an einer Autobahn. Warum?
Weil man hier bei gleichem Lärm mehr Lärmschutz bekommt als an einer Zugstrecke. So jedenfalls geltendes
Recht, geregelt in der 16. Bundesimmissionsschutzverordnung. Schienenlärm darf nämlich 5 dB lauter sein
als Straßenlärm. Das nennt sich dann Schienenbonus.
Oder anders: Der Lärmpegel an der Schiene muss wesentlich lauter sein als an der Straße, bevor der Anwohner ein Recht auf Lärmschutzmaßnahmen hat. Eine derartige Bevorzugung der Schiene wird es, zumindest
wenn es nach den Koalitionsfraktionen geht, demnächst
nicht mehr geben, und das ist gut so.
({1})
Diese unterschiedliche Behandlung von Lärm wurde
in den 70er-Jahren geschaffen, weil man damals glaubte,
dass Schienenlärm als weniger störend empfunden werden würde als Straßenlärm. Das war damals vielleicht
sogar noch nachvollziehbar; denn die Frequenz der Züge
war deutlich überschaubarer als heute, und auch der Güterverkehr hielt sich noch in Grenzen, die wir uns heutzutage oftmals wünschen würden, wenn wir über Lärmbelastungen an Zugstrecken sprechen.
Wie wir alle wissen, nimmt der Schienenverkehr massiv zu. Wir bemühen uns auch von staatlicher Seite,
möglichst viel Güterverkehr auf die Schiene zu verlaDaniela Ludwig
gern. Dass dabei die Belastung der Anwohner auf schier
unerträgliche Weise steigt, ist eine wenngleich logische,
aber extrem unerfreuliche Konsequenz.
Es kann also nicht mehr davon die Rede sein, dass
Schienenlärm vielleicht nicht mehr ganz so schlimm ist
oder als nicht mehr ganz so schlimm empfunden wird.
Denn wir wissen alle: Lärm macht krank. In der Frequenz, in der ihn sehr viele Anwohner in Deutschland
aushalten müssen, ist das schlimm genug, und das müssen wir auch so festhalten.
Wir haben die fast schon absurde Situation, dass wir
nachts, wenn es am leisesten ist, den meisten Lärm haben, weil wir dann die Güterzüge über die Schienen
schicken, während tagsüber die sehr leisen hochmodernen Personenzüge auf unseren Gleisen fahren. Deswegen ist es an der Zeit, die Privilegierung des Schienenverkehrs durch einen besseren Lärmwert endlich
abzuschaffen. Ich bin ausgesprochen froh, dass es uns
nun endlich auch mit einem Gesetzentwurf und einem
sehr guten Antrag gelingt, dies anzugehen.
({2})
Dass wir Maßnahmen umsetzen wie das Lärmsanierungsprogramm, das unter Rot-Grün angestoßen wurde
- es ist ein sehr gutes Programm, das wir gerne weiterführen; die 100 Millionen Euro im Jahr sind gut investiertes Geld, um an bestehenden Strecken mehr Lärmschutz für die Anwohner zu ermöglichen -, ist gut und
richtig und muss fortgeführt werden. Es ist aber auch
richtig, dass wir versuchen, den Lärm an der Quelle zu
bekämpfen, das heißt, leisere Bremssohlen und deren
Umrüstung zu fördern. Dass ein leiser Zug weniger für
die Trassenbenutzung zahlen muss als ein lauter Zug, ist
ebenfalls richtig.
({3})
Aber auch diese Umrüstung kostet Geld und natürlich
auch Zeit. Denn Sie alle wissen, dass nicht gerade wenig
Güterzüge, nämlich 180 000, in Deutschland umgerüstet
werden müssen. Das kostet uns einige Jahre, und es kostet uns 300 Millionen Euro. Aber ich sage auch hier: Das
muss es uns wert sein, wenn wir andererseits von den
Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz für große Schienen- oder Straßenprojekte verlangen.
Deswegen sind wir hier auf einem guten Weg. Auf
diesem guten Weg passt es extrem gut ins Konzept, dass
wir endlich den Schienenbonus angehen. Wie machen
wir das? Mit der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes 2016 und dem dazugehörigen
Bedarfsplan wird er nicht mehr angewendet.
({4})
- Jetzt kann man sagen, Frau Wilms - es war mir klar;
Ihren Zwischenruf hatte ich an dieser Stelle eingeplant -:
viel zu spät. Wissen Sie, wünschenswert ist vieles. Da
bin ich sofort bei Ihnen. Wir glauben aber, dass sich die
Aufgabenträger in sinnvoller Weise auf diese neue Tatsache vorbereiten müssen. Wir haben große und langwierige Projekte, bei denen eine Umstellung innerhalb
weniger Monate oder innerhalb von zwei Jahren einigermaßen schwierig ist.
Deswegen halte ich die Abschneidegrenzen, wie wir
sie gewählt haben, für richtig für Schienenprojekte, für
die das Planfeststellungsverfahren bis dahin noch nicht
eingeleitet wurde.
({5})
Sie sind logisch und politisch richtig.
({6})
Ich glaube, es ist auch an der Zeit, dass wir das angehen. Wir tun es wenigstens. Wir reden nicht nur darüber,
sondern wir tun es auch, und das ist richtig.
Ich verhehle nicht, dass es sicherlich den einen oder
anderen Haushaltspolitiker geben mag, der jetzt vor lauter Schreck erst einmal umkippt, bildlich gesprochen,
weil er sich sagt: Oh Gott, jetzt wird alles teurer.
({7})
Meine lieben Freunde, wenn uns die Gesundheit unser
Mitbürgerinnen und Mitbürger das nicht wert ist, dann
weiß ich es nicht. Wir müssen schlicht und ergreifend
springen.
Der Schienenbonus, wie er in den 70er-Jahren entstanden ist, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Er hat sich
längst überholt, ist nicht mehr sachgerecht und wird den
massiven Belastungen unserer Bürgerinnen und Bürger
durch stark gestiegenen Verkehr nicht mehr gerecht.
Deswegen ist es höchste Zeit, dass wir endlich dieses
Projekt angehen und künftig statt des Schienenbonus leisere Zugstrecken haben.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! In diesem
Hause gibt es große Übereinstimmung, dass der Schienenlärm zurzeit die verkehrspolitische Herausforderung
ist. Millionen von Menschen sind erheblich belastet. Wir
gehen nach volkswirtschaftlichen Schätzungen von
10 Milliarden Euro an Schäden aus.
Als Rheinland-Pfälzer, der häufig im Mittelrheintal
unterwegs ist, weiß ich, was es bedeutet, wenn nachts
Güterzüge an den Häusern entlangfahren und 100 Dezibel Lärm und Erschütterungen verursachen. 100 Dezibel
entsprechen einem Presslufthammer im Vorgarten. Ich
glaube, wir stimmen darin überein, dass dies ein Ende
haben muss.
({0})
Trotzdem gibt es eine strittige Debatte hier im Plenum
und sicherlich später auch im Ausschuss. Aber diese
strittige Debatte liegt nicht an der Opposition. Bevor Sie
nachher wieder den Vorwurf bringen, wir hätten unter
Rot-Grün oder in der Großen Koalition keinen entsprechenden Antrag eingebracht, möchte ich Ihnen sagen,
dass ich mich auch nicht daran erinnern kann, dass jemals ein Antrag von der FDP gekommen wäre, den
Schienenbonus abzuschaffen, als Sie in der Opposition
waren.
({1})
Also halten Sie den Rand in dieser Frage.
Es liegen seit Frühjahr 2011 Anträge der SPD vor.
Seit über einem Jahr gibt es entsprechende Anträge von
uns und auch von den Grünen. Auf der rechten Seite dieses Hauses wurde deren Beratung immer wieder vertagt.
Wir hatten im Dezember letzten Jahres eine vielbeachtete Anhörung. Auch danach haben Sie die Beratung unserer Anträge vertagt. Wir haben dann über die
Geschäftsordnung am 27. April dieses Jahres eine
Debatte hier im Deutschen Bundestag erzwungen. Ich
will einmal zitieren - ich glaube, es ist auch für die Menschen wichtig, das noch einmal nachzuvollziehen -, was
am Schluss des Zwischenberichtes unseres Ausschussvorsitzenden Toni Hofreiter steht:
Im Obleutegespräch … wurde übereinstimmend
festgestellt, dass eine Aufsetzung der Vorlagen zur
abschließenden Beratung derzeit am Einspruch der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP scheitert, da die
Abstimmung zwischen den Koalitionsfraktionen
noch nicht abgeschlossen ist.
Drei Jahre arbeiten Sie Ihren Koalitionsvertrag ab.
({2})
Die Mövenpick-Steuer haben Sie in ganz kurzer Zeit
durchgesetzt. Da gab es keinen Zank zwischen den
Koalitionsfraktionen und kein Problem bei der Ressortabstimmung. Das haben Sie hinbekommen. Aber in einer ganz wichtigen Frage für die Menschen sind Sie zerstritten.
Interessant ist, dass mein Kollege Michael Hartmann
von Herrn Staatssekretär Ferlemann als Auskunft
bekam, dass die Ressortabstimmung am 26. April 2012
begonnen hat, also einen Tag bevor wir die Debatte hier
im Deutschen Bundestag erzwungen haben. Das ist mehr
als ein Symbol dafür, dass wir diese Koalition in Fragen
des Lärmschutzes nicht nur schieben, sondern treiben
müssen. Sie schaffen es nicht von alleine.
({3})
Ich frage mich immer, was der Kollege Fischer, den
ich seit 1998 als engagierten Verkehrspolitiker kenne
- ich weiß, dass er sich in dieser Frage sehr stark engagiert hat -, 2009 angestellt hat, dass er mit einem solchen Bundesverkehrsminister bestraft worden ist, sodass
er über die Koalitionsfraktionen dafür sorgen muss, dass
ein Stückchen des Koalitionsvertrages umgesetzt wird.
({4})
In Ihrem Koalitionsvertrag schreiben Sie noch, dass
Sie den Schienenbonus stufenweise abschaffen wollen,
und zwar in dieser Wahlperiode.
({5})
Jetzt will ich Sie einmal an Ihren eigenen Maßstäben
messen. Sie haben einen Antrag und einen Gesetzentwurf unter dem Motto vorgelegt: Wasch mich, aber
mach mich nicht nass! Ich kann mir auch erklären, warum, nämlich weil Ihr Verkehrsminister gesagt hat: Jedes
Dezibel weniger kostet mich 1 Milliarde Euro. Außerdem hat Ihr Kanzleramtsminister Pofalla gesagt - dem
wurde bisher nicht widersprochen -: in dieser Wahlperiode nicht. Und damit hat er recht; denn 2016/2017,
Frau Kollegin Ludwig, ist nicht mehr in dieser Wahlperiode. Da werden die Karten schon neu gemischt sein.
Ihren Koalitionsvertrag können Sie also nicht umsetzen.
Auch das, was Sie jetzt vorgelegt haben, ist doch nur
weiße Salbe. Frau Kollegin Ludwig, ich weiß nicht, warum Sie einen Herzinfarkt Ihrer Haushälter befürchten.
Es steht doch nirgendwo, dass es mehr Geld gibt. Im
Gegenteil: Sie machen deutlich, dass alle Maßnahmen
länger dauern werden und dass Sie im Haushalt keinen
zusätzlichen Euro bereitstellen wollen, um den Schienenlärm effektiv zu bekämpfen. Das müssen Sie den
Menschen auch deutlich sagen.
({6})
Sie sind sehr locker darüber hinweggegangen, dass
die von Ihnen vorgesehenen Maßnahmen erst mit dem
Inkrafttreten der Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes 2017 wirksam werden. Aber alle Planfeststellungsverfahren, die bis zu diesem Zeitpunkt laufen, werden noch nach altem Recht abgearbeitet. Ich
kann Ihnen aufgrund meiner allgemeinen Lebenserfahrung sagen: Es wird in den Monaten und Jahren zuvor
eine Flut von Planfeststellungsverfahren geben, die alle
noch nach altem Recht beschieden werden. Sie haben
gesagt: Demnächst wird der Schienenbonus abgeschafft.
Mit „demnächst“ meinen Sie das Jahr 2020.
({7})
So können Sie mit den Menschen, die unter Schienenlärm leiden, nicht umgehen.
({8})
Was bleibt bis dahin zu tun? Ich hätte von Ihnen etwas
mehr Engagement bei der Beschleunigung der Umrüstung erwartet. Wir werden sehr genau darauf achten,
ob das System, das Sie zu Umrüstung und Finanzierung
anbieten, also der lärmabhängige Trassenpreis, funktionieren wird.
Herr Kollege Herzog, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung des Kollegen Jarzombek?
Ja.
Kollege Herzog, Sie sind doch ein Abgeordneter aus
Rheinland-Pfalz. Durch Ihren Wahlkreis fahren verdammt viele Güterzüge. Ich hatte eigentlich erwartet,
dass Sie am heutigen Tag sagen: Es ist ein großer Erfolg
für die Menschen - auch in meinem Wahlkreis -,
({0})
dass endlich, nachdem zehn Jahre unter allen SPDVerkehrsministern nichts geschehen ist, der Durchbruch
geschafft ist und das Rheintal beruhigt wird. Warum
haben Sie nicht ein Mal gesagt: „Danke, ein toller Tag
für das Rheintal, ein toller Tag für Rheinland-Pfalz“?
({1})
Herr Kollege, als Rheinland-Pfälzer weiß ich, was
Schienenlärm bedeutet. Deswegen bin ich stolz auf die
rot-grüne Bundesregierung, dass sie überhaupt angefangen hat, Mittel für die Lärmsanierung an der Schiene in
den Verkehrshaushalt einzustellen. Das waren wir. Wir
haben damals mit 50 Millionen Euro angefangen.
({0})
Ich glaube, Sie waren noch nicht Mitglied des Bundestages, als wir dann die Mittel erhöht haben. Tun Sie also
nicht so, als ob in der Vergangenheit nichts passiert
wäre. Die ersten beiden Lärmschutzpakete haben sozialdemokratische Minister auf den Weg gebracht. Wir
haben die Sache in Bewegung gesetzt. Sie sind leider
nicht in der Lage, mit dem notwendigen Schwung und
Engagement dies zu einem vernünftigen Ende zu
bringen.
({1})
Wir als Sozialdemokraten wollen, dass umgerüstet
wird, weil allein eine schnelle Umrüstung einen hörbaren Erfolg für die Menschen bringt. Es wird spannend
sein, zu beobachten, ob Ihr System, wonach der Trassenpreis um 1 Prozent erhöht werden soll, um die Umrüstung zu finanzieren, tatsächlich funktioniert. Ich jedenfalls habe niemanden in der Wirtschaft oder bei der Bahn
getroffen, der mit Überzeugung gesagt hätte: Das, was
diese Bundesregierung vorlegt und was der Bundesverkehrsminister will, funktioniert.
Deswegen werden wir die parlamentarische Debatte
nutzen, um Sie weiterzutreiben. Wir werden Ihre Vorschläge in einer Anhörung auf den Prüfstand stellen. Der
Erfolg der Politik muss für die Menschen hörbar werden.
Mit Ihrer Politik wird uns das leider nicht gelingen.
Vielen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Oliver
Luksic das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Anliegen ist, den Lärm bei neuen Bahnprojekten durch die Abschaffung des Schienenbonus und
beim Bestand durch weitere Anreize zu reduzieren. Die
christlich-liberale Koalition will die Infrastruktur beim
Güterverkehr weiter stärken. Kollege Herzog, elf Jahre
hatten Sie Zeit. Sie haben es nicht hinbekommen. Diese
Koalition bekommt es nun hin. Es ist richtig und notwendig, dass wir das tun.
({0})
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir
den Schienenbonus schrittweise reduzieren und ihn
schließlich abschaffen.
({1})
Wir schaffen ihn jetzt ganz ab; denn er ist eine alte Privilegierung aus den 70er-Jahren.
({2})
Der Bonus beruht auf einer überholten Annahme. Es gibt
nämlich unserer Meinung nach beim Lärm keinen Unterschied zwischen Straße und Schiene. Lärm ist Lärm, und
er ist eine Bedrohung für die Gesundheit.
Kollege Herzog, die FDP-Bundestagsfraktion hat
schon 2007 einen solchen Antrag gestellt, aber damals
hat ein SPD-Verkehrsminister unsere Forderungen abgelehnt. Insofern, Herr Kollege Herzog, machen Sie sich
erst einmal schlau.
({3})
Klar ist: Steigende Mobilität verursacht hohe gesamtgesellschaftliche Kosten. Der volkswirtschaftliche Schaden durch Schienenlärm wird auf 800 Millionen Euro
beziffert. Deswegen ist es nachhaltige Verkehrspolitik,
diesen Lärm zu reduzieren. Denn sonst wird das weitere
Wachstum des Schienenverkehrs - das ist ein besonders
wichtiger Punkt, der zu Recht von Kollegin Ludwig angesprochen worden ist - beschränkt. Der Lärm droht zu
einem Haupthindernis für die Verlagerung von Transporten auf die Schiene zu werden. Lärmschutz ist uns an
dieser Stelle eine Herzensangelegenheit. Mit der vorhandenen Stichtagsregelung ist die Umstellung machbar.
Mehr Güterverkehr kann nur durch mehr Akzeptanz erreicht werden.
Wir ergreifen weitere Maßnahmen zur Stärkung der
Infrastruktur der Schiene. Ich nenne das nationale Lärmschutzkonzept und die Vereinbarung zu lärmabhängigen
Trassenpreisen. Für Lärmsanierungsmaßnahmen werden
100 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. Der
Einstieg in die leise Technik wird belohnt. Besonders
wichtig ist: Wir wollen mit dem Einstieg in lärmabhängige Trassenpreise marktwirtschaftliche Anreize zur Anschaffung leiserer Fahrzeuge setzen. Das ist ein Punkt,
der der FDP-Bundestagsfraktion besonders am Herzen
liegt.
({4})
Wir müssen dieses Thema in naher Zukunft natürlich
auch auf europäischer Ebene angehen. Hier besteht
Handlungsbedarf, weil die Güterzüge, die in Deutschland rollen, nicht nur deutsche Züge sind. Deswegen ist
das ein europäisches Thema.
Wir werden, wie gesagt, auch im Eisenbahnregulierungsgesetz weitere Anreize setzen.
({5})
Wir freuen uns, dass wir das auf den Weg gebracht
haben. Es stimmt, dass es diesbezüglich Bedenken innerhalb der Koalition gab. Aber Sie haben das in elf Jahren
nicht hinbekommen. Wir freuen uns über unseren
Erfolg. Wir haben einen wichtigen Schritt getan, um die
Infrastruktur der Schiene zu stärken. Das hat diese
Koalition hinbekommen, aber nicht die SPD. Es ist richtig, dass wir den Schienenbonus abschaffen. Leider
haben Sie, Kollege Herzog, in dieser Hinsicht wenig hinbekommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte in Erinnerung rufen, worüber wir sprechen. Die
gesundheitlichen Belastungen für die Leute im Mittelrheintal und im Rheintal überhaupt durch die Güterverkehrszüge sind nach Berechnungen von Professor
Greiser mindestens doppelt so hoch, wahrscheinlich
dreimal so hoch, wie die Belastungen von Menschen, die
in Einflugschneisen von Flughäfen wohnen. Die Vorsorgewerte, die jetzt für Neubaustrecken vorgesehen sind,
mit deren Bau nach dem Gesetzentwurf, den Sie hier
vorlegen, irgendwann nach dem Jahr 2016 begonnen
wird, werden heute um das etwa Zehnfache überschritten. Professor Greiser sagt, man müsse angesichts dieser
Werte eigentlich von aktiver Körperverletzung mit möglicher Todesfolge sprechen,
({0})
weil sich tatsächlich die gesundheitlichen Risiken enorm
summieren.
Jetzt wird am 1. Oktober unser Verkehrsminister, Herr
Ramsauer, in Bingen eine große Show veranstalten.
({1})
Er wird dort mit einem halbsanierten Güterzug auflaufen
und zeigen, wie das Programm „Leiser Rhein“ die
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bewirken soll.
Genau die gleiche Veranstaltung mit dem gleichen Vorführzug ist 2007 in Bingen schon einmal vonstattengegangen, ohne dass sich für die Leute dort irgendetwas
geändert hat.
Tatsächlich ist es mit dem Programm „Leiser Rhein“
inzwischen gelungen, 1 250 der 800 000 Güterwaggons
zu sanieren, von denen die Kollegin vorhin gesprochen
hat. Das sind 0,7 Prozent. Das hören die Leute nicht, genauso wenig wie sie hören, dass der Schienenbonus im
Jahr 2016 abgeschafft werden soll. Denn die Strecken,
die vorhanden sind, werden überhaupt nicht saniert. Es
werden keine zusätzlichen Lärmschutzmaßnahmen getroffen. Das heißt, die Menschen haben von dem, was
Sie hier heute beschließen werden, gar nichts. Sie fühlen
sich verhöhnt. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Sie
haben vor allen Dingen nicht den Eindruck, dass das
Problem Lärmbelastung ernst genommen wird, genauso
ernst, wie Sie die wirtschaftlichen Interessen derjenigen
Unternehmen nehmen, die ihre Güter durch das Rheintal
rasen lassen.
Es gibt in der Schweiz - die ist gar nicht weit entfernt ein sehr gutes Beispiel dafür, wie mit Lärmschutz an Güterverkehrstrassen umgegangen werden kann. Da wird
damit sehr systematisch umgegangen. Da wird Lärm gemessen. Da werden verschiedene Maßnahmen ergriffen.
Da wird mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam
überlegt, wie man es besser machen kann. Außerdem
werden da klare Festlegungen für das Ende der lauten
Güterzüge getroffen. Wir haben im Verkehrsausschuss
eine Anhörung durchgeführt - Sie erinnern sich sicher
daran -, und alle dort vertretenen Unternehmen haben
gesagt: Es ist für uns überhaupt kein Problem, die Güterzüge auf leise Bremsen umzurüsten; aber die Politik
muss klare Vorgaben machen. Es muss eine Deadline gesetzt werden, bis wann die Güterzüge umzurüsten sind.
({2})
Die Lärmsanierung der bestehenden Strecken würde
- das haben wir bei der Bundesregierung erfragt 1,2 Milliarden Euro kosten. Sie wollen die ganze Geschichte kostenneutral organisieren. Das wird nicht klappen. 1,2 Milliarden Euro, hört sich viel an. Aber wenn
ich bedenke, dass der Bundesverkehrsminister damit
einverstanden ist, dass ungefähr 1,6 Milliarden Euro für
die Förderung der Automobilindustrie zur Entwicklung
von Elektroautos eingesetzt werden und dass man mit
diesem Geld eigentlich die Elektromobilität auf der
Schiene vernünftig gestalten könnte, nämlich mit ordentlichem Lärmschutz, dann finde ich die Situation nachgerade skurril.
({3})
Ich möchte zum Schluss sagen, dass die Bürgerinitiativen, die im Rheintal sehr aktiv sind, eine sehr konkrete
Forderung haben, deren Umsetzung sie ganz schnell und
ganz sicher entlasten würde, nämlich ein Nachtfahrverbot für laute Güterzüge.
({4})
Dieselben Forderungen erheben die Flughafeninitiativen
im Hinblick auf den Flugverkehr. Ich kann Ihnen sagen:
Wenn Sie die Leute nicht ernst nehmen, dann werden
sich die Auseinandersetzungen dort zuspitzen. Die Bürgerinitiativen gegen Fluglärm haben es geschafft, ein
Nachtflugverbot durchzusetzen. Das ist noch nicht genug, aber es ist etwas. Flieger können von den Bürgerinitiativen nicht gestoppt werden; aber Zuggleise sind zugänglich. Die Bürgerinitiativen, die Bürgerinnen und
Bürger befinden sich an der obersten Belastungsgrenze.
Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dort noch
Ihr blaues Wunder erleben.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dr. Valerie Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns das so anhören, was die Kolleginnen und Kollegen eben schon
gesagt haben: Es ist erschütternd. Wir bekommen schon
seit langem keine vernünftigen Begründungen mehr dafür, dass der Schienenverkehr doppelt so laut sein darf
wie der Straßenverkehr. Man muss es sich auf der Zunge
zergehen lassen: Der sogenannte Schienenbonus in Höhe
von 5 Dezibel, also eine Prämie für die Schiene, geht
einher mit einer Verdopplung der Lautstärkewirkung.
Das ist etwas, worum wir uns wirklich dringend kümmern müssen.
Auf diesen Gesetzentwurf haben wir schon lange gewartet. Wir können uns fragen, warum dieser Entwurf
Ewigkeiten zwischen den Ressorts hin- und hergeschoben wurde. Das können wir aber auch sein lassen; denn
ein solches Verhalten ist ja bei allem der Fall, was diese
Regierung in ihrer Endzeitstimmung anfasst.
({0})
Im Detail hat sich im Vergleich zu den ersten Entwürfen jedenfalls nichts Wesentliches geändert. Grundsätzlich kann man sagen: Die Sache ist richtig, notwendig
und vor allem dringend. Sie ist aber nur ein Detail eines
großen Problems. So wie Sie das Ganze jetzt angelegt
haben, wird es zunächst nur ganz wenigen helfen, die
vom Verkehrslärm betroffen sind.
Erst nach dem nächsten Bundesverkehrswegeplan
sollen neue Schienenstrecken leiser gebaut werden. Das
müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:
Dieser muss eigentlich 2015 beschlossen werden. Die
Erfahrungen lehren uns allerdings, dass es, sofern es gut
geht, 2016 oder eher 2017 sein wird. Und mit dem von
Herrn Herzog schon angesprochenen kleinen Kniff kann
der Vorhabenträger besonders genial vorgehen: Dann
schiebt er alles nach hinten, indem er vorher mit der
Planfeststellung für all die Projekte, die er noch durchziehen will, beginnt, und schon haben wir 2020 und noch
später.
Jeder weiß, dass sich der Bau von Schienenprojekten
über Jahrzehnte hinziehen kann. Das ist vor allem dann
der Fall, wenn die Mittel nicht reichen. Dafür haben wir
ein besonders unrühmliches Beispiel, das wir eigentlich
bis 2020 fertigstellen sollten. Ich denke da an die Rheintalbahn. Der Entwurf hält nämlich ausdrücklich fest,
dass kein zusätzliches Geld ausgegeben werden soll.
Dann wird alles noch länger dauern.
Wer Pech hat, bekommt auch noch in vielen Jahren
eine neue Schienenstrecke in alter Lautstärke vor die
Nase gesetzt. Soll das etwa eine ernsthafte Lösung für
die von Güterzuglärm geplagten Anwohner sein? Wohl
kaum. Hinzu kommt, dass es auch nur für Neubaustrecken in ferner Zukunft gilt. Das eigentliche
Problem - beispielsweise das Mittelrheintal - sind die
bestehenden Strecken, aber die haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, im Gesetzentwurf explizit ausgeschlossen.
({1})
Alte Strecken sind laut und dürfen es Ihrer Meinung
nach bleiben.
Es wird keinen Rechtsanspruch auf Sanierung bestehender Strecken geben. Nur wenn es im Haushalt entsprechende Mittel gibt, kann überhaupt etwas passieren.
Die Koalition lehnt aber eine Erhöhung der Mittel
ab - auch das steht in Ihrem Gesetzentwurf -, und dann
schauen die Betroffenen noch lange in die Röhre.
({2})
Das alles zeigt uns: Auf die größte Frage des Problems
hat diese Koalition in der Endzeit keine Antwort.
({3})
Die Kernfrage lautet letztendlich: Wollen wir als Gemeinschaft, als Gesellschaft auf Kosten von Millionen
von Menschen weiter Krach machen? Darum geht es,
und darüber müssen wir diskutieren.
Verkehrslärm ist neben Luftverschmutzung der zweitgrößte Verursacher von Gesundheitsrisiken. Auch soziale Folgen sind spürbar, weil ärmere Menschen häufig
an lauten Orten - diese sind nämlich billiger - leben. Die
standortbedingten gesundheitlichen Probleme verstärken
sich damit weiter.
Das, Kolleginnen und Kollegen, sind die Probleme,
über die wir reden müssen. Das sind die Probleme, für
die wir eine Lösung brauchen. Aber leider hilft uns Ihr
Gesetzentwurf dabei keinen Schritt weiter.
({4})
Wir brauchen deswegen eine breite gesellschaftliche
Debatte. Lassen Sie uns darüber reden, wie lange Menschen noch unter Verkehrslärm leiden sollen. Wir müssen diskutieren, was uns das wert ist. Es geht nicht nur
allein um die Abschaffung des Schienenbonus; ich
glaube, wir sind uns alle einig, dass es dazu kommen
muss. Vielmehr muss es jetzt darum gehen, wie wir die
Mittel dafür generieren können - und zwar schleunigst
und nicht erst 2020 oder noch später.
Kollegin Wilms, achten Sie bitte auf die Zeit.
Dem müssen wir uns stellen - Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss -; denn alles andere ist nur Placebo
oder maximal eine Beruhigungspille. Die wollen Sie der
Tribüne zwar verpassen, aber sie wird die Ursache nicht
beseitigen.
({0})
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Steffen Bilger für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich mich auf den Weg ins Plenum gemacht habe,
habe ich eigentlich gedacht, uns könnte vielleicht doch
ein harmonischer Abschluss dieses Sitzungstages erwarten.
({0})
Denn im Ziel, der Abschaffung des Schienenbonus, sind
wir uns alle einig. Dann habe ich allerdings, Frau
Dr. Wilms, Ihren Twitter-Beitrag gelesen und die Rede
von Herrn Herzog gehört und festgestellt: Die Oppositionsreflexe dominieren leider auch diese Debatte.
({1})
- Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Kollege Herzog:
({2})
Wir haben nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir den Schienenbonus abschaffen, sondern
wir haben uns bereits im März 2011 in unserem Antrag
zur Rheintalbahn dazu bekannt, und ich kann Ihnen versichern, dass auch der Bundesverkehrsminister für die
Abschaffung des Schienenbonus einsteht.
({3})
Nicht zuletzt deswegen können wir heute auch diesen
Antrag vorlegen.
Schon bei unserer letzten Debatte - daran erinnern
mich einige Beiträge -, die im April 2012 - Kollege
Herzog hat es gesagt - stattgefunden hat, habe ich für
unsere Koalitionsfraktionen bekräftigen können, dass
wir den Schienenbonus abschaffen wollen, und bereits
damals - ich habe im Protokoll nachgelesen - mussten
wir uns vorwerfen lassen, wir seien eine Koalition der
Verweigerung und der Vertagung.
({4})
Wir würden nichts auf die Reihe kriegen. Das alles hat
sich nun als das erwiesen, was es auch damals schon
war, nämlich reines Oppositionspoltern.
({5})
Ich kann mich nicht nur an die Debatte erinnern, sondern auch an viel Unterstützung, die wir von den Bürgerinitiativen bekommen haben, aber durchaus auch an kritische Nachfragen, wann denn dem Lippenbekenntnis
Taten folgen würden.
Das ist heute der Fall. Die Koalition steht nach wie
vor ganz klar zu der Aussage im Koalitionsvertrag: Wir
schaffen den Schienenbonus ab. Ich will deutlich machen, dass der Schienenbonus heute nicht mehr zeitgemäß ist. Damals, als der Schienenbonus eingeführt
wurde, gab es Untersuchungen, die belegen sollten, dass
es gerechtfertigt wäre, diesen Schienenbonus einzuführen, weil bei dem Halbstundentakt, der früher üblich
war, der Schienenlärm eher verträglich sei, als es beispielsweise beim Straßenlärm der Fall sei. Heute, in Zeiten, in denen die Zugtaktung sehr viel enger ist, wissen
wir, dass dieser Schienenbonus nicht mehr zeitgemäß ist.
Damals hat man auch gedacht, dass man der Bahn etwas Gutes damit tun würde, wenn der Schienenbonus
eingeführt wird. Mittlerweile muss man sagen, dass eher
das Gegenteil der Fall ist; denn für Schieneninfrastrukturprojekte in der Zukunft wird es immer wichtiger, dass
die Akzeptanz bei der Bevölkerung gewährleistet ist.
({6})
- Zur Rheintalbahn komme ich gleich noch ausführlich,
lieber Herr Kollege.
Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass Schienenlärm eine enorme Belastung für die Bevölkerung darstellt. Deswegen wurde es auch zu einer Art Symbol für
die Bevölkerung, wenn es um den Kampf für mehr
Schutz vor dem Schienenlärm geht, den Schienenbonus
abzuschaffen. Auch und gerade deshalb ist die Abschaffung des Schienenbonus ein Zeichen, dass wir das Lärmproblem sehen und verstanden haben, dass wir uns als
Verkehrspolitiker an diese Aufgabe machen müssen.
({7})
Dabei soll es aber nicht bleiben. Es kann noch viel
mehr getan werden. Der Bund ist schon in der richtigen
Richtung unterwegs: freiwilliges Lärmsanierungsprogramm,
({8})
lärmabhängiges Trassenpreissystem und die Einführung
neuer und damit leiserer Bremsen.
Die Abschaffung des Schienenbonus ist aber nicht nur
ein Symbol, sondern sie wird massiv hörbar sein.
({9})
Wir haben es heute schon gehört: Das Privileg, auf der
Schiene 5 Dezibel mehr Lärm produzieren zu dürfen, bedeutet im Klartext - das zeigen auch Studien beispielsweise des Umweltbundesamtes -, dass der Lärmpegel
um 50 Prozent höher ist. Das gilt es zu ändern.
({10})
Die Lärmschutzmaßnahmen werden aufgrund der
Abschaffung des Schienenbonus deutlich umfassender
werden. Das sind gute Nachrichten für die Menschen,
die entlang der Bahnstrecken wohnen.
({11})
Damit wird endlich der Lärm nicht mehr abqualifiziert,
sondern als das beschrieben, was er ist, nämlich als massiver Störfaktor.
({12})
Dabei - das will ich auch deutlich sagen - ist natürlich klar, dass die Abschaffung des Schienenbonus erst
für Neubaumaßnahmen gelten wird, die ab Inkrafttreten
der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes im Jahr 2015 geplant werden.
Wir bedauern sicherlich alle, dass nicht sofort eine
Regelung für alle lärmgeplagten Anwohner gefunden
werden kann.
({13})
Aber wenn Sie einmal ehrlich sind, liebe Kollegen von
der Opposition, wenn Sie hier in der Verantwortung wären und als Regierungsfraktion einen Antrag zur Abschaffung des Schienenbonus vorlegen müssten, wäre
Ihnen auch kein anderer Weg möglich.
({14})
Schließlich geht es hier um Planungen, die über den
Haufen geworfen werden würden. Wir müssen auch daran denken, dass der Haushalt bei einer sofortigen Abschaffung des Schienenbonus infrage gestellt werden
würde. Trotzdem ruhen wir uns nicht darauf aus.
({15})
Wir müssen daran arbeiten, dass der Verkehr in Deutschland insgesamt leiser wird. Deshalb finanziert der Bund
unter anderem die Umrüstung auf leise Güterzüge.
({16})
Meine Damen und Herren, schon lange beschäftigt
uns das Thema Schienenlärm im Bundestag. Als Koalitionsfraktion haben wir uns bereits im März 2011 in unserem Antrag zur Rheintalbahn dafür eingesetzt, dass
dieses wichtige Bahnprojekt so geplant wird, als wenn
der Schienenbonus bereits abgeschafft wäre. Darauf
hatten wir uns - die Wahlkreisabgeordneten Armin
Schuster und Peter Götz können es bestätigen - mit den
anderen Beteiligten, mit den Bürgerinitiativen, mit den
Landesregierungen, mit der Bundesregierung, mit den
kommunalen Vertretern und der Deutschen Bahn verständigt. Das kann doch ein gutes Beispiel auch für andere Projekte sein.
({17})
Abschließend kann ich meine Forderung aus der letzten Debatte nur wiederholen: Es würde uns in Deutschland sehr helfen, wenn die Europäische Union mittelfristig nur noch leise Güterzüge in Europa zulassen würde.
Ein wichtiger Schritt für mehr Lärmschutz ist getan,
sobald unser Gesetzentwurf beschlossen ist. Lassen Sie
uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass weitere
Schritte folgen.
Vielen Dank.
({18})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Judith
Skudelny.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich wundere mich über den einen oder anderen Redebeitrag.
({0})
Ich spreche oft mit den Bürgerinitiativen vor Ort, die
sich seit Jahren für die Abschaffung des Schienenbonus
einsetzen.
({1})
Die meisten Parteien, die jetzt dagegen - ich sage
einmal - maulen, dass wir nicht schnell genug sind und
zehn Jahre gar nichts getan haben, müssten eigentlich
ganz froh sein über unseren Gesetzentwurf.
({2})
- Natürlich muss ich lachen, weil Sie wissen, dass es für
die Bürger im Rheintal nicht rechtzeitig kommen würde,
selbst wenn wir morgen den Schienenbonus abschaffen
würden.
({3})
Es geht darum, einen modernen, leistungsfähigen, zukunftsorientierten und menschenfreundlichen Schienenverkehr für kommende Generationen zu schaffen.
({4})
- Mehr als alle Regierungen vorher.
Jetzt bitte eine Zwischenintervention.
({5})
Diejenigen, die hier am lautesten schreien, haben in
den letzten Jahren am wenigsten gemacht.
({6})
Dieser Gesetzentwurf ist nicht wegen der Oppositionsparteien zustande gekommen, sondern wegen der
Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Region, der
Rheintalschiene. Das ist richtig. Die haben sich seit Jahren vor Ort in Bürgerinitiativen, in Kommunalräten, bei
den Bürgermeistern, aber auch bei den Bundespolitikern
dafür eingesetzt. Sie haben E-Mails geschrieben und im
Vorder- und Hintergrund gearbeitet, damit heute und hier
endlich der richtige Schritt in die richtige Richtung gemacht wird.
({7})
Der heutige Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung.
({8})
Wir haben vorhin gehört, dass Rot-Grün die Lärmsanierung mit 50 Millionen Euro eingeführt hat. Ich darf Ihnen gratulieren. Wir haben bis heute den Betrag verdoppelt.
({9})
Es ist richtig, dass Kinderlärm privilegiert ist.
({10})
- An die Zwischenblöker von links: Ich muss lachen,
weil mich die Debatte amüsiert, weil Sie so viel Quark
erzählen, dass mir kaum noch etwas anderes einfällt, außer zu lachen.
({11})
Es ist durchaus richtig, dass Kinderlärm privilegiert
ist. Auch das hat die
({12})
schwarz-gelbe Koalition gemacht. Das haben die anderen nicht geschafft. Oppositionslärm ist hinzunehmen.
Nicht hinzunehmen ist Lärm von Güterverkehr, der bisher gegenüber dem Straßenverkehr privilegiert war und
künftig nicht mehr privilegiert sein wird.
({13})
Liebe Kollegen, überlassen Sie der Kollegin
Skudelny bitte überwiegend das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren, ich beende diese lustige
Debatte damit, zu sagen, dass wir immer die richtigen
Schritte gemacht haben, die Sie nicht auf die Reihe bekommen haben. Ich freue mich auf die Debatten im Ausschuss.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/10771 und 17/10780 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a und 8 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/8233 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn,
Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung personenbeförderungs- und
mautrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 17/7046 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche
- Drucksachen 17/7487, 17/10857 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Vogel ({3})
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer.
({4})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Tagesordnungspunkt gibt es sicherlich
keine lustige, sondern vielmehr eine friedliche und kollegiale Debatte.
({0})
- Der Kollege von der Linksfraktion hat zu diesem Frieden nichts beigetragen.
({1})
Ich möchte mich zunächst sehr herzlich für die gute
politische Kultur unter den Kolleginnen und Kollegen
bedanken. Wir haben eine Einigung erzielt zwischen
CDU/CSU, SPD, den Grünen und der FDP. Vier Fraktionen im Deutschen Bundestag zusammen mit den Bundesländern haben für die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung in Deutschland einen guten und sehr
demokratischen kollegialen Beitrag geleistet. Herzlichen
Dank dafür.
({2})
Obwohl es jetzt 22.50 Uhr ist, wäre gerade dieses für
die Verkehrspolitik doch sehr wichtige Reformprojekt
gut dafür geeignet gewesen, dass die Medien etwas öffentlichkeitswirksamer hätten darüber berichten können, anstatt es lediglich irgendwo in einem Einspalter
darzustellen. Insbesondere angesichts der Vergabesituation in den Kommunen im Hinblick auf die Personenbeförderungsrealität hätte die Tatsache, dass jetzt auch die
Liberalisierung der Fernbuslinien verwirklicht wird,
mehr Raum in der öffentlichen Diskussion verdient gehabt.
Ich denke, dass verkehrspolitisch ein Riesenschritt
gemacht wurde, nämlich zum einen beim Schienenbonus
für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger - darüber
wurde vorhin diskutiert - und zum anderen mit Blick auf
die Lebenswirklichkeit der Personenbeförderung vor Ort
in den Gemeinden, in den Städten.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Dr. Seiffert?
Ja, natürlich.
({0})
- Wir haben doch Zeit.
({1})
Meine lieben Damen und Herren, Sie hätten ja den
Tagesordnungspunkt weiter nach vorne setzen können,
wenn Ihnen das jetzt zu spät ist für diese Frage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie die vier Fraktionen
gelobt haben, sind Sie bereit, zumindest einen Satz dazu
zu sagen, dass es großen Drucks aus der Behindertenbewegung in ganz Deutschland bedurfte, Sie überhaupt auf
den Gedanken zu bringen, bei der Liberalisierung des
Fernreiseverkehrs auch an barrierefreie Busse zu denken, obwohl das die UN-Behindertenrechtskonvention
als geltende Gesetzesgrundlage in Deutschland zwingend vorschreibt?
Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe jetzt noch fünf
Minuten und drei Sekunden Redezeit auf der Uhr stehen;
ich wäre schon noch dahin gekommen.
({0})
Sie hätten auch noch Ihr Lob abbekommen.
({1})
Lassen Sie mich diese fünf Minuten noch reden. Ich
hätte auch noch den Behindertenbeauftragten Hubert
Hüppe hervorgehoben. Wir hatten zahlreiche Gespräche
mit den Berichterstattern, woran sich die Linksfraktion
nicht beteiligt hat.
({2})
Wir aber haben wenigstens die Berichterstattergespräche
mit den Behindertenverbänden und dem Behindertenbeauftragten geführt. Hierzu wäre ich noch gekommen.
Wenn Sie schon diesen Punkt herausgreifen, dann lassen Sie mich sagen: Es ist ein guter Schritt, dass auch die
Verbände der Behinderten dazu bereit waren, Kompromisse einzugehen und von den Maximalforderungen abzuweichen. Dieser Gesetzentwurf wurde insgesamt sieben Jahre lang mit den verschiedenen Mehrheitsverhältnissen und in den verschiedenen Entwurfsstadien
diskutiert. Dass wir jetzt miteinander diese Lösung erzielt haben, zeigt, wie kompromissbereit dieses Haus in
den einzelnen Fraktionen ist. Es ist hervorzuheben, dass
alle Beteiligten - die vier Fraktionen, die Bundesländer,
die Verbände - ihren Beitrag zu diesem Kompromisswerk geleistet haben.
({3})
Gerade im Hinblick auf die vollständige Barrierefreiheit haben wir natürlich auch Verpflichtungen, die zu erfüllen wir uns vorgenommen haben. Aber bis dann 2020,
2022 diese Regelungen vollständig umgesetzt sein müssen, ist es zumindest ein guter Kompromiss, dass wir bei
den Fernbuslinien für die Behinderten Plätze vorgesehen
haben, und zwar jeweils mindestens zwei Plätze für die
Rollstühle sowie die notwendigen Einstiegshilfen.
Neben diesen Punkten ist natürlich auch der Schutz
des öffentlichen Nahverkehrs von besonderer Bedeutung. Im Fernbuslinienverkehr soll freier Wettbewerb
entstehen, um den Bürgerinnen und Bürgern komplette
Wahlfreiheit zu geben: Sie können jetzt natürlich nach
wie vor mit dem Pkw fahren, können aber genauso - wir
alle wünschen das - auf den Zug, auf die Schiene umsteigen; diejenigen, die vielleicht nicht auf die Uhr
schauen müssen und mehr Zeit haben oder auf den Geldbeutel schauen müssen, nämlich beispielsweise die Studenten und die Rentnerinnen und Rentner, können auf
das Fernbuslinienangebot zurückgreifen. Das ist eine
gute Botschaft. Wir haben an dieser Stelle Liberalität in
der Mobilität erreicht. Das ist ein sehr guter Schritt.
({4})
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle erlaube ich
mir, die Kolleginnen und Kollegen hervorzuheben, die
daran mitgewirkt haben: Dirk Fischer, Sören Bartol,
Patrick Döring und Toni Hofreiter, die Berichterstatter
der verschiedenen Fraktionen, unter der Moderation von
Volkmar Vogel, vor allem auch die diversen Ländervertreter, die Fraktionsmitarbeiter und die Mitarbeiter unseres Hauses. Sie haben sich, wie gesagt, mehrere Jahre
mit der nationalen Umsetzung kompliziertester Sachverhalte von europäischer Ebene beschäftigen müssen. Die
Mitarbeiter Doose und Hamburger haben großen Einsatz
gezeigt; sie mussten mit unseren Fraktionsmitarbeitern
große Schmöker bearbeiten. Wenn ein Werk gut geworden ist, dann ist es Zeit, in einer solchen Debatte die Mitarbeiter hervorzuheben, ebenso die Kompromissbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen.
Es ist eine gute Botschaft zu später Stunde, dass wir
einen weiteren positiven Beitrag zur Entwicklung der
Mobilität und der Verkehrspolitik in Deutschland geleistet haben. Ich freue mich, dass wir damit Klarheit für die
vielen mittelständischen Unternehmen in dem Bereich
schaffen, die über Jahre hinweg eine harte Zeit hatten.
Denn es gab Bedenken und Ängste, die im Zusammenhang mit der Umsetzung europäischer Vorgaben auf nationaler Ebene aufkommen mussten. Es gab in den verschiedenen Verhandlungsstadien immer wieder große
Diskussionen, Debatten, parlamentarische Abende, Anhörungen und vieles mehr. Es freut mich, dass wir heute
zu diesem Ergebnis gekommen sind.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Sören Bartol für die SPDFraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Personenbeförderungsgesetz hat nicht
nur uns Fachpolitiker seit mehreren Jahren beschäftigt:
Kommunen, Verkehrsunternehmen und ihre Beschäftigten, Gerichte und vor allen Dingen eine Vielzahl von Juristen begleitet dieses Thema schon lange. Kaum jemand
hat noch damit gerechnet, dass die Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes in dieser Legislaturperiode
kommt. Deswegen freue ich mich umso mehr - der Kollege Staatssekretär hat es schon gesagt -, dass es uns
Parlamentariern gelungen ist, einen Kompromiss zu finden, der - davon gehe ich ganz schwer aus - auch von
einer breiten Mehrheit der Länder mitgetragen wird.
Ab 2013 wird der öffentliche Nahverkehr in Deutschland einen neuen Rechtsrahmen haben, der mehr Rechtssicherheit bringt, vor allem aber ein qualitatives, hochwertiges Nahverkehrsangebot sichert. Ich möchte mich
dem Dank an die Kolleginnen und Kollegen anschließen, die daran mitgearbeitet haben, vor allen Dingen dafür, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen haben und wir sachlich und konstruktiv über Monate
hinweg an dem jetzt vorliegenden Kompromiss arbeiten
konnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war, wie
ich finde, Gesetzgebungsarbeit im besten Sinne. Zahlreiche Länder von A-, B- und neuerdings auch G-Seite haben uns mit ihrem fachlichen Rat unterstützt. Auch dafür
möchte ich mich ganz herzlich bedanken.
({0})
Leider stehen die Fernlinienbusse im Mittelpunkt der
öffentlichen Wahrnehmung; man sieht es auch an der
Kurzbezeichnung des Tagesordnungspunktes. Ich kann
es niemandem verdenken; denn der ÖPNV ist ein schwer
zugängliches Expertenthema, ein Expertenthema, das allerdings konkrete Auswirkungen hat, auf das tägliche
Leben der Menschen, die Busse und Bahnen nutzen, und
auf die Beschäftigten in den Verkehrsunternehmen. Uns
als SPD war es deshalb wichtig, dass die kommunalen
Aufgabenträger die Gestaltungshoheit über das Verkehrsangebot bekommen. Sie sind diejenigen, die für die
Daseinsvorsorge verantwortlich sind, und dieser Kompromiss setzt das auch um. Die Aufgabenträger bekommen eine klare Aufgabenbeschreibung und Handlungsinstrumente entsprechend der EU-Verordnung. Neben
einer Vergabe in einem wettbewerblichen Verfahren sind
Eigenerbringung und Direktvergabe ausdrücklich möglich. Das ist wichtig für die Kommunen und ihre Verkehrsunternehmen, aber auch für kleine und mittelständische private Unternehmen. Die Gewerkschaften, liebe
Kolleginnen und Kollegen, begrüßen diesen Erfolg doch
ausdrücklich.
Die Besonderheit des deutschen Rechts, der Vorrang
eigenwirtschaftlicher Verkehre, bleibt, auch auf Wunsch
der Länder. Dieser Vorrang wird aber dann eingeschränkt, wenn kommunale Aufgabenträger selbst aktiv
den Nahverkehr gestalten wollen. Eigenwirtschaftliche
Verkehre dürfen Qualitätsanforderungen zu Takt, Bedienzeiten und Barrierefreiheit nicht wesentlich unterschreiten, ansonsten bekommen sie keine Genehmigung.
Welche Qualitätsanforderungen unter welchen Voraussetzungen gelten, wann Abweichungen davon wesentlich sind, das haben wir in einem langen, ich gebe
zu, sehr komplizierten Paragrafen verfasst, der sicherlich
kein Lehrbuchbeispiel wird. Aber was uns am Ende gelungen ist - ich glaube, darauf kommt es an -, ist ein
System von Checks and Balances zwischen kommunaler
Verantwortung auf der einen Seite und Unternehmensinteressen auf der anderen Seite, das Rosinenpickerei auf
lukrativen Linien und die Unterschreitung von Qualitätsstandards wirkungsvoll verhindert.
An zwei weiteren wichtigen Stellen wird das ÖPNVRecht modernisiert. Erstens. Im Nahverkehrsplan wird
das Ziel vollständiger Barrierefreiheit vorgegeben.
({1})
Diese Regelung gilt ab 2022, und dann sind Ausnahmen
- und das ist wirklich neu - nur noch mit Begründung
möglich. Zweitens. Wir gehen außerdem einen ersten
Schritt, um die Genehmigung alternativer Bedienformen
zu erleichtern: Von Anrufsammeltaxen über Rufbusse
bis hin zu Linienbandbetrieb - in der Praxis hat sich eine
erfreuliche Vielfalt entwickelt, die endlich eine tragbare
rechtliche Grundlage braucht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen: Bei der
Liberalisierung der Fernbuslinien waren wir als SPD
nicht von Anfang an vollauf begeistert.
({2})
Neben den Chancen eines zusätzlichen, preisgünstigen
Mobilitätsangebots sehen wir allerdings auch die Risiken. Deswegen ist es uns besonders wichtig, dass in das
Gesetz nun eine Regelung zum Schutz des Regionalverkehrs aufgenommen wird; denn der Regionalverkehr auf
der Schiene wird mit viel öffentlichem Geld bezahlt, und
er ist für viele Pendler - das muss man einmal deutlich
sagen - alternativlos.
Wir müssen die neue Entwicklung des Fernbusmarktes aufmerksam beobachten. Im Gesetz ist deshalb eine
Berichtspflicht der Bundesregierung verankert, Anfang
2017 soll dieser Bericht dem Deutschen Bundestag vorliegen. In unserem gemeinsamen Entschließungsantrag
fordern wir die Bundesregierung noch einmal auf, das
Bundesamt für Güterverkehr personell so auszustatten,
dass es diese neuen Fernlinienbusse auch effektiv kontrollieren kann. Es geht dabei um einen fairen Wettbewerb, die Arbeitsbedingungen der Fahrer und damit
nicht zuletzt um die Sicherheit der Fahrgäste, und das
von Anfang an.
Ich freue mich besonders, dass es uns gelungen ist,
bei den Fernlinienbussen Barrierefreiheit zur Pflicht zu
machen. Ab 2016 gilt für neue Busse, dass sie mit zwei
Rollstuhlplätzen und einem Hublift ausgestattet sein
müssen. Ab Ende 2019 gilt das dann für alle Busse. Die
Hersteller und die Unternehmen werden genug Zeit haben, sich darauf einzustellen. Was wir in den letzten Tagen in der Presse gelesen haben, dass das die Unternehmen überfordert, ist im Sinne einer modernen Politik für
Menschen mit Behinderung eigentlich nicht mehr zu diskutieren.
Die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz, die
wir heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt auf dem
Weg zu mehr Rechtssicherheit und zu einem guten öffentlichen Nahverkehr. Mit den Fernlinienbussen wagen
wir uns auf Neuland, unter jetzt vernünftigen Rahmenbedingungen, auf die wir uns alle gemeinsam verständigt
haben. Dass dieser Kompromiss gelungen ist, das zeigt
auch die politische Handlungsfähigkeit jenseits von
manchmal doch recht tiefen ideologischen Gräben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
freuen uns, dass der gefundene Kompromiss beim Personenbeförderungsgesetz innerhalb und auch außerhalb
dieses Hauses breite Zustimmung findet. Es gibt nur
kleine Unzufriedenheiten und Kritikpunkte. Das zeigt,
dass es sich um einen ausgewogenen Kompromiss handelt. Er ist ein großer Erfolg aller beteiligten Fraktionen
und auch der Bundesländer. Deswegen gilt mein herzlicher Dank im Namen der FDP-Bundestagsfraktion all jenen, die an diesem Kompromiss beteiligt waren.
({0})
Unser zentrales Anliegen war und ist, den bewährten
Ordnungsrahmen für den ÖPNV in Deutschland an das
geänderte europäische Recht anzupassen, aber auch
nicht völlig umzukrempeln. Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern einen attraktiven und erfolgreichen ÖPNV. Mehr Transparenz und Wettbewerb tun
aber auch dem ÖPNV in Deutschland gut.
Dabei die Interessen der kleinen und mittelständischen, meist familiengeführten Busunternehmen zu wahren, war für die FDP ein zentrales Anliegen in den Verhandlungen. Das ist an den entscheidenden Stellen auch
gelungen. Im ÖPNV bleibt es beim Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehre. Das ist ein Thema, das uns
besonders wichtig war und bleibt. Das heißt, die Aufgabenträger können nur unter engen Voraussetzungen mit
einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag eigenwirtschaftlichen Verkehr verdrängen.
Auch im Fernverkehr haben wir nicht nur die weitgehende Liberalisierung erreicht, sondern auch das Genehmigungsverfahren entbürokratisiert. Das ist gut für Kunden, für Steuerzahler und das mittelständische Transportgewerbe. Deswegen können wir uns mit dem Ergebnis wirklich sehr gut anfreunden. Das ist auf Linie des
Koalitionsvertrages, weil wir, wie Kollege Bartol zu
Recht beschrieben hat, eine angemessene Rollenverteilung zwischen Staat und Markt im ÖPNV haben, die
kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Instrument des Nahverkehrsplans und des öffentlichen Dienstleistungsauftrages konkreter als bisher beschrieben und
gestärkt haben, es aber auch noch ausreichend Spielraum
für eigenwirtschaftlichen Verkehr gibt. Dies kann durch
verschiedene Vorgaben des Nahverkehrsplans quasi hinten herum nicht mehr ausgehebelt werden. Der eigenwirtschaftliche Genehmigungsantrag kommt, vereinfacht
gesagt, nur dann nicht zum Zug, wenn er wesentlich von
dem abweicht, was der Aufgabenträger an Verkehr bestellen will.
({1})
Wir freuen uns besonders über die wirklich überfällige Freigabe des Buslinienfernverkehrs. Diese Freigabe
bedeutet natürlich nicht, dass jeder tun und lassen kann,
was er will. Es gelten strenge gewerberechtliche Anforderungen, was Zuverlässigkeit und Sicherheit angeht.
Natürlich ist es weiterhin notwendig, eine Verkehrsgenehmigung, eine Liniengenehmigung zu beantragen. Der
Unterschied zu vorher ist, dass man diese Genehmigung
nicht mehr einfach mit der Begründung verweigern
kann, dass es andere Unternehmer bzw. die Eisenbahn
gibt. Der bisherige Wettbewerbsschutz entfällt. Das ist
unserer Meinung nach nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit bei einer Tätigkeit, die der Staat nicht bezuschussen muss und die auch nicht in das eigentliche
Tätigkeitsfeld staatlicher Aufgaben fällt.
({2})
Das heißt, wir vollziehen beim Busverkehr nichts anderes als das, was wir auf allen anderen Verkehrsmärkten
haben. Heute würde ja auch keiner mehr auf die Idee
kommen, einem Spediteur Beförderungsdienstleistungen
zu verbieten, nur weil ein anderer sie erbringt.
({3})
Wir sind der Überzeugung, dass Wettbewerb und
marktwirtschaftliche Ordnung auch im Verkehrssektor
dafür sorgen, dass Kunden und die Volkswirtschaft profitieren, dass die Preise fallen, dass Service und Qualität
sich verbessern. Das wird auch mit der Liberalisierung
im Fernverkehr der Fall sein. Deswegen ist das gut und
richtig.
({4})
Welche Angebote es nun geben wird - das wurde
eben zu Recht angesprochen -, das kann niemand voraussagen. Wir wollen Marktchancen für etablierte Unternehmen, aber auch für junge, innovative Unternehmen. Wir werden sehen, wie sich der Markt entwickelt.
Auf jeden Fall machen wir Schluss mit der Bevormundung des Bürgers, dem bis jetzt die Freiheit abgesprochen wurde, selbst zu entscheiden und auszuwählen,
welches Fernverkehrsangebot er nutzen will.
Der Fernbus ist gerade für Reisende mit geringem
Einkommen eine hervorragende Alternative. Deswegen
kann ich die Bedenken auf der linken Seite des Hauses
nicht verstehen. Im Gegenteil: Es ist sogar unsozial, dass
Sie ein solches Instrument ablehnen wollen.
({5})
Wir erhoffen uns von der Freigabe des Buslinienfernverkehrs natürlich auch, dass Bewegung in das Thema
„Monopolstellung der Bahn“ kommt. Auch 20 Jahre
nach der Bahnreform muss sich noch viel tun. Wir wissen: In den Bereichen, in denen wir Monopole haben,
haben wir steigende Preise. Das ist auch bei der Bahn
der Fall, wie wir gerade jetzt wieder merken. Deswegen
sind wir der Überzeugung, dass ein wenig Konkurrenz
auch die Bahn beflügeln wird. Vor allem wird das Verkehrsangebot breiter und besser. Von diesem neuen Angebot profitieren alle Kunden in unserem Land.
({6})
Uns war es besonders wichtig, dass wir mit dem
neuen PBefG, dem Personenbeförderungsgesetz, verlässliche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit für alle
Beteiligten, Aufgabenträger und Unternehmen, im
ÖPNV schaffen und den Fernbusmarkt liberalisieren.
Das ist ein Thema, über das seit fast zehn Jahren diskutiert wird. Deswegen freut es uns umso mehr, dass wir
am Ende einen Erfolg haben.
Vielen Dank.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, das Fotografieren einzustellen. Was soll das? Das ist eine Unsitte.
Kollege Kurth, ich habe Sie gesehen.
Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Staatssekretär Scheuer, man kann auch einen inhaltlichen Disput führen und dabei friedlich sein. Ich
denke, im Bundestag haben wir das immer so gehandhabt. Die Linksfraktion hier als nicht friedlich darzustellen, geht, finde ich, ein bisschen zu weit. Lassen Sie uns
bei den Argumenten bleiben.
Der öffentliche Nahverkehr ist eine wichtige Lebensader unserer modernen Gesellschaft. Ebenso wie Stromund Wasserversorgung sowie die Müllabfuhr ist auch der
Nahverkehr ein öffentliches Gut, zu dem jeder Zugang
haben muss. Es war die Rede davon, die EU wolle vorschreiben, dass die kommunalen Verkehrsleistungen zukünftig ausgeschrieben werden müssen. Dadurch bestünde die Gefahr, dass EU-rechtlicher Vorrang für
private Verkehrsanbieter in der Bundesrepublik geltendes Recht werden würde. Es kam anders: Die EU
schreibt nicht ausdrücklich vor, dass Nahverkehrsleistungen an private Anbieter vergeben werden müssen; sie
lässt es offen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den vier Fraktionen, die hier Gesetzentwürfe einbringen
oder unterstützen, machen das aber nun, indem Sie die
Möglichkeit einräumen, dass private Anbieter Vorrang
bekommen. Genau das lehnen wir Linke ab.
({0})
Uns reicht auch eine kleine Klausel, die im Gesetzentwurf sicherlich enthalten ist, nicht aus, durch die man
versucht, die sogenannte Rosinenpickerei zu verhindern.
Wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, wird der Alltag aller Wahrscheinlichkeit nach zeigen, dass das allein nicht
funktioniert. Die Linke ist somit die einzige Fraktion im
Deutschen Bundestag mit der Auffassung, dass Nahverkehrsleistungen primär öffentlich sein müssen. Eine gesetzliche Regelung, dass kommunale Verkehrsunternehmen den Verkehrsauftrag bekommen und dann einzelne
Leistungen an Privatunternehmen weitervergeben, war
alltagstauglich. Diese Regelung hätte fortgeschrieben
werden können, auch nach neuem EU-Recht.
Wenn Sie heute die künftige Bevorzugung privater
Unternehmen durchwinken, dann bin ich sehr gespannt
auf die Reaktionen Ihrer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, gerade der beiden großen Parteien CDU und
SPD. Ich weiß nicht, ob der Applaus da so stark sein
wird wie hier im Deutschen Bundestag. Sie drücken das
hier durch; es Durchwinken zu nennen, wäre noch geschmeichelt. Am Dienstag haben Sie sich geeinigt - ich
habe das im Ausschuss schon gesagt -, und am Mittwoch ist es im Schnellverfahren durch den Ausschuss
gebracht worden.
({1})
Jeder durfte einmal etwas dazu sagen. Heute, am Donnerstag, geht es kurz vor Mitternacht durch das Plenum.
Das ist eine sehr kurze Zeit, um einen Diskurs über Ihren
Vorschlag zu führen. Man kann schon fast froh sein, dass
das hier nicht einfach zu Protokoll gegeben wurde.
Bei der Fernbusdebatte sieht es nicht viel besser aus.
Ein Sprecher der Firma Touring - Touring ist einer der
fünf großen Player; so viel zum Thema kleine mittelständische Unternehmen auf diesem Markt - brachte es auf
den Punkt. Er hat gesagt, dass sein Unternehmen ausschließlich dort fahren wird, wo man zwischen den großen Metropolen richtig viel Geld verdienen kann. Die
anderen Unternehmen haben sich nicht anders geäußert.
Die Deutsche Bahn betreibt ja schon seit Jahren diese
Firmenpolitik.
Fernverkehrsbusse sollen eine preiswerte Alternative
zur teuren Bahn darstellen. Das wurde immer wieder gesagt. Diese Busse fahren vor allen Dingen deshalb günstiger, weil die Löhne und Gehälter der Busfahrer wesentlich niedriger sind. Sie verdienen schlichtweg weniger
als ein Lokführer. Sie sind auch deshalb günstiger, weil
diese Busse keine Streckengebühr zahlen müssen. Während die Deutsche Bahn und auch private Bahnunternehmen auf der Schiene für jeden Kilometer viel Geld zahlen und für jeden Halt extra zahlen müssen, können diese
Busse frei von zusätzlichen Kosten auf Autobahnen fahren, es sei denn - das kann man hier im Parlament noch
ändern -, Sie stimmen heute unserem Antrag zu, den wir
übrigens dankenswerterweise von der SPD übernommen
haben. Die Zulassung der Fernbusse ohne Autobahnmaut ist nichts anderes als pure Wettbewerbsverzerrung
zulasten der Bahn.
({2})
Positiv ist einzig die Entwicklung bei der Barrierefreiheit. Auch auf Druck der Linken - wir waren nicht
die Einzigen, aber wir haben ganz massiv Druck gemacht - haben Bushersteller und Verkehrsunternehmen
das Problem erkannt und bieten mittlerweile erste gute
Lösungen an. Doch Ihr Gesetzentwurf enthält nun längere Übergangsfristen, auch wenn es nur ein Jahr ist, als
die Unternehmen nach eigenen Angaben hätten realisieren können. Das wurde zumindest bei den Veranstaltungen deutlich.
Letzter Satz, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie tatsächlich wollen, dass der
Personenfernverkehr preiswerter wird, folgen Sie einfach dem Vorschlag, den ich in meiner letzten Rede gemacht habe: Senken Sie den Mehrwertsteuersatz für
Fernverkehrsfahrkarten von 19 auf 7 Prozent! Dann
würde in unser Verkehrswesen endlich europäischer Alltag einkehren.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Anton Hofreiter für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dieses Thema ist ein wunderschönes Beispiel
dafür, dass selbst völlig verfahrene Situationen, wenn
Parlamentarier die Dinge in die Hand nehmen, zu einem
vernünftigen Ergebnis gebracht werden können.
({0})
Ich glaube, wir können uns alle zu dem Verfahren und
dem Ergebnis gratulieren; das ist bereits gesagt worden,
und wir haben uns gegenseitig gedankt. Man muss insbesondere den Mitarbeitern danken: den Mitarbeitern
der Fraktionen, den Mitarbeitern des Ministeriums und
den Mitarbeitern der Landesverkehrsministerien, mit denen wir sehr konstruktiv zusammengearbeitet und die
uns sehr unterstützt haben. Außerdem können wir uns
gegenseitig für den konstruktiven Umgang miteinander
danken.
({1})
Welche sind die drei zentralen Punkte dieses Gesetzentwurfes? Es ist erstens die Regelung zum ÖPNV,
zweitens sind es die Regelungen zur Barrierefreiheit,
und drittens ist es die Regelung zum Fernverkehr.
Was haben wir im Hinblick auf den ÖPNV erreicht?
Natürlich sind wir nicht mit allen Regelungen hundertprozentig glücklich. Warum? Weil es sich um einen
Kompromiss zwischen 4 Fraktionen und 16 Bundesländern handelt. Natürlich kann angesichts dessen niemand
sagen, er habe sich zu 100 Prozent durchgesetzt. Sonst
wäre das ein unanständiger Kompromiss, weil jemand
anders über den Tisch gezogen worden wäre.
Beim ÖPNV haben wir erreicht - da irren Sie sich,
Herr Lutze -, dass die Aufgabenträger, die demokratisch
bestimmten Aufgabenträger, wenn sie es denn wollen
und wirklich Geld dafür in die Hand nehmen, jetzt einen
vernünftigen ÖPNV anbieten können.
({2})
Das ist die Neuerung, und das war ein Kompromiss. Der
Kompromiss lautet: wenn sie es wollen und ernsthaft
Geld hinterlegen. Das ist im Gesetzentwurf klar geregelt.
Des Weiteren ist geregelt, dass eine Kommune, die ein
eigenes kommunales Verkehrsunternehmen betreibt, das
gut arbeitet - auch dafür gibt es Kriterien -, direkt an
dieses Unternehmen vergeben darf.
({3})
Genau das, von dem Sie bemängelt haben, dass es nicht
im Gesetzentwurf geregelt sei, ist also im Gesetzentwurf
geregelt.
Selbstverständlich hätten wir uns beim Thema Barrierefreiheit mehr gewünscht. Ich glaube, man kann sogar
sagen, dass wir alle uns bei diesem Thema mehr wünschen würden. Hier sind aber gar nicht so sehr die Fernbusse das Problem,
({4})
sondern das zentrale Problem ist der allgemeine ÖPNV.
({5})
Aber woran liegt es? Es liegt daran, dass es U-Bahn-Systeme gibt, die zum Teil fast 100 Jahre alt sind,
({6})
und dass es Unmengen von Bahnhöfen gibt, die uralt
sind. Hier war nun einmal nichts anderes möglich, als
den Ländern - allerdings mit vollem Verständnis für die
Länder - Übergangsregelungen zuzugestehen. Schließlich können die Länder kein Geld schnitzen, um diesen
Prozess zu gestalten. Wie gesagt, wir hätten uns hier viel
mehr gewünscht. Es gab auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie schnell man etwas erreichen kann.
Es war nicht mehr drin, und die gefundene Lösung ist im
Vergleich zur bestehenden Regelung ein großer Fortschritt.
({7})
Zu den Fernbussen. Ja, wir haben den Fernbusverkehr
liberalisiert. Das Umweltbundesamt hat festgestellt, dass
ein Fernbus, wenn er vernünftig besetzt ist, unter ökologischen Aspekten ähnlich gut zu bewerten ist wie die
Bahn. Die Regelung, die wir getroffen haben, sieht vor:
Wenn jemand bereit ist, eine Buslinie, ein ökologisches
Verkehrsmittel, anzubieten, und dafür nicht einen Cent
vom Staat will, dann darf er das tun. Was ist daran
schlimm?
({8})
Seien Sie ehrlich: Was ist daran schlimm, dass jemand,
der bereit ist, seinen Kunden ein ökologisches Verkehrsmittel anzubieten, dies jetzt tun darf? Hier wäre ich mit
Kritik ganz vorsichtig. Wenn ich mir anschaue, wer zu
wessen Klientel gehört, muss ich nämlich sagen: Ich
glaube, dass dies gerade für Menschen mit geringerem
Einkommen eine hervorragende Alternative ist.
({9})
Insgesamt glaube ich, dass wir einen guten Kompromiss gefunden haben. Auf diesen Kompromiss können
wir stolz sein. Jetzt geht es darum, dieses Vorhaben möglichst schnell durch den Bundesrat zu bringen; aber da
bin ich sehr optimistisch.
Vielen Dank.
({10})
Letzter Redner ist Kollege Volkmar Vogel für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, das ist ein versöhnlicher Abschluss eines
doch auch kontroversen Plenartages. Nicht, dass ich
irgendetwas gegen kontroverse Debatten habe, ganz im
Gegenteil, das macht Demokratie aus, aber das, was wir
hier gerade auch der interessierten Öffentlichkeit gezeigt
haben,
({0})
ist vor allen Dingen eine Wertschätzung derjenigen, die
jeden Tag mit dem Bus oder als Eisenbahner die Menschen sicher und zuverlässig transportieren und befördern.
({1})
Wir sehen, dass es mittlerweile 23.20 Uhr ist. Das ist
auch ein richtiges Signal, weil es um diese Zeit gerade
die von mir eben erwähnten Mitarbeiter sind, die ihren
Dienst ordentlich tun, und wir müssen dafür sorgen, dass
die rechtlichen Grundlagen so gestaltet sind, dass das
auch in Zukunft weiter so geschehen kann.
Eines muss man nämlich auch sagen: Der ÖPNV und
der Fernverkehr in Deutschland können sich bei aller
Kritik, die wir auch üben müssen, weltweit sehen lassen.
Sie sind beispielgebend, und für uns ist es wichtig, dass
wir dieses System erhalten und ausbalancieren, damit es
ein vernünftiges Miteinander der einzelnen Strukturen
gibt, nämlich der mittelständischen Unternehmen, die
viel in unserem Land tun und viele fleißige Mitarbeiter
haben, mit den qualitativ hochstehenden kommunalen
Betrieben, die hier die notwendigen Pflichten zur
Daseinsvorsorge auch in der Praxis erfüllen.
Bei den Gesprächen über das Gewerbe stand eines
fest - das wurde uns sehr schnell klar -: Dieses Thema
taugt nicht für ideologische Auseinandersetzungen oder
für den Vermittlungsausschuss. Wir von CDU/CSU und
FDP waren uns sehr schnell im Klaren darüber, und als
wir unsere Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ansprachen, haben wir gemerkt, dass sie das genauso
sehen. Das war die Grundlage für die Verhandlungen,
die hart, aber niemals zäh waren; denn sonst würden wir
heute noch sitzen und verhandeln. Sie waren auch immer
fair; denn sonst hätten wir heute keinen so tragbaren
Kompromiss.
All den Mitarbeitern aus unseren Fraktionen, aus dem
Bundesverkehrsministerium - Herr Doose und Herr
Hamburger -, aus den Länderministerien bzw. aus den
Ländern und auch aus den Verbänden, die uns dabei unterstützt haben, gilt auch heute unser Dank. Den möchte
ich hier für meine Fraktion auch noch einmal bestärken.
({2})
Es war nicht leicht. Wir mussten einen Kompromiss
finden zwischen dem Vorrang der eigenwirtschaftlichen
Verkehre, die uns wichtig sind, weil für uns auch die
Gleichbehandlung der mittelständischen Unternehmen
in diesem Markt wichtig ist, und den Pflichten zur Daseinsvorsorge, die bei den kommunalen Aufgabenträgern liegen und bestimmte Zwänge auslösen. Wir mussten uns darüber verständigen: Wie wollen wir in Zukunft
den Nahverkehrsplan gestalten? Wie gestalten wir das
Verhältnis zwischen dem Aufgabenträger mit den Pflichten, die er hat, und den Rechten, die sich daraus für ihn
ableiten, und einer neutralen Genehmigungsbehörde, die
darüber wacht, dass das Gesetz ordnungsgemäß angewendet wird? Wir mussten auch einen Kompromiss finden zwischen dem Willen der christlich-liberalen Koalition zur Liberalisierung des Fernbusverkehres und den
Zwängen, die bestehen, um vor allen Dingen den schienengebundenen Nah- und Fernverkehr zu schützen.
Ich glaube, wir haben in all diesen Bereichen sinnvolle Regelungen geschaffen. Meine Vorredner haben
darauf hingewiesen. Ich muss das nicht noch im Einzelnen darlegen.
({3})
Trotz alledem ist es wichtig, dass wir gerade im
Bereich des Fernverkehrs einfache Lösungen gefunden
haben. Hätten wir die Freigabe des Fernverkehrs mit zu
weitreichenden Vorgaben belastet, dann wäre der Start
Volkmar Vogel ({4})
dieses neuen Marktsegmentes sicherlich schwieriger
gewesen - vielleicht nicht für die Großen am Markt, die
europaweit agieren, auf alle Fälle aber für die vielen
Kleinen, die hier neue Chancen zur Betätigung sehen
und aktiv sein wollen.
Gerade in diesem Bereich war die Barrierefreiheit
natürlich ein wichtiger Punkt, über den wir auch gemeinsam diskutiert haben. Die Barrierefreiheit ist wichtig,
weil sie jeden von uns betreffen kann. Auf der anderen
Seite hat Barrierefreiheit nicht nur für Menschen mit
körperlicher Behinderung, sondern auch für junge Familien mit Kinderwagen eine Bedeutung, die genauso entsprechende Einstiegsmöglichkeiten haben müssen.
({5})
Mit dem Kompromiss, den wir hier gefunden haben, so
denke ich, werden wir den berechtigten Anliegen der
Behinderten gerecht. Andererseits können auch die Unternehmen, vor allen Dingen die kleinen Unternehmen,
wenn es um Investitionen geht, mit den wirtschaftlichen
Zwängen leben.
Zum Abschluss lassen Sie mich noch zwei Worte zu
unserem Entschließungsantrag sagen. Ich denke, die Tatsache, dass wir einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorlegen, zeigt, dass wir an diesem Thema gemeinsam dranbleiben wollen. Die Stärkung des BAG ist ein
richtiger Ansatz, damit es auch in Zukunft die erweiterten Kontrollaufgaben, die sich mit dem Markt Fernbuslinienverkehr ergeben, realisieren kann. Daran müssen
wir arbeiten.
Abschließend muss man sagen: Barrierefreiheit heißt
natürlich auch technische Umsetzung. Wir haben in Gesprächen erfahren, dass die technischen Standards, die
aus unserer Sicht europaweit bei Fernbussen gelten müssen, noch nicht in der Schärfe vereinheitlicht sind, wie
das notwendig wäre.
Man muss auch hier sehen: Wir wollen die Barrierefreiheit und das Angebot dafür im Fernverkehr haben. Das
heißt aber für die Unternehmen, die das umsetzen müssen,
Planungssicherheit und Investitionssicherheit, sodass sie
nicht am Ende einen Bus kaufen, der zwar augenscheinlich Barrierefreiheit gewährleistet oder Plätze für
Behinderte bietet, aber dann nicht den beschlossenen
Standards entspricht.
An diesem Punkt müssen wir weiter arbeiten. Das
werden wir gemeinsam im Auge behalten. Ich denke, um
diese Zeit kann man sagen, dass wir diesen Tag zu einem
guten Abschluss gebracht haben. Ich möchte Sie darum
bitten, dass Sie alle gemeinsam, auch die Linken, unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschrif-
ten. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/8233 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
auf Drucksache 17/10858? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der Linken mit Zustimmung der übrigen vier
Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Hierzu liegt eine persönliche
Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Ilja Seifert
vor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen
die Stimmen der Linken angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge. Zunächst Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/10859. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist von den
beantragenden Fraktionen bei Enthaltung der Linken an-
genommen.
Nun Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/10860. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehr-
heitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung personenbeförde-
rungs- und mautrechtlicher Vorschriften. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/10857, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/7046 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7487 mit dem Titel „Keine Liberalisierung des
Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienen-
verkehrs in der Fläche“. Wer stimmt für diese Beschluss-
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der vier
Fraktionen gegen die Stimmen der beantragenden Fraktion Die Linke angenommen.
Nun kommt eine ganze Reihe von Abstimmungen
und von zu Protokoll gegebenen Reden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Lothar Binding ({1}), Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie für die zivile Krisenprävention
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller ({2}), Marieluise Beck ({3}),
Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof
Schmidt, Omid Nouripour, Marieluise Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln
- Drucksachen 17/4532, 17/5910, 17/6351,
17/8711 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Edelgard Bulmahn
Joachim Spatz
Jan van Aken
Kerstin Müller ({6})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind einverstanden.1)
Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/8711. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4532 mit dem Titel
„Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie
für die zivile Krisenprävention“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5910 mit dem Titel „Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik
rücken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6351 mit dem Titel „Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Auch hier haben CDU/CSU, FDP und
Linke dafür gestimmt und SPD und Grüne dagegen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes
- Drucksachen 17/10744, 17/10797 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-
den zu Protokoll zu geben.2) - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/10744 und 17/10797 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Angelika Graf ({9}), Bärbel Bas, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Glücksspielsucht bekämpfen
- Drucksachen 17/6338, 17/10695 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben.
Seit Dezember 2011 wird der Entwurf zur 6. Verord-
nung zur Änderung der Spielverordnung mit Ressorts,
Ländern und Verbänden abgestimmt. Der Entwurf greift
die Vorschläge zur Verbesserung des Spieler- und Ju-
1) Anlage 5 2) Anlage 6
gendschutzes bei den Geldspielgeräten auf, die im Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Evaluation der 5. Spielverordnung enthalten
sind.
Das ist gut und richtig, denn Glücksspiel ist weit verbreitet. 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben
im vergangenen Jahr schon einmal an einem öffentlich
angebotenen Glücksspiel teilgenommen. Rund 9 Prozent
der Bevölkerung haben bereits an Geldspielautomaten in
Spielhallen und Gaststätten gespielt. Aber auch
11 Prozent der Deutschen haben ein oder mehrmals die
Spielbanken aufgesucht und dort am sogenannten großen
Spiel an den Spieltischen oder am sogenannten kleinen
Spiel an den dortigen Spielautomaten teilgenommen.
Besorgniserregend ist in der Tat - insoweit teile ich
die Grundüberlegung Ihres Antrages -, dass mittlerweile rund 1,4 Prozent der Bevölkerung in den letzten
12 Monaten risikoreich gespielt haben, 0,3 Prozent problematisch und 0,35 Prozent spielten pathologisch
Glücksspiele, wobei pathologisches Glücksspiel als eigenständige psychische Erkrankung im internationalen
diagnostischen System des CDI-10 anerkannt ist.
Die Suchtpotenziale unterscheiden sich nach Art des
Spiels. Die Teilnahme an Sportwetten, dem kleinen Spiel
in der Spielbank, Poker und Geldspielautomaten ist mit
einem erhöhten Risiko für pathologisches Glücksspiel
verbunden. Geldspielautomaten haben nach allen Untersuchungen das höchste Suchtpotenzial. Das ist auch
einleuchtend, denn zum einen erlebt der Spieler mit der
schnellen Spielefrequenz und der bislang erlaubten
Mehrfachbespielung den Verlust immer weniger. Er hat
keine Zeit, zu realisieren, dass im Augenblick des Spiels
vor dem neuen Druck auf die Taste der Einsatz weg ist.
Zum andern wird mit höherem Einsatz der Anreiz, den
Verlust auszugleichen, auch unmittelbar höher. Vor allem sind die Automatenspiele außerhalb der staatlichen
Spielbanken in Spielhallen und Gaststätten überall verfügbar. Deshalb ist es sicher richtig, dort anzusetzen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD:
Ihr Antrag ist mit dem Adressaten Bundesregierung
überwiegend an die falsche Adresse gerichtet. Mit der
Föderalismusreform im Jahr 2006 ist die Kompetenz für
die Hallen auf die Länder übergegangen, und zum
1. Juli 2012 ist auch der neue Glücksspielstaatsvertrag
der Länder in Kraft getreten. Ich gehe deshalb auch davon aus, dass Sie Ihre Forderungen und Anregungen bei
ihren jeweiligen Landesregierungen erfolgreich angebracht haben. Der Bund bleibt lediglich für die gerätebezogene Regelung zuständig. Nicht nur in diesem Teilbereich sind wir uns in der christlich-liberalen Koalition selbstverständlich unserer Verpflichtung bewusst.
Ich will hier auch darauf hinweisen, dass das BMG
seit 2007 im Rahmen eines Modellprojektes mit einer
Gesamtsumme von 1,1 Millionen Euro die Entwicklung
und Erprobung von frühen Interventionen bei pathologischem Glücksspiel fördert. Schon jetzt steht fest, dass die
Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit
dem Modellprojekt gelungen ist. Die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung ist umfassend tätig; ich
nenne als Beispiel das Beratungstelefon. Soweit Sie den
Einsatz auf europäischer Ebene anmahnen, hat
Deutschland im Rahmen der Ratsarbeit zum Glücksspiel
selbstverständlich auf die Bedeutung hingewiesen, die
dem Schutz der Allgemeinheit vor unkontrolliertem
Glücksspiel zukommt. Es geht dabei insbesondere um
den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der Spielsucht und den Schutz vor Folge- oder Begleitkriminalität.
Spielerschutz und Vorbeugung sind mir wichtige Anliegen. Die christlich-liberale Union wird alles dafür
tun, dass in ihrem Einflussbereich Spielerschutz und
Prävention zentraler Punkt jeder Neuregelung sind.
Deshalb sind natürlich neue, gerätebezogene Regelungen nach der Evaluation der 5. Spielverordnung dringend notwendig. Denn die früheren Unterhaltungsspiele, bei denen der Geldeinsatz nur dazu dienen sollte,
das Gerät zu bedienen, wie zum Beispiel bei den
Flipperautomaten, gibt es kaum noch. Das Unterhaltungselement trat im Laufe der Zeit in den Hintergrund.
Heute dominiert bei den Automaten der Gewinnaspekt.
Gerade durch die Novellierung der Spielverordnung
2006 wurden die Ereignisfrequenz, die Illusion der Beeinflussbarkeit von Einsatz und Gewinn erhöht. Es ist
vor allem festzuhalten, dass mit der folgenden zunehmenden Attraktivität des Automatenspiels nicht gleichzeitig die Schutzmaßnahmen zur Verhinderung von
Sucht angepasst wurden. Die Evaluation der 5. Spielverordnung hat ergeben, dass der damals beabsichtigte
Schutz zum Beispiel mit dem Verbot der Fungames
durchaus erreicht wurde. Allerdings konnten die Vorgaben vor allem illegale Praktiken, insbesondere bei den
Punktspielen, wie das sogenannte Vormünzen, nicht ausreichend verhindern. Der Jugendschutz in den Hallen
wurde weitestgehend eingehalten; aber in den Gaststätten liegt oder lag offenbar vieles im Argen.
Der Entwurf der 6. Spielverordnung greift nun bereits
viele Aspekte auf: Er sieht erfreulicherweise Maßnahmen zur Verbesserung des Jugend- und Spielerschutzes
vor. Zudem sollen die gerätebezogenen Regelungen generell verschärft werden. Zu diesem Zweck sollen
Spielanreize und Verlustmöglichkeiten durch die Absenkung des maximalen Durchschnittsverlustes pro Stunde
begrenzt, das sogenannte Punktspiel eingeschränkt und
die Mehrfachbespielung eingedämmt werden. Vorgesehen ist die Einführung einer Spielunterbrechung mit
Nullstellung der Geldspielgeräte nach drei Stunden. Das
sogenannte Vorheizen der Geldspielgeräte, also das
Hochladen von Punkten durch das Personal der Spielstätte, wird ausdrücklich verboten. Die Mehrfachbespielung von Geldspielgeräten wird weiter eingedämmt
durch eine Reduzierung der Geldspeicherung in Einsatz- und Gewinnspeichern und eine Verschärfung der
Beschränkung von Automatiktasten. Insgesamt soll so
der Unterhaltungscharakter der Geldspielgeräte wieder
gestärkt werden. Das bestehende Spielverbot für Jugendliche soll durch Verschärfung der Regelungen zu
Automaten in Gaststätten gestärkt werden. Um schneller
auf Fehlentwicklungen reagieren zu können, sollen die
Bauartzulassung und die Aufstelldauer für Geldspielgeräte befristet werden. Alles in allem ist das, meine ich,
eine gute Entwicklung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn wir von Mängeln und Versäumnissen reden, die
sich aus der Evaluation deutlich erkennen lassen, ist mir
aber eine differenzierte Betrachtung wichtig: Ich wehre
mich entschieden dagegen, dass eine gesamte Branche,
die nach wie vor ein zulässiges Gewerbe betreibt, Ausbildungs- und Arbeitsplätze schafft und Steuern zahlt, in
Verruf gebracht wird, um die schwarzen Schafe - die es
sicher in der Branche gibt - zu erfassen.
Selbstverständlich müssen Regeln eingehalten werden und muss jeder, der versucht, Regeln zu umgehen,
empfindlich bestraft werden. Zurzeit sind einige suchtpolitische relevante Vorgaben - wie beispielsweise das
Auslegen von Informationsbroschüren über die Risiken
des übermäßigen Spielens - noch nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet. Das geht so nicht und ist zu
ändern. Auch ist die Höhe der Bußgelder für viele Ordnungswidrigkeiten-Tatbestände zu gering. Das BMWi
will die Bußgeldandrohung bei Verstößen gegen die
Spielverordnung von 2 500 Euro auf 5 000 Euro anheben. Hier werde ich auf empfindlichere Bußgelder hinwirken.
Ich rede aber jetzt nicht nur von den Erhöhungen im
Ordnungswidrigkeitenbereich, sondern von krimineller
Energie. Nicht zuletzt hat das BMF Ergänzungen der
Spielverordnung um Regelungen zur Datenspeicherung
und zur Verbesserung des Manipulationsschutzes zur
Verhinderung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung
verlangt. Die entsprechenden Vorschläge werden aktuell
erarbeitet. Es geht um die Bauartzulassung, die künftig
nur erteilt werden soll, wenn sämtliche von der Kontrolleinrichtung in Spielgeräten erfasste Daten dauerhaft
und jederzeit verfügbar, lesbar und auswertbar sind und
wenn vor allem nachträgliche Änderungen erkennbar
bleiben. Die Umstellung erfordert insbesondere Anpassungen der technischen Richtlinien der PTB, neue
Schnittstellenstandards und Auslesetechniken sowie angemessene Übergangsfristen. Infolgedessen sind die
Vorarbeiten zur 6. Spielverordnung auch noch nicht abgeschlossen.
Ich konnte mich jedenfalls in vielen Gesprächen, denen auch Taten gefolgt sind, selbst davon überzeugen,
dass die Branche die Probleme erkannt hat und durchaus bereit ist, mitzuwirken. Deshalb setze ich mich dafür
ein, dass das Element der freiwilligen Selbstkontrolle
Teil der Regelung bleibt und dass erst dann, wenn diese
nicht funktioniert, die staatliche Repression - dann aber
auch mit aller Schärfe - einsetzt.
Noch ein Aspekt ist mir wichtig: Allein mit weiteren
technischen Vorschriften kann der Spielerschutz auf
lange Sicht nicht sichergestellt werden. Ein Gutachten
von Professor Tilmann Becker, Universität Stuttgart-Hohenheim, nimmt unter anderem zu Maßnahmen der Aufklärung und Information von Spielern und Mitarbeitern
und zum Schutz der gefährdeten Spieler Stellung. Professor Becker zeigt, dass Identitätskontrollen eine Maßnahme sind, um die soziale Verfügbarkeit zu verringern.
Er stellt dar, dass die Selbstsperre zu den effektivsten
Maßnahmen des Spielerschutzes gehört, und er erklärt,
dass eine Verpflichtung der Anbieter, Sozialkonzepte
vorzulegen, die Mitarbeiter zu schulen sowie die Spieler
aufzuklären und zu informieren, maßgeblich zur Prävention beitragen kann.
Die Studie weist nach, dass der Automatenspieler einen Spielemix in Anspruch nimmt. Neben dem Spiel in
den Spielstätten pokern 52,2 Prozent. 42,9 Prozent spielen auch in Automatensälen von Spielbanken und
39,6 Prozent nehmen am Fußballtoto teil. Im Durchschnitt werden von pathologischen Spielern 5 Spielformen genannt, die sie betreiben. In dieser Studie werden
übrigens nur von 3,4 Prozent der pathologischen Spieler
Geldgewinnspielgeräte als bedeutsamstes Spiel in den
vergangenen 12 Monaten genannt. Jedenfalls gibt es, so
die Studie, nicht den pathologischen Automatenspieler,
sondern allenfalls den pathologischen Spieler, der eben
unter anderem auch an Automaten spielt. Sollte also das
Automatenspielangebot gänzlich für ihn wegfallen, ist
zu erwarten, dass er den Automaten durch ein anderes
Angebot ersetzt. Vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass man die Spieler in den Spielhallen mit Schutzmaßnahmen, Prävention und Suchtangeboten noch am
besten erreicht, dem dortigen Alkoholverbot und den
Steuerungsmöglichkeiten der Kommunen wäre ein Ausweichen ins Internet mit gleichen Glücksspielangeboten,
wie ich es an dieser Stelle bereits beschrieben habe, sicher eine sehr schlechte Variante.
Für die Suchtentwicklung ist auf den Einzelfall, auf
den einzelnen Menschen, seinen Lebenshintergrund und
das von ihm bevorzugte Glücksspiel abzustellen. Auch
das Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie dazu
festgestellt, dass der pathologische Spieler diese fünf
unterschiedlichen Spielformen nutzt. Nicht das Spielangebot sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in
der Spielerpersönlichkeit.
Nochmals: Selbstverständlich darf der Schutz vor den
Gefahren des Automatenspiels nicht vernachlässigt werden. Maßnahmen wie die Spielerkarte gegen illegale
Spielpraktiken wie Mehrfachbespielung sind hier sicher
gut und richtig. Genau dazu wird mit der 6. Verordnung
zur Änderung der Spielverordnung vom BMWi eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Die Karte soll nur
für einen Tag und für eine Spielstätte gelten. Sie kann
nur an einem Gerät eingesetzt werden, sodass Mehrfachbespielungen ausgeschlossen werden. Die Karte
soll auch eine maximale Obergrenze für mögliche Einzahlungen beinhalten. Gewinne werden nicht auf der
Karte gespeichert, sondern müssen - ebenso wie möglicherweise verbleibende Restbeträge - bis zur Schließung der Spielhalle ausbezahlt werden.
Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass
die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den Spieler- und Jugendschutz verbessert werden und eine Sachkundeprüfung zur Voraussetzung für eine Spielhallenerlaubnis gemacht wird. Auch dazu konnte ich mich
übrigens von Fortschritten überzeugen. Es geht auch um
die Förderung von Sozialkonzepten, zum Beispiel die
Einführung von Suchtpräventionsbeauftragten.
Mir ist der kohärente Spielerschutz ein dringendes
Anliegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir für den Teilbereich Automatensucht eine gute Lösung erwarten können. Ihren Antrag lehnen wir ab.
Zu Protokoll gegebene Reden
Von der FDP haben wir in den Ausschussanhörungen
zu unserem Antrag gehört, dass Glücksspielsucht angeblich nur wenige Menschen betreffe. Das halte ich vor
dem Hintergrund von rund 500 000 pathologischen
Glücksspielern, rund 800 000 problematischen Spielern
und rund 3 Millionen Menschen, die ein oder zwei Kriterien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt haben, für äußerst zynisch. Zumal die Bundesregierung in ihrem eigenen Drogenbericht nicht nur die besonders starke
Suchtgefahr erwähnt, die es bei Geldspielautomaten
gibt, sondern auch von einer starken Steigerung der
Zahl der Süchtigen, insbesondere im Bereich junger
Männer, spricht und sich der Bruttospielertrag seit 2005
von 2,35 Milliarden Euro auf 4,14 Milliarden Euro um
über 76 Prozent dramatisch erhöht hat.
Von CDU und CSU haben wir in den Beratungen gehört, dass nicht das Spielangebot ursächlich für die
Sucht sei, sondern „krankhafte Strukturen in der Persönlichkeit der Spieler“. Das hört man in den USA auch
immer von der Waffenlobby; nicht die Waffen sind das
Problem, sondern die Menschen, die diese Waffen benutzen. Die Schlussfolgerung der Lobby in den USA: Weil
die Waffen ja nicht das Problem sind, braucht es keine
Regulierung. Beim Glücksspiel ist die schwarz-gelbe
Logik, dass man - weil ja das Problem bei den Spielsüchtigen liege - auf eine Regulierung der Geldspielautomaten weitgehend verzichten könne. Das ist auch deswegen ein Skandal, da die Bundesregierung damit den
eigenen Evaluierungsbericht der Novelle der Spielverordnung, der einen deutlichen Ausbau der Regulierung
fordert, einfach ignoriert.
Daran kann man leider sehen, dass die Automatenlobby bei der Bundesregierung vollen Erfolg hatte. Sogar die krude Theorie der Lobby, wonach eine zu starke
Regulierung der Geldspielautomaten die Menschen angeblich in die noch schlimmere Online-Glücksspielsucht
treibe, scheint inzwischen eine schwarz-gelbe Mehrheitsmeinung zu sein, und das, obwohl die einzige
Grundlage dieser Theorie eine von der Automatenlobby
selbst finanzierte Studie ist und alle seriösen Suchtexperten in der Anhörung zu unserem Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ energisch diese Theorie ins
Reich der Fantasie verwiesen haben. Das Gegenteil ist
der Fall, in der Anhörung haben wir gehört, dass sich
die Süchte sogar noch gegenseitig verstärken, eine bessere Regulierung daher dringend notwendig wäre und
die angebliche „Kanalisierung“ lediglich eine Schutzbehauptung für diejenigen ist, die keine Suchtprävention
wollen. Die Frage ist also nur, ob die Regierungsfraktionen nicht zugehört haben oder ob sie nicht zuhören
wollen.
Das endlose Gezerre um die neue Spielverordnung,
die von der Bundesregierung eigentlich schon für das
erste Halbjahr 2011 angekündigt war, vermittelt eher
den Eindruck, dass Schwarz-Gelb schlicht und ergreifend den Schutz von Süchtigen und den Jugendschutz gegenüber wirtschaftlichen Interessen der Automatenwirtschaft als nachrangig erachtet. So hatten alle bisherigen
Entwürfe des FDP-geführten Bundeswirtschaftsministeriums für die Novelle der Spielverordnung stets eines gemeinsam: viele Placebos, wenig Suchtprävention.
Nehmen wir zum Beispiel die Spielerkarte. Die SPD
fordert die Einführung eines Identifikationssystems und
eine personengebundene Spielerkarte, mit der es zum
Beispiel in Norwegen einige gute Erfahrungen gibt. Das
Prinzip ist dabei, dass jeder nur eine personalisierte
Karte erhält und Jugendliche keine erhalten. Damit
wäre auch das dringend notwendige bundesweite Sperrsystem für Süchtige möglich, für das wir uns einsetzen.
Denn Süchtige können sich bisher nur für die in Kompetenz der Länder befindlichen Glücksspielbereiche selbst
sperren lassen. Das gilt zum Beispiel für Spielcasinos,
für Geldspielautomaten in Spielhallen und gastronomischen Einrichtungen gilt es aber nicht, wodurch das
ganze Sperrsystem ausgehöhlt wird. Das müssen wir
dringend ändern.
Das Bundeswirtschaftsministerium will aber bisher
eine personenungebundene Spielerkarte einführen, die
auch von der Automatenwirtschaft befürwortet wird.
Alle Experten aus der Suchthilfe haben dagegen in der
Anhörung zu unserem Antrag erklärt, dass eine personenungebundene Spielerkarte im besten Fall ein Placebo ist und im schlechtesten Fall die Suchtgefahr noch
erhöht, nämlich dann, wenn sie eher den Charakter einer Kundenkarte hat. Das Problem mit einer Spielerkarte ohne Identifizierung ist, dass sie problemlos weitergegeben werden kann, sowohl an Süchtige, die an
mehreren Automaten gleichzeitig spielen wollen, als
auch an Minderjährige. Dies befürchtet auch der Bundesrat. Zeitliche oder finanzielle Begrenzungen als
Schutzfunktion sind zudem nicht möglich, wenn jeder
Spieler in jeder Spielhalle eine neue Karte erhalten
kann. Eine personenungebundene Spielerkarte verbessert also weder den Jugendschutz noch die Suchtprävention und hat auch keine Steuerungsfunktion.
Noch schlimmer wäre es nur, wenn diese personenungebundene Spielerkarte auch noch eine Geldkartenfunktion erhielte und damit bargeldloses Zahlen ermöglichen würde, was die Sucht fördern würde. Derzeit wird
von der Bundesregierung und interessanterweise auch
von Vertretern der Automatenwirtschaft dementiert,
dass eine Geldkartenfunktion geplant sei, Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler von der FDP hatte sich
jedoch in der Vergangenheit wohlwollend genau dazu
geäußert.
Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht wundern,
dass die Koalitionsfraktionen zu unserer Anhörung zum
Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ ausgerechnet
Herrn Gauselmann eingeladen hatten, der von „LobbyControl“ für eine „Lobbykratie-Medaille“ nominiert
wurde. Und die jetzige Debatte über verdeckte Parteispenden und die wirtschaftlichen Verflechtungen der
FDP mit der Gauselmann AG kann einen auch nicht
wirklich überraschen.
Überraschend ist für mich lediglich, dass es offensichtlich niemanden in CDU, CSU und FDP gibt, der die
Suchtprävention gegenüber wirtschaftlichen Interessen
als vorrangig betrachtet. Die gesamte Opposition hat
hier eine andere Herangehensweise.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
Die SPD hat in ihrem Antrag „Glücksspielsucht bekämpfen“ etliche Vorschläge für die notwendige Weiterentwicklung der Suchtprävention und des Jugendschutzes sowie auch speziell für die Novelle der Spielverordnung vorgelegt. Wir haben konkrete Vorschläge
für die Entschärfung und Entschleunigung der Geldspielautomaten, mehr Transparenz für die Spieler hinsichtlich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau
von suchtfördernden Funktionen der Automaten vorgestellt. Ich freue mich darüber, dass der Antrag sowohl
mehrheitlich von den Experten in der Anhörung unterstützt wurde als auch von den anderen Oppositionsfraktionen viel Zuspruch erhalten hat. Ich freue mich zudem
darüber, dass die Bundesregierung offenbar unseren
Vorschlag aufgreifen will, den Einfluss der Kommunen
auf die Standortentscheidungen von Spielhallen auszubauen. Wir werden sehr darauf achten, dass es im Rahmen der Novelle des Baugesetzbuches dabei nicht nur
bei Ankündigungen bleibt.
Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht und dazu
auch eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern, für die wir bei der Drogenbeauftragten der Bundesregierung einen unabhängigen Beirat einsetzen wollen, der auch Empfehlungen für die Prävention abgeben
soll. Ein kohärentes System der Prävention und Bekämpfung der Glücksspielsucht ist nicht zuletzt die Voraussetzung für den Erhalt des staatlichen Glücksspielmonopols, und Letzteres dürfen wir nicht aufs Spiel
setzen, denn es bietet den bestmöglichen Rahmen für die
Suchtprävention und den Jugendschutz. Schwarz-Gelb
gefährdet daher mit der Untätigkeit im Bereich der
Geldspielautomaten das gesamte staatliche Glücksspielmonopol und mit ihm die Suchtprävention auch in anderen Glücksspielbereichen.
Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Problem,
dem wir uns weiterhin zuwenden müssen. Denn Spielen
kann zu einem schweren Problem werden. Glücksspielsucht geht im Extremfall mit hoher Verschuldung und
gesteigertem Verarmungsrisiko einher und stellt für die
Betroffenen und ihre Familien eine große psychische Belastung dar. Wie bei jeder Suchterkrankung droht sich
die Spirale immer weiter zu drehen, wenn nicht rechtzeitig interveniert wird.
Bei aller Notwendigkeit, praktikable Lösungsansätze
gegen Glücksspielsucht zu entwickeln, muss aber auch
festgehalten werden: Es sind in Deutschland rund
264 000 Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren glücksspielsüchtig. Weitere 275 000 weisen ein problematisches Glücksspielverhalten auf. Unter dem Strich ist das
circa 1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in
Deutschland.
Die absoluten Zahlen klingen gewaltig, und klar ist
auch, dass jedem Einzelnen geholfen werden sollte. Die
relativen Zahlen sprechen allerdings auch eine eindeutige Sprache: 99 Prozent der Bevölkerung im Alter von
16 bis 65 Jahren weisen kein problematisches oder pathologisches Glücksspielverhalten auf. Ich empfinde es
als erfreulich, dass Glücksspiel für die überwiegende
Mehrheit nicht mehr ist als ein faszinierender Freizeitspaß. Das dürfen wir auch bei der Regulierung des
Automatenspiels nicht vergessen.
Genau deshalb muss bei der Neujustierung der Regeln mit viel Augenmaß vorgegangen werden. Ein
Schwerpunkt bei der Bekämpfung von Glücksspielsucht
sollte daher bei Information und Prävention liegen. Zentrale Punkte dabei sind zum Beispiel Mitarbeiterschulungen zur Früherkennung sowie Informationsmaterialien über kostenfreie und anonyme Beratungsmöglichkeiten. Auch die Hinweise auf das Beratungstelefon
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind
von zentraler Bedeutung.
Sehr begrüßenswert ist auch das seit 1985 bestehende
Alkoholverbot in vielen sogenannten „Spielotheken“.
Dies hilft den Spielgästen im wahrsten Sinne, einen klaren Kopf zu behalten und nicht in riskantes Spielverhalten abzudriften.
Von besonderer Wichtigkeit ist der Jugendschutz:
Minderjährige gehören einfach nicht an Automaten.
Wenn mancherorts das Jugendschutzgesetz nicht eingehalten wird, haben wir ein Vollzugsdefizit, aber kein Gesetzesdefizit. Hier sind die Ordnungsbehörden angehalten, das Jugendschutzgesetz konsequenter zu überwachen.
Die Bundesregierung arbeitet darüber hinaus an gesetzlichen Neuregelungen der Spielverordnung und der
Gewerbeordnung, um einen noch besseren Jugend- und
Spielerschutz zu erreichen. Geplant ist beispielsweise die
Einführung einer personenungebundenen Spielerkarte,
mit der man den Automaten freischalten muss. Dies
schafft einen besseren Jugendschutz, denn so wird die Gefahr verringert, dass Minderjährige an Automaten spielen. Und dies schafft auch einen besseren Spielerschutz,
denn damit wird die gefährliche Automaten-Mehrfachbespielung unterbunden.
Die Neuregelung der Spielverordnung und der Gewerbeordnung befindet sich gerade in der Feinjustierung zwischen den zuständigen Ministerien. Der von
der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag hat seine Erledigung gefunden. Nicht nur, weil sich die christlich-liberale Koalition der Glücksspielproblematik bereit ist angenommen hat, sondern auch, weil der SPD-Antrag in
weiten Teilen über das Ziel hinausschießt.
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes
vom 8. September 2010 ist das Thema Glücksspielsucht
verstärkt in den Vordergrund der sucht- und drogenpolitischen Debatten gerückt. Aufgrund dieses Urteils
musste der Glücksspielstaatsvertrag der Bundesländer
reformiert werden, um das staatliche Glücksspielmonopol aufrechterhalten zu können. Das Gericht hatte unter
anderem die staatliche Werbung für Lotterien und den
gleichzeitigen Auftrag der Suchtprävention mit dem Monopolanspruch des Staates auf das Glücksspiel für unvereinbar erklärt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vor allem Geldspielautomaten stellen sich hierbei als
Hauptproblem einer Glücksspielsucht heraus, und die
Anhörung zum Antrag im Gesundheitsausschuss vom
21. März 2012 hat ergeben, dass vor allem bei den Geldspielautomaten ein enormer Handlungsbedarf besteht:
Gerade das Glücksspiel an Geldautomaten, das einen
Schwerpunkt des Antrags bildet, besitzt ein erhöhtes
Suchtpotenzial.
Der Antrag der SPD greift die mit dem Glücksspiel
verbundene Suchtproblematik auf und enthält richtige
Forderungen, die uns aber noch nicht weit genug gehen.
Daher auch unsere Enthaltung zu diesem Antrag.
Die Forderung nach einer Entschleunigung der Geldspielautomaten, die Senkung des maximalen Verlustes
pro Stunde, die Einführung eines verpflichtenden Identifikationssystems sowie eine Höchstzahl von Automaten
in gastronomischen Einrichtungen sind richtige Punkte
im Antrag der SPD. Allerdings sind die vorgeschlagenen
15 bis 20 Sekunden pro Spiel immer noch viel zu niedrig
angesetzt. Ergebnisse verschiedener Suchtforscher und
des Fachbeirats Glücksspielsucht sprechen eher von
60 Sekunden. Dies ist neben der Reduzierung der Verfügbarkeit entscheidend für die Suchtbekämpfung und prävention und prioritär vor Spielerkarten oder auch
anderen Gerätespezifika zu bewerten.
Gleichzeitig muss aber gefragt werden, ob es überhaupt sinnvoll ist, das Automatenspiel außerhalb von
Spielkasinos zu ermöglichen. Zwar sieht der Antrag der
SPD Sanktionierungsmaßnahmen gegen Betreiber vor,
falls diese sich nicht an die vorgeschlagenen Regelungen halten, die Frage der Kontrolle bleibt jedoch offen.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass nun die Ordnungsämter und Polizeikräfte - neben der Vielzahl an Aufgaben,
die bisher erledigt werden können - nun auch noch die
Kontrolle von Lokalitäten übernehmen sollen. Die „Erhebung zur Einhaltung des Jugend- und Spielerschutzes
in Berliner Imbissen mit Geldspielautomaten“ der Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin in Kooperation mit dem Präventionsprojekt Glücksspiel 2011 bestätigte, dass Jugendliche unter 18 Jahren in der Gastronomie unkontrollierten Zugang zu Geldspielgeräten haben. Wie im Antrag der SPD selbst niedergeschrieben,
ist der Zugang zu den Automaten viel zu niedrigschwellig, gerade auch für Personen unter 18 Jahren.
Nachforschungen haben ergeben, dass vor allem
junge Migranten aus sozial schwierigen Verhältnissen
die größte Gruppe der abhängigen Spieler abbilden.
Spielhallen befinden sich besonders häufig in sozial
schwachen Gebieten.
Automatenspiel außerhalb von Spielkasinos, vor allem in gastronomischen Einrichtungen, sollte daher
gänzlich verboten werden. Im Gegensatz zu gastronomischen Einrichtungen verfügen Spielkasinos potenziell
über bessere Sicherungsmaßnahmen, um pathologischen Spielern den Zutritt zu verwehren und den Jugendschutz einzuhalten. Dies muss weiter gestärkt werden.
Aus kommunalpolitischer Sicht bieten sich hier
durchaus Handlungsmöglichkeiten: So hat der ehemalige rot-rote Senat von Berlin im Mai 2011 als Erster ein
Spielhallengesetz beschlossen. Das Gesetz schreibt
strengere Vorschriften zum Aufstellen von Automaten
vor. So wurde zum Beispiel ein Mindestabstand von
500 Metern zwischen Hallen und Kinder- und Jugendeinrichtungen beschlossen. Mitarbeiter müssen zudem
den Nachweis erbringen, Spielsucht erkennen zu können. Anfang des Jahres 2011 wurde außerdem die Vergnügungsteuer in Berlin auf Spielautomaten von 11 auf
20 Prozent erhöht. Die FDP stimmte im Abgeordnetenhaus als einzige Fraktion gegen dieses Gesetz.
Aber von der FDP können wir in diesem Bereich aufgrund der offensichtlich guten Beziehungen mit der Automatenlobby keinerlei Änderungen zum Schutz vor den
Suchtgefahren durch das Automatenspiel erfahren. So
berichtete die ARD am 10. September 2012, dass an
FDP-Tochterunternehmen vom Glücksspielautomatenhersteller Gauselmann 2,5 Millionen Euro geflossen und
diese teilweise an die Partei weitergeleitet worden sind.
So ist es nicht verwunderlich, dass die längst überfällige Novellierung der Spielverordnung bis heute durch
das Bundeswirtschaftsministerium, FDP, verschleppt
wird. Und auch bei der Anhörung zum Thema Glücksspielsucht vom 21. März 2012 im Gesundheitsauschuss
des Deutschen Bundestages wurde Herr Gauselmann
von der FDP als Sachverständiger geladen. Einen Interessenskonflikt zwischen dem Verkauf von Glücksspielautomaten und der Aufklärung über die Suchtgefahren
des Automatenspiels sieht die FDP hierbei offensichtlich nicht gegeben. Wie bereits nach der Veröffentlichung durch die ARD wiederhole ich an dieser Stelle
meine Forderung: Das von der FDP geführte Bundeswirtschaftsministerium ist nun in der Pflicht, die nötige
Unabhängigkeit von der Automatenwirtschaft nachzuweisen. Es muss die Blockadehaltung in Fragen der
Spielverordnung aufgeben. Die überfällige Novellierung
dieser Verordnung muss in enger Rücksprache mit den
Suchthilfeverbänden geschehen.
Vor zwei Wochen berichtete das ARD-Magazin Monitor darüber, dass ein Vertrauter und Geschäftspartner
der Firma Gauselmann, die hierzulande Geldspielgeräte herstellt, insgesamt 2,5 Millionen Euro in ein FDPTochterunternehmen investiert hat, wovon zumindest ein
Teil des Geldes auch an die Partei geflossen sein soll. So
kaufte das besagte Unternehmen der FDP beispielsweise ein Grundstück zu einem wohl überhöhten Preis
ab. Die Bundestagsverwaltung prüft derzeit, ob es sich
dabei um eine verdeckte Parteispende gehandelt hat.
Derselbe Gauselmann-Berater ist übrigens auch Mitinhaber der Firma Pro Logo, die für die FDP in Sponsoringfragen tätig ist.
Vor dem Hintergrund dieser engen Verbindung ist es
mittlerweile kein Wunder mehr, dass das FDP-geführte
Bundeswirtschaftsministerium die Novellierung der
Spielverordnung nur zögerlich angeht. Eine vom Ministerium selbst in Auftrag gegebene Studie hat zwar im
Vorfeld noch einmal das erhebliche Suchtpotenzial von
Spielautomaten und die Unwirksamkeit der bisherigen
Zu Protokoll gegebene Reden
Präventionsbemühungen festgestellt, aber davon ließ
sich Minister Rösler bislang nicht beeindrucken. Wir
wissen jetzt vielleicht wieso.
Wie stark die Industrie Einfluss auf die derzeitigen
Reformbemühungen nimmt, lässt sich an zwei Beispielen
veranschaulichen: Die Automatenhersteller haben in
den letzten Jahren durch die Umrechnung von Geldbeträgen in Punkte einen Weg gefunden, die geltenden Vorgaben der Spielverordnung zu umgehen. Anstatt diese
Praxis zu untersagen, hat das Ministerium ihr zwischenzeitlich durch einen Erlass de facto seinen Segen gegeben. Nun wurde selbst im Zuge der vom Ministerium in
Auftrag gegebenen Studie erklärt, dass dieses sogenannte Punktespiel ein maßgeblicher Faktor für die Entstehung von Spielsucht und für den Verlust erheblicher
Geldsummen sei. Man könnte also meinen, dass dies der
dringendste Punkt ist, bei dem die Bundesregierung
Handlungsbedarf sieht - weit gefehlt. Rösler und sein
Ministerium erklären ausdrücklich, das Punktespiel zulassen zu wollen, weil - und hier wird es jetzt zynisch ein Verbot von der Branche umgangen werden würde.
Zweites Beispiel. Die Bundesregierung erklärte, der
Entstehung von Sucht und der Umgehung des Jugendschutzes zukünftig dadurch begegnen zu wollen, indem
sie eine Spielerkarte einführt - so weit, so gut. Nun gab
es innerhalb der Bundesregierung - interessanterweise
zwischen zwei FDP-geführten Ministerien - einen Streit
darüber, wie diese Spielerkarte aussehen soll. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung schlug die Einführung einer personengebundenen Spielerkarte vor, weil
nur diese aus suchtpolitischer Sicht Sinn macht. In diesem Punkt stimme ich ihr ausdrücklich zu. Die Automatenbranche erklärte allerdings, allenfalls mit einer nicht
personengebundenen Karte leben zu können, etwas,
dass aus der Sicht von Spielsuchtexperten völlig nutzlos
ist und auch von den Ländern im Bundesrat abgelehnt
wird. Nun dürfen Sie raten, welcher Position sich das
Bundeswirtschaftsministerium angeschlossen hat. Die
Einführung einer personengebundenen Karte soll nunmehr allenfalls mittelfristig erfolgen. Mit anderen Worten: nie.
Insofern begrüßen wir die Initiative der SPD, die auf
Änderungen im Bereich der Spielautomaten drängt, zumal es seinerzeit das SPD-geführte Wirtschaftsministerium war, das die Spielverordnung auf Wunsch der
Branche erheblich gelockert hatte und somit für die derzeitige Situation mitverantwortlich ist. Meine Fraktion
hat in der Vergangenheit mehrfach Anläufe unternommen, die Prävention im Bereich Glücksspielsucht gerade
im Hinblick auf das Automatenspiel zu verbessern, zuletzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss und
mit einem Antrag, mit dem den Kommunen bessere Möglichkeiten an die Hand gegeben werden sollten, die Neuansiedlung von Spielhallen zu verhindern. Erfreulich ist,
dass die SPD nun ebenfalls vorschlägt, dieser Spielhallenflut mittels einer Änderung der Baunutzungsverordnung Herr zu werden. Dem entsprechenden Antrag unserer Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollten sie ja
seinerzeit noch nicht zustimmen.
Auch andere Forderungen des SPD-Antrags können
von uns unterstützt werden, insbesondere die strengeren
Rahmenvorgaben für Geldspielgeräte. Dies setzt allerdings voraus, dass die Einhaltung der Vorgaben durch
Sachverständige auch vor Ort kontrolliert werden kann.
Gerade diese Kontrollen vor Ort will die Bundesregierung aber jetzt abschaffen. Eine sinnvolle Begründung
hat sie bislang dafür nicht abgegeben. Das fiele auch
schwer, waren es in den vergangenen Jahren gerade
diese Sachverständigen, die auf Manipulations- und
Umgehungsmöglichkeiten hingewiesen hatten. Vielleicht ist gerade das aber auch der Grund für die Abschaffung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen, wirksamer Spielerschutz und eine effektive
Suchtprävention sind kein Ausdruck von Wirtschaftsfeindlichkeit. Sie entspringen einer nüchternen KostenNutzen-Bilanz. Die negativen Auswirkungen, die gesellschaftlichen Probleme und auch die sozialen Kosten, die
die Spielautomatenindustrie hierzulande zu verantworten hat, überwiegen bei Weitem das, was diese Branche
wirtschaftlich zur Entwicklung Deutschlands beiträgt.
Anstatt den Wünschen gerade dieser Szene blind Folge
zu leisten, sollten Sie sich die Mühe machen, sich mit
den Folgen genauer zu beschäftigen. Wenn Sie dies
wirklich einmal täten, würden auch Ihre Reformvorschläge anders aussehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/10695, den Antrag der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/6338 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes ({0})
- Drucksachen 17/10745, 17/10798 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden dazu
zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/10745 und 17/10798 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 7
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Rüstungsforschung an öffentlichen
Hochschulen und Forschungseinrichtungen Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen
- Drucksache 17/9979 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Verteidigungsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Erforschung und die Entwicklung neuer Technologien sind wesentliche Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolges und Wohlstandes unseres Landes.
Dank des Engagements der Bundesregierung konnte
sich auch die zivile Sicherheitsforschung in Deutschland
als eigenständiges Forschungsgebiet mit einer gut vernetzten Akteurslandschaft etablieren.
Angesichts der globalen Bedrohungsszenarien der
letzten Jahre ist es wichtig, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie den Schutz kritischer Infrastrukturen durch systematische Forschungsaktivitäten zu erhöhen. Die Sicherheit und die daraus resultierende
Freiheit der Bürger unseres Landes zu gewährleisten, ist
somit ein expliziter Auftrag unserer Forschungspolitik.
Die besagten Fördergelder des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung werden ausschließlich im
Hinblick auf die zivile Nutzbarkeit von Forschungsprojekten vergeben. Nun unterstellen die üblichen Verschwörungstheoretiker in den Reihen der Opposition,
dass die Gelder - durch die Hintertür - zur Finanzierung der Wehrtechnikindustrie dienen. Ich kann an dieser Stelle nur immer wieder betonen, dass diese Unterstellung schlichtweg falsch ist. Die Förderung von
wehrtechnischer Forschung hat hiermit nichts zu tun
und fällt in den Zuständigkeitsbereich des Verteidigungsministeriums. Unser Programm für zivile Sicherheitsforschung dient ausschließlich dem Ausbau der internationalen Vorreiterstellung deutscher Anbieter
ziviler Sicherheitsprodukte und der Weiterentwicklung
interdisziplinärer akademischer Ausbildungsstrukturen.
Es liegt dabei auf der Hand, dass zahlreiche Erkenntnisse aus der zivilen Sicherheitsforschung auch militärisch nutzbar sind. Und das, verehrte Kollegen von der
Linken, ist auch gut so. Die alte Leier der unrechtmäßigen Doppelnutzung wird nicht stichhaltiger, je mehr Sie
darauf herumreiten. Im Gegenteil: Die Doppelnutzung
von Forschungsergebnissen in dieser Sparte ist kein
Fluch, sondern ein Segen!
Warum soll beispielsweise verbesserte Schutzkleidung, die primär für Feuerwehrleute oder THW-Mitarbeiter entwickelt wurde, nicht auch unseren Soldaten im
Einsatz zugutekommen? Oder weshalb sollten unsere
Streitkräfte nicht ebenfalls von verbesserten Spreng- und
Kampfstoffdetektoren profitieren, die ursprünglich für
Flughäfen und andere empfindliche Punkte entwickelt
wurden?
Ich halte es für eine zutiefst ungehörige und unverfrorene Forderung, unseren Soldaten, die tagtäglich ihre
Gesundheit oder gar ihr Leben für die Sicherheit dieses
Landes riskieren, die neuesten Entwicklungen im Hinblick auf eine bessere Ausrüstung vorzuenthalten.
Doch damit nicht genug. In ihrem Antrag fordert die
Linke, „Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulen
und Forschungseinrichtungen sowie in den jeweiligen
Landeshochschulgesetzen zu verankern“. Aus unserer
Sicht ist das ein höchst bedenklicher Eingriff in die Forschungsfreiheit der Wissenschaftler.
Aber davon einmal ganz abgesehen, ist Ihr Vorhaben
auch verfassungsrechtlich sehr problematisch. Der
Bund hat in diesem Bereich keinerlei Kompetenzen.
Hochschulpolitik ist nach wie vor Ländersache. Akzeptieren Sie das und streben Sie nicht ständig danach, die
föderalistischen Prinzipien dieser Republik auszuhebeln.
Zuletzt möchte ich dazu bemerken, dass mit dieser
Forderung neben Ihrer fehlenden juristischen Fachkenntnis ein weiterer Denkfehler zutage tritt, der die
ganze Diskussion um die Zivilklausel ohnehin als
Scheindebatte entlarvt. Selbst wenn die Hochschulen
sich einer Zivilklausel unterwerfen würden, wäre damit
noch lange nicht gesichert, dass ihre rein zivilen Forschungserkenntnisse nicht irgendwann militärisch genutzt werden könnten. Es ist doch während der Entwicklungsphase oft gar nicht klar, für welche Fälle das
Produkt in Zukunft Verwendung finden kann.
Ebenfalls absurd ist im Übrigen Ihr Appell zur Ergreifung einer „Initiative zur Offenlegung aller Kooperationsverträge der Hochschulen“. Offensichtlich ist Ihnen nicht klar, dass es sich hierbei um empfindliche
Geschäftsgeheimnisse handelt! Eine derartige Maßnahme würde verfassungsrechtlich ebenfalls einen äußerst bedenklichen Eingriff darstellen, ganz zu schweigen von dem erheblichen Schaden, den die deutsche
Wirtschaft davontragen würde.
Zuletzt möchte ich noch ein paar Sätze zu Ihrer Forderung nach einer „Ausfinanzierung der Hochschulen
in der Breite“ sagen. Sie können unserer Regierung nun
wirklich nicht vorwerfen, zu wenig in die deutschen
Hochschulen investiert zu haben. Trotz der primären
Verantwortung der Länder wurden mehr Bundesmittel
als jemals zuvor an die Hochschulen vergeben. Allein
4,8 Milliarden Euro wurden in den Hochschulpakt 2020
investiert.
Zusätzlich wollen wir die Länder sogar dauerhaft mit
Bundesgeld für die Hochschulen unterstützen. Es sind
vielmehr die rot-grünen Länder, die sagen, wir nehmen
das Geld nur, wenn wir zusätzlich auch noch finanzielle
Zuwendung für die Schulen bekommen. So werden die
Hochschulen von der Opposition in Geiselhaft genommen, um deren leere Landeskassen zu füllen.
Sie sehen, der Vorwurf, die Bundesregierung vernachlässige die Förderung von Bildung und Forschung
in Deutschland, ist unhaltbar. Vielleicht werfen Sie noch
einmal einen genauen Blick in den Einzelplan 30. Ich
denke, die Zahlen belegen das Engagement von Frau
Schavan und der gesamten Koalition eindeutig.
Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass die
Forderungen im Antrag der Linkspartei allesamt überzogen und nicht vertretbar sind. Sie sehen über sämtliche verfassungsrechtlichen Grundsätze hinweg, Sie machen keinen Halt vor der Unabhängigkeit der Hochschulen, die föderale Struktur unseres Landes scheint Ihnen fremd zu sein, und, was ich noch schlimmer finde:
Sie weisen eine äußerst ignorante Einstellung gegenüber den deutschen Soldatinnen und Soldaten auf.
Den Antrag gilt es daher abzulehnen.
Einige von Ihnen wissen, dass ich mich sehr leidenschaftlich für die Friedensforschung in Deutschland
einsetze. Auch zu dem Thema zivile Sicherheitsforschung habe ich an dieser Stelle bereits öfter gesprochen. Insofern war ich auf den uns hier vorliegenden
Antrag durchaus gespannt. Aber um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin von diesem Papier enttäuscht. Warum,
möchte ich Ihnen anhand einzelner Punkte des Antrages
darstellen.
Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linken, fordern in dem Papier den Bund auf, an den
Universitäten eine Zivilklausel einzuführen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten halten es für unterstützenswert, wenn Universitäten für sich Zivilklauseln einführen, die darauf abzielen, keine militärische
Forschung zu machen, sondern dem Frieden in der Welt
dienlich zu sein. Aber dafür ist der Bund der komplett
falsche Ansprechpartner. Das ist ganz klar Landeskompetenz bzw. greift in die Autonomie der Hochschulen ein.
Die Studierenden und Hochschulangestellten sind, wie
Sie in Ihrem Antrag selbst aufzählen, hingegen eigenständig in der Lage, wenn sie die nötige Mehrheit mobilisieren können, diese Klausel zu verankern. Eine Bewegung von unten ist bei solchen Überzeugungsfragen
sowieso besser als die Verordnung von oben, wie es die
Linke hier fordert.
Vor allem aber weiß ich nicht, ob es wirklich fair ist,
dass „die Politik“, also Parlament, Regierung usw., einerseits Forschungsaufträge vergibt, auch für militärische Zwecke, aber anderseits von den Hochschulen, also
den Wissenschaftlern und Studierenden, verlangt, diese
Aufträge bzw. Angebote nicht wahrzunehmen. Eine solche Vorgehensweise erscheint mir nicht redlich. Wir verschieben hier Verantwortung auf die Wissenschaft, die
wir doch eigentlich hier im Parlament haben. Und wir
sind es auch, die über den Einsatz der Forschungsergebnisse zu entscheiden haben. Wir können die Wissenschaft beauftragen, einen Lastwagen zu entwickeln, und
wir haben dann zu entscheiden, ob der Lkw zu zivilen
oder militärischen Zwecken genutzt wird. Mit einem Antrag „Entwickelt uns einen Lkw, der auf keinen Fall für
militärische Zwecke genutzt werden kann“ schieben wir
unsere Verantwortung auf die Wissenschaft ab.
Daneben fordern Sie eine Offenlegung von Kooperationsverträgen zwischen Universitäten und Unternehmen. Diese Forderung unterstützen wir. Aber auch hier
ist der Bund der falsche Ansprechpartner. Diese Forderung von Ihnen geht also ebenfalls ins Leere.
Darüber hinaus fordern Sie, dass das Bundesministerium für Verteidigung keine Aufträge mehr an Universitäten vergibt. Damit könnte ich einverstanden sein, wenn
klar wäre, was denn militärische Forschung ist. Hilfreicher wäre es, wenn Sie dazu eine Definition liefern
könnten, aber Sie kommen auf das zentrale Problem des
Dual Use nicht wirklich zu sprechen. Unter der DualUse-Problematik versteht man das Dilemma, dass zum
Beispiel einige Technologien militärisch wie auch zivil
verwendet werden können. Aktuell debattieren wir Forschungspolitiker zum Beispiel über die Veröffentlichung
der H5N1-Publikationen. Darin haben Forscher gezeigt, wie ein gefährliches Virus übertragbarer gemacht
werden kann. Vor der Publikation wurden die Chancen
- mögliche Erkenntnisse zur Bekämpfung einer Pandemie - und Gefahren - mögliche Nutzung als Waffe - gegeneinander abgewogen. Nach einer langen Diskussion
kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass die Chancen
die Gefahren überwogen. An diesem Beispiel sieht man
bereits, wie komplex die Dual-Use-Problematik oftmals
ist. Nur auf Verbot zu setzen, wie die Linken es tun, hilft
uns nicht weiter. Dabei benutzen Sie selbst unklare Formulierungen wie dass Dual Use „weitestgehend verhindert wird“. Was heißt das konkret? Es muss vielmehr
immer wieder abgewogen werden, und das nicht nur im
Nachhinein, sondern die einzelnen Wissenschaftler müssen sich ihrer Verantwortung für ihre Forschung({0}) insgesamt bewusster sein. Dieses wichtige Thema
greifen Sie in Ihrem Antrag aber leider nicht auf. So
fehlt bei Ihrem Versuch einer historischen Einordnung
des Themas Rüstung und Wissenschaft dann auch, nicht
ganz überraschend, ein Verweis auf die für den deutschen
Wissenschaftsbetrieb so wichtige „Göttinger Erklärung“
von 1957. Die 18 Atomphysiker haben das Thema militärische versus zivile Forschung damals auf den Punkt
gebracht. Zu Recht gilt die Erklärung auch heute noch
als Gründungsdokument dessen, was wir unter Wissenschaftsethik verstehen.
Ebenso fehlt in Ihrem Antrag ein Abschnitt zur Friedens- und Konfliktforschung, zu der Wissenschaft also,
die sich maßgeblich mit den Themen auseinandersetzt,
wie Frieden erhalten und gestützt werden kann. Dabei
wäre eine breite politische Unterstützung des Wissenschaftszweiges durchaus angebracht. Wie Sie zu diesem
Thema stehen, muss der Leser Ihres Antrages hingegen
erahnen. Vielleicht, weil auch hier Grenzen verwischen
können?
Wie Sie wissen, habe ich mich in den letzten Jahren
öfters zum zivilen Sicherheitsforschungsprogramm der
Bundesregierung kritisch geäußert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben dabei immer wieder
insbesondere die starke Technikzentriertheit und die
Verengung des Sicherheitsbegriffs auf terroristische
Zu Protokoll gegebene Reden
Anschläge bemängelt. Wir sehen heute, dass das Ministerium bei den Überlegungen zum neuen Sicherheitsforschungsprogramm einen Teil unserer Kritik aufgenommen hat. Das neue Programm ist jetzt breiter aufgestellt.
Wir gehen davon aus, dass sich dies am Ende auch in
den Ergebnissen widerspiegeln wird. Mögliche Anwender der erforschten Lösungsansätze sind THW, Feuerwehr und Polizei. Zu Recht gibt es in Deutschland die
Trennung zwischen militärischer und ziviler Forschung.
Allerdings wird in vielen Bereichen im Nachhinein bei
Vorliegen der Ergebnisse eine Dual-Use-Diskussion
möglich sein, ohne dass man sie vorher gesehen hat.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie sprechen in Ihrem Antrag viel über das, was Sie nicht wollen. Wie man
aber tatsächlich militärische Nutzung eines für zivile
Zwecke produzierten Forschungsergebnisses bereits vor
Entstehung des Ergebnisses verhindern kann, wäre eine
spannende Frage gewesen. Um eine Antwort aber mogeln Sie sich herum. So kann man den Antrag wohl folgendermaßen zusammenfassen: einige gute Grundideen,
diese werden aber total durcheinander an den falschen
Adressanten verschickt. Schade! Das so wichtige Thema
Wissenschaft und Rüstung hätte mehr verdient.
Der Antrag „Keine Rüstungsforschung an öffentlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen - Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen“ der
Linken offenbart ein überaus fragwürdiges wissenschaftspolitisches Verständnis, das wir Liberale in keinster
Weise teilen. Wir lehnen den Antrag ab, weil wir die Auffassung von Forschung und unserem Wissenschaftssystem, die der Antrag transportiert, nicht unterstützen.
Im März 2012 stellte die Linke einen Antrag, der unter dem Titel „Freiheit von Forschung und Lehre schützen“ die Forschungsfreiheit als zentralen Punkt propagierte. Heute greift sie mit dem vorliegenden Antrag
genau diese Freiheit frontal an. Sie wollen der Wissenschaft, den Hochschulen und Forschenden die Freiheit
nehmen, selbst zu entscheiden, welche Forschungsprojekte angenommen werden und in welchen Bereichen geforscht werden darf. Sie wollen, wie im aktuellen Antrag
gefordert, die gesetzliche Verankerung von Zivilklauseln
in den Landeshochschulgesetzen, in den Statuten von
Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Eine solche gesetzliche Verankerung ist mit Forschungsfreiheit
aber nicht vereinbar. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit
ernst nehmen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass
der Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt und
selbst entscheidet, welche Kooperation und Aufträge er
annimmt. Ideologische Einschränkungen, wie die Forderung nach einer politisch verordneten Zivilklausel und
dem Verbot von Forschung mit militärischem Hintergrund bzw. zur militärischen Nutzung, lehnen wir entschieden ab.
Für uns Liberale ist die Freiheit von Forschung und
Lehre ein überaus hohes und kostbares Gut. Wissenschaftsfreiheit ist ein in Art. 5 GG garantiertes Grundrecht und wird nur durch den Schutz anderer verfassungsrechtlich geschützter Werte begrenzt. Es ist nach
unserem Verständnis Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens sowie Fundament unseres Wissenschaftssystems.
Forschungsfreiheit bedeutet für uns aber nicht nur
Selbstbestimmung darüber, zu welchen Forschungsthemen und in welchen Bereichen der Wissenschaftler
forscht, sondern es impliziert auch eine gesellschaftliche
Verantwortung des Wissenschaftlers. Dieser Verantwortung sind sich Wissenschaftler in Hochschulen und in
Forschungseinrichtungen bewusst, so beispielsweise die
Max-Planck-Gesellschaft, die in 2010 das Papier „Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken“ für sich und ihre Mitglieder die Grenzen
von Forschung formulierte und dabei die Personen, den
einzelnen Wissenschaftler als Verantwortungsträger in
den Mittelpunkt rückt.
Die Linke fordert in einem weiteren Punkt, dass der
Wissenschaftsrat mit der Erarbeitung eines Kodex beauftragt werden soll. Laut Antrag soll definiertes Ziel
des Kodex die ausschließlich zivile Ausrichtung von
Forschung und Lehre an öffentlichen wissenschaftlichen
Einrichtungen sein. Allein diese Forderung legt offen,
welche kruden Vorstellungen von der Arbeit und dem
Verständnis des Wissenschaftsrates bei der Linken vorherrschen. Der Wissenschaftsrat ist aber kein Instrument zur Durchsetzung politischer Ideologie, sondern
ein wissenschaftspolitisches Beratungsgremium. Der
Wissenschaftsrat ist unabhängig und wird von der Politik um Stellungnahme gebeten. Für uns Liberale ist ein
solcher Kodex auch nicht von oben zu verordnen. Welche Legitimation besitzt solch ein Kodex, wenn er oktroyiert wurde? Vielmehr müssen sich die Wissenschaftler
und die Einrichtungen von sich aus und aus sich heraus
über die Grenzen von Forschungsfreiheit austauschen
und, wenn notwendig, zu einem Kodex finden. Das beste
Beispiel hierfür ist das von der Linken ausgewählte und
geforderte Beispiel der Zivilklausel und die Einführung
an den Hochschulen in der jungen Bundesrepublik. Es
waren die zahlreichen Hochschulen, die sich selbst im
Rahmen der sogenannten Zivilklausel gegen die Beteiligung an wehrtechnischer Forschung ausgesprochen haben.
Interessanterweise war es der Wissenschaftsrat, der
in 2007 in seiner Stellungnahme zur Neustrukturierung
der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften e.V. der Politik empfahl, die drei Ressortforschungseinrichtungen des Bundesministeriums für Verteidigung in die Fraunhofer-Gesellschaft zu überführen.
Es war zwar eine politische Entscheidung, die 2009 zur
Integration der drei Ressortforschungseinrichtungen in
die Fraunhofer-Gesellschaft führte, aber - anders als es
der Antrag von der Linken zur Interpretation freigibt auf Empfehlung der Wissenschaft.
Ein weiterer Punkt, den wir am Antrag der Linken zu
kritisieren haben, ist die Behauptung, mittels Regelungen und Gesetzen eine Trennlinie zwischen militärischer
und ziviler Forschung ziehen zu können, so als sei es
kein Problem, Forschung und Forschungsergebnisse zu
kategorisieren und eine Doppelnutzung auszuschließen.
Als Beispiel wird das von der christlich-liberalen KoaliZu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
tion aufgelegte Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ kritisiert, wo die Bundesregierung nach dem
Antrag der Linken auszuschließen hat, dass die Forschungsergebnisse auch militärisch genutzt werden. In
den Beratungen im Ausschuss wurde darauf hingewiesen, dass die Forschungsfragen im Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ entlang ziviler Sicherheitsszenarien erfolgen. Dass nun abermals angemahnt
wird, dass Forschungsprojekte zu Detektionssystemen
zum Nachweis von Gefahrenstoffen eine Doppelnutzung
erlauben und militärisch eingesetzt werden können,
zeigt, dass der Versuch der lupenreinen Trennung von zivil und militärisch nicht möglich ist.
Als einen letzten Kritikpunkt sei auf die Forderung
nach einer Ausfinanzierung der Hochschulen verwiesen.
Für die Grundfinanzierung der Hochschulen sind allein
die Länder verantwortlich. Ähnlich pauschal, wie diese
Forderung in jedem Antrag der Linken formuliert wird,
lehnen wir es ab. Es ist für die Zukunft sicherlich einfacher, wenn die Linke den Förderalismus und die Zuständigkeit der Länder anerkennt, als in ihren Anträgen die
Realitäten zu verdrehen. Zudem sei darauf verwiesen,
dass von der Linken bislang die konkreten Schritte dieser christlich-liberalen Koalition abgelehnt wurden.
Wenn die Linke an der Finanzierung der Hochschulen
mitwirken möchte, ist diese gerne eingeladen, die
Grundgesetzänderung in Art. 91 b im Bundesrat zu unterstützen und so dem Bund zu ermöglichen, sich an der
Finanzierung von Hochschulen zu beteiligen.
Der Antrag von der Linken wird dem Anspruch an
das Wissenschaftssystem nicht gerecht. Wir Liberale
sind gegen ideologische Denkverbote. Aus diesem
Grund lehnen wir den Antrag ab.
Diese Woche, vom 24. bis 29. September, findet die
bundesweite Aktionswoche gegen die Aktivitäten von
Bundeswehr an Schulen und Hochschulen statt. Die
Hauptforderung des Bündnisses lautet: „Wir fordern die
sofortige Kündigung der bestehenden Kooperationsvereinbarungen zwischen Kultusministerien und der Bundeswehr sowie die flächendeckende Einführung und Einhaltung von Zivilklauseln, um eine Lehre und Forschung
an Hochschulen zu garantieren, die ausschließlich zivilen Zwecken dient.“
Dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen gerade hier in der Bundesrepublik, einer der größten
Waffenexportnationen der Welt.
Wissenschaft im Dienste des Krieges und des Militärs
und die Einführung von Zivilklauseln, also die Verpflichtung auf eine friedlichen und zivilen Zwecken dienende
Forschung und Lehre, werden an immer mehr Hochschulen unter Studierenden, Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern, unter Professorinnen und Professoren
und den Beschäftigten der Hochschule diskutiert. In einer Reihe von Hochschulen wurde in den letzten Monaten positiv über die Einführung von Zivilklauseln beschieden: In einer Urabstimmung an der Uni Frankfurt
haben sich 76 Prozent dafür ausgesprochen. An den
Universitäten Tübingen und Rostock sowie an der Hochschule Bremen wurden Zivilklauseln direkt in die Statuten der Hochschulen aufgenommen. Immer mehr Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
möchten sich also im Rahmen ihrer Tätigkeit an der
Hochschule nicht an der Entwicklung militärischer Güter beteiligen.
Diese Position reflektiert nicht nur die deutsche Geschichte - es ist auch der bewusste Umgang mit der ethischen Verantwortung als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler.
Die Haushaltsgesetze 2009 bis 2012 bescheinigen,
dass das Bundesministerium für Verteidigung, BMVg,
jährlich Summen zwischen 900 Millionen und 1,2 Milliarden Euro für „Wehrforschung, wehrtechnische und
sonstige militärische Entwicklung und Erprobung“ ausgibt. Der Großteil dieser Gelder fließt an Institute der
Ressortforschung sowie an private Firmen, doch auch
an öffentlichen Hochschulen und außeruniversitären
Forschungseinrichtungen wird Rüstungsforschung und
militärisch nutzbare Forschung betrieben.
Nach bisherigen Erkenntnissen vergab das Bundesministerium für Verteidigung, BMVg, von 2006 bis 2009
jährlich etwa 8 Millionen Euro an Drittmitteln für wehrtechnisch relevante oder militärische Forschung an
deutsche Hochschulen; rund 36 Millionen Euro flossen
für dieselben Zwecke zwischen 2000 und 2010 jährlich
an öffentliche Forschungseinrichtungen.
Diese Zahl zeigt aber nur an, was offiziell für militärische Forschung ausgegeben wird. Die Frage, was eigentlich alles unter militärische und Rüstungsforschung
fällt, ist abschließend nicht einmal geklärt. Und leider
sind oftmals bei offiziell als zivil deklarierten Projekten
und Mitteln keineswegs auch wirklich zivile Absicht und
ziviler Zweck sichergestellt.
Gerade im Rahmen des durch das Ministerium für
Bildung und Forschung aufgelegten „zivilen Sicherheitsprogramms“ finden sich viele Forschungsprojekte,
die unter den Begriff des „Dual Use“ fallen, Projekte
also, die einem zivilen Zweck dienen, genauso aber auch
militärisch genutzt werden können. Viele Forscherinnen
und Forscher wissen also oftmals gar nicht, wie die Ergebnisse ihrer Forschung letztlich verwertet werden. Sie
sind Teil eines Großprojektes und arbeiten in ihren speziellen Teilbereichen, ohne zu erfahren, was als Endprodukt eigentlich herauskommen soll. Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben durch die fehlende
klare Abtrennung und die mangelnde Transparenz nicht
einmal die Chance, sich die Gewissensfrage zu stellen,
ob sie bereit wären, Militär- oder Rüstungsgüter zu entwickeln. Wenn die Bundesregierung ihre vielgepriesene
„Wissenschaftsfreiheit“ wirklich ernst nehmen würde,
dann würde diese für sie auch unterhalb der Leitungsund professoralen Ebene gelten - nämlich für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie müssen endlich wieder die Kontrolle über ihr wissenschaftliches
Handeln bekommen; dafür ist die Herstellung von
Transparenz eine Grundvoraussetzung.
Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag
deshalb auf, sich für die Offenlegung von KooperationsZu Protokoll gegebene Reden
verträgen zwischen Hochschulen und privaten Auftraggebern einzusetzen und eine entsprechende Verpflichtung in den jeweiligen Gesetzen zur Informationsfreiheit
bzw. in den Hochschulgesetzen zu verankern.
Wir fordern die Bundesregierung auch auf, die Geheimhaltung bei ihrer eigenen Vergabepraxis aufzuheben. Es kann nicht sein, dass Mittel aus dem Verteidigungsministerium an öffentliche Hochschulen und
Forschungseinrichtungen dem Geheimschutz unterliegen und der öffentlichen Kontrolle vorenthalten werden.
Die Bundesregierung sollte stattdessen gemeinsam
mit den Ländern eine Initiative starten, um sicherzustellen, dass Forschung und Lehre an öffentlichen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ausschließlich zivilen und friedlichen Zwecken
dient. Wir fordern, dass sich auch die Bundesregierung
- genauso wie viele Studierende und einzelne Hochschulen - zu der im Grundgesetz verankerten Friedensverpflichtung bekennt und sich dafür einsetzt, dass bundesweit Zivilklauseln in den Statuten der Hochschulen und
Forschungseinrichtungen und in den jeweiligen Landeshochschulgesetzen verankert werden. Was wir brauchen, ist die Ausfinanzierung der Hochschulen in der
Breite. Das würde die wissenschaftliche Unabhängigkeit
gewährleisten, würde die Hochschulen unabhängig machen vom Druck, private Mittel einwerben zu müssen,
um überhaupt forschen und lehren zu können.
Das Verteidigungsministerium gibt jährlich über
1 Milliarde Euro für Wehrforschung aus. Kriege und bewaffnete Konflikte machen einen weltweit wachsenden
Wirtschaftszweig aus: Laut des Stockholmer Instituts für
Friedensforschung belaufen sich die weltweiten Staatsausgaben für Militär- und Rüstungsgüter auf 1,74 Billionen US-Dollar im letzten Jahr.
Der aktuelle OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick
2012“ hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie dringend in der Bundesrepublik Bildungschancen und Sozialstatus entkoppelt werden müssten: Nur 20 Prozent
der jüngeren Beschäftigten in Deutschland haben einen
höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern, 22 Prozent
einen niedrigeren. Damit ist die Bundesrepublik
Schlusslicht unter den OECD-Ländern.
Die Milliarden für Rüstungsgüter und militärische
Forschung werden offensichtlich in diesem chronisch
unterfinanzierten Bildungswesen dringend benötigt. Da
wären sie besser aufgehoben!
Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten mehr
Transparenz bei der öffentlichen Forschungsförderung,
dem Einsatz von öffentlichen Forschungsmitteln und bei
Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen, staatlichen Forschungseinrichtungen und Dritten gefordert.
Ich habe die Bundesregierung mehrfach aufgefordert
gemäß der Empfehlung des wissenschaftlichen Beirats
Kriterien zu entwickeln, die den zivilen Charakter des
Rahmenprogramms Sicherheitsforschung gewährleisten. Wir brauchen zweifellos Spielregeln und Standards
für Offenlegungspflichten und zur Wahrung der Freiheit
der Wissenschaft.
Aber den Antrag der Linken werden wir ablehnen. In
diesem Antrag kommt die Linke mal wieder auf einem
ziemlich hohen moralischen Ross daher. Aber diese
Moral erweist sich ähnlich wie Herr Tur Tur bei „Jim
Knopf“ als Scheinriese, der immer mehr zusammenschrumpft, je mehr man sich ihm zu nähern wagt.
Als jemand, der Anfang der 80er-Jahre selbst in der
Friedensbewegung aktiv war, muss ich feststellen, dass
die Linke gedanklich und rhetorisch noch in der historischen Phase der Blockkonfrontation verhaftet ist, als
verfeindete Staaten bzw. Staatenblöcke durch wechselseitige Hochrüstung und gegenseitige Drohung mit Vernichtung ein sogenanntes Gleichgewicht des Schreckens
zu etablieren suchten und die Friedensbewegung sich
mühte, diese grausame Logik zu durchbrechen.
Inzwischen hat sich das internationale Völkerrecht
- nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen wie innerstaatlicher ethnischer und nationalistischer Konflikte und asymmetrischer terroristischer Gewalt - weiterentwickelt.
Das Völkerrecht und die UN als System kollektiver
Friedens- und Sicherheitsordnung bejahen ausdrücklich
die subsidiäre Schutzverantwortung der internationalen
Staatengemeinschaft „the responsibility to protect“ einschließlich der Option für militärische Interventionen
als Ultima Ratio.
Wer wie die Linke auf die besondere historische Verantwortung Deutschlands verweist, muss sich fragen
lassen, ob diese Deutschland nicht geradezu verpflichtet, sich nicht in die Büsche zu schlagen, wenn die internationale Staatengemeinschaft die Notwendigkeit einer
solchen subsidiären Schutzverantwortung unter Einsatz
auch militärischer Mittel im Einzelfall feststellt.
Es ist schon seltsam, wenn bei der Linken die historische Verantwortung dafür herhalten muss, dass
Deutschland die Teilnahme an internationalen UNmandatierten Einsätzen lieber den Ländern überlassen
soll, die seinerzeit mit nationalsozialistischem Angriffskrieg und Besatzung überzogen wurden, kleine Länder
wie Dänemark und Norwegen, bei denen der gesellschaftliche Konsens darüber viel größer ist, dass man
manchmal den Versuch machen muss, Menschen davor
zu bewahren, in ethnischen, religiösen oder nationalistischen Konflikten abgeschlachtet zu werden - auch wenn
dies nicht heißt, dass dies immer möglich ist oder immer
gelingt. Was es bedeutet, wenn der Versuch unterbleibt
und die Staatengemeinschaft sich auf ziviles Zugucken
verlegt, davon habe ich mich selbst 1996 in Bosnien
überzeugen können.
Wenn sich Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen
und Polizisten freiwillig für solche schwierigen und
gefährlichen Aufgaben auf der Basis demokratischer
politischer Entscheidungen zur Verfügung stellen, dann
haben sie das Recht auf gute Ausbildung, gute Vorbereitung und optimale Ausrüstung für solche Einsätze. Alles
andere wäre verantwortungslos.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Auffassung, es sei per se unmoralisch, durch Forschung und Entwicklung zur Verbesserung und Weiterentwicklung dieser Ausrüstung beizutragen, teile ich
nicht.
Richtig ist, dass in diesem Zusammenhang wichtige
politische Fragen der Rüstungskontrolle und des Rüstungsexports geklärt werden müssen, und dazu gibt es
auch von uns jede Menge kritische Beiträge. Aber die
Behauptung der Linken, jede Forschung und Entwicklung, die nicht ausschließlich zivilen Zwecken diente,
verstoße gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes,
halte ich für ziemlich weit hergeholt. Dann wäre unser
Grundgesetz ja mit dem internationalen Völkerrecht
nicht kompatibel.
Noch abenteuerlicher finde ich die Behauptung, die
bloße mögliche Doppelnutzung von Forschungs- und
Entwicklungsergebnissen sei ebenfalls mit der Friedenspflicht des Grundgesetzes unvereinbar. Gerade im Bereich IT-intensiver Entwicklungen ist es unvermeidbar,
dass viele dieser Dinge sowohl in der Polizeiarbeit,
beim Katastrophenschutz, bei der Verkehrs- und Bauüberwachung oder auch in einem militärischen Umfeld
genutzt werden können. Die gesamte Forschung in diesem Kontext für unmoralisch und verfassungswidrig zu
erklären, halte ich für absurd.
Es liegt nun mal auch in der Natur asymmetrischer
terroristischer Gewalt, dass sie im Inland gegen die
Zivilbevölkerung zuschlagen kann oder im Ausland bei
internationalen Einsätzen. Sollen deshalb Entwicklungen zur Gefahrstofferkennung per se unmoralisch sein?
Und was ist überhaupt die Moral bei der Geschichte?
Wenn ein Sensor dazu eingesetzt werden kann, einen
verloren gegangenen Feuerwehrmann in einem brennenden Gebäude aufzuspüren, ist er gut, und wenn der
gleiche Sensor hilft, einen verloren gegangenen Soldaten bei einem Einsatz wiederzufinden, ist er böse - oder
was ist die Moral der Linken?
Natürlich gibt es bei sicherheitstechnologischen Entwicklungen wichtige Fragen in der Abwägung zwischen
Bürgerrechten und Sicherheitsbedürfnissen. Diese
Fragen lassen sich aber nicht mit Forschungsverboten
und moralischen Stigmatisierungen beantworten.
Aber die Linke will ja sogar öffentlichen Hochschulen
die geisteswissenschaftliche Forschung über Auslandseinsätze am liebsten verbieten - als wenn es da nichts
Nützliches zu lernen gäbe, und sei es aus Fehlern, die
man nicht wiederholen sollte.
Ob Hochschulen oder Forschungseinrichtungen eine
Zivilklausel einführen wollen und was sie beinhalten
soll, darüber sollten diese selbst entscheiden. Das Wichtigste dabei scheint mir ein offener intensiver Diskussionsprozess. Die staatliche Verordnung einer solchen
Klausel widerspricht der autonomen Leitbildentwicklung. Die Motive der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei den älteren Zivilklauseln waren klar: Sie
wollten nicht zur Vorbereitung eines Angriffskrieges beitragen. Wie müsste eine Friedensklausel heute aussehen,
die dem Friedenswunsch im Rahmen einer kollektiven
Friedens- und Sicherheitsordnung entspricht und neuen
gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen
gerecht werden kann. Darüber lohnt sich die Debatte.
Aber die Antwort ist aus meiner Sicht nicht so einfach, wie die Linke sich das vorstellt.
Für mich steht das Massaker von Srebrenica - der
Völkermord an 8 000 muslimischen Bosniaken im Alter
zwischen 12 und 77 Jahren trotz der Anwesenheit von
Blauhelmsoldaten - auch dafür, dass es eine Illusion ist,
zu glauben, „ausschließlich zivile Zwecke“ seien immer
und überall identisch mit „friedlichen Zwecken“.
Übrigens sollte die Linke bei aller moralischen Überhöhung bedenken, dass das Hauptproblem von Herrn
Tur Tur war, das seine scheinbare Riesenhaftigkeit ihn
ziemlich einsam machte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9979 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Postbeamtenversorgungskasse ({0})
- Drucksache 17/10307 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
- Drucksache 17/10853 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Brackmann
Carsten Schneider ({2})
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({3})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem vorliegenden Gesetz übertragen wir die Aufgaben der Postbeamtenversorgungskasse BPS-PT auf
die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation
Deutsche Bundespost. Wir kommen damit insbesondere
vom Bundesrechungshof geäußerten rechtlichen Bedenken nach.
Worum geht es genau? Der BPS-PT ist Anfang 2011
aus der Verschmelzung der von der Deutschen Telekom,
der Deutschen Post und der Deutschen Postbank im
Jahre 1995 gegründeten Unterstützungskassen in der
Rechtsform eines eingetragenen Vereins entstanden.
Hauptaufgabe der Postbeamtenversorgungskasse ist es,
Versorgungs- und Beihilfeleistungen an Versorgungsempfänger der früheren Deutschen Bundespost und der
Postnachfolgeunternehmen zu erbringen. Sie betreut
derzeit fast ein Fünftel der Versorgungsempfänger in der
Bundesrepublik und ist damit die größte Beamtenversorgungskasse in Deutschland. Finanziert wird der BPS-PT
durch Beiträge der Postnachfolgeunternehmen und
durch den Bund. Der Bund leistet dabei den größten Teil
der Zuführungen an die Postbeamtenversorgungskasse.
Diese beliefen sich im Jahr 2011 auf rund 6,3 Milliarden
Euro. Im laufenden Jahr sind rund 6,8 Milliarden Euro
vorgesehen.
Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit
wiederholt die Rechtsform des BPS-PT als privatrechtlicher Verein kritisiert, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der umfangreichen finanziellen Zuwendungen
des Bundes an die Kasse. Kritisch wurde dabei insbesondere gesehen, dass rechts- und fachaufsichtliche Entscheidungen gegenüber dem Verein nur eingeschränkt
durchgesetzt werden können. Wir akzeptieren die Kritik
des Bundesrechnungshofs und übertragen mit dem heute
debattierten Gesetz die Aufgaben sowie die vermögensrechtlichen Rechte und Pflichten der Postbeamtenversorgungskasse auf die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost, wie sie korrekt
heißt.
Die Bundesanstalt wurde im Rahmen der zweiten Stufe
der Postreform im Jahr 1995 als Anstalt des öffentlichen
Rechts eingerichtet. Sie nimmt unternehmensbezogene
und soziale Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeunternehmen wahr. Dafür wird sie im Wesentlichen von
diesen finanziert. Die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geplante Aufgabenübertragung ist aus unserer
Sicht ohne größere Probleme und kostengünstig möglich. Den öffentlichen Haushalten entstehen weder dadurch noch durch die sonstigen Regelungen des Gesetzes zusätzliche Kosten. Die Verwaltungskosten der
Postbeamtenversorgungskasse wurden schon bisher von
den Postnachfolgeunternehmen getragen. Sie werden es
auch weiterhin tun.
Die Rechtsformänderung ist im Detail mit vielen Regelungsanpassungen verbunden, stellt aber insgesamt
einen eher technischen Akt dar. Ich möchte im Folgenden noch auf einen besonderen Aspekt dieser technischen Umsetzung hinweisen. In den Jahren 2005 und
2006 hat der BPS-PT in einer umstrittenen Aktion einen
Großteil der gegenüber den Postnachfolgeunternehmen
bestehenden, zukünftigen Beitragsforderungen an zwei
Zweckgesellschaften verkauft und übertragen. Der BPSPT steht für diese Forderungen gerade. Er hat diese Garantie durch die Verpfändung seiner Ansprüche gegen
den Bund abgesichert. Zur Finanzierung der von den
Verbriefungszweckgesellschaften an den BPS-PT gezahlten Kaufpreise haben die Zweckgesellschaften Anleihen am internationalen Kapitalmarkt platziert. Auf
Grund der erzielten Verkaufserlöse musste der Bund in
den Jahren 2005 und 2006 keinen und im Jahr 2007 nur
einen geringen Zuschuss an die Postbeamtenversorgungskasse leisten. In Bezug auf die jetzige Aufgabenübertragung ist zu sagen, dass die Bundesanstalt in
sämtliche im Zusammenhang mit den Forderungsverkäufen begründete vertragliche Rechte und Pflichten
eintritt. Die Rechte der Gläubiger aus den Forderungsverkäufen bleiben gewahrt. Pfandrechte und sonstige Sicherungsrechte bestehen unverändert fort. Der Gesetzentwurf ist auch mit Blick auf mögliche Kapitalmarktrisiken sehr genau geprüft und mit den relevanten
Akteuren besprochen worden.
Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die weiteren wesentlichen Neuregelungen des Gesetzes hinweisen:
Da ist erstens die Verlängerung der Regelungen zum
Vorruhestand für die bei den Postnachfolgeunternehmen
beschäftigten Beamtinnen und Beamten um vier Jahre.
Zweitens schaffen wir mit dem Gesetz eine Ermächtigungsgrundlage für unternehmensspezifische Regelungen zur Altersteilzeit.
Schließlich besteht mit dem Gesetz die Möglichkeit
der dauerhaften Zuweisung von Beamtinnen und Beamten an Konzernmutter- und -schwestergesellschaften der
Postnachfolgeunternehmen. Dies wird aber niemals gegen den Willen der Betroffenen stattfinden.
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem eher
technischen Gesetz gleichwohl Sinnvolles regeln. Die
Aufgaben des BPS-PT werden in der Bundesanstalt für
Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost in
guten Händen sein. Ich bitte Sie daher um breite Zustimmung.
„Unbürokratisch“, „kostengünstig“ und „effizient“
sind drei Eigenschaften, die dieses Gesetzesvorhaben in
sich vereint. „Unbürokratisch“ und „kostengünstig“,
das gilt, da die Aufgaben der Postbeamtenversorgungskasse für beamtenrechtliche Versorgungs- und Beihilfeleistungen vom Bundes-Pensions-Service für Post und
Telekommunikation e. V. auf die bereits bestehende Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche
Bundespost übertragen werden. „Effizient“, das gilt
aufgrund der erhöhten Durchsetzungskraft von rechtsund fachaufsichtlichen Entscheidungen des Bundes und
der Umsetzung der Kritikpunkte des Bundesrechnungshofes.
Die aus der früheren Deutschen Bundespost hervorgegangenen Unternehmen Deutsche Post AG, Deutsche
Postbank AG und Deutsche Telekom AG, Postnachfolgeunternehmen, bedienen sich bei der Erfüllung ihrer Zahlungsverpflichtungen aus beamtenrechtlichen Versorgungs- und Beihilfeansprüchen der ihnen zugeordneten
Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger der Postbeamtenversorgungskasse vom BundesPensions-Service für Post und Telekommunikation e. V.
Er betreut derzeit fast ein Fünftel der Versorgungsempfänger und ist damit die größte Beamtenversorgungskasse Deutschlands. Für rund 273 000 Ruhestandsbeamtinnen und -beamte, Witwen, Witwer und Waisen sind
im Jahr 2011 rund 7,1 Milliarden Euro ausgezahlt worden. 2012 werden es mit einem Anstieg auf circa
274 000 Empfänger rund 7,3 Milliarden Euro sein Tendenz steigend.
Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit
wiederholt darauf hingewiesen, dass eine Erbringung
von Versorgungs- und Beihilfeleistungen an die VersorZu Protokoll gegebene Reden
gungsempfänger und Versorgungsempfängerinnen des
Bundes sowie deren Hinterbliebene durch einen privatrechtlichen Verein - Postbeamtenversorgungskasse vom
Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. - als Dauerlösung kritisch zu sehen ist, nicht
zuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen finanziellen Zuwendungen des Bundes. Zwar speist sich die im
Jahre 1995 eingerichtete Kasse aus Leistungen der
Postnachfolgeunternehmen, die Beiträge in Höhe von
33 Prozent der Bruttobezüge ihrer aktiven und der fiktiven Bruttobezüge ihrer beurlaubten Beamtinnen und Beamten zahlen und auch die Verwaltungskosten der Kasse
übernehmen, jedoch leistet der Bund auch erhebliche
Zuführungen zur Postbeamtenversorgungskasse. Im
Jahr 2011 waren es rund 6,34 Milliarden Euro, und in
diesem Jahr sollen es rund 6,75 Milliarden Euro sein.
Mit der Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt
kann nun die Kritik des Bundesrechnungshofes, der zudem die eingeschränkte Möglichkeit der Durchsetzung
rechts- und fachaufsichtlicher Entscheidungen des Bundes gegenüber den Organen des Vereins monierte, behoben werden.
Die Aufgabenübertragung auf die Bundesanstalt, die
bereits langjährig die unternehmensbezogenen und sozialen Aufgaben mit Bezug zu den Postnachfolgeunternehmen wahrnimmt, ist effektiv und kostengünstig. Den
öffentlichen Haushalten entstehen durch die Aufgabenübertragung und die Überleitung des Personals auf die
Bundesanstalt sowie durch die sonstigen Regelungen
des Gesetzes keine zusätzlichen Kosten. Die Verwaltungskosten der Postbeamtenversorgungskasse, die bislang bereits von den Postnachfolgeunternehmen getragen wurden, werden auch weiterhin von diesen
getragen.
Die Bundesanstalt tritt zudem in sämtliche begründete vertragliche Rechte und Pflichten unter anderem im
Zusammenhang mit Forderungsverkäufen ein; die
Rechte der Gläubiger aus den Forderungsverkäufen
bleiben gewahrt. In den Jahren 2005 und 2006 hat der
Verein - Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. - einen Großteil der gegenüber den
Postnachfolgeunternehmen bestehenden, zukünftigen
Beitragsforderungen an zwei Verbriefungsgesellschaften verkauft und übertragen. Der Verein hat die Höhe
und Einbringlichkeit der verkauften Forderung garantiert und diese Garantie durch Verpfändung der ihm als
Postbeamtenversorgungskasse zustehenden Ansprüche
gegen den Bund abgesichert. Zur Finanzierung der von
den Verbriefungsgesellschaften an den Verein gezahlten
Kaufpreise haben die Zweckgesellschaften Anleihen begeben und am internationalen Kapitalmarkt platziert.
Soweit der Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. im Zusammenhang mit den Forderungsverkäufen Pfandrechte oder sonstige Sicherungsrechte bestellt hat, bleiben diese ebenfalls unverändert.
Neben der Aufgabenübertragung enthält der Gesetzentwurf drei weitere Neuregelungen, die den Postnachfolgeunternehmen bei der Erfüllung ihrer Beschäftigungspflicht für die noch verbliebenen circa 110 000
Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundespost dienen. Die Regelungen zum Vorruhestand für
die bei den Postnachfolgeunternehmen beschäftigten
Beamtinnen und Beamten sollen um vier Jahre verlängert werden, und es soll eine Ermächtigungsgrundlage
für unternehmensspezifische Regelungen zur Altersteilzeit geschaffen werden.
Darüber hinaus soll es die Möglichkeit der dauerhaften Zuweisung von Beamtinnen und Beamten an
Konzernmutter- und -schwestergesellschaften der Postnachfolgeunternehmen geben; jedoch setzt diese Zuweisung stets die Zustimmung der Beamtin oder des Beamten voraus. Die Neuregelungen gehen auf entsprechende
Vorschläge der Postnachfolgeunternehmen zurück, die
hinsichtlich Vorruhestand und Altersteilzeit auch von
den Gewerkschaften unterstützt werden.
Der Bundes-Pensions-Service für Post und Telekommunikation e. V. bleibt nach der Aufgabenübertragung
auf die Bundesanstalt bestehen. Das Bundesministerium
der Finanzen wird den von ihm benannten Mitgliedern
des Vereins jedoch empfehlen, für eine Auflösung des
Vereins wegen Aufgabewegfalls zu votieren.
Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation
bekommt ab 2013 zu ihren bisherigen Aufgaben neue
hinzu. Sie wird die Angelegenheiten der Postbeamtenversorgungskasse, auch Bundes-Pensions-Service für
Post- und Telekommunikation e. V., vollständig übernehmen. Die Arbeitsplätze der Mitarbeiter sind gesichert,
sie werden in Gänze von der Bundesanstalt übernommen. Alle Fraktionen unterstützen die Reform. Wir beschließen deshalb heute gemeinsam den Gesetzentwurf
der Bundesregierung.
Bisher hat sich die Postbeamtenversorgungskasse um
die Versorgung, also die Pensionsangelegenheiten, sowie um die Beihilfeleistungen bei Krankheit der Ruhestandsbeamtinnen und -beamten der Postnachfolgeunternehmen und deren Hinterbliebenen gekümmert. Dabei
handelt es sich um rund 275 000 Versorgungsempfänger.
Die Postbeamtenversorgungskasse betreut damit fast ein
Fünftel der gesamten Versorgungsempfänger und ist die
größte Versorgungskasse in Deutschland. Da mit der
Übertragung ihre Aufgaben wegfallen, wird das Bundesfinanzministerium empfehlen, den Verein schließlich
aufzulösen.
Zwar ist mit dem Postpersonalrechtsgesetz 1994 beschlossen worden, dass die Postnachfolgeunternehmen
dem Bund gegenüber die Versorgungs- und Beihilfekosten tragen müssen. Allerdings sind erhebliche Zuschüsse
des Bundes nötig, um die Ansprüche der pensionierten
Beamten voll zu decken. In den Jahren 2010 und 2011
hat der Bund die Postbeamtenversorgungskasse je mit
knapp über 6 Milliarden Euro bezuschusst, für 2012
werden es voraussichtlich weit mehr als 6 Milliarden
Euro sein.
Die hohen Zuschüsse durch den Bund weisen darauf
hin, um was es in der Neuregelung durch den Gesetzentwurf hauptsächlich geht: um bessere Aufsicht. Der Bundesrechnungshof hat in der Vergangenheit wiederholt
Zu Protokoll gegebene Reden
kritisiert, dass die Versorgungsangelegenheiten bei der
Postbeamtenversorgungskasse in der Rechtsform eines
eingetragenen Vereins geregelt werden. Dieser unterliegt einer eingeschränkten Rechts- und Fachaufsicht
durch das Bundesfinanzministerium, da es sich um einen
privatrechtlichen Verein handelt. Aufsichtsentscheidungen können gegenüber den Organen des Vereins deshalb
nur beschränkt durchgesetzt werden.
Der Bundesrechungshof hat angemahnt, dass nicht
zuletzt vor dem Hintergrund der erheblichen Bundeszuschüsse dies keine Dauerlösung sein kann. Die Aufgaben sollten stattdessen an eine öffentlich-rechtliche Einrichtung übertragen werden. Mit dem Gesetzentwurf
setzen wir diese Forderung um.
Die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation
wurde im Zuge der Postreform 1995 als Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet. Bislang nimmt sie unternehmensbezogene und soziale Aufgaben wahr. Sie beaufsichtigt Personalentscheidungen und Stellenpläne der
Postnachfolgeunternehmen. Die sozialen Aufgaben beziehen sich in der Hauptsache auf die Weiterführung der
Sozialeinrichtungen der ehemaligen Deutschen Bundespost. Dazu gehören beispielsweise die Postbeamtenkrankenkasse, Wohnungsfürsorge und das Betreuungswerk für die Mitarbeiter der Postbeamtenversorgungskasse.
Darüber hinaus verlängern wir mit dem Gesetzentwurf die Vorruhestandsregelungen für die Beamtinnen
und Beamten bei den Postnachfolgeunternehmen für
weitere vier Jahre. Dass damit bisher positive Erfahrungen gemacht wurden, haben auch die Spitzenorganisationen der Gewerkschaften bestätigt. Der Deutsche Beamtenbund, dbb, und der Deutsche Gewerkschaftsbund,
DGB, begrüßen auch, dass das Bundesfinanzministerium künftig per Rechtsverordnung neben dem Laufbahnrecht und der Arbeitszeit auch die Altersteilzeit für
die Postnachfolgeunternehmen gesondert regeln darf.
Die allgemeinen Vorschriften berücksichtigen die besonderen Bedürfnisse der im Wettbewerb stehenden Unternehmen nicht ausreichend. Ich freue mich, dass wir
fraktionsübergreifend diese Reformen auf den Weg bringen.
Mit der Privatisierung der Deutschen Bundespost
übernahm die Postbeamtenversorgungskasse die Verwaltung der Versorgungs- und Beihilfeleistungen an die
den Postnachfolgeunternehmen Deutsche Post AG,
Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank zugeordneten Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger sowie deren Hinterbliebene. Die bisherige
Rechtsform eines eingetragenen Vereins ({0}) wurde vom Bundesrechnungshof in der Vergangenheit des Öfteren, zuletzt 2011, bemängelt und
eine öffentlich-rechtliche Einrichtung angemahnt. Mit
dem Gesetzentwurf hat die Bundesregierung die Kritik
endlich aufgegriffen und schlägt die Überführung der
Aufgaben des BPS-PT an die Bundesanstalt für Post und
Telekommunikation Deutsche Bundespost vor. Dieser
Änderung der Rechtsform stimmt die Fraktion Die Linke
zu.
Zusätzlich ist im Gesetzespaket eine Verlängerung
der Vorruhestandsregelungen um 4 Jahre vorgesehen.
Auch das begrüßen wir, da solch eine Regelung von den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausdrücklich gefordert wird.
Wie Sie wissen, ist die Privatisierung der Deutschen
Bundespost von der PDS und den Linken abgelehnt und
kritisch begleitet worden. Immer wieder haben wir angemerkt, dass der Trend bei den Nachfolgeunternehmen,
insbesondere bei der Deutschen Post AG und den ausgelagerten Bereichen, zu Geringbeschäftigung, überproportional vielen Überstunden und Sonderschichten,
Personalabbau und Ausdünnung der Versorgungsdichte
geht. Die Privatkunden stehen heute oftmals schlechter
da, als vor der Privatisierung. Die Preise steigen immer
weiter, und die Kunden müssen zunehmend mehr Leistungen selbst erbringen.
Der gleiche kapitalistische Geist wehte offensichtlich
auch, als der Verkauf der Forderungen gegen die Postnachfolgeunternehmen durch den Bundes-PensionsService für Post und Telekommunikation e. V. im Jahr
2005 durchgeführt wurde. Das hat bis heute Folgen. Für
den Bundeshaushalt erbrachte dieses Konstrukt in den
Jahren 2005 bis 2007 kurzfristig einen Liquiditätsvorteil. Ab dem Jahr 2008 musste der Bundeshaushalt den
Finanzbedarf fast vollständig selbst tragen. In diesem
Jahr werden Zuwendungen in Höhe von 6,755 Milliarden Euro geleistet. Längerfristig gesehen entgehen dem
Bund Einnahmen, die er ohne Verbriefung gehabt hätte.
Unter dem Strich ist es ein Minusgeschäft!
Man kann sich aussuchen, ob die Idee zur Verbriefung einfach nur dem neoliberalen Zeitgeist entsprach,
oder dem immer wieder zu beobachtenden Trend zur
Verschiebung der Finanzierung von Pensionszahlungen
auf zukünftige Generationen zuzurechnen ist. Unzureichende Rücklagen und geplünderte Pensionsfonds in
Bund und Ländern werden dem Steuerzahler eine immense Belastung aufbürden. Das Prozedere aus dem
Jahre 2005 wird einen nicht unbedeutenden Anteil an
dieser fatalen Entwicklung tragen.
Der Bundesrechnungshof hat zu Recht wiederholt kritisiert, dass die Postbeamtenversorgung bisher nicht
über eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, sondern
über einen eingetragenen Verein organisiert ist. Die Kritik ist nachvollziehbar, es geht hier um milliardenschwere Versorgungsausgaben, die sollten auch vernünftig organisiert werden; das ist völlig richtig.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, diese
milliardenschweren Versorgungsausgaben der Postbeamtenversorgung nicht wie bislang durch den BundesPensions-Service für Post und Telekommunikation e. V.,
also durch einen eingetragenen Verein, abzuwickeln,
sondern durch eine öffentlich-rechtliche Einrichtung zu
vollziehen. Die Bundesregierung trägt der Kritik des
Zu Protokoll gegebene Reden
Priska Hinz ({0})
Rechnungshofes nun also Rechnung. Die Aufgaben der
Postbeamtenversorgungskasse werden durch die Gesetzesänderung auf die „Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost“ übertragen. Das
ist so weit auch in Ordnung, das ist sogar sinnvoll, dass
hier endlich eine deutliche Verbesserung erreicht wird.
Wenn man aber den Fokus auf die geplanten Änderungen des Postpersonalrechtsgesetzes im Hinblick auf
die Möglichkeiten der Tätigkeitszuweisung richtet, muss
eines klar sein: Wir reden hier über mehr als 100 000
Bundesbeamtinnen und -beamte, die von ihrem Arbeitgeber bundesweit ohne ihre Zustimmung und ohne zeitliche Begrenzung „versetzt“ werden können. Für diese
Beamtinnen und Beamten haben auch wir als Bundestag
eine Fürsorgepflicht; da müssen wir genau hinschauen.
Der neu gefasste § 4 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 und 2 des
Postpersonalrechtsgesetzes bedeutet für die Beamtinnen
und Beamten der Postnachfolgeunternehmen, dass für
sie die strikteren Zuweisungsregeln des Bundesbeamtengesetzes, die vor unzumutbaren Zuweisungen schützen,
nicht in Gänze gelten. Sie sind also schlechter geschützt
als andere Bundesbeamtinnen und -beamte. Man verlangt ihnen eine höhere Flexibilität in der Lebensplanung ab. Es kann ja sein, dass diese höhere Flexibilität
bei einem betriebswirtschaftlich ausgerichteten Arbeitgeber auch sinnvoll sein kann, das will ich gar nicht
grundsätzlich bezweifeln. Das will ich an dieser Stelle
deutlich sagen, damit hier kein falscher Eindruck entsteht.
Ich will aber auch deutlich sagen, dass der betriebswirtschaftliche Druck in Richtung Zuweisung den betroffenen Personen in der Praxis faktisch kaum eine
Wahl lässt, auch wenn nach dem Gesetz eigentlich ihre
Zustimmung erforderlich ist. Auch vor diesem Hintergrund ist für unsere Fraktion maßgeblich und wichtig,
dass Kriterien der sozialen Zumutbarkeit auch weiterhin
bei Zuweisungsentscheidungen berücksichtigt werden
müssen. Nicht zuletzt geht es hier zu einem großen Anteil
um Menschen im einfachen und mittleren Dienst. In diesem Sinne fordere ich das Bundesministerium der Finanzen anlässlich der heutigen Beratung auf, die Ausführungshinweise für Zuweisungen, die das Ministerium
im Jahre 2004 erlassen hat, auf die Neuregelung des
Postpersonalrechtsgesetzes inhaltsgleich zu übertragen.
Die bisherige Gleichbehandlung von Tarifbeschäftigten
und Beamtinnen und Beamten beim Rationalisierungsschutz darf nicht aufgegeben werden. Der bestehende
Standard muss erhalten bleiben.
Für die Rechte der Beamtinnen und Beamten bei der
Post tragen Sie ganz direkt auch Verantwortung. Ich
bitte Sie darum, dieser Verantwortung auch gerecht zu
werden. Insgesamt unterstützen wir das Anliegen des
Gesetzentwurfes vollkommen, die Änderungen sind sinnvoll und dafür haben Sie unsere Unterstützung.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/10853, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10307 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Sahel-Region stabilisieren - Humanitäre Katastrophe eindämmen
- Drucksache 17/10792 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
Die humanitäre Lage in der Sahelregion darf uns
nicht unberührt lassen. Menschenleben sind in Gefahr.
Unschuldige Kinder stehen vor dem Hungertod. Mit
meinem geschätzten Kollegen Thilo Hoppe habe ich mir
vor einigen Monaten bei einer Reise ans Horn von
Afrika ein Bild machen können von den Zuständen in
den Flüchtlingscamps, die infolge der Dürrekatastrophe
im vergangenen Jahr entstanden sind. Schon damals
wurden wir vor Ort in der Region Ostafrika auf die bevorstehende Ausweitung der Dürre und ihrer humanitären Folgen in das nordwestliche Gebiet der Sahelzone
hingewiesen.
Spiegel Online berichtete bereits am 23. März 2012
unter der Überschrift „In der Sahelzone droht eine Hungerkatastrophe“ von der Lage im Sahel. Mit Sebastian
Lesch wurde der Sprecher des Entwicklungshilfeministeriums zitiert, der zu diesem Zeitpunkt bereits konstatierte, dass mehr als 10 Millionen Menschen von Hunger bedroht seien.
Diese befürchtete Verschärfung der humanitären Situation in der Sahelregion ist nun bittere Realität geworden.
Am 1. August lasen wir in der Süddeutschen Zeitung
von einem aktuellen Bericht der Hilfsorganisationen
„Save the Children“ und „World Vision“: „Den Organisationen zufolge sind bald 1 Million Menschen in der
Region akut vom Hungertod bedroht. Insgesamt seien
mehr als 18 Millionen Menschen von Unterernährung
betroffen.“ Laut UNICEF sind mehr als 1 Million Kinder in der Sahelzone in akuter Lebensgefahr.
Wie der Antrag richtig beschreibt, ist „die Sahelregion eines der ärmsten Gebiete der Welt. Seit Jahren
kommt es in den Ländern dieser Region durch Dürren
und Misswirtschaft zu Lebensmittelkrisen. Ernteausfälle, politische Umbrüche in den Staaten Nordafrikas,
die Rückkehr bewaffneter Söldner aus Libyen und der
Elfenbeinküste, organisierte Kriminalität, islamistischer
Terrorismus sowie Kampfhandlungen im Norden Malis
haben die Ernährungskrise und fragile Sicherheitslage
in der Sahelregion dramatisch verschärft“.
In welche Richtung muss die Hilfe nun weisen? Nun,
es ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig, wie
das Zitat aus dem Antrag bestätigt. Von weitreichenden
politischen Initiativen, zu denen auch mögliche militärische Interventionen in einzelnen Ländern gehören können, bis zu schneller humanitärer Hilfe muss das Portfolio der Instrumente reichen.
Der Antrag stellt daher auch insgesamt 20 verschiedene Forderungen an die Bundesregierung. Allerdings
verzettelt sich für meine Begriffe damit leider das gutgemeinte und notwendige Anliegen.
Was ist tatsächlich zu tun? Zunächst einmal ist es
wichtig, die humanitären Hilfen und politischen Instrumente bestmöglich zu koordinieren. Dies geschieht auf
der Ebene der Vereinten Nationen durch das Amt für die
Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen - UNOCHA -, das VN-Kinderhilfswerk
- UNICEF - und VN-Flüchtlingshilfswerk, UNHCR. Auf
dieser Ebene ist dringend geboten, eine dauerhafte
Konferenz zur humanitären Lage in der Sahelzone zu installieren, wie es auf EU-Ebene geplant ist. Neben der
aktuellen Abstimmung der Maßnahmen bedarf es unbedingt der Entwicklung eines Frühwarnsystems für das
gesamte Subsahara-Afrika.
Zu begrüßen ist auf der Ebene der EU, dass bereits im
Juni eine neue Partnerschaft der Geberländer, die Initiative mit dem Namen AGIR Sahel, Alliance Globale
pour l'Initiative Resilience, ins Leben gerufen und die
humanitäre Hilfe der EU um 40 Millionen Euro auf
337 Millionen Euro - zusätzlich zu den 208 Millionen
Euro für die Finanzierung laufender Projekte für Ernährungssicherheit - aufgestockt wurde.
Vertreter der EU-Mitgliedstaaten, der USA, Norwegens, Brasiliens, der Vereinten Nationen, der Weltbank,
der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Organisation
für Islamische Zusammenarbeit sowie Botschafter der
Sahelländer, Vertreter zweier regionaler Organisationen
- ECOWAS und UEMOA - und Vertreter der Zivilgesellschaft sind zu AGIR eingeladen.
EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs erklärte zu AGIR: „In der heutigen Zeit ist es schwierig zu
akzeptieren, dass manche Menschen nicht genug zu essen haben. Dies kann verhindert werden, indem mit den
Sahelländern und internationalen Partnern zusammengearbeitet wird, um tragfähige landwirtschaftliche Systeme aufzubauen und somit künftige Krisen zu vermeiden. Allerdings kann eine solche Widerstandsfähigkeit
nicht über Nacht entwickelt werden. Die Initiative AGIR
Sahel wird alle wichtigen Akteure auf diesem Gebiet zusammenbringen und den Menschen in der Region auf
lange Sicht Hoffnung auf eine stabilere Zukunft geben.
Die EU wird ihren Teil leisten und in den kommenden
Jahren die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit in den Mittelpunkt ihrer Unterstützung stellen. Damit wird eine fundamentale Grundlage geschaffen, um
auf nachhaltiges und breitenwirksames Wachstum hinzuarbeiten.“ Piebalgs findet darin meine uneingeschränkte Zustimmung.
Natürlich engagiert sich auch die Bundesregierung in
der Sahelregion. Das BMZ hat im August seine Unterstützung um 14,7 Millionen Euro, die Bundesregierung
ihre Unterstützung damit auf insgesamt 51 Millionen
Euro aufgestockt. Sie ist damit drittgrößter bilateraler
Geber des Welternährungsprogramms in der Sahelkrise.
Das BMZ und das Auswärtige Amt stehen in ständigem
Kontakt untereinander und mit den Partnern in Europa
sowie den in der Sahelregion tätigen NGOs. Die Notwendigkeit einer Aufstockung der Hilfe wird jederzeit
weiter im Blick behalten.
Doch noch einmal zurück zu meinen persönlichen
Eindrücken. Thilo Hoppe und ich sind tapferen Menschen begegnet, die unter katastrophalen Umständen leben müssen, und die Erstaunliches leisten. Der Begriff
„humanitäre Katastrophe“ ist spätestens nach solchen
Begegnungen kein leerer Fachterminus mehr, sondern
es verbergen sich Gesichter und Geschichten hinter den
nackten Zahlen. Es geht um Menschen. Um diesen Menschen zu helfen, müssen wir die politischen Aktivitäten
in Europa und den Vereinten Nationen bündeln. Wir
müssen die Bürgerinnen und Bürger zu verstärktem Engagement und Spendenbereitschaft motivieren, indem
wir diese „vergessene Region“ thematisieren. Wir müssen internationale NGOs unterstützen - und alles das
über Parteigrenzen hinweg. Darum begrüße ich den
heutigen Antrag und diese Debatte. Ich hoffe, sie führt
zu einer größeren Wahrnehmung der Sahelregion in der
Öffentlichkeit. Doch wir dürfen die konzertierten Hilfen
der Weltgemeinschaft und den starken Anteil der Bundesrepublik dabei nicht kleinreden.
Heute befassen wir uns mit einem Thema, welches
schon längst auf der Tagesordnung des Plenums hätte
stehen sollen, ein Thema, das schon längst mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.
Die humanitäre Lage in der Sahelzone ist, zweifelsohne und nicht erst seit gestern, katastrophal. Bereits
vor einigen Monaten haben internationale Hilfsorganisationen auf die sich anbahnenden Probleme hingewiesen. Auch die bestehenden Frühwarnsysteme, die es seit
der Hungerkatastrophe am Horn von Afrika im Jahr
2011 gab, haben auf diese Entwicklung hingewiesen.
Dank dieser konnten erste Maßnahmen eingeleitet und
internationale und nationale Hilfe auf die anstehenden
Bedürfnisse angepasst werden. Es ist unerlässlich, jetzt
sofort und auf schnellstem Wege Hilfen für die Bewohnerinnen und Bewohner der Sahelregion bereitzustellen.
Gleichwohl muss im gleichen Augenblick auch daran
gedacht werden, wie eine Krise wie die derzeitige zuZu Protokoll gegebene Reden
künftig effektiv verhindert und die umfangreichen Risikofaktoren für Hunger sowie die Krisenanfälligkeit der
Region abgemildert, besser gänzlich beseitigt, werden
können.
Ein wesentliches Problem ist derzeit die anhaltende
Dürre sowie die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Prinzipiell sind die Märkte der Region in der Lage, klimabedingte Schwankungen in der Verfügbarkeit von Rohstoffen zu verkraften. Es sind zumindest statistisch ausreichend Anbaukapazitäten und Lebensmittel vorhanden; allerdings können diese aufgrund des hohen Preises von der lokalen Bevölkerung nicht mehr erworben
werden. Preissteigerungen bei Getreide von bis zu
20 Prozent werden beobachtet; in einigen Regionen berichtet die Welthungerhilfe von weitaus größeren Steigerungen.
Besonders die erhöhten Weltmarktpreise für Rohstoffe haben die Lage der Bevölkerung in der Sahelzone
verschlimmert. So sind in letzter Zeit vermehrt Spekulationen auf Rohstoffe zu beobachten. Dies führt zu einem
erheblichen Anstieg des Preisniveaus für Reis, Mais und
Zucker. Es ist unerträglich, dass sich große Fonds und
Banken zulasten der ohnehin Ärmsten der Armen bereichern und es für eine Familie nicht mehr möglich ist, ihren Kindern mehr als eine Tasse Tee am Morgen als
Nahrung anzubieten. Nach der Linderung der akuten
Not müssen wir diese Frage angehen und aktiv gegen
diese anstößige Praxis von Finanzinvestoren vorgehen.
Durch die politischen Umwälzungen in den Ländern
der Sahelzone wird die akute Notlage weiter verschärft.
Einerseits entsteht durch rückkehrende Flüchtlinge ein
hoher Druck auf die angespannte Versorgungslage; andererseits ist der Zugang in die am schwersten betroffenen Regionen durch unklare und unsichere Verhältnisse
sowie gewaltsame Auseinandersetzungen erheblich erschwert, teilweise sogar unmöglich. Insbesondere in
Mali ist die Lage extrem angespannt. Infolge des Putsches und der instabilen politischen Verhältnisse, aber
auch der Nahrungsmittelkrise flüchteten mittlerweile
über 250 000 Malier in die Nachbarländer Burkina
Faso, Mauretanien und Niger. Außerdem gab es im selben Zeitraum rund 185 000 Binnenflüchtlinge innerhalb
Malis. Sowohl die ausreichende Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln, Wasser und Unterkunft als
auch ihre medizinische Versorgung sind mangelhaft.
Fast eine halbe Million Menschen sind ohne Heimat und
Obdach. Zwischenzeitlich berichten Hilfsorganisationen auch vom Auftreten von Cholera, die durch das enge
Zusammenleben der lokalen Familien und der zahlreichen Flüchtlinge bedingt sind. Die schlechte Ernährungssituation und die Überflutungen im Niger sind ein
weiterer Herd für die Ausbreitung von Cholera und anderen Krankheiten.
Zunehmend bedienen sich auch internationale Verbrechergruppen der Sahelregion, um von hier aus ungehindert Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zu betreiben. Einige Organisationen sprechen bereits vom
„Pulverfass Sahelzone“, da sich in dem enormen, über
mehrere Ländergrenzen greifenden Gebiet ein nahezu
rechtsfreier Raum entwickelt hat, der unter anderem bewaffneten und terroristischen Gruppen wie Boko Haram
und der al-Schabab als Rückzugsgebiet dient. Kaum einem der Sahelstaaten gelingt es, auch aufgrund der Topografie, sein Territorium zu kontrollieren. Das Operieren
der Gruppierungen setzt die Bevölkerung vor Ort erheblichen Gefahren aus und erschwert auch die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen. Wir fordern in diesem Zusammenhang auch eine stärkere Kontrolle der deutschen
Rüstungsexporte. Zunehmend oft werden deutsche Rüstungsgüter, insbesondere Klein- und Leichtwaffen, in
Staaten exportiert, die den Verbleib der Waffen nicht kontrollieren können oder nicht transparent über den Verbleib berichten. Insbesondere unter dem Aspekt, dass
auch terroristische Organisationen in den Staaten der
Sahelregion operieren, müssen Waffenexporte genauer
kontrolliert und gegebenenfalls auch eingestellt werden.
Langfristig müssen die politischen und sicherheitspolitischen Verhältnisse vor Ort so stabilisiert werden,
dass die Menschen sich niederlassen und ihre Versorgung sicherstellen können, ohne befürchten zu müssen,
gewaltsamen Auseinandersetzungen ausgesetzt zu werden. Deshalb ist eine Lösung des Konflikts in Nordmali
im vorrangigen Interesse der benachbarten Staaten in
Westafrika, insbesondere aber natürlich der dort lebenden Menschen.
Es ist daher äußerst positiv zu bewerten, dass seit
Dienstag eine grundsätzliche Einigung zwischen Mali
und der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft
ECOWAS über die Bedingungen und den Einsatz aller
erforderlichen Mittel vorliegt. In den kommenden Tagen
wird eine formelle Einigung über die Stationierung von
Truppen, unter anderem in Bamako, erwartet. Nach ersten Informationen soll die Hilfe von ECOWAS-Personal
erbracht werden, um so eine höhere Akzeptanz bei der
Bevölkerung herzustellen. Wir begrüßen diese innerafrikanische Initiative und erwarten, dass auch ein hochrangiges Treffen am Rande der UN-Vollversammlung in
New York weitere konkrete kurz- und langfristige Hilfen
für die Menschen in der Sahelregion hervorbringt. Wir
fordern die Bundesregierung dringend dazu auf, gerade
als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
selbst Unterstützung zu leisten und bei den Partnern dafür zu sorgen, dass die notwendige Unterstützung der
Staatengemeinschaft nicht entweder an den Interessen
einzelner Staaten scheitert oder mit dramatischen Folgen für die betroffene Bevölkerung verzögert wird.
Die derzeit sichtbaren akuten Probleme werden flankiert von grundlegenderen Herausforderungen, die in
langfristigen Entwicklungsprojekten bearbeitet werden
müssen. So ruft der weltweite Klimawandel in der Sahelregion bereits sehr deutliche Veränderungen hervor. In
einer Region, in der Ackerbau, Landwirtschaft und Viehzucht schon heute äußerst mühsam und wenig ertragreich sind, sind sich ausbreitende Desertifikation und
zunehmend unregelmäßige Niederschläge eine Katastrophe. Zudem belastet der weiterhin hohe Bevölkerungsanstieg die angespannte Versorgungslage der Bevölkerung. Nach der gegenwärtig notwendigen Akutversorgung mit Wasser und Lebensmitteln braucht es
auch hier langfristige Strategien zur Verbesserung der
Versorgungslage. Gemeinsam mit internationalen OrgaZu Protokoll gegebene Reden
nisationen und in der bilateralen Zusammenarbeit müssen wir den Bäuerinnen und Bauern Strategien und Instrumente an die Hand geben, die es ihnen ermöglichen,
unter veränderten klimatischen Bedingungen und bei
drohenden oder akuten Extremwetterlagen ihre Versorgung trotzdem sicherzustellen.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung bereits
mit Aufkommen der ersten Anzeichen für die Versorgungskrise gegen Ende des letzten Jahres und zu Beginn
dieses Jahres Unterstützungsmaßnahmen ergriffen hat
und über verschiedene Wege finanzielle Hilfen bereitgestellt hat. Gleichwohl scheint dies angesichts der fortschreitenden und sich verschlimmernden Krise wie ein
Tropfen auf den heißen Stein.
Wir unterstützen daher die Forderung nach zusätzlichen Mitteln und Initiativen, um die Situation der Menschen vor Ort schnellstmöglich zu verbessern und ihre
Not zu mildern. Wir müssen jetzt die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die akute Not in der Sahelregion
zu lindern und in ausreichendem Maß Wasser, Nahrungsmittel, Unterkunft und medizinische Versorgung
zur Verfügung zu stellen.
Langfristig müssen wir uns jedoch darauf verständigen, die Staaten dabei zu unterstützen, die strukturellen
Probleme, welche zu der aktuellen Notlage führten, zu
bewältigen. Neben stabilen politischen Verhältnissen
braucht es insbesondere auf dem Gebiet der Nahrungsmittelsicherheit grundlegende Veränderungen. Es muss
sichergestellt werden, dass die regionale Landwirtschaft
verbessert wird und den Bedingungen des Klimawandels
angepasst wird. Es muss sichergestellt werden, dass an
den internationalen Märkten keine Spekulationen auf
Rohstoffe getätigt werden, die die Weltmarktpreise explodieren lassen.
Denn wenn die Menschen die aktuelle Krise überstanden haben, müssen wir - wenn es keine strukturellen
Veränderungen gibt - im nächsten Jahr bereits die
nächste Akutmaßnahme verabschieden. Es wäre dramatisch, wenn die Menschen in der Sahelregion von einer
humanitären Katastrophe in die nächste kämen. An der
Beratung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen werden wir uns deshalb konstruktiv beteiligen.
Eines schicke ich vorweg: Ich begrüße diese Debatte
ausdrücklich. Bereits beim Besuch des Menschenrechtsauschusses in Genf beim Menschenrechtsrat im
Mai hat man uns auf die Situation in der Region hingewiesen und die Brisanz der Lage verdeutlicht.
Gestern fand am Rande der 67. Sitzung der VN-Generalversammlung eine Konferenz zur aktuellen humanitären und politischen Situation der Sahelregion statt. Ban
Ki-moon hatte diese unter anderem einberufen, um die
neue regionale Strategie der Vereinten Nationen für den
Sahel vorzustellen. Die Länder der krisenerschütterten
Region stehen vor zahlreichen Herausforderungen.
Viele der Probleme verstärken sich gegenseitig. So verschärfen beispielsweise die anhaltenden Flüchtlingsströme aus Mali die ohnehin schon schlechte Nahrungsmittellage in der Region.
Die Strategie der Vereinten Nationen verfolgt hierzu einen übergreifenden Ansatz und soll die Bereiche Sicherheit, Regierungsführung, Entwicklung und Menschenrechte sowie eine humanitäre Dimension umfassen. Dabei
sollen insbesondere regionale Strukturen und grenzüberschreitende Herangehensweisen gefördert werden.
Wenn wir die aktuellsten Zahlen zur humanitären
Lage in der Sahelzone lesen, wird deutlich, dass es auch
weiterhin eines solchen entschiedenen Handelns bedarf.
Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen, UNOCHA, veranschlagt
den humanitären Bedarf im Sahel auf 1,6 Milliarden USDollar. Etwa ein Fünftel der gesamten Bevölkerung der
Region ist von Ernährungsunsicherheit bedroht; das
sind 18 Millionen Menschen in neun Ländern.
Die deutsche Bundesregierung hat schnell auf die
ersten Berichte über eine bevorstehende Nahrungsmittelkrise im Sahel reagiert. Seit Ende 2011 haben wir insgesamt 55 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für die
Region bereitgestellt. Die Gelder flossen in Nahrungsmittelhilfen des World Food Programme, in Flüchtlingshilfen von UNHCR, unterstützten die Verwundetenversorgung durch das Internationale Komitee vom Roten
Kreuz oder humanitäre NGOs wie Help oder Care.
Selbstverständlich werden wir dieses Engagement
fortsetzen; aktuell gibt es zum Beispiel eine finanzielle
Neuzusage an das Internationale Komitee vom Roten
Kreuz für Mali.
Die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft wollen durch ihren Einsatz verhindern, dass aus
der Krise eine Katastrophe wird. Humanitäre Hilfsorganisationen haben hier beachtliche Leistungen erbracht,
vornehmlich für die 1 Million Kinder, die von der Nahrungsmittelkrise besonders betroffen sind.
Dürren, Ernteeinbußen, steigende Lebensmittelpreise
und kriegerische Umwälzungen verschärfen die Nahrungsmittelsituation der ohnehin unterentwickelten Region. Zwar gibt es die Hoffnung, dass die nächste Ernte
im Oktober die Krise vorübergehend lindern wird und
die Marktpreise wieder sinken werden. Zahlreiche malische Flüchtlinge werden dieses Jahr jedoch nicht ihre
Felder bestellen können. Eine Wiederholung der Krisensituation ist damit vorprogrammiert.
Hier offenbaren sich die strukturellen Probleme der
Region, die bei akuter Unterstützung und Eindämmung
der humanitären Notlage nicht ausgeblendet werden
dürfen. Schwache Produktions- und Versorgungssysteme
führen zu einer sprunghaft ansteigenden Unterernährung der Bevölkerung im Falle eines externen Schocks.
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass die
Bundesregierung über die akute Nothilfe hinaus die Sahelregion auch dabei unterstützt, ihre Widerstandskraft
dauerhaft zu verbessern. Dies geschieht durch den Aufbau von Nahrungsmittelreserven, das Fruchtbarmachen
von Böden oder durch Schulungen von Kleinbauern.
Eine Erkundungsmission der GIZ gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen hat die hohe Wichtigkeit einer
Zu Protokoll gegebene Reden
engen Abstimmung zwischen EZ-Programmen und humanitärer Hilfe bestätigt. Dies entspricht auch den ressortübergreifenden Leitlinien „Für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten“,
die letzte Woche im Kabinett beschlossen wurden.
So dramatisch die humanitäre Lage und die Nahrungsmittelkrise im Sahel sind, die politische Dimension
dürfen wir bei allem akut gegebenen Handlungsbedarf
nicht aus den Augen verlieren. António Guterres, der
Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen, beklagte unlängst eine unzureichende Aufmerksamkeit für
die politische Situation in Mali vonseiten der internationalen Gemeinschaft und sprach gar von einer „vergessenen Krise“.
Dabei sind die Entwicklungen in Mali mehr als alarmierend; sie gefährden die Sicherheit und die Stabilität
der Region auf ernst zu nehmende Weise. Der Kommissionspräsident der Afrikanischen Union, Jean Ping,
sieht in der Krise gar eine der „ernsthaftesten Bedrohungen“ für den gesamten afrikanischen Kontinent.
Seit dem Militärputsch im März ist das Land faktisch
geteilt. Mali befindet sich in einer verheerenden Spirale
von Marginalisierung, Nahrungsmittelknappheit, bewaffneten Auseinandersetzungen, Separatismus, Terrorismus und organisierter Kriminalität. Die Lage spitzt
sich kontinuierlich zu, weitere Entwicklungen werden
zunehmend unvorhersehbarer.
Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi kehrten
Tausende Söldner, meist Tuareg, die vom libyschen
Machthaber rekrutiert worden waren, nach Mali zurück
und kämpfen nun gegen die malische Armee. Während
die Rebellion zunächst von säkularen Motiven wie Autonomiebestrebungen geprägt war, haben sehr schnell islamistische Kräfte an Einfluss gewonnen. Die „Bewegung für die Einheit und den Dschihad in Westafrika“,
Mujao, al-Qaida im Maghreb, AQIM, und die mit ihnen
verbündete radikal-islamische Gruppe Ansar al-Din beherrschen den Norden Malis und haben in den von ihnen
kontrollierten Gebieten die Scharia eingeführt. Die
Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten
Nationen, Navi Pillay, berichtete letzte Woche von grausamen Amputationen, Steinigungen, Massenhinrichtungen und der Verletzung von Frauenrechten aufgrund von
Scharia-Vorschriften.
Es ist unerlässlich, dass die malische Übergangsregierung entschiedene Bemühungen unternimmt, um die
Ordnung im Land wiederherzustellen. Deutschland unterstützt dabei ausdrücklich den konsequenten Einsatz
der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und stimmt sich bei seinen Aktivitäten mit der EU,
der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen ab.
Mit einem nachdrücklichen Engagement muss die internationale Gemeinschaft verhindern, dass sich die Krise
in Mali zu einem Flächenbrand auf die gesamte Sahelregion ausweitet.
Zum dritten Mal innerhalb von sieben Jahren werden
die Menschen in der Sahelregion von akutem Hunger
bedroht. Durch die unregelmäßigen Regenfälle, ausfallende Ernten und sterbende Tiere geraten immer mehr
Menschen in eine akute Notlage. Durch die viel zu kurzen Zeiträume zwischen den Trockenperioden haben die
Gemeinden überhaupt keine Chancen mehr, Vorräte anzulegen, um die Dürreperioden überstehen zu können.
Während sich die Dürren in den Jahren 2005 und 2010
noch hauptsächlich auf Niger und Teile des Tschad beschränkten, betrifft die diesjährige Hungerkrise die gesamte Sahelzone.
Die Getreideproduktion liegt in vielen Ländern der
Region weit unter dem Durchschnitt der letzten fünf
Jahre. Die Erträge in Mauretanien sind dieses Jahr um
46 Prozent, im Tschad um 37 Prozent, im Niger um
23 Prozent und in Burkina Faso um 14 Prozent geringer
als prognostiziert.
Im Niger sind 20 Prozent aller Kinder zwischen 6 und
23 Monaten mangelernährt, in Burkina Faso leiden
1,7 Millionen Menschen unter Hunger, in Mali sind über
4,6 Millionen Menschen vom Hunger betroffen. Nach
Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF leiden in
der Sahelregion mehr als 1 Million Kinder unter schwerer Mangelernährung.
Die Staaten des globalen Nordens tragen direkte Mitverantwortung für die Not der Menschen in der Sahelregion: Klimaforscher weisen seit vielen Jahren darauf
hin, dass diese deutliche Zunahme der Dürreperioden
auf die Folgen des Klimawandels zurückzuführen ist.
Spekulationen mit Nahrungsmitteln haben dazu beigetragen, dass sich Nahrungsmittel in der Sahelregion im
letzten Jahr extrem verteuert haben. Die Getreidepreise
in der Region sind überdurchschnittlich angestiegen, die
Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Hirse ist teilweise nicht mehr gesichert. Viele Familien können sich
die Lebensmittel nicht mehr leisten. Aufoktroyierte Freihandelsabkommen haben lokale Märkte durch subventionierten Export von landwirtschaftlichen Gütern aus
der EU zerstört und viele Kleinbauern in existenzielle
Not gebracht. Der nicht zu verantwortende Angriff der
NATO auf Libyen hat die Sicherheitslage in der Region
maßgeblich verschlechtert. Viele der mit NATO-Waffen
oder erbeuteten Waffen ausgerüsteten Söldnertruppen
aus Libyen sind nach dem Sturz des Regimes in die Sahelregion eingesickert und haben zum Umsturz im Norden von Mali beigetragen. Durch die prekäre Sicherheitslage in einigen Gebieten der Region ist der Zugang
zu den hilfsbedürftigen Menschen deutlich erschwert.
Die Destabilisierung Nordafrikas durch die Militärinterventionen der NATO-Staaten hat den radikalen
Strömungen in Afrika deutlichen Zulauf gebracht.
Die Folge sind große Flüchtlingsströme, für die eine
schnelle Hilfe organisiert werden muss. Nach Angaben
der UNHCR sind alleine aus dem Norden Malis
435 000 Menschen als Binnenflüchtlinge unterwegs oder
in die Nachbarstaaten geflohen. Die aufnehmenden
Nachbarstaaten müssen von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden.
Die Ausführungen in dem Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen zu Aktivitäten der Gruppe al-Qaida sind einseitig, da sie die Ursachen für das Erstarken dieser GrupZu Protokoll gegebene Reden
pen verschweigen. Viele der heutigen Kämpfer von alQaida wurden durch die NATO-Interventionen radikalisiert. Viele der Waffen, die diese Gruppen heute einsetzen können, stammen aus den Waffenlieferungen der
NATO-Staaten an die Opposition in Libyen.
Wieder einmal zeigt sich deutlich, dass die imperiale
Politik eine negative Rolle für die Entwicklung ganzer
Regionen spielt. Auch aus diesen Gründen halten wir die
Forderung nach Ausbau der Krisenreaktionskräfte für
problematisch.
Nicht nachvollziehbar ist die in dem Antrag aufgestellte Forderung nach Aufbau eines Asylsystems in den
betroffenen Ländern. Das hat mit der Realität der
Flüchtlingsbewegungen in dieser Region wenig zu tun.
Die Grenzen in dieser Region sind willkürliche Grenzen
aus der Zeit des Kolonialismus und spielen für die realen Bewegungen der Menschen und die Wirtschaft keine
zentrale Rolle.
Wir brauchen in der Region kein Asylsystem wie in
der EU, das nicht zum Flüchtlingsschutz, sondern zur
Flüchtlingsabwehr aufgebaut wurde, sondern eine Lösung zur Überwindung der bestehenden Grenzkonflikte
und eine Ausrichtung der Politik der Bundesregierung
auf wirtschaftliche Hilfe für die Region, die eigene Entwicklungschancen ermöglicht.
Die Fraktion Die Linke erwartet von der Bundesregierung schnelle und umfassende Hilfe für die Menschen. Wir erwarten, dass sie sich nicht auf einen Verhandlungsmarathon zwischen den Geberländern einlässt, um angeblich „faire Anteile“, wie dies im Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen benannt wird, auszuhandeln, sondern durch schnelle und umfassende Maßnahmen den Menschen hilft. Die Betroffenen in der Sahelregion haben keine Zeit, auf das Ergebnis von internationalen Verhandlungen zu warten, sondern brauchen
sofort Hilfe.
Mehr als 18 Millionen Menschen sind von akuter Unterernährung betroffen, 8 Millionen Menschen brauchen
dringend Nothilfe. Die Fraktion Die Linke unterstützt
ausdrücklich die Forderung im Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen, dass die Mittel für humanitäre Hilfe und die
entwicklungsfördernde und strukturbildende Übergangshilfe für die Sahelzone sofort auf 82,5 Millionen
Euro angehoben werden müssen. Dass die Bundesregierung sich seit Jahren weigert, die entsprechenden Titel
angemessen aufzustocken, ist skandalös angesichts der
Häufung lebensbedrohender Krisen in den Ländern des
Südens. Jetzt sind auf dem Verschiebebahnhof zwischen
AA und BMZ unterm Strich auch noch Gelder gekürzt
worden. Wir werden die Haushaltsberatungen 2013 nutzen, um hier energisch mehr Mittel einzufordern.
Die Lage in der Sahelregion ist dramatisch. Meine
Fraktion bringt diesen Antrag in den Bundestag ein,
weil wir befürchten, dass die dortige humanitäre Katastrophe angesichts der Euro-Krise und des Bürgerkriegs
in Syrien nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch
im politischen Bereich nicht die Beachtung erfährt, die
sie benötigt. Wir sollten uns die Dimension dieser Krise
vor Augen führen: Durch die Nahrungsmittelkrise sind
mittlerweile 18 Millionen Menschen in der Sahelregion
bedroht. Laut OCHA wären 1,7 Milliarden Euro notwendig, um die nötige Nothilfe zu leisten. Bisher sind gerade
einmal 56 Prozent davon aufgebracht.
Als infolge des Libyen-Konflikts ehemalige GaddafiSöldner mit einer Vielzahl schwerer Waffen aus Gaddafis Arsenal die Sahelregion überströmten und dort dazu
beitrugen, dass alte Konflikte mit nie gekannter Intensität wieder ausbrachen, schaute Europa tatenlos zu.
Seit Ausbruch des Tuareg-Aufstandes in Nord-Mali,
der durch die Söldner Gaddafis erst richtig ins Rollen
kam, und verstärkt noch seit der Machtübernahme dort
durch die Islamisten von Ansar Dine und MUJAO sind
bisher 435 000 Menschen aus diesen Gebieten geflüchtet, zum Teil in die Nachbarländer Niger, Burkina Faso
und Mauretanien, zum Teil in den Süden des Landes.
Grund dafür sind Menschenrechtsverletzungen, die
von allen Seiten berichtet werden. Plünderungen, Zerstörungen von Kulturgütern, Rekrutierung von Kindersoldaten, Vergewaltigungen, drakonische Körperstrafen
und Exekutionen und Massaker sind aus dem Norden
Malis vermeldet worden.
Hier ist leider von der internationalen Gemeinschaft
und auch von der EU einiges versäumt worden. Dies ist
umso tragischer, als einige in der EU frühzeitig auf die
angespannte Lage in der Sahelregion aufmerksam gemacht haben: Bereits im März 2011 hat die EU die SahelStrategie für Sicherheit und Entwicklung verabschiedet.
Leider hat es bis zum Juni dieses Jahres gedauert, bis
die erste angestrebte Unterstützungsmission im Sicherheitsbereich von der EU begonnen wurde. EUCAP Niger
Sahel will die Ausbildung von Polizei und Gendarmerie
in Niger unterstützen. Aus unserer Sicht eine richtige
und wichtige Mission.
Sicherlich gibt es für diese Verzögerung einige
Gründe. Aber bedauerlicherweise hören wir aus Brüssel, dass es gerade auch diese Bundesregierung war, die
sich gegen eine EU-Mission im Rahmen der GSVP in
der Sahelregion lange gesperrt hat. Anstatt sich auf ihre
positive Rolle in der Region zu besinnen - immerhin gehörte die Bundesrepublik zu den ersten Staaten, die die
Unabhängigkeit Malis 1960 anerkannt haben -, hat die
Bundesregierung das Handeln der EU verzögert. Warum?
Aus Furcht, vor den französischen Karren gespannt zu
werden, oder wegen der Uneinigkeit in der EU infolge
des Libyen-Einsatzes? Wir müssen in der EU endlich zu
einer gemeinsamen Einschätzung der sicherheitspolitischen Erfordernisse kommen. Eine veraltete Sicherheitsstrategie hilft da augenscheinlich nicht weiter. Es reicht
nicht aus, dass Bundesminister Niebel für eine Stippvisite nach Mali fährt und ein paar von seinen Mützen
verschenkt.
Nun stellt sich die Frage: Was tun, um Mali nach dem
Putsch bei der Rückkehr zur Demokratie und zu stabilen
Institutionen zu unterstützen? Was tun, um die territoriale Integrität Malis wieder herzustellen? Und was tun,
um einer Destabilisierung der ganzen Region entgegenZu Protokoll gegebene Reden
zuwirken und Strukturen für eine nachhaltige Entwicklung unter demokratischen Vorzeichen zu schaffen?
Wichtig ist nun aus unserer Sicht, dass jetzt nicht aus
Übereifer der falsche Weg eingeschlagen wird. Bisher
steht die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS
im Mittelpunkt aller Vermittlungsversuche. Der malische
Übergangspräsident Traoré hat explizit die ECOWAS gebeten, bei der Ausbildung und Reorganisation der malischen Streitkräfte sowie logistisch bei der Rückeroberung des Nordens unterstützend tätig zu werden. Einen
entsprechenden Brief hat Traoré auch schon an UN-Generalsekretär Ban Ki-moon geschickt. Deutschland ist
zurzeit Mitglied im UN-Sicherheitsrat und hat daher besondere Verantwortung. Die internationale Gemeinschaft muss versuchen, möglichst alle wichtigen Akteure
in der Region in den Prozess um die Lösung der Konflikte in Mali einzubeziehen. Besonders wichtig sind die
Nachbarstaaten Malis Algerien und Mauretanien, die
nicht Mitglieder der ECOWAS sind. Ohne ihre Beteiligung könnte ein Eingreifen der ECOWAS den Konflikt
eher eskalieren, als ihn der Lösung näherbringen. Die
Afrikanische Union sollte daher stärker in die Konfliktlösung einbezogen werden. Wenn eine breite Einbettung
einer Friedensmission, die sich auf die Reorganisation
und Ausbildung der malischen Armee beschränkt, zustandekommt, sind Deutschland und die EU aufgefordert, diese finanziell und logistisch zu unterstützen.
In dieser Hinsicht gilt es für die Bundesregierung,
auch den UN-Generalsekretär bei der Ausarbeitung und
Implementierung einer UN-Sahel-Strategie zu unterstützen.
Wenn wir zur Stabilisierung der Region beitragen
wollen, müssen wir in unserer Politik umsteuern. Wir
müssen regionale Akteure auch außerhalb der ECOWAS
stärker in die Umsetzung der Sahel-Strategie einbinden.
Auch Nigeria sollte dabei neben Algerien und Libyen
eine wichtige Rolle spielen. Zudem empfehlen wir, den
Ansatz der Strategie „Sicherheit ist Voraussetzung für
Entwicklung“ zu überprüfen. Eine Studie des Europäischen Parlamentes hat deutlich gezeigt, dass die Armutsbekämpfung viel zu kurz kommt. Die Bundesregierung sollte ihr politisches Gewicht in die Waagschale
werfen, um hier eine Veränderung herbeizuführen.
Die Sahelregion liegt vor der Haustür der EU. Eine
destabilisierte Region, in der Menschen tagtäglich um
ihr Überleben kämpfen müssen, die große Rückzugsräume für islamistischen Terror und die organisierte
Kriminalität lässt, geht uns alle an. Unterstützen Sie
unseren Antrag, damit wir gemeinsam dazu beitragen
können, dass sich dort ein Raum entwickelt, in dem
Voraussetzungen für ein sicheres und wirtschaftlich
nachhaltiges Umfeld gewährleistet sind.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10792 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Nadine Schön ({0}),
Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
({1}), Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Berufsqualifikation - Mobilität erleichtern,
Qualität sichern
- Drucksache 17/10782 Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
In Europa leben derzeit nicht einmal 10 Prozent der
Weltbevölkerung. Diese produzieren ein Viertel des
Bruttoinlandsprodukts der Welt und geben 50 Prozent
der Sozialausgaben der Welt aus. Daran sieht man: Wir
sind im weltweiten Kontext wenige, diese wenigen sind
aber ein hohes Wohlstandsniveau gewohnt. Und diesen
Wohlstand wollen wir auch erhalten.
Um innerhalb eines agilen und dynamischen Weltmarktes diesen Wohlstand zu sichern, müssen wir wettbewerbsfähig sein; denn nur wenn wir wettbewerbsfähig
sind, können wir den Wohlstand erhalten, von dem unsere auch und die nächste Generation profitieren soll.
Dies wird umso schwerer, je mehr der demografische
Wandel in Europa und gleichzeitig die Attraktivität anderer Standorte dazu führen, dass gut ausgebildete und
qualifizierte Fachkräfte entweder nicht vorhanden sind
oder in andere Regionen abwandern.
Aus diesem Grund ist es richtig und wichtig, dass die
Europäische Union mit all ihren Mitgliedstaaten seit
Jahren darum bemüht ist, die Mobilität der Fachkräfte
innerhalb Europas zu erleichtern, um das vorhandene
Fachkräftepotenzial bestmöglich auszuschöpfen. Der
vorliegende Entwurf der Europäischen Kommission zur
Überarbeitung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems soll diesem Ziel dienen. Er soll ein
Beitrag zur besseren Mobilität innerhalb Europas und
damit zur Sicherung des Fachkräftebedarfs und schließlich zu mehr Wettbewerbsfähigkeit sein. Dieses Anliegen
der Kommission teilt und begrüßt die CDU/CSU-Fraktion.
Intensiv haben sich deshalb die Mitglieder meiner
Fraktion mit dem Richtlinienentwurf auseinandergesetzt. Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Wirtschaft und Technologie, Bildung und Forschung, Gesundheit, Arbeit und Soziales, Recht und Europa haben
den Entwurf eingehend geprüft. Wir haben ein Expertengespräch mit den größten betroffenen Verbänden durchgeführt und gerade gestern in einer Fachtagung zusammen mit den Kollegen aus dem Europäischen Parlament
sowie den Verbänden die Dimension des Themas aus
deutscher und europäischer Sicht beleuchtet. Allen, die
Nadine Schön ({0})
daran mitgewirkt haben, will ich auch von dieser Stelle
noch einmal herzlich danken.
Einig sind wir uns innerhalb der Fraktion und auch in
den erwähnten Fachgesprächen darin, dass wir jeden
Vorschlag begrüßen, der die Mobilität in Europa erleichtert und das Fachkräftepotenzial erhöht. Allerdings: Der Wille zur Vereinfachung darf nicht auf Kosten der Qualität gehen. Und ich sage hier ganz deutlich:
Es gibt zahlreiche Vorschläge in diesem Entwurf, die alle
Alarmglocken zum Läuten bringen. Den Richtlinienentwurf durchziehen zahlreiche Vorschläge, die mit unserem System der dualen Ausbildung nicht oder nur
schwer vereinbar sind.
So verkennen etwa die Vorschläge, eine zwölfjährige
Schulzeit für Krankenpfleger und Hebammen als Voraussetzung für die automatische Anerkennung zu verlangen, gänzlich, dass in Deutschland gerade in den
Pflegeberufen mit einem bewährten System von zehnjähriger Schulzeit und qualitativ hochwertiger dualer Ausbildung hohe Fachkraftquoten erreicht werden. Eine
Anhebung auf zwölf Jahre Schulzeit als Zugangsvoraussetzung würde 45 Prozent der Krankenpflegerinnen und
Krankenpfleger und 85 Prozent der Altenpflegerinnen
und Altenpfleger von der Anerkennung ausschließen.
Dabei sind heute kaum Unterschiede in der Qualität
zwischen Auszubildenden mit Fachhochschulreife und
solche mit Mittlerer Reife zu erkennen. Es besteht also
kein Grund, einem Großteil der Jugendlichen den Zugang zu dieser Ausbildung zu verwehren. Dadurch verbessert man keine Qualität, sondern erhöht nur den
Fachkräftemangel in den betroffenen Bereichen und damit die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Mehrheit der betroffenen Verbände - und
die Allianz reicht von der Krankenhausgesellschaft über
DIHK bis hin zu Caritas und Verdi - plädiert daher entschieden gegen den Vorschlag der Kommission, pauschal eine Schulzeit von zwölf Jahren zu verlangen.
Mehr Anerkennung und eine bessere Bezahlung erreiche
man nicht durch den Umweg der Anhebung der Ausbildungsvoraussetzungen, so die mehrheitliche Meinung,
der wir uns in aller Deutlichkeit anschließen.
Diese Deutlichkeit und dieses einheitliche Bild und
die klare Positionierung haben wir auch hier im Deutschen Bundestag. Das freut mich sehr; denn es ist wichtig, dass wir mit einer Stimme sprechen. Mit einer
Stimme sprechen sollten wir dann aber auch in Brüssel.
Deshalb hat es mich sehr überrascht, zu hören, dass es
in den Reihen der SPD auf EU-Ebene eine Parlamentarierin gibt, die diese deutsche Position gerade nicht vertritt. Liebe Freunde der SPD, werben Sie auch in Ihren
Reihen in Brüssel und nicht nur im Deutschen Bundestag für unsere hervorragende duale Ausbildung, gerade
auch in den Pflegeberufen. Es ist wichtig, dass wir hier
mit einer Stimme sprechen!
Nicht nur die Pflegeberufe, sondern auch viele andere regulierte Berufe sind von der Richtlinie betroffen.
Besonders beim deutschen Handwerk werden die Pläne
der Kommission daher kritisch betrachtet. Gerade hier
spielt die duale Ausbildung eine entscheidende Rolle.
Mehr als in anderen Bereichen sichert sie hier den eigenen und auch den industriellen Fachkräftenachwuchs.
Mit einer Ausbildungsquote von 9 Prozent leisten zahlreiche Handwerksbetriebe in Deutschland hervorragende Arbeit für die junge Generation und einen entscheidenden Beitrag zur Prosperität Deutschlands.
Deshalb ist mit Beunruhigung zu sehen, dass in der
Richtlinie zahlreiche delegierte Rechtsakte vorgesehen
sind, die dazu führen können, dass Regelungen durchgesetzt werden, die unser duales System empfindlich treffen, ohne dass der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeit
hat, dem entgegenzusteuern. Auch der partielle Zugang
kann nach Auffassung des Handwerks eine Gefahr für
unser qualitativ hochwertiges deutsches Ausbildungssystem darstellen, da es durch die Gewährung des partiellen Zugangs zu einer Zersplitterung gewachsener Berufsbilder kommen könnte. Deshalb ist es wichtig, dieses
Instrument restriktiv einzusetzen. Auch was die Ausgestaltung der Niveaustufen angeht, befürchtet speziell das
Handwerk eine Benachteiligung der dualen Ausbildung,
wenn etwa einem deutschen Handwerksmeister der Zugang zu Berufen, die in anderen Mitgliedstaaten einen
Bachelor oder Master voraussetzen, grundsätzlich verwehrt bliebe, umgekehrt aber einem EU-Bürger mit Primärschulabschluss mit einer höchstens dreijährigen
Ausgleichsmaßnahme zukünftig die Führung eines zulassungspflichtigen Handwerksbetriebs gestattet werden
kann. Diese Bedenken müssen ernst genommen und in
der Richtlinie entsprechend klargestellt werden.
Schließlich muss das System der gemeinsamen Ausbildungsgrundsätze so ausgestaltet sein, dass es keine Angleichung auf niedrigem Niveau nach sich zieht. Auch
beim europäischen Berufsausweis ist darauf zu achten,
dass er Verfahren vereinfacht und beschleunigt, nicht
aber zu Unsicherheit führt.
In all diesen Einzelpunkten ist die konkrete Ausgestaltung der Vorschläge der Kommission entscheidend
dafür, dass unser duales System nicht gefährdet wird.
Wir wollen das duale System stärken: im Handwerk, in
den Gesundheitsberufen und in allen anderen von der
Richtlinie betroffenen Berufsgruppen. Deshalb gilt es
jetzt, zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen
im Europäischen Parlament für eine sinnvolle und kluge
Ausgestaltung zu werben, die das duale System stärkt
und nicht schwächt.
Diese Stärkung des dualen Systems ist nicht nur in
unserem eigenen Interesse: Schließlich entdecken gerade auch andere Staaten der EU und weltweit das duale
Ausbildungssystem als Garant für hohe Beschäftigungsund Fachkraftquoten. So waren im Juni in Deutschland
7,9 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in Frankreich
hingegen 22 Prozent und in Spanien sogar über 50 Prozent. Das duale System sichert eine hohe Fachkraftquote, beugt dem Fachkräftemangel vor, indem sich die
Unternehmen selbst um ihren Nachwuchs bemühen, und
verteilt die Kosten der Ausbildung auf Wirtschaft und
Allgemeinheit. Viele Berufe, die in anderen Ländern mit
Hochschulstudium erreicht werden, werden in Deutschland durch die duale Ausbildung in der gleichen Qualität sichergestellt. Meisterausbildung und Durchlässigkeit zum Hochschulstudium garantieren gleichzeitig
Aufstiegsmöglichkeiten. So sichert das duale System in
Zu Protokoll gegebene Reden
Nadine Schön ({1})
Deutschland quantitativ und qualitativ eine hohe Fachkraftdichte. Damit leistet die duale Ausbildung einen unverzichtbaren Beitrag zur wirtschaftlichen Prosperität
unseres Landes. Dies haben andere Länder erkannt und
machen es uns nach. Allein aus diesem Grund gilt es,
dieses Erfolgsmodell zu bewahren, auf europäischer
Ebene für dieses System zu werben und es zu verteidigen. Deshalb plädieren wir eindringlich für eine Änderung der oben genannten Vorschläge.
Neben den Bestandteilen der Richtlinie, die die duale
Ausbildung betreffen, gibt es darüber hinaus innerhalb
des Richtlinienentwurfs weitere problematische Gesichtspunkte. In unserem Antrag sind wir auf die Berufsgruppe der Notare, auf die Apotheker und Ärzte sowie
auf weitere Einzelregelugen, die besonders für die Gesundheitsberufe von Relevanz sind, eingegangen. Ich
kann in meiner Rede leider nicht alle diese wichtigen
Themen aufgreifen. Es gilt aber für alle diese Punkte,
wenn ich sage: Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung und unseren europäischen Kollegen sowie den
Verbänden im Europäischen Parlament und bei der
Kommission dafür werben, dass die Richtlinie so ausgestaltet wird, dass sie Mobilität erhöht, ohne Qualität zu
gefährden. Das ist unser aller Ziel im Sinne unseres
Landes und im Sinne des Wohlstandes in Europa.
Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der
Europäischen Union ist eine wegweisende Errungenschaft eines zusammenwachsenden Europas.
Jeder EU-Bürger kann sich entsprechend seiner
Qualifikationen frei auf dem europäischen Arbeitsmarkt
bewegen. Diese Mobilität macht es unseren deutschen
Unternehmen möglich, um die „Besten“ zu werben und
mit niedrigen bürokratischen Hürden dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Die Novelle der Berufsanerkennungsrichtlinie ist
deswegen ein wesentlicher Baustein dafür, dass das
Fachkräftepotenzial in der EU optimal genutzt wird.
Auch durch den angestrebten Berufsausweis soll die
Mobilität zukünftig noch leichter werden.
Aber: Unter der zunehmenden Mobilität darf die
Qualität der Arbeit und der Ausbildung nicht leiden. Die
berufliche Mobilität in Europa darf nicht zulasten bestehender und bewährter Berufsqualifikationen führen.
Denn auch oder gerade deutsche Arbeitnehmer profitieren von einem freien europäischen Arbeitsmarkt.
Diese Tatsache ist neben der sehr guten Ausbildung
an den deutschen Universitäten vor allem auf das deutsche duale Berufsbildungssystem zurückzuführen. Denn
dieses gewährleistet nicht nur einen sehr guten Bildungsstand, sondern auch eine hochwertige Ausbildung,
wie zum Beispiel in den Sozial- und Handwerksberufen und das auch ohne Abitur oder Hochschulabschluss.
Ebendiese duale Ausbildung ist ein wesentlicher
Grund für die geringe Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland. Nur 7,9 Prozent der Jugendlichen sind
arbeitslos. Ihre Qualität ist der engen Verzahnung von
Theorie und Praxis geschuldet. Selbst im neuesten
OECD-Bericht wird den USA vorgeschlagen, unser
duales Ausbildungssystem aufzugreifen und einzuführen. Nicht nur die USA interessieren sich dafür, auch andere Länder, zum Beispiel in Südamerika und selbst bei
uns in Europa. Die Welt schaut auf unsere duale Ausbildung. Und wir können stolz auf sie sein.
Gerade die zehnjährige Schulausbildung als eine
machbare Zulassungsvoraussetzung ist für die geringe
Arbeitslosigkeit bei Menschen mit mittlerem Bildungsabschluss und besonders bei den Jugendlichen verantwortlich.
Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen absolvieren
nach ihrem Schulabschluss eine betriebliche Ausbildung. 2011 gab es 1,5 Millionen Auszubildende in
Deutschland.
Doch für viele Menschen endet nach der Ausbildung
die berufliche Qualifikation nicht: Sie schließen an ihre
Ausbildung eine Zusatzausbildung an, wie zum Beispiel
einen Meister oder Techniker, eine Fortbildung oder ein
Studium.
Das deutsche duale Ausbildungssystem und die darauf aufbauenden Weiterbildungsmöglichkeiten sind die
elementaren Bausteine unserer Wirtschaftskraft. Seine
hohe Qualität ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.
Grundsätzlich begrüßen wir, die CDU/CSU-Fraktion,
die Überarbeitung der Qualifikationsrichtlinie. Sie ist
gut und in vielen Punkten auch richtig.
Aber in einem wesentlichen Punkt sehen wir unser
duales Ausbildungssystem durch den Richtlinienvorschlag gefährdet: Mit der Forderung, die schulische
Voraussetzung für die Zulassung zur Ausbildung zum
Krankenpfleger/zur Krankenpflegerin und Hebamme
von zehn auf zwölf Jahre anzuheben, untergräbt die
Novelle der Richtlinie weite Teile unseres Ausbildungssystems.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, setzen uns dafür ein,
dass die bisherige Zugangsvoraussetzung einer zehnjährigen Schulausbildung zur Krankenpflege- und Hebammenausbildung bestehen bleibt und nicht auf eine zwölfjährige allgemeine Schulausbildung angehoben wird.
Eine Ausbildung im Gesundheits- und Krankenpflegewesen muss auch für Realschulabgänger möglich
sein. Nur so kann dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden.
Im Schuljahr 2010/2011 haben 31 Prozent der
Schülerinnen und Schüler Abitur gemacht, 40,5 Prozent
hingegen aber einen Realschulabschluss. Diesen Absolventen würde durch den Richtlinienvorschlag der EU
ein Zugang zum Pflegeberuf verwehrt werden.
Welche Kompetenzen erwerbe ich denn wirklich,
wenn ich länger zur Schule gehe? Würde sich ein Abiturient überhaupt für eine Ausbildung im Pflegebereich
entscheiden, wenn er auch Medizin studieren kann?
Wird so die Akzeptanz und Attraktivität des Pflegeberufes bei Abiturienten gestärkt? Ist ein Abiturient besser
qualifiziert für den Pflegeberuf als jemand mit Realschulabschluss?
Der Pflegeberuf ist sehr anspruchsvoll. Daran
besteht kein Zweifel. Ich selbst konnte mich erst im August davon überzeugen, als ich im Rahmen meiner Sommertour mehrere Pflegeeinrichtungen in meinem Wahlkreis besucht habe. Diesem Berufsfeld gilt mein voller
Respekt.
Doch was spricht dagegen, dass auch Mädchen und
Jungen mit Realschulabschluss den Anforderungen dieses Berufes voll genügen? Nichts. Seit Jahrzenten erlernen Realschulabsolventen den Beruf des Krankenpflegers oder der Hebamme. Sie machen ihre Arbeit gut.
Und auf einmal sollen sie die Anforderungen mit ihrer
schulischen Ausbildung nicht mehr erfüllen?
Die Kompetenzen am Ende einer zehnjährigen Schulbildung plus dreijähriger Ausbildung sind nicht nur gut sie sind hervorragend. Warum sollte man an einem System etwas verändern, das erfolgreich ist.
Im Gegenteil - mit der Anhebung der schulischen
Ausbildungsvoraussetzungen würde man nicht nur dem
größten Teil unserer Schulabsolventen den Zugang zu
einem Berufsfeld verweigern, dies hätte auch erhebliche
Konsequenzen: Bei Zulassung nur von Abiturienten zur
Krankenpflege- und Hebammenausbildung wird sich
der bereits bestehende Fachkräftemangel in der Branche weiter dramatisch zuspitzen. Eine alternde Gesellschaft ist heute mehr denn je auf viele Pflegekräfte angewiesen. Aufgrund des demografischen Wandels werden
in den nächsten zehn Jahren über 200 000 neue Pflegefachkräfte benötigt. 200 000! Aber 50 Prozent eines
Ausbildungsjahrgangs in der Gesundheits- und Krankenpflege würden durch die neue Richtlinie von der Ausbildung ausgeschlossen werden.
Neben den Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und
die deutsche Wirtschaft würde eine Änderung der Zulassungsvoraussetzungen für Krankenpfleger/-innen und
Hebammen auch einen massiven Umbruch bei den auszubildenden Schulen und den Pflegeeinrichtungen nach
sich ziehen: Eine systemische Umstellung von einem auf
das andere System würde Jahre dauern.
Anstatt die Zulassungsvoraussetzungen anzuheben,
sollten größere Anstrengungen unternommen werden,
die Qualität der Ausbildung in den Schulen und in der
Praxis weiter zu verbessern.
Müssen sich bei strengeren Zulassungsvoraussetzungen auch die Inhalte der Ausbildung ändern und auf ein
noch höheres Niveau gebracht werden?
Was würde eine veränderte Zulassungsvoraussetzung
für die Lehrerausbildung bedeuten? Welche Auswirkungen hätte das?
Können wir uns das Ausmaß der Auswirkungen überhaupt bewusst machen?
Maßgeblich für die Qualifikation eines Arbeitnehmers sollte nicht die Anzahl seiner besuchten Schuljahre
sein, sondern die innerhalb von Aus- und Weiterbildung
erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen.
Die Attraktivität des Pflegeberufes wird nicht durch
die Anhebung der schulischen Bildung erhöht. Nein, im
Gegenteil - sie wird sogar verringert. Das können wir
uns in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten, und
deshalb ist unser Antrag „Berufsqualifikation - Mobilität erleichtern, Qualität sichern“ richtig und auch so
wichtig. Wir wollen verhindern, dass uns der Richtlinienvorschlag der EU in unser Ausbildungssystem eingreift, unser erfolgreiches duales Ausbildungssystem
gar zunichte macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen:
Lassen Sie uns auf Kompetenzen setzen.
Deshalb, stimmen Sie für diesen Antrag. Stimmen Sie
für unser duales Ausbildungssystem.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen zum Richtlinienentwurf über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in Europa ist zunächst zu begrüßen. Dies schon
allein deshalb, weil damit der Deutsche Bundestag die
Gelegenheit bekommen könnte, dieses nicht ganz
unwichtige Projekt zu diskutieren und der Regierung
eine Wegweisung nach Brüssel mitzugeben. Das sollten
wir generell zur Gepflogenheit in unserem Parlament
machen und der Bundesregierung auch auf die Finger
schauen, inwieweit sie sich an unsere Empfehlungen
hält.
In einigen Teilen können wir Ihren Positionen zur
BQR-Richtlinie vollständig folgen. Auch wir meinen,
dass es sinnvoll und notwendig ist, den Menschen einen
Arbeitsplatzwechsel und die Arbeitsplatzsuche innerhalb der EU zu erleichtern. Vor allem geht es aber darum, erworbene Qualifikationen einsetzen zu können
und sie auch im Sinne einer angemessenen Bezahlung
und möglichen Weiterentwicklung anerkannt zu bekommen. Davon profitieren sowohl die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer als auch die Betriebe.
Wir unterstützen auch die Hervorhebung der Bedeutung unseres dualen Ausbildungssystems und die Forderung, dass dies mit seinen Abschlüssen im europäischen
Kontext nicht unterbewertet werden darf. Da wir auch
am Prinzip der Beruflichkeit festhalten und eine Zersplitterung von Berufsbildern verhindern wollen, sehen
wir den „partiellen Zugang“ in Übereinstimmung mit
dem Koalitionsantrag sehr kritisch.
Für völlig verfehlt halten wir den Ansatz des Richtlinienentwurfes in der Frage des Zugangs zu Ausbildungen im Gesundheits- und Pflegebereich. Wir diskutieren
seit Jahren über bundesweit einheitliche Ausbildungsordnungen mit gemeinsamen Grundlagen in der Altenund Krankenpflege, am besten auf der Grundlage des
Berufsbildungsgesetzes. Die bisherigen Regelungen erweisen sich immer mehr als zusätzliches Hemmnis bei
der Gewinnung von genügend Fachkräften. Jetzt kommt
der Richtlinienentwurf mit der Vorstellung, die Hürden
zu solchen Ausbildungen noch anzuheben und zwölf
Jahre Schulbildung zu verlangen, um überhaupt eine
solche Ausbildung beginnen zu können. Wir begrüßen es
sehr, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen dazu eine
klare Aussage in dem Sinne trifft, de facto eben nicht das
Abitur zur Voraussetzung für Pflegeberufe zu machen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Allerdings muss damit auch für die nationale Ebene
klar sein, dass wir hier endlich mehr Durchlässigkeit
aus dualen und auch pflegerischen Ausbildungen in
Richtung Weiterbildung und Hochschule brauchen.
Auch in anderen genannten Punkten finden wir Übereinstimmungen, die ich hier nicht im Einzelnen aufzählen kann.
Uns fehlen aber zentrale Aussagen, und teilweise
müssen wir widersprechen.
Es ist schon bezeichnend für diese Lobbyistenkoalition, dass sie sich zu Aussagen über Notare und Apotheker aufschwingen kann, das Handwerk beispielsweise
aber nicht vorkommt. Bei genauerer Betrachtung lässt
sich nämlich der Eindruck nicht von der Hand weisen,
dass gerade in diesem Bereich, aber auch bei den grenzüberschreitenden Dienstleistungen im Allgemeinen ein
neuer Versuch läuft, das Herkunftslandprinzip durch die
Hintertür einzuführen. Das könnte im Ergebnis dazu
führen, dass es in bestimmten Bereichen einfacher wird,
sich zur Erbringung von Dienstleistungen niederzulassen, als vorübergehend einen Beruf auszuüben. Insgesamt werden Ausbildungsgrundsätze auch in dualen
Berufen eher aufgeweicht, statt dass eindeutig dafür
plädiert wird, das duale System explizit als Mindeststandard zu verankern.
So weit waren wir schon gemeinsam mit unserem Beschluss im Wirtschaftsausschuss vom 22. Juni 2012.
Auch in vielen anderen Gesprächen zeichnete sich ein
breiter Konsens in den Kernpunkten ab.
Was es dagegen nach einjähriger Debatte ausgerechnet heute soll, bei Nacht und Nebel einen so kurzfristig
vorgelegten Antrag zu verabschieden, verstehen wohl
nur die besteingeweihten Koalitionsstrategen. Auch mit
Blick auf die derzeit laufenden Ausschussberatungen im
Europäischen Parlament würde uns - ebenso wie gegenüber der Bundesregierung - nur breiter Konsens helfen.
Das war auch unsere bisherige Stärke in den Gesprächen mit Kommission und Parlament. Ich erinnere an
die seinerzeitige Videokonferenz.
Einmal mehr vertun Union und FDP diese Chance.
Dass es für die SPD-Bundestagsfraktion nur zu einer
Enthaltung reicht, wird jeder verstehen.
Im Dezember vergangenen Jahres hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitung
der Richtlinie über Berufsqualifikationen vorgelegt.
Meine Fraktion und ich begrüßen die Evaluierung
und Modernisierung der Richtlinie ausdrücklich.
Damit verbunden unterstützen wir die Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag und der heutigen
Debatte im Plenum in den laufenden Verhandlungen
über den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates und des
Europäischen Parlaments zur Änderung der bisher geltenden Berufsqualifikationsrichtlinie.
Die Änderung der Richtlinie ist ein zentrales Reformprojekt im europäischen Binnenmarktprogramm; denn
während in Europa der grenzüberschreitende Warenund Güterverkehr mittlerweile an der Tagesordnung ist,
können die Entwicklungen im Dienstleistungsbinnenmarkt nicht Schritt halten, und das angesichts eines
Anteils der Dienstleistungen an der europäischen Bruttowertschöpfung von knapp 70 Prozent im Jahr 2011.
In den kommenden Jahren ist in Europa ein signifikanter Anstieg der Nachfrage nach hoch qualifizierten
Arbeitskräften zu erwarten. Aber auch schon jetzt werden vor allem in Deutschland händeringend Fachkräfte
gesucht. In anderen Ländern Europas hingegen
herrscht, besonders im Fachkräftebereich, eine hohe
Arbeitslosigkeit, gerade auch unter Jugendlichen.
Um diesen ungleichen Strukturen entgegenzuwirken,
müssen Arbeitsplätze und Arbeitskräfte in Europa
besser zueinanderfinden und vor allem Fachkräfte im
Binnenmarkt besser zirkulieren können - mobile und gut
ausgebildete Berufstätige aus anderen EU-Mitgliedstaaten müssen zukünftig noch problemloser dorthin gehen können, wo sie gebraucht werden.
Aus diesem Grund stimmen wir mit der Europäischen
Kommission überein und erachten es ebenfalls für notwendig, dass die Qualifikationen der Arbeitskräfte in
der gesamten Europäischen Union einfacher, transparenter, nutzerfreundlicher und zuverlässig anerkannt
werden.
Die Vorschläge der Kommission enthalten unseres
Erachtens viele positive Elemente, um eine bessere
wMobilität insbesondere von Berufstätigen bzw. Fachkräften im Binnenmarkt zu erreichen. Zum Beispiel soll
ein für alle interessierten Berufsgruppen angebotener
Europäischer Berufsausweis die angesprochene leichtere und schnellere Anerkennung von Qualifikationen
ermöglichen. Diese Maßnahme ist unserer Meinung
nach durchaus positiv zu bewerten; jedoch muss sichergestellt werden, dass die abschließende Entscheidung
über die Anerkennung der Qualifikation letztendlich
dem jeweiligen Aufnahmeland vorbehalten bleibt.
Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, das Ausmaß der Reglementierung von Berufen
jeweils zu überarbeiten.
Da die Gründe für die Reglementierung eines Berufszugangs vielgestaltig sind - hier sind beispielsweise
Rechts- und Berufstraditionen anzuführen -, ist es daher
zu begrüßen, dass die letztendliche Entscheidung darüber, ob ein Berufsabschluss reglementiert werden soll,
den Mitgliedsländern überlassen wird. Hier wäre es
dann unsere Aufgabe als Gesetzgeber, zum einen die
Zahl der reglementierten Berufe zu überprüfen und,
wenn möglich, zu verringern. Zum anderen sollte auch
der Bereich der automatischen Anerkennung von Qualifikationen auf neue, innovative Berufe überprüft und,
wenn möglich, erweitert werden.
Wir Liberalen sind der Meinung, dass im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen sowohl die positiven als auch die noch kritisch zu sehenden Elemente im
Zusammenhang mit der europaweiten Anerkennung
von Berufsqualifikationen ausgewogen zum Ausdruck
kommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich möchte darüber hinaus abschließend noch einmal
betonen, dass die Überarbeitung der Berufsqualifikationsrichtlinie eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das
europäische Fachkräftepotenzial optimal nutzen zu können und die Freizügigkeit in Europa zu verbessern.
Vor diesem Hintergrund unterstützen wir mit dem
vorliegenden Antrag die deutschen Verhandlungsinteressen in Brüssel und hoffen, dass letztlich ein inhaltlich
ausgewogenes Paket zur Modernisierung der Berufsqualifikationsrichtlinie geschnürt wird.
Das duale Ausbildungsmodell in Deutschland ist im
europäischen Vergleich einzigartig.
Die Kombination aus praktischer Ausbildung im Betrieb und Bildung in der Berufsschule gewährleistet den
Auszubildenden eine optimale Vorbereitung auf ihr späteres Arbeitsleben. Gerade die enge Verzahnung von
Theorie und Praxis ermöglicht das hohe Bildungsniveau
unserer Gesamtbevölkerung. Denn in vielen Berufszweigen ist eine Ausbildung in Deutschland mit einem akademischen Abschluss im Ausland vergleichbar.
Junge Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung sind auf dem Arbeitsmarkt besonders gefragt, sodass Deutschland europaweit derzeit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnen kann.
Diese Vorteile sehe ich besonders deutlich bei den
Pflegeberufen. Derzeit ist es allen Absolventen mit Realoder Hauptschulabschluss möglich, eine hochwertige
Pflegeausbildung abzuschließen, in der sich theoretische Schulblöcke mit Praxiseinheiten in Pflegeeinrichtungen fortlaufend abwechseln. Mithilfe dieses berufsbegleitenden Systems können junge Pflegerinnen und
Pfleger eine Bindung zu ihrer Praxisstelle aufbauen und
ihrem Arbeitgeber nach Ausbildungsabschluss als qualifizierte Fachkräfte erhalten bleiben. Davon profitieren
beide Seiten gleichermaßen.
Der Zugang zu einer Ausbildung im Gesundheits- und
Pflegebereich muss sich deshalb weiterhin für alle
Haupt- und Realschulabsolventen so einfach gestalten
wie bisher! Und darf eben nicht, wie von der Europäischen Kommission gefordert, durch eine Anhebung auf
zwölf Jahre Schulausbildung erschwert werden. Mit
Blick auf die geringe Jungendarbeitslosigkeitsrate
würde sich ansonsten die Situation auf dem deutschen
Arbeitsmarkt der Pflegekräfte verschärfen. Rund die
Hälfte der Absolventen eines heutigen Jahrgangs für den
angestrebten Pflegeabschluss würde der Zugang zu einer Ausbildung versperrt werden; denn derzeit erfüllen
nur 50 Prozent der Auszubildenden die Anforderungen
eines Abiturs. Für die betroffenen Haupt- und Realschulabgänger würde dies eine Verletzung der Berufswahlfreiheit bedeuten.
Entscheidend in Gesundheits- und Pflegeberufen sind
jedoch insbesondere menschliche Fähigkeiten, wie Fürsorglichkeit, Empathie und soziale Kompetenz, und
nicht die Anzahl besuchter Schuljahre. Gerade wenn es
um die Pflege Demenzkranker geht, merkt man schnell:
Wir brauchen nicht Heerscharen von Diplom-Pflegemanagern - sondern anständig ausgebildete Menschen mit
Geduld, Einfühlungsvermögen und praktischen Fachkenntnissen! Dafür braucht’s nicht zwangsläufig Abitur,
am besten noch mit Großem Latinum.
Die Pflegeausbildung in Deutschland ist auf dem internationalen Arbeitsmarkt in Qualitätsfragen absolut
konkurrenzfähig! Deshalb muss unser Ausbildungsabschluss auch weiterhin im Ausland anerkannt werden.
Darüber hinaus wird Deutschland in den nächsten
Jahrzehnten der Herausforderung eines Wandels des Altersaufbaus der Gesellschaft entgegentreten müssen.
Eine gestiegene Lebenserwartung sowie der medizinisch-technische Fortschritt führen zukünftig zu einer
größer werdenden Anzahl älterer Menschen, die auf
Pflegeleistungen angewiesen sein werden. Dem gegenüber steht eine niedrige Geburtenrate, die zu einer stabilen Bevölkerungsentwicklung kaum ausreicht. Damit
verbunden ist ein stetig steigender Bedarf an qualifiziertem Personal in den medizinischen Versorgungs- und
Pflegeberufen, der allerdings aus der schrumpfenden
Zahl an Arbeitskräften gedeckt werden muss.
Schon bis 2020 ist mit einem Mehrbedarf an 170 000
Stellen in der Altenpflege zu rechnen. Diesem stärker
werdenden Fachkräftemangel kann nicht damit begegnet werden, die Zulassungsvoraussetzungen zu einer
Pflegeausbildung zu verschärfen. Wir müssen uns vielmehr der Frage zuwenden, wie wir die Potenziale der
Pflege ausschöpfen und weiter fördern können. Dazu gehört insbesondere der sogenannte informelle Bereich,
also der häusliche Bereich. Denn sobald eine Pflegebedürftigkeit eintritt, leisten in den meisten Fällen zunächst die Angehörigen den größten Teil der Pflege.
Hier setzen wir alles daran, die Rahmenbedingungen so
zu gestalten, dass die Pflege im eigenen Heim so einfach
und so individuell wie möglich stattfinden kann.
Mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz stellen wir
uns den Herausforderungen des demografischen Wandels und der Pflege in der Zukunft. Wir ermöglichen
erstmals besondere Leistungen für den wachsenden Anteil an dementiell Erkrankten in der Gesellschaft und
ihre Angehörigen und berücksichtigen deren besondere
Bedürfnisse. Darüber hinaus werden weitere Maßnahmen für die Verbesserung der Situation von Menschen
mit eingeschränkter Alltagskompetenz eingeführt.
Mit dem umfangreichen Maßnahmenpaket, das wir
mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz geschnürt haben, leisten wir eine großen Beitrag zur Verbesserung
der Pflege in Deutschland. Es wäre absolut kontraproduktiv, sogar äußerst töricht, uns selbst nun Steine in
den Weg zu legen und den Zugang zu Pflegeberufen so
verantwortungslos und sinnlos zu erschweren.
Seit Jahren wird auf der europäischen Ebene versucht,
die EU-Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und die Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems gemeinsam zu erarbeiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ganz Europa ringt in dieser Frage um ein gemeinsames Handeln, aber CDU/CSU und FDP legen heute einen Antrag vor, der zu einem Großteil ein Nein-SagerAntrag ist. Europa will gemeinsame Standards für Berufe und Qualifikationen, und die Regierungsparteien
legen keinen Wert darauf, dieses im Plenum zu diskutieren. Diese Reden gehen zu Protokoll und der Antrag soll
einfach mal so durchgewunken werden.
Hier sagen wir als Linke Nein, Nein zum Nein-SagerAntrag, Nein zum geräuschlosen Durchwinken und Nein
zum Umgang von Schwarz-Gelb mit dem jahrelangen
Ringen auf europäischer Ebene um gemeinsames Handeln.
Schauen wir uns den Nein-Sager-Antrag zum gemeinsamen europäischen Vorgehen an einigen Beispielen an:
Nehmen wir zunächst den europäischen Berufsausweis.
Der Vorschlag der EU-Ebene war, dass nach einem anerkannten Abschluss die Ausbildungsberufe in einem
Berufspass eingetragen und von allen Staaten anerkannt
werden. CDU/CSU und FDP begrüßen diesen Vorschlag, doch ob die Ausbildungen anerkannt werden,
soll letztendlich das Aufnahmeland entscheiden. Was
also wollen uns die Antragstellerinnen und Antragsteller damit mitteilen? Die Idee ist ja ganz nett, aber wir
entscheiden alleine, was wir anerkennen.
Und hier sagen wir als Linke: Nicht mit uns! Wir wollen gemeinsame und qualitativ hochwertige Inhalte für
die Ausbildungsberufe in Europa festlegen. Das sichert
Qualitätsstandards, schafft berufliche Perspektiven in
ganz Europa und vermeidet nebenbei noch aufwendige
Anerkennungsverfahren.
Schauen wir nun auf die Einschätzung der Koalition
zu den gemeinsamen Ausbildungsrahmen und -prüfungen. Hier sprechen die Antragstellerinnen und Antragsteller zwar von der Stärkung gemeinsamer Ausbildungsgrundsätze, sie betonen sogar, dass eine große
Gruppe von Mitgliedstaaten voranschreiten kann, wenn
sich nicht alle Mitgliedstaaten auf gemeinsame Ausbildungsgrundsätze einigen können. Allerdings - und nun
wird es an zentraler Stelle wieder spannend - heißt ihre
berühmte Ultima Ratio an dieser Stelle nicht: Wir gehen
gemeinsam voran. Sondern: Es muss jedem Mitgliedstaat freistehen, an den gemeinsamen Ausbildungsrahmen oder Qualifikationsprüfungen teilzunehmen.
Das bedeutet: Jeder kann mitmachen, aber wenn es
uns nicht passt, können wir dann doch wieder machen,
was wir wollen. Das ist nicht unsere Vorstellung eines
gemeinsamen Handelns in Europa!
Wir als Linke stehen für ein Europa, in dem wir solidarisch Wege beschreiten, um gemeinsame verlässliche
und verbindliche Perspektiven zu eröffnen.
Im Gegensatz dazu fordern CDU/CSU und FDP, dass
die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei Ausbildungsinhalten gewahrt bleiben muss. Es dürfen keine tiefergehenden Kompetenzen an die EU-Kommission übertragen werden. Ich wiederhole: Es dürfen keine tiefergehenden Kompetenzen an die EU-Kommission übertragen werden! Das ist die Kernaussage der Regierungsparteien. Das bedeutet: Europa ja, aber nicht, wenn nationale Interessen verletzt werden.
Und auch hier sagen wir als Linke klar und deutlich:
Nein! Für uns gibt es in Europa nur einen Weg: gemeinsam, solidarisch, sozial und gerecht! Europa ist keine
Spielwiese nationaler Machtinteressen, sondern ein gemeinsames Projekt, um Zukunft für alle zu gestalten.
Und das, was wir hierfür benötigen, sind Regierungsparteien, die gemeinsame konstruktive Wege für Europa
aufzeigen, statt mit ihrem Handeln Europa ad absurdum
zu führen.
Das duale Ausbildungssystem hat sich in Deutschland als besonders erfolgreich erwiesen. In den weiteren
Beratungen zur Richtlinienmodernisierung muss die
Bundesregierung sicherstellen, dass die EU-Ausbildungsgrundsätze keine Qualitätserosion zur Folge haben und die duale Ausbildung gestärkt statt geschwächt
wird.
In dieser Grundausrichtung begrüßen wir den Antrag
der Koalitionsfraktionen. Wir teilen aber nicht alle vorgebrachten Kritikpunkte an der Ausrichtung des Änderungsvorschlages der Kommission zur Berufsqualifikationsrichtlinie. Denn dieser stärkt die berufliche Mobilität in Europa. Zur Stärkung der beruflichen Mobilität
gehört Transparenz im Anerkennungsverfahren bei den
Berufsqualifikationen und in den jeweiligen Mindestausbildungsanforderungen für die Berufstätigen.
Dazu gehören die verbesserte Zusammenarbeit zwischen Aufnahmestaaten und Herkunftsstaaten über das
elektronische Binnenmarkinformationssystem und die
Stärkung des gegenseitigen Vertrauens durch das neue
Vorwarnsystem. Auch andere Maßnahmen, die den Beteiligten künftig mehr Planungssicherheit verschaffen
werden und Hürden und Diskriminierung im Zuge der
Anerkennung von Berufsqualifikationen zwischen den
EU-Mitgliedstaaten abbauen, begrüßen wir. Dazu gehören: der klare zeitliche Rahmen für das Anerkennungsverfahren sowie die Pflicht zur Erstellung nationaler
Listen der jeweils reglementierten Berufe und natürlich
die Einführung des freiwilligen Europäischen Berufsausweises.
Mit dem Kommissionsvorschlag, die Zulassungsvoraussetzungen für die Ausbildung der Krankenpfleger
und Krankenschwestern sowie der Hebammen von einer
zehnjährigen allgemeinen Schulausbildung auf zwölf
Jahre heraufzusetzen, werden auf der anderen Seite jedoch neue Hürden aufgebaut. So bedeuten zwölf Schuljahre, wie sie in bereits 24 EU-Ländern Ausbildungsvoraussetzung sind, nicht in allen Ländern das Gleiche.
Während sie in Deutschland gleichbedeutend mit einer
Hochschulzugangsberechtigung sind, werden in Frankreich und Irland beispielsweise die Vorschuljahre mit
eingerechnet, sodass ein mittlerer Schulabschluss ausreicht.
Der Koalitionsantrag lehnt den Zwölfjahresvorschlag für beide Berufsgruppen gleichermaßen kategorisch ab. Wir Grüne halten dies nicht für zielführend:
Zu Protokoll gegebene Reden
Arfst Wagner ({0})
Sowohl der Kommissionsvorschlag als auch der Koalitionsantrag werfen die Krankenpflege- und die Hebammenausbildung in einen Topf, wenn auch mit entgegengesetzten Konsequenzen. Eine fundamentale Ablehnung,
wie die CDU/CSU-Fraktion hier vorlegt, ist kurzsichtig,
an der Qualifikationsrealität der Hebammen vorbeigedacht und ignoriert darüber hinaus die laufende innerdeutsche Debatte und den Ruf der Hebammen nach einer schrittweisen Akademisierung ihres Berufsstandes.
Wir Grüne plädieren dafür, die Forderung nach Anhebung der formalen Voraussetzungen für die Ausbildung in der Entbindungspflege auf der einen Seite und
der Krankenpflege auf der anderen Seite differenziert zu
betrachten und dabei die derzeitige Lage in den Blick zu
nehmen. Im Falle der Hebammen halten wir eine Anhebung für gerechtfertigt, weil die große Mehrheit der
Hebammenschülerinnen aktuell schon überwiegend eine
Hochschulzugangsberechtigung erlangt hat und Hebammen zudem später sehr stark eigenverantwortlich arbeiten. Ihr Berufsverband spricht sich deutlich für die
Erhöhung des Qualifikationsniveaus aus, und die entsprechende Entwicklung ist schon im Gange.
Die Situation in der Krankenpflege dagegen stellt
sich anders dar. Eine Erhöhung der schulischen Zugangsvoraussetzungen würde rund 45 Prozent der Auszubildenden betreffen. Deshalb glauben wir, dass eine
Anhebung in diesem Fall zu einer Verschärfung des
Fachkräftemangels führen würde, und lehnen diese ab.
Klar ist: Wir dürfen die Zulassung zur Krankenpflegeausbildung nicht an eine Hochschulzugangsberechtigung binden, wenn wir damit die Chancengerechtigkeit
unseres Bildungssystems nachhaltig gefährden und Tausenden jungen Menschen mit Haupt- und mittlerem
Schulabschluss einen Weg in die Gesundheits- und
Krankenpflegeausbildung verwehren.
In einem weiteren Punkt bewerten wir den Kommissionsvorschlag anders als die Koalitionsfraktionen: Wir
erwarten von der Bundesregierung in den Beratungen
im Rat, bezüglich der Aufnahme des Notarberufes in den
Gel-tungsbereich der Richtlinie Klarheit zu schaffen,
insbesondere bezüglich möglicher „Wandernotare“. Wir
unterstützen den Vorschlag der Kommission, die Niederlassung von Notaren zuzulassen. Einig sind wir uns mit
den Antragstellerinnen und Antragsstellern jedoch in
der Kritik an der grenzüberschreitenden Dienstleistung
der Notare.
Wir begrüßen die in der Richtlinie vorgeschlagene
Streichung der bisherigen Möglichkeit, Apothekerinnen
und Apothekern mit ausländischen Ausbildungsnachweisen die Eröffnung ihrer eigenen Apotheke zu verweigern. Dieses Privileg sehen wir weder als förderlich für
die berufliche Mobilität noch als notwendig für die Sicherheit der deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher an.
Hinsichtlich der Einführung des Europäischen Berufsausweises und der Nutzung des elektronischen Binnenmarktinformationssystems darf Datenschutz natürlich kein Lippenbekenntnis sein und muss ernst
genommen werden.
Problematisch ist aus meiner Sicht das Prinzip der
stillschweigenden Anerkennung. Sollte ein Aufnahmemitgliedstaat innerhalb einer bestimmten Frist nicht auf
den Antrag zur Anerkennung seiner Berufsqualifikation
reagieren, soll dies nach Auffassung der Kommission einer faktischen Anerkennung gleichkommen. Die Bundesregierung muss in den weiteren Beratungen sicherstellen, dass ein Weg für ein unbürokratisches,
nutzerfreundliches Verfahren gefunden wird, ohne dass
erhebliche Rechtsunsicherheit geschaffen wird.
Generell ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir
auch darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen
die Richtlinie für Drittstaatsangehörige greifen kann,
die ihren Abschluss in einem EU-Mitgliedsstaat erworben haben, um auch hier Diskriminierung abzubauen. In
Deutschland haben wir mit dem Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen im Jahr 2011 die Inhalte der Berufsqualifikationsrichtlinie im Prinzip auf
Personen aus Drittstaaten bzw. auf in Drittstaaten erworbene Qualifikationen ausgedehnt. Politisch sollten
wir alle dafür eintreten, dass das EU-weit so gehandhabt wird.
Aufgrund dieser Mischung aus zustimmungsfähigen
und abzulehnenden Punkten enthalten wir uns zu Ihrem
Antrag.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/10782. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Katja Kipping, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mindeststandards bei der Angemessenheit der
Kosten der Unterkunft und Heizung
- Drucksachen 17/7847, 17/10199 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Dörflinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht in seinem richtungsweisenden Urteil vom Februar 2010 mit
den Regelleistungen nach dem SGB II auseinandergesetzt und wir uns in der Folge im Ausschuss unter anderem mit den beschlossenen Regelungen für die Kosten
der Unterkunft beschäftigt haben, befassen wir uns heute
mit einem Antrag der Fraktion Die Linke. Sie fordert in
ihrem Antrag beispielsweise, dass die kommunalen Satzungen, die die Angemessenheit von Aufwendungen der
Unterkunft und Heizung regeln, Mindeststandards erfüllen müssen, und verkennt offensichtlich, dass die Kommunen bereits verfassungsrechtliche Vorgaben zur Gewährung bedarfsgedeckter Leistungen zu beachten haben.
Das Bundessozialgericht hat in gefestigter Rechtsprechung ein Konzept zur Ermittlung der bedarfsgedeckten
Höhe der Unterkunftsleistungen entwickelt. Wird die Angemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung im
Rahmen einer Satzung nach §§ 22 a bis c SGB II festgelegt, so hat der kommunale Satzungsgeber selbstverständlich ebenfalls die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur
Gewährung bedarfsdeckender Leistungen zu erfüllen.
Auf Ihre Anträge hin, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen der Linksfraktion, führen wir gerade im Ausschuss für Arbeit und Soziales eine Vielzahl von Anhörungen durch. Der Sinn all dieser Veranstaltungen wäre
einmal, zu diskutieren. Ich kann aber zumindest erwarten, dass Sie die Ergebnisse dieser Anhörungen zur
Kenntnis nehmen. Stattdessen legen Sie einen Antrag
vor, der die geltende Rechtslage - damit beziehe ich
mich gar nicht auf das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Sozialgesetzbuches - unberücksichtigt lässt.
Machen wir es konkret: Eine Pauschalierungssatzung
muss die Gewähr für eine Finanzierung des grundsicherungsrechtlich angemessenen Wohnraums bieten. Eine
Pauschale, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur
Sicherung des Existenzminimums gerecht werden will,
muss sich daher ebenfalls an den Maßstäben orientieren, die das Bundessozialgericht für den Angemessenheitsbegriff nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II entwickelt
hat. Eine Notwendigkeit, diese Regelungen zu modifizieren oder gar abzuschaffen, erschließt sich mir daher
nicht.
Auf der anderen Seite sind viele Ihrer Anliegen im
neuen Recht der Kosten der Unterkunft bereits berücksichtigt und entsprechen kommunaler Praxis. Das betrifft den zusätzlichen Raumbedarf. Hier sind exemplarisch in § 22 b Abs. 3 SGB II zwei Fallgruppen genannt,
die erweiterbar sind. Es betrifft die Nutzung von Mietspiegeln, die nach § 22 c Abs. 1 Nr. 1 SGB II schon vorgeschrieben ist. Auch die kostenlose Mietberatung, die
im Antrag als Neuerung gefordert wird, gibt es vielerorts
in den Kommunen.
Zu guter Letzt enthält der vorliegende Antrag Forderungen, die - auch das kennen wir von der Fraktion Die
Linke - die Kostenseite völlig unberücksichtigt lassen;
hier beziehe ich mich insbesondere auf den Vorschlag,
unangemessene Wohnkosten bis zu zwei Jahre zu übernehmen. Die Verlängerung des Toleranzzeitraums bringt
dem Leistungsberechtigten keinen Mehrwert, erhöht den
finanziellen Aufwand für die kommunalen Träger und
auch den Bund beträchtlich.
Auf der einen Seite laufen Ihre Forderungen auf eine
höhere Belastung der Kommunen hinaus, und auf der
anderen Seite weisen Sie zu Recht darauf hin, dass die
Kommunen genügend Geld für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen. Auch dieser Widerspruch ist bei Ihnen
nicht neu. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt Ihren Vorschlag ab. Es gibt keinen Gesetzesänderungsbedarf. Einen solchen Bedarf hat die Sachverständigenanhörung nicht ergeben, und den haben wir auch im
Ausschuss nicht gesehen.
Mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuches haben wir unsere Hausaufgaben gemacht
und die Forderungen von Bundesverfassungs- und Bundessozialgericht konsequent und umfassend zum Wohl
der Bedürftigen in unserem Land umgesetzt.
Wir befassen uns heute mit den Regelungen, nach denen Hartz-IV-Bezieher Leistungen für die Kosten der
Unterkunft und der Heizung beziehen. Wir wissen, diese
Bestimmungen beruhen auf einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern. Diese Absprachen sind nicht
in Stein gemeißelt. Sie müssen die Erfahrungen, die damit in der Praxis gemacht werden, berücksichtigen. Und
sie müssen vor allem die Lage auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen.
Die Länder fordern seit längerem eine Überarbeitung
ein, und auch wir von der SPD-Fraktion sehen langfristig Änderungsbedarf. Das, was uns die Linke mit ihrem
Antrag vorgelegt hat, halten wir allerdings insgesamt
für zu weitgehend und nicht sachgerecht.
Die heute bekanntgewordenen Arbeitslosenzahlen für
den ablaufenden Monat zeigen, dass die Konjunkturflaute endgültig am Arbeitsmarkt angekommen ist.
Saisonbereinigt müssen wir einen Anstieg registrieren.
Normalerweise bringt der Herbst regelmäßig eine Belebung des Arbeitsmarktes mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Diese ungünstige Entwicklung wird sich
auch bei den Bedarfsgemeinschaften niederschlagen.
Für den September zählen wir bundesweit 150 693
Bedarfsgemeinschaften. Hier ist absehbar, dass sich die
positive Entwicklung der vergangenen Jahre wieder umkehren wird. Schon die letzten Monate haben eine Abschwächung des Trends erkennen lassen. Damit wird
auch die Nachfrage nach günstigem Wohnraum weiter
ansteigen, und das auf einem Wohnungsmarkt, der in
vielen Regionen von Verknappung gekennzeichnet ist.
Nehmen wir das Beispiel Berlin. „Berlin braucht
Tausende neue Wohnungen“, titelte die Hauptstadtpresse zuletzt. Wie in anderen Großstädten auch wächst
die Nachfrage nach Wohnungen deutlich stärker als das
Angebot. Das wirkt sich natürlich auf die Mietpreise
aus. Die Neumiete liegt in einigen Bereichen bereits bei
8 Euro pro Quadratmeter. 800 Euro für 70 Quadratmeter sind keine Seltenheit. Das sind Mieten, die für Berliner mit geringem Einkommen nicht machbar sind.
Hinzu kommt, dass - nicht nur in der Hauptstadt der Trend zu Einpersonenhaushalten weiter anhält. Das
bringt eine zusätzliche Verknappung bei kleineren Wohnungen mit den entsprechenden Verdrängungseffekten
mit sich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch bei mir im Wahlkreis in Oberhavel zeigt sich
dieser Effekt. Das Grundsicherungsamt bestätigte mir,
dass Ein- und Zweiraumwohnungen im Speckgürtel von
Berlin zu erschwinglichen Preisen inzwischen Mangelware sind.
Damit fehlt es ganz grundsätzlich an der Verfügbarkeit von Ausweichmöglichkeiten für Leistungsbezieher,
deren Wohnkosten das Angemessenheitskriterium nicht
mehr erfüllen. In der Folge führt das oftmals dazu, dass
die Leistungsbezieher einen Teil ihrer Grundsicherung
für die Wohnkosten aufbringen müssen.
Diese Kostensteigerungen werden natürlich auch für
die Kommunen zum Problem. Die Folge ist, dass die
Kommunen oftmals sehr strikt mit den Unterkunftskosten verfahren und ihren Ermessensspielraum nicht ausschöpfen.
Vor diesem Hintergrund fordern die Länder schon
seit längerem eine Reform der Vereinbarung mit dem
Bund. Sie wollen, dass sich der Bundeszuschuss nicht
nur an der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften bemisst. Nötig wäre eine Orientierung an den
tatsächlichen Kosten.
„Heizkosten in Berlin und Brandenburg steigen drastisch“, titelte zuletzt die „Berliner Morgenpost“. Für
Erdgas müssen Brandenburger jährlich 83 Euro, Berliner sogar 102 Euro mehr zahlen. Das sind jährliche
Steigerungsraten um die 10 Prozent.
Kehrtwende am Arbeitsmarkt, absehbare Zunahme
der Bedarfsgemeinschaften, Wohnraumverknappung in
vielen Regionen, drastisch steigende Miet- und Energiepreise, knappe Kommunalfinanzen - das sind die aktuellen Rahmenbedingungen für die Bedarfsgemeinschaften. Per Gesetz müssen sie dafür Sorge tragen, dass ihre
Wohnkosten „angemessen“ sind, wie es heißt. Denn
„Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe
der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit
diese angemessen sind“, so § 22 SGB II. Und das wird
unter den gegebenen Bedingungen für immer mehr Bedarfsgemeinschaften zum Problem.
Vor diesem Hintergrund greift der Antrag der Linken
ein wichtiges Thema auf, zumal die Kosten der Unterkunft regelmäßig zum Streitfall vor den Sozialgerichten
werden. Hier könnte eine Überprüfung der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen helfen.
In vielen Punkten kann die SPD-Fraktion dem Antrag
folgen, in anderen nicht.
Nach § 22 a SGB II können die Länder die Kommunen ermächtigen oder verpflichten, durch Satzung die
jeweilige Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zu bestimmen. Im Gegensatz zur Linken halten wir diese Satzungsermächtigung für ein sinnvolles Instrument. Die Kommunen vor Ort kennen die
Lage auf dem jeweiligen Wohnungsmarkt am besten. Sie
können auf Besonderheiten reagieren und so den gegebenen Ermessensspielraum nutzen, und das meine ich im
Interesse der Betroffenen.
Alternativ können die Länder die Kreise und kreisfreien Städte auch ermächtigen, für die Kosten für Unterkunft und Heizung eine monatliche Pauschale festzulegen. Diese Pauschalierungen will die Linken-Fraktion
abschaffen. Das können wir nachvollziehen. Auch die
Mehrheit der Experten der Anhörung im Ausschuss
lehnt Wohnkostenpauschalen bei Hartz-IV-Empfängern
ab. Die Sachverständigen bestätigten: Pauschalen bringen den Kommunen keine Einsparungen, da es ohnehin
Einzelfallprüfungen geben muss. In der Praxis greifen
die Kommunen daher so gut wie nie auf Pauschalen zurück.
Ich habe oben die schwierigen Rahmenbedingungen
auf dem Wohnungsmarkt beschrieben. Für viele Bedarfsgemeinschaften erhöhen sie den Druck, sich nach
günstigerem Wohnraum umsehen zu müssen. Per Gesetz
muss das spätestens nach sechs Monaten erfolgen. Die
Experten der Anhörung konnten die SPD überzeugen,
dass die Forderung der Linken, diesen Zeitraum auf ein
ganzes Jahr auszudehnen, begründet ist. Das macht
Sinn. Schon allein aufgrund der dreimonatigen Kündigungsfrist bleibt den Empfängern gegenwärtig kaum
Zeit, sich um eine neue Wohnung zu kümmern. Zudem
sollten sie sich eher auf die Suche nach einer neuen Arbeit konzentrieren können.
Auch die Forderung nach kostenloser unabhängiger
Mieterberatung wurde von den Sachverständigen unterstützt. Das ist ein sinnvolles Instrument, das dabei helfen
kann, einvernehmlich zu guten Wohnlösungen zu kommen.
In jedem Fall meinen wir, dass man von einem
Zwangsumzug bei bestimmten Personengruppen Abstand nehmen sollte: bei Schwerkranken, Pflegebedürftigen oder Behinderten, Älteren, Alleinerziehenden oder
bei besonders langjährigen Mietern. Damit könnten
auch die umständlichen Einzelfallprüfungen entfallen,
die einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich bringen.
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass statt Entspannung auf dem Arbeitsmarkt wieder ein rauherer Wind zu
erwarten ist. Zusammen mit der zunehmenden Verknappung auf dem Wohnungsmarkt und der anhaltend klammen Finanzlage der Kommunen wird das auch die
Wohn- und Lebenslage der Menschen in den Bedarfsgemeinschaften verschärfen. Die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen sollten überprüft werden. Auch die
Sozialgerichte könnten damit entlastet werden.
Vor diesem Hintergrund tragen wir einige Forderungen im vorliegenden Antrag mit. Andere - wie insbesondere die nach bundeseinheitlichen Mindeststandards schießen über das Ziel hinaus. Deshalb enthalten wir
uns.
Der Antrag der Linken, der sich mit Mindeststandards bei den Kosten von Unterkunft und Heizung befasst, ist in vielen Punkten obsolet. Obsolet deshalb, weil
einige der von Ihnen angesprochenen Punkte in der Praxis
seit dem Gesetz zur Festsetzung der Leistungssätze nach
dem Sozialgesetzbuch II gelöst werden konnten. Andere
Ihrer Vorschläge haben wir in diesem Gesetzgebungsverfahren bewusst und begründet nicht umgesetzt.
Zu Protokoll gegebene Reden
So können schon heute beispielsweise zusätzliche
Leistungen bei einem Wohnortwechsel auf Antrag übernommen werden. Daher sehen wir hier keinen Regelungsbedarf.
Dass Sie die vor kurzem eingeführte Möglichkeit der
Pauschalierung von Kosten für Unterkunft und Heizung
kritisieren, halte ich für verfrüht, und auch Ihre vorgebrachten Bedenken teile ich nicht. Durch die Pauschalierung haben wir die Möglichkeit geschaffen für mehr
Eigenverantwortung und eine freiere Lebensgestaltung.
Wir werden selbstverständlich die Entwicklung in
diesem Bereich kritisch verfolgen, um etwaigen Fehlentwicklungen entgegenwirken zu können.
Wenn Sie fordern, dass Zwangsumzüge zur Wohnkostensenkung vermieden werden sollen, kann ich Ihnen im
Grundsatz recht geben. Die Lösung, wie dies verhindert
werden kann, ist einfach: Die Menschen müssen wieder
Arbeit finden. Das ist die beste Maßnahme gegen
Zwangsumzüge, und kostensparend obendrein.
Im Mai 2012 gab es in Deutschland 3,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften mit insgesamt 6,2 Millionen Menschen. Noch im Mai 2010 waren es 600 000 Menschen
bzw. 350 000 Bedarfsgemeinschaften mehr. Dieser
Rückgang ist unbestreitbar auch der wachstumsorientierten Politik dieser christlich-liberalen Regierungskoalition zu verdanken. Wir zeigen, dass die beste Sozialpolitik ist, die Menschen in sozialversicherungspflichtige
Arbeit zu bringen.
Ihr Vorschlag, sogenannte Zwangsumzüge, gleich wie
groß und teuer die Wohnung ist, nicht umzusetzen, kann
hingegen keine Antwort sein. Wie können Sie dies jemandem erklären, der als Alleinerziehender 40 Stunden
die Woche arbeitet und für sich und seine Kinder die
Kosten für die Miete vollständig selbst tragen muss?
Der sich vielleicht nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit
50 bis 60 Quadratmeter leisten kann? Da ist es doch
nicht gerecht, wenn der Staat größere und teurere Wohnungen für andere übernimmt.
Ihre Antwort wäre jetzt sicher: Dann muss Letzterer
eben auch einen staatlichen Zuschuss bekommen. Aber
Ihr „Mehr für Alle“ muss auch finanziert werden können, und Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge taugen da
nichts, da sie den Motor für Wirtschaftswachstum, für
Wohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land drosseln
würden.
In der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Ihrem Antrag haben sich sowohl die kommunalen
Spitzenverbände, der Deutsche Verein sowie die Bundesagentur für Arbeit gegen die Vorschläge der Linken ausgesprochen. Ich finde, dass auch das sehr aussagekräftig ist und Ihnen zu denken geben sollte.
Immer wieder erklären uns Sachverständige, dass
Einzelfallgerechtigkeit kein guter Ratgeber im Sozialrecht ist und dass sie vor allem zu einem gewaltigen Aufwuchs an Bürokratie führt. Deshalb sind Pauschalen
eine gute Möglichkeit, um Bürokratie abzubauen.
Im Steuerrecht sind Pauschalen gang und gäbe. Sowohl bei Werbungskosten als auch beim Grundfreibetrag wird mit Pauschalen gearbeitet. Auch bei den
Kosten für Unterkunft und Heizung sind Pauschalen
sinnvoll.
Allein 2010 gab es 900 000 Widerspruchsverfahren
zu Bescheiden im Sozialgesetzbuch II. Davon hat sich
circa ein Viertel mit der Thematik der Kosten der Unterkunft beschäftigt. Das Bundessozialgericht befasst sich
in jedem dritten Fall mit den Kosten der Unterkunft.
Dieser Anteil dürfte in den unteren Instanzen sogar noch
höher sein.
Ich finde, dass dies alles Argumente für eine möglichst bürokratiearme Lösung sind. Wenn dazu dann
noch die Vorteile durch mehr Entscheidungsfreiheit für
die Leistungsberechtigten kommen, dann bin ich überzeugt, dass wir an den Pauschalierungen dringend festhalten müssen.
Daher werden wir Ihren Antrag heute ablehnen.
Die Kosten für Miete und Heizung von Hartz-IV-Beziehenden, auch unter der Abkürzung KdU bekannt,
werden übernommen, soweit sie angemessen sind. So
formuliert es der Gesetzgeber derzeit sinngemäß in § 22
Abs. 1 SGB II. Man würde natürlich denken, dass es bei
einem für die Menschen so wichtigen und grundrechtsrelevanten Thema wie dem Wohnen eine Vielzahl von
Regelungen gibt, die genau beschreiben, welche Wohnungsgröße und welcher Mietpreis angemessen sind und
wie man die Angemessenheitswerte für die unterschiedlichen Regionen Deutschlands mit ihren unterschiedlichen Wohnungsmärkten ermittelt. Tatsächlich ist der
eingangs erwähnte erste Satz des § 22 Abs. 1 SGB II die
einzige Festlegung, die der Bundesgesetzgeber in dieser
Frage trifft.
In der Praxis bedeutet dies, dass die für die KdU zuständigen Kommunen durch Richtlinien oder neuerdings
in einigen Bundesländern durch Satzungen selbst bestimmen müssen, bis zu welcher Höhe die KdU in ihrem
Gebiet als angemessen gelten. Sie können hierfür zwar
auf eine umfassende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zurückgreifen, dessen Urteile sind aber letztendlich einzelfallbezogen. Die dort entwickelten Kriterien sind nicht immer ohne Weiteres übertragbar. Eine
bestimmte Methode zur Berechnung der angemessenen
KdU kann in einer Kommune aufgrund der dort bestehenden Wohnungsmarktstruktur zulässig sein, während
die gleiche Methode in einer Kommune mit einer anderen Wohnungsmarktstruktur von den Gerichten als
rechtswidrig angesehen wird. Die Bestimmung von
rechtssicheren KdU wird für die Kommunen zusätzlich
durch zum Teil unterschiedliche Rechtsprechung in unterschiedlichen Bundesländern erschwert.
Die Risiken dieser Unsicherheiten tragen zum einen
die Hartz-IV-Beziehenden, die sich häufig durch die Instanzen klagen müssen, um die Übernahme ihrer Wohnkosten zu erreichen, und zum anderen die Kommunen,
die regelmäßig juristische Auseinandersetzungen um
das Thema KdU fürchten müssen. Die zu unserem Antrag im Sozialausschuss durchgeführte Anhörung hat in
Zu Protokoll gegebene Reden
diesem Zusammenhang übrigens ergeben, dass Widersprüche von Hartz-IV-Beziehenden, die sich ausschließlich gegen die KdU richten, etwa zu 50 Prozent erfolgreich sind. Es ist daher nur folgerichtig, wenn die
Sozialgerichte in ihren Urteilen nicht mehr nur die jeweils zu beurteilende kommunale Richtlinie, sondern die
gesetzliche Regelung direkt kritisieren. Einige Gerichte
stellen dabei sogar die Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Praxis infrage.
So hat beispielsweise das Sozialgericht Mainz in seiner Entscheidung vom 8. Juni 2012 erklärt, die bestehende Konkretisierung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II
durch das Bundessozialgericht - gemeint ist hiermit die
Rechtsprechung zur Angemessenheit - sei nicht mit dem
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar, wie es im Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen näher
bestimmt worden ist. Aus der Zuordnung der KdU zum
menschenwürdigen Existenzminimum folgt für das Sozialgericht Mainz, dass der Gesetzgeber ein Gesetz vorlegen muss, welches einen konkreten Leistungsanspruch
des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Mit unserem Antrag liegt zumindest ein Vorschlag auf dem Tisch, wie den durch das Sozialgericht
Mainz formulierten Vorgaben entsprochen werden
könnte.
Eine Verbesserung der Situation durch die derzeitige
Bundesregierung ist allerdings nicht in Sicht. Anstatt
endlich aktiv zu werden und selbst Standards für die Bestimmung der Angemessenheit zu definieren, hat die Bundesregierung durch ihre letzte Gesetzesänderung den
Ländern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Kommunen
dazu zu ermächtigen, die Angemessenheit durch kommunale Satzungen zu regeln. Möglich sollen hiernach sogar
Pauschalen sein. Gerade zu dem letzten Punkt möchte
ich noch einmal ausdrücklich auf die mündliche Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Joachim Rock in
der öffentlichen Anhörung des Sozialausschusses verweisen. In dieser werden die sozial- und verfassungsrechtlichen Probleme herausgearbeitet, die eine Pauschalierung mit sich bringen würde.
Die fatalen Auswirkungen der derzeitigen KdU-Regelungen, wie zum Beispiel Verdrängung von Hartz-IV-Beziehenden aus begehrten Wohnlagen in Großstädten und
die damit verbundene Erschwernis der Wiedereingliederung, entstehen jedoch nicht nur durch die mangelnde
Bestimmtheit des Begriffes der Angemessenheit. Hinzu
kommen die Regeln zum sogenannten Kostensenkungsverfahren. Diese sehen vor, dass Hartz-IV-Beziehende,
deren Wohnungskosten über dem Angemessenheitswert
liegen, in der Regel innerhalb von sechs Monaten in eine
billigere Wohnung umziehen müssen, um ihre Kosten
weiterhin vollständig erstattet zu bekommen. Die Gründe
für eine derartige Überschreitung der Angemessenheitswerte können dabei vielfältig sein. So kann es sein, dass
jemand nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes I erstmals Hartz IV bezieht. In Betracht kommt aber auch, dass
sich jemand schon länger im Hartz-IV-Bezug befindet,
dessen Wohnung schlicht durch die allgemeinen Mietsteigerungen zu teuer wird.
Die Linke schlägt in ihrem Antrag zur Einführung von
bundeseinheitlichen Mindeststandards bei der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung eine
Reihe von Maßnahmen vor, mit denen die derzeitigen
Missstände bei den KdU überwunden werden könnten.
Im Wesentlichen lassen sich hierbei drei Hauptforderungen herausstreichen:
Erstens. Es muss bundeseinheitliche Mindeststandards für die Bestimmung der Angemessenheit der KdU
geben.
Zweitens. Die Pauschalierungsmöglichkeit im SGB II
ist ersatzlos zu streichen.
Drittens. Die Fristen für das Kostensenkungsverfahren müssen auf mindestens ein Jahr ausgedehnt werden,
und es muss in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei
schwer kranken oder behinderten Menschen, von der
Durchführung eines Kostensenkungsverfahrens abgesehen werden.
Ich bitte Sie, unseren Antrag zu unterstützen.
Das soziokulturelle Existenzminimum umfasst neben
der Sicherung der physischen Existenz des Menschen
die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischen-
menschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an
Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politi-
schen Leben. Die Kosten für Unterkunft und Heizung ge-
hören hierbei genauso zum physischen Existenzmini-
mum wie Nahrung, Kleidung, Hausrat, Hygiene und
Gesundheit. Dies hat das Bundesverfassungsgericht zu-
letzt in seinem Urteil zum Grundrecht auf Gewährleis-
tung eines menschenwürdigen Existenzminimums vom
9. Februar 2010 unzweideutig festgestellt.
Wie kein anderer Bestandteil des Existenzminimums
ist die Frage der Kosten für Unterkunft und Heizung
jedoch Gegenstand behördlicher und richterlicher Aus-
einandersetzung. Unzureichende Angemessenheits-
werte, Aufforderungen zur Senkung der Mietkosten, eine
nicht erfolgte Übernahme der Mietkaution oder eine
nicht genehmigte Erstattung der Umzugskosten sind da-
bei nur einige Probleme, mit denen Leistungsberechtigte
tagtäglich zu kämpfen haben. Dass solche Auseinander-
setzungen um den eigenen Wohn- und Sozialraum so-
wohl die Leistungsberechtigten stark belasten als auch
dem Ziel der Arbeitsmarktintegration dieser Personen
entgegenstehen können, ist wohl unbestritten. Denn wer
in ständiger Angst lebt, seine Wohnung zu verlieren, wer
über den Angemessenheitswerten liegende Wohnungs-
kosten langfristig über den Regelsatz ausgleicht oder
wer monatelang Rechtstreitigkeiten mit dem Jobcenter
führt, hat wohl einige Schwierigkeiten, sich uneinge-
schränkt auf die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz
einzulassen.
Vor diesem Hintergrund ist die Einbringung des
Antrages „Mindeststandards bei der Angemessenheit
der Kosten der Unterkunft und Heizung“, Drucksache
17/7847, der Linksfraktion begrüßenswert. Dieser An-
trag gab Anlass, in einer öffentlichen Anhörung des Ar-
beits- und Sozialausschusses am 7. Mai 2012 im Deut-
Zu Protokoll gegebene Reden
schen Bundestag Sachverständige zur Praxis und den
gesetzlichen Regelungen zu den Kosten der Unterkunft
zu befragen.
Die Anhörung zum Antrag am 7. Mai 2012 zeigte
noch einmal eindrücklich, dass zum Teil erheblicher ver-
waltungstechnischer sowie gesetzgeberischer Ände-
rungsbedarf bei Fragen des Wohnens besteht. Jede ver-
meidbare Aufforderung zur Wohnkostensenkung und
erst recht jeder vermeidbare Umzug kann - neben indi-
viduellen Belastungen - zu enormen Folgekosten für die
Gesellschaft führen. So attestiert etwa eine Topos-Studie
zu den Auswirkungen der Wohnungsaufwendungsver-
ordnung, WAV, auf Hartz-IV-Empfänger in Berlin aus
dem Mai 2012 Umzügen aufgrund des Ausziehens eines
Elternteils: „Ein Wohnungswechsel würde aber ange-
sichts der hohen Neuvermietungsmieten selten eine Ver-
ringerung der Miete ergeben. Zudem würden die Kinder,
die in der Regel durch die Trennung psychisch stark be-
lastet sind, durch den Verlust der vertrauten Wohnung
und Wohnungsumgebung einer zusätzlichen Belastung
ausgesetzt.“ Nur ein Bündel an Maßnahmen, das über
die in dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion hi-
nausgeht, kann die genannten Probleme in den Griff be-
kommen.
Da sind zuallererst die Wohnungspolitik sowie das
Mietrecht zu nennen. Wir wollen soziale Entmischung
verhindern, indem wir die Modernisierungsumlage auf
die energetische Modernisierung und altersgerechten
Umbau konzentrieren und sie auf 9 statt 11 Prozent ab-
senken. Außerdem wollen wir die Kappungsgrenze bei
der ortsüblichen Vergleichsmiete von 20 Prozent auf
15 Prozent senken und die energetische Gebäudebe-
schaffenheit als Vergleichsvariable aufnehmen.
Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen setzt
sich zudem für eine Stärkung des sozialen Wohnungs-
baus ein, indem sie unter anderem dafür eintritt, die
EFRE-Mittel für die energetische Sanierung von Wohn-
gebäuden und den sozialen Wohnungsbau weiterhin ver-
wenden zu können.
Auch im Bereich des SGB II bedarf es allerdings di-
verser Änderungen. So ist vollkommen zutreffend, dass
die individuelle Beratung und Fallbetrachtung durch die
Jobcenter verbesserungswürdig ist. Dies haben wir in
diversen Anträgen bereits zur Sprache gebracht. So
könnten schon im Vorfeld Missverständnisse ausge-
räumt und viele Wohnkostensenkungsaufforderungen
vermieden werden.
Mehr als sinnvoll wäre auch die Aufnahme der Krite-
rien der Verfügbarkeit sowie der Vorgabe, dass eine Auf-
forderung zur Wohnkostensenkung nur ergehen kann,
wenn dies auch wirtschaftlich für den Kostenträger ist.
Dem Vorschlag der Sachverständigen Gautzsch und Dr.
Schifferdecker, wonach die Höchstgrenze von sechs Mo-
naten einer flexibleren Regelung weichen solle, ist zuzu-
stimmen. Allein in Berlin zeigt sich, dass etwa 250 000
ALG-II-Haushalten 627 000 entsprechende Ein- bis
Zweizimmerwohnungen gegenüberstehen. Die Verfüg-
barkeit angemessenen Wohnraums ist daher sehr einge-
schränkt.
Die Aufbringung der Mietkaution durch das Einset-
zen des Schonvermögens ist nicht sinnvoll, wie die Sach-
verständigen glaubhaft darstellen konnten. Da die Miet-
kaution für die Dauer des Mietverhältnisses nicht zur
Verfügung steht, wird dem Sinn und Zweck des Schon-
vermögens mit dieser Regelung nicht Genüge getan.
Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverban-
des wurde im Jahr 2012 schätzungsweise 200 000
Hartz-IV-Empfängern der Strom abgestellt. Dies liegt
unter anderem daran, dass die entsprechende Position
im Regelsatz viel zu niedrig angesetzt ist. Der aktuelle
Regelsatz reicht bei weitem nicht aus, die täglichen Be-
dürfnisse des Lebens sicherzustellen. Allein eine Regel-
satzerhöhung reicht jedoch nicht aus, einkommens-
schwache Haushalte zu unterstützen. So muss etwa die
Streichung des Heizkostenzuschusses durch Schwarz-
Gelb wieder rückgängig gemacht werden. Stromsparta-
rife müssen angeboten und progressiv ausgestaltet wer-
den. Es kann nicht sein, dass Mehrverbrauch mit einem
niedrigeren Preis belohnt wird, während diejenigen, die
geringe Verbräuche haben, hohe Grundkosten zahlen
müssen. Darüber hinaus bedarf es großer Anstrengun-
gen zur Steigerung der Energieeffizienz. Wir Grünen
wollen daher zusätzlich zu 2 Milliarden Euro im Gebäu-
desanierungsprogramm einen Energiesparfonds mit ei-
nem Finanzvolumen von 3 Milliarden Euro jährlich auf-
legen. Dieser muss sich kurzfristig auf die energetische
Sanierung von Wohngebäuden in Stadtteilen mit einem
hohen Anteil einkommensschwacher Haushalte konzen-
trieren.
Werden all diese Dinge beachtet und entsprechend
angegangen, bedarf es keiner weiteren gesetzlichen Än-
derungen bezüglich erweiterter Ausnahmeregelungen
für bestimmte Personengruppen und der Kostenüber-
nahme von Aufwendungen im Rahmen eines Wohnungs-
wechsels. Bei viel Zuspruch und Zustimmung zum An-
trag kann aber, wie dargelegt, nicht allen Forderungen
zugestimmt werden. Daher enthält sich die grüne Frak-
tion zum Antrag 17/7847.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/10199, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/7847 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-
nen angenommen.
Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
zu der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ge23548
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
meinsame Fischereipolitik
KOM({0}) 425 endg.; Ratsdok. 12514/11
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse
der Fischerei und der Aquakultur
KOM({1}) 416 endg.; Ratsdok. 12516/11
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Meeres- und Fischereifonds zur
Aufhebung der Verordnungen ({2}) Nr. 1198/
2006 des Rates und ({3}) Nr. 861/2006 des Rates sowie der Verordnung ({4}) Nr. XXX/2011
des Rates über die integrierte Meerespolitik
KOM({5}) 804 endg.; Ratsdok. 17870/11
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
zes
- Drucksache 17/10783 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Dr. Valerie Wilms, Thilo Hoppe, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Überfischung beenden - Vorschläge zur
Reform der EU-Fischereipolitik überarbeiten
- Drucksache 17/10790 Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
„Gib einem Menschen einen Fisch und Du ernährst
ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du
ernährst ihn für sein Leben.“ Um die Bedeutung der
Fischerei wusste schon Konfuzius. Denn Fisch ernährt
Menschen, als wertvolles Grundnahrungsmittel und als
unverzichtbare Existenzgrundlage. Daran hat sich bis
heute nichts geändert. Deshalb ist die geplante Reform
der Gemeinsamen Fischereipolitik der Europäischen
Union auch für viele Familienbetriebe und Verbraucher von größter Bedeutung. Mit der Reform der Europäischen Fischereipolitik steht ein ehrgeiziges Projekt
auf der Brüsseler Agenda; denn sie soll die nächsten
zehn Jahre tragen.
Die Debatten sind in vollem Gang, von der spanischen Küste bis zum norwegischen Fjord. Den Start
machte die EU-Kommission. Im Juni diesen Jahres verständigten sich die Fischereiminister auf eine allgemeine Ausrichtung zu den zentralen Reformelementen.
Inzwischen liegen im Europäischen Parlament mehr als
2 500 Änderungsanträge zu den Vorschlägen der Kommission vor.
Es ist also höchste Zeit, dass sich auch der Deutsche
Bundestag in die Debatte einbringt und zu diesem wichtigen Reformprojekt Farbe bekennt. Ich hätte mich persönlich gefreut, wenn wir dazu heute ein gemeinsames
Bekenntnis über die Fraktionsgrenzen hinaus abgegeben hätten. Das wäre ein starkes Signal gewesen. Die
Chancen für einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,
FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen standen gut. Wir
trafen uns etliche Male. Der Text wurde hin- und hergesandt. Es wurde gehämmert, gefeilt, poliert. Für das kollegiale Miteinander bedanke ich mich an dieser Stelle
noch einmal ausdrücklich bei meinen beiden Kolleginnen Dr. Christel Happach-Kasan und Cornelia Behm sowie bei unserem Kollegen Holger Ortel.
Aber dann kam leider die Parteipolitik ins Spiel. Die
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
zogen sich auf Druck ihrer Entwicklungshilfepolitiker
zurück. Die SPD-Spitze folgte auf den Fuß, übrigens
auch nicht wegen inhaltlicher Bedenken. Die Begründung lautete: Wir wollen unseren Hoffnungskoalitionspartner nicht allein stehen lassen. Hir ging es nicht um
die Sache sondern nur um die Partei. Die Fischer hätten
Besseres verdient.
Da hilft jetzt auch kein Schnellantrag mehr. Gestern
hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag eingebracht, mit der heißen Nadel gestrickt. Hier
greift das Sprichwort „Mancher denkt zu fischen und
krebst nur“ oder die Erkenntnis von Mark Twain: „Erzähl Leuten, die dich kennen, kein Anglerlatein, und
schon gar nicht Leuten, die die Fische kennen.“ Schade.
Denn das Thema ist ernsthaft genug.
Es ist unstrittig, dass die Europäische Union ihre
selbst gesteckten Ziele in der Fischereipolitik bislang
verfehlt hat. Trotz positiver Tendenzen in den letzten
Jahren sind nach wie vor einige Fischbestände überfischt. Die wirtschaftliche Situation der Fischer und ihre
Zukunftsperspektiven sind nicht gerade rosig. Und es
gibt weiterhin Defizite bei den Fischereipartnerschaftsabkommen mit den Entwicklungsländern.
Wir haben jetzt die Chance, bei dieser ehrgeizigen
Reform der EU-Fischereipolitik mitzuwirken. Wir haben
es selbst in der Hand, wichtige Impulse zu geben. Wir
sollten diese Chance nutzen. Denn die Zeit drängt. Wir
müssen der Überfischung der Meere wirksam Einhalt
gebieten. Denn wir tragen die Verantwortung dafür,
dass die Fischbestände auch für kommende Generationen erhalten bleiben. Fische gehören zu den wichtigsten
Nahrungsquellen der Menschheit. Und die Bestände
sind für unsere Fischer die Existenzgrundlage, die wir
dauerhaft sichern müssen.
Wir haben die Chance genutzt. Ihnen liegt unser Antrag vor. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner haben wir analysiert, wo sich etwas ändern muss. Und wir
zeigen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen,
um diese Ziele zu erreichen. Das oberste Ziel der Reform muss die Nachhaltigkeit sein. Nach wie vor sind
Bestände überfischt. Das bisherige Krisenmanagement
in Brüssel reicht offensichtlich nicht. Ohne eine Erholung der überfischten Bestände und der Bewahrung des
empfindlichen Ökosystems „Meer“ lässt sich die Zukunft der deutschen und europäischen Fischerei nicht sichern. Dabei reicht es nicht, nur die europäischen Gewässer im Blick zu haben. Nein, wir müssen auch hier
global denken und die Weltmeere insgesamt in unsere
Überlegungen einbeziehen.
Die Fischerinnen und Fischer in unserem Land wirtschaften bereits heute nachhaltig und bestandserhaltend. Dieses Selbstverständnis sollte Vorbild für Europa
und die Welt sein. Eine nachhaltige bestandserhaltende
Fischerei muss auf allen Meeren sichergestellt werden.
Deshalb fordern wir in und mit unserem Antrag, dass
künftig alle Fischbestände nach dem Prinzip des nachhaltigen Dauerertrags ({0}) bewirtschaftet werden
müssen. Dieses Ziel soll bis zum Jahr 2015 entsprechend
den Beschlüssen des Nachhaltigkeitsgipfels von Johannesburg erreicht werden.
Wir, die Mitglieder der christlich-liberalen Koalition,
wollen einen grundlegenden Kurswechsel. Die Flickschusterei der vergangenen Jahrzehnte muss ein Ende haben. Wie muss dieser Kurswechsel nun beschaffen sein?
An erster Stelle benötigen wir ein modernes Fischereimanagement. Zentrales Instrument dieses Fischereimanagements sind schon heute mehrjährige Bewirtschaftungspläne. Diese müssen künftig auf alle kommerziell
genutzten Bestände ausgedehnt werden. So lässt sich das
Nachhaltigkeitsziel schneller erreichen. Es bringt den
Vorteil mit sich, das fischereipolitische Tagesgeschäft
vom Mikromanagement zu entlasten. Dies gilt insbesondere für die jährlichen Quotenverhandlungen der Fischereiminister im Dezember. In den letzten Jahren haben
diese durch die bereits geltenden Bewirtschaftungspläne
deutlich an politischem Sprengstoff verloren. Und das ist
gut so.
Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Erhöhung der Selektivität der Fischereien. Nur so lassen sich Jungfische
besser schützen und unerwünschte Beifänge stärker vermeiden. Deshalb müssen wir gleichzeitig die Forschung
und Entwicklung innovativer und selektiver Fanggeräte stärken.
Eines der Kernprobleme der europäischen Fischereipolitik sind die hohen Rückwürfe infolge unerwünschter
Beifänge. In manchen Fischereien belaufen sich diese
auf über 50 Prozent der Fänge. Die Bilder von Rückwürfen verunsichern Verbraucherinnen und Verbraucher. Mit dieser unverantwortlichen Verschwendung unserer wertvollen Meeresressourcen muss endlich Schluss
sein. Deshalb sind wir der Bundesregierung auch für die
Initiative dankbar, die sie bereits im Jahr 2010 dazu gestartet hatte. Aufgrund dieser Initiative unserer Bundesministerin Frau Aigner wurde eine Gemeinsame Erklärung über Rückwürfe im Rahmen der Reform der
Gemeinsamen Fischereipolitik mit Vertretern Dänemarks, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs getroffen. Wir unterstützen unsere Bundesregierung in dieser Haltung und setzen uns deshalb in unserem Antrag
mit Nachdruck dafür ein, Rückwurfverbote und Anlandegebote einzuführen. Dies soll nicht pauschal nach Arten, sondern nach Fischereien und im Rahmen der Bewirtschaftungspläne geschehen. Beifangarten, die hohe
Überlebensraten aufweisen, wie zum Beispiel Haie und
Rochen, wollen wir vom Rückwurfverbot ausnehmen. Es
darf keine Fehlanreize für die Vermarktung von Jungfischen geben. Aber eine möglichst hochwertige Nutzung muss möglich sein. Die Ressource Fisch ist zu
wertvoll, als nur als Fischmehl oder -öl zu enden.
Die Einhaltung des Rückwurfverbots muss natürlich
wirksam kontrolliert werden. Dazu sollte es Anreize zum
freiwilligen Einbau von Kameras an Bord der Fischereifahrzeuge geben. Eine generelle Kamerapflicht lehnen
wir dagegen kategorisch ab. Ich sage sehr deutlich für
meine Fraktion: Eine Kameraüberwachung von Fischerinnen und Fischern wird es mit uns nicht geben. Eine
solche Vorschrift wäre insbesondere mit Blick auf unsere
handwerkliche Küstenfischerei völlig überzogen. Für
diese Fischerei müssen alternative Monitoringsysteme
entwickelt werden. Es wird von den Vertretern einer solchen Forderung offensichtlich vergessen, dass ein Fischereifahrzeug auch immer ein Arbeitsplatz ist. Auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesen Schiffen
haben Anspruch auf Datenschutz.
Bei der Bewirtschaftung der Fischereibestände gibt
es für uns einen weiteren wichtigen Punkt. Das System
der Quotenverwaltung in Deutschland hat sich bewährt.
Es darf nicht verändert werden. Deshalb müssen die Nationalstaaten auch künftig für das Quotenmanagement
zuständig bleiben. Die verpflichtende Einführung von
handelbaren Quoten, wie von der Kommission vorgeschlagen, lehnen wir ab. Jeder Mitgliedstaat muss selbst
entscheiden können, ob er handelbare Quoten einführen
will oder nicht. Wir wollen es nicht. Denn damit würden
wir unseren aktiven deutschen Familienbetrieben den
Boden unter den Füßen wegziehen. Bei ihnen handelt es
sich im Wesentlichen um kleine und mittelständische Betriebe, die bei einem Marktwettbewerb um Quoten nicht
gegen zahlungskräftige Investoren bestehen können.
Aber auch sie, gerade sie brauchen Zukunftsaussichten
und die Chance, sich zu entwickeln. Wir wollen deshalb
in Deutschland unser Quotensystem fortführen. Fischereiressourcen müssen deshalb öffentliches Gut bleiben.
Ein weiteres zentrales Element der Fischereireform
ist für uns der Abbau der Flottenüberkapazitäten. Solange die Fangkapazitäten größer sind als die tatsächlichen Fangmöglichkeiten, wird es immer einen Anreiz
geben, die zugeteilten Quoten zu überfischen. Deshalb
fordern wir in unserem Antrag einen verbindlichen Zeitplan für den Flottenabbau. Die neuen Kapazitätsobergrenzen müssen so festgelegt werden, dass sie zu einer
effektiven und nachprüfbaren Reduzierung der Fangkapazitäten führen. Diese müssen im Einklang mit den nationalen Fangmöglichkeiten stehen. Dafür muss dringend ein entsprechendes Verfahren entwickelt werden.
Und es muss der Satz gelten: Strafe muss sein. Leider
gibt es nicht in jedem Mitgliedstaat ein so rigides Ahndungssystem wie in Deutschland. Deshalb sind die Mitgliedstaaten, die ihren Verpflichtungen zum Flottenabbau nicht nachkommen, zwingend mit Sanktionen zu
belegen.
Die Förderung der Fischereiwirtschaft soll künftig
über den neuen Europäischen Meeres- und Fischereifonds erfolgen. Verglichen mit den Strukturfonds handelt
es sich hier um einen vergleichsweise kleinen EU-Fonds
mit einem jährlichen Volumen von insgesamt nur rund
1 Milliarde Euro für alle Mitgliedstaaten zusammengenommen. Umso wichtiger ist es, dass diese Mittel zielgerichtet eingesetzt werden. Insbesondere muss eine Verzahnung mit den übrigen EU-Fonds erfolgen, um eine
Zu Protokoll gegebene Reden
größtmögliche Wirkung bei der Begleitung des Strukturwandels in den Regionen zu gewährleisten, in denen die
Fischerei eine besondere Rolle spielt.
Wir sind äußerst besorgt darüber, dass die Kommission für den neuen Fischereifonds zusätzliche bürokratische Lasten vorsieht. Bereits in der derzeitigen Förderperiode ist eine Reihe deutscher Bundesländer aus dem
laufenden Förderprogramm ausgestiegen. Die Verwaltungskosten stehen in keinem vertretbaren Verhältnis
mehr zur tatsächlichen Förderung. Für den Fall, dass es
zu keiner durchgreifenden Verwaltungsvereinfachung und
Kostenentlastung kommen sollte, haben weitere deutsche
Länder ihren Ausstieg angekündigt. Das müssen wir unbedingt vermeiden. Deshalb setzen wir uns in unserem
Antrag für eine spürbare Senkung der Bürokratiekosten dieses kleinen Fonds und für deutliche Vereinfachungen bei der Beantragung von Maßnahmen ein.
Hinsichtlich der Förderschwerpunkte ist uns wichtig, dass künftig Forschung und Entwicklung im Fischereibereich ein stärkeres Gewicht erhalten, insbesondere
was die Entwicklung innovativer und selektiver Fangmethoden angeht. Wir halten es für richtig, dass die
Aquakultur zu einem neuen Förderschwerpunkt werden
soll. Gleichzeitig setzen wir uns dafür ein, dass die Förderung der bestehenden Aquakulturbetriebe weitergeführt wird. Zur besseren Durchsetzung von EU-Recht
müssen Fischereiunternehmen, die mehrfach oder gravierend gegen Fischereivorschriften verstoßen haben,
künftig von der Vergabe von Fördermitteln ausgeschlossen werden.
Besondere Verantwortung trägt Europa auch bei der
Nutzung von Fischbeständen außerhalb der EU-Gewässer, etwa vor der Küste Westafrikas. Umso wichtiger ist
es, dass wir hier in der europäischen Fischereipolitik für
klare Regeln sorgen. Dort sind die gleichen strengen
Maßstäbe anwenden wie in den EU-Gewässern. Das
Nachhaltigkeitsprinzip darf nicht an den Grenzen der
EU-Gewässer haltmachen. Deshalb halten wir es für
richtig, dass die EU-Fischereifahrzeuge nur den Überschuss an Fangmengen fischen können, der von den Fischern in den Entwicklungsländern nicht selbst genutzt
werden kann. Dieser Grundsatz muss in allen Fischereipartnerschaftsabkommen der EU fest verankert werden.
Gleichzeitig muss in diesen Abkommen mehr Transparenz über zusätzliche Vereinbarungen der Partnerstaaten mit Drittländern eingefordert werden. Nur so lässt
sich wirksam verhindern, dass die Fischbestände zulasten der lokalen Fischer übernutzt werden.
Parallel dazu halten wir flankierende Maßnahmen
für erforderlich: Die Entwicklungsländer müssen verstärkt dabei unterstützt werden, eine effektive Fischereikontrolle in ihren Hoheitsgewässern durchzuführen und
Rechtsvorschriften durchzusetzen. Kapazitäten für wissenschaftliche Untersuchungen zur Bestandsabschätzung müssen sowohl innerhalb der EU als auch in den
Partnerländern gestärkt werden. Die finanzielle Unterstützung des Fischereisektors in den Partnerländern
muss von den Zahlungen für Fangmöglichkeiten entkoppelt und an das Prinzip der nachhaltigen Fischerei gebunden werden.
Bei alledem kommt dem Verbraucher eine wesentliche Rolle zu. Wir alle wollen mehr Transparenz für die
Verbraucher, davon sind Fischereierzeugnisse natürlich
nicht ausgenommen. Gerade die Verbraucher können
durch ihre Kaufentscheidung eine nachhaltige Fischerei
wesentlich unterstützen. Dafür muss der Verbraucher
aber wissen, was wirklich in der Truhe oder aber der
Dose ist. Deshalb setzen wir uns für eine europäische
Rahmenregelung ein, die Mindestkriterien für Nachhaltigkeitssiegel in der Fischerei vorsieht. Hier muss der
vorliegende Kommissionsvorschlag noch deutlich nachgebessert werden.
Die Fischereipolitik ist ein weites Feld, auf dem wirtschaftliche Interessen, der Schutz unserer natürlichen
Lebensgrundlagen, der wirkungsvolle Einsatz von Steuergeldern und die Transparenz für die Verbraucher in
Einklang gebracht werden müssen. Dieser schwierigen
Aufgabe haben wir uns gestellt. liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, Sie müssen nur noch eines
tun: zustimmen.
Ich möchte zunächst mein Bedauern darüber ausdrücken, dass wir heute nicht über einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen sprechen. Dass die Union die Zusammenarbeit mit den Linken verweigert, ist genauso
bedauerlich wie das Aussteigen der Grünen kurz vor
dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Aber
auch, wenn wir hier heute nicht über einen gemeinsamen Antrag sprechen, kann ich feststellen, dass wir alle
von der Notwendigkeit dieser Reform der Gemeinsamen
Fischereipolitik überzeugt sind.
Das Grünbuch der Europäischen Kommission aus
dem Jahr 2009 hat ein düsteres Bild vom Zustand der
Fischbestände in europäischen Gewässern, von den
Flotten und vom Fischereimanagement gezeichnet. In
der Zwischenzeit wurden verschiedenen Lösungsmöglichkeiten ausprobiert, einige mit Erfolg, andere nicht.
Sehr erfolgreich waren die Langzeitmanagementpläne. Diese müssen in Zukunft ausgeweitet werden. Allerdings müssen diese Pläne auch mehrere Arten umfassen, denn verschiedene Arten wie zum Beispiel Hering
und Dorsch stehen oftmals in einer Jäger-Beute-Beziehung.
Weniger erfolgreich war das Management mittels
Quote und Aufwand. Diese Doppelung hat sich nicht bewährt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass es nur
noch dort Management mittels Aufwand gibt, wo es
keine Quoten gibt. Das ist vor allem im Mittelmeer der
Fall.
Die erfolgreiche Anwendung einiger Instrumente
zeigt sich auch in kürzlich von der Europäischen Kommission veröffentlichten Zahlen. Der Anteil nachhaltig
bewirtschafteter Bestände wuchs von 6 Prozent im Jahre
2005 auf 53 Prozent im Jahre 2012. Scholle und Hering
in der Nordsee haben die Wiederaufbauziele seit Jahren
beständig überschritten. Nur beim Kabeljau bleibt noch
einiges zu tun.
Zu Protokoll gegebene Reden
In der Ostsee werden mittlerweile 70 Prozent der gesamten Anlandungen nachhaltig gefischt. Dem Ziel einer Befischung auf MSY-Niveau, dem Niveau des nachhaltigen Dauerertrages, bis zum Jahr 2015 kommen wir
mit großen Schritten näher. Es besteht aber leider immer
noch eine deutliche Diskrepanz zwischen den nördlichen
und den südlichen EU-Gewässern. Im Mittelmeer gelten
noch immer 90 Prozent der Bestände als überfischt.
Wir verfügen also bereits über die Instrumente für ein
nachhaltiges Fischereimanagement. Aber die Voraussetzungen dafür sind eben vielfach noch nicht gegeben. Die
Flotten einiger Mitgliedstaaten sind zu groß, und effektive Kontrolle kann nicht überall gewährleistet werden.
Nun möchte ich auch noch etwas zu den vorliegenden
Anträgen sagen. Frau Ministerin Aigner hat sich mehrfach und öffentlichkeitswirksam für ein Nachhaltigkeitssiegel eingesetzt. Davon fehlt jetzt aber jede Spur. Frau
Ministerin hat am 13. Juni 2012 erklärt, dass sie sich in
den weiteren Verhandlungen dafür einsetzen werde, dass
EU-weite Mindestkriterien für freiwillige Nachhaltigkeitssiegel der Wirtschaft festgelegt werden. Jetzt fordern Sie auch, dass Frau Ministerin sich weiterhin dafür
einsetzen soll. Wir werden beobachten, mit welchem Erfolg.
Die Rednerin der Union hat in unserer letzten Debatte zu diesem Thema behauptet, dass Verbraucher bereit seien, für nachhaltig gefangenen Fisch höhere
Preise zu zahlen. Das sollte bedeuten, dass die Fischereibetriebe die Kosten für den Einbau von Überwachungskameras an Bord wieder über höhere Preise hereinholen könnten. Da muss ich Sie fragen, in welcher
Welt leben Sie denn?
Das Fisch-Informationszentrum veröffentlicht jedes
Jahr aktuelle Zahlen zum Fischverzehr in Deutschland.
Aus den aktuellen Zahlen geht hervor, dass der größte
Teil des Fisches als Tiefkühlware beim Discounter gekauft wird. Glauben Sie ernsthaft, dass der Fischer dem
Einkäufer des Discounters sagen kann: Ich musste jetzt
für 30 000 Euro Kameras einbauen und möchte deshalb
jetzt von dir mehr Geld haben? - Sie haben sich immer
vehement gegen den Einbau von Kameras an Bord ausgesprochen. Jetzt wollen Sie sogar Anreize zum Einbau
von Kameras schaffen.
In ihrer Rede hat die Berichterstatterin der Union
auch eine Übergangsphase für den Systemwechsel von
Anlande- zu Fangquoten vorgeschlagen, in der die
Fischer auf freiwilliger Basis beteiligt werden. Ich habe
Ihnen schon damals gesagt, dass das nicht geht, denn
die Gefahr, dass viele Fischer in dieser Übergangsphase
zu viel fischen, um Referenzen zu erlangen, ist zu groß.
Das fordern Sie im vorliegenden Antrag nun nicht mehr.
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie viele Forderungen in Ihrem Antrag haben, die von der SPD kommen.
Die Urheberrechte werden wir aber trotzdem nicht beanspruchen. Eine ganz wichtige Forderung ist dabei die
Ersatzbauförderung unter bestimmten Bedingungen.
Die Bundesregierung war bislang strikt gegen die Neubauförderung. Zu diesem Sinneswandel kann ich Sie beglückwünschen.
Dem Antrag der Koalition können wir aber nicht zustimmen, denn auch sie fordert verbindliche Anlandegebote im Rahmen der externen Dimension. Abgesehen
von der Frage, wie verbindlich ein Gebot ist, haben Sie
die tatsächliche Situation vor Ort nicht berücksichtigt.
Eine entsprechende Logistik für die Anlandung existiert
nämlich nicht. Diese muss erst gebaut werden, und dafür
braucht es entsprechende Abkommen und eine zweckgebundene Mittelverwendung in den Partnerländern.
Es ist keine Frage, dass wir die Abkommen der EU
mit den westafrikanischen Staaten verbessern müssen.
Das Mauretanien-Abkommen ist dabei ein Meilenstein.
Hier wurden die Küstenfischer besser geschützt. Das
Menschenrecht auf Nahrung ist explizit erwähnt, und
über eine zweckgebundene Mittelverwendung wird sichergestellt, dass das Geld nicht irgendwo versickert.
Darüber hinaus fordern wir aber noch mehr für die externe Dimension.
Weit wandernde Arten müssen von allen Küstenstaaten verwaltet werden, in deren Gewässern sie sich bewegen, und zwar gemeinsam im Rahmen einer regionalen
Organisation. Das heißt, dass nicht nur Mauretanien
festlegen können darf, was ein Überschuss ist. Dieser
Überschuss muss auch vom Senegal und den anderen
betroffenen Küstenstaaten festgelegt werden. Die Reeder
müssen einen angemessenen Teil der Zugangskosten tragen.
Obwohl Ihnen die Signalwirkung des Ausgangs der
derzeitigen schwierigen Situation des Mauretanien-Abkommens bekannt ist, sparen Sie es einfach aus. Haben
Sie die Tragweite des Abkommens nicht erkannt oder ist
es Uneinigkeit in den eigenen Reihen?
Außerdem halte ich es für falsch, eine Stellungnahme
nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz zu verabschieden, die
nicht von einer fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen wird.
Die Grünen kann ich zu ihrem Antrag größtenteils beglückwünschen. Im Prozess zur Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik haben Sie sich offensichtlich viele
Gedanken über die Fischerei in Deutschland und Europa gemacht und sind von Ihren früheren dogmatischen
Positionen abgerückt.
Ansprechen möchte ich an dieser Stelle die Ausnahmen vom Rückwurfverbot. In einigen Fischereien erscheint es tatsächlich sinnvoll, dass diese ihre Beifänge
wieder über Bord werfen können, da ein erheblicher Anteil davon überlebt.
Trotz allem ist Ihnen dieser Übergang zu einer pragmatischen Position nicht vollends geglückt: Die fischereipolitische Sprecherin der Grünen hat sich in der Vergangenheit vielfach zur Küstenfischerei in Deutschland,
vor allem den Krabbenfischern, geäußert. Dort wollte
sie unter anderem den Fischern ermöglichen, mehr Investitionsmittel abrufen zu können. Mit dem vorliegenden Antrag tun die Grünen aber genau das Gegenteil.
Mit der vorgesehenen Vergabe von Fischereibefugnissen
über mehrere Jahre gibt die EU den Fischern Sicherheit.
Damit können die Fischer zur Bank gehen, und sie bekommen wesentlich einfacher die notwendigen Kredite
Zu Protokoll gegebene Reden
für ihre Investitionen. Sie wollen genau diese Sicherheit
für die Fischer kaputtmachen und ihnen stattdessen
noch Verwaltungsgebühren aufbürden.
Darüber hinaus wollen Sie bestehende fischereiliche
Nutzungen in Schutzgebieten einschränken. Das bedeutet, dass keine Fischerei auf Krabben im Wattenmeer
stattfinden soll. Dabei wissen Sie ganz genau, dass das
Wattenmeer auch mit den Krabbenfischern UNESCOWeltnaturerbe wurde.
Obwohl die Positionen der SPD also an vielen Stellen
mit den Positionen der Grünen übereinstimmen, können
wir das nicht mitmachen und dem Antrag der Grünen
nicht zustimmen.
Leider beraten wir heute keinen fraktionsübergreifenden Antrag zur Reform der gemeinsamen europäischen
Fischereipolitik, GFP, nach 2013, obwohl wir uns in der
politischen Bewertung der bisherigen GFP ebenso wie
in unseren Vorstellungen über die notwendigen Verbesserungen für die zukünftige Fischereipolitik grundsätzlich fraktionsübergreifend einig sind. Ich bedauere es
sehr, dass es uns aufgrund der Uneinigkeit innerhalb der
Opposition nicht gelungen ist, mit einer starken gemeinsamen Stimme der Bundesregierung für die Verhandlungen in Brüssel den Rücken zu stärken. Dennoch möchte
ich mich bei allen Fischereiexperten für die konstruktiven Diskussionen bedanken, auch wenn Sie sich in Ihren
Fraktionen nicht gegen überzogene Forderungen aus
den Reihen der Entwicklungshilfe durchsetzen konnten.
Es ist politisch der falsche Ansatz, mit der Reform der
Gemeinsamen Fischereipolitik der EU weitreichende
entwicklungspolitische Ziele durchsetzen zu wollen.
Dieses Reformvorhaben hat einen eigenen Wert. Teile
der Opposition erkennen ihn offensichtlich nicht an und
sind nicht bereit, für faire Wettbewerbsbedingungen für
unsere Fischer einzutreten.
Warum ist eine Überarbeitung der europäischen Fischereipolitik überhaupt notwendig? Der Blick auf die
Zahlen und Fakten des Fischereisektors ebenso wie der
Fischerei- und Meereswissenschaften macht deutlich:
Die EU-Fischereipolitik hat trotz einiger Erfolge ihre
Ziele bisher nicht erreicht. Weder hat sich die wirtschaftliche Lage des Fischereisektors in Deutschland
wie in Europa nachhaltig verbessert, noch befinden sich
alle Fischbestände auf einem zukunftssicheren Niveau.
Auch wenn einige Maßnahmen zur Sicherung der Bestände erste Erfolge aufweisen und dabei auch die deutschen Fischereibetriebe endlich von großen Einschnitten der Vergangenheit profitieren können, sind
vielfältige Verbesserungen notwendig.
Die deutschen Fischerinnen und Fischer haben in
den letzten Jahren bereits durch tiefe Einschnitte bei den
Fangquoten und den notwendigen Kapazitätsabbau
ihren Anteil zu einer nachhaltigeren Fischerei beigesteuert. Deswegen hat der Erhalt der relativen Stabilität
bei der Vergabe der Fangquoten für die FDP eine sehr
hohe Priorität. Die Fangkapazitäten der Fischereiflotten, vor allem der großen Fischereinationen wie Spanien, Italien oder Frankreich, sind dagegen nicht im
Einklang mit den eigenen Fangquoten und vorhandenen
Fischbeständen. Eine zukünftige, nachhaltige GFP wird
daran gemessen werden, ob es gelingt, die Überkapazitäten abzubauen und eine nachhaltige Bestandsbewirtschaftung nach dem Prinzip des höchstmöglichen
Dauerertrags, MSY - maximum sustainable yield,
durchzusetzen. Nur dann ist sowohl der Erhalt unserer
Meeresumwelt wie auch die Zukunft der Fischerinnen
und Fischer gesichert. In den ärmeren Ländern ist nach
Auffassung der FDP der Abbau der Fangquoten durch
Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten zu
unterstützen. Ansonsten geschieht der Abbau nur auf
dem Papier, aber nicht in der Realität.
Aus diesem Grund halte ich es für zwingend notwendig, Forschung und Innovation zu einem Schwerpunkt
der neuen Fischereipolitik zu machen. Einerseits müssen
wir mehr, genauere und zuverlässigere Daten über
Größe und Entwicklung von Fischbeständen erheben,
um Zusammenhänge besser verstehen und Vorhersagen
treffen zu können. Andererseits muss die Entwicklung innovativer, schonender und spezifischer Fangmethoden
vorangetrieben und die Aquakultur als nachhaltige
Alternative ausgebaut und weiterentwickelt werden.
Dies muss eine Hauptaufgabe des neuen Europäischen
Meeres- und Fischereifonds werden.
Es wird nach aktuellen Schätzungen inzwischen mehr
als die Hälfte der europäischen Bestände im Nordostatlantik nachhaltig bewirtschaftet. Allerdings fehlen für
viele Bestände valide wissenschaftliche Daten darüber,
wo der spezifische MSY liegt und wie dieser in einem
notwendigen ökosystemaren Ansatz zu berechnen ist.
Wir begrüßen die Vorschläge der Kommission, mehrjährige Bewirtschaftungspläne für alle Fischbestände
einzuführen. Diese Bewirtschaftungspläne vereinen ökologische Erfordernisse und wirtschaftliche und soziale
Überlegungen und leisten einen wichtigen Beitrag zur
Planungssicherheit der Fischer. Das beste Beispiel für
einen erfolgreichen Bewirtschaftungsplan ist der Plan
für den Dorsch in der Ostsee, dessen Bestand seit der
Einführung des Planes eine erfreuliche Entwicklung genommen hat und heute größer ist als vor 20 Jahren. Es
gilt, diesen Erfolg auf alle anderen Bestände auszudehnen.
Aus unserer Sicht, und hier sind wir uns einig mit der
Bundesregierung und dem Europäischen Parlament, ist
es keine Frage mehr, ob ein Rückwurfverbot und Anlandegebot für unerwünschte Beifänge kommt, sondern wie
es ausgestaltet werden soll. Um keine Ressourcen zu
verschwenden und gleichzeitig dringend notwendige
wissenschaftliche Daten zu erheben, ist die Anlandung
und Dokumentation unerwünschter Beifänge wichtig.
Ausnahmen dürfen hierbei nur für Fischereien gelten,
bei denen wissenschaftlich eine hohe Überlebensrate
der Rückwürfe nachgewiesen wurde. In der handwerklichen Fischerei konnten für einige Fischarten Überlebensraten von über 90 Prozent nachgewiesen werden.
Die externe Dimension der GFP und die Ausgestaltung der partnerschaftlichen Fischereiabkommen mit
Drittstaaten wurden hier im Bundestag kontrovers diskutiert. Wir wissen, dass die Europäische Union nicht in
Zu Protokoll gegebene Reden
der Lage ist, den Bedarf aus eigenen Gewässern zu
decken. Wir importieren, gemessen am Wert, etwa
24 Prozent der weltweit produzierten Fischereizeugnisse. Die Europäische Union hat als weltgrößter
Importeur von Fischereierzeugnissen eine besondere
Verantwortung für die nachhaltige Nutzung eigener wie
drittstaatlicher Meeresressourcen; darin sind wir uns
einig.
Das allgemeine Menschenrecht auf Nahrung muss in
der europäischen Fischereipolitik ein wichtiger Schwerpunkt sein und verstärkt beachtet werden. Darin sind
wir uns ebenfalls einig. Dennoch kann die GFP nicht
das geeignete Instrument sein, um die Probleme der
Welternährung zu lösen. Werden unüberwindbare
Hürden aufgebaut, fischen zukünftig chinesische oder
koreanische Fangflotten statt europäischer Fischer. Das
löst weder das Problem der Überfischung in Drittgewässern, noch wird dort der Hunger der einheimischen
Bevölkerung gelindert.
Abschließend möchte ich anerkennen, dass sich die
Bundesregierung bei den bisherigen Verhandlungen zur
GFP ebenso wie bei den jährlichen Quotenfestlegungen
vorbildlich verhalten hat. Für die Zukunft unserer
Fischereiressourcen ebenso wie des Fischereisektors,
der wirtschaftlich wie touristisch in unseren Küstengebieten nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, müssen
wir die Fischereipolitik neu ausrichten. Dabei müssen
erstmals die Kommission, das Europäische Parlament
sowie der Rat zusammenfinden. Darum ist es aus unserer Sicht wichtig, dass der Deutsche Bundestag ein starkes Signal nach Brüssel sendet und der Bundesregierung
den Rücken stärkt. Ich lade deshalb alle Kolleginnen
und Kollegen aus der Opposition ein, sich aufgrund der
hohen inhaltlichen Übereinstimmungen, die sich in den
ausführlichen Beratungen gezeigt haben, unserem
Antrag anzuschließen.
Über die EU-Fischereipolitik, GFP, wird aktuell weit
weniger gestritten als über die EU-Agrarpolitik nach
2014, obwohl beide Bereiche bis Ende 2013 politisch
neu ausgerichtet werden sollen und obwohl es auch in
der GFP dringenden Änderungsbedarf gibt. Das stand
ungewöhnlich deutlich schon 2008 im Grünbuch der
EU-Kommission, denn viele der selbstgesteckten Ziele
wurden verfehlt. Aus Sicht der Linken gerät in der Debatte leider häufig ein wichtiges Problem außer Sicht:
Die Zukunftsaussichten der Fischerinnen und Fischer
sind nicht besser geworden. Damit ist klar: Eine Kehrtwende muss her.
Das Thema ist auch in der Bundesrepublik wichtig trotz relativ wenig Meer und Hochseefischerei. Deshalb
haben die fischereipolitisch zuständigen Abgeordneten
aller fünf Fraktionen seit Monaten an einem gemeinsamen Antrag zur EU-Fischereireform gearbeitet. Eigentlich waren wir uns in vielen Punkten einig. Trotzdem ist
das Projekt gescheitert. Erst wurde erneut die Linksfraktion aus der Gruppe ausgeschlossen, weil die CDU/
CSU-Fraktion Parteipolitik über demokratische Regeln
stellt. Kurz vor dem Ziel zerbrach die Gruppe im umwelt- und entwicklungspolitischen Streit - aus meiner
Sicht eine vergebene Chance. Die in der Fischerei Beschäftigten hätten die Unterstützung ihrer Interessen
durch eine einheitliche Stimme aus dem deutschen Parlament für eine nachhaltige Fischerei dringend gebraucht.
Die Reformvorschläge aus Brüssel gehen aus Sicht
der Linken in die richtige Richtung. Die GFP muss eine
nachhaltige berufliche Perspektive für die Menschen am
und mit dem Meer unterstützen. Das ist mehr als eine romantische Hafenidylle mit Fischbrötchen. Fischerinnen
und Fischer brauchen ein gutes Einkommen und gute
Arbeitsbedingungen. Dazu werden faire, kostendeckende Erzeugerpreise gebraucht. Das ist auch angesichts der steigenden Kosten, zum Beispiel für Schiffsdiesel, durchaus eine Herausforderung. Grundlage für
diese wirtschaftlichen Perspektiven ist und bleibt aber
eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen
Fischbestände. Das muss das Ziel sein.
Drei Themen sind uns Linken auf dem Weg zu einer
nachhaltigen GFP besonders wichtig:
Erstens. Es muss ausreichend Fisch vorhanden sein
und gefangen werden, die Ware muss fair bezahlt und regional vermarktet werden können.
Zweitens. Die Förderung muss sich auf die Erfordernisse einer nachhaltigen Produktion von Fisch konzentrieren.
Drittens. EU-Fisch-Trawler müssen mit ökologischer
und sozialer Verantwortung agieren.
Das führt zurück zum Schlagwort „Überfischung der
Meere“. Betrachtet man dieses Schlagwort einer bedrohlichen Situation genauer, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Das soll keine Entwarnung sein, sondern
zum kritischen Hinterfragen einladen. Laut dem Fischereiverband ist der Anteil überfischter Bestände in den
vergangenen sieben Jahren von 94 auf 47 Prozent zurückgegangen.
Ein Beispiel: Dem Ostseedorsch geht es heute deutlich besser. Aktuell ist der Bestand sogar auf Rekordniveau. Das ist bei aller berechtigten Kritik an der GFP
ein großer, wenn auch hart erkämpfter Erfolg, der übrigens den natürlichen Druck für die Beutearten des
Dorschs, Hering und Sprotte, erheblich erhöht.
Auch die Scholle wird unterdessen nach dem MSYPrinzip - das ist der höchstmögliche Dauerertrag - befischt. Die sich erholenden Bestände haben zu höheren
Fängen geführt, die wiederum die Erzeugerpreise unter
Druck gesetzt haben. Bis 2015 soll dieser MSY-Ansatz
bei allen Arten und Beständen gelten. Das ist richtig so.
Aber wie das Dorsch-Beispiel zeigt, muss die EU zukünftig den Ökosystemansatz in der Fischerei stärken,
das heißt, Mehrjahrespläne als Bewirtschaftungsgrundlage erarbeiten und die Beziehungen zwischen den
Fischarten berücksichtigen.
Besonders wichtig ist mir auch der Europäische Meeres- und Fischereifonds, EMFF. Mit ihm werden zum
Beispiel unterstützende Maßnahmen für die Binnenfischerei finanziert. Mit der neuen EU-Fischereipolitik
Zu Protokoll gegebene Reden
soll nun erstmals auch die Aquakultur in die GFP einbezogen werden. Das löst nicht nur Freude aus bei den Beschenkten. Binnenfischerinnen und Binnenfischer klagen schon jetzt über hohe bürokratische Hürden. Ich
erwarte, dass Brüssel darauf reagiert und dass die Kommission für eine vereinfachte Antragsstellung sorgt. Die
Linksfraktion unterstützt den weiteren Ausbau der heimischen Aquakultur, wenn sie nachhaltig ist. Dazu wird
unter anderem mehr Forschung gebraucht. Binnenfischerinnen und Binnenfischer stehen unter dem Druck
billiger Fischimporte, die sozial und ökologisch kaum
verantwortbar sind. Dazu kommen wasser- und naturschutzrechtliche Auflagen. Hier ist mehr Interessensabwägung mit Fingerspitzengefühl notwendig. Die einheimische Forellenzucht zum Beispiel ist eine wichtige
Lebensmittelproduktion und darf nicht den Bach hinuntergehen, auch wenn wir die Herstellung der Durchlässigkeit von Flussläufen als wichtiges Naturschutzanliegen unterstützen. Aber wir brauchen auch aus
Nachhaltigkeitsgründen mehr regional erzeugten Fisch,
nicht weniger. In meinem Heimat-Bundesland Brandenburg stammt nur jeder zehnte verspeiste Süßwasserfisch
aus märkischen Fischereibetrieben. Das ist zu wenig.
Die EU trägt auch international Verantwortung für
die nachhaltige Bewirtschaftung der Gewässer. Im Rahmen der sogenannten externen Dimension der GFP fischen EU-Trawler auch in weit entlegenen Fischfanggründen. Über die Abkommen mit den betroffenen
Staaten bekommen EU-Schiffe Zugang zu den Fischgründen. Als Linksfraktion sehen wir diese Abkommen
sehr kritisch. Zu oft sind diese weder nachhaltig noch
kommen sie der lokalen Bevölkerung zugute. Selbst die
Koalition bestätigt diese Defizite in ihrem Antrag. Die
Linke fordert daher wirklich faire Partnerschaftsabkommen unter Beachtung der neuen FAO-Leitlinien.
Ein schwerer Fehler der bisherigen GFP war das
Rückwurfverbot, also die Pflicht, Teile des Fangs wieder
über Bord zu werfen, für die keine Fangerlaubnis vorliegt. Diese „Rückwürfe“ machen aber nur Sinn bei Arten mit sehr hoher Überlebenswahrscheinlichkeit, zum
Beispiel bei einigen Haiarten oder bei bestimmten Plattfischen. Deshalb begrüßen wir die neue Regelung mit
Rückwurfverbot und Anlandegebot. Und es ist gut, dass
der fischereibezogene statt eines artbezogenen Ansatzes
gewählt wurde. Der angelandete Beifang sollte aber
nicht nur zu Fischmehl oder -öl, sondern auch als Lebensmittel verarbeitet werden.
Die Linksfraktion enthält sich bei beiden Anträgen.
Wir Grüne wollen, dass die Reform der EU-Fischereipolitik die Überfischung der europäischen Gewässer
beendet und die Nutzung der Meeresressourcen durch
europäische Fischer gerecht und umweltverträglich
gestaltet. So können sich die Fischbestände erholen.
Davon profitieren nicht nur Natur und Umwelt, sondern
über kurz oder lang auch die Fischer. Das ist die Leitlinie unserer Fischereipolitik. Dass diese Leitlinie
hundertprozentig richtig ist, kann am Beispiel der im
Nordostatlantik erreichten Bestandserholungen eindrucksvoll belegt werden. Für einen dauerhaft nachhaltigen Ertrag ist es aber notwendig, die von den Wissenschaftlern empfohlenen Fangmengen nicht mehr
mutwillig zu überschreiten!
Das ist aber immer noch nicht bei allen Beständen
der Fall. Laut Mitteilung der EU-Kommission wurden
aktuell bei 11 Prozent der Fischbestände im Nordostatlantik und seinen Nebenmeeren Nord- und Ostsee
Gesamtfangmengen oberhalb des Niveaus einer nachhaltigen Bewirtschaftung festgelegt. Im Jahr 2011 waren
es noch 23 Prozent und 2003 sogar 46 Prozent. Die
Richtung stimmt also. Aber es sind immer noch 11 Prozent zu viel!
Dass sich die Mäßigung auszahlt, kann man an der
Entwicklung des Anteils der überfischten Bestände ablesen: Er ist im Nordostatlantik und seinen Nebenmeeren
von 2005 bis 2012 von über 90 Prozent auf knapp die
Hälfte zurückgegangen. Viele Bestände erholen sich
also bereits. Das ist bei diesen Beständen auf eine strikte
Politik der vorübergehenden Fangzurückhaltung
zurückzuführen, auf die wir Grüne gegen erhebliche
Widerstände seit Jahr und Tag drängen.
Das Glas ist aber genauso halb voll, wie es halb leer
ist. Denn mit knapp der Hälfte ist das Maß der überfischten Bestände im Nordostatlantik und seinen Nebenmeeren immer noch erschreckend hoch. Noch erschreckender ist die Situation im Mittelmeer und im
Schwarzen Meer. Dort sind die Fortschritte erheblich
geringer: Lediglich 13 von 65 beurteilten Beständen
werden gemäß MSY und damit nachhaltig bewirtschaftet. 52 Bestände werden überfischt. Hier wirkt es sich offenbar aus, dass sich insbesondere Mittelmeeranrainer
bei den Quotenverhandlungen alljährlich gegen ein
Ende der Überfischung wehren. Die Quittung erhalten
sie und ihre Fischwirtschaft in Form von sinkenden
Fischereierträgen! Daraus sollte die Fischereipolitik
endlich ihre Lehren ziehen und die Politik der Überfischung stoppen!
Die deutschen Fischer merken mittlerweile, dass sich
die für sie durchaus schmerzliche Politik der Fangzurückhaltung der letzten Jahre, die bei ihnen ja auch
nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist, für sie allmählich auszahlt. Sie profitieren heute bei mehreren
Beständen von steigenden Fangmengen - mit der generellen Aussicht, dass die Fangmengen auch in Zukunft
hoch bleiben, wenn man weiter auf die Fangmengenempfehlungen der Fischereibiologen hört und die
Managementpläne einhält und nicht wieder dazu
übergeht, die wissenschaftlichen Empfehlungen zu
missachten.
Diese für die Fischerei positiven Ergebnisse sollten
eigentlich alle Fischer in der EU davon überzeugen,
endlich damit aufzuhören, von den Fischereiministern
höhere Fangmengen einzufordern, als die Fischereibiologen empfehlen. Und davon, dass es falsch ist, die EUFischereireform zu torpedieren, das Rückwurfverbot zu
durchlöchern und das Erreichen des maximalen Dauerertrags MSY auf die lange Bank zu schieben sowie den
Fischereirat zu drängen, weiterhin zu hohe Fangmengen
zu beschließen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir haben intensiv mit den Koalitionsfraktionen und
der SPD darüber verhandelt, wie die EU-Fischereipolitik reformiert werden muss, um die Überfischung zu
beenden. Ich gebe zu: Diese Verhandlungen haben zu
mehr Gemeinsamkeiten geführt, als ich mir am Anfang
erhofft habe. Wir konnten unsere Kollegen bei einigen
Punkten davon überzeugen, unsere Forderungen aufzugreifen. Dass wir mit verhandelt haben, das sieht man
vielen Formulierungen des Koalitionsantrages noch an.
Dass aber zum Beispiel die so zentrale Forderung
nach Einhaltung der wissenschaftlichen Empfehlungen
zu nachhaltigen Fangmengen durch den Fischereirat im
Koalitionsantrag immer noch fehlt, macht deutlich, wie
schwer sich Union und FDP mit einer konsequenten
Politik zur Beendigung der Überfischung immer noch
tun. Auch im Bereich der externen Dimension konnten
wir uns nicht einigen, sodass die Verhandlungen über einem möglichen gemeinsamen Antrag letztlich gescheitert sind.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/10783 zu drei Vorschlägen des Europäischen
Parlaments und des Rates für Verordnungen zur Reform
der gemeinsamen Fischereipolitik der EU, hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken
und Grünen angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10790 mit dem
Titel „Die Überfischung beenden - Vorschläge zur Reform der EU-Fischereipolitik überarbeiten“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP bei Enthaltung der Linken und Zustimmung der Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 29:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Dr. Konstantin von Notz, Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungsrechtlich gebotenen, rückwirkenden
Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften
- Drucksache 17/10769 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
In dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Gesetzentwurf zur verfassungsrechtlich gebotenen, rückwirkenden Übertragung ehebezogener Regelungen im
öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften fordern sie eine Rückwirkung des Geltungszeitraumes unseres Gesetzes von 1. Januar 2009 auf den 1. Januar
2001.
Ich möchte mich daher zuerst bei den Kolleginnen
und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen bedanken.
Immerhin steckt in Ihrem Antrag wenigstens ein verstecktes Lob an die Koalition. Ja, wir haben im Gegensatz zur rot-grünen Regierung, wie im Koalitionsvertrag
zwischen CDU/CSU und FDP vereinbart, die familienund ehebezogenen Regelungen im öffentlichen Dienstrecht per Gesetz vom 14. November 2011 auf Lebenspartnerschaften übertragen. Mit diesem Gesetz ist eine
vollständige Gleichstellung im Recht des öffentlichen
Dienstes des Bundes mit Wirkung vom 1. Januar 2009
erfolgt.
Das BVerfG hat uns also nicht, wie es bei Rot-Grün
bis 2005 notwendig gewesen wäre, wegen Untätigkeit
ermahnt, sondern lediglich die Rückwirkung bis zum
1. August 2001 weiter gefasst. Bevor ich Ihnen erläutere, warum wir den heute gestellten Antrag dennoch ablehnen, möchte ich einige grundsätzliche Anmerkungen
zur aktuellen Diskussion um die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften machen.
Natürlich diskutieren wir in der Union zum Beispiel
auch über das Für und Wider einer Einführung des Steuersplittings für homosexuelle Paare, wenn sie in einer
eingetragenen Partnerschaft leben. Aber gibt es mit der
Antwort auf diese Frage eine Lösung für das soziale
Kernproblem unserer Gesellschaft, nämlich eine historisch niedrige Geburtenrate von durchschnittlich
1,36 Babys pro Frau? Abermals wurde in dem jetzigen
Karlsruher Urteil darauf hingewiesen, dass es dem Gesetzgeber freisteht, die Ehe gegenüber anderen Beziehungsformen zu begünstigen. Hierfür bedarf es gemäß
dem Urteil jenseits des Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs.
1 Grundgesetz aber weiterhin eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der die Benachteiligung anderer
Lebensformen rechtfertigt. Mehrfach habe ich an dieser
Stelle darauf hingewiesen, dass die Weitergabe von
Leben ein solcher gewichtiger Sachgrund für mich
darstellt, der naturgemäß homosexuellen Paaren nicht
möglich ist.
Ich zitiere aus der Begründung des aktuellen Bundesverfassungsgerichtsurteiles:
In ihrer Eignung als Ausgangspunkt der Generationenfolge unterscheidet sich die Ehe zwar grundsätzlich von der Lebenspartnerschaft, da aus der
Beziehung gleichgeschlechtlicher Paare grundsätzlich keine gemeinsamen Kinder hervorgehen können. Dieser Gesichtspunkt kann jedoch nicht als
Grundlage einer unterschiedlichen Behandlung von
Ehegatten und Lebenspartnern herangezogen werden, da er in der gesetzlichen Regelung nicht hinreichend umgesetzt ist. Denn das geltende Recht
macht - im Unterschied zu früheren Regelungen 23556
Armin Schuster ({0})({1})
die Privilegierung der Ehe bzw. die Höhe des Freibetrags für Ehegatten gerade nicht vom Vorhandensein gemeinsamer Kinder abhängig.
Wenn wir dieses Urteil also richtig auslegen, geht es
darum, die Privilegierung der Ehe vom Vorhandensein
gemeinsamer Kinder gesetzlich abhängig zu machen.
Es geht mir nicht darum, einzelne Gruppen zu benachteiligen, es geht auch nicht in erster Linie um Steuerpolitik, sondern einzig darum, diejenigen in unserer
Gesellschaft besser zu unterstützen, die sich für Kinder
entscheiden. Das ist Familienpolitik im ureigensten
Sinne. Neben Familien mit Kindern fördert der Staat
heute auch Millionen kinderloser Ehepaare. Insgesamt
wenden wir 15 Milliarden Euro für das Splittingverfahren auf. Das würde ich über ein Familiensplitting sehr
gerne privilegiert Familien mit Kindern zukommen lassen. Die Vater-Mutter-Kind-Konstellation ist für uns
nach wie vor die beste, aber gleichwohl nur noch eine
Variante von vielen Lebensformen, in denen Kinder
heute geboren werden und aufwachsen. Deshalb sollten
wir bei den heute vielfältigen Lebensformen nicht die
Geschlechterfrage als gesetzlichen Privilegierungsgrund diskutieren. Das Kind muss unser Kompass sein.
Daher sollte das geltende Recht so verändert werden,
dass sich die steuerliche Privilegierung von Familien
am Vorhandensein gemeinsamer Kinder orientiert.
Jetzt zu den Gründen, warum wir den Antrag in der
vorliegenden Form ablehnen:
Die vom Bundesverfassungsgericht entschiedene erhebliche, rückwirkende Erweiterung von 2009 auf 2001,
wird, anders als im vorliegenden Antrag beschrieben,
gerade im Versorgungs- und Beihilferecht mit erheblichen Kosten verbunden sein. Deshalb geht es uns um
eine präzise Auslegung des Urteils, nicht um die Erfüllung eines Wunschkonzerts. Genau genommen hat das
Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet,
rückwirkend zum 1. August 2001 eine gesetzliche
Grundlage für die Gewährung des Familienzuschlags zu
schaffen. Wichtig ist: Das Gericht hat den Anspruch auf
den Kreis derjenigen begrenzt, die einen entsprechenden
Antrag zeitnah gestellt haben, ohne dass über ihren Anspruch schon abschließend entschieden worden ist, das
heißt die rückwirkende Gewährung betrifft nicht alle potenziellen Empfänger des Familienzuschlags der Stufe 1,
und sie erfolgt frühestens erst ab dem Haushaltsjahr, in
dem ein Antrag gestellt wurde.
Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen erstreckt die Rückwirkung demgegenüber auf alle ehebezogenen Regelungen im öffentlichen Dienstrecht, nicht
nur auf das Familienrecht, und auf alle eingetragenen
Lebenspartner und soll auch die belohnen, die nicht einen zeitnahen Antrag gestellt haben.
Insbesondere eine Erstreckung auf alle eingetragenen Lebenspartner ist sehr problematisch. Heute gestellte Ansprüche wären nicht durchsetzbar, da ihnen sowohl der Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung als
auch Verjährungsregelungen entgegenstehen. Durch
eine gesetzliche Regelung, die alle eingetragenen Lebenspartner erfasst, würde faktisch ein Verzicht auf den
Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung und auf die
Einrede der Verjährung erfolgen. Beides kann wegen
präjudizierender Wirkungen auf anhängige oder künftige Rechtsstreitigkeiten nicht in Betracht kommen. Auch
Grundsätze der sparsamen Haushaltsführung stehen
dem entgegen.
Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht damit
weit über die Vorgaben des BVerfG hinaus und ist abzulehnen.
In diesem Sommer ereignete sich in Karlsruhe ein
bisher leider altbekanntes Schauspiel - das Bundesverfassungsgericht erklärte einen Teil der Gesetzgebung
der Bundesregierung für verfassungswidrig. In diesem
Fall hatte das Gericht am 19. Juni dieses Jahres entschieden, dass die Ungleichbehandlung von eingetragener
Lebenspartnerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen
Familienzuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesoldungsgesetz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mit
dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
Grundgesetz ist.
Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet, den festgestellten
Verfassungsverstoß rückwirkend zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001 zu beseitigen.
Wieder einmal zeigte das Bundesverfassungsgericht
mehr Lebenswirklichkeit als die amtierende schwarzgelbe Bundesregierung. Die Gleichstellung von Schwulen und Lesben ist endlich umfassend in allen Bereichen
durchzusetzen.
Es war ein wichtiges Projekt der rot-grünen Bundesregierung, mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz 2001
gleichgeschlechtlichen Paaren die Verpartnerung zu ermöglichen. Das Gesetz war ein Meilenstein der Gleichstellung homosexueller Paare und sorgte für mehr Akzeptanz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.
Es hat vielen homosexuellen Menschen ermöglicht, ihre
Liebe offen und vom Gesetz gewürdigt und geschützt zu
leben.
Mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz sollten noch
weit mehr gleichstellende Regelungen umgesetzt werden, unter anderem auch im Beamtenrecht. Diese scheiterten aber an der fehlenden Zustimmung der CDU/
CSU-FDP-regierten Länder im Bundesrat.
Knapp zehn Jahre nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz legte auch die schwarz-gelbe Bundesregierung
endlich einen Gesetzentwurf vor, der ehebezogene Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften übertragen soll. Dieser Gesetzentwurf hat jedoch den Makel, dass die Regelungen nicht rückwirkend
zum 1. August 2001, also dem Tag des Inkrafttretens des
rot-grünen Lebenspartnerschaftsgesetzes, gelten.
Im federführenden Innenausschuss des Deutschen
Bundestages stellte die SPD-Fraktion in der abschließenden Beratung am 29. Juni 2011 den Änderungsantrag,
das Gesetz rückwirkend zum 1. August 2001 in Kraft zu
Zu Protokoll gegebene Reden
setzen. Der Änderungsantrag wurde mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen
die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Der uns heute vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellt ebenfalls die Forderung auf, die
gleichstellenden Regelungen rückwirkend zum 1. August
2001 in Kraft treten zu lassen. Dies begrüßen wir als
SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich, entspricht es
doch unserer Forderung vom vorvergangenen Sommer.
Es ist wirklich beschämend, wie die Bundesregierung
bei der Gleichstellung von homosexuellen Paaren zögert.
Obwohl im Koalitionsvertrag angekündigt wurde, die eingetragenen Lebenspartnerschaften der Ehe gleichzusetzen, hat das Kabinett Anfang des Monats entschieden,
dass es in dieser Legislatur keine steuerliche Gleichstellung beider Formen des Zusammenlebens geben werde.
Vorangegangen war ein Papier von 13 Abgeordneten
der CDU, in dem sie sich dafür aussprechen, eingetragene Lebenspartnerschaften im Steuerrecht der Ehe
gleichzustellen. Das kommt bei der CDU offenbar einem
Tabubruch gleich. Vor allem die CSU will an ihrem antiquierten Weltbild festhalten und lehnt eine Gleichbehandlung ab, auch der Bundesfinanzminister bremst.
Das Ergebnis ist die bereits erwähnte Kabinettsentscheidung.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird schnellstmöglich
eine Initiative für einen interfraktionellen Antrag zur
steuerlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partner mit Eheleuten in den Bundestag einbringen. Es darf
keine weiteren zehn Jahre dauern, bis auch in Deutschland die absolute Gleichstellung von Homosexuellen
Wirklichkeit ist.
Mit dem Gesetz zur Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften hat die christlich-liberale Koalition die
Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern mit
Ehegatten im Beamtenrecht vor zwei Jahren erfolgreich
umgesetzt. Neben anderen Anpassungen wie der Beihilfe
im Krankheitsfall haben verpartnerte Beamtinnen und
Beamte seitdem ein Anrecht auf Familienzuschlag nach
dem Bundesbesoldungsgesetz von etwa 108 bis 113 Euro
monatlich. Bis zum damaligen Zeitpunkt war der Zuschlag noch verheirateten Beamten vorbehalten.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 12. Juni 2012 weiteren Handlungsbedarf
in Bezug auf den Familienzuschlag aufgezeigt. Die
Gleichstellung im Beamtenrecht wurde 2011 mit Rückwirkung auf das Jahr 2009 von der Koalition beschlossen. Da gleichgeschlechtliche Paare aber schon seit
2001 eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen
können, soll nun auch die Rückwirkung auf 2001 ausgeweitet werden. Die zwischenzeitliche Ungleichbehandlung mit der Ehe ist verfassungswidrig. Gerne wäre das
Bundesjustizministerium bei der Rückwirkung einen
Schritt weiter gegangen. Am Ende steht in Koalitionen
aber nun einmal ein Kompromiss.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nimmt das Urteil zum Anlass zu einem unüberlegten Schnellschuss, den die Koalition nicht
mittragen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat in
seinem Urteil ganz klar bestätigt, dass die Rückwirkung
für diejenigen Beamten gelten soll, die einen zeitnahen
Antrag gestellt hatten. Demgegenüber bezieht der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die
Rückwirkung auch auf diejenigen Beamten, die den Familienzuschlag nicht beantragt hatten. Zudem weitet der
Gesetzentwurf die Rückwirkung auf alle die Ehe betreffenden Regelungen im Beamtenrecht aus, während sich
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur auf den
Familienzuschlag beschränkt.
Die Koalitionsfraktionen prüfen derzeit weitere
Verbesserungen bei der Gleichstellung eingetragener
Lebenspartnerschaften, die im von der rot-grünen Bundesregierung auf den Weg gebrachten Lebenspartnerschaftsgesetz unter den Tisch gefallen sind. Mit dem
Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner sind zahlreiche
Angleichungen im Zivil- und Strafrecht geplant. In dieser Legislaturperiode haben wir bereits bei Erbschaftund Grunderwerbsteuer, BAföG und im öffentlichen
Dienstrecht gleichgestellt und wollen verbleibende Herausforderungen mit der gleichen Sorgfalt behandeln.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wird der Herausforderung eines verantwortungsvollen
Umgangs mit den komplexen Fragestellungen nicht gerecht.
Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen ist
gut und richtig. Er erhält unsere volle Unterstützung.
Gleichzeitig ist er eine Ohrfeige für die Bundesregierung und die Arbeit der Regierungskoalition. Die Koalition ist in einem sehr desolaten Zustand, sodass sie
selbst dann nicht reagieren kann, wenn es ihr das
Bundesverfassungsgericht vorschreibt.
Zur Klarstellung: Nachdem die eingetragene
Lebenspartnerschaft 2001 wegen des Widerstands der
schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat nur als Ehe
zweiter Klasse eingeführt werden konnte, gab es eine
Reihe von Klagen bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht. Nun haben wir seit 2009 die Situation, dass das
Bundesverfassungsgericht die Gleichbehandlung der
eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe
dem Gesetzgeber ins Stammbuch schreibt. Zunächst
urteilte das Bundesverfassungsgericht zur Hinterbliebenenversorgung, später in weiteren Fällen der Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft.
Seitdem hält das Bundesverfassungsgericht in ständiger
Rechtsprechung fest, dass der grundgesetzliche Schutz
von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz nicht
dem Gleichheitsgrundsatz nach in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz entgegensteht. Im Gegenteil, aus dem Gleichheitsgrundsatz folgt, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft in allen Bereichen der Ehe gleichzustellen ist.
Dies gilt rückwirkend seit Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes zum 1. August 2001, wie es das Bundesverfassungsgericht zuletzt am 19. Juni 2012 in seiZu Protokoll gegebene Reden
nem Urteil zum Familienzuschlag im öffentlichen
Dienstrecht bekräftigte.
Die Koalition reagierte auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, aber eben nur unzureichend. Sie brachte 2010 einen Gesetzentwurf zum öffentlichen Dienstrecht ein, mit Rückwirkung ab dem
1. September 2009. Die Linke ebenso wie Bündnis 90/
Die Grünen und die SPD machten bereits damals im laufenden parlamentarischen Verfahren darauf aufmerksam, dass eine Rückwirkung ab 2001 notwendig ist, also
ab dem Jahr der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Die jetzige Situation ist beschämend für Regierung und Koalition.
Wenn sie nicht in der Lage sind, eigenständig zu handeln, sollten sie die Gelegenheit nutzen und wenigstens
dem Gesetzentwurf der Grünen zustimmen, um ein verfassungsgemäßes Dienstrecht zu haben, so wie es das
Bundesverfassungsgericht in Auftrag gegeben hat. Ich
wünsche mir endlich eine Regierung, die agiert und
nicht reagiert, wenn sie dies denn überhaupt tut. Die
Gleichbehandlung ist verfassungsmäßig geboten und
notwendig, und sie sollte eine Selbstverständlichkeit
sein.
Dies betrifft auch die Frage der Gleichbehandlung im
Steuerrecht und beim Adoptionsrecht. Dass die Bundesregierung auch beim Steuerrecht wieder nur das nächste
Bundesverfassungsgerichtsurteil abwartet, ist angesichts des absehbaren Urteils und der jüngsten Aufforderung des Bundesrats, endlich die Gleichbehandlung
im Steuerrecht umzusetzen, ein Skandal. Handeln sie
endlich.
Auch wenn es offenkundig noch homophobes Denken
in den Reihen der Koalition gibt, so wie es die Staatssekretärin im Bundesumweltministerium und Bundestagsabgeordnete Katherina Reiche am 17. August gegenüber der „Bild“-Zeitung zum Ausdruck brachte
- „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht
in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften“ - und
sogleich vom CSU-Abgeordneten Thomas Goppel auf
seiner Facebook-Seite unterstützt wurde, so kann dies
nicht die Verhinderung der Gleichbehandlung rechtfertigen. Wir als Gesetzgeber sind in der Pflicht, das Grundgesetz einzuhalten und die Gleichbehandlung sicherzustellen.
Am schnellsten und effektivsten wäre es, die Ehe für
Lesben und Schwule zu öffnen. Dies fordern alle drei
Oppositionsparteien. Dies sieht sogar das Programm
der FDP vor, und auch die Lesben und Schwulen in der
Union fordern dies. Es wäre ein notwendiger und richtiger Schritt, der der Wirklichkeit Rechnung tragen
würde.
Im Sommer dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen von der Koalition zweimal schwarz auf
weiß mitgeteilt, dass Ihre fortgesetzte Diskriminierung
von eingetragenen Lebenspartnerschaften ein Ende haben muss. Für den Bereich des öffentlichen Dienstrechts
legen wir Ihnen nun einen Gesetzentwurf vor, der die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzt und
allen Betroffenen die ihnen zustehenden Zuschläge
nachträglich gewährt.
Die Ende 2010 beschlossene Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften erfolgte rückwirkend ab dem 1. Januar 2009. Diese Begrenzung der Rückwirkung wurde
nun mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 2012 für verfassungswidrig erklärt.
Demnach ist der Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkend
zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der Lebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001 eine
gesetzliche Grundlage zu schaffen, die allen Beamtinnen
und Beamten, die ihre Ansprüche auf Familienzuschlag
zeitnah geltend gemacht haben, einen Anspruch auf
Nachzahlung des Familienzuschlags ab dem Zeitpunkt
seiner erstmaligen Beanspruchung einräumt. Diese Verpflichtung ist analog auf alle ehebezogenen Regelungen
im öffentlichen Dienstrecht zu übertragen. Unser Gesetzentwurf räumt den Familienzuschlag und andere
ehebezogene Regelungen allen Beamtinnen und Beamten rückwirkend ein.
Ich erwarte, dass wir diese Änderungen schnell im
Konsens dieses Hauses verabschieden können. Schließlich werden insbesondere die Kolleginnen und Kollegen
von CDU und CSU nicht müde, immer wieder zu betonen, dass sie die Urteile des Bundesverfassungsgerichts
achten und umsetzen wollen. Hier haben Sie Gelegenheit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen.
Meine Damen und Herren von der Koalition: Sie haben im August ein kleines Sommertheater aufgeführt.
Zunächst sah es so aus, als könnten sich auch in Ihren
Reihen Stimmen durchsetzen, die die Diskriminierung
von schwulen und lesbischen Paaren in diesem Land
endlich beenden wollen. Doch leider wurden wir eines
Besseren belehrt. Frau Reiche meinte, zu Protokoll geben zu müssen, dass „die Zukunft Deutschlands nicht bei
gleichgeschlechtlichen Paaren“ liege. Neben der EuroKrise sei die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstandes. Frau Reiche, selbst wenn
das richtig wäre, warum sollte dieser Befund etwas an
der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer Gleichstellung ändern? Sie haben es immer noch nicht verstanden: Schwul und lesbisch wird man nicht gemacht - man
ist es! Nicht Schwule und Lesben gefährden die demografische Entwicklung, sondern die schlechte Familienpolitik Ihrer Regierung, die lieber eine Herdprämie einführt, statt endlich die notwendigen Investitionen in die
Kinderbetreuung zu gewährleisten.
Und das Verfassungsgericht hat Ihnen mehrfach ins
Stammbuch geschrieben, dass die Ehe eben nicht gefördert wird, weil sie so viele Kinder hervorbrächte. Nein:
Es ist die gegenseitige dauerhafte, auch rechtlich verbindliche Verantwortung, die zwei Menschen füreinander übernehmen, die der Staat fördert. Und darin unterscheiden sich Ehe und Lebenspartnerschaft eben nicht.
Im Übrigen hat Ihnen das Gericht auch gesagt, dass
selbstverständlich auch in Lebenspartnerschaften Kinder aufwachsen, und zwar gut und gesund, wie Studien
unter anderem aus dem Justizministerium zeigen. Das
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
mag zwar Ihr enggefasstes biologisches Verständnis
übersteigen, ist aber Realität in Deutschland.
Die Gleichstellung von schwulen und lesbischen Paaren ist verfassungsrechtlich erforderlich und politisch
laut Umfragen von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht. Die richtige Konsequenz wäre die Öffnung der
Ehe für lesbische und schwule Paare. Nachdem der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP dies im
Sommer abgelehnt hat, müssen wir nun bis auf Weiteres
den mühsamen Weg der schrittweisen Angleichung weiter gehen. Unser heutiger Antrag ist ein weiterer, kleiner
Schritt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10769 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim
Pfeiffer, Andreas G. Lämmel, Thomas Bareiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
({1}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Herausforderungen der regionalen
Wirtschaftsstruktur meistern - GRW fortführen und EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Doris
Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ - Finanzierung langfristig sichern
- Drucksachen 17/9938, 17/5185, 17/10848 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Tobias Lindner
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
Wenn momentan über Wirtschaftspolitik diskutiert
und auch gestritten wird, dann geht es oft um die „großen Themen“ wie Energiewende oder die Euro-Stabilität.
Das Thema der regionalen Wirtschaftspolitik wird
manchmal vergessen. Ein Grund dafür konnte sein, dass
dabei weniger gestritten wird. An der Bedeutung des
Themas kann die mitunter mangelnde Aufmerksamkeit
kaum liegen. Denn Deutschland ist ein vielfältiges Land
mit starken Regionen. Die Mehrheit der Deutschen lebt
in ländlichen Regionen oder mittleren Städten. Das wirtschaftliche Geschehen in Deutschland konzentriert sich
nicht auf die eine Metropolregion. Die Vielfalt von Stadt
und Land spiegelt sich auch in der unterschiedlichen
wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen wider. Viele
Regionen sind von den Großtrends wie Strukturwandel,
Globalisierung oder der deutschen Einheit höchst unterschiedlich betroffen. Die regionale Wirtschaftspolitik
betrifft den Alltag vieler Bürger unseres Landes.
Das Grundgesetz verlangt die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Das zentrale
und bewährte Instrument dafür ist seit 1969 die BundLänder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ - GRW. Bund und Länder
unterstützen gemeinsam strukturschwache Regionen.
Das Hauptziel ist die Schaffung und Sicherung dauerhaft wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze durch die Förderung von gewerblichen Investitionen, Investitionen in
die wirtschaftsnahe Infrastruktur und gezielten Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner
und mittlerer Unternehmen. Die GRW zielt also auf die
Aktivierung der regionalen Wirtschaftskraft als Hilfe zur
Selbsthilfe ab.
Im Rahmen der regelmäßigen Evaluation der GRW
wird ihre positive Wirkung ständig bestätigt. Schwerpunkte der Förderung liegen eindeutig bei kleinen und
mittleren Unternehmen und bei Innovationen. Zwischen
2009 und 2011, also während des heftigsten Einbruchs
der Konjunktur in der Geschichte der Bundesrepublik,
führten 4,4 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bund
und Ländern zu 22,6 Milliarden Euro Investitionen von
Unternehmen, in der gewerblichen Wirtschaft wurden
über 65 400 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen und
circa 280 200 Dauerarbeitsplätze erhalten. Hohe Mittelabflüsse von über 90 Prozent belegen das hohe Interesse seitens der Bundesländer und der Unternehmen
vor Ort.
Die Herausforderungen für die regionale Wirtschaftspolitik sind groß:
Der demografische Wandel wirkt zuerst in ländlichen
und strukturschwachen Räumen, also in jenen Gebieten,
auf die sich die GRW-Mittel konzentrieren.
Die beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für die
nationale Regionalpolitik werden von der Europäischen
Kommission für die neue Förderperiode ab dem Jahr
2014 neu ausgerichtet. Diese Regeln werden festlegen,
wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch
gefördert werden darf.
GRW-Mittel stehen auch für die gewerbliche Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung „Konversion“. Die angelaufene Reform der Bundeswehr stellt eine neue Aufgabe für die GRW dar.
Die Investitionszulage - I-Zulage - für Unternehmen
in Ostdeutschland wird Ende des Jahres 2013 auslaufen.
Der Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschen
Bundesländer ist bis zum Jahr 2019 befristet. Die Mittel
aus den europäischen Strukturfonds werden in Deutschland ab dem Jahr 2014 vermutlich ebenfalls erkennbar
zurückgehen, sodass der GRW eine höhere regionalpolitische Verantwortung zukommt.
Die europäischen Strukturfonds werden ab 2014 neu
fokussiert.
Momentan werden die Weichen dafür gestellt, dass
die GRW effektiv und flexibel zur Stärkung der Regionen
im Standortwettbewerb beitragen kann und auch die
strukturschwachen Regionen ihren Anteil am gesamtdeutschen Wirtschaftswachstum leisten können.
Die christlich-liberale Koalition steht zur GRW als
zentrales Instrument der regionalen Wirtschaftspolitik.
Wir stehen aber auch zur Schuldenbremse; daher musste
auch die GRW ihren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Im Gegensatz zu mancher Vorgängerregierung haben wir die GRW aber nicht als haushälterischen Steinbruch genutzt. Außerdem haben wir in den
parlamentarischen Haushaltsberatungen dieser Legislaturperiode den Regierungsvorschlag stets ein wenig
zugunsten der GRW verschoben. Diese Notwendigkeit
sehe ich auch in den aktuellen Beratungen für den Haushalt 2013. Hier werde ich mich mit vielen Kollegen für
eine bessere Mittelausstattung der GRW einsetzen.
Im Rahmen der Haushaltsmittel und der Schuldenbremse steht diese Koalition zur Fortführung des Haushaltstitels der GRW auf bestehendem, hohem Niveau
und zu einer finanziellen Ausstattung, dass sie strukturell wirksam bleibt und die neue Aufgabe der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften entsprechend gewürdigt wird. Weiterhin erwarten wir von den
Bundesländern, dass sie die paritätische Kofinanzierung
durch Landesmittel sicherstellen. Die GRW ist eine Gemeinschaftsaufgabe.
Tiefgreifende Entscheidungen für die regionale Wirtschaftspolitik in Deutschland werden momentan auf
EU-Ebene vorbereitet. Innerhalb des Europäischen
Parlamentes ist das Verhandlungsmandat für weitere
Gespräche zur Fortsetzung der Kohäsionspolitik abgestimmt. Der Trilog aus Parlament, Europäischer Kommission und dem Europäischen Rat hat nun begonnen.
In diesen Verhandlungen unterstützen wir die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Regionalleitlinien der Europäischen Union. Es
muss faire und wirksame Übergangsregelungen für Regionen geben, die ihren Status als A-Fördergebiet verlieren. In Deutschland betrifft dies konkret die Unterstützung des Angleichungsprozesses der ostdeutschen
Bundesländer. Entsprechend dem Grundsatz der Subsidiarität müssen auch künftig nationale Spielräume zur
wirkungsvollen Förderung strukturschwacher Regionen
in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestehen. Dies betrifft auch die Förderung strukturschwacher
Regionen in Westdeutschland.
Wir bestärken daher die Bundesregierung in den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Leitlinien der
Regionalpolitik der Europäischen Union im ihrem Einsatz unter anderem für die Verlängerung der Übergangsperiode für Ex-A-Gebiete bis 2020, die Begrenzung des Fördergefälles zu Höchstfördergebieten auf
15 Prozentpunkte und die Fördermöglichkeit von Großunternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten.
Auch bei den Verhandlungen über die zukünftige Kohäsionspolitik unterstützen wir die Bundesregierung.
Insbesondere begrüßen wir, dass die Strukturfonds verstärkt auf die Ziele der Strategie Europa 2020 ausgerichtet werden und damit Wettbewerbsfähigkeit und
nachhaltiges Wachstum vorantreiben. Dabei muss die
Kohäsionspolitik weiter auf das Vertragsziel, den Abbau
regionaler Entwicklungsunterschiede, ausgerichtet bleiben. Wir brauchen einen effizienten und zweckmäßigen
Einsatz der EU-Mittel in allen Staaten. Daran hat es in
den letzten Jahren oft gefehlt, wie wir heute sehen können. Von daher ist die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene thematische Ausrichtung und Konzentration der künftigen Kohäsionspolitik in weiten
Teilen sinnvoll. Allerdings müssen den Regionen dabei
Spielräume verbleiben, um den spezifischen regionalen
Bedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen zu
können.
Ich werbe um die Zustimmung aller Fraktionen des
Bundestages. Die regionale Wirtschaftspolitik verdient
unser aller Unterstützung, gerade bei den Verhandlungen in Brüssel.
Viele Abgeordneten hier im Haus wollen das Gleiche,
nämlich über die im Jahre 1969 eingeführte Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, gleichwertige Lebensverhältnisse auch in unserem seit 1990 größer
gewordenen Land herbeizuführen. Aber leider konnten
sich die Koalitionsfraktionen nicht überwinden, zusammen mit uns gemeinsam einen Antrag zu formulieren,
der dieses Ziel auf hohem Niveau auch weiterhin verfolgt. 15 Monate dauerte es, bis die Koalitionsfraktionen
schließlich ihren eigenen Antrag vorlegten. Ärgerlich
für die Koalition war nur, dass inzwischen der Finanzplan 2013 von der Bundesregierung vorgelegt wurde,
der vorsah, die Mittel für die GRW um 60 Millionen
Euro zu kürzen.
Aber dann kam der Antrag der Koalition. Und plötzlich hatte man entdeckt, dass durch die Bundeswehrreform ehemalige Bundeswehrstandorte umgewidmet werden müssen und solche Vorhaben auch erhebliche
Kosten verursachen. Um diese für die betroffenen Gemeinden verträglich, vor allem bezahlbar zu gestalten
und auch die Länderhaushalte nicht zu stark zu belasten,
können jetzt Kosten der Konversion in den Fördergebieten über die Mittel der GRW finanziert werden. Das ist
zwar nicht ganz fair gegenüber den Ländern, die schon
seit Jahren erheblich Mittel in Konversionsstandorte haben fließen lassen. Rheinland-Pfalz hat über 600 Konversionsgebiete finanziert und dabei eine große Kompetenz erlangt, und das alles ganz ohne anteilige
Unterstützung durch die GRW.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde es gut, dass
jetzt Mittel der GRW auch für die Umwidmung von ehemaligen Bundeswehrstandorten zur Verfügung stehen.
Für diese neue Aufgabe haben Sie die Mittel der GRW
Zu Protokoll gegebene Reden
dann doch nicht um 60 Millionen Euro, sondern „nur“
um 27 Millionen Euro gekürzt. Und uns wollen Sie vorrechnen, dass Sie die Mittel für die GRW sogar aufgestockt haben! Das nenne ich die fünfte Grundrechenart:
zuerst kräftig kürzen, dann wieder etwas drauflegen und
dann sich feiern lassen für die angebliche Mittelerhöhung des Titels. Genauso hat es schon der Städtebauminister Ramsauer mit den Geldern für das Projekt „Soziale Stadt“ gemacht.
Wenn Sie so weitermachen, erklären Sie noch den
Leichtgläubigen unter den Kollegen, dass 569 Millionen
Euro mehr sind als 596 Millionen Euro, weil ja auf die
ursprünglich geplanten Mittel von 539 Millionen Euro
27 Millionen Euro draufgelegt wurden, also der jetzige
Ansatz höher ist.
Dabei wäre doch Geld da gewesen, die GRW-Mittel
zumindest auf der Höhe des Ansatzes von 2012 zu halten. Denn im kommenden Jahr läuft die Investitionszulage aus. Die GRW stellt dann das einzige Instrument
des Bundes für die regionale Wirtschaftsförderung dar.
Nach wie vor haben die neuen Bundesländer und auch
die strukturschwachen Gebiete in Westdeutschland ein
großes Interesse, Wettbewerbsnachteile gegenüber den
Ballungszentren und Metropolregionen auszugleichen,
wozu die zusätzlichen Mittel aus der I-Zulage hätten dienen können.
Aber jetzt ist die I-Zulage weg, und die GRW-Mittel
sind um 27 Millionen Euro gekürzt. Hinzu kommt, dass
Sie Großunternehmen fördern wollen. Wollen Sie wirklich damit riskieren, dass Ansiedlungen nach Förderhöhe
vorgenommen werden? Sollen andernorts Arbeitsplätze
abgebaut werden - so wie wir es von Standortverlagerungen auch renommierter Firmen kennen? Sollen dann
die vielen erfolgreichen Investitionen und Unternehmensgründungen zukünftig nicht mehr erfolgen können,
weil es die bisherige finanzielle Unterstützung wegen der
Großprojekte nicht mehr gibt? Können Sie das wirklich
verantworten?
Gleichzeitig hört man Gerüchte, wonach bei der
nächsten Förderperiode einige Bundesländer, und zwar
auch Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, nicht
mehr in die GRW-Förderung gelangen. Was ist hier Ihre
Gegenstrategie, wenn Ihre Kanzlerin demnächst mit
Kommissar Almunia zum Gespräch zusammentrifft?
Wahrscheinlich gibt es keine, und darüber hinaus gehen Sie ja davon aus, dass die Mittel aus den europäischen Strukturfonds für Deutschland ab 2014 erkennbar
zurückgehen. Da dürfen wir gespannt sein, wie Sie die
Weichen stellen und mit gekürzten GRW-Mitteln „effektiv und flexibel zur Stärkung der Regionen“ beitragen
wollen.
In einigen Tagen wird der Unterausschuss für regionale Wirtschaftspolitik eine Delegationsreise zu Förderschwerpunkten in Rheinland-Pfalz und in NordrheinWestfalen durchführen. Sicherlich werden wir dort gute
Beispiele vorfinden, wie die Mittel aus der GRW eingesetzt wurden und werden, um für Wachstum und Arbeitsplätze zu sorgen.
Wenn wir Sozialdemokraten in Zeiten von Schuldenbremse und Einsparungen trotzdem darauf bestehen,
dass die Mittel für die GRW nicht angetastet werden,
dann deshalb, weil wir genau wissen, wie zielsicher
diese Mittel wirken. Ich will an dieser Stelle nochmals
darauf hinweisen: Die zur Verfügung gestellten GRWMittel lösen im Durchschnitt mehr als das Sechsfache an
Investitionen aus, es gibt einen Beschäftigungszuwachs
von knapp 5 Prozent, und auch die Löhne steigen beachtlich, nämlich um 6 Prozent - und das alles in einem
Zeitraum von gerade einmal drei Jahren.
Das ist eine Erfolgsmeldung, auf die wir alle stolz
sein können. Deshalb verstehen wir nicht, wieso Sie wider besseres Wissen dann doch einer so dramatischen
Kürzung von 27 Millionen Euro zustimmen konnten und
gleichzeitig diesen Bundestagsantrag vorlegen.
Wir alle wissen, wie wichtig es ist, die regionale Wirtschaftsstruktur zu erhalten und zu verbessern. Mit Blick
darauf, ist die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ein
äußerst erfolgreiches Mittel, um strukturschwache
Regionen bei der Bewältigung der Herausforderungen
im Zuge des Strukturwandels zu unterstützen.
Als zentrales Element der deutschen Regionalpolitik
kommt der GRW eine besondere Bedeutung für das
Wachstum in strukturschwachen Regionen in Deutschland zu.
Und offenbar wird dieses Instrument gerne und rege
angenommen - die hohen Mittelabflüsse von über
90 Prozent belegen das große Interesse der Bundesländer und Unternehmen.
Zukünftig steht die Regionalpolitik in Deutschland
vor großen Herausforderungen: Der demografische
Wandel, der sich vornehmlich in ländlichen und strukturschwachen Regionen auswirkt, das Auslaufen der Investitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland
oder auch die Neuausrichtung der beihilferechtlichen
Rahmenbedingungen für die nationale Regionalpolitik
durch die Europäische Kommission für die neue Förderperiode ab 2014 - alles dies erfordert eine weitere
Stärkung der GRW, damit diese effektiv und flexibel zur
Stärkung strukturschwacher Regionen beitragen kann.
Die Bedeutung der GRW und ihre erfolgreiche Bilanz
sprechen für sich. Und genau aus diesem Grund wird sie
beständig weiterentwickelt und aktuellen Entwicklungen
und Herausforderungen angepasst.
Eine dieser neuen Herausforderungen der ländlichen
Räume ist sicherlich auch die angelaufene Reform der
Bundeswehr. Die gewerbliche Umwidmung ehemaliger
Bundeswehrstandorte wird zu einer neuen Aufgabe für
die GRW werden.
In meinem Wahlkreis befindet sich zum Beispiel ein
Bundeswehrstandort, der im Zuge der Reform geschlossen wird. Dies stellt die Region - vor allem aus wirtschaftlicher Sicht - vor große Herausforderungen. Der
Einsatz von GRW-Mitteln wäre dort deshalb sicherlich
Zu Protokoll gegebene Reden
sinnvoll. Mit dem Antrag möchten wir daher unter anderem auch signalisieren, dass die Grundvoraussetzungen
für den Einsatz bzw. Abruf der Mittel von unserer Seite
aus klar sind.
Die Zuteilung der GRW-Mittel für die Konversion der
Bundeswehrstandorte fällt jedoch in den Zuständigkeitsbereich der Länder. Daher liegt es nun an ihnen, diese
Mittel abzurufen und zu prüfen, ob sie in ein Infrastrukturprojekt wie die Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte investiert werden sollen.
Wir können und möchten an dieser Stelle an die
Länder appellieren, dies zu tun; denn die zivile Nutzung
bisheriger Militärstandorte stellt einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dar. Dies wird zum
Beispiel mit Blick auf die Umwidmung des ehemaligen
Bundeswehrstandorts Mönchengladbach deutlich, auf
dessen Terrain eine erfolgreich arbeitende Schienenteststrecke angesiedelt wurde.
Die GRW ist eine äußerst wirkungsvolle Maßnahme,
um die wirtschaftliche Basis in den strukturschwachen
Regionen Deutschlands zu stützen. Wir freuen uns daher
sehr, dass die Bundesregierung dem Erfolg und der
Wichtigkeit der GRW Rechnung trägt und in ihrem Eckwertebeschluss eine Erhöhung des Mittelansatzes für
2013 angekündigt hat.
Mit unserem Antrag wollen wir die hohe regionalpolitische Verantwortung der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ betonen und begrüßen, dass sie auf
dem bestehend hohen Niveau fortgeführt und finanziell
so ausgestattet werden soll, dass sie strukturell weiterhin so wirksam und erfolgreich bleibt, wie sie ist.
Strukturschwachen Regionen muss durch gezielte Regionalpolitik geholfen werden. Ziel ist die Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Dafür steht die Linke wie keine andere Partei - nicht zuletzt
mit ihren Forderungen nach der Angleichung des niedrigeren Rentenwerts in Ostdeutschland an den Rentenwert
West sowie nach der Anhebung der ostdeutschen Löhne
und Gehälter bei gleicher Arbeitszeit an das westdeutsche Niveau.
Zu den wichtigen Instrumenten der Regionalpolitik in
Deutschland gehört neben den europäischen Strukturfonds EFRE und ESF die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW. Verfassungsrechtlich geregelt ist das im
Grundgesetz in Art. 91 a.
Nun enden nächstes Jahr die Investitionszulage für
Unternehmen in Ostdeutschland und die aktuelle Förderperiode. Ab 2014 gibt es neue EU-Vorgaben. Deshalb will die Bundesregierung „GRW fortführen und
EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert gestalten“, wie
der Titel des Koalitionsantrages so schön lautet. Es
kommt aber auf die Inhalte an! Da sagen wir: Der solidarischen Grundidee der Kohäsions- und Regionalpolitik treu bleiben, nicht wie die Regierung die Kohäsionsund Regionalpolitik zum bloßen Umsetzungsinstrument
für neoliberale Ambitionen machen!
Leider wurde diese ursprüngliche Förderphilosophie
vielfach schon ins Gegenteil verkehrt: Statt die Schwächen der Regionen anzugehen, werden sogenannte
Leuchtturmprojekte vorangetrieben. Die ländlichen Regionen in der Fläche bleiben auf der Strecke.
Wir sind der Meinung, dass es auf den gezielten Ausbau der Eigenarten und Entwicklungspotenziale der
Regionen ankommt. Die Bundesregierung hat nur Wettbewerbsfähigkeit im Blick: Für Unternehmen mit überregionalem Absatz sollen die Investitionskostenzuschüsse der GRW ein Ausgleich für Standortnachteile
bei Investitionen in den GRW-Fördergebieten sein.
Doch gerade auch in der Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe steckt eine Chance. So kann Lebensqualität auch dort gesichert werden, wo unter aktuellen
Bedingungen kein „Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung“, wie es die Koalition in ihrem Antrag nennt, möglich ist.
Will man die regionale Kaufkraft stärken und Maßstäbe setzen, ist es wichtig, dass nur solche Unternehmen oder Projekte gefördert werden, die Tarifverträge
einhalten, Mindestlöhne zahlen und ökologische Standards sicherstellen. Das allein wird nicht reichen. Es
muss weiter gedacht werden! Mit den Geldern muss der
sozialökologische Umbau vorangetrieben werden. Außerdem sollen die ohnehin nicht allzu üppig bemessenen
Gelder neben dem Ausbau einer leistungsfähigen kommunalen Infrastruktur und der sogenannten nichtinvestiven Fördertatbestände auf die Förderung von kleinen
und mittleren Unternehmen konzentriert werden. Die
Regierungskoalition hingegen spricht in ihrem Antrag
von der „Förderfähigkeit von Unternehmensinvestitionen auch außerhalb der KMU“ und meint damit die
Förderung von Großunternehmen. Wir meinen, dass wir
solche Abhängigkeiten nicht schaffen sollten, siehe Nokia.
Auf EU-Ebene fordern wir, dass sich die Bundesregierung für folgende drei Punkte einsetzt:
Erstens darf die Kohäsionspolitik nicht zu einem bloßen Umsetzungsinstrument der Europa-2020-Strategie
verkommen. Sie ist ein eigenständiger Politikbereich mit
eigenen Zielsetzungen, und das muss sie auch bleiben.
Zweitens muss die Weiterentwicklung der EU-Strukturförderung den Erfordernissen des Klimaschutzes und
der Energiewende gerecht werden, sie muss den ökologischen Umbau und den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge stimulieren, sie muss eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Bildung, gute und nachhaltige
Arbeit und die Gleichstellung der Geschlechter fördern
sowie den demografischen Wandel bewältigen helfen.
Außerdem muss das Bruttoinlandprodukt als Hauptkriterium für die Bestimmung der Förderungswürdigkeit
von Regionen um soziale und ökologische Indikatoren
ergänzt werden.
Die EU-Kommission plant, Mitgliedstaaten mit einem
teilweisen Entzug von Mitteln aus den Strukturfonds zu
bestrafen, wenn sie sich einem Defizitverfahren aufZu Protokoll gegebene Reden
grund der Verletzung der Maastricht-Kriterien unterziehen müssen. Diese Idee ist sofort zu verwerfen. Denn so
würden Regionen für die Haushaltspolitik der Nationalstaaten bestraft, für die sie keine Verantwortung tragen.
Hinzu kommt, dass durch den Entzug von Fördergeldern
die haushalts- und fiskalpolitischen Schwierigkeiten des
jeweiligen Staates verschlimmert werden.
Die Linke will Angleichung wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und
Regionen in der EU. Die Linke will gleichwertige Lebensbedingungen in Deutschland. Wir fordern ausreichend Mittel für die Kohäsionspolitik der EU und die
GRW auf nationaler Ebene. Außerdem fordern wir die
Weiterentwicklung der regional- und strukturpolitischen
Instrumente Richtung sozial-ökologischer Umbau.
Schließlich fordern wir, dass Wirtschafts- und Sozialpartner, Nichtregierungsorganisationen sowie regionale
und lokale Akteure die Regionalplanung mitgestalten.
Viele Regionen in Deutschland stehen gut da, manche
müssen jedoch auch kämpfen. Dort, wo die Wirtschaftskraft fehlt, müssen wir Hilfestellung leisten, um den
Menschen ein gutes Auskommen zu sichern. Der Ansatz
von uns Grünen liegt darin, die Struktur einer Region so
zu verbessern, dass die Wertschöpfung gesteigert wird
und durch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung
neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Durch die Reform der europäischen Strukturfonds
werden für Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach
weniger Mittel zur Verfügung stehen. Dadurch wird die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ für unsere ländlichen Regionen
umso wichtiger werden. Wir brauchen eine starke GRW
mit einer guten finanziellen Ausstattung. Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung sieht für 2013 eine Ausstattung der GRW von knapp 570 Millionen Euro vor.
Die brauchen wir auch, um zukunftsfähige Unternehmen
beim Auf- und Ausbau zu unterstützen, damit sie Werte
schaffen und langfristig zum Wohlstand einer Region
beitragen können; gerade wenn man bedenkt, dass nach
dem Auslaufen der Investitionszulage, die ja nur auf die
ostdeutschen Bundesländer zugeschnitten ist, ab 2014
die GRW das einzige Instrument des Bundes für regionale Wirtschaftsförderung ist. Insbesondere kleine und
mittlere Unternehmen bedürfen dieser Unterstützung.
In seinem Bericht zur Deutschen Einheit im Rahmen
der gestrigen Regierungsbefragung wies Bundesinnenminister Friedrich darauf hin, dass es in Ostdeutschland
eine Herausforderung besonderer Art gäbe, nämlich
eine nach wie vor unterentwickelte Innovationsfähigkeit
im Bereich der Wirtschaft. Diese sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass wir es dort mit einer sehr
kleinteiligen Wirtschaftsstruktur und mit zum Teil nicht
nur mittelständischen, sondern auch sehr kleinen Unternehmen zu tun hätten. Diese kleinen und Kleinstunternehmen bräuchten, was ihre Innovationskraft anginge,
Unterstützung und bekämen diese natürlich auch durch
staatliche Hilfen. Weiterhin stellte er fest, dass es sehr
unterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenen
Regionen und auch in den einzelnen Wirtschaftszentren
gäbe. Es gäbe zwar auch Boomregionen, aber, und da
sollten wir uns nichts vormachen, es gäbe auch sehr
viele strukturschwache Gebiete.
Wenn die Bundesregierung diese Einschätzung hat,
dann ist sie meines Erachtens auch gut beraten, mit den
zur Verfügung stehenden Instrumenten dort anzusetzen.
Angesichts des Verfassungsauftrages, dem wir uns alle
verpflichtet fühlen sollten, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen Deutschlands anzustreben, muss
diesen strukturschwachen, meist ländlich geprägten Gebieten die besondere Aufmerksamkeit der Wirtschaftsförderung gelten.
Bei der Entwicklung strukturschwacher ländlicher
Regionen setzen wir Grüne besonders auf den Dreiklang
der Akteure aus dem Mittelstand, dem Handwerk und
der bäuerlichen Landwirtschaft; denn dort, wo qualifizierte Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen, wo lokale Initiativen unterstützt und aktiviert werden, dort
entstehen Wertschöpfung und Lebensqualität. Den kleinen und mittelständischen Unternehmen kommt in ländlichen Strukturen eine besondere Bedeutung als Arbeitgeber, Ausbilder und im besten Fall als Identitätsstifter
zu. Deshalb setzten wir uns auch für eine ausschließliche Förderung der Unternehmensinvestitionen von
KMUen ein. Die Förderung von Großunternehmen lehnen wir ab.
Ein verantwortungsvoller und effizienter Umgang mit
Fördergeldern muss eine Selbstverständlichkeit sein.
Deshalb muss die strukturelle Wirksamkeit von Maßnahmen sichergestellt werden. Zwei Voraussetzungen sind
dabei von großer Wichtigkeit: Erstens muss ein Mindestmaß an Verwaltungs- und Finanzmanagement in der Region vorhanden sein. Deshalb unterstützen wir, entgegen
der Koalitionsparteien, die Ex-ante-Konditionalität.
Zweitens müssen die bürokratischen Hürden und Kosten
verringert werden.
Was die Koalition uns als „better spending“ verkaufen will, klingt auf den ersten Blick nicht schlecht: verbesserte Ausgabebedingungen, um die gleichen Ziele
mit weniger Mitteln erreichen zu können. In Wahrheit
verbirgt sich dahinter einfach nur eines: weniger Geld
für die deutschen Regionen, insbesondere für die ehemaligen Konvergenzregionen. Dass wir eine solche Mogelpackung nicht unterstützen, versteht sich ja wohl von
selbst.
In der Vergangenheit konnten wir mit der GRW viel
bewegen. So wurden in der Förderperiode 2007 bis
2009 mit den 4,1 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von
Bund und Ländern 26,2 Milliarden Euro Investitionen
generiert bei einem Beschäftigungszuwachs von
4,6 Prozent. Ich denke, wir alle teilen ein Ziel: Wir wollen, dass starke Regionen ihren Wohlstand erhalten und
festigen, und wir wollen, dass schwache Regionen sich
weiterentwickeln können. Dafür müssen die Mittel der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ verstetigt und verantwortungsvoll
eingesetzt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/10848. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/9938. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der SPD
auf Drucksache 17/5185. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel,
Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurücknehmen
- Drucksachen 17/9036, 17/9474 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert im vorliegenden Antrag, den Vorbehalt der Bundesregierung
gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem SGB II zurückzunehmen. Sie sind der Ansicht,
dass mit diesem Vorbehalt ein Angriff auf die europäische Solidarität erfolge. Zudem stelle man sich damit
gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Sie sind
der Meinung, dass alle Personen, die sich zum Zwecke
der Arbeitssuche nach Deutschland begeben, dieselben
Leistungen erhalten müssen wie deutsche Arbeitsuchende bzw. sogenannte Aufstocker. Diese Grundsicherung nach dem SGB II, also das Arbeitslosengeld II, erhalten übrigens tatsächlich alle ausländischen Staatsbürger, die in Deutschland erwerbstätig sind, sobald
ihre Einkünfte für den Lebensunterhalt nicht mehr ausreichend sind. Dass man aber durchaus differenzieren
kann und muss, verlieren Sie dabei aus den Augen.
Nun verhält es sich so, dass Zuwanderung nach
Deutschland schon eine längere Tradition hat. Sie wird
von der Unionsfraktion gerade mit Blick darauf sehr begrüßt und gefördert, unseren enormen Fachkräftebedarf
zu sichern. In diesem Zusammenhang darf ich auf die
zum 1. Juli dieses Jahres erfolgte Einführung der sogenannten Bluecard hinweisen. Mit der Umsetzung der
EU-Hochqualifiziertenrichtlinie, also der Blauen Karte
Deutschland, haben wir in unserem Aufenthaltsrecht ein
Instrument geschaffen, mit dem wir qualifizierte Fachkräfte gezielt ansprechen. Wir ermöglichen ihnen einen
schnellen und unkomplizierten Einstieg in unseren Arbeitsmarkt. Der Adressatenkreis ist klar definiert. Die
Anforderungen sind transparent und unbürokratisch.
Neben dem Nachweis eines Hochschulabschlusses ist
die Einhaltung von Mindestgehaltsgrenzen notwendig.
Dies lässt Spielraum für Berufseinsteiger und Arbeitgeber, ohne jedoch Dumpinglöhne zuzulassen.
Daneben hat die Bundesregierung zu ihrem Meseberger Fachkräftegipfel im vergangenen Jahr ein umfassendes Fachkräftekonzept vorgestellt. Dieses Konzept haben
Wirtschaft und Gewerkschaften zusammen mit der Bundesregierung in einer „Gemeinsamen Erklärung zur Sicherung der Fachkräftebasis“ bekräftigt. Sie sehen also: Nicht
nur die Union, sondern auch unsere Regierung steht Seit
an Seit mit unseren Sozialpartnern, wenn es um den Erhalt und den Ausbau unseres hervorragenden Arbeitskräftepotenzials in Deutschland geht.
Mit der zeitgleich gestarteten Fachkräfteoffensive
wendet sich die Bundesregierung auch an Fachkräfte im
Ausland. Über das Internetportal „Make-it-in-Germany.com“ können sich interessierte ausländische Arbeitnehmer aus EU- und Drittstaaten über Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland informieren. Darüber hinaus
enthält das Portal zahlreiche Informationen über Leben,
Wohnen und Zukunftsperspektiven in Deutschland. Es
bietet in Zusammenarbeit mit der zentralen Auslandsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit und dem europäischen Portal zur beruflichen Mobilität, EURES, die
Möglichkeit, nach spezifischen Jobangeboten in
Deutschland zu suchen.
Das EURES-Netzwerk, also die grenzüberschreitende
Arbeitsvermittlung, wird übrigens auch verstärkt zum
Ziel der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt. Hierzu sind gemeinsame Konferenzen, Seminare
und ähnliche Kooperationen mit anderen EU-Ländern
geplant.
Ihr Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, die Bundesregierung würde mit ihrem Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen keine
Willkommenskultur für ausländische Arbeitnehmer
schaffen, läuft also völlig ins Leere. Er ist angesichts der
eben von mir dargestellten vielfältigen Programme und
Vernetzungen unserer Regierung mit unseren europäischen Nachbarländern sogar als absurd zu bezeichnen.
Im Übrigen leistet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
einen weiteren Beitrag dazu, den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften nach Deutschland zu erleichtern.
Denn gerade vor zwei Tagen hat unsere Fraktion einen
Antrag zu der EU-Richtlinie zur Anerkennung von Berufsqualifikationen beschlossen. Mit diesem Antrag wollen wir für unseren Arbeitsmarkt sowohl die erforderliche Mobilität erleichtern, als auch die bestehende
Qualität sichern. Wir verbessern damit die Freizügigkeit
in Europa, ohne dabei den Schutz unseres heimischen
Arbeitsmarktes aus den Augen zu verlieren.
Wir müssen aber auch den länderübergreifenden
Konsens berücksichtigen, wonach die EU-Mitgliedstaaten ebenso wie die Vertragsstaaten des Europäischen
Fürsorgeabkommens berechtigt sind, Vorkehrungen gegen einen ungeregelten Zugang in ihre jeweiligen nationalen Sozialleistungssysteme zu treffen. Die Steuerung
und rechtliche Zuordnung innerhalb dieser nationalen
Hilfssysteme gehört zu diesen Vorkehrungen. Im Europäischen Fürsorgeabkommen wird eben dieser Möglichkeit Rechnung getragen. Warum die Bundesregierung
das Einlegen dieses Vorbehalts für notwendig erachtete,
kann ich Ihnen gerne erklären. Sie wollte einfach erreichen, dass die nach Deutschland zugewanderten Bürgerinnen und Bürger aus den EU-Mitgliedstaaten nicht
schlechter gestellt sind als die Angehörigen der Staaten,
die das Europäische Fürsorgeabkommen unterzeichnet
haben. Genau dies würde nämlich denjenigen Unionsbürgern widerfahren, deren Staaten dieses Abkommen
nicht unterzeichnet haben. Das wollen wir nicht, und
deshalb ist der Vorbehalt gegen das Abkommen auch berechtigt. Uns ist die Gleichbehandlung aller EU-Bürgerinnen und -Bürger bei der Anwendung deutschen
Rechts ein wichtiges Anliegen.
Der Vorbehalt ist außerdem auch völkerrechtlich zulässig, was die Kollegen von den Grünen irrigerweise
bestreiten. Nach der Wiener Vertragsrechtskonvention
sind Vorbehalte Erklärungen von Staaten bei der Unterzeichnung, Ratifizierung, Annahme oder Genehmigung
eines Vertrages, die die Rechtswirkungen einzelner Vertragsbestandteile in Bezug auf eben diesen Staat ausschließen oder ändern. Der hier in Rede stehende Vorbehalt Deutschlands gegen das Europäische Fürsorgeabkommen folgt zum einen einer eigenen völkerrechtlichen Ermächtigung, und zwar aus Art. 16 des Europäischen Fürsorgeabkommens. Zum anderen richtet er sich
nicht gegen die Anwendung des Abkommens als solchem, sondern umgekehrt gegen die Anwendung deutschen Rechts auf das Fürsorgeabkommen. Im Verständnis der Wiener Vertragsrechtskonvention ist der Vorbehalt also vielmehr eine Erklärung Deutschlands zur
Anwendung des Vertrages im nationalen Recht.
Im Übrigen müssen Sie sich auch fragen lassen, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion, worauf
es Ihnen denn eigentlich ankommt. Geht es Ihnen wirklich darum, dass mit Einlegen des Vorbehalts eine Kostenverschiebung der Aufwendungen zu den Kommunen
stattfindet? Oder geht es nicht doch darum, dass wir
denjenigen Menschen, die in unserem Land leben und
arbeiten möchten, die dafür nötige Unterstützung bieten
können? Die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten des
Europäischen Fürsorgeabkommens erhalten zwar keine
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem SGB II. Stattdessen können sie im Bedarfsfall
einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
SGB XII stellen. Dieser Anspruch wird auch nicht durch
§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII wieder beseitigt. Danach bekommt derjenige keine Sozialhilfe zugesprochen, der allein zum Zweck des Aufenthaltsrechts oder der Arbeitssuche wegen nach Deutschland eingereist ist. Da
nämlich der Vorbehalt Deutschlands gegen das Fürsorgeabkommen nur zum SGB II erklärt wurde und nicht
zum SGB XII, besteht der Sozialhilfeanspruch für Angehörige eines Unterzeichnerstaates des Abkommens weiter.
Was Sie außerdem ganz verschweigen, ist die Tatsache der Mitnahmemöglichkeit von Arbeitslosengeldansprüchen. Nach dem EU-Recht zur Koordinierung der
sozialen Sicherheit haben alle Unionsbürger das Recht,
in ihrem Heimatland erworbene Ansprüche auf Zahlung
von Arbeitslosengeld für die Dauer von bis zu sechs Monaten mit nach Deutschland zu exportieren. Diese Menschen sind also zu einem guten Teil überhaupt nicht auf
Hilfen aus unserem Sozialleistungssystem angewiesen.
Ich bin sehr dafür, arbeitswilligen Immigranten bestmögliche Unterstützung in unserem Land anzubieten.
Aber wieso sollten manche doppelt abgesichert sein?
Eine Schlechterstellung gegenüber deutschen Bürgerinnen und Bürgern ist jedenfalls nicht zu erkennen.
Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass nicht nur in
rechtlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf Gerechtigkeits- und Gleichbehandlungsempfinden die jetzige
Situation für alle Beteiligten ausgewogen und gut begründet ist.
Deutschland kann sich ob seiner guten wirtschaftlichen und sozialen Situation glücklich schätzen, nicht
nur im europäischen, sondern auch im internationalen
Vergleich. Dazu haben viele beigetragen: Arbeitnehmer,
Arbeitgeber, aber auch die Bundesregierung, die letztlich die Rahmenbedingungen schafft. Unser Erfolgsmodell wollen wir weiter fortsetzen, aber auch andere
Länder mitziehen. Wir sind auf einem sehr guten Weg,
dass uns dies gelingen kann. Einige Beispiele hierfür
habe ich Ihnen vorhin genannt. Es gibt aber noch viel
mehr, was die Union und die Bundesregierung dabei unternehmen. Lassen Sie uns so weitermachen, und Sie
werden sehen, dass wir am Ende die Früchte unserer guten Arbeit ernten werden.
Das Thema Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen ist ein Trauerspiel. Es fing damit an, dass der
Bundestag gar nicht darüber informiert wurde, dass die
Bundesregierung einen solchen Vorbehalt eingelegt hat.
Nur durch findige Journalisten kam ans Tageslicht, dass
die Bundesregierung Zuwanderinnen und Zuwanderern
aus den Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens keine Leistungen nach dem SGB II mehr
gewährt, wenn sie ausschließlich zur Arbeitsuche nach
Deutschland kommen. Es ist ein Unding, dass ein so weit
reichender sozial- und europapolitischer Eingriff nur
mehr oder weniger durch Zufall überhaupt bekannt
wird. Ich fordere das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales auf, bei solchen Fällen in Zukunft den Bundestag vorab zu informieren. Denn schließlich ist der Etat
des BMAS für die Öffentlichkeitsarbeit eigentlich ganz
gut ausgestattet, sodass solche Vorgänge nicht verheimlicht werden müssten.
Die Reaktion in der Presse war zum Glück einhellig.
Selbst die Bundesagentur für Arbeit hat bestätigt, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
eigentlich in diesem Bereich kein Handlungsbedarf bestehe und Zuwanderung aus europäischen Ländern in
das deutsche Sozialsystem nur im Einzelfall auftrete. Ich
finde, es ist bezeichnend, wenn das Ministerium klammheimlich einen solchen Vorbehalt einlegt und noch nicht
einmal diejenigen, die in der Praxis damit zu tun haben,
fachlich nachvollziehen können, was eigentlich der Sinn
und Zweck des Vorbehaltes sein soll.
Ich freue mich daher darüber, dass der Vorbehalt
mittlerweile bereits in mehreren Urteilen und Beschlüssen von Sozialgerichten für nicht mit dem Europarecht
vereinbar bezeichnet wurde. Zudem sei der Vorbehalt
nicht auf Staatsangehörige der Unterzeichnerstaaten
des Europäischen Fürsorgeabkommens anwendbar. Insbesondere vor dem Sozialgericht Berlin und dem Sozialgericht Düsseldorf fielen hier mehrere Urteile. Auf
meine schriftliche Frage an das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales, wie die Bundesregierung diese Urteile bewertet, bekam ich als Antwort: „Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Vorbehalt einer
höchstrichterlichen Nachprüfung standhält.“ Nun habe
ich großes Vertrauen in unsere juristischen Beamtinnen
und Beamten in den Ministerien. Ich als Nichtjurist
möchte mir hier auch gar kein abschließendes Votum erlauben, aber ich finde es durchaus bezeichnend, dass
noch kein einziges Verfahren zugunsten der Rechtsauffassung der Bundesregierung ausgegangen ist. Alle Gerichte haben den Vorbehalt für nichtig erklärt; die Kläger erhalten wieder - wie zuvor - ihre Sozialleistungen.
Ich begrüße diese juristischen Entscheidungen aus europa- und aus sozialpolitischer Sicht ausdrücklich.
Mehrfach habe ich zudem das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales gefragt, wie viele Menschen eigentlich von diesem Vorbehalt betroffen seien. Noch in der
Ausschussdrucksache 17({0})881 vom April wird erklärt,
dazu lägen keine Daten vor. In der Antwort vom September auf meine schriftliche Frage vom August wird dann
angegeben, dass im Durchschnitt des Jahres 2011 rund
529 000 Personen aus EFA-Staaten in Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung für Arbeitsuchende registriert gewesen seien. Darunter fallen jedoch auch viele
Personen, die aufgrund eines anderen Aufenthaltsstatus
nicht vom EFA betroffen sind. Ich freue mich, dass es
nun doch Zahlen aus dem Ministerium gibt, nachdem
dies ja im April noch verneint wurde.
Für mich als jemanden, der sich viel mit Migration
innerhalb Europas beschäftigt, ist der Vorbehalt ein
trauriges Beispiel dafür, wie die EU zurück in nationalstaatliche Regelungen fällt. In sehr vielen Drucksachen
der Europäischen Union, die ja auch im Europäischen
Rat von der Bundesregierung mit beschlossen werden,
wird immer wieder die Bedeutung von Mobilität innerhalb der EU hervorgehoben. Es wird betont, wie wichtig
berufliche Erfahrungen im europäischen Ausland sind.
Zudem wird Mobilität als ein Weg aus der Wirtschaftskrise gesehen. Man darf Mobilität meiner Meinung nach
nicht überbewerten, denn wir werden wohl kaum nur mit
mehr Mobilität alle Menschen in der EU in Arbeit bringen. Wir dürfen jedoch nicht national durch solche Vorbehalte die Mobilität behindern und den Menschen den
Eindruck vermitteln, sie seien bei uns nicht willkommen.
Europaweit wird zudem immer wieder betont, wie
wichtig das Zusammenwachsen auch in der Sozialpolitik
sei. Es geht gar nicht darum, dass wir europaweit die
gleiche Sozialpolitik machen. Aber es geht darum, dass
unsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
wissen, dass sie sich in jedem Land auf das soziale Netz
verlassen können. Die Bundesregierung konterkariert
diese Bestrebungen durch den Vorbehalt.
Ich möchte noch auf eine weitere politische Debatte
aufmerksam machen - die Diskussion über die Fachkräfteentwicklung. Ich führe diese Debatte schon seit
langem, und ich gehöre gewiss nicht zu denen, die sofort
nach Zuwanderung rufen. Es geht immer erst um Ausbildung derjenigen Menschen, die schon in Deutschland leben. Aber wir dürfen in Zeiten, in denen wir auch auf
Zuwanderung angewiesen sind, nicht mit solchen Signalen das Gegenteil dessen bewirken, was mit der vielzitierten Willkommenskultur angestrebt wird. In Sonntagsreden wird betont, dass wir ein offener Staat mit einer
solchen Willkommenskultur sein wollen - und unter der
Woche wird dann ein Vorbehalt gegen das Europäische
Fürsorgeabkommen eingelegt. Das ermuntert sicherlich
niemanden, unbedingt nach Deutschland kommen zu
wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, die SPD-Fraktion unterstützt aus sozial- und europapolitischer Sicht den Antrag der Grünen. Für den weiteren Gang vor den deutschen Gerichten hoffe ich, dass der Vorbehalt weiterhin
für nichtig erklärt und dann vom BMAS aus Einsicht in
die Gerichtsurteile abgeschafft wird.
Die Bundesregierung hat mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen erklärt.
Damit macht die Bundesregierung von einer Möglichkeit Gebrauch, die ihr ausdrücklich zugestanden
worden ist. Schon im Europäischen Fürsorgeabkommen
ist ja die Möglichkeit der Äußerung eines Vorbehalts in
Art. 16 Buchstabe b gegeben. Daher macht der von
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag aus diesem
Vorbehalt eine unnötig große Sache.
Die positiven Möglichkeiten des europäischen Integrationsprozesses, nicht zuletzt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus 25 Ländern der Europäischen Union, haben sich in den vergangenen Jahren in
ihrer Wirkung entfaltet. Für diejenigen Personen aus
EU-Staaten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzen
und sich in Deutschland aufhalten und arbeiten, bestehen im Sozialgesetzbuch II seit Erklärung des Vorbehalts wieder einheitliche Regelungen.
Das Problem ist doch, dass das Europäische Fürsorgeabkommen, das lediglich 18 Staaten des Europarats
ratifiziert haben, diesen Regelungen entgegensteht. Dadurch ergibt sich zwangsläufig eine Ungleichbehandlung der in Deutschland lebenden EU-Bürger, deren
Länder das Europäische Fürsorgeabkommen ratifiziert
Zu Protokoll gegebene Reden
haben und den EU-Bürgern aus Ländern, die es nicht
ratifiziert haben.
Der Punkt ist doch der, dass das Europäische Fürsorgeabkommen, wenn es ohne Vorbehalt Geltung hätte, zu
einer Privilegierung von EU-Bürgern gegenüber anderen EU-Bürgern aus Ländern, die das Europäische Fürsorgeabkommen nicht ratifiziert haben, führen würde.
Diese Ungleichbehandlung entspricht jedoch nicht dem
Verständnis der christlich-liberalen Regierungskoalition vom europäischen Integrationsprozess.
Während das Europäische Fürsorgeabkommen für
Franzosen, Italiener und Spanier Anwendung finden
sollte, hätte es für Polen und Tschechen nicht gegolten.
Daher finde ich die Entscheidung der Bundesregierung,
einen Vorbehalt einzulegen, nachvollziehbar und richtig.
Mit dem erklärten Vorbehalt werden alle EU-Ausländer wieder gleich behandelt, ganz egal ob er oder sie
aus einem Unterzeichnerstaat des Europäischen Fürsorgeabkommens stammt oder nicht.
Für alle gilt nun wieder: In den ersten drei Monaten
des Aufenthalts besteht grundsätzlich kein Anspruch auf
Arbeitslosengeld II und, soweit der Aufenthalt allein
dem Zwecke der Arbeitssuche dient, besteht auch über
diese Frist hinaus kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Dies halte ich für eine sinnvolle Regelung. Ich
glaube auch nicht, dass die Erklärung des Vorbehalts
die Anwerbung qualifizierter Fachkräfte unterläuft, wie
Sie dies in Ihrem Antrag schreiben.
Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass Sie sich
für eine Regelung einsetzen, die Polen und Tschechen
diskriminiert. Mit solchen Regelungen der Ungleichbehandlung macht man keine Werbung für den Arbeitsmarkt in Deutschland.
Sodann glaube ich nicht, dass wir mit der Vorbehalterklärung Fachkräfte fernhalten. Das wäre ja nur dann
der Fall, wenn wir ihnen unterstellten, dass sie von
vornherein nach Deutschland kommen, um direkt
ALG II zu erhalten. Das halte ich für lebensfremd. Ich
gehe hingegen davon aus, dass Menschen, die als Fachkräfte zu uns kommen, bereits einen Arbeitsvertrag haben und nicht auf Sozialleistungen aus sind.
Im Übrigen hat diese Bundesregierung eine Menge
für die Erleichterung der Zuwanderung nach Deutschland getan. Ich möchte an dieser Stelle nur an die Einführung der Bluecard für Hochqualifizierte erinnern.
Die Bluecard können Hochschulabsolventen aus
Nicht-EU-Staaten erhalten, wenn sie einen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber in Deutschland vorlegen und
ein Gehalt von mehr als 44 800 Euro pro Jahr beziehen.
In Berufen, in denen bereits jetzt Fachkräftemangel
herrscht, beispielsweise bei Ärzten und Ingenieuren, beträgt die Gehaltsschwelle knapp 35 000 Euro. Bei entsprechenden Deutschkenntnissen erhalten Inhaber der
Bluecard bereits nach 21 Beschäftigungsmonaten eine
dauerhafte Niederlassungserlaubnis in Deutschland.
Das Gesetz erleichtert zudem die Beschäftigung ausländischer Studenten und ausländischer Absolventen
deutscher Hochschulen. Die Suchphase, in der sie sich
um eine adäquate Beschäftigung in Deutschland bemühen können, wird auf 18 Monate erweitert.
Außerdem bietet das neu geschaffene sechsmonatige
Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche gut ausgebildeten
Akademikern aus dem Ausland einen stärkeren Anreiz,
Karrierechancen in Deutschland zu suchen.
Die Erklärung des Vorbehalts läuft daher gewiss
nicht den Maßnahmen der Bundesregierung zur Anwerbung von Fachkräften und für eine Willkommenskultur
in Deutschland entgegen.
Bereits im Jahr 1953 haben die Mitglieder des Europarates, der nicht identisch mit der heutigen Europäischen Union ist, das sogenannte Europäische Fürsorgeabkommen unterzeichnet. Ziel dieser Übereinkunft war
die Festlegung einer Gleichbehandlung der Staatsangehörigen der beteiligten Länder; diese Menschen sollten
in allen beteiligten Ländern dieselben Leistungen der
Fürsorge erhalten wie die jeweils einheimischen Einwohner und Einwohnerinnen.
Bei Hartz IV regelt dagegen § 7 Abs. 1 Satz 2 des
Sozialgesetzbuches II einen Ausschluss von Leistungen
für Ausländerinnen und Ausländer sowie deren Familienangehörige, da deren „Aufenthaltsrecht sich allein
aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. Das Bundessozialgericht hat im Oktober 2010 geurteilt, dass diese
Einschränkung gegenüber Personen, die unter den
Schutz des Fürsorgeabkommens fallen, nicht greift. In
Reaktion auf diese BSG-Entscheidung hat die Bundesregierung im Dezember 2011 einen sogenannten Vorbehalt
beim Europarat angemeldet - mit der Absicht, dass Leistungen nach dem SGB II sowie Leistungen zur Überwindung besonderer Schwierigkeiten nach dem SGB XII
- Sozialhilfe - von der Anwendung des Fürsorgeabkommens ausgenommen werden sollen.
Wir als Linke kritisieren den durch die Bundesregierung ausgesprochenen Vorbehalt ausdrücklich. Die Formulierung dieses Vorbehalts kommt einer ({0})Kündigung des Fürsorgeabkommens gleich. Dieser Schritt
trifft den Kern des Abkommens und ist daher eine einseitige Aufkündigung europäischer Solidarität. Der Vorbehalt praktiziert und symbolisiert eine bornierte nationale Abgrenzungspolitik - und das ausgerechnet in dem
Moment, in dem sich Deutschland offen zeigen müsste
gegenüber Menschen, die in ihren Heimatländern
aufgrund der EU-Kahlschlagpolitik derzeit keinerlei
Zukunftsaussichten sehen.
Es ist zudem in Zweifel zu ziehen, dass der Vorbehalt
der Bundesregierung rechtlich zulässig ist, da er vermutlich gegen den Vertrag - das Europäische Fürsorgeabkommen - verstößt. Vorbehalte lassen sich nach den
Regeln des Fürsorgeabkommens lediglich bei der Anmeldung von „neuen“ Rechtsvorschriften vortragen.
Eine derartige „neue“ Rechtsvorschrift - Gesetz oder
zumindest eine nationale Verordnung - hat es aber nicht
gegeben; ein rechtlich zulässiger Anlass für die Anmeldung eines Vorbehalts ist damit nicht vorhanden. In dieZu Protokoll gegebene Reden
sem Sinne argumentierte jüngst zum Beispiel auch das
Landessozialgericht Berlin/Brandenburg: „Ein zulässiger Verbehalt“ liege nicht vor, „die Vorschriften des
EFA sind weiterhin anwendbar“ ({1}).
Das vorgebliche Anliegen der Bundesregierung, eine
Ungleichbehandlung von EU-Bürgerinnen und -Bürger
zu vermeiden - je nachdem, ob das jeweilige Land das
EFA unterzeichnet hat oder nicht -, ist lediglich vorgeschoben. Denn bereits aus dem bestehenden Unionsrecht ergibt sich ein Leistungsanspruch auf Grundsicherungsleistungen für EU-Bürger. Ein Anspruch für alle
EU-Bürger ist ebenfalls nach Ansicht vieler Sachkundiger seit dem 1. Mai 2010 unabhängig von dem EFA
direkt aus der EG Verordnung 883/2004 ableitbar. Aufgrund dieser Verordnung sprechen die Sozialgerichte zunehmend auch „nur arbeitsuchenden“ Unionsbürgerinnen uneingeschränkte Alg-II-Ansprüche zu - damit
entfällt eine wesentliche Begründung der Bundesregierung für ihren Vorbehalt. Selbst wenn die entsprechende
Rechtsprechung hier noch uneinheitlich agiert, so folgt
daraus höchstens die die Forderung nach einer Klarstellung der Anspruchsberechtigung für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger.
Am letzten Freitag wurde bekanntlich im Bundesrat
über die Initiative von drei Bundesländern zur Rücknahme des EFA-Vorbehalts abgestimmt. Leider fand sich
hierfür im Plenum keine Mehrheit, aber bezeichnend ist
doch, dass der Arbeits- und Sozialausschuss eine Zustimmung zu diesem Antrag empfohlen hatte, während
der Innenausschuss auf Ablehnung plädierte. Diese
Dominanz der innenpolitischen Hardliner in allen Fragen der Migration und Binnenwanderung muss endlich
aufhören.
Die Linke fordert daher: Ziehen Sie den Vorbehalt
zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurück! Handeln
Sie endlich europäisch und solidarisch!
Die schwarz-gelbe Bundesregierung legte im Dezember 2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen, EFA, ein. Hiernach soll Zuwanderinnen und Zuwanderern aus 14 EU-Ländern sowie
Norwegen, Island und der Türkei, die ausschließlich zur
Arbeitsuche nach Deutschland kommen, fortan kein Anspruch mehr auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ({0}) sowie Hilfen zur Überwindung
besonderer sozialer Schwierigkeiten ({1})
zustehen. Die Bundesagentur für Arbeit hat in der Folge
am 23. Februar 2012 eine Geschäftsanweisung erlassen, die den EFA-Angehörigen mit sofortiger Wirkung
SGB-II-Leistungen untersagt.
Auf eine schriftliche Frage von mir ({2}) begründete
die Bundesregierung die Einlegung des Vorbehalts
mit der Ungleichbehandlung von Unionsbürgerinnen
und -bürgern gegenüber Angehörigen der EFA-Staaten.
So hätten arbeitsuchende Angehörige aus Ländern der
Europäischen Union im Gegensatz zu Angehörigen aus
EFA-Staaten keinen Anspruch auf SGB-II-Leistungen.
Künftig sollten daher ausnahmslos alle Staatsangehörige, die sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in
Deutschland aufhalten, vom Leistungsausschluss betroffen sein. In der Praxis ist es nun unterschiedlich, wie mit
den betroffenen Menschen verfahren wird. Während
Berlin den Personen einen grundsätzlichen Anspruch
auf Sozialhilfeleistungen gewährt, soll der Deutsche
Städtetag nach Informationen der Diakonie Freiburg
der Bundesregierung bereits signalisiert haben, dass
hier keine Zuständigkeit gesehen wird.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, den Vorbehalt zurückzunehmen. Dies ist aus mehreren Gründen geboten: Zuerst einmal verstößt die Notifikation des Vorbehalts gegen das Völkerrecht. Ein Sachstandsbericht des Wissenschaftlichen Dienstes des
Deutschen Bundestages verdeutlicht, dass Vorbehalte
nur dann im Einklang mit der Wiener Vertragsstaatenkonvention sowie dem EFA sind, sofern es sich um
„neue“ Gesetze handelt, die von den Vertragsstaaten
angezeigt werden müssen. Da es sich im aktuellen Fall
aber weder um ein neues Gesetz noch um eine Rechtsprechung handelt, die die gerichtlich festgestellte
Rechtslage verändert, hätte die Einlegung des Vorbehalts unserer Überzeugung nach nicht stattfinden dürfen.
Hinzuweisen ist zudem darauf, dass die Bundesregierung weder Bundestag noch dem Bundesrat über die
Einlegung des Vorbehalts informiert hat. Schon aus dem
Grundsatz der Organtreue wird man daher in derartigen
Konstellationen eine Pflicht der Bundesregierung ableiten müssen, die Gesetzgebungsorgane rechtzeitig vor
Einlegung des Vorbehaltes zu informieren, damit diese
gegebenenfalls entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten können.
Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass der Vorbehalt zu einer Verschiebung von Kosten zwischen Bund
und Ländern bzw. Kommunen führt, ist die Nichtbeteiligung der Länderkammer zu kritisieren. Soweit SGB-IILeistungen versagt werden, geht dies zulasten der Länder und insbesondere der Kommunen, da der Aufenthalt
der betroffenen Unionsbürgerinnen und -bürger regelmäßig nicht beendet werden kann und Länder und insbesondere die Kommunen die Finanzierungslast der anderen infrage kommenden Leistungen trifft.
Auch das Bayerische Landessozialgericht hält den
von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen für nicht wirksam
({3}). Zum einen bestünden Zweifel, ob es sich um eine
neue Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 16 Buchstabe b
EFA handelt. Außerdem hätte an der entsprechenden
Entscheidung der Bundestag gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1
Grundgesetz beteiligt werden müssen.
Das Sozialgericht Berlin kommt in seinem Beschluss
({4}) zu der Auffassung,
dass der Vorbehalt in innerstaatliches Recht transformiert werden müsste. Mangels gesetzlicher Grundlage
des erklärten Vorbehalts bestehe für das Gericht keine
Bindung an diesen Vorbehalt. So heißt es: „Er ist auch
nicht durch bundesdeutsches Parlamentsgesetz innerZu Protokoll gegebene Reden
staatlich wirksam gemacht worden. Zur Überzeugung
der Kammer ist zur Wirksamkeit dieses Vorbehaltes
jedoch ein bundesdeutsches Parlamentsgesetz erforderlich, zumindest im Sinne einer Ermächtigung für die
Erklärung eines entsprechenden Vorbehalts.“
Der Deutsche Anwaltverein appelliert in seiner Stellungnahme des Ausschusses Ausländer- und Asylrecht
an die Bundesregierung, den am 15. Dezember 2011 erklärten Vorbehalt zur Anwendung des SGB II auf die
Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten des EFA
zurückzunehmen. Dies sei insbesondere vor dem Hintergrund des Grundsatzes der gegenseitigen finanziellen
Solidarität der Mitgliedstaaten geboten.
Die Bundesregierung hat mit der Einlegung des Vorbehalts außerdem einen zentralen und wichtigen Grundsatz - die gegenseitige europäische Solidarität - angegriffen. Anstatt, wie überwiegend in der Literatur
vertreten, die hiesige Sozialgesetzgebung europarechtskonform auszugestalten, um allen ernsthaft und nachweislich arbeitsuchenden Unionsbürgerinnen und -bürgern entsprechende SGB-II-Leistungen zukommen zu
lassen, nimmt die Bundesregierung mit der Einlegung
des Vorbehalts eine Anpassung nach unten vor. Dieser
Schritt ist das Gegenteil einer allgemein angestrebten
Willkommenskultur zur Anwerbung qualifizierter Fachkräfte.
Es entbehrt dabei jeglicher Grundlage, den grundsätzlichen SGB-II-Anspruch für alle arbeitsuchenden
Unionsbürgerinnen und -bürger mit einer Einladung zur
Einwanderung in die Sozialsysteme gleichzusetzen.
So hat sich nach Angaben der Bundesagentur für
Arbeit, BA, die Zahl der arbeitsuchenden Ausländerinnen und Ausländer trotz des Urteils des Bundesozialgerichts aus dem Jahr 2010 und der seit Mai 2011 geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht verändert. Rund
10 000 Personen einschließlich Familienangehörige
kommen monatlich zur Arbeitsuche nach Deutschland.
Aktuelle Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts
zur Zukunft der Arbeit ergeben, dass öffentliche Hilfen
({5}) die Migrationsentscheidung potenzieller Zuwanderer nicht beeinflussen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9474, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9036
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 32:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 17/10754 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem Beschluss des Kabinetts vom 29. August
2012 zur Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes wurde
ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Energiewende
gegangen. Es ist nicht nur ein klares Bekenntnis für die
Windenergie auf See, sondern verdeutlicht auch unser
umfassendes energiepolitisches Handeln.
Zu oft hört man in den Debatten der letzten Monate,
dass man am besten auf die Offshorewindenergie verzichten sollte, da diese Technologie zu teuer und risikoreich sei. Das ist falsch. Wir brauchen für die Energiewende alle erneuerbaren Energieträger: von der Photovoltaik bis zur Windenergie auf der See.
Es ist richtig, die Offshorewindenergie auszubauen,
da die See mit ihren beständigen Winden ein Topstandort
für unsere künftige Stromversorgung ist. Denn mit
4 000 Volllaststunden ist die Offshorewindenergie doppelt so stark wie die Onshorewindenergie ({0}) und vierfach so stark wie die Photovoltaik.
Die See ermöglicht auch den Einsatz großer Windkraftanlagen mit einer Leistung von bis zu 5 Megawatt ({1}).
Dieses hohe Potenzial macht die Offshorewindenergie
zu einer starken Säule der Energiewende.
Das haben nicht nur wir erkannt, sondern auch eine
Vielzahl von Unternehmen, von den Stadtwerken über
Hedgefonds bis hin zu den großen Energieversorgern,
die sich am Aufbau der Offshorewindenergie beteiligen.
Ohne dieses Engagement sowie die richtigen Rahmenbedingungen werden wir unsere gemeinsam beschlossenen Ausbauziele von 25 000 MW Offshorewindenergie im
Jahre 2030 nicht erreichen. Diese ambitionierten Zielsetzungen bieten sowohl dem Wirtschafts- als auch dem
Energiewendestandort Deutschland ein hohes Potenzial.
Deutschland kann in dieser Technologie führend werden.
Beim Umsetzen der ambitionierten Ausbaupläne anderer
Staaten sind schon heute viele deutsche Unternehmen an
Projekten beteiligt. Diese Erfolgsgeschichte möchten
wir fortsetzen.
Wir sind noch am Anfang der technologischen Entwicklung der Offshorewindenergie. Mangelnde Erfahrungswerte erhöhen das Investitionsrisiko. Deshalb war
es uns als Regierungskoalition wichtig, stärkere Anreize
zu setzen, um mehr Investitionen auszulösen.
So haben wir schon im vergangenen Jahr im Rahmen
der EEG-Novelle die Finanzierung der Offshorewindenergie verbessert. Um Investitionen zu erleichtern,
wurde das sogenannte Stauchungsmodell eingeführt,
das alternativ zur bisherigen Regelung gewählt werden
kann. Nach diesem Modell wird für einen kürzeren Zeitraum eine höhere Anfangsvergütung gewährt.
Auch haben wird das Kreditprogramm „OffshoreWindenergie“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW,
Zu Protokoll gegebene Reden
auf den Weg gebracht. Dort werden insgesamt 5 Milliarden Euro Kreditvolumen für die Finanzierung von bis zu
zehn Offshorewindparks bereitgestellt. Dadurch wird Investoren ermöglicht, die hohen Finanzierungsvolumina
am Kapitalmarkt aufzubringen.
Neben diesen Maßnahmen ist das jetzige Gesetzesvorhaben ein weiterer wichtiger Baustein für mehr
Windenergie. Mit dem im Gesetzentwurf vorgesehenen
Systemwechsel möchten wir verhindern, dass hochmoderne Windanlagen betriebsbereit im Meer stehen, aber
der passende Anschluss für die Stromweiterleitung fehlt.
Oder dass die Seekabel gelegt sind, aber die Windräder
nicht stehen. Dies verursacht bei allen Beteiligten unnötige Zusatzkosten und bremst den Ausbau der Offshorewindenergie.
Durch die Einführung eines verbindlichen Offshorenetzentwicklungsplans möchten wir erstmals einen Netzausbauplan einführen. Dieser wird Netzanbindungen
und Offshorewindparks zukünftig besser koordinieren.
Er soll den Realisierungszeitpunkt sowie Ort und Größe
zukünftiger Netzanschlüsse verbindlich festgelegen, um
eine bessere Abstimmung mit dem Onshorenetzausbau
zu erreichen.
Darüber hinaus wird mit der EnWG-Novelle eine
Haftungsregelung für Verzögerungen bei der Errichtung
und Störungen beim Betrieb von Offshorenetzanbindungsleitungen eingeführt. Dies ist eine dringend notwendige Regelung, da anderenfalls das Investitionsrisiko so hoch wäre, dass der Ausbau der Offshorewindenergie zum Erliegen kommt. Die Schadenssummen
sollen deswegen bis auf einen Eigenanteil von 100 Millionen Euro zum Großteil über eine Umlage gewälzt
werden, die die Stromverbraucher zahlen.
Im Gegensatz zu der EEG-Umlage, für die die Verbraucher 3,59 Cent pro Kilowattstunde zahlen, sind
aber die Mehrkosten für diese Haftung gedeckelt und somit überschaubar. Auf die Stromkunden sollen maximal
0,25 Cent je Kilowattstunde umgelegt werden, auf große
Stromverbraucher - mit mehr als 100 000 Kilowattstunden pro Jahr - nur maximal 0,05 Cent.
Mit diesen Regelungen schaffen wir also, sowohl den
Ausbau der Offshorewindenergie zu beschleunigen, als
auch die Kosten für den Verbraucher zu begrenzen.
Der Ausbau der Offshorewindenergie lohnt sich. Es ist
eine Energietechnologie mit Zukunft. So kann sie zur verlässlichen Säule unserer Energieversorgung werden wie
auch zum Exportschlager für die heimische Offshoreindustrie.
Wo andere schon mit Wahlkampfgetöse beginnen, gehen wir Schritt für Schritt voran in Richtung Energiewende.
Windenergie ist eine wichtige Säule beim Umbau der
Energieversorgung in Deutschland. Onshore und offshore produzierte Windenergie wird künftig einen wichtigen Teil der Stromversorgung ausmachen. Wir brauchen
die Windenergie, um die Energiewende zu schaffen.
Bisher ist der Ausbau der Offshorewindenergie aber
nicht wie geplant vorangekommen. Es besteht die Gefahr, dass er auch weiterhin stocken wird. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, haben Übertragungsnetzbetreiber häufig Probleme damit, eine rechtzeitige Anbindung
von OWPs an das Netz sicherzustellen. Das kann sowohl
auf Seite eines Offshorewindparkbetreibers als auch eines Übertragungsnetzbetreibers hohe Risiken bergen:
Offshorewindparkbetreibern entgeht zum Beispiel die
EEG-Vergütung, die sie bei rechtzeitiger Anbindung für
den eingespeisten Strom bekommen würden, sie erleiden
Zinsverluste oder zahlen Instandhaltungskosten für den
fertigen Windpark auf See. Übertragungsnetzbetreiber
sehen sich einem großen Haftungsrisiko ausgesetzt,
wenn sie gegen ihre gesetzliche Anbindungsverpflichtung verstoßen und den Windparkbetreiber eigentlich
entschädigen müssten. Das könnte nicht nur zu Liquiditätsengpässen, sondern auch zu einer Zurückhaltung bei
neuen Investitionsentscheidungen führen.
Es ist daher gut, dass der vorliegende Gesetzentwurf
jetzt verlässliche Rahmenbedingungen schafft. Bei der
Netzplanung für die Anbindung von Offshorewindparks
vollziehen wir einen Systemwechsel, der angesichts der
Akteure im Offshorebereich unproblematisch, ja geboten
ist. Wir gehen weg von einem individuellen Anbindungsanspruch hin zu einem Offshorenetzentwicklungsplan.
Dieser jährlich von den Übertragungsnetzbetreibern
vorzulegende Plan soll künftig alle Maßnahmen zum
bedarfsgerechten Ausbau der Offshoreanbindungsleitungen aufzeigen. Zudem soll er die Zeitpunkte für den
Baubeginn und die Fertigstellung durch den Übertragungsnetzbetreiber festschreiben. Das verschafft ihnen
und den Offshorewindparkbetreibern größere Planungssicherheit, denn beide können sich künftig besser zeitlich
aufeinander einstellen.
Mit diesem Systemwechsel wollen wir erreichen, dass
eine Haftungssituation gar nicht erst entsteht, da die
bisherigen zeitlichen Diskrepanzen zwischen Fertigstellung des Windparks und des Netzes vermindert oder gar
vermieden werden können. Trotzdem ist es wichtig, die
nach bisheriger Rechtslage noch offenen Haftungsfragen
bei Verzögerung oder Störung der Anbindung eines Offshorewindparks an das Übertragungsnetz zu klären.
Der vorliegende Entwurf sieht vor, dass der Übertragungsnetzbetreiber für Verspätungen oder Störungen
nun grundsätzlich entschädigungspflichtig ist. Es stimmt
natürlich: Die Kosten der Entschädigung kann er abhängig von seinem Verschuldensgrad über eine Entschädigungsumlage auf die Verbraucher abwälzen. Diese
müssen dann höhere Netzentgelte zahlen. Allerdings ist
diese Wälzungsmöglichkeit eben vom Verschuldensgrad
abhängig, was verhindert, dass der Übertragungsnetzbetreiber sich aus der Affäre ziehen kann. Um aber auch
wirtschaftliches Risiko bei den Offshorewindparkbetreibern zu belassen, haben diese einen bestimmten Selbstbehalt bei den entstandenen Schäden zu tragen. Das erhöht den Abstimmungsdruck.
Mit diesen Regelungen geben wir Windparkinvestoren und Übertragungsnetzbetreibern die notwendige SiZu Protokoll gegebene Reden
cherheit für den weiteren Ausbau der Offshorewindenergie.
Insgesamt: Vor dem Hintergrund der ohnehin bereits
hohen Belastungen der Verbraucher durch die Energiewende müssen wir die Kosten für sie bei jedem Gesetzesvorhaben im Auge behalten, so auch bei dem vorliegenden Entwurf. Unsere privaten und gewerblichen
Verbraucher dürfen durch die Haftungsregelungen nicht
über Gebühr belastet werden. Vor allem müssen wir darauf achten, dass es nicht zu einem Missverhältnis von
Kompetenzen und Verantwortlichkeiten kommt.
Vielerorts stellt sich - zu Recht - die grundsätzliche
Frage, warum der Verbraucher überhaupt dafür belangt werden soll, wenn ein Netzbetreiber seine Anbindungspflicht nicht erfüllt. Die Netzbetreiber führen hier
immer wieder gerne das Argument ins Feld, dass Verspätungen häufig dadurch zustande kommen, dass ihre
Zulieferer sie nicht rechtzeitig beliefern. Das mag ja
sein. Richtig ist es aber eigentlich nicht, dass der Verbraucher dafür geradestehen muss. Denn er kann erst
einmal nichts dafür, wenn der Netzbetreiber - aus welchen Gründen auch immer - seine Anbindung nicht
rechtzeitig bewerkstelligt.
Die in dem Entwurf vorgesehenen Haftungsregelungen müssen wir deshalb intensiv auf die Frage der Verantwortlichkeiten der Übertragungsnetz- und Offshorewindparkbetreiber prüfen und sie mit den daraus
resultierenden Belastungen für die Verbraucher genau
austarieren. Der vorgesehene Ansatz, die aus den Haftungsregeln entstehenden Belastungen in ihrer Höhe zu
begrenzen und zu verteilen, geht sicherlich in die richtige Richtung, schließlich müssen wir Investitionshemmnisse beseitigen, und dazu gehören auch unproportionale Risiken. Gegebenenfalls müssen wir hier aber
nachbessern.
Wichtig ist auch, dass Kostenkontrolle und -transparenz sichergestellt werden. Denn nur wenn die Verbraucher wissen, was sie wofür bezahlen, werden sie die für
die Energiewende notwendigen Maßnahmen mittragen.
Auch hier zeigt der vorliegende Entwurf vernünftige Ansätze mit einer Pflicht zur Dokumentation und Veröffentlichung von Schadensfällen und Maßnahmen zur Schadensminderung. Gut ist auch, dass die resultierenden
Umlagen transparent gemacht werden sollen.
Wir brauchen die Windenergie auf See und an Land.
Der vorliegende Entwurf zeigt erste gute Ansätze auf,
wie verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen werden können, um den Ausbau der Offshorewindenergie
weiter voranzubringen. Das ist gut und auch dringend
notwendig, um unsere energiepolitischen Ziele zu erreichen.
Lassen Sie uns den Weg in das Zeitalter der regenerativen Energie konsequent weitergehen!
Wieder einmal befasst sich der Deutsche Bundestag
mit Reparaturen an der Energiepolitik der schwarz-gelben Bundesregierung. Ob drei EEG-Novellen innerhalb
von drei Jahren oder die heute diskutierte Investitionssicherheit für Betreiber von Offshorewindparks und
Netzbetreiber - es fehlt an Plänen, Absprachen und Vorstellungen. Die aktuelle Debatte über Maßnahmen und
deren Finanzierung zur Beschleunigung des Ausbaus
der Offshorewindenergie zeigt einmal mehr, dass die vor
einem Jahr in panischer Eile beschlossenen Gesetze zur
Energiewende nicht nur handwerklich schlecht sind,
sondern eine praktische Realisierung der Energiewende
behindern. Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits im Juni letzten Jahres dafür plädiert, die parlamentarischen Beratungen zum Erneuerbare-EnergienGesetz, EEG, und zum Energiewirtschaftsgesetz, EnWG,
mit der gebotenen Sorgfalt zu führen und nicht innerhalb
von sechs Wochen ohne Rücksicht auf Verluste durch den
Bundestag zu peitschen. Eine stärkere Unterstützung der
erprobten Windenergie an Land und genügend Zeit zum
Ausbau der Offshorewindenergie wären richtig gewesen.
Auch am heute zu beratenden Gesetzentwurf der Bundesregierung besteht noch weitreichender Änderungsbedarf. Auch wir sehen die Notwendigkeit, die aufgeworfenen Haftungsfragen derart zu beantworten, dass
Investitionen in Offshorewindparks erfolgen und auch
die Netzbetreiber nicht in den Ruin getrieben werden.
Gleichzeitig braucht es in einem solchen Gesetz aber
auch Anreize für die betreffenden Akteure, die Risiken so
weit wie möglich zu mindern. Gerade wenn mögliche
Schadenersatzforderungen der Windparkbetreiber gegenüber den Netzbetreibern von der Allgemeinheit abgefedert werden, müssen auf allen Stufen des Baus der
Windparks und des Netzanschlusses sorgfältig Vorkehrungen getroffen werden, damit der Schadensfall möglichst gar nicht erst eintritt. Hierzu zählen auch Anreize
für ein volkswirtschaftlich sinnvolles Verhalten der
Übertragungsnetzbetreiber bei der Wartung. Dies bedeutet, dass mögliche Störungsfälle genutzt werden, um
gleichzeitig nötige Wartungsarbeiten vorzuziehen. Hierdurch würde die potenzielle Ausfallzeit der Stromleitung
verringert.
Noch ein weiterer Aspekt muss gründlich nachgebessert werden: Der vorliegende Gesetzentwurf gewährleistet nicht für alle fortentwickelten Windparkprojekte den
notwendigen Vertrauensschutz. Denn der Gesetzentwurf
sieht vor, dass nur solche Projekte noch einen Anspruch
auf eine unbedingte Netzanbindungszusage haben, die
bis 1. September dieses Jahres die Voraussetzungen zur
Erlangung dieser Zusage nachweisen konnten. Hierbei
wird vergessen, dass diese Frist zur Entlastung des zuständigen Netzbetreibers und mit Genehmigung der Bundesnetzagentur bei einigen Projekten nach hinten verschoben wurde. Wenn auch diese Windparks erst eine
Netzanbindungszusage auf Grundlage des zu entwickelnden Offshorenetzplans erhalten sollen, stehen Investitionsentscheidungen in Milliardenhöhe auf der
Kippe. Deshalb brauchen wir an dieser Stelle einen
Stichtag für die Gewährung der Übergangsregelung, der
die nötige Planungs- und Investitionssicherheit wiederherstellt.
Ich möchte noch auf einen weiteren wichtigen Punkt
hinweisen, der in der schwarz-gelben Kakofonie in der
Energiepolitik untergeht: Der in OffshorewindenergieZu Protokoll gegebene Reden
anlagen erzeugte Strom kann nur einen Beitrag zur Versorgungssicherheit des Landes leisten, wenn der Ausbau
der Übertragungs- und Verteilnetze vorangeht. Regelmäßig stellt die Bundesnetzagentur fest, dass selbst der
Ausbau der vor drei Jahren im Energieleitungsausbaugesetz festgeschriebenen Stromtrassen nicht vorankommt. Der zur Systemintegration der erneuerbaren
Energien notwendige Ausbau der Verteilnetze findet bei
der Bundesregierung gar keine Beachtung.
Weitere Schwerpunkte der anstehenden EnWGNovelle betreffen die Vermeidung der endgültigen Stilllegung systemrelevanter Kraftwerke sowie die bessere
Verzahnung der Strom- und Gasversorgung. Gerade die
vorgesehene Verpflichtung zum Weiterbetrieb eines
Kraftwerks muss rechtssicher ausgestaltet sein, handelt
es sich hierbei doch um einen Eingriff in die Eigentumsrechte des Anlagenbetreibers. In diesem Zusammenhang
müssen wir auch mögliche Mitnahmeeffekte vermeiden,
damit nicht schon die reine Ankündigung, ein systemrelevantes Kraftwerk stillzulegen, zu einem Geschäft wird.
Hierzu sind Regelungen denkbar, dass das betreffende
Kraftwerk nach Ablauf der festgelegten zusätzlichen Betriebszeit wirklich stillzulegen ist oder die geleisteten
Entschädigungszahlungen komplett und verzinst zurückzuzahlen sind. Darüber hinaus müssen wir auch die vorgeschlagenen Regelungen zur Sicherung der Gasversorgung der Kraftwerke genau auf ihre Umsetzbarkeit
überprüfen.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich in die anstehenden parlamentarischen Beratungen zur Weiterentwicklung des Energiewirtschaftsgesetzes konstruktiv
einbringen. Die vom Wirtschaftsausschuss beschlossene
Anhörung sollten wir nutzen, um die von mir angesprochenen Vorhaben und Sachverhalte rechtssicher und
wirksam umzusetzen. Denn wir alle hier tragen Verantwortung dafür, dass Deutschland auch zukünftig unter
für die Betreiber von Erzeugungsanlagen verlässlichen
Rahmenbedingungen und mit bezahlbaren Preisen für
Haushalte und Unternehmen sicher mit Strom versorgt
werden kann.
Mit dem Energiekonzept der Bundesregierung haben
wir uns zum Umbau der Energieversorgung in Deutschland bekannt. Es ist unser gemeinsames Ziel, den Anteil
von Braunkohle, Steinkohle und Kernenergie an unserem Energiemix zu verringern. Ebenso wollen wir gemeinsam den Anteil von Biomasse, Wasserkraft und Windkraft ausbauen, sodass sie gemeinsam mit der Photovoltaik und der Geothermie bis zum Jahr 2050 rund
80 Prozent der Stromversorgung in Deutschland übernehmen.
Aus Gründen der Effizienz kommt der Windenergie in
unserem Energiemix der Zukunft eine zentrale Rolle zu.
Einen großen Teil unseres Stroms aus der Windenergie
wollen wir offshore, das heißt draußen in Nord- und Ostsee, „ernten“. Die Schwierigkeit an der Sache: Gerade
in der Nordsee, wo der Großteil der Parks geplant ist,
sind die Claims sehr weit draußen, oft über 100 Kilometer, im offenen Meer. Bei einer konventionellen Wechselstromübertragung sind hohe Stromverluste über solch
große Distanzen unvermeidbar.
Als Alternative bleibt uns alleine die Gleichstromübertragung. Die Herausforderung dabei aber ist, dass
uns die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit dieser
neuen Technologie fehlen, besonders auf dem Meeresboden: Dort müssen Kabel zum Schutz vor Ankern oder anderen Störungen metertief eingespült werden. Ebenso
fehlen uns Erfahrungen knapp über dem Meeresspiegel:
Dorthin müssen neue Umspannstationen erst transportiert werden, und dann müssen sie dort für die kommenden zwei Jahrzehnte Wind, Wetter und Salz trotzen.
Wir haben es mit einer vollkommen neuen Technologie zu tun: Der Ansatz, möglichst schnell möglichst viel
Offshorewindkraft zu installieren, ging an der Realität
vorbei. Das zeigt uns die Situation heute!
Erstens. Die Unternehmen haben nur sehr enge Zeitfenster, während derer an den Anschlüssen gearbeitet
werden kann. Die Auftragnehmer für den Bau solcher
Anlagen stehen unter einem extremen Wettereinfluss.
Zweitens. Einige Offshorewindparks könnten schon
Strom produzieren; allerdings sind Anschlüsse für eine
Einspeisung in das Übertragungsnetz noch nicht fertiggestellt.
Drittens. Die schnelle Nachfrage nach Umspannstationen steht in einem Markt nur zwei Anbietern gegenüber. Liefervereinbarungen können zeitlich oft nicht
eingehalten werden. Dadurch entstehen Windparkbetreibern teils große Schäden. Je nach Größe eines
Parks können das bis zu 750 000 Euro pro Tag sein.
Diese Risiken bedrohen den Erfolg der Energiewende. Investoren brauchen Planungssicherheit! Sonst
werden wir unsere Offshorewindkraftausbauziele nicht
erreichen.
Für ein Gelingen der Energiewende möchten wir
Windparkbetreiber daher entschädigen. Die uns vorliegende Neuregelung legt fest, wie das geschehen soll, und
sie legt fest, bis zu welcher Höhe des Ausfalls der Netzbetreiber haften muss, ebenso wie die Summe, ab der es
für einen Netzbetreiber unmöglich wird, weiter zu bezahlen, und der Verbraucher für die Ziele der Energiewende seinen Beitrag leisten muss. Zusätzlich verpflichten wir die Übertragungsnetzbetreiber, jährlich einen
Offshorenetzentwicklungsplan vorzulegen. Auch damit
schaffen wir mehr Planungssicherheit, insbesondere für
private Investoren, die wir für die Offshorewindkraft und
auch für die Energiewende dringend brauchen.
Die von der Bundesregierung privilegierte Offshorewindkraft will nicht so richtig in Gang kommen
und hinkt den anvisierten Ausbauzielen weit hinterher.
Nun meint die Bundesregierung, das Problem in den
Haftungsrisiken der Netzbetreiber entdeckt zu haben,
weshalb es diesen schwerfalle, Investoren zu gewinnen.
Ihre Schlussfolgerung: Die Stromverbraucher sollen das
Risiko tragen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll also Tempo
gemacht werden für den Ausbau der Offshorewindenergie. Hierfür sollen die Haftung für nicht rechtzeitig
fertiggestellte Anbindungen der Windparks an das Energienetz auf die Verbraucher abgewälzt sowie ein
Offshorenetzentwicklungsplan erstellt werden. Künftig
sollen also die Stromverbraucher dafür zahlen, wenn die
Windparks nicht rechtzeitig angeschlossen werden - die
satte Rendite von über 9 Prozent nach Abschluss der Anbindung kassieren dann aber die Netzbetreiber. Gewinne
privatisieren, Risiken sozialisieren ist also auch hier das
Motto der Bundesregierung. Das ist doch absurd: Für
die Risiken zahlt der Stromkunde, damit die Konzerne
satte Gewinne machen können. Und wie geht das doch
so schön: Großkunden werden wieder einmal von der
Umlage befreit.
Da diese Haftungsabwälzung auch noch rückwirkend
für bereits durch die Netzbetreiber gemachte Anschlusszusagen gelten soll, ist bereits heute klar, dass diese
Regelung Milliarden Euro an Kosten auf die Verbraucher abwälzt.
Wenn man auf den massiven Ausbau der
Offshorewindenergie setzen will, dann macht der im
Gesetzentwurf vorgesehene Offshorenetzentwicklungsplan Sinn. Aber diese Übersubventionierung der
Offshorewindenergie muss grundsätzlich hinterfragt
werden. Offshorewindenergie ist teuer im Vergleich zu
anderen erneuerbaren Energieträgern. Sie erfordert
zusätzlich hohe Netzausbaukosten für Stromleitungen
bis zur Küste und von Nord nach Süd, zementiert die
zentralisierte Struktur der Stromproduktion in Deutschland und dient vor allem den großen Energiekonzernen.
Während die Einspeisevergütung für Offshorewindenergie wahlweise 15 oder 19 Cent je Kilowattstunde
beträgt, so liegt sie bei Onshorewindenergie bei
8,93 Cent. Rechnet man Folgekosten wie die höheren
Kosten für Stromleitungen mit, dann betragen die Kosten für verbrauchernahe Onshorewindenergie nur ein
Viertel der Kosten von Offshoreanlagen. Die dezentrale
Versorgung mit erneuerbaren Energien erspart uns nicht
nur manche Großinvestition, sie ist nicht nur billiger
und mit weniger Risiken verbunden, sie kann auch den
Mittelstand stärken, mehr Arbeitsplätze bringen und zur
Demokratisierung der Energieversorgung beitragen alles in allem eine wünschenswerte Entwicklung.
Stattdessen orientiert sich die Bundesregierung weiter an alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren
Interessen privater Konzerne, fördert weiterhin vor allem zentrale Offshoreparks und andere Großprojekte
und erlegt jetzt wieder einmal Kosten der Energiewende
einseitig den Verbrauchern auf.
Die Bundesregierung muss von ihrer Fixierung auf
große Offshoreparks abrücken, denn Onshorewindparks
sind günstiger und können dort gebaut werden, wo der
Strom auch gebraucht wird. Die Zukunft der Energieversorgung ist dezentral.
Statt die Verbraucher einseitig für das Unternehmensrisiko zahlen zu lassen, muss die Bundesregierung
endlich ihre dogmatische Haltung hinsichtlich der
Stromnetze ablegen. Bei natürlichen Monopolen wie den
Stromnetzen, bei denen es keinen echten Wettbewerb
geben kann, gehen privatwirtschaftliche Lösungen zulasten der Verbraucher. Gerade in einem für die Energiewende und damit für die Zukunft so zentralen Bereich
darf man sich nicht auf den guten Willen der Unternehmen verlassen. Darüber hinaus muss eine Bundesnetzgesellschaft her, damit die Kosten zwischen Bundesländern gerecht verteilt werden und nicht die Bürger von
Bundesländern mit einem hohen Anteil erneuerbarer
Energien stärker belastet werden als andere. Die Netze
gehören in die öffentliche Hand!
Heue legt uns die Bundesregierung den Entwurf einer
Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes vor, der nichts
anderes ist als der hilflose Versuch einer Notoperation,
um den praktisch nicht stattfindenden Offshoreausbau
vielleicht doch noch zu retten. Es ist wie auf fast allen
Feldern der Energiepolitik: Die Bundesregierung flickschustert nur noch herum und versucht, ihr eigenes Versagen irgendwie zu korrigieren.
Dabei ist das Offshoreproblem sei Jahren bekannt:
Netzbetreiber genauso wie die Betreiber der Offshorewindparks haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es einer Synchronisation und Steuerung des
Baus der Windparks und der Netze auf dem Meer bedarf.
Doch die zuständigen Minister von Brüderle über Rösler
bis Röttgen haben sich schlichtweg nicht darum gekümmert, weil es ein schwieriges Thema ist, das keine tollen
Schlagzeilen produziert. Geschehen ist nichts, als man
hätte handeln müssen und können.
Jetzt, wo der Karren vor die Wand gefahren ist und
die Probleme nicht mehr weggedrückt werden können,
versucht man den Rheinischen Klüngel in Gesetzesform
zu gießen: Drei - Bundesregierung, Netzbetreiber und
Windparkbetreiber - verständigen sich auf Kosten eines
Vierten, nämlich der privaten Stromverbraucher. Die Industrie soll wie immer aufgenommen werden.
Das geht so nicht. Wenn Sie schon die Stromverbraucher für Ihre Fehler zahlen lassen - das ist schon verwerflich genug -, dann verteilen Sie wenigstens die Lasten fair.
Verbraucherschutzministerin Aigner hat sich völlig
zu Recht über die Mehrbelastungen der Privathaushalte
durch die Regelung beschwert. Das Ergebnis dieses Koalitionskrachs ist nun wieder typisch schwarz-gelb: Die
Privatverbraucher werden weiterhin alleine belastet,
aber die Haftungsregelung wurde so verändert, dass es
überhaupt nicht hilft, den Netzanschluss der Windparks
auf See voranzubringen. Das jedenfalls hören wir im
Moment von Beteiligten, und das ist nun Absurdistan im
Quadrat: Rheinischer Klüngel zulasten der privaten
Stromverbraucher, und gar keiner hat etwas davon.
Im vorliegenden Gesetzentwurf ist nun unter anderem
festgeschrieben, dass die Übertragungsnetzbetreiber
jährlich einen Offshorenetzentwicklungsplan vorlegen
müssen sowie eine verbindliche Mitteilung des Netzanschlusses für den Betreiber machen müssen, der 30 MoZu Protokoll gegebene Reden
nate vor Fertigstellung nicht mehr geändert werden
kann und somit zu einer größeren Investitionssicherheit
für die Offshorewindparkbetreiber führt. Um dies zu erreichen, soll es zudem neue Haftungsregeln geben, für
den Fall von Verzögerungen und Pannen beim Anschluss von Offshorewindparks auf hoher See. Bei der
Entschädigung ist eine Selbstbeteiligung je nach Schadenshöhe der Übertragungsnetzbetreiber vorgesehen,
wenn es zu fahrlässig verursachten Netzunterbrechungen bzw. -verspätungen kommt. Die Selbstbeteiligung
liegt zwischen 20 Prozent bei einer Schadenshöhe von
0 bis 200 Millionen Euro und 5 Prozent bei einer Schadenshöhe von 601 bis 800 Millionen Euro Schaden. Die
allgemeine Haftungsbegrenzung für den Übertragungsnetzbetreiber liegt bei 100 Millionen Euro. Schäden
oberhalb von 800 Millionen Euro im Jahr werden komplett auf die Netzentgelte umgelegt. Entschädigungszahlungen für Schäden, die nicht vom anbindungsverpflichteten Übertragungsnetzbetreiber verursacht werden,
können komplett umgelegt werden. Durch die Einführung einer neuen Umlage von maximal 0,25 Cent pro
Kilowattstunde werden die Stromverbraucher mit einem
Gesamtvolumen von etwa 650 Euro jährlich zusätzlich
belastet. Die Industrie muss ab einem Verbrauch von
1 Million Kilowattstunden im Jahr jedoch nur eine Umlage von 0,05 Cent pro Kilowattstunde bezahlen.
Der Großteil der finanziellen Risiken wird auf die privaten Stromkunden abgewälzt und die Großindustrie
durch Ausnahmetatbestände weitestgehend von der
neuen Umlage befreit. Das wird nicht nur von Verbraucherverbänden, sondern auch von Teilen der Energiewirtschaft selbst zu Recht kritisiert. Dabei sollte allen
Beteiligten klar sein, dass der Ausbau der Energiewende
nur gelingt, wenn die Kosten fair auf allen Schultern
verteilt werden.
Wir hätten einen anderen Vorschlag, als die Verbraucher in Haftung zu nehmen: Der Bund übernimmt das
Haftungsrisiko für den Netzanschluss, und als Gegenleistung bekommt er Anteile vom Netzbetreiber, der ja
bisher offensichtlich der Herausforderung des Netzausbau gewachsen war. Das wäre der Einstieg in die deutsche Netzgesellschaft, die sich ja sogar als politisches
Ziel im schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 2009 findet. In anderen Wirtschaftsbereichen ist der Einstieg des
Bundes in schwieriger Lage durchaus nicht unüblich;
man denke nur an die Commerzbank.
Die Bundesregierung hat außerdem Formulierungshilfen an die Koalitionsfraktionen übersandt, mit der im
Zuge dieser EnWG-Novelle das Abschalten von Kraftwerken bei Stromknappheit verboten werden soll. Eine
weitere Notoperation, denn nach Monaten des Nichtstuns ist bei Schwarz-Gelb nun Hektik ausgebrochen, um
Versorgungsengpässe wie im vergangenen Winter zu
vermeiden. Bereits im Mai hatte die Bundesnetzagentur
der Bundesregierung in einem Bericht zu den Versorgungsengpässen im vergangenen Winter einen Stapel an
Hausaufgaben aufgegeben; die Fakten waren sogar
schon zwei Monate vorher klar. Doch passiert war bisher nichts.
Jetzt staunt man, dass eine christlich-liberale Bundesregierung auf Mittel der Wirtschaftspolitik sowjetischer Prägung zurückgreift - die gesetzliche Anordnung
zum Betrieb eines Kraftwerks in Planwirtschaft in Reinkultur. Ich will nicht wissen, was hier und heute los
wäre, wenn ein Wirtschaftsminister einer rot-grünen
Bundesregierung so etwas ernsthaft vorschlagen würde.
Das zeigt, wie hilflos Sie in der Energiepolitik agieren,
um Ihre eigenen Fehler und Versäumnisse zu korrigieren. Statt über planwirtschaftliche Anordnungen und
strategische Reserven zu reden, brauchen wir endlich
eine ernsthafte Debatte über Kapazitätsmärkte. Ich
freue mich auf eine konstruktive Debatte in den Ausschüssen auch darüber.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 33:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/10746 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen.
Freizügigkeit ist nicht nur ein hohes Gut, sondern
durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Laufe der letzten Jahrzehnte auch ein Kernelement der Unionsbürgerschaft geworden.
Sie gehört seit jeher zu den durch die europäischen
Verträge gewährleisteten Grundfreiheiten und ist somit
maßgeblich am wirtschaftlichen Erfolg des Binnenmarktes und am Zusammenwachsen der Europäischen
Union beteiligt.
Längst werden unter dem Begriff der Freizügigkeit
nicht mehr nur der freie Aufenthalt und die Bewegungsfreiheit der Unionsbürger verstanden. Vielmehr haben
der Europäische Gerichtshof und das europäische Primär- und Sekundärrecht dazu geführt, dass die Regelungen zur Freizügigkeit Bedeutungen für den Arbeitsmarkt, die politische Teilhabe, die kulturelle und
sprachliche Integration sowie für den gesamten Bereich
des innerstaatlichen Migrationsrechts erlangt haben.
Von der Freiheit, sich als Unionsbürger in jedem
Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, bis hin zu umfassenden
politischen Teilhaberechten bei Wahlen könnten eine
Vielzahl von Veränderungen aufgeführt werden, die
letztlich alle auf den Grundsatz der Freizügigkeit der
Stephan Mayer ({0})
Unionsbürger nach Art. 21 AEUV zurückgeführt werden
können.
So konkretisiert auch die Richtlinie 2004/38/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht
der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich
im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen
und aufzuhalten, die im Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union bereits verankerte Grundfreiheit auf Freizügigkeit.
Die in der Richtlinie hinterlegten Grundsätze sind im
deutschen Recht bereits durch das Freizügigkeitsgesetz
im Jahr 2004 umgesetzt worden. Hierbei wurden jedoch
einige europarechtliche Vorgaben nicht vollständig berücksichtigt, was einen ergänzenden Gesetzentwurf und
die heute zu debattierende Änderung des Freizügigkeitsgesetzes erforderlich gemacht hat.
So wird durch das heute zu debattierende Gesetz beispielsweise die in der Richtlinie angelegte Regelung zum
Widerruf von zuvor erhaltenen Freizügigkeitsrechten bei
nachträglicher Feststellung einer Scheinehe nunmehr in
das deutsche Recht übernommen. Dies ist eine wichtige
Ergänzung; denn Abfragen in den Ländern haben ergeben, dass es sich hierbei nicht um eine unerhebliche
Anzahl von Fällen handelt. So hatte eine Erhebung der
Innenministerkonferenz vor einigen Jahren festgestellt,
dass es sich um deutlich mehr als 1 000 Fälle pro Jahr in
Deutschland handeln könnte.
Damals waren in die Statistik lediglich von den Ausländerbehörden gemeldete Fälle aufgenommen worden,
sodass zudem von einer deutlich höheren Dunkelziffer
ausgegangen werden darf.
Typische Fallkonstellationen sind das nur formale
Eingehen von Ehen sowie Vaterschaftsanerkennungen
ohne das Ziel, eine familiäre Lebensgemeinschaft zu
führen, unterschiedliche Formen des Gebrauchs gefälschter Dokumente sowie Täuschung über den Wohnsitz oder das Arbeitsverhältnis, insbesondere um
Einreise- und Aufenthaltsrechte für Angehörige zu erlangen. Aber auch zum Aufsuchen von Universitäten
oder Fachhochschulen in Deutschland werden vergleichbare Täuschungen vorgenommen.
Die Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen
Widerrufsmöglichkeit in nationales Recht ist daher eine
notwendige und angemessene Reaktion auf dieses kriminelle Verhalten. Mit ihr setzt die christlich-liberale
Koalition ihren Weg gegen das Erschleichen von Aufenthaltstiteln fort.
Bereits im vergangenen Jahr haben wir durch die
Einführung des § 237 StGB zur besseren Ahndung von
Zwangsehen deutlich gemacht, dass es in diesem
Bereich keine Toleranz geben darf. Mit der Änderung
des Strafgesetzbuchs ging auch eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes einher. Nachdem die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 die Mindestbestandszeit einer
Ehe, die für den Fall des Scheiterns ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht begründet, auf zwei Jahre verkürzt
hatte, haben wir die Anregung aus der Praxis vieler
Ausländerbehörden in Deutschland umgesetzt und die
Mindestbestandszeit auf drei Jahre heraufgesetzt.
Ursprünglich gesetzte Anreize für ausschließlich zum
Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte Eheschließungen konnten somit nachträglich wieder beseitigt werden. Die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beabsichtigte Anpassung stellt somit einen
weiteren Schritt im Kampf gegen Scheinehen in
Deutschland dar.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält darüber
hinaus noch eine Vielzahl von kleineren, zumeist technischen Anpassungen des Freizügigkeitsgesetzes an die
oben bereits zitierte EU-Richtlinie. Hierbei handelt es
sich vor allem um Klarstellungen und Bereinigungen,
die aufgrund der täglichen Anwendungspraxis des
Gesetzes erforderlich geworden sind. Diese tragen insgesamt zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei.
Nachfolgend möchte ich noch eine weitere Änderung,
die der Gesetzentwurf beinhaltet, ansprechen. Bereits
vor einiger Zeit haben die Ausländerbehörden die Erteilung einer Freizügigkeitsbescheinigung infrage gestellt.
Ursache hierfür waren zum einen der erhebliche bürokratische Aufwand, der mit der Erteilung und Ausstellung der entsprechenden Bescheinigung verbunden ist,
und zum anderen sah die maßgebliche EU-Richtlinie
2004/38/EG das Ausstellen einer solchen Freizügigkeitsbescheinigung gar nicht vor. Vielmehr verlangte die
Richtlinie für den Nachweis eines rechtmäßigen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat nur eine aktuelle Meldebescheinigung sowie einen gültigen Pass bzw. Passersatz.
Dem Anliegen der Ausländerbehörden wird daher
nunmehr Rechnung getragen, und die entsprechenden
Vorschriften im Freizügigkeitsgesetz und der Aufenthaltsverordnung werden dementsprechend angepasst.
Zukünftig entfallen die Erteilung einer Freizügigkeitsbescheinigung und die Vorlage einer aktuellen Meldebescheinigung. Ferner ist die Vorlage eines gültigen
Passes bzw. Passersatzes auch in Deutschland ausreichend.
Auch wenn einige Städte und Gemeinden hierin keine
erhebliche Reduzierung von Bürokratie zu erkennen vermögen, glaube ich, dass sich die Abschaffung der Freizügigkeitsbescheinigung letztlich doch zugunsten der
Beschäftigten in den Ausländerbehörden bemerkbar
machen wird. Zwar muss auch in Zukunft in Zweifelsfällen eine Prüfung des Freizügigkeitsrechts des Einzelnen
durch die Ausländerbehörden vorgenommen werden,
aber insgesamt wird durch den Wegfall der Bescheinigung der Verfahrensprozess weiter beschleunigt, was zu
einer Reduzierung der Kosten führen dürfte.
Diese „Arbeitserleichterung“ hat auch der Deutsche
Städte- und Gemeindebund in seiner Stellungnahme zum
Gesetzentwurf der Bundesregierung anerkannt. Weiter
wird darin ausgeführt, dass durch den Wegfall der Freizügigkeitsbescheinigung die Vorgaben der Richtlinie
2004/38/EG besser und einfacher in der Verwaltungspraxis umgesetzt werden können.
Teilweise hatte sich bei vielen Behörden die Verwaltungspraxis eingerichtet, dass Anträge immer mit einer
Kopie der Freizügigkeitsbescheinigung zu versehen
waren. Da jedoch zwischenzeitlich seit dem 1. SeptemZu Protokoll gegebene Reden
Stephan Mayer ({1})
ber 2011 in Deutschland der elektronische Aufenthaltstitel eingeführt worden ist, kann dieser zukünftig als entsprechender Nachweis bei der Antragstellung bei
Verwaltungs- bzw. Sozialbehörden verwendet werden.
Auch insofern bedurfte es einer Fortführung der Freizügigkeitsbescheinigung nicht mehr.
Es kann somit im Ergebnis sehr wohl von einer nicht
geringfügigen Entlastung der Verwaltung bei der
Durchführung entsprechender Verfahren ausgegangen
werden.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen,
dass auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom
21. September 2012 keine Einwände gegen den Gesetzentwurf erhoben hat. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren sollte daher zügig durchgeführt und
abgeschlossen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
verfolgt das Ziel, Vorschriften der Richtlinie 2004/38/
EG, die noch nicht „angemessen“ in das deutsche Recht
implementiert wurden, nunmehr in das Freizügigkeitsgesetz/EU zu übernehmen. Dabei handelt es sich vor allem um die Gleichstellung von Lebenspartnern von
Unionsbürgern mit Ehegatten von Unionsbürgern, das
Recht auf Einreise und den Aufenthalt betreffend, den
Abbau von Bürokratiekosten durch die Abschaffung der
rein deklaratorischen Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht für Unionsbürger sowie die Einfügung einer
Passage in das Freizügigkeitsgesetz/EU, die es ermöglicht, ein aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes/EU gewährtes Recht wieder zu entziehen, wenn es nur durch
die Vorspiegelung von falschen Tatsachen oder durch
Täuschung erlangt worden ist.
Die rechtliche Gleichstellung von Lebenspartnern mit
Ehegatten von Unionsbürgern ist nur zu begrüßen und
findet selbstverständlich unser volles Einverständnis.
Auch den Abbau von Bürokratiekosten und die Vereinfachung des Verfahrens können wir nur gutheißen.
Die Ahndung von durch Missbrauch bzw. Täuschung
erschlichener Freizügigkeitsrechte ist in der Richtlinie
2004/38/EG zwar nicht zwingend, sondern als Option
vorgesehen, es spricht jedoch auch nichts gegen die Einfügung eines solchen Instruments in das Freizügigkeitsgesetz/EU. Wie der Begründung des Gesetzentwurfs zu
entnehmen ist, haben Abfragen unter den Ländern eine
nicht unerhebliche Zahl von Rechtsmissbrauchsfällen
ergeben. Obwohl das sehr unkonkret ist, scheint es doch
in der Praxis ein Bedürfnis für eine solche Regelung zu
geben.
Allerdings haben wir am 7. März 2012 einen Gesetzentwurf zur Änderung des aufenthalts- und freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs, Drucksache 17/8921, in
den Bundestag eingebracht. In diesem schlagen wir
Visaerleichterungen für nachziehende Ehegatten und
weitere Familienangehörige vor. So soll zum Beispiel
ein Familienangehöriger, der nicht Unionsbürger ist,
aber einen Unionsbürger begleitet, an der Grenze ein
Ausnahmevisum erhalten, wenn er seine Beziehung zu
dem Unionsbürger sowie die eigene Identität nachweist.
Ein begleitender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der im Besitz einer Aufenthaltskarte eines anderen
Mitgliedstaates ist, soll kein Visum mehr benötigen.
Die letztgenannten Gesichtspunkte kommen in dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Daher
können wir dem Entwurf nicht zustimmen. Ich empfehle
daher Stimmenthaltung.
Im Jahre 2004 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung die Richtlinie 2004/38/EG weitestgehend in
deutsches Recht umgesetzt. Nach einer Prüfung ist die
christlich-liberale Bundesregierung nun zu dem Schluss
gekommen, dass an einigen Punkten nachgebessert
werden muss.
Dies betrifft zum einen die Gleichstellung von
Lebenspartnern mit Ehegatten bei ihrem Recht auf Einreise und Aufenthalt. Ein Ziel der Koalition von CDU/
CSU und FDP war von Beginn an die weitere Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Ein Punkt hierbei ist
für uns die Angleichung der Rechte von eingetragenen
Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Wir haben die volle
Gleichstellung bei der Erbschaftsteuer, der Grunderwerbsteuer, beim BAföG, beim Beamten-, Richter- und
Soldatenrecht erreicht. Wir haben die Bundesstiftung
Magnus Hirschfeld mit einem Kapital von 10 Millionen
Euro gegründet. Wir unterstützen damit unter anderem
die Aufklärungsarbeit an Schulen und die Aufarbeitung
nationalsozialistischen Unrechts. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf bekommen nun Lebenspartner von EUBürgern das gleiche Recht auf Freizügigkeit, das auch
Ehegatten von EU-Bürgern zusteht.
Der zweite Bereich betrifft die Stärkung der Rechte
von illegal Beschäftigten, das heißt Menschen ohne
regulären Aufenthaltsstatus, ohne Papiere. Die christlich-liberale Koalition hat sich engagiert für die Rechte
von Menschen ohne Papiere stark gemacht. Wir haben
Schulen und Kindergärten von den Übermittlungspflichten befreit, damit die Kinder von illegalen Zuwanderern
angstfrei Bildung erlangen können. Auch im Bereich des
Krankenhausbesuchs haben wir die Übermittlungspflichten beschränkt, damit das Grundrecht auf gesundheitliche Versorgung im Notfall auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Die Umsetzung der EU-Vorschrift
unterstützt Menschen ohne Papiere in einem weiteren
Punkt: Arbeitgeber von illegal Beschäftigten werden
künftig stärker bestraft. Illegal Beschäftigte, die gegen
ihren Arbeitgeber aussagen, bekommen darüber hinaus
einen besonderen Schutz. Damit setzen wir an der
Wurzel der irregulären Zuwanderung nach Deutschland
an: bei der Nachfrage nach illegaler Beschäftigung und
den damit verbundenen Dumpinglöhnen und Ausbeutungen. Illegale Beschäftigung muss für die Arbeitgeber
unattraktiv werden.
Mit dem Gesetz schaffen wir zudem eine Ermächtigungsgrundlage für das Bundesministerium des Innern,
eine Prüfungsverordnung zu den Abschlusstests der
Integrationskurse zu erlassen. Dies ist ein weiterer
Schritt zur qualitativen Stärkung der Integrationskurse,
Zu Protokoll gegebene Reden
die die Bundesregierung bereits mit der Überarbeitung
der Integrationskursverordnung geleistet hat. Mittlerweile haben über 1 Million Menschen an den Integrationskursen teilgenommen und können sich dadurch
leichter in Deutschland orientieren und besser auf
Deutsch verständigen. Im Gegensatz zur Vorgängerregierung haben CDU/CSU und FDP die Mittel für die
Integrationskurse um 50 Millionen Euro auf 224 Millionen Euro pro Jahr angehoben. Dies ist ein deutliches
Zeichen dafür, wie wichtig wir die Unterstützung von
Integration nehmen. Inzwischen haben viele Menschen
aus den ursprünglichen Zielgruppen der Integrationskurse an eben diesen teilgenommen. Es ist daher an der
Zeit zu überlegen, wie die Integrationskurse künftig
ausgerichtet werden können. Mir scheint es wichtig, die
Integrationskurse stärker an Zuwanderern aus der EU
auszurichten und für sie zu öffnen. Mehr als die Hälfte
aller Zuwanderer, die heute in unser Land kommen,
stammen aus der Europäischen Union. Diese Zuwanderer können wir besser als bislang bei ihrer Integration
unterstützen. Darüber sollten wir diskutieren.
Zuletzt wollen wir die Chance des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens nutzen, um die Entbürokratisierung
voranzubringen. Durch die Abschaffung der deklaratorischen Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsbürger
entlasten wir die Kommunen in Deutschland. Wie eine
Modellrechnung gezeigt hat, kann allein München
50 000 Euro pro Jahr durch diese Maßnahme einsparen.
Auf Deutschland hochgerechnet ergibt sich sicherlich
eine Summe im oberen sechsstelligen oder gar im siebenstelligen Bereich.
Der vorliegende Gesetzentwurf streift eine ganze
Reihe von Themen, die der christlich-liberalen Koalition
am Herzen liegen: die Gleichstellung von Schwulen und
Lesben, die Stärkung der Rechte von Menschen ohne
regulären Aufenthaltsstatus, die Integrationskurse und
die Entbürokratisierung in Deutschland. In all diesen
Bereichen können wir weitere Verbesserungen erreichen. Ich freue mich auf die Beratungen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nimmt die Bundesregierung Änderungen an dem Gesetz vor, das die
Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union und ihrer Familienangehörigen in
Deutschland regelt. Dass nun Lebenspartnerinnen und
Lebenspartner von Unionsangehörigen künftig mit Ehegatten gleichgestellt werden, ist gut, auch wenn dies
eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Wir
begrüßen auch, dass es bald nicht mehr erforderlich
sein wird, eine sogenannte Freizügigkeitsbescheinigung
zu beantragen und vorzuweisen. Diese Bescheinigung
hat ohnehin nur deklaratorischen Wert und stellt einen
unnötigen bürokratischen Aufwand dar.
Aus drei Gründen aber lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab:
Erstens. Dass die Freizügigkeitsbescheinigung abgeschafft werden soll, ist, wie gesagt, gut und richtig.
Dadurch springt aber eine menschenrechtswidrige Praxis in Deutschland umso mehr ins Auge, die spätestens
bei dieser Gelegenheit beseitigt werden muss. Ich rede
von der massiven Beschränkung der Freizügigkeit von
Asylsuchenden und Geduldeten durch die sogenannte
Residenzpflicht. Immer mehr Betroffene machen durch
Protestaktionen, unter anderem durch einen aktuellen
Protestmarsch nach Berlin, den viele Abgeordnete der
Linken wie auch andere Aktionen begleitet haben, auf
diesen Skandal aufmerksam. Das Verbot, ein zugewiesenes Gebiet ohne Begründung bzw. ohne behördliche Erlaubnis zu verlassen, und dies auch noch unter Strafe zu
stellen, ist diskriminierend und verletzt die Betroffenen
in ihrer Menschenwürde und in ihren Persönlichkeitsrechten. Alle vorgeblichen sachlichen Begründungen für
die Residenzpflicht sind entweder nicht überzeugend
oder können jedenfalls nicht diese erhebliche Einschränkung der persönlichen Freiheit rechtfertigen.
Wenn das Wort Freizügigkeit in einem Gesetzentwurf
vorkommt, dann sollte dieser also auch die Freizügigkeit
im Land in einem ganz umfassenderen Sinn herstellen.
Zweitens ist der Gesetzentwurf unzureichend, weil
nicht alle von der EU-Kommission im Rahmen eines
Vertragsverletzungsverfahrens angemahnten Änderungen zur wirksamen Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie berücksichtigt wurden. So monierte die Kommission
eine unzureichende Umsetzung der Vorgabe einer Erleichterung des Familiennachzugs weiterer Familienangehöriger, also Geschwister, Onkel, Tanten, Neffen usw.
Die Bundesregierung verwies diesbezüglich zwar auf
ein noch ausstehendes Urteil des Europäischen
Gerichtshofs, doch selbst wenn dieses Urteil im Sinne
der Bundesregierung entscheiden würde, heißt das
nicht, dass die Bundesregierung nicht über die darin als
absolut einzuhaltenden Minimalstandards im Sinne der
betroffenen Menschen hinausgehen kann und sollte.
Davon abgesehen liegt dieses Urteil des EuGH in der
Sache „Rahman“ inzwischen seit dem 1. September
2012 vor. Nach meiner Einschätzung erfordert dies
zwingend eine weitergehende Änderung des Freizügigkeitsgesetzes, wie von der Kommission angemahnt. Ein
Nachzug entfernter Verwandter ist nach geltendem
Recht nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach
Maßgabe des § 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz möglich.
Dies wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht,
wonach Unionsangehörige gegenüber Drittstaatsangehörigen „in gewisser Weise bevorzugt“ behandelt werden müssen, wie auch immer man eine solche Ungleichbehandlung politisch bewertet. Weiterhin fordert der
EuGH im Urteil, dass die Einreisebedingungen für diese
Gruppe im Wortsinne „erleichtert“ werden müssen und
diese Vorgabe in der konkreten Umsetzung nicht ihre
„praktische Wirksamkeit“ verlieren darf. Die überaus
hohen Hürden eines außergewöhnlichen Härtefalls entsprechen dem nicht. Das ist keine Erleichterung, sondern eine Erschwernis. Da hilft im Übrigen auch kein
Hinweis auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz, wo es einen versteckten, aber völlig ungenügenden und unbestimmten Hinweis auf diese Betroffenengruppe in Punkt 36.2.2.9. gibt.
Drittens kritisiert die Linke, dass die Bundesregierung eine ausdrückliche Missbrauchsregelung zur
Verhinderung sogenannter Scheinehen schaffen will.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir fürchten, dass dies zu einer verschärften Prüfpraxis
in den Behörden führen wird und viele binationale Partnerschaften unzulässig verdächtigt werden. Zwar heißt
es in der Gesetzesbegründung, dass „systematische oder
anlasslose Prüfungen nicht gestattet“ sind und „begründete Zweifel“ vorliegen müssen, doch diese allgemeinen Vorgaben gelten auch im Bereich des Aufenthaltsgesetzes, und wir wissen ja, in welch breitem und
auch willkürlichem Ausmaß binationale Paare dessen
ungeachtet in der ausländerbehördlichen Praxis unter
Verdacht geraten.
In der Gesetzesbegründung wird auch nicht nachvollziehbar dargelegt, wieso eine solche Missbrauchsregelung auf einmal erforderlich sein soll. Lapidar heißt es:
„Abfragen unter den Ländern haben eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen ergeben“. Konkretere Anhaltspunkte oder auch nur ungefähre Zahlenangaben fehlen
aber komplett. Solange dies so ist, bestreite ich, dass es
den beklagten Missbrauch in bedeutendem Umfang gibt,
zumal die Zahlen, die uns vorliegen, für eine gegenteilige Annahme sprechen.
Erst vor kurzem wurde ein Working Paper, Nr. 43, des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu „Missbrauch des Rechts auf Familiennachzug“ vorgestellt.
Das Ergebnis auf Seite 5 spricht für sich:
Aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft der
verfügbaren statistischen Informationen lassen sich
weder verlässliche Aussagen zum Umfang des
Missbrauchs des Familiennachzugs machen, noch
zu erforderlichen Gegenmaßnahmen.
Auf Seite 26 findet sich auch Interessantes:
Den in der PKS registrierten Verdachtsfällen lässt
sich entnehmen, dass die Scheinehe offenbar nur in
geringem Umfang zur irregulären Einreise genutzt
wird. Stattdessen stellt sie in der Regel ein Instrument zur Verfestigung eines prekären, aber dennoch
legalen Aufenthalts dar.
Vor diesem Hintergrund muss es doch heißen: Abrüsten! Für die viel beschworene Gefahr angeblich verbreiteter Scheinehen und Missbräuche gibt es keine Belege.
Was hier produziert und praktiziert wird, befördert
rechtspopulistische Stimmungsmache. Die Folge dieses
staatlich gesäten Misstrauens ist eine erhebliche Behinderung des Zusammenkommens und Zusammenlebens
vieler binationaler Paare durch vielfach unbegründete
ausländerbehördliche Verdächtigungen.
Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch auf
einen Vorgang hinweisen, der schon ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Aber fachkundige Abgeordnete werden sich sicherlich noch daran erinnern, zu welchen
politischen Auswirkungen das sogenannte MetockUrteil des EuGH vom Juli 2008 geführt hat. Es ging dabei, grob gesagt, um die Nachzugsrechte drittstaatsangehöriger Ehepartnerinnen und -partner Unionsangehöriger und welche Regeln gelten sollen. Im
Innenausschuss des Bundestages war dieses Urteil
Thema. Der damalige Innenminister Schäuble persönlich forderte im EU-Rat mehrfach Konsequenzen aus
dem Urteil, sogar eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie wurde ins Spiel gebracht. Er sprach wörtlich
von einem „großen Einfallstor für Rechtsmissbrauch“.
Dabei hatte das Urteil Auswirkungen auf eine nur sehr
geringe Personengruppe von vielleicht etwa 3 000
Familiennachzugsfällen im Jahr. Auf parlamentarische
Nachfragen von mir musste die Bundesregierung einräumen, dass es keine Hinweise auf signifikante Änderungen infolge des Metock-Urteils gab, siehe Bundestagsdrucksache 16/13978, Frage 11 a. Selbst der
Staatssekretär sprach ein Jahr später nur noch von einer
sehr kleinen Personengruppe, und dies meint wohlgemerkt nicht die vermuteten Missbrauchsfälle, sondern
die Gesamtzahl derer, bei denen es vielleicht einen Missbrauch geben könnte. Die Zahl der erteilten Aufenthaltskarten für Ehegatten von Unionsangehörigen aus Drittstaaten - um die ging es bei „Metock“ - ist nach dem
Urteil in etwa gleich geblieben. Von Missbrauch also
keine Spur! Die ministerielle Hysterie von damals
erwies sich als pure rechtspopulistische Panikmache,
genauso wie die vorliegende vorgeschlagene gesetzliche
Verschärfung, die wir Linke deshalb ablehnen.
Meine Fraktion begrüßt, dass die Bundesregierung
endlich Lebenspartnerinnen und -partner mit Ehegatten
von Unionsbürgerinnen und -bürgern beim Recht auf
Einreise und Aufenthalt gemäß dem Freizügigkeitsgesetz/EU gleichstellt. Diese Änderung ist längst fällig.
Natürlich gäbe es einen viel einfacheren und unbürokratischeren Weg, Lebenspartnerinnen und -partner gleichzustellen, nämlich die Öffnung der Ehe.
Im Übrigen gibt es wenig Positives über den Gesetzentwurf zu sagen. Die Bundesregierung hat sich das Ziel
gesetzt, Vorschriften der Freizügigkeitsrichtlinie, die
noch nicht angemessen umgesetzt worden sind, vollständig in das Freizügigkeitsgesetz/EU zu übernehmen. Von
diesem willkommenen Ziel ist sie jedoch leider weit entfernt.
Vor über einem Jahr hat die Kommission gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen
mangelnder Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie eingeleitet. In dem laufenden Verfahren ist die fehlende
Gleichstellung von Lebenspartnern allerdings nur ein
Kritikpunkt unter vielen. Ich möchte hier nur zwei der
weiteren Regelungen hervorheben, die die Bundesregierung bei ihrem Gesetzentwurf außer Acht gelassen hat.
Erstens rügt die Kommission die Einreisebestimmungen für Familienangehörige im Sinne von § 3 Abs. 2a
der Freizügigkeitsrichtlinie, die zwar nicht einen Anspruch auf Einreise haben, denen nach der Richtlinie
aber die Einreise und der Aufenthalt erleichtert werden
sollen. Dazu gehören pflegebedürftige Personen und
solche, denen der Unionsbürger im Herkunftsland
Unterhalt gewährt hat oder die mit ihm in häuslicher
Gemeinschaft gelebt haben. Der EuGH hat in seiner
Entscheidung vom 5. September 2012 in der Sache
Rahman klargestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, diese Personen, die zu einem Unionsbürger in
einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber anderen Drittstaatsangehörigen bevorzugt zu
Zu Protokoll gegebene Reden
behandeln. Insbesondere müssen die persönlichen
Umstände, wie der Grad der Verwandtschaft und die
finanzielle oder physische Abhängigkeit, eingehend
untersucht werden.
Diesen Anforderungen wird das deutsche Recht nicht
gerecht. Nach § 36 Abs. 2 AufenthG wird den obengenannten Familienangehörigen in der Regel der Aufenthalt verwehrt. Nur wenn es zur Vermeidung einer
außergewöhnlichen Härte erforderlich ist, wird eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt. Jeder weiß, dass es fast unmöglich ist, eine deutsche Behörde von dem Vorliegen
einer außergewöhnlichen Härte zu überzeugen.
In diesem Zusammenhang rügt die Kommission
ebenso, dass diesen Personen nach der Einreise nicht
die in der Freizügigkeitsrichtlinie vorgesehenen Rechte
zugestanden werden, wie etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre, Gleichbehandlung,
Ausweisungsschutz und das Recht auf Zugang zur Beschäftigung.
Eine weitere Rüge der Kommission betrifft den Ausweisungsschutz. Nach deutschem Recht sind Ausweisungsverfügungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit automatisch mit
einem unbefristeten Aufenthaltsverbot verbunden. Die
automatische lebenslange Wiedereinreisesperre, die nur
auf Antrag beschränkt werden kann, widerspricht aber
dem europäischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Wir erwarten, dass die Bundesregierung im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens den Aufforderungen der Kommission entsprechend ihren Gesetzentwurf nachbessert.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 34:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung und zur Änderung
des Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer
- Drucksache 17/10487 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu
Protokoll genommen.
In den letzten Jahren bemerken wir im Bereich der
Anwaltschaft und Steuerberatung eine gesellschaftsrechtliche Flucht nach Großbritannien. Insbesondere
bei Rechtsanwälten ist eine Abwanderung größeren
Ausmaßes in die britische LLP, Limited Liability Partnership, zu beobachten.
Das bisherige Haftungskonzept der deutschen Partnerschaftsgesellschaft wird von den Angehörigen Freier
Berufe zum Teil nicht als befriedigend empfunden. Zwar
wird mit der Partnerschaftsgesellschaft schon derzeit
eine Rechtsform angeboten, die unter anderem den Vorteil
einer transparenten Besteuerung mit einer Haftungskonzentration verbindet. Praktische Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn innerhalb der Partnerschaftsgesellschaft Aufgaben durch Teams bearbeitet werden. Die
aufgrund unterschiedlicher Spezialisierung miteinander
arbeitenden Partnerinnen und Partner können die Arbeitsbeiträge der anderen mitunter weder inhaltlich
noch dem Umfang nach vollständig überblicken und vor
allem verantworten.
Vor dem Hintergrund der Initiative „Law Made in
Germany“ soll es um eine überzeugende Alternative zur
britischen LLP gehen. Die mit dem Gesetz zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter
Berufshaftung vorgesehene Rechtsformvariante der
Partnerschaftsgesellschaft für die Freien Berufe vereint
steuerliche Transparenz mit einer Haftungsbeschränkung, wenn es zu beruflichen Fehlern kommt. Damit
passt die neue Gesellschaftsform besonders zu Kanzleien und anderen freiberuflichen Zusammenschlüssen,
in denen die Partner hoch spezialisiert in Teams zusammenarbeiten. Die Haftung für berufliche Fehler, nicht
jedoch für andere Verbindlichkeiten wie Kreditverbindlichkeiten oder Mietzinsen wird auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt.
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll Voraussetzung für die Haftungsbeschränkung sein, dass eine
Haftpflichtversicherung abgeschlossen wird. Dabei sieht
der Gesetzentwurf eine Differenzierung der Versicherungssummen in Abhängigkeit von der Art des Freien
Berufs vor. Die Mindestversicherungssumme für Rechtsanwälte soll 2,5 Millionen Euro betragen. Eine Partnerschaftsgesellschaft von Steuerberatern soll „angemessen“
versichert sein. Für Wirtschaftsprüfer sieht der Gesetzentwurf eine Versicherungssumme von 1 Million Euro
vor.
Die Haftpflichtversicherung soll dem Schutz des Vertragspartners dienen.
Auf den Briefbögen der Partnerschaftsgesellschaften
mit beschränkter Berufshaftung soll nach Vorstellung
des Entwurfs auf die beschränkte Berufshaftung mit einer Abkürzung aufmerksam gemacht werden. Dies kann
beispielsweise durch das Kürzel „mbB“ geschehen.
Der Gesetzentwurf sieht überdies vor, dass auch weitere Freie Berufe mit gesetzlichem Berufsrecht jederzeit
durch entsprechende Regelung in ihrem Berufsrecht hinzutreten und die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung für sich nutzen können.
Der Entwurf weist in die richtige Richtung. Hinsichtlich der Einzelheiten bedarf es jedoch noch weiterer
Diskussionen im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens.
Die deutsche Alternative zur britischen Limited Liability Partnership kommt. - So wirbt das Bundesjustizministerium.
Neben der Partnerschaftsgesellschaft, PartG, zu der
sich Angehörige freier Berufe zusammenschließen können, soll eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung eingeführt werden. Damit soll verhindert werden, dass vor allem Großkanzleien auf die
Rechtsform der Limited Liability Partnership ausweichen. Ich lasse dahingestellt, ob es diesen behaupteten
Trend tatsächlich gibt. Mir liegen jedenfalls keine dementsprechenden Untersuchungen dazu vor.
Größere Kanzleien beklagen, bei großen Teams, die
mit einer Vielzahl von Spezialisten an einer Aufgabenstellung arbeiten, könnten die einzelnen Anwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer die Arbeitsbeiträge der
andern oft nicht mehr überblicken und verantworten,
müssten in einer PartG auch mit ihrem persönlichen
Vermögen dafür aber haften.
Der Entwurf sieht nun eine Beschränkung der unmittelbaren persönlichen Haftung für Fehler bei der Berufsausübung vor. Bei beruflichen Fehlern soll bei der
PartG mbB nur noch das Gesellschaftsvermögen haften
und sollen nicht mehr zusätzlich die Bearbeiter des Auftrags haften. Bisher haften diese Rechtsanwälte grundsätzlich persönlich und mit ihrem gesamten Vermögen.
Die Haftung für andere Schulden wie Mieten und Löhne
bleibt bestehen. Im Gegenzug wird ein angemessener
Versicherungsschutz eingeführt, und die Partnerschaft
wird durch die Namenwahl auf die Haftungsbeschränkung hinweisen müssen.
Für eine aus Anwälten bestehende Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung sind als Mindestversicherungssumme 2,5 Millionen Euro vorgesehen. Eine aus Steuerberatern bestehende PartG mbB
muss „angemessen“ versichert sein. Wirtschaftsprüfer
müssen mit 1 Million Euro versichert sein. Gründe für
diese Differenzierung der Höhe nach sind nicht, jedenfalls nicht überzeugend vorgetragen.
Diese haftungsbeschränkende Ausgestaltung komme
sowohl den Interessen der Anwaltschaft als auch denen
der Verbraucher entgegen, wird für den Gesetzentwurf
argumentiert.
Ziel des Entwurfs sei es, die „transparente Besteuerung“ der PartG mit einer wirksamen Beschränkung der
Außenhaftung zu verbinden.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass damit im Gesellschaftsrecht die eierlegende Wollmilchsau geschaffen werden soll. Damit geht aber die klare Linie im Gesellschaftsrecht verloren. Das Land Bayern ist im
Rahmen der Bundesratsberatung nicht zu Unrecht der
Auffassung gewesen, dass das Konzept der PartG mbB
mit grundlegenden Prinzipien des deutschen Gesellschaftsrechts nicht zu vereinbaren ist. Im Recht der Kapitalgesellschaften ist das Privileg der Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen an die
Erfüllung strenger Kapitalvorschriften geknüpft. Dagegen ist Kernelement der Personalgesellschaften - zu denen auch die PartG gehört - die persönliche Haftung zumindest eines Gesellschafters, die nicht einseitig
beschränkt werden kann - aus gutem Grund und zum
Schutz aller Beteiligten.
Auch der Richterbund kritisiert, dass die PartG mbB
einen Bruch im deutschen System der Gesellschaftsformen darstelle, da für bestimme Berufsgruppen vermeintlich vorteilhafte Merkmale der Personenhandels- und
der Kapitalgesellschaft vermischt würden.
Außerdem bestehen Zweifel, ob die Begrenzung der
Haftungsbeschränkung auf bestimmte Berufsgruppen
mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist. Denn der
Gesetzentwurf sieht eine Beschränkung der Haftung nur
für diejenigen freien Berufe vor, die eine gesetzlich begründete Haftpflichtversicherung haben. Andere Berufsgruppen sind von der Gründung einer PartG mbB ausgeschlossen.
Abgesehen von diesen abstrakten Bedenken gibt es
aber auch offene Fragen zur konkreten Ausgestaltung.
Ist die vorgesehene Mindestversicherungssumme von
2,5 Millionen Euro ausreichend, um die Haftungsbeschränkung vollständig auszugleichen? Es gibt aber
auch anderslautende Meinungen, die diese Summe wiederum als zu hoch ansehen. So sei eine wirtschaftliche
Versicherungsabsicherung nicht mehr möglich, und das
gefährde die Zusammenarbeit innerhalb großer Kanzleien.
Fest steht: Der Rechtsverkehr wird mit neuen Rechtsformen wieder ein Stück weit unübersichtlicher. Deshalb
muss geprüft werden, ob nicht bewährte Gesellschaftsformen zur Verfügung stehen, mit denen sich dasselbe
Ziel erreichen lässt.
Wer einen Haftungsausschluss zum Kernziel hat, für
den steht die GmbH als Kapitalgesellschaft zur Verfügung. Sie kann auch von Freiberuflern genutzt werden.
Als Anwaltsgesellschaft vor einigen Jahren noch umstritten, haben sich die berufsrechtlichen Zeichen gewandelt und die Nutzung dieser Rechtsform ermöglicht.
Kann es deshalb nicht sinnvoll sein, die Kapitalgesellschaften für Freiberufler weiter zu öffnen? Dafür müsste
man die Kapitalgesellschaften für Freiberufler steuerlich und bilanzrechtlich attraktiver gestalten. Die Bilanzierungspflichten sind für die beratenden Berufen noch
nicht angemessen.
Als zweite Alternative ist daran zu denken, die GmbH
& Co. KG für Anwälte zu öffnen.
Damit möchte ich eins verdeutlichen: Der Vorschlag
der PartG mbB ist nicht so alternativlos, wie uns dies
der Gesetzentwurf verkaufen will. Auch wenn Steuerund Gesellschaftsrecht nicht die perfekte Lösung bieten,
stellt sich die Frage, ob eine weitere Gesellschaftsform
zwingend notwendig ist. Gesellschaftsrechtler Noack
spricht nicht zu Unrecht vom „Teilchenzoo“ Gesellschaftsrecht.
PartG mbB, ja oder nein? Am Ende läuft die Bewertung auf die Frage hinaus, ob wir rechtspraktischen
oder rechtssystematischen Erwägungen den Vorzug geben wollen. Ich befürworte deshalb die vom RechtsausZu Protokoll gegebene Reden
schuss beschlossene Anhörung, um diese Fragen und
Wertungen diskutieren zu können.
Durch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen im Partnerschaftsgesellschaftsrecht soll für die Angehörigen freier Berufe eine neue Alternative neben den
bestehenden Rechtsformen geschaffen werden. Die
Partnerschaftsgesellschaft wurde schon vor Jahren in
Deutschland eingeführt. Sie vereint die Vorteile der steuerlichen Überschussrechnung mit einer teilweisen Haftungsbeschränkung - ähnlich der im englischen Recht
ansässigen Limited Liability Partnerschip, LLP. Jedoch
ist die Haftungsbeschränkung der LLP weiter ausgeprägt als die der Partnerschaftsgesellschaften. Deshalb
war es in den vergangenen Jahren immer häufiger zu beobachten, dass große Dienstleistungsgesellschaften sich
in die anglo-amerikanische Rechtsform umwandelten.
Damit konnten sie sicherstellen, dass eine persönliche
Haftung aus beruflichem Handeln dem Mandanten bzw.
Klienten gegenüber ausgeschlossen ist, und nutzten den
Vorteil der Rechnungslegung nach den Grundsätzen der
Überschussrechnung und nicht der umständlichen Bilanzierung.
Durch die voranschreitende Globalisierung, in denen
es Lebenssachverhalte über Kontinente hinweg zu beurteilen und eine Vielzahl von Rechtsordnungen anzuwenden gilt, steigt das Haftungsrisiko für berufliche Fehler.
Jedoch geht die deutsche Partnerschaftsgesellschaft von
einer persönlichen Haftung aller Gesellschafter aus,
egal ob sie selbst mit dem Vorgang befasst waren oder
nicht. Es ist sogar so, dass ein neu in die Partnerschaft
eingestiegener Gesellschafter für die in der Vergangenheit von seinen Partnern begangenen Fehler haften
würde.
Im Hinblick auf die steigenden Haftungsrisiken und
Haftungsvolumina kann man es einer natürlichen Person nicht mehr zumuten, persönlich zu haften. Ich begrüße es vor diesem Hintergrund ausdrücklich, dass im
Gesellschaftsrecht die Möglichkeit eröffnet werden soll,
die Haftung von Personengesellschaften auf das Geschäftsvermögen bei Vorhandensein einer entsprechenden Haftpflichtversicherung und eines Hinweises im Namen der Partnerschaft zu beschränken. Auch positiv zu
bewerten ist, dass die bisherige Rechtsform daneben bestehen bleibt und damit eine neue Wahlmöglichkeit für
die Gesellschaftsform eröffnet wird. Das zieht natürlich
auch eine Anpassung der Berufsrechte der betroffenen
freien Berufe nach sich, die der vorliegende Gesetzentwurf auch folgerichtig aufgreift.
Hier kommt es jedoch auf die Details an: Für Rechtsanwaltspartnergesellschaften mit beschränkter Haftung
ist eine Mindestversicherungssumme von 2 500 000 Euro
pro Partner vorgesehen. Das klingt auf den ersten Blick
plausibel vor dem Hintergrund, dass eine persönliche
Haftung der Partner mit ihrem Privatvermögen ausgeschlossen ist und hier allein die Gesellschaft mit ihrem
Vermögen haftet. Mit dem Argument des Schutzes der
Rechtssuchenden und der fehlenden persönlichen Haftung wird die für Rechtsanwälte nach § 51 Bundesrechtsanwaltsordnung übliche Mindestversicherungssumme
von 250 000 Euro verzehnfacht. Das ist nach meinem
Verständnis nicht sachgerecht und unterstellt, dass jeder
Rechtsanwalt mehrfacher Euro-Millionär sei für den
Fall der persönlichen Haftung gegenüber dem Mandanten.
Viele Rechtsanwälte sind mit der Summe von
250 000 Euro pro Schadensfall versichert. Dies reicht in
der Praxis für die übliche Mandatserledigung aus. Sollten sie Mandate mit höheren Haftungsrisiken übernehmen, so schließen sie in der Regel eine höhere, mandatsbezogene Einzelhaftpflichtversicherung ab. Das liegt in
der Verantwortung eines jeden Rechtsanwalts. Nun besteht aber die Gefahr, dass die neue Alternative der
Partnerschaftsgesellschaft aufgrund der, mit der hohen
Mindestversicherungssumme verbundenen, entsprechend hohen Versicherungsbeiträge nicht angenommen
wird. Das war auch schon bei der Einführung der
Rechtsanwalts-GmbH so. Die hat die gleiche Mindestversicherungssumme, und es standen am 1. Januar 2011
453 Rechtsanwalts-GmbH 2 789 herkömmlichen Rechtsanwaltspartnerschaften gegenüber. Hier muss die Bundesregierung noch etwas nachjustieren, um die Attraktivität und Akzeptanz bei der neueren Rechtsform zu
erhöhen.
Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer
sollen nach dem Gesetzentwurf der Regierung, über den
wir heute beraten, für ihre berufliche Zusammenarbeit
künftig eine neue Organisationsform wählen können:
die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung, PartGmbH.
Das Auffällige an dieser neuen Gesellschaftsform ist
die Kumulation von Vorteilen: Die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung soll die steuerlichen
Vorteile der Personengesellschaft mit den Vorteilen der
beschränkten Haftung der Kapitalgesellschaft verbinden.
Damit will die Regierung eine deutsche Alternative
zur anglo-amerikanischen Limited Liability Partnership, LLP, schaffen. Im Gesetzentwurf hat sie dementsprechend auch dargelegt, dass in Deutschland ein erheblicher Trend zur Nutzung der Rechtsform der LLP zu
verzeichnen sei.
Allerdings führt die Bundesregierung im Gesetzentwurf keine Anzahl der LLPs in Deutschland auf. Exakte
Zahlen konnte sie auch nicht nennen, als wir sie in unserer schriftlichen Frage konkret darum baten. Vielmehr
heißt es in der Antwort der Regierung: „Aus Berufskreisen der Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater wird berichtet, dass die Zahl der Zusammenschlüsse in Form der LLP steigend ist.“
Schauen wir uns die öffentlich verfügbaren Zahlen
genauer an, so stellen wir fest: In den nach jetziger
Rechtslage möglichen deutschen Gesellschaftsformen
sind weit über 2 000 Kanzleien in der Rechtsform der
Partnerschaftsgesellschaft ({0})
organisiert, über 300 haben die Rechtsform der GmbH
Zu Protokoll gegebene Reden
gewählt. Bei den verbleibenden Anwaltszusammenschlüssen dominiert die Gesellschaft bürgerlichen
Rechts.
Sucht man im Handelsregister nach der Rechtsform
der LLP, so stellt man fest: 54 LLPs sind eingetragen.
Und das sind nicht nur die Freiberufler, denen das Gesetz zugutekommen soll. Neben Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern sind zum Beispiel auch
Architekten bei den 54 LLPs im Handelsregister eingetragen.
Das sind Zahlen, die nicht auf gesetzgeberischen
Handlungsbedarf schließen lassen.
Und es stellt sich noch ein weiteres Problem:
Unterläuft einem Rechtsanwalt, Steuerberater oder
Wirtschaftsprüfer in seiner Tätigkeit ein Fehler, so haftet
er bisher mit seinem Privatvermögen. Dieses Risiko sichert er mit einer Berufshaftpflichtversicherung ab. Die
Mindestversicherungssumme liegt für Rechtsanwälte
derzeit bei 250 000 Euro pro Versicherungsfall.
Bei der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter
Haftung entfällt die persönliche Haftung des Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers. Eine versicherungsrechtliche Lösung soll den Schutz von Mandanten gewährleisten.
Rechtsanwälte müssen dann eine Berufshaftpflichtversicherung von mindestens 2,5 Millionen Euro pro
Versicherungsfall unterhalten. Dies ist das Zehnfache
der bisherigen Mindestversicherungssumme. Ein entsprechend hoher Versicherungsbeitrag ist die Folge.
Wie viele Partnerschaften sich diesen Versicherungsschutz werden leisten können, ist fraglich. Wenn überhaupt, ist eine solche Versicherungssumme nur für große
Kanzleien erschwinglich.
Das Gesetz hat also im Kern eine sehr beschränkte
Zielgruppe: Großkanzleien.
Kleine und mittelständische Kanzleien werden von
der Möglichkeit der Gründung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung kaum profitieren.
Die Folgen eines solchen Gesetzes aber betreffen das
gesamte Gesellschaftsrecht: Die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung bedeutet eine Vermischung von Merkmalen der Personengesellschaft mit
Merkmalen der Kapitalgesellschaft. Sie bewirkt eine
weitere Aufsplitterung der Gesellschaftsformen. Ein Gesetz mit einem solch begrenzten Anwendungsbereich wie
dieses sollte nicht dazu führen, unser gesellschaftsrechtliches System zu durchbrechen.
Gerne können wir die Hinweise auf die Nutzung ausländischer Rechtsformen, wie der LLP, dazu nutzen,
über eine grundlegende Reform des Gesellschaftsrechts
nachzudenken. Ziel muss es aber sein, dessen Komplexität zu verringern und nicht zu vergrößern.
Meine Damen und Herren Rechtspolitikerinnen und
Rechtspolitiker, wir müssen durchdachte und sinnvolle
Gesetze anbieten, wenn wir mit „Law Made in Germany“ in Konkurrenz zu anderen Rechtsordnungen treten wollen. Diesem Anspruch genügt das vorliegende
Gesetz nicht.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf für
ein Gesetz zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung und Änderung des
Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer ist ein wichtiger Beitrag
zur Förderung des Standorts Deutschland. Mit Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter
Berufshaftung wird Freiberuflern eine ausgewogene
deutsche Alternative zu Rechtsformen des europäischen
Auslands, insbesondere zur Limited Liability Partnership nach angelsächsischem Recht, geboten. Diese
Rechtsformvariante der Partnerschaftsgesellschaft steht
konzeptionell allen freien Berufen zur Verfügung.
Die Gestaltungsmöglichkeit beschränkt sich dabei
auf eine Haftungsbegrenzung für berufliche Fehler. Hinsichtlich sonstiger Verbindlichkeiten soll es dagegen bei
der bisherigen Haftung der Gesellschafter verbleiben.
Das Konzept der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung ist ausgewogen. Die Interessen des Rechtsverkehrs und der Vertragspartner der
Gesellschaft werden angemessen berücksichtigt: Zum
Schutze des Rechtsverkehrs wird die Möglichkeit der
Haftungsbegrenzung für berufliche Fehler flankiert
durch die Pflicht der Gesellschaft, im Rechtsverkehr mit
einem die Haftungsbegrenzung signalisierenden Namenszusatz aufzutreten. Außerdem besteht die Pflicht,
eine angemessene Berufshaftpflichtversicherung zu unterhalten.
In den Stellungnahmen zum Referentenentwurf wurde
deutlich, dass die Regelung manchen zu weit und manchen nicht weit genug geht: Ich denke, wir haben hier einen ausgewogenen und vernünftigen Kompromiss gefunden.
Jene, die die Regelung als nicht weitgehend genug
ansehen, verbinden dies meist mit der Forderung, die
Rechtsform der GmbH & Co. KG auch für die freien Berufe zu ermöglichen. Eine Öffnung des Handelsgesetzbuches für freie Berufe kann allerdings nicht in kleinen
Sonderlösungen für einzelne Berufe erfolgen. Erforderlich wäre eine grundsätzliche Umgestaltung des Kaufmannsrechts in ein „Unternehmensrecht“. Dies setzte
jedoch grundsätzliche systematische Überlegungen im
Handels-, Gesellschafts- und Steuerrecht voraus. Um
den freien Berufen zeitnah ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten anbieten zu können, wie sie in anderen europäischen Rechtsordnungen schon bestehen, bietet sich
die Einführung der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung als schlanke und überschaubare Lösung an. Besser der Spatz in der Hand als die
Taube auf dem Dach!
Manchen geht die Regelung allerdings auch schon zu
weit: Hier wird gefordert, es bei der althergebrachten
grundsätzlich vollen persönlichen Haftung der Gesellschafter zu belassen. Dabei wird freilich übersehen, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
Haftungsbeschränkungen auch für Freiberufler schon
längst über ausländische Rechtsformen erreichbar sind
und dass Vertragspartnern von Freiberuflern wenig damit geholfen ist, wenn sie sich zunehmend mit ausländischen Rechtsformen auseinandersetzen müssen. Auch ist
zu bedenken, dass die Höhe der Summe, mit der eine
Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung hinsichtlich beruflicher Fehler versichert sein
muss, in der Regel über das Privatvermögen von Freiberuflern hinausgehen dürfte. Über die Versicherung für
berufliche Fehler dürften Vertragspartner daher weitergehend geschützt sein als über einen Zugriff auf das Privatvermögen der Gesellschafter. Hinzu kommt eine systematische Überlegung: Als Personengesellschaft mit
Haftungsbeschränkung hat das Gewerbe die GmbH &
Co. KG, den freien Berufen fehlt bislang ein Äquivalent.
Es ist systemkonform, diese Lücke zu schließen.
Ich wünsche mir, dass die Partnerschaftsgesellschaft
mit beschränkter Berufshaftung den Freiberuflern möglichst bald als deutsche Alternative zur Verfügung steht.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 35:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Seehandelsrechts
- Drucksache 17/10309 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Protokoll genommen.
Das bisher geltende Seehandelsrecht basiert in weiten Teilen auf überkommenen, aus dem 19. Jahrhundert,
mitunter sogar aus dem Mittelalter stammenden Rechtsgrundlagen. Rechtsinstitute wie Partenreederei oder das
Verklarungsverfahren haben im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren. Sie werden der Praxis der modernen
maritimen Wirtschaft nicht mehr hinreichend gerecht.
Bei der vorgesehenen Reform geht es darum, das
deutsche Recht an die Erfordernisse des internationalen
Wettbewerbs anzupassen. Der Gesetzentwurf soll
maßgeblich die einschlägigen Vorschriften für die
Frachtschifffahrt und die Personenschifffahrt modernisieren. Die Zahl seehandelsrechtlicher Vorschriften soll
auf etwa die Hälfte reduziert werden.
Der Gesetzentwurf trifft zugleich Vorsorge dafür, dass
Entschädigungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes
künftig verschuldensunabhängig gezahlt werden. Die
Haftungshöchstbeträge sollen deutlich angehoben werden, von derzeit 164 000 Euro auf 468 000 Euro. Die
Zahl der Unfälle in der Schifffahrt ist indes sehr gering,
was sich bei der Berechnung von Versicherungsprämien
auswirkt.
Mit den Anpassungen an die digitale Realität leisten
wir einen sehr wichtigen Beitrag zur Stärkung des deutschen Seehandels.
Im jetzt beginnenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren und in der vorgesehenen Anhörung
im Rechtsausschuss wird der umfangreiche Gesetzentwurf einer ausführlichen Prüfung unterzogen.
Im Übrigen danke ich an dieser Stelle den Mitgliedern der vom Bundesministerium der Justiz im Jahre
2004 eingesetzten Sachverständigengruppe zur Reform
des Seehandelsrechts für ihre guten und wichtigen
Vorarbeiten, auf denen der Gesetzentwurf basiert.
Das Seehandelsrecht soll durch die vorgeschlagene
Reform grundlegend und systematisch überarbeitet und
im Hinblick auf den internationalen Wettbewerb modernisiert und entbürokratisiert werden. Die Vorarbeiten zu
dieser Reform begannen 2004 mit der Einsetzung einer
Sachverständigengruppe ({0}), auf deren Vorschlägen der vorliegende Entwurf beruht.
Das im HGB geregelte Seehandelsrecht ist überholt.
Es stammt in den Grundzügen aus dem Allgemeinen
Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861, als die Seefahrt noch mit Segelschiffen betrieben wurde. Deshalb
treffen viele Regelungen die heutige Wirklichkeit nicht
mehr. Das gilt zum Beispiel für die Vorschriften über die
Partenreederei, bei der es sich um eine besondere und
unbekannte Gesellschaftsform des HGB handelt, die
kaum angenommen wird; Reedereien werden heute von
Aktiengesellschaften oder anderen Handelsgesellschaften betrieben. Auch die Vorschriften über die Verklarung, also die eidesstattliche Erklärung des Kapitäns
nach einem Schiffsunfall, oder über die vermögensrechtliche Abwicklung einer Havarie, die sogenannte Haverei, sind nicht mehr zeitgemäß. Daher weichen die Unternehmen durch Wahl einer ausländischen Rechtsordnung dem deutschen Recht möglichst aus. Falls deutsches Recht Anwendung findet, können die Fälle oft nur
mit richterlicher Rechtsfortbildung gelöst werden.
Neben dem klassischen Seehandel werden auch die
Personenbeförderungsverträge auf See neu geregelt,
§§ 536 HGB-E ff. Für Personenschäden wird neu eine
verschuldensunabhängige Haftung eingeführt, § 538
Abs. 2 HGB-E. Auch für die verschuldensabhängige
Haftung gibt es Haftungshöchstbeträge, § 541 HGB.
Nach der Entwurfsbegründung sind diese Beträge höher
als bisher.
Die Regelungen des Gesetzentwurfs zum „Ausführenden Verfrachter“, § 509 HGB-E, müssen wir uns genau
ansehen. Der Entwurf sieht eine neue Rechtsfigur vor,
wonach zukünftig neben dem Reeder auch der Seehafenumschlagbetrieb direkt und AGB-fest dem Befrachter
oder Empfänger der Güter so haftet, als wäre er der Verfrachter. Dies soll bei Güterschäden gelten, die bei einer
Tätigkeit entstanden sind, die zur Erfüllung eines Stückgutfrachtvertrages ausgeführt wurden. Die vorgeschlagene Haftungsausdehnung auf Umschlagbetriebe würde
angesichts des weiten Feldes der mit der Ladungsbetreuung tätigen Hafenwirtschaft zu unterschiedlichen
Haftungsregimen auf dem Terminalgelände führen, abhängig davon, ob die Tätigkeit dem Stückgutfrachtvertrag oder einem Multimodalvertrag ({1}) zuzuordnen ist.
Neben den juristischen Schwierigkeiten kann die Haftungsausdehnung auf Umschlagbetriebe auch zusätzliche wirtschaftliche Belastungen und Wettbewerbsnachteile zulasten der Umschlagunternehmen zur Folge
haben. Denn für ausländische Umschlagunternehmen
gelten diese Regelungen der Mithaftung nicht. Hier sehe
ich Probleme.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt insgesamt
den Antrag. Doch ist es wieder einmal ein Armutszeugnis, dass das BMJ offenbar nicht in der Lage ist, zwischen seinen eigenen Abteilungen den vorliegenden Gesetzentwurf mit den Bestimmungen des Seearbeitsübereinkommens abzustimmen.
Das Seearbeitsübereinkommen von 2006 zielt auf die
Schaffung von weltweit einheitlichen Mindeststandards
für die Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten
an Bord von Handelsschiffen ab, um damit vor allem
Wettbewerbsverzerrungen und Sozialdumping in der
weltweiten Schifffahrt zu verhindern. In Art. II Ziffer j
des Seearbeitsübereinkommens wird klargestellt, dass
der Reeder für alle Forderungen des Seemannes uneingeschränkt haftbar ist. Diese Regelung greift zum Beispiel dann, wenn Seeleute von Bemannungsagenturen im
Auftrag des Reeders an Bord geschickt werden, das
Schiff von A nach B bringen, aber dann von der Agentur
kein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die Seeleute das Recht, sich wegen der unterlassenen Heuerzahlung direkt an den Reeder zu wenden.
Über den Gesetzentwurf zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens, das sogenannte Seearbeitsgesetz, werden wir uns hier noch zu unterhalten haben; er
enthält zum Beispiel den Fehler, wonach die Haftung des
Reeders auf eine „Bürgschaft“ begrenzt ist. Hier müssen
wir nur feststellen, dass es im Gesetzentwurf zur Reform
des Seehandelsrechts in den Festlegungen der §§ 476 ff.
nicht gelungen ist, die Begriffsbestimmungen mit dem im
selben Hause erarbeiteten Seearbeitsgesetzentwurf in
Einklang zu bringen. Wir fordern deshalb die Überarbeitung der vorhergehend genannten Artikel.
Das deutsche Seehandelsrecht ist veraltet und schwer
verständlich. Diese Feststellung im Gesetzentwurf der
Bundesregierung trifft zu. Aber das sollte kein Grund
sein, acht Jahre dafür zu brauchen, ein aktuelles und
verständliches Seehandelsrecht auf den Weg zu bringen.
3 666 Schiffe gehören deutschen Eignern, die deutsche Handelsflotte gehört zu den größten weltweit.
Trotzdem tun sich die Bundesregierungen sehr, sehr
schwer damit, internationale Übereinkommen in nationales Recht zu übertragen.
Heute wird uns ein Gesetzentwurf zur Reform des
Seehandelsrechts vorgelegt, an dem seit 2004 geschraubt wird. Zwischenzeitlich war man international
schneller und hat bereits Ende 2008 eine „UN-Konvention über Verträge über die internationale Beförderung
von Gütern ganz oder teilweise auf See“ verabschiedet,
die sogenannten Rotterdam-Regeln. Mit diesen Regeln
sollte ein modernes und international einheitliches Seefrachtrecht ermöglicht werden.
Dieses Abkommen ist jedoch nicht in Kraft, weil die
unterzeichnenden Staaten das Abkommen nicht ratifiziert haben. Deutschland aber hat diese Konvention
noch nicht einmal unterzeichnet. Die Deutsche Verkehrs-Zeitung ({0}) kommentiert, mit dem Entwurf des
neuen Seehandelsgesetzes gehe Deutschland einen Sonderweg und koppele sich damit von der internationalen
Rechtsentwicklung ab.
Interessant ist die Begründung. Ich zitiere: „Von einer vollständigen Einarbeitung der Rotterdam-Regeln in
das Handelsgesetzbuch soll dagegen abgesehen werden.
Diese sollte erst dann überhaupt in Erwägung gezogen
werden, wenn die Rotterdam-Regeln von Deutschland
auch ratifiziert werden. Eine Entscheidung über eine
Ratifikation macht aber erst dann Sinn, wenn absehbar
ist, dass sie völkerrechtlich in Kraft treten und zu den
Vertragsparteien wichtige Seehandelsnationen der Welt
zählen werden.“ Also hält sich die wichtige Seehandelsnation Deutschland zurück, wie auch andere? Soll damit
ein internationales Übereinkommen ausgebremst werden?
Frau Ministerin, Sie legen uns einen 250-seitigen Referentenentwurf zur Reform des Seehandelsrechts vor,
der im Vorfeld wegen teils massiver Bedenken der Seefrachtrechtsexperten und der interessierten Verbände
überarbeitet werden musste, nun aber wohl akzeptiert
werden konnte.
Kommen wir zu einigen Details: Zukünftig sollen
auch Subunternehmer eines Verfrachters für ihren Part
direkt gegenüber dem Eigentümer der Ladung haften,
nicht nur auf See, sondern auch beim Umschlag im Hafen. Bislang musste ein Betreiber eines Containerterminals nicht für Schäden haften, die bei der Entladung entstanden. Bislang musste der Verfrachter auch weder für
nautische Fehler der Besatzung noch für Feuer an Bord
haften, selbst wenn es durch sie verschuldet war. Dies
wird formal abgeschafft, darf aber durch die Hintertür
in den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beförderer doch wieder ausgeschlossen werden. Damit bleibt es
faktisch beim Alten.
Es gibt weitere Regelungen zur Zeitcharter, zur Haftung im Falle eines Zusammenstoßes von Schiffen, über
die Bergung, über die Große Haverei, über Schiffsgläubigerrechte und vieles mehr. Eine Haftung für die verspätete Ablieferung von Gütern oder die Einführung eines elektronischen Seefrachtbriefs sind sicher gute
Ideen, Letzteres natürlich unter der Voraussetzung, dass
die datenschutzrechtlichen Vorgaben gewährleistet werZu Protokoll gegebene Reden
den können. Das sind notwendige Regelungen für einen
rechtssicheren Seehandel.
Nachdem Sie, Frau Ministerin, ja nun beide großen
Arbeitsgebiete wie das Seearbeitsrecht und das Seehandelsrecht umgestalten und zusammenfassen, hat es uns
dann doch sehr gewundert, dass das neue Gesetz zum
Seehandelsrecht keinen Verweis auf das Seearbeitsübereinkommen enthält. Wird da in unterschiedlichen Abteilungen aneinander vorbei gearbeitet? In §§ 476 bis 480
zu dem Abschnitt „Personen der Schifffahrt“ gehört hier
zwingend der Verweis auf die geltenden Vorschriften des
Seearbeitsübereinkommens hinein.
Abschließen möchte ich mit einem Appell zur Orientierung des Seehandelsrechts an den zukünftigen internationalen Regeln. Ihr Zögern bei der Übernahme der
Rotterdamer Regeln haben Sie, Frau LeutheusserSchnarrenberger, im Mai dieses Jahres bei der Vorstellung Ihres Kabinettsentwurfes damit begründet, dass
Deutschland ja sonst internationale Verpflichtungen eingehen würde, die andere erst etwas später träfen, wodurch unsere Reeder leichte Wettbewerbsnachteile hätten, bis sich das Abkommen durchsetzt. Das ist doch
keine inhaltliche Argumentation. Mit dieser Logik könnten sich doch nie rechtliche Verbesserungen international durchsetzen. Wir erwarten von der deutschen Bundesregierung bei einer grundlegenden Überarbeitung
keine rückwärtsgewandte Politik, sondern ein Voranschreiten.
Die Bundesregierung hat einen Entwurf zur Reform
des Seehandelsrechts vorgelegt. Das Seehandelsrecht
bildet die Gesetzesgrundlage für die Beförderung von
Gütern und Passagieren über den Seeweg. Das Seehandelsrecht unterscheidet sich insofern vom Seerecht, das
sich vor allem auf den Hoheitsbezug von Küstenstaaten
bezieht.
Viele Teile des bisherigen Seehandelsrechts in
Deutschland stammen noch aus der Zeit der Segelschifffahrt und sind nicht mehr zeitgemäß. Die Transporte,
Lieferketten und die technischen Entwicklungen lassen
mittlerweile das bestehende Seehandelsrecht in
Deutschland antiquiert erscheinen. Deutliche Änderungen und die Aufnahme aktueller Entwicklungen sind daher notwendig geworden, um das deutsche Seehandelsrecht an moderne Zeiten anzupassen.
Der vorliegende Gesetzesvorschlag beinhaltet vor allem eine Straffung der gegenwärtigen Regelungen, die
über Handelsgesetzbuch und Bürgerliches Gesetzbuch
verstreut zu finden sind. Die Novelle des Seehandelsrechts fasst jetzt die Rechtslage im Fünften Buch des
Handelsgesetzbuchs zusammen. Eine Neustrukturierung
und Reform der Begrifflichkeiten finden sich hierin
wieder.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis der
noch durch Bundesministerin Zypries 2004 eingesetzten
Sachverständigengruppe Seehandelsrecht. 2009 war
diese Gruppe fertig mit ihren Beratungen. Aus welchen
Gründen, werte Frau Justizministerin, hat es drei Jahre
gedauert, bis wir den Gesetzentwurf nun vorliegen
haben?
Die bisherigen Pflichten des Kapitäns, die bisher
einer unternehmerischen Stellung glichen, werden nun
so formuliert, dass der Kapitän als Person in arbeitnehmerähnlicher Stellung agiert und haftet. Alle dem
Verkehrsschutz dienenden Regelungen sollen jedoch
beibehalten werden, um den Kapitän weiterhin als Vertretungsmacht des Reeders beizubehalten. Diese Änderung erscheint uns überfällig und wird von uns mitgetragen.
Die Angleichung des deutschen Seefrachtrechts an
die Haager Regeln scheint aus unserer Sicht sinnvoll.
Lobenswert ist, dass an dieser Stelle auch Elemente der
Rotterdam Rules, wie die Möglichkeit der Verwendung
elektronischer Beförderungsdokumente, in den Gesetzentwurf eingeflossen sind.
Erstmals werden die weltweit üblichen Schiffscharterverträge erwähnt, die sogenannten Schiffsüberlassungsverträge: der Bareboat-Vertrag sowie der
Zeitchartervertrag: Seit Jahrzehnten wird in der internationalen Handelsschifffahrt auf Musterverträge zurückgegriffen. Diese sind international geregelt und für
nahezu jeden Schifffahrtsbereich erhältlich - und können je nach Bedarf individuell angepasst werden. Dass
der Gesetzentwurf die Schiffsüberlassungsverträge ausführlich aufgreift und endlich im deutschen Recht regelt,
war überfällig.
Die Regelung zur Haftung der Beförderungsunternehmen bei Personenschäden hat insbesondere durch
das steigende Fahrgastaufkommen in der Kreuzschifffahrt starke Wichtigkeit erlangt. Das zeigt uns gerade
der Unfall mit dem Kreuzfahrtschiff MS „Costa Concordia“. Dass die Haftungssumme bei Personenschäden
jetzt deutlich erhöht wird, scheint folgerichtig.
Wir werden die weiteren Beratungen in den Ausschüssen konstruktiv begleiten. Doch dass die Rotterdam Rules, als fortschrittliches Rechtsübereinkommen,
noch nicht vollständig zur Anwendung kommen sollen,
ist bedauernswert, sind sie doch bereits 2009 von den
ersten Staaten in Rotterdam unterzeichnet worden, um
ein international einheitliches und aktuelles Rahmenwerk für den Transport von Gütern über den Seeweg zu
schaffen. Unter den bisherigen Unterzeichnern sind
große Seehandelsnationen wie Dänemark, Frankreich,
Griechenland, Niederlande, Norwegen, Spanien und die
USA. Auch wenn es erst durch zwei Staaten ratifiziert ist
- Spanien und Togo -, so sollte sich vor allem bei den
großen Handelsnationen herumsprechen, dass die
Regeln zwar detailliert, aber doch präzise sind - und die
entsprechende Anzahl an Unterzeichner- bzw. ratifizierenden Staaten benötigt wird, um sie endlich wirksam
werden zu lassen. Deutschland ist also gut beraten und
sollte jetzt die Rotterdam Rules sowohl unterzeichnen
als auch ratifizieren.
Wenn jetzt Deutschland mit der Reform des Seehandelsrechts voranschreitet, ist das zwar lobenswert. Aber
in einigen Jahren, wenn die Rotterdam Rules ratifiziert
sind, wird auch wieder eine Reform des SeehandelsZu Protokoll gegebene Reden
rechts anstehen. Dann müsste der Prozess noch einmal
wiederholt werden - und unserer Auffassung nach auch
deutlich schneller ablaufen.
Interessant wäre in der Begründung der Gesetzesvorlage ein Vergleich der unterschiedlichen Modelle des
Seehandelsrechts in Europa gewesen. Innovativ erscheint uns das Regelungswerk Rotterdam Rules, das
erstmals das Seehandelsrecht zusammenfasst und internationale Maßstäbe setzt. Bisher war es so, dass sich
bestimmte Staaten zum Beispiel nach den Haag-Visby
Rules richten oder auch nach den Hamburg Rules.
Am 24. Oktober werden wir im Rechtsausschuss die
Gelegenheit haben, in einer Anhörung über das neue
Seehandelsrecht zu sprechen. Ich möchte daher noch
nicht zu viele Themen vorwegnehmen - aber insgesamt
scheint der Vorschlag durchaus brauchbar. Das ist zu
einem seltenen Glück dieser Koalition geworden.
Über verschiedene Auswirkungen wird jedoch noch
zu reden sein, zum Beispiel, wenn sich aufgrund der neu
eingerichteten Erhöhung von Haftungs- und Schadensrisiken am Ende wohl die Versicherer freuen dürften denn es ist anzunehmen, dass die neu entstehenden Risiken durch neue Versicherungen abgedeckt werden müssen.
Wir können also jetzt in hoffentlich konstruktive Beratungen in den Ausschüssen einsteigen.
Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Entwurf soll das deutsche Seehandelsrecht vollständig neu
geregelt werden.
Ziel der Reform ist, das weitgehend noch aus dem
19. Jahrhundert stammende deutsche Recht den heutigen Bedürfnissen der maritimen Wirtschaft anzupassen
und damit den Wirtschafts-, Rechts- und Justizstandort
Deutschland zu stärken.
Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf Folgendes
vor: erstens eine Neustrukturierung und Straffung des
im Fünften Buch des Handelsgesetzbuchs geregelten
Seehandelsrechts, zweitens eine Abschaffung überholter
Rechtsinstitute und Regelungen wie etwa die, dass keine
Gegenstände an die Seiten des Schiffes gehängt werden
dürfen, drittens eine Modernisierung des geltenden Seehandelsrechts und schließlich viertens eine Anpassung
des allgemeinen Transportrechts und des Binnenschifffahrtsrechts an das modernisierte Seehandelsrecht.
Eines der wesentlichen Elemente der Reform ist die
Neuregelung des Rechts der Güter- und Personenbeförderungsverträge.
Die im Entwurf vorgesehenen Vorschriften über das
Recht der Güterbeförderungsverträge sind klar strukturiert: So wird der Raumfrachtvertrag, unter dem der
Entwurf ausschließlich den Reisefrachtvertrag versteht,
in einem eigenen Titel geregelt. Die Vorschriften über
den Stückgutfrachtvertrag gliedern sich in allgemeine
Vorschriften, in Vorschriften über die Haftung wegen
Verlust oder Beschädigung des Gutes sowie in Vorschriften über Beförderungsdokumente.
Inhaltlich orientieren sich die Vorschriften in weiten
Teilen an dem im Vierten Buch des Handelsgesetzbuchs
geregelten allgemeinen Frachtrecht, berücksichtigen
aber zugleich die Besonderheiten der Seebeförderung.
Was die Haftung des Verfrachters anbelangt, so sind daher die Regelungen weiterhin nach dem Vorbild des für
die maritime Wirtschaft bedeutsamsten Übereinkommens,
den sogenannten Visby-Regeln von 1968, ausgestaltet.
Die Rotterdam-Regeln, also das Übereinkommen der
Vereinten Nationen von 2008 über Verträge über die internationale Beförderung von Gütern ganz oder teilweise auf See, spielen insoweit nur eine untergeordnete
Rolle.
Denn es ist noch unklar, ob und wann die RotterdamRegeln völkerrechtlich in Kraft treten werden. Allerdings wird von dem skizzierten Regelungskonzept, nämlich der Beibehaltung des geltenden Haftungsregimes, in
einem wichtigen Punkt abgewichen, nämlich der Haftung
des Verfrachters für einen von der Schiffsbesatzung bei
der Führung oder der sonstigen Bedienung des Schiffes
oder durch Feuer an Bord des Schiffes verschuldeten
Schaden.
Nach den Visby-Regeln und dem heute geltenden
deutschen Recht ist in diesen Schadensfällen die Haftung des Verfrachters gesetzlich ausgeschlossen. Dies
lässt sich jedoch heute, wie die Rotterdam-Regeln zeigen, kaum noch rechtfertigen. Dementsprechend soll
nach dem Gesetzentwurf auf einen gesetzlichen Haftungsausschluss verzichtet werden.
Mit Blick auf die internationale Rechtslage und die
Wettbewerbssituation soll aber den Vertragsparteien gestattet werden, einen solchen Haftungsausschluss zumindest zu vereinbaren, und zwar auch durch AGB.
Soweit der Stückgutfrachtvertrag betroffen ist, möchte
ich schließlich die Modernisierung der Vorschriften
über Beförderungsdokumente erwähnen. So regelt der
Entwurf erstmalig den in der Praxis weithin verwendeten Seefrachtbrief und schafft eine gesetzliche Grundlage für die Verwendung elektronischer Beförderungsdokumente.
Neben den Güterbeförderungsverträgen sollen erstmalig im Handelsgesetzbuch die sogenannten Schiffsüberlassungsverträge, nämlich die Schiffsmiete und die
Zeitcharter, geregelt werden. Hierdurch sollen vor allem
bestehende Rechtsunsicherheiten wegen der rechtlichen
Einordnung dieser Verträge und ihrer Abgrenzung von
Güterbeförderungsverträgen beseitigt werden.
Soweit das Personenbeförderungsrecht betroffen ist,
sieht der Entwurf vor, die Haftung des Beförderers insbesondere für Personenschäden nach dem Vorbild der
ab dem 31. Dezember 2012 geltenden EG-Verordnung
von 2009 über die Unfallhaftung von Beförderern von
Reisenden auf See deutlich zu verschärfen. Wie wichtig
ein guter Schutz von Schiffspassagieren ist, hat der
Schiffsunfall der „Costa Concordia“ gezeigt. Durch die
Reform soll sichergestellt werden, dass das hohe Schutzniveau, das ab Ende dieses Jahres auf EU-Ebene gilt,
Zu Protokoll gegebene Reden
auch für Schiffsbeförderungen gilt, die nicht unter die
EG-Verordnung fallen. Erfasst ist damit insbesondere
die innerstaatliche Küstenschifffahrt sowie die Binnenschifffahrt.
Die Reform des Seehandelsrechts soll nach dem Entwurf am Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft
treten. Ich hoffe, dies wird noch vor Jahresende der Fall
sein. Denn das geltende Recht der Personenbeförderung
auf Schiffen sollte mit Inkrafttreten der EG-Verordnung
am 31. Dezember 2012 an das europarechtliche Vorbild
angepasst sein.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10309 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 36:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr
- Drucksache 17/10491 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier sind, wie vorgesehen, die Reden zu Protokoll genommen.
Das Thema Zahlungsverzug hat uns schon Anfang
des Jahres 2010 beschäftigt. Viele Kolleginnen und Kollegen werden sich erinnern. Im Frühjahr 2012 hatten
wir mit einer fraktionsübergreifenden Stellungnahme
wesentliche Verbesserungen der Richtlinie erreichen
können.
Zahlungsverzug bringt für viele Akteure und Branchen erhebliche Probleme mit sich. Nicht selten führt
Zahlungsverzug zu Insolvenzen und in der Folge zum
Verlust von Arbeitsplätzen.
Nicht nur die mittelständische Baubranche ist betroffen. Auch andere Unternehmensbereiche wie Dienstleistungs- oder Handwerksbetriebe warten oftmals sehr
lange auf ihr Geld.
Es erweist sich als Problem, wenn Schuldner die Begleichung offener Forderungen über Gebühr hinauszögern oder sich durch überlange vertragliche Zahlungsoder Überprüfungsfristen praktisch einen kostenlosen
Kredit einräumen lassen. Nicht selten nutzen gerade
große und marktbeherrschende Teilnehmer oder öffentliche Auftraggeber eine solche Möglichkeit, Zahlungsaufschübe für lange Zeit zu nutzen. Für einige Unternehmen führt dies zu einer wirtschaftlich ernsten, ja gar
existenziellen Gefahr.
Der Gesetzentwurf soll diesem Problem entgegenwirken. Ziel des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr ist die Verbesserung
der Zahlungsmoral von Unternehmen und öffentlichen
Auftraggebern. Im vorgelegten Gesetzentwurf sehen wir
als CDU/CSU-Bundestagsfraktion allerdings insbesondere im Bereich der geplanten Zahlungs- und Abnahmehöchstfristen noch Prüfungs- und Erörterungsbedarf.
Insbesondere bedürfen die Fälle weiterer Prüfung, in
denen vor allem große Marktteilnehmer und Auftraggeber die nach dem Gesetzentwurf vorgesehenen Überprüfungs- und Zahlungsfristen voll ausreizen.
Ich bin zuversichtlich, dass die noch offenen Fragen
im Rahmen der vorgesehenen öffentlichen Anhörung
problematisiert werden. Im Übrigen steht die CDU/
CSU-Fraktion Verbesserungsvorschlägen im jetzt beginnenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren offen gegenüber.
Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr stellt große
Teile unserer Wirtschaft, vor allem kleine und mittlere
Unternehmen, vor Probleme. Wenn sie nicht umgehend
für ihre Dienstleistungen bezahlt werden, fehlt ihnen
wichtiges Kapital. Insbesondere in wirtschaftlich so prekären Zeiten wie den jetzigen, wo viele kleine und mittlere Unternehmen mit den Folgen der Wirtschafts- und
Finanzkrise zu kämpfen haben, kann dieser Liquiditätsmangel fatale Folgen haben: Ihnen fehlt das notwendige
Kapital, um Arbeitsplätze zu sichern und Zukunftsinvestitionen zu tätigen. Im schlimmsten Fall führen ausstehende Rechnungen sogar zur Insolvenz. Zahlungsverzug
im Geschäftsverkehr kann somit viele wichtige Arbeitsplätze in Deutschland gefährden.
Das Ziel einer EU-Richtlinie von Oktober 2010 ist es,
die Zahlungsmoral innerhalb der EU zu verbessern. Insbesondere kleine und mittlere sowie diejenigen Unternehmen, die grenzüberschreitend tätig sind, sollen hierdurch besser geschützt werden.
Die Regelungen der Richtlinie sollen sicherstellen,
dass Rechnungen umgehend beglichen werden. Hierfür
wurden Zahlungsfristen von 30 Tagen festgeschrieben,
die höchstens auf 60 Tage ausgeweitet werden dürften.
Dies sei aber nur bei ausdrücklicher Vereinbarung und
keiner groben Benachteiligung für einen der Vertragspartner erlaubt. Bei Verletzung dieser Regelungen wären Verzugszinsen fällig. Diese Bestimmungen würden
die notwendige Liquidität garantieren, um Unternehmen
mehr Standfestigkeit, insbesondere in wirtschaftlich
schwierigen Phasen, zu verleihen, sie vor einer Insolvenz zu schützen und hierdurch Arbeitsplätze zu sichern.
Von Beginn an habe ich mich bei der Formulierung
der Richtlinie dafür eingesetzt, dass dabei die Kommunen als wichtige Auftraggeber und Wirtschaftspartner
nicht durch besonders strenge Sanktionen im Falle des
Zahlungsverzugs gegenüber privaten Unternehmen benachteiligt werden. Es war für mich sehr erfreulich, dass
sich diese Ansicht hier im Bundestag fraktionsübergreifend durchgesetzt hatte. Durch eine gemeinsame Beschlussempfehlung im Mai 2010 sprachen wir in dieser
Sache mit einer starken Stimme. Diese Position habe ich
demnach auch bei einer Anhörung im Europäischen
Parlament und in enger Abstimmung mit meinen Kolleginnen und Kollegen im EP als zuständige Berichterstatterin der SPD-Fraktion vertreten.
Mit dem nun eingebrachten Gesetzentwurf kommt die
Bundesregierung ihrer Pflicht nach, diese EU-Richtlinie
in deutsches Recht umzusetzen. In den nun folgenden
parlamentarischen Debatten und Beratungen der nächsten Wochen liegt es an uns, die Arbeit der Bundesregierung genauestens zu beurteilen. Wir müssen sicherstellen, dass sie im Sinne der Richtlinie handelt und damit
für einen verbesserten Schutz unserer kleineren und
mittleren Unternehmen eintritt.
Hierbei ist es zunächst einmal äußerst bedauerlich,
dass die Bundesregierung zentrale Forderungen aller
Fraktionen dieses Hauses nicht berücksichtigt hat. So
haben wir in unserer fraktionsübergreifenden Beschlussempfehlung vom Mai 2010 zu den Verhandlungen
der EU-Richtlinie etwa gefordert, den Begriff der „prüffähigen Rechnung“ einzuführen. Hierdurch wollten wir
klarstellen, dass nur eine Rechnung, die prüffähig ist,
den Zahlungsverzug begründen kann. Dieser Begriff findet sich jedoch weder in der Richtlinie noch im Gesetzentwurf der Bundesregierung wieder.
Abgesehen hiervon hat die Bundesregierung die EURichtlinie nicht zufriedenstellend umgesetzt: Zum einen
mangelt es dem Entwurf an Klarheit und Eindeutigkeit.
Struktur und Formulierungen stehen stellenweise nicht
im Einklang mit der EU-Richtlinie. Dies stiftet unnötige
Ungewissheit und Unsicherheit bei den Unternehmen.
Hier besteht also deutlicher Klärungs- und Vereinfachungsbedarf. Zum anderen sind zentrale Bestandteile
der Richtlinie nicht richtig umsetzt. So fehlt im Gesetzentwurf etwa die notwendige Verbindung der Zahlungsfrist mit der maximalen Dauer von Abnahme- und Überprüfungsverfahren, wie sie etwa in der EU-Richtlinie
eindeutig hergestellt ist. Darüber hinaus können die Bestimmungen des Gesetzentwurfs unter Umständen zu absurden Situationen führen: Ein Unternehmen muss eine
Rechnung bezahlen, obwohl es noch gar nicht die entsprechende Gegenleistung erhalten hat. Man zahlt für
etwas, was man noch nicht bekommen hat - ein kurioses
Novum, das die Bundesregierung in das deutsche Recht
einführt. Hier besteht also erheblicher Verbesserungsbedarf.
Ziel muss es sein, die Situation insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen zu verbessern. Sie dürfen nicht länger auf ihr Geld warten als bislang. Wie wir
sehen, ist dieses Ziel jedoch durch den Gesetzentwurf
der schwarz-gelben Koalition in Gefahr. Statt die Situation zu verbessern, wird sie im schlimmsten Fall gar verschlechtert.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen jedoch, dass
Unternehmen nicht weniger, sondern mehr Sicherheit
und Schutz genießen, dass sie genügend Liquidität besitzen, um Arbeitsplätze zu sichern und ihre Angestellten
pünktlich zu bezahlen. Daher werden wir uns in den
kommenden Wochen intensiv dafür einsetzen, den Gesetzentwurf zu vereinfachen und zu verbessern, um den
Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr wirksam und im
Sinne unserer Wirtschaft, vor allem kleinerer und mittlerer Unternehmen, zu bekämpfen.
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Umsetzung
einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates aus dem Februar 2012. Die Bundesrepublik ist
völkerrechtlich verpflichtet, diese Richtlinie in innerstaatliches Recht umzusetzen. Ob die Segnungen aus
Brüssel immer den Stein der Weisen darstellen, kann
dahinstehen. Interessieren soll uns das Ob und das Wie
der Umsetzung. Hier ist, vor allem wenn es um Anpassungen so alter und umfangreicher Gesetze wie das des
Bürgerlichen Gesetzbuches geht, sensibles Herangehen
gefragt. Es kommt darauf an, die Neuerungen bestmöglich in die bestehende Systematik einzufügen, ohne die
Übersichtlichkeit zu verlieren.
Meines Erachtens ist dem Bundesjustizministerium
eine behutsame Einbettung nicht gelungen - im Gegenteil: Die in der Richtlinie vorgesehenen Veränderungen
wurden einfach nur eins zu eins in das BGB hineingedrückt.
Größtenteils entspricht das deutsche Zivilrecht bereits den Anforderungen der Richtlinie, sodass nur noch
Teilbereiche neu zu regeln waren. Der Gesetzentwurf
sieht die Anhebung der gesetzlichen Verzugszinsen vor
und führt einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrages bei Verzug ein. Darüber hinaus sollen Höchstgrenzen für vertraglich vereinbarte Zahlungsfristen
sowie Höchstgrenzen für die Dauer von Abnahme- und
Überprüfungsverfahren eingeführt werden. Ein pauschaler Schadenersatz und Höchstgrenzen für Zahlungsund Annahmefristen sind dem BGB bisher fremd.
Alle Bürgerinnen und Bürger, die befürchten, dass die
Gesetze noch umständlicher und Kauf- oder Werkverträge komplizierter werden, kann ich beruhigen: Für
Verbraucherinnen und Verbraucher wird sich nichts
ändern. Denn die Neuerungen gelten nur für Verträge
zwischen Unternehmern und zwischen öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen.
In den vergangen Wochen erreichten mich und meine
Kollegen viele Schreiben von Handwerkern, kleinen und
mittelständischen Unternehmern sowie Handwerkskammern und anderen Interessenvertretungen. Sie warnen
davor, dass sich die ihrer Auffassung nach richtige Zielsetzung der Richtlinie, Zahlungsfristen zu verkürzen und
damit die Liquidität der Unternehmen zu verbessern,
durch die Umsetzung in bundesdeutsches Recht ins
Gegenteil verkehren könnte.
Ich sehe aber die Gefahr einer drohenden Rechtsunsicherheit, die sich erst nach einigen Jahren durch
höchstrichterliche Rechtsprechung abstellen lässt.
Ich hatte darauf hingewiesen, dass die neuen Regelungen teilweise nicht der deutschen Gesetzgebungstechnik entsprechen. Dies möchte ich mit zwei kurzen
Beispielen unterstreichen:
Erstens. Der Fristbeginn in § 271 Abs. 1 und Abs. 2
BGB-Entwurf ist nicht einheitlich geregelt. Der Lauf der
Zu Protokoll gegebene Reden
Frist kann mit Zugang der Rechnung oder gleichwertigen Zahlungsaufstellung oder Empfang der Gegenleistung beginnen. Hier kann es in der Praxis zu erheblichen
Missverständnissen kommen. Eine Zahlungsaufstellung
ist zum Beispiel schon ein Leistungsverzeichnis, welches
bei Bauaufträgen bereits mit dem Angebot abgegeben
wird. Hier ist Konkretisierung notwendig.
Zweitens. § 288 Abs. 5 Satz 2 BGB-Entwurf besagt,
dass eine Vereinbarung, die den Anspruch aus Satz 1
ausschließt, vermutlich gegen die guten Sitten verstößt.
Das ist wortwörtlich aus der Richtlinie übernommen,
entspricht aber mitnichten der deutschen Gesetzessprache. Denn im deutschen Recht sind nur Tatsachen vermutungsfähig, nicht jedoch Wertungen.
Bei diesen beiden Beispielen möchte ich es bewenden
lassen. Sie zeigen aber deutlich, dass sich die Ersteller
der Vorlage über das Copy-and-Paste-Verfahren hinaus
hätten bemühen sollen. Es sind also noch einige Unzulänglichkeiten durch die Beamten im Justizministerium
abzustellen, damit der Gesetzentwurf dann im zweiten
Durchgang der Rechtsförmlichkeit entspricht.
Die verspätete Bezahlung von Rechnungen bringt
kleine und mittlere Unternehmen in Europa immer wieder
in ernste Schwierigkeiten. Diese können bis zum finanziellen Ruin der Unternehmen führen. Um kleinere Auftragnehmer in Europa besser zu schützen, hat die Europäische Union Anfang 2011 eine Richtlinie erlassen, die
den Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr besser reglementieren soll.
Heute debattieren wir über das Gesetz, das die Richtlinie in Deutschland umsetzen soll. Es geht um den
Schutz der Unternehmen, die sich einem übermächtigen
Verhandlungspartner gegenübersehen, der ihnen Zahlungsfristen „diktiert“. Die Regelungen gelten für die
öffentliche Hand und private Unternehmen, nicht für
Verbraucherinnen und Verbraucher.
Ein hoher Zahlungsverzug ist auch in Deutschland
keine Seltenheit. Lange Höchstfristen werden in Verträgen festgelegt und bis zum Ende ausgereizt. Das neue
Gesetz sieht vor, die Zahlungsfristen auf 60 Tage, für öffentliche Auftraggeber sogar auf 30 Tage, zu beschränken.
60 Tage sind eine lange Zeit, insbesondere wenn man
hierzu noch 30 Tage als Höchstgrenze der Abnahmefrist
hinzuzählt. Bleibt die Zahlung für 90 Tage aus, kann dies
in Vorleistung getretene Unternehmen bereits in eine finanzielle Bredouille führen.
Die neuen Regelungen lösen deshalb im Unternehmenskreis die Befürchtung aus, dass das Ziel der Richtlinie - Bekämpfung des Zahlungsverzugs - nicht erreicht
wird, sondern sich im Gegenteil am Markt Fristen etablieren, die fern von unserem gesetzlichen Leitbild liegen.
Unser gesetzliches Leitbild sieht die für den Gläubiger günstigste Variante vor: Der Gläubiger kann im
Zweifel die Zahlung sofort verlangen. Um das Ziel der
Richtlinie, den Zahlungsverzug zu vermeiden, nicht ins
Gegenteil zu verkehren, müssen wir bei der Umsetzung
darauf achten, dass unser gesetzliches Leitbild in Funktion bleibt. Wir müssen klarstellen, dass die Zahlungsfrist von maximal 60 Tagen das Äußerste ist, was im Geschäftsverkehr noch tragbar ist. Wir dürfen dem
Ausreizen von Höchstfristen keinen Vorschub leisten.
Abzuwarten bleibt darüber hinaus, ob ein weiteres
Element im Gesetzentwurf zu einer Verbesserung der
Zahlungsmoral führen wird: Die Einführung eines Pauschalbetrags von 40 Euro für sogenannte „Beitreibungskosten“. Der Anspruch entsteht, wenn der Gläubiger
Anspruch auf Verzugszinsen hat.
Dies ist ein Novum im deutschen Recht. Mit 40 Euro
ist dieser Anspruch zwar moderat bemessen, dennoch ist
der pauschale Anspruch, der unabhängig davon vorliegt, ob ein solcher Schaden beim Gläubiger überhaupt
entstanden ist, dem deutschen Schadenersatzsystem
fremd.
Fraglich ist, ob eine solche Pauschale tatsächlich
Schuldner dazu anhält, rechtzeitig zu zahlen. Schuldner,
die bewusst Zahlungen nach hinten hinausschieben und
auf einen „Kredit“ des Gläubigers setzen, werden sich
von 40 Euro nicht unbedingt abschrecken lassen.
Auch lässt die Pauschale eine gewisse Nähe zum
Strafschadenersatz erkennen. Die 40 Euro sollen zwar
laut EU-Kommission keine strafende Wirkung haben.
Sie sollen dem Gläubiger als Ausgleich für seine Beitreibungskosten dienen. Aber Schadenersatzforderungen
ohne nachgewiesenen Schaden haben einen „Wiedergutmachungscharakter“, der auch dem Strafschadensersatz innewohnt.
Und die EU-Kommission treibt die Einrichtung von
Pauschalzahlungen voran: Im Entwurf zum Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht findet sich der Anspruch
auf 40 Euro Entschädigung für Beitreibungskosten wieder.
Meine Damen und Herren, auf EU-Ebene sollten wir
uns weiterhin Bestrebungen zur Einführung von unangemessen hohen Pauschalbeträgen oder von Strafschadenersatz im Zivilrecht entgegenstellen. Ein Strafschadenersatz, der weit über einen tatsächlich eingetretenen
Schaden hinausgeht, stellt eine Bereicherung des Gläubigers dar. Er führt zu einer nicht kalkulierbaren Zusatzbelastung von Schuldnern oder - im Fall von öffentlichen Auftraggebern - letztlich von Steuerzahlern. Einer
solchen Zusatzbelastung müssen wir vorbeugen.
Mit dem dem Deutschen Bundestag vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr soll die im Jahre 2011 überarbeitete europäische Richtlinie zur Bekämpfung von
Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt werden.
Ziel ist es, die Zahlungsmoral von Unternehmen und
öffentlichen Auftraggebern zu verbessern. Dies ist vor
allem zum Schutz des Mittelstandes erforderlich. Denn
insbesondere kleine und mittlere Unternehmen leiden,
Zu Protokoll gegebene Reden
wenn Schuldner die Begleichung offener Forderungen
über Gebühr hinauszögern oder sich durch vertragliche
Zahlungs- oder Überprüfungsfristen praktisch einen
kostenlosen Gläubiger- oder Lieferantenkredit einräumen lassen. Für die Unternehmen kann dies zu einer
wirtschaftlich ernsten, wenn nicht gar existenziellen
Gefahr werden. Mit dem Gesetzentwurf soll diesem
Unwesen entgegengewirkt werden.
Zu diesem Zweck sieht der Gesetzentwurf im Wesentlichen Folgendes vor: erstens eine Beschneidung des
Rechts, durch eine Vereinbarung von Zahlungs-, Abnahme- und Überprüfungsfristen die an sich bestehende
Pflicht zur sofortigen Begleichung einer Forderung über
Gebühr hinauszuschieben; zweitens eine Erhöhung der
gesetzlichen Verzugszinsen; drittens einen Anspruch auf
eine zusätzliche Pauschale bei Zahlungsverzug.
Der Gesetzentwurf setzt die Richtlinie eins zu eins
um. Dies bedeutet insbesondere auch, dass Verbraucher
nicht von dem Gesetzentwurf betroffen sind.
Die im Entwurf vorgesehenen Regelungen über eine
Vereinbarung von Zahlungs-, Abnahme- und Überprüfungsfristen gehen - wie bisher - von dem Leitbild aus,
dass eine Leistung sofort zu bewirken ist. Allerdings
setzt das geltende Recht den Vertragsparteien, die von
diesem Leitbild abweichen wollen, nur wenige Grenzen,
nämlich das allgemeine Gebot der Wahrung von Treu
und Glauben sowie der für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltende Grundsatz, dass die Vertragspartner
des AGB-Verwenders nicht entgegen den Geboten von
Treu und Glauben unangemessen benachteiligt werden
dürfen. Diese Grenzen sollen nach dem Gesetzentwurf
enger gesteckt werden. Insbesondere soll sich der Auftraggeber künftig nicht mehr darauf berufen können,
dass er üblicherweise erst nach Ablauf sehr langer Zahlungs-, Abnahme- oder Überprüfungsfristen zahle.
Dementsprechend sieht der Entwurf für die Vereinbarung bestimmter Fristen im Verkehr zwischen Unternehmen vor, dass Fristen, die eine bestimmte Länge
überschreiten, nämlich 60 Tage bei Zahlungsfristen und
30 Tage bei Überprüfungs- und Abnahmefristen, ausdrücklich vereinbart werden müssen und dass diese
Fristen für den Gläubiger der Entgeltforderung nicht
grob nachteilig sein dürfen. Werden diese Anforderungen nicht erfüllt, ist die Vereinbarung unwirksam und
die Leistung sofort bzw. bei einem Werkvertrag bei
Abnahme zu bewirken. Bei Geschäften mit öffentlichen
Unternehmen werden die Anforderungen noch verschärft: So gilt das Erfordernis der Ausdrücklichkeit
bereits bei der Vereinbarung einer Zahlungsfrist von
mehr als 30 Tagen. Außerdem wird die Vereinbarung von
vornherein als unwirksam angesehen, wenn eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen vereinbart wird.
Die im Entwurf vorgeschlagenen Regelungen lassen
selbstverständlich das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen unberührt. Auch dann, wenn in den
AGB Fristen vorgesehen sind, die mit denen im Entwurf
genannten übereinstimmen, ist also nicht ausgeschlossen, dass die AGB im Streitfall als unwirksam anzusehen
sind.
Die im Entwurf vorgesehenen weiteren Änderungen,
insbesondere die Anhebung des Verzugszinssatzes um
1 Prozentpunkt und die Einführung eines Anspruchs des
Gläubigers auf eine Pauschale in Höhe von 40 Euro bei
Verzug des Schuldners, dienen ebenfalls der Bekämpfung von Zahlungsverzug. Die Einführung des
Anspruchs auf eine Pauschale trägt außerdem zu einer
Entlastung der Gerichte bei. Denn hierdurch werden
Streitigkeiten vor allem über geringe Kosten der Rechtsverfolgung, wie sie etwa durch die Einschaltung eines
Inkassobüros entstehen, vermieden.
Die EU-Richtlinie, die die Vorgaben für den vorliegenden Gesetzentwurf definiert, muss bis zum 16. März
2013 umgesetzt sein. Ich hoffe, dass spätestens zu diesem Zeitpunkt neue Regelungen gelten werden, die dazu
beitragen, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen sowie zwischen Unternehmen und der öffentlichen Hand wieder mehr Fair Play Einzug hält und sich
die Zahlungsmoral bessert.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10491 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann haben wir die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 37:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des gewerblichen
Rechtsschutzes
- Drucksache 17/10308 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Beim Deutschen Patent- und Markenamt gehen jährlich etwa 60 000 Anmeldungen für Patente ein. Deutschland ist nach wie vor das Land der Tüftler und Erfinder.
Mit dem Gesetzentwurf wollen wir den Erfindergeist
der Menschen in Deutschland stärken. Dies umfasst
auch Verfahrensabläufe bei der Anmeldung von Patenten. Wir wollen zudem die Erfordernisse der Praxis und
entsprechende Vorschläge aus der Wirtschaft aufnehmen.
Im Einzelnen sieht der Gesetzentwurf vor, den Inhalt
des Rechercheberichts zu erweitern. Dieser soll künftig
neben der Feststellung der Neuheit einer Erfindung
auch Angaben über die Patentfähigkeit der angemeldeten Erfindung, wie es bereits der Recherchebericht des
Europäischen Patentamtes vorsieht, enthalten.
Das Deutsche Patent- und Markenamt kann, um sich
vor ausuferndem Arbeitsaufwand zu schützen, bereits im
Rechercheverfahren den Mangel der Uneinheitlichkeit
der angemeldeten Erfindung feststellen und den Inhalt
des Rechercheberichts auf eine einheitliche Erfindung
begrenzen.
Weitere Erleichterungen soll es bei der Einreichung
von englisch- und französischsprachigen Anmeldeunterlagen geben. Diese werden künftig erst bis zum Ablauf
des zwölften Monats beim Deutschen Patent- und Markenamt eingereicht werden müssen. Die Verlängerung
der Übersetzungsfrist bedeutet für den Anmelder, dass
dieser nunmehr länger Bedenkzeit bekommen wird, ob
er die derzeit hohen Kosten einer Übersetzung der Anmeldeunterlagen für die Weiterverfolgung des nationalen Anmeldeverfahrens aufbringen will.
Künftig wird die Erteilung eines Patents ohne Benennung des Erfinders nicht mehr möglich sein. Hierdurch
wird das Persönlichkeitsrecht des Erfinders gestärkt.
Des Weiteren soll es künftig für die Beteiligten und
Dritte möglich sein, die Akten von über 18 Monate zurückliegenden Patentanmeldungen und erteilten Patenten auch durch Zugriff über das Internet einzusehen.
Mit diesen Änderungen tragen wir als christlich-liberale Koalition der Entwicklung im Zeitalter des Internets Rechnung. Patente werden somit zügiger und kostengünstiger angemeldet werden können. Die Transparenz wird gesteigert.
Wir als Unionsfraktion stehen weiteren Verbesserungsvorschlägen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren offen gegenüber.
Patente sind ein wichtiger Indikator für die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft. Die Zahlen sprechen
für sich: Im vergangenen Jahr sind beim Deutschen Patent- und Markenamt, DPMA, fast 60 000 Patentanmeldungen eingegangen. Zusätzlich belegte Deutschland
nach den Vereinigten Staaten und Japan 2011 mit circa
33 000 Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt, EPA, den dritten Platz und war damit Spitzenreiter
in Europa. Patentrechtsnovellen müssen daher auch an
ihren Auswirkungen auf den Innovationsstandort
Deutschland gemessen werden.
Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellierung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze
des gewerblichen Rechtsschutzes, mit dem die Bundesregierung auf geänderte Erfordernisse der Praxis und entsprechende Vorschläge für Innovationen aus der Wirtschaft reagieren will, enthält eine Reihe von Vorschlägen zur Optimierung der Effizienz des Verfahrens
vor dem Deutschen Patent- und Markenamt, DPMA. Sie
sollen die Verfahren effizienter und transparenter gestalten, Kosten und Bürokratieaufwand senken und den Stellenwert des deutschen Patents im Vergleich zum europäischen Patent wahren bzw. erhöhen.
Im Einzelnen wird unter anderem vorgeschlagen, den
Inhalt des Rechercheberichts zu erweitern und an vergleichbare Vorgaben des Europäischen Patentamtes,
EPA, anzupassen. Der Anmeldetag soll künftig unabhängig von der Einreichung übersetzter Anmeldeunterlagen
bestimmt werden. Die kostspielige Übersetzung englisch- und französischsprachiger Anmeldeunterlagen ist
zukünftig erst bis zum Ablauf des zwölften Monats beim
DPMA einzureichen. Ferner soll die derzeit geltende
kurze Einspruchsfrist von drei Monaten auf neun Monate verlängert werden, um bei komplexen Patenten eine
sorgfältig Prüfung zu ermöglichen. Schließlich ist auf
Antrag des Anmelders im Erteilungsverfahren zwingend
eine Anhörung durchzuführen, und die Erteilung eines
Patents bedarf künftig grundsätzlich der Benennung des
Erfinders.
Diese und andere Änderungen klingen auf den ersten
Blick vernünftig, und wir werden in den weiteren Ausschussberatungen klären, ob sie den Anforderungen der
Praxis genügen oder ob darüber hinaus weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Verfahrensabläufe beim
DPMA notwendig sind.
Aus wirtschaftspolitischer Sicht müssen wir unsere
Aufmerksamkeit aber auch auf den grenzüberschreitenden Patentschutz richten - in Europa und weltweit. Unser Ziel muss sein, ein möglichst einheitliches, überschaubares und kostengünstiges Schutzrechtssystem zu
schaffen. Vor allem brauchen wir im Interesse der Integration des Binnenmarktes, der Verringerung der Kosten des Patentschutzes in Europa und der Verbesserung
der Rechtssicherheit einen effektiven und kostengünstigen einheitlichen Patentschutz in der EU. Die Bilanz der
Bundesregierung ist hier leider ernüchternd: Obwohl
Deutschland das patentstärkste Land in Europa ist, ist
es der Bundesregierung nicht gelungen, das Europäische Patentgericht nach München zu holen.
Mit dem heute zu behandelnden Gesetzentwurf verspricht uns die Bundesregierung die nutzerfreundliche
Verbesserung der Verfahren vor dem Deutschen Patentund Markenamt in Patentsachen. Sowohl für den einzelnen Anmelder als auch für das Patentamt soll das Verfahren effizienter und transparenter gestaltet werden.
Versprochen werden Senkung der Kosten und des Bürokratieaufwands. Wer kann diesen Zielen und Vorhaben
widersprechen, wenn sie auch so umgesetzt werden?
Aus den Fachkreisen hört man Zustimmung. Die Patentanwaltskammer signalisiert vollinhaltliche Zustimmung und findet im Gesetzentwurf viele ihrer Anregungen wieder. Zu Recht macht die Patentanwaltskammer
auf einige Schwächen aufmerksam, zum Beispiel auf die
neu geschaffene Ermächtigung zur Datenübermittlung
an das Europäische Patentamt.
In der Tat ermöglicht der Wortlaut der Ermächtigung
die unbegrenzte Übermittlung aller Daten, auch derjenigen des Anmelders, die zu den geheimhaltungsbedürftigen Daten gehören, wie etwa eingereichte ärztliche Atteste. Während von der vorgesehenen elektronischen
Akteneinsicht durch die Öffentlichkeit diese privaten
Teile herausgenommen werden können, dürfte das Europäische Patentamt den Zugriff auf alle Daten haben.
Dies ist weder erforderlich noch zu rechtfertigen. Dies
sollte im Laufe der anstehenden Beratungen korrigiert
und der Standard des Datenschutzes respektiert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Während der Gesetzentwurf die Effektivierung der
Verfahrensabläufe vorsieht, bleiben Fragen grundsätzlicher Art außen vor und damit jedoch auf der Tagesordnung. Ich will aus Zeitgründen nur drei benennen:
Erstens. Patente sollen Innovationen schützen und
damit fördern. Werden diese jedoch nur aus markttaktischem Kalkül angemeldet, ohne dass eine wirtschaftliche Nutzung plausibel gemacht wird, dann droht die Gefahr, dass diese Innovationen verhindern. Es fehlen im
bisherigen Patentrecht die Mittel, um den wettbewerbswidrigen Missbrauch des Patentwesens ordnungspolitisch zu unterbinden.
Zweitens. Ist es noch vertretbar, dass wir die gleichen
Patentlaufzeiten haben, obwohl sich der Zyklus der Produkterneuerung ständig verkürzt?
Drittens. Mein Kollege Roland Claus hatte in der
letzten Legislaturperiode im Januar 2009 eine deutlich
stärkere personelle Ausstattung für das Patentamt angemahnt. Auch diese Forderung ist meines Erachtens noch
akut, wenn wir dem von vielen beklagten Patentstau entgegenwirken wollen.
Wenn man sich die Begründung des Gesetzentwurfes
ansieht, so erwartet die Bundesregierung von der Einführung der elektronischen Akteneinsicht und anderen
Gesetzesänderungen Einsparungen bei den Personalkosten. Es wäre sinnvoll, hierzu den Personalrat der Behörde zu hören; denn es wäre nicht das erste Mal, wenn
die Einführung von automatisierten Prozessen zumindest in der Anfangsphase nicht mit weniger, sondern mit
mehr Aufwand verbunden wäre. Jeder, der in der Praxis
solche Umstellungen erlebt hat, weiß, wovon ich rede.
Ein Unbekannter hinterließ uns zu dem Thema folgende Botschaft: „Für das große Chaos haben wir Computer. Die übrigen Fehler machen wir von Hand.“
Für die bessere personelle Ausstattung bedarf es eines Gesetzes nicht, sondern entsprechende Beschlüsse
im laufenden Haushaltsplanverfahren. Hier ist die Regierungskoalition am Zug. Hic Rhodus, hic salta!
Als Apple kürzlich in einem von zahlreichen Patent-
streitigkeiten um mögliche Nachahmungen seiner
iPhone-Technik vor einem US-Gericht einen überwälti-
genden Sieg erzielte, da wurde sehr genau reflektiert,
welche Folgen der mittlerweile voll eskalierte Patent-
krieg zwischen den Großunternehmen, in diesem Fall
der Softwarebranche, für die Gesellschaft nach sich
ziehen könnte. Es erscheint nicht abwegig, dass die
spektakulären Verfahren und die mit stattgebenden
Urteilen einhergehenden hohen Schadensersatzsummen
und Unterlassungsansprüche im Ergebnis massiv inno-
vationshindernde Folgen nach sich ziehen können. Wenn
eben ein Markt und die Neueinführung eines Produktes
patentrechtlich einem Minenfeld gleicht, sinkt die Be-
geisterung, alle Ressourcen daran zu setzen, Platzhir-
sche infrage zu stellen, Marktführer durch Innovationen
anzugreifen und dabei ganz nebenbei ein dynamisches
wirtschaftliches Umfeld zu erzeugen, auf das die Politik
mit Argusaugen schauen müsste.
Aber auch die Verbraucherinnnen und Verbraucher
könnten am Ende diejenigen sein, die den Preis dieses
Patentkrieges zahlen. Denn in dem Maße, wie das
Patentrecht sich einer weiten Patentierbarkeit öffnet,
wie etwa im Fall der Softwarepatente, führen die
„Monopole auf Zeit“ zu einer vom Preiskampf im Wett-
bewerb temporär abgekoppelten Entwicklung.
Natürlich erscheinen diese Thesen angesichts des
bereits seit vielen Jahren andauernden Patentkrieges
auf den unterschiedlichsten Märkten zugespitzt. Genau-
ere Untersuchungen zu den Folgen liegen nicht vor, und
es erscheint ebenso realistisch, dass sich so hochinnova-
tive und besonders kapitalstarke Branchen wie etwa der
IT-Sektor von rechtlichen Rahmenbedingungen wie dem
Patentrecht allenfalls am Rande, also gewissermaßen als
ein Nebenkriegsschauplatz, betroffen sehen. Dank des
hohen Wettbewerbes auch in diesem Bereich sorgt der
hohe Innovationsdruck auch für laufenden Preisdruck,
sodass die Verbraucherinnen und Verbraucher bei den
Preisen zumeist nicht das Nachsehen haben.
Gleichwohl: Das Diktum vom Patentrecht als bloßem
Anreizsystem für die allgemeine technische Fortentwick-
lung wirkt vor dem Hintergrund der beschriebenen
Realitäten des Patentrechts in den Gerichtssälen etwas
altbacken, und auch der Gesetzgeber muss hier laufend
überprüfen, ob etwas aus dem Ruder läuft.
Besonderen Anlass dazu bietet der Streit um Patente
auf Leben ebenso wie die weiter ausufernde Realität der
Softwarepatente, gegen die sich die freie Softwarebewe-
gung mit guten Argumenten zur Wehr setzt. Zudem wäre
es politisch naiv, Wachstum und Erfolg einer Wirtschaft
allein am zahlenmäßigen Output von Patenten zu be-
messen, wenn nicht sichergestellt ist, dass es sich dabei
um ein sorgfältiges und vor allem gerechtes System der
Erteilung handelt.
Die Bundesregierung hat sich in dieser Situation
lediglich damit begnügt, im nationalen Rahmen eine
Reform für einzelne Verfahrensverbesserungen in allen
Sparten des Immaterialgüterrechts vorzulegen. Sie
dürfte sich damit weitgehend auf sicherem Grund bewe-
gen. Der Entwurf hat denn auch überwiegend Zustim-
mung seitens der beteiligten Verbände erfahren. Es geht
um den in der Sache anerkennenswerten Anspruch,
Erteilungsverfahren zu vereinfachen, Anmelder zu ent-
lasten und Anpassungen an die beim Europäischen
Patentamt vorgegebenen Verfahrensabläufe vorzuneh-
men.
Einen sachgerechten Fortschritt bedeutet die Mög-
lichkeit des Erreichens des Anmeldetages und der damit
verbundenen Rechtsfolgen bei fremdsprachigen Paten-
ten unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen der Über-
setzung, ferner auch die Erstreckung der Recherche
nach § 43 auf den „Stand der Technik“, weil und soweit
damit eine verbesserte Recherchequalität spätere dys-
funktionale Streitigkeiten vermieden werden können.
Als grundsätzlich besonders positiv hervorheben
möchte ich auch sowohl die nutzerfreundliche und der
Zu Protokoll gegebene Reden
Allgemeinheit dienende Klarstellung hinsichtlich der
Akteneinsichtsrechte in die elektronische Schutzrechts-
akte, die seit Mitte 2011 beim DPMA geführt wird, als
auch die Möglichkeit der Weitergabe von Patentinfor-
mationen über die eigenen Publikationen hinaus. Dabei
wurde zwar die gebotene Abwägung mit möglichen
gegenläufigen Datenschutzrechten vorgenommen, zwei-
felhaft erscheint allerdings die Schwelle des „offensicht-
lichen Überwiegens schutzwürdiger Interessen“.
Ich teile ferner die meines Erachtens schlüssige
Kritik der Patentanwaltskammer vom 2. März 2012 hin-
sichtlich Art. 7 des Gesetzentwurfs. Die darin vorgese-
hene Übermittlungsbefugnis an das Europäische Patent-
amt wurde zwar entsprechend überarbeitet, sieht
gleichwohl nach wie vor mit der Schwelle „offensichtli-
chen Überwiegens“ eine unnötig hohe Schwelle für das
Eingreifen einer sorgfältigen inhaltlichen Prüfung vor.
Mit dem Ihnen vorgelegten Gesetz zur Novellierung
patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des
gewerblichen Rechtsschutzes verfolgt die Bundesregie-
rung drei Ziele:
Erstens wollen wir die Verfahrensabläufe bei der Er-
teilung von Patenten beim Deutschen Patent- und Mar-
kenamt nutzerfreundlicher ausgestalten.
Zweitens wollen wir den bürokratischen Aufwand so-
wie die Kosten bei den Anmeldern und beim Patentamt
senken.
Drittens geht es uns darum, angesichts der bevorste-
henden Umgestaltung der Patentlandschaft in Europa
durch das EU-Patent die Bedeutung des deutschen Pa-
tents und des deutschen Patentamtes zu stärken.
Dieses Gesetz bildet einen weiteren Baustein auf dem
Weg zu einem effizienten, anwenderfreundlichen und
konkurrenzfähigen deutschen Patentsystem. Vor drei
Jahren ist die letzte größere Novelle in Kraft getreten:
Mit dem Patentrechtsmodernisierungsgesetz von 2009
ist es gelungen, die Verfahren vor den Patentgerichten
effektiver auszugestalten und eine ausufernde Beru-
fungspraxis einzudämmen. Bei dem vorgelegten Entwurf
liegt der Fokus auf der Optimierung des Erteilungsver-
fahrens.
Für die deutsche Wirtschaft ist ein funktionierendes
Patentsystem von lebenswichtiger Bedeutung. Die deut-
schen Unternehmen haben, was die Zahl der techni-
schen Erfindungen angeht, im europäischen Vergleich
eine Ausnahmestellung. Dazu nur eine Zahl: Etwa
40 Prozent aller vom Europäischen Patentamt an An-
melder aus Europa erteilten europäischen Patente ge-
hen nach Deutschland.
Doch auch das deutsche Patent erfreut sich unverän-
dert großer Beliebtheit. Vielen Unternehmen, insbeson-
dere Mittelständlern, genügt es, ihre Erfindung nur im
Inland schützen zu lassen. Im vergangenen Jahr wurden
ungefähr 60 000 Patente angemeldet und knapp 14 000
erteilt.
Die Bundesrepublik ist unangefochten Innovations-
standort Nummer eins in Europa. Diese Spitzenposition
wollen wir erhalten. Dazu müssen wir das Patentrecht
an veränderte Gegebenheiten anpassen. Dies gilt für
neue technische Entwicklungen ebenso wie für Änderun-
gen im Verhalten der Anmelder.
Dazu greife ich aus der vorliegenden Novelle drei
Kernpunkte heraus:
Erstens. Die Einsicht in die Anmeldeunterlagen soll
künftig online über das Internet möglich sein. Bisher
musste man für die Akteneinsicht die umständliche Me-
thode anwenden, nach München zum Patentamt zu fah-
ren oder sich Kopien per Fax oder Post schicken zu las-
sen. Patentanwälte und Patentabteilungen von Unter-
nehmen haben 18 Monate nach der Anmeldung einen
Anspruch darauf, zu erfahren, welche technischen Erfin-
dungen sich im Erteilungsverfahren befinden. Dann ken-
nen sie den Stand der Technik; dann können sie ihre ei-
genen Entwicklungsaktivitäten darauf abstimmen und
alternative technische Lösungsansätze suchen. Es ist
zeitgemäß und entspricht der Arbeitsweise der Nutzer
des Patentsystems, dass der Informationsfluss über das
Internet eröffnet wird.
Mit dieser Neuregelung kommen wir dem einhelligen
Wunsch der Patentpraxis nach unkomplizierter und ak-
tueller Bereitstellung von Patentinformationen nach.
Gleichzeitig stärken wir damit die Servicequalität des
DPMA erheblich. Dass Datenschutzbelange und Urhe-
berrechte bei der Onlineakteneinsicht gewährleistet sein
müssen, schreibt der Gesetzentwurf ausdrücklich vor.
Zweitens. Das Stichwort Servicequalität gilt auch für
die Privilegierung von Patentanmeldungen in engli-
scher und französischer Sprache. Viele Erfinder melden
zunächst beim DPMA an, um sich dort nach neun oder
zehn Monaten einen ersten Bescheid abzuholen. Aus die-
sem Recherchebericht erfahren sie nach derzeitigem
Recht den relevanten Stand der Technik. Fällt dieser Be-
richt ermutigend aus, verfolgen die Antragsteller an-
schließend den Erwerb ihres Schutzrechts beim Europäi-
schen Patentamt in anderer Sprache, zumeist Englisch,
weiter.
Derzeit müssen alle Unterlagen schon drei Monate
nach der Anmeldung in deutscher Sprache vorliegen.
Unsere Novellierung sieht eine Verlängerung dieser
Frist für englische und französische Anmeldungen auf
zwölf Monate vor. Damit wollen wir erreichen, dass in-
ternationale Anmelder ihre für die Nachanmeldung
beim EPA vorgesehenen fremdsprachigen Papiere erst
dann ins Deutsche übersetzen müssen, wenn sie sich ent-
schließen, ihr Erteilungsverfahren beim deutschen Pa-
tentamt fortzusetzen. Damit wird es attraktiver, das An-
gebot des DPMA zu nutzen. Und damit wird das DPMA
gegenüber dem Europäischen Patentamt konkurrenzfä-
higer.
Drittens. Verbesserung der Servicequalität ist auch
die Überschrift für die inhaltliche Aufwertung des so-
eben angesprochenen Rechercheberichts. Bisher führt
er nur diejenigen Druckschriften auf, die für die Beurtei-
lung der Patentierbarkeit von Bedeutung sein könnten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Recherche soll künftig der Praxis auf internationa-
ler Ebene angeglichen und deshalb erweitert werden um
eine erste, vorläufige Einschätzung der Patentierungs-
voraussetzungen Neuheit und erfinderische Tätigkeit.
Der Anmelder hat dann schon wenige Monate nach
der Antragstellung eine vorläufige Bewertung seiner Er-
teilungschancen in der Hand. Sind diese gering, kann er
aus dem Verfahren aussteigen und weitere Kosten ver-
meiden.
Die vorliegende Novellierung konzentriert sich auf
die Straffung und Entbürokratisierung von Verfah-
rensabläufen bei den Unternehmen ebenso wie beim Pa-
tentamt. Als weitere Stichworte nenne ich noch die Ver-
einfachung des elektronischen Rechtsverkehrs und die
leichtere Zulassung der Öffentlichkeit bei Einspruchs-
verfahren gegen erteilte Patente.
Alle diese Rechtsänderungen scheinen aus der Sicht
des Patentlaien nur vergleichsweise geringfügige tech-
nische Korrekturen vorzusehen. Doch kann ich Ihnen
versichern, dass sie für die Patentpraxis ebenso wie für
das DPMA und damit für den Innovationsstandort
Deutschland von großer Bedeutung sind. Die Novelle
greift Anliegen aus der innovativen Wirtschaft auf, die in
den letzten Jahren immer nachdrücklicher vorgetragen
wurden. Der Gesetzentwurf übernimmt gleichzeitig eine
Reihe von Verbesserungsvorschlägen aus dem DPMA.
Dabei ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht entschei-
dend, dass diese Vorschläge erfüllt werden können, ohne
die Qualität der Patentprüfung zu beeinträchtigen oder
die Erteilungsfristen zu verlängern.
Ich bitte Sie daher, im weiteren Verfahren dem Patent-
novellierungsgesetz Ihre Zustimmung zu geben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10308 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es offen-
sichtlich nicht. Dann haben wir die Überweisung so be-
schlossen.
Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 c:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung des Assistenzpflegebedarfs in stationären
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen
- Drucksachen 17/10747, 17/10799 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern
- Drucksache 17/10784 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge,
Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären
Vorsorge und Rehabilitation
- Drucksache 17/3746 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 17/10207 Berichterstattung:
Abgeordneter Hilde Mattheis
Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung des
Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus im August 2009
haben Menschen mit Behinderungen, die nach dem SGB
XII ihre Pflege durch besondere Pflegekräfte nach dem
sogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, einen Anspruch auf Mitnahme dieser Pflegekraft ins Krankenhaus und auf Fortzahlung von Pflegegeld und Hilfe zur
Pflege während des gesamten Krankenhausaufenthaltes.
Damit wurde eine wichtige Verbesserung erreicht.
Zuvor gab es weder einen Anspruch auf Mitnahme der
Pflegekräfte noch auf Weiterzahlung der Leistungen
während des Krankenhausaufenthaltes. Oftmals sind
nur diese Assistenzkräfte in der Lage, entsprechend den
spezifischen Bedürfnissen diese Patientinnen und Patienten zu pflegen und das ärztliche und pflegerische
Personal über die individuellen Bedarfe zu informieren.
Die Kontinuität in der Begleitung und Assistenz ist für
das Wohlbefinden und den Genesungsprozess wichtig.
Seit nunmehr über drei Jahren ist das Gesetz in Kraft.
Die Probleme der ersten Zeit nach seinem Inkrafttreten
sind dank besserer Aufklärung über die neuen Rechte
aufseiten der Krankenhäuser, der Krankenkassen und
der Menschen mit Behinderungen größtenteils überwunden. Auch die Finanzierung funktioniert zwischenzeitlich geräuschlos und wird sowohl von den Krankenhäusern als auch von den Trägern der Grundsicherung als
unproblematisch geschildert. Im Jahr 2009 waren es
nach der Sozialhilfestatistik 685 Personen, die diese
Hilfe zur Pflege in Anspruch genommen haben. Für die
Weiterzahlung des Pflegegeldes während des Krankenhausaufenthaltes fielen damit rund 70 000 Euro jährlich
an. Das ist ein marginaler Kostenfaktor. Die Leistung ist
aber eine erhebliche Erleichterung im Alltag der Betroffenen.
Aus der praktischen Anwendung des Gesetzes zeigt
sich in einem Punkt Änderungsbedarf. Es ist notwendig
und sinnvoll, die Ausweitung des Anspruchs auf Assistenzpflege im Arbeitgebermodell auf Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen vorzunehmen. Hier steht nicht
nur das Patientenwohl im Vordergrund. Es ist auch Fakt,
dass die Pflegepersonen während der Zeit des KrankenMaria Michalk
haus- und Rehabilitationsaufenthaltes keine alternativen
Beschäftigungsverhältnisse eingehen können. So entstehen Lücken in der Erwerbsbiographie und ein erheblicher
Verwaltungsaufwand für relativ kurze Zeiträume.
Wir haben im letzten Jahr im Ausschuss für Gesundheit mit Vertretern der Bundesärztekammer, der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Forum
selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, dem
GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Heilbäderverband ein Expertengespräch durchgeführt, in dem sich
die Erkenntnis verfestigte, dass es sinnvoll ist, die bestehenden Assistenzpflegeregelungen auf Reha- und Vorsorgeeinrichtungen auszuweiten.
Ich freue mich, dass wir heute in erster Lesung den
Entwurf eines entsprechenden Gesetzes vor uns haben
und den betroffenen Menschen eine Verbesserung in
Aussicht stellen können.
Menschen mit Behinderungen soll die Nutzung einer
Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahme nicht mehr
unnötig erschwert werden. Aus Beispielen wissen wir,
dass immer wieder auf die stationäre Reha verzichtet
wurde. Das wird sich ändern. Es ist nach Beschlussfassung über das Gesetz eine echte Wahlfreiheit gegeben.
Wir möchten, dass das Pflegegeld aus der Pflegeversicherung sowie die Hilfe zur Pflege durch die Sozialhilfe
für die gesamte Dauer des Vorsorge- und Rehabilitationsaufenthaltes weitergezahlt werden, weil wir den
spezifischen Bedarf an Assistenz anerkennen. Diese Regelungen erstrecken sich auch auf den Bereich der Hilfe
zur Pflege der Kriegsopferfürsorge. Wir wollen, dass
das zum 1. Januar 2013 gilt.
Die Mehrkosten durch die im Gesetzentwurf vorgesehene Leistungsausweitung sind in der gesetzlichen
Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung,
der Sozialhilfe und der Kriegsopferfürsorge eher gering.
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch einmal
darauf verweisen, dass darüber hinaus die Mitnahme einer Pflegeperson nach § 11 Abs. 3 SGB V grundsätzlich
möglich ist, wenn es nach dem Erfordernis des Einzelfalls medizinisch geboten und erforderlich ist. Das heißt,
dass in begründeten Fällen in der Praxis Menschen mit
Behinderungen außerhalb des Arbeitgebermodells ihre
vertraute Assistenzperson in die Einrichtung mitnehmen
können.
Dieser Gesetzentwurf steht ganz im Duktus der UNBehindertenrechtskonvention. Wir setzen unsere Bestrebungen fort, eine umfassende Verwirklichung der Rechte
für Menschen mit Behinderungen im praktischen Alltag
zu erreichen. Ich denke, dass diese sehr sinnvolle Maßnahme geeignet ist, dass diesem Gesetzentwurf fraktionsübergreifend zugestimmt wird.
2009 haben wir unter der Gesundheitsministerin Ulla
Schmidt mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs den ersten Schritt getan, um Menschen mit Behinderungen die Begleitung einer Assistenzperson während eines Krankenhausaufenthalts zu ermöglichen.
Zuvor gab es keinen gesetzlich verankerten Anspruch
auf die Finanzierung einer Assistenzpflegekraft für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung während der
Dauer der Krankenhausbehandlung. Dadurch haben
Menschen mit einem hohen Hilfebedarf Krankenhausaufenthalte vermieden oder auf aufwendige Untersuchungen verzichtet. Ein solcher Zustand war natürlich nicht
länger hinnehmbar.
Vor Inkrafttreten unseres Gesetzes war die Finanzierung der Assistenzpflegekräfte nicht geklärt, was in der
alltäglichen Praxis für pflegebedürftige Menschen mit
Behinderungen ein großes Problem darstellte. Dieses
Problem ist mit dem Gesetz von 2009 behoben worden.
Die Assistenz von pflegebedürftigen Menschen mit
Behinderung umfasst die speziell wegen einer Behinderung notwendige und individuelle pflegerische Betreuung, Hilfestellung und Assistenz. Hiervon ist ein eng begrenzter Kreis von Personen betroffen, die aufgrund
ihrer Behinderung für die Verrichtungen im Alltag auf
Dauer Hilfe bedürfen und dafür auf diese besonderen
Pflegefachkräfte angewiesen sind.
Die stationäre Krankenhausversorgung umfasst nach
§ 39 Abs. 1 Satz 3 SGB V alle Leistungen, die „für die
medizinische Versorgung der Versicherten im Krankenhaus notwendig sind“. Hierzu gehört auch die nach einer medizinischen Behandlung erforderliche Krankenpflege.
Die notwendige spezifische pflegerische Versorgung
von Menschen mit Behinderung geht jedoch hinsichtlich
ihrer Art und des Umfangs über die für die stationäre
Behandlung einer Krankheit erforderliche Krankenpflege hinaus. Deswegen bestand vor unserem Gesetz im
Jahr 2009 nach § 39 Abs. 1 SGB V keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Übernahme der Kosten der persönlichen Assistenz.
Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs der Großen Koalition von 2009 wurde deshalb
§ 11 Abs. 3 SGB V eingeführt. Mit dieser Ergänzung im
SGB V wurde für die stationäre Behandlung von Menschen mit Behinderung die Mitaufnahme von Pflegekräften ermöglicht.
Bereits 2009 haben wir als SPD-Fraktion die Position vertreten, dass unser Gesetz nur als eine erste Stufe
zu verstehen ist und dass in der kommenden Wahlperiode eine umfassende Lösung gefunden werden müsse.
Es ist daher folgerichtig, dass der gesetzliche Anspruch,
den wir 2009 für den Bereich der Versorgung im Krankenhaus verankert haben, nun auf Einrichtungen der
stationären Versorge- und Rehabilitation ausgeweitet
wird.
Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf erhalten dadurch die Möglichkeit, Angebote in Einrichtungen
der Vorsorge und Rehabilitation wahrzunehmen. Gerade
für Menschen mit besonderem Assistenzbedarf ist diese
Ausweitung enorm wichtig. Die Versorgung von Menschen mit Behinderung darf nicht auf stationäre Krankenhäuser beschränkt bleiben. Nur durch die Möglichkeit, ihre Assistenzkräfte mitzunehmen, ist es Menschen
Zu Protokoll gegebene Reden
mit Behinderung möglich, Einrichtungen der Rehabilitation und Vorsorge zu besuchen.
Das nun vorliegende Gesetz der Bundesregierung ist
somit eine große Erleichterung für pflegebedürftige
Menschen mit Behinderungen. Ihre gesundheitliche Versorgung wird wesentlich verbessert.
Unverständlich ist allerdings, warum die Bundesregierung hier nicht die Chance ergreift, es allen pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung zu ermöglichen,
Assistentinnen und Assistenten bei Aufenthalten im
Krankenhaus oder in Einrichtungen der Vorsorge oder
der Rehabilitation mitzunehmen. Das Gesetz in seiner
derzeitigen Fassung sieht nur für diejenigen Menschen
mit Behinderung eine Finanzierung der Assistenzpflegekraft vor, die ihre Assistenzkräfte nach dem sogenannten
Arbeitgebermodell selbst beschäftigen.
Menschen mit Behinderungen, die ihre Assistentinnen
oder Assistenten nicht über das „Arbeitgebermodell“,
sondern über ambulante Dienste oder andere Einrichtungen sicherstellen, erhalten mit diesem Gesetz, so wie
es jetzt in der Fassung der ersten Lesung vorliegt, keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzpflegekraft
für die Dauer des Aufenthalts im Krankenhaus oder in
einer Einrichtung der Rehabilitation und Vorsorge.
Diese Einschränkung des Personenkreises ist nicht
nachvollziehbar. Alle Menschen mit Behinderung, die
Unterstützung bei einem Aufenthalt im Krankenhaus
oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung
benötigen, sollen diese auch bekommen. Dies ist unabhängig davon, auf welche Art und Weise ihre Assistenzkräfte beschäftigt sind.
Ohne die Sicherstellung der Betreuung und Pflege
durch Assistenzkräfte kann der Aufenthalt im Krankenhaus oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung für Menschen mit Behinderung nicht bewerkstelligt werden. Zudem erzeugt diese Beschränkung auf
den Personenkreis eine Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung. Eine solche Ungleichbehandlung ist nicht vertretbar.
Wenn medizinische Eingriffe bei Menschen mit Behinderung in einer fremden Umgebung ohne Unterstützung der vertrauten Assistenzperson durchgeführt werden, kann das auf Menschen mit Behinderung extrem
beängstigend wirken. Die Kommunikation mit den Ärztinnen und Ärzten kann sich schwierig gestalten oder
findet unter Umständen gar nicht erst statt.
Die Folge kann sein, dass es bei Menschen mit diesem
hohen Unterstützungsbedarf zu Fehldiagnosen kommt,
weil Diagnosen aufgrund einer fehlenden oder falschen
Kommunikation fehlerhaft gestellt werden. Es besteht
auch die Gefahr, dass Therapien nicht korrekt verordnet
werden oder die Verordnung von Therapien sogar ausbleibt und Versorgungsmängel auftreten.
Wir befinden uns erst in der ersten Lesung des Gesetzes über die Assistenzpflege. Der Gesetzentwurf wird
noch einmal intensiv in den Ausschüssen beraten. Ich
glaube, dass wir an dieser Stelle nacharbeiten und dafür
sorgen müssen, dass alle Menschen mit Behinderung
den gesetzlichen Anspruch auf eine Assistenzkraft erhalten.
Ich denke, wir sollten diesen Gesetzentwurf noch verbessern und allen Menschen mit Behinderung ermöglichen, ins Krankenhaus und auch in Einrichtungen der
Vorsorge und Rehabilitation notwendige Assistenzpflegekräfte mitzunehmen.
Wir sollten die Chance hier nicht vertun, wesentliche
Verbesserungen für alle Menschen mit körperlicher oder
geistiger Behinderung umzusetzen.
Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung haben
oftmals einen Hilfebedarf, der über die reine medizinische Versorgung hinausgeht, und bedürfen einer besonderen Unterstützung.
Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 wurde ein erster Schritt getan, um diesem besonderen Bedarf gerecht
zu werden. Dadurch wurde es pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung, die ihre Assistenzleistungen
nach dem sogenannten Arbeitgebermodell erhalten, ermöglicht, bei stationärer Behandlung im Krankenhaus
ihre persönliche Assistenzpflegeperson mitzunehmen.
Damit wurde die kontinuierliche Spezialpflege auch bei
einem Krankenhausaufenthalt gesichert.
Mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, über das wir hier heute abstimmen, gehen
wir heute den zweiten Schritt, indem diese Regelung in
Zukunft auch in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen gelten wird. Damit werden wir die Versorgungslücke schließen und das bestehende Recht konsequent
erweitern. Dies ist eine große Verbesserung für behinderte Menschen mit Pflegebedarf.
Sie können nun in Zukunft - analog zu der Regelung
für einen Krankenhausaufenthalt - ihre persönliche Assistenzpflegeperson in die Pflege-Einrichtung mitnehmen und erhalten auch weiterhin über die gesamte
Dauer das Krankengeld und die Hilfe zur Pflege durch
die Sozialhilfe. Dadurch stellen wir sicher, dass das Arbeitsverhältnis zur vertrauten Pflegeperson nicht unterbrochen werden muss.
Dieses Gesetz ist eine wichtige Verbesserung für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung und ich würde
mich freuen, wenn es in diesem Haus eine breite Mehrheit finden würde.
Gestern erhielt Andreas Vega in Berlin den ElkeBartz-Preis 2012. In einer Feierstunde im Kleisthaus,
dem Dienstsitz des Beauftragten der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen, wurde der Münchener Rollstuhlaktivist mit dem vom Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, ForseA, verliehenen Preis geehrt. Der Bundesverband hat zum
dritten Mal mit dieser Auszeichnung an seine vor vier
Jahren verstorbene Gründungsvorsitzende erinnert.
Auch wenn ich bei der Preisverleihung persönlich dabei
Zu Protokoll gegebene Reden
war, möchte ich auf diesem Wege dir, lieber Andreas, im
Namen der Bundestagsfraktion Die Linke sehr herzlich
zu dieser Auszeichnung gratulieren.
Was aber hat der Elke-Bartz-Preis mit dem heutigen
Thema zu tun?
Auf der REHACARE in Düsseldorf am 19. Oktober
2006 lud ForseA zu einer Podiumsdiskussion ein. Das
war der offizielle Auftakt zu der Kampagne: „Ich muss
ins Krankenhaus … und nun?“ Zu Beginn stellte Moderatorin Elke Bartz die Kampagne und ihre Hintergründe
sowie die Zielsetzung vor. Dabei betonte sie, dass nicht
nur körperbehinderte, Assistenz nehmende Menschen
bei Krankenhausaufenthalten wegen ihres behinderungsbedingten Hilfebedarfes Probleme haben können.
Auch auf die Bedürfnisse von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz oder sinnesbehinderten
Menschen sind die meisten Krankenhäuser nicht eingestellt. Zahllose Beispiele von Unterversorgungen bei
und teils dramatischen Folgen nach Krankenhausaufenthalten hätten den Anstoß für die Durchführung der
Kampagne gegeben.
Podiumsgast Ilona Brandt schilderte ein Ereignis,
mit dem sie vor einiger Zeit konfrontiert wurde. Ein
schwerstbehinderte Freundin musste mit einer Atemwegserkrankung ins Krankenhaus. Ihre Assistenten
durfte sie nicht mitnehmen. Im Krankenhaus war man
nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt. Sie war zu
schwach, um zu rufen, wenn sie abhusten musste. Die
Klingel konnte sie ebenfalls nicht bedienen. Ilona
Brandt wollte sich am folgenden Tag mit dem Sozialhilfeträger wegen der Kostenübernahme für die Assistenten im Krankenhaus in Verbindung setzen. Doch da war
es bereits zu spät: Die Freundin verstarb noch in der
Nacht, erstickt am eigenen Schleim.
Helmut Budroni, wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Universität Witten-Herdecke bestätigte, dass behinderte
Menschen in Krankenhäusern oft unterversorgt sind.
Die Infrastruktur allein wird in vielen Krankenhäusern
nicht den Bedürfnissen behinderter Menschen gerecht.
Hinzu kommen mangelnde Kenntnisse über viele Behinderungsarten. Diese und weitere Informationen zur
Kampagne des Behindertenverbandes können Sie übrigens nachlesen auf der Internetseite www.forsea.de.
Es dauerte drei Jahre, bis 2009 das „Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus“ im
Bundestag verabschiedet wurde. Mit dem Gesetz erhielten Menschen, die ihre Assistenz durch von ihnen beschäftigte besondere Kräfte nach den Vorschriften des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, SGB XII, im sogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Möglichkeit, ihre besonderen pflegerischen und persönlichen
Assistenzbedarfe bei stationärer Krankenhausbehandlung zu sichern.
Das so mühsam erkämpfte Gesetzchen war aber von
Beginn an mit zwei wesentlichen - allen Fraktionen bekannten - Mängeln behaftet. Zum einen gilt die Regelung nur für das „Arbeitgebermodell“. Zum Zweiten gilt
sie nicht während eines Aufenthalts in einer stationären
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung sowie in
Hospizen. Ein diesbezüglicher Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke wurde - nachlesbar in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit,
Bundestagsdrucksache 16/13417 - mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD abgelehnt. Die Fraktion der FDP
enthielt sich mit der Begründung, die Beschränkung auf
Personen mit Pflegeassistenz im Arbeitgebermodell
führe zu einer Ungleichbehandlung.
Ein Jahr danach, am 11. November 2010, schlug die
Fraktion Die Linke mit einem Gesetzentwurf - Bundestagsdrucksache 17/3746 - vor, zunächst wenigstens den
Assistenzanspruch für den leistungsberechtigten Personenkreis auch auf den Bereich der Vorsorge und Rehabilitation auszuweiten, also einen der bekannten Mängel
zu beseitigen. Dass dies notwendig und machbar ist,
wurde auch in zahlreichen Petitionen an den Deutschen
Bundestag sowie bei dem Expertengespräch des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am
23. März 2011 deutlich. Was nützt zum Beispiel eine
Krebs- oder Herzoperation, wenn die danach obligatorische Kur in einer Rehaklinik aufgrund der Behinderung,
welche nichts mit der akuten Krankheitsbehandlung zu
tun hat, wegen der ungeklärten Assistenzfrage oder fehlender Barrierefreiheit nicht stattfinden kann?
Heute, zwei Jahre danach, steht dieser Gesetzentwurf
zur Abstimmung. Die CDU/CSU-FDP-Koalition will
diesen Gesetzentwurf ablehnen. Die Begründung ist in
der zur Abstimmung stehenden Beschlussempfehlung
- Bundestagsdrucksache 17/10207 - nachlesbar: „Auch
die Koalitionsfraktionen hätten das in dem vorliegenden
Gesetzentwurf thematisierte Problem seit langem erkannt und daher ein eigenes Gesetzvorhaben auf den
Weg gebracht. ... Insofern seien die in dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke enthaltenen Regelungsvorschläge bereits gegenstandslos geworden.“
Ja, es gibt inzwischen einen fast wortgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ihn beraten wir heute in
erster Lesung, und es ist nicht geplant, diesen Gesetzentwurf sofort abzustimmen. Der Gesetzentwurf geht nun
zur Beratung in die Ausschüsse, und wann er dann im
Bundestag abgestimmt wird, ist noch offen. Es kann dauern; schließlich geht es hier nicht um milliardenschwere
Rettungspakete für Banken, sondern nur um einen Betrag unter 1 Million Euro für ein paar Behinderte, die
seit Jahren nicht zur für die Gesundheit notwendigen
Kur fahren können, weil das Assistenzproblem nicht gelöst ist. Bleibt mir also nur die Hoffnung, dass die Zusagen aus Kreisen der Koalition, dass das Gesetz noch in
diesem Jahr kommt, auch erfüllt werden.
Leider enthält der Gesetzentwurf keinen Vorschlag,
den zweiten, seit 2009 bestehenden, Mangel und die damit verbundene Ungleichbehandlung bei den Assistenzregelungen zu beseitigen. Natürlich gibt es Beispiele
- ähnlich wie beim Aufenthalt von Kindern in stationären Einrichtungen -, dass Assistenzkräfte dabeibleiben
können und auch ihre Unterkunft und Versorgung gewährleistet wird. Es ist aber nicht geregelt.
Deswegen fordert die Linke - auch mit Blick auf
Art. 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention mit einem weiteren Antrag „Assistenzpflege bedarfsgeZu Protokoll gegebene Reden
recht sichern“ die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem für pflegebedürftige Menschen und/oder Menschen mit Behinderungen während
eines stationären Aufenthalts im Krankenhaus und in
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen der Assistenzpflegebedarf auch dann sichergestellt wird, wenn
die für sie in der Regel tätigen Pflegekräfte nicht nach
dem sogenannten Arbeitgebermodell beschäftigt sind.
Vor sechs Jahren begann die Kampagne „Ich muss
ins Krankenhaus ... und nun?“ Was diesbezüglich heute
im Bundestag dazu geschieht, ist schlechte Realsatire.
Wir werden also, auch im Sinne von Elke Bartz, weiterkämpfen müssen.
Im Juni 2009 hatte der FDP-Kollege Dr. Erwin Lotter
in seiner Rede zum Assistenzpflegebedarfsgesetz bereits
vorhergesagt, dass sich die folgende Regierung wohl erneut mit den noch ungeklärten Fragen des Gesetzes befassen müsste. Seine damalige Kritik lautete, dass die
Große Koalition mit der Gesetzesvorlage weit entfernt
sei von einer umfassenden und vernünftigen Lösung.
Nun sind die FDP und der Abgeordnete Lotter selbst
ein Teil der Regierung, und es scheint, dass er die damals vorgebrachte Kritik gänzlich vergessen hat. Die
uns vorliegende Anspruchserweiterung der Assistenzpflege auf Reha- und Vorsorgeeinrichtungen nimmt an
keiner Stelle die damals von der FDP monierten Punkte
auf. Der Regierungsantritt kostete wohl einen Teil des
Gedächtnisses der FDP.
Menschen mit einer Behinderung, die eine Assistenzpflegekraft beschäftigen und als Arbeitgeber für diese
fungieren, sollen zukünftig einen Anspruch haben, in
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen darauf zurückgreifen zu können und die Refinanzierung gesichert
zu wissen. Das ist gut so, zumal das bisherige Gesetz nur
für das Versorgungsgeschehen bei einem Krankenhausaufenthalt von auf Assistenz angewiesenen Personen
gilt.
Schwarz-Gelb aber führt einen Geburtsfehler des Assistenzpflegebedarfsgesetz, APBG, fort: Die Erweiterung auf
den Reha- und Vorsorgebereich ignoriert den Kern des
Problems, ist nicht systemkonform und schließt viele auf
Hilfe angewiesene Menschen aus. Das ist unverständlich in
Anbetracht des sich verändernden Versorgungsbedarfs einer älter werdenden Gesellschaft, in der immer mehr
Menschen auf Hilfe, Unterstützung und Begleitung angewiesen sind.
Die Begrenzung im APBG auf diese kleine Gruppe
von Menschen mit Behinderung im Arbeitgebermodell
diskriminiert die weitaus größere Gruppe von pflegebedürftigen Menschen, die nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch ebenfalls als behindert gelten. Es werden auch
all diejenigen ausgeschlossen, die ihre Assistenz über einen Pflegedienst erhalten. Das ist diskriminierend und
ein Systembruch, da das Anstellungsverhältnis der Assistenz darüber entscheidet, ob ein gesetzlicher Anspruch besteht oder nicht.
Die Begründung des Bundesgesundheitsministeriums, mit der Gesetzesnovellierung der besonderen Situation behinderter, pflegebedürftiger Menschen Rechnung zu tragen, verkennt die Realitäten. Wie wir aus
Studien und aus Berichten von pflegenden Angehörigen,
aber auch Pflegekräften wissen, führt bei Menschen mit
einer Demenzerkrankung der Krankenhausaufenthalt
häufig zu einer Destabilisierung ihres Allgemeinzustands.
Sie erleben dort eine ungewohnte Umgebung, haben
keine Person, die ihnen Halt gibt, noch als Ansprechpartner fungiert oder über ihre Biografie, ihre Art der
Kommunikation, ihre Gewohnheiten Bescheid weiß. Es
ist nicht nur ihr schlechter Gesundheitszustand, der den
Klinikaufenthalt zur Zäsur macht, sondern auch der
Krankenhausaufenthalt an sich. So leiden die Erkrankten bei einem Krankenhausaufenthalt häufiger an Delir,
kehren häufig desorientierter als zuvor in ihre gewohnte
Umgebung zurück, sind auch häufiger von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen als andere oder versterben schneller. Hier ist Handlungsbedarf angesagt.
Es wäre konsequent gewesen, im bisherigen Assistenzpflegebedarfsgesetz all jene Personen einzubeziehen, die als Menschen mit Behinderung gelten mit Assistenz außerhalb des Arbeitgebermodells, und es wäre
darüber hinaus notwendig gewesen, die Menschen mit
einem auf den Einzelfall feststellbaren Bedarf an Assistenz und Begleitung zu berücksichtigen.
Wir müssen deshalb, bezogen auf die medizinische
und pflegerische Notwendigkeit, die Begleitung durch
eine Pflegeperson als grundsätzlich unterstützenswert
sehen und dies auch fördern. Die Neuregelung des Assistenzpflegebedarfsgesetz bleibt in dieser Form weit hinter
den Erwartungen zurück.
Das uns vorliegende Gesetz wird erweitert durch eine
Empfehlung des Bundesrats zur Notwendigkeit der Regulierung der Investitionskosten stationärer Einrichtungen nach § 82 des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Über
die Zeit haben sich die Investitionskosten zu einem
„zweiten Heimentgelt“ entwickelt. Über die Jahre sind
immer mehr Beschwerden laut geworden über die Intransparenz der Zusammensetzung der Investitionskosten, über nicht nachvollziehbare Erhöhungen und Investitionsstau. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind
demgegenüber aber in einer schwachen Position. Das
Bundessozialgericht hat dieses Dilemma 2011 zum Anlass genommen, die bisherige Handhabung und Regelung zu kritisieren. Aus verbraucherpolitischer Sicht kritisiert unserer Meinung nach das BSG zu Recht die
mitunter auch trägerabhängige intransparente Vorgehensweise bei der Umlage der Investitionskosten.
Wir Grüne sehen den gesetzgeberischen Handlungsbedarf und auch die Brisanz des Themas. Es muss auch
weiterhin möglich sein, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher nicht der ständigen jährlichen Schwankung
von Instandhaltungskosten unterworfen sind. Rückstellungen sind in Maßen vernünftig, müssen aber vertretbar sein und nachweislich für Investitionen verwendet
werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, hier
weitreichende Überlegungen anzustellen, die es nicht
nur gewährleisten, dass die Träger Planungssicherheit
erlangen, sondern auch die Verbraucherinnen und Verbraucher vor unangemessenen Investitionskostenpauschalen und Investitionsrücklagen schützt, die dann
doch nicht getätigt werden. Die Zusammensetzung der
Investitionskosten sowie etwaige Erhöhungen und Planungsabsichten des Trägers müssen transparenter für
den Verbraucher gemacht werden. Unserer Meinung
nach wäre dabei eine Erweiterung der Informationspflicht im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz unumgänglich.
Der vorliegende Gesetzentwurf knüpft unmittelbar an
das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im
Krankenhaus vom 30. Juli 2009 an, mit dem für pflegebedürftige behinderte Menschen, die ihre Pflege bereits
ambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften des SGB XII im sogenannten Arbeitgebermodell sicherstellen, die Möglichkeit einer Assistenzpflege auch bei stationärer
Krankenhausbehandlung verankert wurde.
Die Praxis nach Inkrafttreten dieses Gesetzes hat gezeigt, dass auch in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen ein Bedarf an Assistenzpflege für
den betroffenen Personenkreis besteht. Dies war auch
das Ergebnis eines Expertengesprächs des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages vom 23. März 2011.
Der Gesetzentwurf greift deshalb die grundlegende
Zielrichtung des Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus aus dem Jahr 2009 auf
und erstreckt die Maßnahmen für den betroffenen Personenkreis nunmehr auf die stationäre Behandlung in
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen.
Der eine oder andere mag sich fragen, warum der
Gesetzentwurf den Kreis der berechtigten Personen allein auf solche Pflegebedürftige beschränkt, die ihre
Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften des SGB XII im Arbeitgebermodell sicherstellen. Es gebe doch auch andere
Gruppen pflegebedürftiger Menschen mit und ohne Behinderung, die darauf angewiesen seien, während des
stationären Aufenthalts im Krankenhaus oder in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen die
Pflegebereitschaft ihrer Pflegeperson aufrechtzuerhalten.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird weder
der betroffene leistungsberechtigte Personenkreises erweitert noch Anspruchsinhalte leistungsrechtlich neu
ausgerichtet und justiert.
Dazu ist festzustellen, dass sich der Gesetzentwurf
systematisch und inhaltlich „1:1“ an dem Rahmen des
Maßnahmenpakets ausrichtet, der bereits durch das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus verankert worden ist. Dadurch wurde seinerzeit
eine bestehende Regelungslücke im akutstationären Bereich für die besondere pflegerische Versorgung von
Pflegbedürftigen geschlossen, die ihre Pflege bereits
ambulant durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach dem Arbeitgebermodell des SGB XII sicherstellen.
Die Erstreckung dieses Maßnahmenpakets nunmehr
auf die stationäre Behandlung in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen ist jetzt folgerichtig und gerechtfertigt, weil die rechtliche und sachliche Situation
des betroffenen Personenkreises in diesen Einrichtungen mit der in den Krankenhäusern vergleichbar ist.
Auch das Expertengespräch im Gesundheitsausschuss
des Deutschen Bundestages hat diese Einschätzung bestätigt.
Anderenfalls hätten die betroffenen Pflegebedürftigen
im Gegensatz zum Krankenhausbereich nach der
Rechtslage weiterhin während der Dauer der stationären Vorsorge- oder Rehabilitationsbehandlung keinen
Anspruch gegen die jeweiligen Kostenträger auf Mitaufnahme ihrer besonderen Pflegekräfte in die stationäre
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung und auf Weiterzahlung der bisherigen Leistungen. Eine derartig unterschiedliche Rechtslage zwischen dem Krankenhausund dem stationären Vorsorge- und Rehabilitationsbereich ist ohne Zweifel nicht sachgerecht.
Aus dieser Zielrichtung des Gesetzentwurfs ergibt
sich auch, dass eine Ausweitung des leistungsberechtigten Personenkreises über die Reichweite des Gesetzes
zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus hin zu einer umfassenden Sicherstellung von besonders aufwendigem Pflege- und Betreuungsaufwand
nicht Ziel und Zweck des Gesetzentwurfs sein kann.
Eine derartige Erweiterung würde weit über diesen
Gesetzentwurf hinausgehende komplexe Abgrenzungsfragen zwischen den Sozialleistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung, der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe aufwerfen - auch verbunden
mit der Klärung der jeweiligen Finanzierungsverantwortung im Hinblick auf die zu erwartenden erheblichen
finanziellen Auswirkungen.
Wer hier A sagt, muss auch B sagen! Insoweit steht
die Bundesregierung hier auch in Übereinstimmung mit
der mehrheitlichen Auffassung der Länder, die dies bereits in den Anhörungen zum Referentenentwurf und in
der Abstimmung so auf den Punkt brachten. Eine solche
umfassende leistungsrechtliche Neuausrichtung ist und
kann also nicht Gegenstand dieses Gesetzgebungsverfahrens sein.
Der Gesetzentwurf verankert jetzt vielmehr eine
kleine, aber schnell umsetzbare Lösung. Nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Im Ergebnis ist es mithin ein
kleiner, aber konsequenter und gebotener Schritt hin zur
Verbesserung der Situation pflegebedürftiger behinderter Menschen, die ihre Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte nach den Vorschriften des
SGB XII im Arbeitgebermodell sicherstellen.
Die im Übrigen vom Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf beschlossene Regelung zur
Investitionsfinanzierung von Pflegeeinrichtungen ist vor
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Beschluss sieht eine Gesetzesänderung im
SGB XI zur Anerkennung angemessener Pauschalen für
die Instandhaltung und Instandsetzung im Landesrecht
vor.
Das Bundessozialgericht hat am 8. September 2011
vier Entscheidungen zur gesonderten Berechnung der
Investitionskosten von Pflegeeinrichtungen gefällt. Danach ist ab 2013 die bisherige Praxis in den Bundesländern, Pauschalen für künftige Instandhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen zu genehmigen, nicht mehr
zulässig, weil nur tatsächlich entstandene oder sicher
entstehende Aufwendungen auf die Pflegebedürftigen
umgelegt werden dürfen.
Dem verständlichen Wunsch nach einer möglichst unbürokratischen Lösung steht das gemeinsame Ziel gegenüber, die Pflegebedürftigen bei der Umlage der Investitionskosten vor überhöhten Belastungen zu
schützen. Eine entsprechende Änderung wird deshalb
derzeit von uns geprüft.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10747, 17/10799 und 17/10784 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Ausweitung der
Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären Vorsorge und Rehabilitation. Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10207, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/3746 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Tagesordnungspunkt 39:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp,
Dr. Martin Neumann ({0}), Sylvia Canel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Stärken von Kindern und Jugendlichen durch
kulturelle Bildung sichtbar machen
- Drucksache 17/10122 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Angesichts der aktuellen Diskussionen um die vermeintliche Besteuerung von Musikschulen und der damit
verbundenen Frage der Abgrenzung zwischen Bildung
und Freizeitaktivität bin ich sehr froh, dass wir heute
den vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen zur
kulturellen Bildung in diesem Hohen Hause beraten und
ich somit die Möglichkeit habe, den herausragenden
Stellenwert der kulturellen Bildung zu unterstreichen.
Lassen sie mich gleich ganz am Anfang meiner Überzeugung Ausdruck geben: Kulturelle Bildung ist Bildung, manchmal auch mehr, aber nie weniger. Sie ist ein
wesentlicher Teil der ganzheitlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen und trägt insbesondere zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Damit leistet kulturelle Bildung einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Beitrag,
den wir nicht unterschätzen dürfen und dringend weiter
unterstützen müssen.
Bildung ist ein entscheidender Schlüsselfaktor für
den zukünftigen Wohlstand unserer Gesellschaft. Wenn
ich Bildung sage, meine ich dies in ganzheitlichem
Sinne. Denn Bildung ist nicht nur rationaler Wissenserwerb, sondern auch Tanz, Theater, Musik und viele andere Formen zählen dazu. Der freie Zugang zu Bildung
auf allen Ebenen und eine breite Vielfalt individueller
Bildungsangebote charakterisiert das Bildungssystem,
das wir Bildungspolitiker uns wünschen und bereits zu
einem Großteil realisiert haben. So begegnen wir den
vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit: demografischer Wandel, kulturelle Heterogenität, Integration
und Inklusion. Dafür müssen sich unsere Bildungsangebote an den aktuellen und zukünftigen Anforderungen
ausrichten und sich stetig weiterentwickeln. Dabei ist
die Vermittlung reinen Wissens, um im stetig anwachsenden Wettbewerb um die besten Köpfe und dem immer
schneller zunehmenden Wissenszuwachs zu bestehen,
als auch die Entwicklung von allseitig gebildeten Persönlichkeiten kein Entweder-oder, sondern ein Sowohlals-auch.
Für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien oder aus sozialen, finanziellen oder kulturellen
Risikolagen kann sich der Übergang ins Erwerbsleben
besonders schwierig gestalten. Ziel muss es daher immer wieder sein, gerechte Bildungschancen zu eröffnen
und Jugendliche in ihrer Ausbildungsreife - egal ob für
den universitären oder dualen Bildungsweg - zu stärken. Schulisches Lernen muss dabei einhergehen mit der
Stärkung kultureller und sozialer Kompetenzen.
In der aktuellen Bildungsdiskussion stehen sich die
Begriffe Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb oft
noch als Gegensätze gegenüber. Diese Sichtweise gilt es
zu überwinden. Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb müssen als Zugänge zu individuell realisierbaren
Lernerfolgen gesehen werden, die sich wechselseitig ergänzen. Nur so kann eine Kultur des Lernens etabliert
werden, die den ganzheitlichen Bildungsansatz betont
und eine Nachhaltigkeit des Lernprozesses sichert. Nach
dem humanistischen Bildungsideal findet der Mensch
nur durch Bildung zu sich selbst. Bildung ist dabei ein
Wert an sich, der weit über das Ziel, vorwiegend an der
praktischen Nützlichkeit orientiertes Wissen zu vermitteln, hinausreicht und vielmehr an der Herausbildung
der eigenen Identität und der Ermöglichung von Selbstverwirklichung orientiert ist.
Eine bisher weitgehend unbeachtete Einbeziehung
der Erfahrungen der kulturellen Bildung kann hier ein
Schlüssel sein, um Potenziale dieser Bildungsprozesse
zu nutzen. Eine Implementierung der Methoden kultureller Bildung führt zudem zum Erlernen von Kulturtechniken des Lernens, die für junge Menschen umso wichtiger
sind, als sie die Grundlagen für eine Motivation zu lebenslangem Lernen ebenso legen wie sie durch die
Sichtbarmachung individueller Stärken für eine Nachhaltigkeit dieser Motivation von besonderer Bedeutung
sind. Um unserem Bildungsideal gerecht zu werden, ist
es daher entscheidend, der kulturellen Bildung den dafür erforderlichen Stellenwert einzuräumen.
Als Parlamentarier, die sich dem christlichen Menschenbild verpflichtet fühlen, gehen wir von den individuellen Stärken der Kinder und Jugendlichen aus. Diese
gilt es gezielt aufzugreifen, sichtbar zu machen und zu
fördern, um so Potenziale zu erschließen, die im Bildungsverlauf zuweilen noch nicht genügend erkannt
werden. Wir können damit unser Ziel erreichen, allen
Kindern und Jugendlichen - unabhängig von ihrer sozialen Herkunft - den bestmöglichen Bildungsstand zu
ermöglichen und damit gesellschaftliche Teilhabe und
Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Angebote der
kulturellen Bildung sind hierfür besonders geeignet, bei
Kindern und Jugendlichen durch erfahrungsgeleitete reflektierte Lernprozesse persönliche Schlüssel- und Methodenkompetenzen auszubilden.
Bereits die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ betont in ihrem Schlussbericht:
Durch kulturelle Bildung werden grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, die für die
Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen,
die emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung und
Identitätsfindung von zentraler Bedeutung sind:
Entwicklung der Lesekompetenz, Kompetenz im
Umgang mit Bildsprache, Körpergefühl, Integrations- und Partizipationskompetenz und auch Disziplin, Flexibilität, Teamfähigkeit. Mit kultureller
Bildung werden Bewertungs- und Beurteilungskriterien für das eigene und das Leben anderer sowie
für die Relevanz des erworbenen Wissens gewonnen. … Kulturelle Bildung erschöpft sich nicht in
der Wissensvermittlung, sondern sie ist vor allem
auch Selbstbildung in kulturellen Lernprozessen.
Sie fördert soziale Handlungskompetenz und Teilhabe und qualifiziert den Menschen für neue gesellschaftliche Herausforderungen: Indem kulturelle Bildung die Möglichkeit bietet, sich interkulturelle Kompetenzen anzueignen, fördert sie die
Verständigung zwischen Kulturen im In- und Ausland, baut Vorbehalte von Kindern und Jugendlichen vor dem „Fremden“ ab und verbessert die gegenseitige Akzeptanz in hohem Maße. Da die
demografischen Entwicklungen verlässliche Bedingungen für soziale Biografien nicht mehr in gleichem Maß wie früher formulierbar erscheinen lassen, kommt der Stärkung individueller Kompetenz
für gelingende Lebensentwürfe erhöhte Bedeutung
zu. Kulturelle Bildung liefert einen grundlegenden
Beitrag hierzu.
Ich habe selbst jahrelange praktische Erfahrungen
als Kulturreferent sammeln können und kann die Aussagen der Enquete-Kommission nur bestätigen. Die Beschäftigung mit Kultur kann dabei sowohl Ziel des pädagogischen Handelns sein, aber ebenso auch als Methode
eingesetzt werden. Kulturelle Bildung befähigt zum
schöpferischen Arbeiten und ebenso auch zur aktiven
Rezeption von Kunst und Kultur. Kulturelle Bildung ist
sowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch der
schulischen Aus- und Weiterbildung. Sie verbindet kognitive, emotionale und gestalterische Handlungsprozesse.
Ich möchte auch noch einmal die Bedeutung der interkulturellen Kompetenz betonen. Interkulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bildung. Nehmen wir das Ziel ernst, dass Bildung ebenso
zur sozialen Integration beitragen soll, so gilt es, soziale
Integration als das Ergebnis gemeinsamer Lernerfahrung und gemeinschaftlichen Kompetenzerwerbs zu verstehen. Nur über die Vermittlung kultureller Kompetenz
kann Heterogenität ebenso angemessen berücksichtigt
wie gleichermaßen individueller Bildungserfolg realisiert werden. Beides ist unerlässlich für die Konstruktion der Persönlichkeit und somit Voraussetzung für die
Chance gelingender sozialer Integration.
Durch kulturelle Bildungsangebote wie Kunst und
Musik, Theater und Tanz, aber auch bei Sport und Bewegung erleben Kinder und Jugendliche, gerade aus bildungsfernen Schichten, dass sie mit Teamgeist, Einsatz
und Unterstützung etwas erreichen können. Sie erfahren
- oft zum ersten Mal -, in welchen Bereichen sie individuelle Potenziale, Talente und Stärken besitzen. Sie machen die Erfahrung, dass sie etwas beherrschen oder gut
können. Kulturelle Bildung ermöglicht es also, individuelle Stärken zu erkennen, schult die Fähigkeit, die Stärken anderer anzuerkennen, und stärkt den Willen, die eigenen Schwächen zu überwinden. Dies ist die
Grundlage für Selbstmotivation, Leistungsbereitschaft
und Verantwortungsübernahme junger Menschen und
leistet somit einen besonders wertvollen und nachhaltigen Beitrag zur Bildung und zur Persönlichkeitsentwicklung. Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU und
FDP ja gerade deshalb darauf verständigt:
Wir betonen die zentrale Bedeutung der kulturellen
Kinder- und Jugendbildung für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Es gilt, die
neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kultur
und Schule zu nutzen und qualitativ und quantitativ
auszubauen.
Der Bericht „Bildung in Deutschland 2012“ hat sich
als Schwerpunkt mit der kulturellen/musisch-ästhetischen Bildung im Lebenslauf auseinandergesetzt und ist
Zu Protokoll gegebene Reden
zu dem Schluss gekommen, dass das Interesse der Bevölkerung an kultureller Bildung in allen Lebensphasen
groß ist und dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund musikalische Aktivitäten zum Teil noch
stärker wahrnehmen als Kinder und Jugendliche ohne
Migrationshintergrund.
Lassen sich mich in diesem Zusammenhang, und weil
der Verband der deutschen Musikschulen gerade den
60. Jahrestag seiner Gründung gefeiert hat, einige
Worte zitieren, mit denen unser Bundestagspräsident
Norbert Lammert anlässlich des parlamentarischen
Abends des VdM treffend die Situation der kulturellen
Bildung skizziert hat und denen ich mich nur ausdrücklich anschließen kann:
In Deutschland gibt es eine außergewöhnlich große
Kultur- und besondere Musiklandschaft. Wenn es
aber um die Zukunftsfähigkeit dieser Landschaft
geht, ist die kulturelle Bildung die Achillesferse des
deutschen Kultursystems.
Um einer Verletzung oder gar einem Riss dieser
Achillesferse vorzubeugen, betonen wir Koalitionspolitiker mit dem vorliegenden Antrag ausdrücklich, welchen Stellenwert wir der kulturellen Bildung beimessen,
und möchten uns ausdrücklich bei allen Aktiven bedanken, die sich für die kulturelle Bildung unserer Kinder
einsetzen. Wir setzen ein deutliches Signal, dass wir die
kulturelle Bildung in unserem Land weiter voranbringen
wollen. Dies ist eine große und wichtige Initiative des
Parlaments. Ich kann daher nicht verstehen, dass der
Haushaltsberichterstatter der SPD, Kollege Hagemann,
unserem Ansatz vorwirft, wir würden uns verzetteln. So
kann nur jemand reden, der von der Sache keine, aber
nicht die geringste Ahnung hat. Schade.
Damit die Angebote der kulturellen Bildung Kindern
und Jugendlichen zugutekommen, bedarf es einer gezielten Förderung. Größtmögliche Wirkung lässt sich lediglich erreichen, wenn sich alle relevanten zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort zu Bildungsbündnissen
zusammenschließen. Die bisher bestehenden Kooperationen zwischen den Akteuren sind zu wenig systematisiert und zu stark vom Engagement einzelner Personen
abhängig und das, obwohl der Bericht „Bildung in
Deutschland 2012“ ausdrücklich die Bedeutung der
Breitenwirkung von bestehenden pädagogischen Programmen und Kooperationen von Kulturinstitutionen
mit Bildungseinrichtungen betont hat.
Aus diesem Grund haben CDU/CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag ebenfalls die Förderung von Bildungsbündnissen als wichtiges Ziel aufgenommen, um
insbesondere Kinder und Jugendliche zu unterstützen,
die im Elternhaus nicht die bestmöglichen Startchancen
erhalten. Neben der Eröffnung von bisher verschlossenen individuellen Bildungsverläufen erhöhen sich damit
ihre Chancen, einen erfolgreichen Weg in die berufliche
oder akademische Ausbildung und anschließend in das
Erwerbsleben zu finden, um damit ihr Leben eigenverantwortlich gestalten zu können.
Dass konkrete Maßnahmen der kulturellen Bildung
nicht nur individuell erlebbare Erfolge liefern, sondern
gleichzeitig auch formal und objektiv nachvollziehbar
sind, sich sogar in schulzeugnisähnlichen Dokumenten
belegen lassen, dafür ist der Kompetenznachweis Kultur
ein sehr gutes Beispiel. Der Kompetenznachweis Kultur
ist ein Instrument, welches von der Bundesregierung
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. im Auftrag
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entwickelt wurde, um gerade eben die Erfolge von kultureller Bildung sichtbar zu machen. Der Kompetenznachweis Kultur ist ein freiwilliges Angebot an Jugendliche.
Als ein Bildungspass entsteht er in einem Dialog zwischen den Jugendlichen und extra dafür qualifizierten
Fachkräften. Der Kompetenznachweis Kultur hilft gleichermaßen, individuelle Stärken zu erkennen, als er in
seinem dialogisch und transparent angelegten Lernprozess die neidlose Anerkennung sowohl der Stärken anderer als auch den Willen aktiver Überwindung eigener
Schwächen kultiviert. Diese im Lernprozess vermittelten
Schlüsselkompetenzen verbessern die persönlichen Bildungschancen und Bildungserfolge der Jugendlichen,
und sie tragen durch das Aufzeigen der bei allen Heranwachsenden vorhandenen Potenziale, Talente und persönlichen Stärken erheblich dazu bei, dass Chancengerechtigkeit im Bereich der Bildung kein abstrakter
Begriff bleiben muss, sondern sich für die Beteiligten mit
Lebenswirklichkeit füllt und somit auch bestmöglich genutzt werden kann. Dies ist vor allem dadurch erreichbar, dass hier, ausgehend von den Stärken der Jugendlichen, Chancen als konkrete Möglichkeiten eigenen
Aktivwerdens erkannt werden.
Eine Evaluation von Konzepten kultureller Bildung
hat festgestellt, dass insbesondere der Kompetenznachweis Kultur ein geeignetes Instrument zur Profilierung
der Bildung und zur Verbesserung beruflicher Orientierungsprozesse ist. So heißt es unter anderem in der Publikation „Neue Wege der Anerkennung von Kompetenzen in der kulturellen Bildung“ der Bundesvereinigung
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V.:
Der Kompetenznachweis Kultur kann hilfreich sein
für Jugendliche, für Einrichtungen und für das Arbeitsfeld. Die Verfahren der Erstellung lenken die
Aufmerksamkeit der Fachkraft auch auf die eigenen
Schlüsselkompetenzen, so dass alleine diese Sensibilisierung für die Kompetenzentwicklung im
Bereich der Kulturarbeit einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der pädagogischen Professionalität leistet.
Weiter heißt es:
Bildungspolitische Forderungen nach einem höheren Stellenwert der non-formalen Bildung bei der
Beurteilung der Kompetenzen von Bewerbern für
fortführende Ausbildung bzw. für Beschäftigungsverhältnisse erhalten mit dem Kompetenznachweis
Kultur eine konkrete Ausdrucksform.
Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
macht einen weiteren Vorteil deutlich: die Anerkennung
durch die Wirtschaft:
Unternehmer loben die brauchbaren Zusatzinformationen für die Personalauswahl bei BewerbunZu Protokoll gegebene Reden
gen auf Ausbildungsplätze oder andere Stellen, die
im Lebenslauf und in Zeugnissen nicht enthalten
sind.
Das Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für
Bildung“ ist daher der absolut richtige Weg, das - nebenbei gesagt - zur bislang größten Einzelfördermaßnahme des Bundes im Rahmen der kulturellen Bildung
geworden ist. Die eingegangenen Bewerbungen zeigen,
wie groß die Resonanz war. Die ausgewählten Projekte
versprechen viel Gutes, vor allem für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche.
Abschließend: Wenn die Linke nun in einer kleinen
Anfrage zu unserem Antrag allen Ernstes wissen will, ob
durch eine gezielte Unterstützung dieser bildungsbenachteiligten Kinder und Jugendlichen diese nicht stigmatisiert werden, löst das bei mir nur eines aus: Kopfschütteln. Wenn man sich auf dieses Niveau begibt, zeigt
dies nur eines: dass die christlich-liberale Koalition hier
einen Antrag vorgelegt hat, an dessen Sinnhaftigkeit
nicht wirklich jemand - auch nicht die Linke - zweifeln
kann.
„Die Gewährleistung guter Bildung für die jungen
Menschen in unserem Land ist als Fundament für ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ So lautet der erste
Satz des Koalitionsantrages „Stärken von Kindern und
Jugendlichen durch kulturelle Bildung sichtbar machen“.
Diese einleitende Aussage unterstütze ich voll und ganz.
Weiter heißt es richtig im Antrag: „Auch der ausgeprägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Bildungschancen bleibt eine große Herausforderung.“
Zwar werden in diesem Antrag zwei wichtige Herausforderungen erkannt, doch leider fehlt es gänzlich an
den richtigen Konsequenzen. Stattdessen begnügen sich
die Verfasserinnen und Verfasser mit einer Lobhudelei
für die Bundesregierung und vermeintlichen Forderungen, aus denen sich für das Bildungsministerium leider
keine relevanten Handlungsaufträge ergeben.
Die gesamte Bildungspolitik der schwarz-gelben Koalition, so wie wir sie bisher in diesem Hause kennenlernen durften, ist massiv darauf ausgelegt, die Bildung der
jungen Generation immer stärker vom Geldbeutel der
Eltern abhängig zu machen. Zahlreiche Studien belegen
dies immer wieder. Gerade in unionsgeführten Bundesländern wie Bayern oder Niedersachsen entscheiden die
finanziellen Ressourcen der Eltern über die Chancen der
Kinder und eben nicht die Fähigkeiten der Kinder und
jungen Menschen.
Es wäre also höchste Zeit, dass diese sogenannte
christlich-liberale Koalition den richtigen Erkenntnissen, die eingangs in diesem Antrag noch formuliert
sind, endlich die richtigen Taten folgen lassen würden.
Ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens ist, dass
den Worten Taten folgen. So heißt es im zweiten Kapitel
des Jakobusbriefs: „Was nützt es, meine Brüder und
Schwestern, wenn jemand behauptet, Glauben zu haben,
ohne dass er Werke hat? ({0}) Denn wie der Leib ohne
Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.“ Ich
hoffe, dass diese Worte aus dem Neuen Testament ein
Impuls sein mögen, um den Antrag im Laufe des parlamentarischen Verfahrens deutlich nachzubessern.
So ist beispielsweise das im Antrag erwähnte Programm „Kultur macht stark“ keineswegs die richtige
Antwort auf die drängenden Herausforderungen. Es ist
leider Gottes nichts anderes als eine „Lotterie“, wie so
manch anderes Programm, das von Frau Ministerin
Schavan ins Leben gerufen wurde. Zwar sind die in der
vergangenen Woche dafür ausgewählten Projekte allesamt förderungswürdig und werden sich für die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sicher positiv auswirken. Allerdings werden die wenigsten überhaupt
teilnehmen können. An der Mehrheit der Schülerinnen
und Schüler bzw. der Zielgruppe in Deutschland wird
diese „Fördertombola“ erneut vorbeigehen. Wir werden
gleiches erleben wie beim Nationalen Stipendienprogramm, beim Bologna-Mobilitätspaket oder auch beim
Bildungs- und Teilhabepaket. Ein wirksames Instrument
gegen oder gar die richtige Antwort auf die Bildungsarmut ist das sicher nicht.
Dies ist nur ein Beispiel, wo die im Antrag dargestellten Maßnahmen zu kurz greifen. Darüber hinaus stelle
ich die Frage, was sich eigentlich konkret hinter den
vielfältigen Aktivitäten der Bundesregierung, die im
Antrag gelobt werden, verbirgt. Dort ist die Rede von
bemerkenswerten Anstrengungen, die angeblich unternommen worden sind, um kulturelle Bildung als Investition in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens
sichtbar zu machen. Wie spüren die Kinder und Jugendlichen im Land diese angeblichen Anstrengungen? Was
kommt bei ihnen an? Darüber ist im Antrag nichts zu lesen, und auch darüber hinaus ist die Bilanz der Bundesregierung nicht gerade rühmlich.
Ich kann keinem Antrag zustimmen, in dem mit großen Floskeln pauschale Aktivitäten gelobt werden, die
jedoch nicht klar benannt werden bzw. benannt werden
können. Ähnlich verhält es sich mit den Forderungen an
die Bundesregierung. Dahinter verbergen sich nichts
weiter als kosmetische Formulierungen, die für die Kinder und Jugendlichen im Land kaum etwas ändern werden. Ich möchte nur einige Phrasen aufgreifen, die das
Ausmaß der Unverbindlichkeit deutlich machen: Die
Bundesregierung soll eine Zwischenevaluierung durchführen, um mit den Ergebnissen gegebenenfalls Verbesserungen anzustoßen. Sie soll an anderer Stelle die Administration so einfach wie möglich ausgestalten, und
sie soll für Initiativen die Möglichkeit zur Vernetzung ermöglichen. Oder sie soll darauf hinwirken, dass die Förderung auch über den veranschlagten Zeitraum hinaus
weitergeht.
All das, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
schwarz-gelben Koalition, sind doch Selbstverständlichkeiten, für die es keinen eigenen Antrag braucht. Gutes
Regierungshandeln sollte solche Schritte implizieren.
Doch genug der Kritik. Was wären sinnvolle Schritte,
wenn man tatsächlich die kulturelle Bildung fördern und
den immer noch existenten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und sozialer Bildung auflösen möchte?
Marianne Schieder ({1})
Als Erstes: Lassen Sie die wahnwitzige Idee vom Betreuungsgeld endgültig fallen, und lassen Sie uns das Geld
in den Ausbau von Kindertagesstätten investieren! Eine
bessere finanzielle Ausstattung würde auch mehr Spielraum für musische und kulturelle Bildung zulassen. Vor
allem käme eine solche dann viel, viel mehr Kindern zugute.
Darüber hinaus muss kulturelle Bildung eine Aufgabe
der allgemeinbildenden Schulen sein und bleiben. Wir
dürfen sie nicht in die Ecke einzelner Projekte und freiwilliger Initiativen verbannen, wenn wir Deutschland
zur Bildungsrepublik umgestalten wollen. Wenn Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, ernsthaft kulturelle Bildung fördern wollen, brauchen wir zunächst eine ganz andere Initiative, nämlich
eine Aufhebung des Kooperationsverbotes.
Der auf Spitzenforschung verkürzte Grundgesetzvorschlag der Bundesregierung lässt das Kooperationsverbot stattdessen unbeschadet bestehen. Damit verhindern
sie gemeinsame Bund-Länder-Initiativen, um auch die
kulturelle Bildung wieder besser im allgemeinbildenden
Auftrag der Kitas und Schulen zur Entfaltung zu bringen, an der alle Schülerinnen und Schüler partizipieren.
Bringen Sie endlich die Kraft auf, den Vorschlägen
der SPD, zum Beispiel zur Aufhebung des Kooperationsverbots, zu folgen! Dann werden Sie endlich Ihren vielzitierten christlichen Ansprüchen gerecht, dass zu den
Worten Taten gehören. Dann würden Sie nicht nur die
richtigen Forderungen aufstellen, wie zu Beginn des Antrags, sondern daraus auch die richtigen Konsequenzen
ziehen, nämlich solche, die dann tatsächlich etwas bewirken könnten.
Ich hoffe sehr, dass es in den Beratungen zu wesentlichen Verbesserungen kommt und damit der Antrag
nicht nur ein Schaufensterantrag bleibt, sondern wirklich etwas bringt für die kulturelle Bildung in unserem
Land.
Kultur macht stark. Kultur macht reich. Kultur definiert uns. Kultur schafft Identität. Kultur bzw. kulturelle
Bildung macht sehr vieles. Sie stärkt das Ich, sie trägt
zur Entfaltung der Persönlichkeit bei, sie fördert die
Schaffenskraft, sie verbessert das Urteilsvermögen, sie
befähigt zu strategischem Handeln und Denken, sie hilft,
soziale Kompetenzen zu entwickeln - bei Kindern und
Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen.
Ich würde mir wünschen, dass wir mit kultureller Bildung auch Bildungsarmut bekämpfen könnten. Doch das
ist leider nicht so einfach. Denn dazu brauchen wir ein
gesellschaftliches Umdenken auf breiter Ebene, eine
Veränderung in den Köpfen der Menschen und der Politikerinnen und Politiker - auf Bundesebene und in den
Ländern. Dahin, dass das Miteinander in einer inklusiven Gesellschaft als selbstverständlich aufgefasst wird.
Es muss als selbstverständlich aufgefasst werden, dass
Kinder und Jugendliche aus bildungsärmeren Familien
und Kinder und Jugendliche aus bildungsreicheren
Familien zusammen eine Schule besuchen - möglichst
viele Jahre lang, wie es in den Ländern üblich ist, die bei
PISA erfolgreich sind.
Die lange gemeinsame Bildung muss möglichst früh
beginnen. Deswegen appelliere ich an die Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU und FDP, endlich die Regelungen zum Betreuungsgeld dorthin fallen zu lassen,
wo sie hingehören: in den Mülleimer der Geschichte.
Wir brauchen dieses Geld nämlich dringend, um in den
Ausbau von Kindertagesstätten zu investieren.
Ich finde es wichtig und richtig, Projekte der außerschulischen kulturellen Bildung zu fördern. Wir brauchen aber gezielte Maßnahmen, die nicht bestimmte
Regionen benachteiligen oder bevorteilen. Und wir
müssen - auch das gehört zum Umdenken - Angebote
der kulturellen Bildung oder der Soziokultur wie Bibliotheken als Teil der Daseinsvorsorge begreifen. Sonst
laufen wir immer wieder Gefahr, dass gerade in Zeiten
mit schwachen Haushaltskassen solche Angebote gestrichen werden.
Und wir brauchen eine Bündelung der Maßnahmen
auf Bundesebene und gemeinsame Bund-Länder-Initiativen. Kulturelle Bildung muss an den Schulen verankert
werden. Das Kooperationsverbot muss aufgehoben werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, Ihr
Antrag hat gute Absichten wie die Bekämpfung der
Bildungsarmut. Doch leider können diese durch die geforderten Maßnahmen nicht erreicht werden, auch wenn
einzelne Maßnahmen und Projekte unterstützenswert
sind. Der Antrag verschleiert die wirklichen Probleme
und gaukelt mit sehr hoch gesteckten Zielen vor, zu handeln und zu gestalten, wenn letztendlich eine solch
starke Wirksamkeit doch zu bezweifeln ist. Deswegen
lehnen wir den Antrag ab.
Kulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil
der Bildungsarbeit, insbesondere da sie eine große Rolle
innerhalb der individuellen Persönlichkeitsentwicklung
spielt. Sie gibt den Menschen, vor allem den Kindern
und Jugendlichen, Halt und Orientierung. Aus diesem
Grund ist es unverzichtbar, dass Kinder und Jugendliche
frühzeitig in Kontakt mit Kunst und Kultur gebracht
werden.
Im Koalitionsvertrag wird bereits deutlich gemacht,
dass der Bund gemeinsam mit den Ländern den Zugang
zu kulturellen Angeboten unabhängig von finanzieller
Lage und Herkunft vereinfacht und zugleich die Aktivitäten weiter verstärkt. Kulturelle Bildung wird in diesem
Zusammenhang auch als förderndes Mittel der Integration angesehen.
Die Sicherstellung von guter Bildung für die Kinder
und Jugendlichen in der Bundesrepublik ist die Kernaufgabe der gesamten Gesellschaft, da sie als Voraussetzung für ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes
Leben fungiert. Um diese Kernaufgabe adäquat umsetzen zu können, bedarf es starker Bildungspartnerschaften. Diese sind der Garant für ein erfolgreiches und leistungsstarkes Bildungssystem. Das Ziel ist, Kindern und
Zu Protokoll gegebene Reden
Jugendlichen faire Teilhabe- und Bildungschancen zu
bieten.
In Zeiten der Globalisierung steht die Bundesrepublik
vor vielen Herausforderungen. Eine bessere Integration
von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist zwingend erforderlich. Doch auch Herausforderungen wie die Etablierung eines inklusiven Bildungssystems müssen angenommen und bewältigt werden.
Die größte Herausforderung stellt jedoch die Bekämpfung von Bildungsarmut dar. Vor dem Hintergrund
des Fachkräftemangels ist dies ein ernst zu nehmendes
Problem. Um den Wohlstand in der Bundesrepublik
nachhaltig zu steigern sowie ihn zu erhalten, benötigen
wir ein Bildungssystem, das unseren Kindern und Jugendlichen eine gute Bildung ermöglicht.
Der Nationale Bildungsbericht legte bereits dar, dass
ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in einer sozialen, kulturellen oder finanziellen Risikolage aufwächst. Alarmierend ist auch die Tatsache,
dass ein Fünftel aller 15-Jährigen zur sogenannten
PISA-Risikogruppe gehört. Gerade Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind davon überproportional betroffen. Aus diesem Grund benötigen vor allem diese Kinder und Jugendlichen eine besondere
Förderung, um ihre Persönlichkeit und sozialen Kompetenzen zu stärken. Dies geschieht vorrangig durch kulturelle Bildung. Sie stellt eine Schlüsselfunktion dar.
Die Koalition setzt sich dafür ein, dass Programme
wie zum Beispiel „Kultur macht stark. Bündnisse für
Bildung“ implementiert werden, um den Kindern und
Jugendlichen als Vermittler von Werten etc. zu dienen.
Kulturelle Bildung vermittelt Werte und Maßstäbe.
Ferner setzen wir uns dafür ein, außerschulische Angebote zu fördern. Ziel ist es, die Kompetenzen und Erfahrungen der Gesellschaft in den Prozess zu integrieren
und ihr Engagement in Vereinen, ehrenamtlichen Tätigkeiten etc. zu unterstützen. Insgesamt birgt die Kooperation zwischen Kultur- und Bildungseinrichtungen einen
Nutzen für den Einzelnen als auch für die Gesamtgesellschaft.
Durch die Bündnisse der Bildung bekommen die Kinder und Jugendlichen einen Bildungsnachweis vermittelt. Der Bildungsnachweis macht die Schlüsselkompetenzen in den einzelnen Programmen sichtbar. So
werden erstmalig einheitlich konkrete Kompetenzen benannt, die durch Singen, Tanzen, Theaterspielen etc. erlangt werden. Das Herausarbeiten von Kompetenzen ist
ein dialogisches Verfahren und steht somit für einen beiderseitigen Lernprozess.
Begrüßenswert ist es, dass die Allianz für Bildung als
Dach für lokale Bildungsbündnisse fungiert, um die Vernetzung im Bereich der kulturellen Bildung sicherzustellen und diese auch zu fördern. Die Vernetzung ist ein
wichtiger Bestandteil des Erfolges und daher essenziell.
Die Bündnisse für Bildung werden von der Erreichung dreier wichtiger Ziele begleitet, nämlich: der
Möglichkeit nach neuen Bildungschancen, eine breite
Bürgerbewegung für gute Bildung und eine stärkere Vernetzung verschiedener Bildungsakteure vor Ort - landes- und bundesweit.
Studien nach zu urteilen, besteht ein enormer Handlungsbedarf im Bereich der kulturellen Bildung in der
Bundesrepublik. Aus diesem Grund fordern wir unter
anderem eine weitreichende Unterstützung bei entsprechenden Projekten, sowie die Unterstützung von
deutschlandweiten Bündnissen für Bildung. Des Weiteren ist die kulturelle Vermittlung eine Kernaufgabe in
den geförderten kulturellen Einrichtungen und ist auch
als solche anzuerkennen. Wichtig ist auch, dass die Bildungsbündnisse über den Förderzeitraum hinaus begleitet und fortgeführt werden. Dabei ist zu beachten, dass
die Zusammenarbeit zwischen schulischen und außerschulischen Akteuren nachhaltig gestärkt wird und insbesondere deren Vernetzung angestrebt wird.
Die Integration von Kultur- und Bildungseinrichtungen in den Alltag ist eine notwendige Voraussetzung für
den sozialen Frieden und Zusammenhalt innerhalb der
Gesellschaft, da die kulturelle Bildung essenziell für die
Entwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen ist. Die
Vermittlung von Werten, die in einer demokratisch fundierten Gesellschaft von Bedeutung sind, erfolgt im Wesentlichen durch Kultur- und Bildungseinrichtungen und
im seltensten Fall innerhalb der Familie. Kulturelle Bildung stärkt die positiven Eigenschaften, die jeden Einzelnen zur Selbstfindung anregen und ferner die sozialen
Fähigkeiten bekräftigen, die für ein gesellschaftliches
Zusammenleben notwendig sind. Aus diesem Grund ist
es zwingend erforderlich, dass die entsprechenden Voraussetzungen für Kooperationen zwischen Kultur- und
Bildungseinrichtungen geschaffen werden. So wird gewährleistet, dass Kinder und Jugendliche gefördert werden, die von der Bildungsarmut besonders betroffen
sind. Dies betrifft in erster Linie Kinder und Jugendliche, die in einer Risikolage heranwachsen. Mittels der
Kooperationen können sie kulturelle Fertigkeiten erlernen und in ihrem weiteren Lebensweg anwenden. Somit
wird das Ziel der Integration vorangetrieben. Jedoch
profitieren nicht nur die Kinder und Jugendlichen von
solchen Kooperationen, sondern vielmehr die gesamte
Gesellschaft.
Nach den Zielen der UNESCO Seoul Agenda zu urteilen, wird der Zugang zu künstlerischer und kultureller
Bildung als grundlegender und nachhaltiger Bestandteil
einer hochwertigen Erneuerung von Bildung angesehen.
Ferner muss die Qualität solcher Programme sichergestellt werden. Des Weiteren sollen Prinzipien und Praktiken künstlerischer und kultureller Bildung angewendet
werden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und
kulturellen Herausforderungen beizutragen.
Kulturelle Bildung und die dazugehörigen Einrichtungen sind in der heutigen Zeit von großer Bedeutung.
Sie geben Impulse für neue Entwicklungen und tragen
zum sozialen Wohlstand bei.
Hinter dem blumigen Titel des Koalitionsantrages
verbergen sich über weite Strecken beachtliche Einsichten und fast durchgängig richtige Forderungen. Man
Zu Protokoll gegebene Reden
könnte Ihnen zu diesem Antrag eigentlich gratulieren.
Er ist gut. Ich frage mich nur, warum Sie ihn stellen
mussten. Vor der Sommerpause zog die Bundesregierung, genauer das Bundesbildungsministerium, ein Programm zur Stärkung kultureller Bildung aus der Schublade. Um immerhin 30 bis 50 Millionen Euro soll der
entsprechende Haushaltstitel in den nächsten Jahren
aufgestockt werden. So viel erhielten Träger der kulturellen Kinder- und Jugendbildung noch nie. Sie werden
sich zu Recht freuen.
Zudem soll dieses Programm gegen Bildungsarmut
wirken. Dann hätten wir schon mindestens zwei davon,
denn das Bildungs- und Teilhabepaket soll das auch.
Wirkt es nicht hinreichend? Oder sind sie erschrocken
über die Ahnungslosigkeit des Staatssekretärs, der vor
der Sommerpause im Kulturausschuss das Programm zu
erläutern versuchte und damit selbst in den Reihen der
Koalition Zweifel hervorrief?
Als ich im Sommer auf meiner Tour durch den Wahlkreis bei Vereinen vor Ort nachfragte, ob ihnen das Programm bekannt sei, sah ich Erstaunen. Zum Beispiel das
Familienhaus in Magdeburg, kein ganz kleiner Träger,
war über den drohenden Geldsegen noch gar nicht im
Bilde.
Wollten Sie Werbung für die Arbeit der Bundesregierung betreiben? Verständlich wäre das ja bei dem Zank,
der sonst aus der Koalition zu hören ist, über das
Betreuungsgeld zum Beispiel. Dann hätten Sie es aber
weiter vorn in der Tagesordnung platzieren müssen und
nicht versteckt, bei den Reden zu Protokoll. Aber vielleicht haben Sie mit Bedacht den späten Zeitpunkt
gewählt, denn der Bewerbungszeitraum ist bereits verstrichen und die Mittel sind auch bereits verteilt, für die
nächsten fünf Jahre im Voraus. Was aber soll der Antrag
dann noch? Haben Sie Angst, dass es ihnen dort so
ergeht wie bei den Mitteln für Teilhabe aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, die vor Ort teilweise andere
Finanzierungen durch die Kommunen einfach ersetzen?
Oder fürchten Sie sich vor einem bürokratischen Monstrum, das einen Großteil der Mittel auffrisst? Diese
Sorge teile ich, insbesondere, wenn ich Ihren Antrag
lese.
Wie sollen denn nun aber Initiativen vor Ort an dem
Programm teilnehmen können? Wie sollen Schulen profitieren? Wie wollen Sie in die Fläche vordringen, wenn
vor Ort, wie in der 9 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Stadt Calbe in meinem Wahlkreis, gerade
in diesem Jahr die einzige kulturelle Einrichtung, die
Stadtbibliothek - ich habe heute schon darüber geredet geschlossen wird? Sie brauchen zur Weiterführung der
Bibliothek etwa 50 000 Euro jährlich, und die haben sie
nicht. Kultur ist eben eine freiwillige Aufgabe, und das
heißt für manche Verwaltung und manche Kommunalaufsicht: kann auch wegfallen.
Sosehr ich den Verbänden und den kulturellen Akteuren bundesweit den warmen Geldregen gönne: Er
ersetzt nicht eine solide Finanzierung von Kultur und
Bildung in der Fläche. Darum: Packen Sie Ihren Antrag
wieder ein, die Knete ist verteilt; er kommt zu spät um
noch etwas zu ändern.
Mit dem Thema kulturelle Bildung diskutieren wir
heute ein Thema, auf das Wissenschaftler und Hirnforscher schon länger hinweisen. Denn mit der Entwicklung der künstlerischen Fähigkeiten verbessern sich
auch die sogenannten kognitiven Leistungen. Soziale
und emotionale Kompetenzen können gestärkt werden.
Besonders für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien kann es einen positiven Einfluss auf ihr
Selbstbewusstsein und ihre Persönlichkeitsentwicklung
haben, wenn sie in ihrem künstlerischen Ausdruck gefördert werden, als Mitglied einer Band oder auf der Bühne
Applaus bekommen und so Bestätigung erfahren. Die
grüne Bundestagsfraktion setzt sich daher mit Nachdruck für die Aufwertung künstlerisch-kreativer Bildungsinhalte ein.
Die Bundesregierung hat nun das Programm „Kultur
macht stark“ vorgelegt; die ersten Konzepte sind vor
kurzem ausgewählt worden. Die Frage ist jedoch, inwiefern Sie mit diesem Programm den Kindern und Akteuren in diesem Bereich wirklich und nachhaltig einen
Dienst erweisen. Die Zielsetzung des Programms ist
richtig und wichtig, denn es zielt darauf ab, das Potenzial von Kultur und Künsten zur Integration, Entwicklung und Teilhabe benachteiligter Kinder im außerschulischen Bereich zu nutzen. Wir bleiben jedoch skeptisch,
weil es sich bei den bereitgestellten Mitteln um zeitlich
gebundene Projektmittel handelt und somit für die Antragsteller zu wenig Planungssicherheit herrscht. Was
passiert, wenn die Mittel auslaufen. Welche Antwort haben Sie auf die Frage der Anschlussfinanzierung? Auch
stellt sich uns die Frage, ob das zweistufige Antragsmodell über die bundesweiten Verbände möglicherweise
kleine Initiativen und Vereine vor Ort bei der Antragstellung benachteiligen könnte. Angesichts der Flut an bereits bestehenden Programmen und Projekten im Bildungsbereich ist es kein Verdienst am Bildungswesen,
noch ein weiteres Neues zu schaffen. Wichtiger wäre es,
diese Art Projekte zu verstetigen und den Verbänden und
Initiativen in diesem Bereich eine längerfristige Perspektive zu bieten.
Wir fragen uns auch, weshalb die Bundesregierung
nur Projekte mit mindestens drei Kooperationspartnern
fördert, während doch mancherorts auch zwei Partner
gute Projekte auf die Beine stellen können. Der Förderrichtlinie ist außerdem zu entnehmen, dass primär Projekte mit Ehrenamtlichen oder Honorarkräften gefördert
werden sollen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum nicht
auch hauptamtlich Beschäftigte, die gute Projekte dauerhaft weiterführen könnten, förderungsfähig sein sollen. Insofern sehen wir viele offene Fragen und fallen
nicht in den Jubelchor mit ein, ganz zu schweigen von
ihrem Antrag, der ein reiner Scheinantrag ist und ausschließlich der Selbstbeweihräucherung der Bundesregierung dient. Inhaltlich setzen sie rein gar nichts neues
hinzu. Zwar ist Bildung mehr als Schule und das Anschieben bürgerschaftlicher Netzwerke für kulturelle
Bildung richtig, dieser Tatsache trägt das Programm
Rechnung. Jedoch soll Bildung und besonders kulturelle
Bildung eben auch in der Schule stattfinden. Vor diesem
Hintergrund ist das Mauern der Bundesregierung in SaZu Protokoll gegebene Reden
chen Kooperationsverbot im Bildungsbereich umso unverständlicher. Eine neue Kooperation zwischen Bund
und Ländern könnte ein neues Ganztagsschul-Programm ermöglichen, wie wir Grüne es schon so lange
vorschlagen.
Von einer ganztägigen, qualitativ hochwertigen Betreuung würden vor allem bildungsferne Kinder und Jugendliche profitieren. Ganztagsschulen sind auch der
richtige Ort, um kulturelle Bildung als Unterrichtsthema
zu stärken und um außerschulische Akteure wie Musikschulen, Theatergruppen, Jugendkulturzentren und Vereine einzubeziehen. Stattdessen blockieren CDU, CSU
und FDP aber im Bundesrat eine echte Reform und setzen auf ein weiteres, zeitlich begrenztes Programm, das
die Beteiligten nach Ablauf der Bundesförderung ohne
Perspektive im Regen stehen lässt.
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung
Noch immer wachsen in Deutschland fast 30 Prozent
aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in wenigstens einer sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolage auf, die ihre Bildungschancen schmälert. Etwa
ein Fünftel aller 15-Jährigen gehört zur sogenannten
PISA-Risikogruppe. Diesen Jugendlichen wird der
Übergang ins Erwerbsleben nur mit erheblichen Schwierigkeiten gelingen.
Die Verwirklichung von mehr Bildungsgerechtigkeit
und die Bekämpfung von Bildungsarmut haben deshalb
oberste Priorität für die Bildungspolitik der Bundesregierung.
Wir sind dabei auf einem guten Weg. Dies hat auch
die kürzlich vorgestellte OECD-Studie Bildung auf einen
Blick gezeigt: Immer mehr Kinder in Deutschland besuchen Vorschulen und Kindergärten, das Niveau der Bildungsabschlüsse steigt weiter, immer mehr junge Menschen besuchen eine Hochschule: Noch im Jahr 2000
haben lediglich 30 Prozent eines Jahrgangs ein Studium
aufgenommen, im vergangenen Jahr waren es über
50 Prozent.
Um auf diesem Weg weiter erfolgreich voranzuschreiten, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, mehr Verantwortung für die Bildung von Kindern zu übernehmen,
die von Bildungsarmut besonders bedroht sind.
Mit dem Förderprogramm „Kultur macht stark.
Bündnisse für Bildung“ haben wir einen wichtigen
Schritt in diese Richtung getan. Ziel des Programms ist
es, durch außerschulische Bildungsmaßnahmen bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche von 3 bis
18 Jahren zu fördern. Die Angebote sollen ab Anfang
2013 vor Ort - das heißt auf lokaler Ebene - von zivilgesellschaftlich getragenen Bündnissen für Bildung durchgeführt werden. „Kultur macht stark“ fußt auf der Erkenntnis, dass Bildung nicht allein eine Aufgabe des
Staates und der Schule ist, sondern der gesamten Gesellschaft.
Wir brauchen eine breite Bewegung für mehr Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen. Deshalb muss die außerschulische Bildung neben der frühkindlichen und der schulischen einen höheren Stellenwert bekommen.
Mit dem Programm „Kultur macht stark“ lädt das
Bundesministerium für Bildung und Forschung zivilgesellschaftliche Akteure dazu ein, in lokalen Bündnissen
für Bildung außerschulische Bildungsangebote zu entwickeln, die sich an den konkreten Bedarfen und Möglichkeiten vor Ort orientieren. Denn dort werden die
besten Möglichkeiten gefunden, um Kindern und Jugendlichen mehr Bildungschancen in bildungsarmer
Umgebung zu bieten. Dabei können auch Schulen oder
Kindertagesstätten als Kooperationspartner einbezogen
werden.
Die Resonanz auf dieses neue Programm war außerordentlich positiv: Über 160 Verbände und Initiativen
haben ihre Konzepte bei „Kultur macht stark“ eingereicht. Die von Frau Bundesministerin Professor
Dr. Annette Schavan, MdB, berufene Jury hat daraus
insgesamt 35 bundesweite Verbände und Initiativen ausgewählt, die in den kommenden fünf Jahren bis zu
230 Millionen Euro erhalten werden, um außerschulische Maßnahmen vor allem der kulturellen Bildung zu
entwickeln und umzusetzen.
Die konkreten Angebote werden auf lokaler Ebene in
Bündnissen für Bildung durchgeführt, das heißt von wenigstens drei lokalen Kooperationspartnern. Dies können Büchereien sein, Theater und Chöre, Sportvereine
und Jugendverbände.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
lässt sich dabei von einem weiten Kulturverständnis leiten, das alle künstlerischen Sparten bis hin zur Medienbildung, Bewegungs- und Alltagskultur umfasst.
Kulturelle Bildung befähigt zum schöpferischen Arbeiten und ebenso auch zur aktiven Rezeption von Kunst
und Kultur. Kulturelle Bildung ist sowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch der beruflichen Aus- und
Weiterbildung. Sie verbindet kognitive, emotionale und
gestalterische Handlungsprozesse. Auch interkulturelle
Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil kultureller Bildung.
Zu den Verbänden, die durch das BMBF gefördert
werden, gehören der Deutsche Volkshochschulverband,
die Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung und der Verband deutscher Musikschulen; alle
drei werden in den nächsten 5 Jahren mit jeweils bis zu
20 Millionen Euro gefördert.
Weitere Konzepte, die ebenfalls von der Jury empfohlen wurden, sind zum Beispiel das zirkuspädagogische
Konzept der bundesweiten Initiative „Zirkus macht
stark“ sowie öffentliche, freie und Amateurtheater oder
auch der Deutsche Museumsbund, die Sportjugend und
die Bibliotheken. Sie alle stehen für lokale Bündnisse für
Bildung, die mit ihren spezifischen thematischen und pädagogischen Zugängen Kinder und Jugendliche in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung stärken können.
Mit „Kultur macht stark“ konzentrieren wir uns auf
die kulturelle Bildung, da junge Menschen hier neue
Ausdrucksformen finden können, die ihnen Freude, ErZu Protokoll gegebene Reden
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
folgserlebnisse und Selbstwertgefühl vermitteln. Gerade
für junge Menschen aus bildungsfernen Familien ist
Kultur der Schlüssel zu einer neuen Welt, die ihnen sonst
oft verschlossen bleibt.
Lokale Bildungsangebote können jedoch nur wahrgenommen werden, wenn auf der Seite der Nutzer ausreichend Informationen darüber vorliegen. Der nationale
Bildungsbericht 2012 mit dem Schwerpunktkapitel
„Kulturelle Bildung“ weist hier deutlich auf Defizite
hin. Es fehlen Informationen über die inhaltlichen Angebote im nonformalen und informellen Bereich. Die Nutzer der Bildungsangebote haben oft Schwierigkeiten,
sich über die Einrichtungen vor Ort ausreichend zu informieren und sich in der Vielfalt zu orientieren. Selbst
die Akteure in den kulturellen Bildungseinrichtungen beklagen, dass sie zu wenig über die Arbeit anderer wissen, dass die unterschiedlichen Angebote besser abgestimmt werden könnten und dass „das Rad zu oft neu
erfunden“ werde.
Das BMBF fördert deshalb ab Sommer 2012 eine Dialogplattform „Kulturelle Bildung“ beim Deutschen Kulturrat, der alle großen Verbände unter einen Dach vereint.
Damit soll die breite Öffentlichkeit durch ein Internetportal mit Wegweiserfunktion und eine Veranstaltungsreihe mit aktuellen Informationen zu Angeboten
der kulturellen Bildung versorgt werden. Die Dialogplattform richtet sich auch an die Akteure der kulturellen Bildung mit dem Ziel des Austauschs und der besseren Vernetzung.
Insgesamt erhofft sich das BMBF davon mehr Information und Transparenz sowie eine Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung. Ziel aller dieser Aktivitäten ist
es, möglichst vielen Menschen ein Mehr an Bildungschancen und neue Bildungshorizonte durch kulturelle
Bildung zu bieten und somit die Chance zu einem erfüllten, selbstbestimmten Leben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10122 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine
anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/10146 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Elf Jahre ist es her, als das Rehabilitations- und
Schwerbehindertenrecht als Neuntes Buch in das Sozialgesetzbuch eingefügt worden ist. Am 6. April 2001 hat
der Deutsche Bundestag das „SGB IX - Rehabilitation
und Teilhabe behinderter Menschen“ mit den Stimmen
einer parlamentarischen Mehrheit von SPD und Grünen,
CDU/CSU, FDP beschlossen. Nachdem auch der Bundesrat dem Gesetz zugestimmt hatte, ist es am 1. Juli
2001 in Kraft getreten. Mit dem SGB IX hat die Politik einen wichtigen Meilenstein in der behindertenpolitischen
Gesetzgebung markiert und einen Paradigmenwechsel
eingeläutet: Der Mensch steht mit seiner Behinderung
und seinen individuellen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Es
soll nicht mehr allein der Bedarf betrachtet werden, sondern auch die Fähigkeiten. Die Orientierung liegt auf
der Chancengerechtigkeit.
Das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes,
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden“ ({0}), ist seitdem fest im
Sozialrecht verankert. Wir wollen, dass Menschen mit
Behinderung oder solche, die von Behinderung bedroht
sind, solidarische Leistungen erhalten, damit sie selbstbestimmt und gleichberechtigt am Leben in unserer Gesellschaft teilhaben können.
Das SGB IX hat nicht nur eine breite Zustimmung bei
den politischen Kräften erhalten, sondern ist auch bei
den Rehabilitationsträgern und Verbänden im Gesundheits- und Sozialwesen auf positive Resonanz gestoßen.
Ihnen wurde sehr viel mehr Spielraum zur eigenverantwortlichen Gestaltung gesetzlicher Vorgaben eingeräumt. Wir erhofften uns damals, dass diese umfassend
genutzt werden.
Jeder Mensch ist ein Individuum und braucht eine individuell zugeschnittene Lösung. Zur besseren praktischen Handhabung hat der Gesetzgeber unter Beibehaltung des gegliederten Systems der sozialen Sicherung
das bis dahin auf alle Sozialgesetzbücher verteilte Recht
der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
in einem Buch des Sozialgesetzbuchs zusammengefasst.
Auf dieser Basis soll durch Koordination, Kooperation
der Rehabilitationsträger und Konvergenz der Leistungen ein gemeinsames Recht und eine einheitliche Praxis
der Rehabilitation und Behindertenpolitik erreicht werden. Die weitgehende Einheitlichkeit des Leistungsrechts ist ein hohes Gut für die praktische Anwendung.
Wir wollen, dass der behinderte, pflegebedürftige und
chronisch kranke Mensch losgelöst von der Zuständigkeit des Rehaträgers und der Ursache für den individuellen Rehabedarf von jedem zuständigen Träger die
nach Art, Umfang sowie Struktur- und Prozessqualität
gleich wirksame und bedarfsgerechte Leistung erhält.
Zentrales Ziel des SGB IX ist die Überwindung der
Schnittstellenprobleme des gegliederten Sozialleistungssystems im Bereich des Rehabilitations- und Teilhaberechts. Darüber hinaus fördert und stärkt es die Selbstbestimmung und die Rechte der Menschen mit
Behinderung durch die Einführung des Rechts auf ein
Persönliches Budget, das Wunsch- und Wahlrecht sowie
die Verpflichtung zur Berücksichtigung der besonderen
Belange behinderter Frauen, seelisch behinderter Menschen oder von Eltern und Kindern. Vieles ist erreicht,
aber mit manchem können wir leider noch nicht zufrieden sein.
Menschen mit Behinderung können nur dann selbstbestimmt ihrer Arbeit nachgehen oder gleichberechtigt
am gesellschaftlichen Leben teilhaben, wenn dafür die
notwendigen Grundvoraussetzungen geschaffen sind.
Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist ihre Mobilität. Daher regelt das SGB IX in Kapitel 13 auch die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen
im öffentlichen Personenverkehr. Menschen mit Behinderung können den ÖPNV sowie Nahverkehrszüge kostenfrei nutzen. Dazu müssen sie eine Wertmarke für
ihren Schwerbehindertenausweis erwerben. Diese Wertmarke kostete bislang 60 Euro für 12 Monate. Voraussetzung ist, dass in ihrem Schwerbehindertenausweis
das Merkzeichen „aG“ für außergewöhnlich gehbehindert enthalten ist. Zudem haben auch blinde Menschen
Anspruch auf die sogenannte Freifahrt.
Mit dieser Regelung haben viele Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, mit wenig finanziellen Mitteln ein sehr breites Netz an öffentlichen Transportmitteln zu nutzen. Im vergangenen Jahr hat die Deutsche
Bahn zudem ihr Nahverkehrsnetz ohne Kilometerbeschränkung für schwerbehinderte Reisende freigegeben.
Dies war ein weiterer lobenswerter Schritt für mehr Mobilität.
Ein gut ausgebautes und funktionierendes öffentliches Nahverkehrssystem mit Bussen, Bahnen und Regionalzügen, das sich hinsichtlich der Barrierefreiheit in
den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat und
weiter optimiert werden wird, ist nicht zum Nulltarif zu
haben. Die Kostenaufwendungen sind enorm. Sowohl
der Staat als Ganzes als auch alle Nutzerinnen und Nutzern, die tagtäglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur
Arbeit, zum Einkaufen, zu Kulturveranstaltungen, zum
Sport usw. fahren, haben sich an den Kosten zu beteiligen. Das ist in unserem solidarischen Grundverständnis
immanent.
Wohlgemerkt: Seit dem Jahr 1984 hat sich der Eigenanteil an der Wertmarke zur kostenfreien Nutzung des
ÖPNV für Schwerbehinderte nicht erhöht, und das bei
deutlich verbessertem Service der Nahverkehrsbetriebe
mit mehr Angeboten und längeren Reichweiten der Streckennetze. Das ist beachtlich.
Nun aber haben die Bundesländer Niedersachsen,
Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und
Sachsen-Anhalt im Bundesrat die Initiative ergriffen und
einen Gesetzentwurf zur Änderung des 13. Kapitels des
SGB IX vorgelegt. Sie sehen es als gerechtfertigt an, zum
jetzigen Zeitpunkt die Kosten zur Beförderung von
schwerbehinderten Menschen stärker an das aktuelle
Preissystem anzupassen. Zudem soll künftig auch die
Möglichkeit bestehen, die Kosten für die Wertmarke dynamisch anzuheben, wie es das SGB IX im Übrigen auch
etwa für die Ausgleichsabgabe oder Kinderbetreuungskosten vorsieht. Der Vorschlag der Länder liegt auf dem
Tisch: Die Eigenbeteiligung an der Wertmarke soll von
derzeit 60 auf 72 Euro angehoben werden. Das bedeutet
pro Monat eine Erhöhung von einem Euro. Es stellt sich
die Frage, ob das gerechtfertigt ist.
Aus Sicht der Behindertenverbände ist diese Erhöhung ungerecht. Das jedenfalls geht aus den bisherigen
Stellungnahmen hervor. Wir müssen aber wissen und berücksichtigen, dass diejenigen Schwerbehinderten, die
bedürftig sind und etwa Leistungen der Grundsicherung
beziehen, nach wie vor von dem Betrag freigestellt bleiben. Für sie übernimmt der Steuerzahler den vollen Ausgleich. Das Solidarprinzip bleibt erhalten.
Und festzustellen ist auch, dass von einer realen
Preiserhöhung bereits im Vorfeld Abstand genommen
wurde. Denn würde die Eigenbeteiligung in Anlehnung
an die tatsächliche Verbraucherpreisentwicklung in den
Bereichen Mobilität und Verkehr angepasst werden,
müsste die Jahreswertmarke etwa 100 Euro kosten. Insofern ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Erhöhung
auf 72 Euro aus unserer Sicht durchaus angemessen und
zumutbar. Außerdem können sich alle auf ein sich stetig
verbesserndes Nahverkehrsnetz verlassen.
An dieser Stelle möchte ich auf die überfraktionelle
Initiative zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle hinweisen, auf die sich die Fraktionen der Union, FDP,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen geeinigt haben, um
den ÖPNV sowie den Fernbuslinienverkehr bis zum
Jahr 2022 vollständig barrierefrei zu machen. Dies nur
als Hinweis darauf, dass sich in vielen Bereichen sehr
viel tut, um die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung durch ein Mehr an Mobilität zu steigern.
Zurück zu den geplanten Änderungen des SGB IX.
Der uns vorliegende Entwurf sieht vor, die Regelung
über die Erstattung bei einer Rückgabe der Wertmarke
zu optimieren, um den Verwaltungsaufwand zu verringern. Einen Anspruch auf Erstattung sollen Menschen
mit Behinderung nur noch für die Jahreswertmarken haben, sofern die Hälfte der Gültigkeit der Wertmarke
noch nicht abgelaufen ist. Für Halbjahreswertmarken,
die vor Ablauf zurückzugeben werden, werden die Kosten nicht mehr zurückerstattet.
Aus wirtschaftlicher Sicht will ich der Vollständigkeit
halber darauf hinweisen, das den Verkehrsunternehmen
durch die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen zunächst Einnahmeverluste entstehen, die
ihnen nach Maßgabe des § 148 ff. SGB IX erstattet werden. Sowohl der Bund als auch die Länder sind je nach
anspruchsberechtigten Personen und Verkehrsmitteln
zum Ausgleich dieser Einbußen verpflichtet. Die dazu
aktuell bestehenden gesetzlichen Regelungen zu den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern führen zu
einem hohen Verwaltungsaufwand, der mit den Regelungen im vorliegenden Gesetzesantrag vereinfacht werden
soll. Auch das ist positiv anzumerken.
In Zukunft sollen die Aufwendungen für eine unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen, die
nach dem Bundesversorgungsgesetz anspruchsberechtigt sind, allein von den Ländern übernommen werden.
Zum Ausgleich sollen die Länder ihre Abführungen aus
dem Wertmarkenverkauf an den Bund entsprechend reduzieren. Diese Regelung betrifft ausschließlich die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Die Interessen schwerbehinderter Menschen sind davon nicht
berührt. Für sie ändert sich dadurch nichts. Aus diesem
Zu Protokoll gegebene Reden
Grund tragen wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
diesen Vorschlag mit, zumal er den Verwaltungsaufwand
reduziert.
Mit der vorliegenden Gesetzesinitiative der Länder
wird zudem angestrebt, die Lastenverteilung zwischen
dem Bund und den Ländern zu verändern. Auf der
Grundlage des jetzigen Rechts hat der Bund 2011
32 Prozent der Einnahmen erhalten. Der aktuelle Vorschlag der Länder basiert auf 20 Prozent. Fakt ist, das
die Aufwendungen des Bundes in den vergangenen zehn
Jahren für die Anspruchsberechtigten nach dem Bundesversorgungsgesetz ständig gesunken sind, und sie werden mit Blick auf die demografische Entwicklung weiter
sinken. Deshalb ist es gerechtfertigt, für die Neufestsetzung der Lastenregelung die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre zugrunde zu legen. Danach ergibt sich
ein Abführungssatz an den Bund von 27 Prozent, den wir
in § 152 SGB IX festschreiben werden.
Generell möchte ich noch einmal daran erinnern,
dass in Zukunft die Schwerbehindertenausweise nur
noch im Scheckkartenformat ausgehändigt werden. Das
soll ab 1. Januar 2013 gelten.
Ich hoffe, dass die Umstellung klappt, weil sie benutzerfreundlich ist.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
enthält mehrere Regelungen, die man sich genauer anschauen muss. Lassen Sie mich jedoch zunächst generell
auf die Situation persönlicher Mobilität für Menschen
mit Behinderung eingehen.
Der Bundesrat hat in seinem Antrag festgestellt - und
dem kann man sich nur anschließen -, dass die Mobilität
schwerbehinderter Menschen durch die sogenannten
Freifahrtregelungen intensiv gefördert wird. Trotzdem
erfüllen diese Regelungen - erweitert durch den im vergangenen Jahr erfolgten Wegfall der 50-km-WohnortGrenze - nur teilweise die Voraussetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Ich zitiere aus Art. 20: „Die Vertragsstaaten erleichtern ... die persönliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen in der Art und Weise und zum Zeitpunkt
ihrer Wahl und zu erschwinglichen Preisen.“ Wir garantieren den Betroffenen bisher nur erschwingliche Preise.
Der mittlere Teil dieser Festlegung der Konvention, die
Art und Weise und der Zeitpunkt ihrer Wahl, muss noch
deutlich verbessert werden.
Als SPD haben wir in unserem Antrag „Barrierefreie
Mobilität und barrierefreies Wohnen - Voraussetzungen
für Teilhabe und Gleichberechtigung“ - 17/6295 - geeignete Vorschläge zur Abstimmung gestellt. Sie wurden
von dieser Koalition aus CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Einige der SPD-Vorschläge möchte ich noch einmal
aufführen. Politik sollte sich dafür einsetzen, die Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr auf die
gesamte Reisekette zu beziehen - es muss der gesamte
Weg - von der Haustür bis zum Ziel - für Mobilitätseingeschränkte zugänglich gemacht werden; Fahrgastund Tarifinformationen barrierefrei und in leichter
Sprache zu formulieren und darzustellen; Forschungsvorhaben und Modellprojekte zur barrierefreien Gestaltung von Fahrplanauskünften oder zur Unterstützung
mobilitätseingeschränkter Menschen bei der Nutzung
öffentlicher Verkehrsmittel zu fördern; den barrierefreien öffentlichen Personennahverkehr als Teil der Daseinsvorsorge in das Regionalisierungsgesetz aufzunehmen und gemeinsam mit der Deutschen Bahn AG
ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen,
damit alle Bahnhöfe bis 2020 barrierefrei umgebaut
werden können - die Abschaffung der 1 000er-Regelung
inklusive.
Dieser vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
will die Eigenbeteiligung von Menschen mit Behinderung an den Kosten der Freifahrten von 5 auf 6 Euro anheben. Eine Forderung, die angesichts der beschriebenen Leistungsausweitung und der seit 1984 nicht mehr
angepassten Eigenbeteiligung angemessen erscheint.
Mobilität bleibt so erschwinglich. Auch die Vereinfachungen, die gefordert werden, sind grundsätzlich sinnvoll.
Problematischer ist für mich eher die sogenannte
Dynamisierung der Eigenbeteiligung, denn mit ihr wird
die künftige Anpassung gesteuert.
Der Gesetzentwurf schlägt vor, das statistische
Durchschnittsentgelt der Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung zum Maßstab der jährlichen
Anpassung der Eigenbeteiligung zu machen. Für das
Jahr 2012 würde dies gegenüber 2011 eine Erhöhung
um 5 Euro bedeuten. Selbst wenn diese Steigerung um
7 Prozent sicher nicht jedes Jahr eintritt, kann man sich
vorstellen, dass Menschen mit Behinderung so sehr
schnell eine nicht gewünschte hohe Eigenbeteiligung zu
leisten haben - und das ohne adäquate Steigerung der
Regelsätze, Entgelte und ohne kurzfristige Steigerung
der Barrierefreiheit im Bahnverkehr. Das birgt die große
Gefahr sozialer Ungerechtigkeit und der finanziellen
Überforderung der Betroffenen.
Schwerbehinderte Menschen bestreiten ihr Einkommen überwiegend aus Renten wegen Erwerbsminderung, Grundsicherung im Alter oder, bei Erwerbsminderung, Werkstattlöhnen und niedrigen Einkommen. Die
Erwerbssituation schwerbehinderter Menschen verschlechtert sich mit jeder wirtschaftlichen Krise. An
wirtschaftlichen Aufschwüngen partizipieren die Betroffenen unterdurchschnittlich. „Behinderungen wirken
sich deutlich nachteilig auf die beruflichen Teilhabechancen der Betroffenen aus“, stellt auch der aktuelle
Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts fest. Deshalb wäre zu beraten, die Anpassung an die jährliche
Entwicklung der Sozialhilferegelsätze vorzunehmen.
Darüber sollten wir im parlamentarischen Verfahren
diskutieren und uns ernsthaft mit der Gerechtigkeitsfrage auseinandersetzen.
Seit mehr als einem Jahr gilt in allen Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn die neue Regelung für die
Beförderung freifahrtberechtigter schwerbehinderter
Menschen. Seit dem 1. September 2011 können sie über
einen Radius von 50 Kilometern hinaus kostenlos die
Nahverkehrszüge der Deutschen Bahn nutzen. Sie benötigen hierfür keine zusätzlichen Tickets, sondern nur ihren rot-grünen Schwerbehindertenausweis und ein Beiblatt mit Wertmarke. Ein umständlicher Ticketkauf für
den Nahverkehr gehört somit der Vergangenheit an.
Auch das Mitführen eines Streckenverzeichnisses, in
dem der 50-Kilometer-Radius eingetragen wird, fällt
weg. Schwerbehinderte Menschen können dadurch ohne
großen Vorbereitungsaufwand bei der Ticketbeschaffung
Zug fahren.
Diese verbesserte Regelung der Bahn erweitert das
Angebot für Menschen mit Behinderung enorm und erleichtert ihnen die Nutzung des Nahverkehrs. Sie schafft
eine größere Mobilität für mehr als 1,4 Millionen Menschen mit Behinderung.
Sie erleichtert den Menschen das Erreichen ihres Arbeitsplatzes oder ihrer Ausbildungsstätte. Sie haben bessere Bedingungen für ihre persönliche Mobilität. Ganz
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention werden
hierdurch Teilhabemöglichkeiten verbessert.
Es gilt nun, diese unternehmerische Entscheidung der
Deutschen Bahn auch gesetzgeberisch nachzuvollziehen. Hierfür sind Änderungen im SGB IX notwendig.
Dabei soll das SGB IX auch an weitere Entwicklungen
im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs angepasst werden. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates zeigt hier den richtigen Weg. Über die Details
der Änderungen werden wir in den kommenden Wochen
gemeinsam beraten müssen.
Dabei ist der Ansatz richtig, die seit fast 30 Jahren
unveränderte Eigenbeteiligung der freifahrtberechtigten
Personen für den Erwerb der für die Fahrt notwendigen
Wertmarke zu erhöhen. Im Zuge der gestiegenen Nutzungsangebote für den Nahverkehr ist diese Anpassung
nachvollziehbar. In § 145 Abs 1 SGB IX wird der zu zahlende Beitrag seit 1984 unverändert mit 5 Euro angegeben.
Es liegt auf der Hand, dass dieser Betrag weder dem
erweiterten Angebot - gerade im Zuge der zuletzt weggefallen Begrenzung auf 50 Kilometer - noch den gestiegenen Kosten für die Aufrechterhaltung dieser Angebote
gerecht wird. Es ist daher zu verantworten, den monatlich zu entrichtenden Betrag anzuheben. Ebenfalls richtig ist die geplante Dynamisierung des Zuzahlungsbetrages, da alle Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen
Nahverkehrs von Anpassungen im Preissystem betroffen
sind.
Zwischen Bundesrat und Bundestag bestehen unterschiedliche Auffassungen über die Berechnung dieser
Summe. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen
werden wir einen geeigneten Kompromiss finden. Bestimmte Personengruppen, insbesondere Einkommensschwache und Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen der Grundsicherung, sollen die Wertmarke selbstverständlich auch weiterhin unentgeltlich erhalten.
Weiterhin ist geplant, die komplizierten Ausgleichsregelungen zwischen Bund und Ländern auf der einen und
den Verkehrsunternehmen auf der anderen Seite zu vereinfachen. In den §§ 148 bis 153 SGB IX werden die
Ausgleichsleistungen für die Verkehrsunternehmen geregelt, denen durch die verpflichtende Beförderung von
Menschen mit Behinderung Einnahmeverluste entstehen. Nach dieser Regelung sind sowohl Bund als auch
Länder erstattungspflichtig. In der Praxis führt diese
Regelung zu aufwendigen Verwaltungs- und Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Es ist daher
sinnvoll, Änderungen am SGB IX vorzunehmen, um den
bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Zusätzliche Belastungen für Menschen mit Behinderung müssen dabei ausgeschlossen sein.
In diesem Zusammenhang wird auch über die Möglichkeiten zur Rückerstattung gezahlter Beiträge bei der
Rückgabe nichtgenutzter Wertmarken zu reden sein. Bislang werden nichteingesetzte Wertmarken erstattet,
wenn sie noch mindestens drei Monate gültig sind. Der
Vorschlag des Bundesrates, den Erstattungszeitraum in
Zukunft auf ein halbes Jahr festzulegen, scheint einen
ausgewogenen Ausgleich zwischen den Interessen aller
Beteiligten darzustellen.
Weiterhin sollen nach dem Gesetzentwurf des Bundesrates die Aufwendungen für eine unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen künftig von den
Ländern übernommen werden. Im Gegenzug wollen die
Länder ihre Abführungen aus dem Wertmarkenverkauf
an den Bund entsprechend reduzieren. Diese Vorgehensweise ist geeignet, um sowohl beim Bund als auch bei
den Ländern den Verwaltungsaufwand zu reduzieren.
Hierzu würde auch die in Rede stehende pauschalisierte
Abführung beitragen. Im Hinblick auf die hierfür vom
Bundesrat angesetzte Pauschale von 20 Prozent besteht
allerdings noch Beratungsbedarf. Eine Pauschale in
dieser Höhe drückt nicht die tatsächliche Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern aus.
Insgesamt ist die Gesetzesinitiative des Bundesrates
zu begrüßen. Es ist richtig, die Zahl der Tatbestände, für
die Bund oder Länder kostenerstattungspflichtig sind, zu
verringern. Der Ersatz individueller Regelungen durch
pauschalisierte Prozentsätze wird die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern vereinfachen. Der dadurch sinkende Verwaltungsaufwand wird Kosten einsparen und Bürokratie abbauen.
Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf still und leise,
ohne Debatte im Bundestag an die zuständigen Ausschüsse verwiesen werden. Auf Forderung der Linken
gibt es nun wenigstens zu Protokoll gegebene Redebeiträge der Fraktionen. So kann die Öffentlichkeit erfahren, worum es bei dieser Änderung des Neunten Sozialgesetzbuches, SGB IX, geht.
Brauchen wir eigentlich eine Änderung des SGB IX?
Ich meine, ja. Wir brauchen mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention endlich ein Leistungsgesetz,
welches zur Ermöglichung von Selbstbestimmung und
umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabesicherungsleistungen gewährleistet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das ist aber nicht Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes. Dazu müsste man eher den Antrag der Linken
„Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“ ({0}) in die Hand nehmen. Die Entscheidung über diesen Antrag trifft der Bundestag in der kommenden Sitzungswoche, am 18. Oktober.
Worum geht es also in diesem Gesetzentwurf? Als
eine Form des Nachteilsausgleiches und zur Verbesserung der Mobilität gibt es das Recht auf unentgeltliche
Beförderung für viele schwerbehinderte Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer im öffentlichen Personennahverkehr. Die zur Beförderung verpflichteten Verkehrsunternehmen erhalten dafür einen Ausgleich von Bund
und Ländern. Ein Ziel des Gesetzes ist, das Verwaltungsverfahren zwischen Bund, Ländern und Verkehrsträgern
zu vereinfachen. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Weniger bekannt ist, dass die freifahrtberechtigten
Personen eine Eigenbeteiligung in Form des Erwerbs
einer Wertmarke leisten müssen, wobei bestimmte Personengruppen, insbesondere Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen der Grundsicherung, die Wertmarke
unentgeltlich erhalten.
Mit der Begründung, „dass sich die Nutzungsmöglichkeiten und folglich auch der damit verbundene Wert
erheblich erhöht haben“, soll der Preis der Wertmarke
um 20 Prozent, von 60 auf 72 Euro, erhöht und künftig
dynamisiert, also weiter erhöht werden.
Ja, es stimmt. Die Behindertenbewegung hat es erkämpft, dass die Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen
Nahverkehrs sich in den letzten Jahren verbesserten
ohne dass der Preis der Wertmarke stieg. Sie sind aber
aufgrund zahlreicher Barrieren noch längst nicht im
vollen Umfang gewährleistet.
Es stimmt aber auch, dass sich die Lebenssituation
von Menschen mit Behinderungen seit März 2009, also
dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention,
mehr verschlechtert als verbessert hat.
Es sind die vielen kleinen Beiträge, die gerade auch
für die vielen mit niedrigen Einkommen haushaltenden
Menschen mit Behinderungen zu Buche schlagen. Es
sind die Mehrkosten infolge der Gesundheitsreformen,
es sind die überproportional gestiegenen Kosten für
Miete und Mietnebenkosten, die hohen Benzinkosten, es
ist die Absenkung der Grundsicherungsleistungen durch
Einführung der Regelbedarfsstufe 3, um nur einige
Punkte zu nennen.
Für mehr als 580 000 Menschen mit Behinderungen,
die bislang von Rundfunkgebühren befreit waren, wird
der Nachteilsausgleich ab 1. Januar 2013 gestrichen.
Und nun steigt der Preis der Wertmarke für die Nutzung
des öffentlichen Nahverkehrs um 20 Prozent.
55 Millionen Euro sind die aus dem Wertmarkenverkauf geplanten Einnahmen für Bund und Länder, rund
11 Millionen Euro mehr, weil die Menschen mit Behinderungen wieder einmal zur Kasse gebeten werden. Das ist
nicht der Weg in eine inklusive Gesellschaft und nicht
der Weg, um auch diesem Teil der Bevölkerung eine
gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu
ermöglichen.
Deswegen ist sich die Linke an dieser Stelle einig mit
der Behindertenbewegung: Die Gebührenerhöhung lehnen wir ab.
Die Änderung des SGB IX, die hier zur Diskussion
steht, sieht eine Erhöhung der Eigenbeteiligung beim
Erwerb der Wertmarke vor, die schwerbehinderte Menschen zur Beförderung im öffentlichen Personenverkehr
berechtigt. Seit fast 30 Jahren konnte diese Wertmarke
für 60 Euro im Jahr erworben werden, zukünftig soll sie
12 Euro mehr kosten.
Natürlich ist es nicht schön, wenn Leistungen teurer
werden. Man kann aber mit Recht sagen, dass sich in
puncto Barrierefreiheit in den letzten 30 Jahren etwas
verbessert hat.
Das bedeutet nicht, dass es nichts mehr zu tun gäbe.
In der Debatte um die Novelle des Personenbeförderungsgesetzes haben wir erlebt, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Fernbusverkehrs vorgelegt hat, ohne darin einen Gedanken
auf die Sicherung der Barrierefreiheit zu verwenden.
Gemeinsam mit der SPD haben wir Grüne in Bundesrat
und Bundestag einen alternativen Vorschlag eingebracht, der klare Fristen zur Sicherung der Barrierefreiheit im Nahverkehr und bei den Fernbussen setzt. Im Ergebnis gibt es jetzt eine Einigung zwischen vier
Fraktionen, in denen die Barrierefreiheit berücksichtigt
wird.
Ich sage ganz offen, dass ich mir mehr gewünscht
hätte. Die Übergangsfristen, die ausgehandelt wurden,
sind Kompromisse. Hätte interfraktionell Einigkeit bestanden, wäre es sicher möglich gewesen, schon früher
flächendeckend barrierefreie Fernbusse einzuführen. Es
ist außerdem absehbar, dass weiterhin Diskussionen
über die Grenzen entstehender Kosten geführt werden.
Die Unternehmen werden jedes Einfallstor nutzen, um
Kosten zu sparen. Maßstab der Diskussion muss aber
die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
sein. Wir müssen uns weiterhin für den barrierefreien
Aus- und Umbau einsetzen, nicht nur im Verkehrsbereich.
In diesem spezifischen Fall ist die Verringerung eines
Nachteilsausgleichs angesichts der Fortschritte, die es
beim Ausbau der Barrierefreiheit im Verkehrsbereich
zwischenzeitlich gab, gerechtfertigt. Darüber dürfen wir
aber nicht aus den Augen verlieren, dass bei den Nachteilsausgleichen für Menschen mit Behinderungen insgesamt einiges im Argen liegt: Wir haben noch immer
kein System, mit dem behinderungsbedingte Nachteile
ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen nachvollziehbar ausgeglichen werden. Stattdessen gibt es
eine unübersichtliche Zahl „historisch gewachsener“
Nachteilsausgleiche, die sich teilweise von Bundesland
zu Bundesland unterscheiden und in ihrer Höhe willkürlich erscheinen. Das ist weder gerecht noch gerechtferZu Protokoll gegebene Reden
tigt. Wenn wir hier das nächste Mal über eine Änderung
des Neunten Buches Sozialgesetzbuch diskutieren, hoffe
ich auf eine Debatte, in der es um eine konstruktive
Weiterentwicklung dieses Buches hin zu einem Teilhabeleistungsgesetz geht.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es offensichtlich nicht. Dann
haben wir die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 9:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung
der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts
- Drucksache 17/10774 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Es wurde vereinbart, die Reden zu Protokoll zu neh-
men.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10774 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
({1})
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie mir bis hierher
die Treue gehalten haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. September 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
freundliche Nacht.
({2})