Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Unterrichtung durch die
Bundesregierung zur Ratifizierung des Vertrages vom
2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus auf Drucksache 17/10767 zu erweitern und diese jetzt gleich als Zusatzpunkt 1 mit einer
Debattendauer von einer halben Stunde aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich rufe somit den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 1
auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ratifizierung des Vertrages vom 2. Februar
2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
- Drucksache 17/10767 Es ist vereinbart, die Debattendauer auf eine halbe
Stunde zu begrenzen. - Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Steffen
Kampeter das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben heute einen wichtigen Schritt getan,
um den ESM als einen robusten Krisenmechanismus
schnellstmöglich in Gang zu setzen und damit ein wichtiges Instrument der Krisenbekämpfung zur Hand zu haben. Denn die Bundesregierung hat heute in ihrer Kabinettssitzung beschlossen, wie Deutschland zusammen
mit unseren europäischen Partnern die Maßgaben erfüllen wird, die das Bundesverfassungsgericht uns in seinem Urteil zu ESM- und Fiskalvertrag vorgegeben hat,
bevor Deutschland durch Hinterlegung der Ratifikationsurkunde den ESM-Vertrag nunmehr mit den anderen Partnern in Kraft setzen darf.
Lassen Sie mich dazu kurz rekapitulieren: Das Bundesverfassungsgericht hatte im September über Anträge
zu entscheiden, die den ESM-Vertrag wie auch den Fiskalvertrag endgültig stoppen wollten und damit Deutschland in dieser Krise hätten handlungsunfähig werden lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat - nach intensiver
mündlicher Verhandlung - in seinem Urteil vom
12. September 2012 sowohl den Fiskalvertrag als auch
den ESM-Vertrag grundsätzlich gebilligt und für verfassungskonform erklärt. Dies ist ein gutes Signal für die
europäische Integration.
({0})
Entgegen der Auffassung der Kläger hat das Bundesverfassungsgericht - bei der im einstweiligen Verfahren
erfolgten summarischen Prüfung - bestätigt, dass der
ESM-Vertrag nach der gemeinsamen Lesart von Bundestag und Bundesregierung nicht die Budgetrechte verletzt. Lassen Sie mich auch betonen: Das Gericht hat
auch das ESM-Finanzierungsgesetz bestätigt und festgestellt, dass die umfangreichen und europaweit sicherlich
außergewöhnlichen, weil beispielhaften Beteiligungsrechte, die das deutsche Parlament beim laufenden Betrieb des ESM haben wird, ausreichende Einwirkungsund Steuerungsmöglichkeiten des Bundestages garantieren.
Entgegen allen Vorbehalten hat das Bundesverfassungsgericht auch die Ansicht der Bundesregierung und
des Bundestages bestätigt, dass der ESM keine Haftungsautomatismen begründet und die Zahlungsverpflichtungen nach sinnvoller und wahrscheinlicher Auslegung des Vertragswerks stets auf den von Bundestag
und Bundesrat in den Umsetzungsgesetzen genehmigten
Anteil am Stammkapital begrenzt sind. Das, meine sehr
verehrten Damen und Herren, ist sicherlich auch ein Signal für mehr Rechtsfrieden und mehr Entspanntheit in
der Debatte um ESM und Fiskalpakt gewesen.
({1})
In den Hausaufgaben, die das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber und Bundesregierung aufgegeben hat, bevor wir dann den ESM in Kraft setzen können, hat es uns weder vorgegeben, den ESM-Vertrag zu
ändern, noch, die entsprechenden Vorschriften neu zu
verhandeln.
Es fordert lediglich in zwei Punkten interpretative
bzw. Rechtssicherheit schaffende Erklärungen. Dass der
Vertrag folgendermaßen interpretiert werden sollte, ist
auch Auffassung der Bundesregierung, wie wir in diesem Verfahren betont haben:
Erstens. Wir sollen sicherstellen, dass unsere Haftung
stets auf unseren Anteil am genehmigten Stammkapital
begrenzt ist. Dies gilt insbesondere für alle Fälle des Kapitalabrufs, und eine Änderung darf nur mit Zustimmung
des deutschen Vertreters im ESM erfolgen.
Wir haben zweitens sicherzustellen, dass die Regelungen des ESM-Vertrags zu Immunitäten, zur Unverletzlichkeit der Archive und zu den beruflichen Schweigepflichten - weder in Deutschland noch in irgendeinem
anderen Land - der notwendigen und umfassenden parlamentarischen Kontrolle nicht entgegenstehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, beides haben wir getan. Bereits bei der Euro-Gruppensitzung in
Zypern am vorvergangenen Freitag haben wir über die
Botschaft aus Karlsruhe gesprochen. Wie erwartet,
bestand und besteht zwischen den Signatarstaaten der
Verträge inhaltlich ohnehin Einigkeit über die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Auslegung des Vertrags. Insofern wurde schnell Einvernehmen darüber
hergestellt, dass wir die Vorgaben unseres Gerichts
durch eine gemeinsame verbindliche Auslegungserklärung umsetzen.
Wir haben dann in der vergangenen Woche den Text
der Erklärung und das genaue Verfahren zügig ausverhandelt und natürlich umfassend rechtlich prüfen lassen.
Heute Nachmittag werden wir nun die Botschafter bitten, die gemeinsame Erklärung, die exakt die inhaltlichen Punkte, die das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, völkerrechtlich verbindlich festschreibt, für ihre
Staaten rechtsverbindlich anzunehmen. Zusätzlich erklären wir - wie auch unsere Vertragspartner - eindeutig,
dass diese Auslegung eine wesentliche Grundlage dafür
darstellt, dass wir uns an diesen Vertrag gebunden fühlen.
Diese Erklärung wird dann dem Ratssekretariat als
Depositar, das heißt als Verwahrer des ESM-Vertrags,
notifiziert. Zusätzlich wird Deutschland bei der erst im
Anschluss daran erfolgenden Hinterlegung der Ratifikationsurkunde noch einmal explizit auf diese gemeinsame
Erklärung Bezug nehmen und damit ihre Bedeutung für
die Bundesrepublik Deutschland unterstreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erklärung wird durch dieses
Verfahren rechtsverbindlich - entgegen irgendwelchen
anderen Auffassungen handelt es sich eben nicht nur um
eine politische, sondern um eine rechtsverbindliche Erklärung - und ist zukünftig zwingend von den ESM-Vertragsparteien, von den ESM-Gremien und im etwaigen
Streitfall auch vom EuGH als zum Vertrag zugehörig heranzuziehen.
Es herrscht völliges Einvernehmen in der Bundesregierung, dass wir damit die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vollumfänglich und rechtssicher umsetzen. Eine erneute Ratifizierung der Erklärung oder
sonstige verfassungsrechtliche Zustimmungserfordernisse für Bundestag und Bundesrat löst diese Erklärung
nicht aus. Denn sie ändert ja den ESM-Vertrag gerade
nicht, sondern sie bestätigt das, was wir wollen, nämlich
den Inhalt, den Bundestag und Bundesrat ihm ohnehin
beim Gesetzgebungsverfahren durch Erklärung hier im
Deutschen Bundestag, aber auch durch die Texte gegeben haben.
Lassen Sie mich, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Abschluss auch darauf hinweisen, dass es uns damit zusammen mit unseren europäischen Partnern gelungen ist, Handlungsfähigkeit auf
europäischer Ebene zu beweisen und besonders schnell
grünes Licht für den ESM zu schaffen. Gerade angesichts der oftmals schwerfälligen, weil sehr förmlichen
Prozesse im Bereich des Völkerrechts ist das ausdrücklich zu erwähnen.
Wenn wir dann den ESM in den nächsten Tagen in
Kraft setzen, haben wir ein wesentliches Instrument zur
Überwindung der Krise im Euro-Raum eingerichtet und
können damit in diesem nach wie vor unruhigen Marktumfeld effektiv agieren.
Ich freue mich über die breite Unterstützung für unser
Vorgehen, nicht nur aus den eigenen Reihen, also seitens
der Koalition, sondern auch aus den Reihen der Opposition. Dieses Miteinander war sicherlich auch ein wichtiges Moment gegenüber dem Verfassungsgericht.
({2})
Ich glaube, wir tun gut daran, deutlich zu machen,
dass der ESM nur ein Teil der Krisenbewältigungsstrategie ist, die wir in Europa umzusetzen haben, und zwar
nur der Teil, der im Bereich der europäischen Gesamtverantwortung liegt. Die Staatsschuldenkrise kann und
wird nur dadurch zu bekämpfen sein, dass wir für nationale Verantwortung für mehr fiskalische Disziplin, für
ausgeglichene Haushalte und für die Steigerung von
Wettbewerbsfähigkeit in allen Mitgliedsländern Europas werben. In diesem Sinne wird die Bundesregierung
weiterhin daran arbeiten, das gemeinsame Haus Europa
stabiler für Deutschland und für Europa zu machen.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Carsten Schneider.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Die von der Bundesregierung heute beschlossene Protokollerklärung tragen wir mit und nehmen sie zur Kenntnis. Sie entspricht den Vorgaben, die
das Verfassungsgericht gemacht hat. Die SPD-Fraktion
hat während der Rativizierungsverfahren zum ESM-Vertrag insbesondere darauf Wert gelegt, dass die Gremien
des ESM gegenüber dem Bundestag auskunftspflichtig
sind. Unseren Anträgen ist die Koalition gefolgt. Es ist
gut, dass wir dies jetzt hier noch einmal klarstellen.
Der entscheidende Punkt ist allerdings: Sie, sehr geehrter Herr Staatssekretär Kollege Kampeter, haben eben
gesagt, die Haftungssumme Deutschlands sei damit klar
begrenzt; der ESM sei nur ein Teil der Strategie zur Lösung der europäischen Krise. Ich sehe sie als Finanzkrise
an;
({0})
Sie haben sie als Staatsschuldenkrise bezeichnet. Damit
widersprechen Sie Ihrem Finanzminister; aber das Recht
auf freie Meinung soll auch in der Bundesregierung gelten, selbst wenn Sie in diesem Fall falschliegen.
Interessant ist bei diesem entscheidenden Punkt nun,
worüber Sie nicht gesprochen haben. Es geht um einen
Sachverhalt, der auch noch im Hauptsacheverfahren eine
Rolle spielen wird, nämlich die unbegrenzten Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank. Wenn Sie hier den
Eindruck erwecken, als wäre die Haftung Deutschlands
auf die Summe begrenzt, die im ESM-Vertrag festgelegt
ist, dann, sehr geehrter Kollege Kampeter, führen Sie die
Öffentlichkeit an der Nase herum. Die Haftungssumme
ist deutlich höher. Ich finde, dass der Deutsche Bundestag darüber reden muss, weil es wichtig ist, politische
Akzeptanz dafür zu erreichen. Das Versteckspiel, auf der
einen Seite hier im Bundestag möglichst geringe Haftungssummen zu beschließen, um die Öffentlichkeit
nicht zu verunsichern und Ihre Koalition zusammenzuhalten, und auf der anderen Seite über die Bilanz der
EZB die Verluste von Banken zu sozialisieren, ist nicht
akzeptabel. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Diese
Entscheidungen gehören in den Deutschen Bundestag.
({1})
Wenn es um die Haftungsrisiken geht, die zwischen den
Steuerzahlern verteilt werden, muss der Deutsche Bundestag darüber entscheiden. Das ist in einer Demokratie
grundsätzlich die Voraussetzung.
({2})
- Herr Kollege Barthle, vielleicht glauben Sie zwar nicht
mir, aber dem Bundesbankpräsidenten, der Ihrer Regierung durchaus nahestand. In einem Interview in der
Neuen Zürcher Zeitung von heute, in dem es um dieses
Staatsanleihenaufkaufprogramm geht, das Sie hier mit
keinem Wort erwähnt haben, sagte er:
Es gibt aus meiner Sicht einige Gründe, die gegen
das Programm sprechen. Dazu zählen einerseits sicher stabilitätspolitische Prinzipien und die Frage,
ob die Notenbank hierzu demokratisch legitimiert
ist.
Das sehe ich in der Tat genauso. Dann führt er fort - das
ist der entscheidende Punkt; passen Sie auf! -:
Das Programm verteilt Haftungsrisiken zwischen
den Steuerzahlern der Euro-Zone um. Das dürfen
nur die Parlamente, und diese haben mit den Rettungsschirmen ja auch die passenden Instrumente
zur Hand.
Punkt.
({3})
Herr Weidmann spricht Wahrheit; er ist der Chef der
Deutschen Bundesbank. Ich frage mich nur: Was sagt die
Koalition dazu?
({4})
Alles, was ich mitbekommen habe, Herr Staatssekretär,
ist, dass der Chef Ihres Hauses, der Bundesfinanzminister Schäuble, Herrn Weidmann einen Maulkorb verpasst
hat, dass er in einem Interview mit der Bild am Sonntag
dem Bundesbankpräsidenten angeraten hat, doch lieber
zu schweigen, als in Deutschland die Wahrheit zu sagen.
Das ist mittlerweile die Politik der Bundesregierung.
({5})
- Herr Trittin, wir haben da eine grundsätzlich andere
Auffassung; das ist richtig.
({6})
- Das hat mit dem Thema Haftungssumme zu tun. Ich
kann verstehen, lieber Kollege Fricke, dass Sie über das
entscheidende Thema nicht sprechen wollen. Aber ich
finde, dass der Deutsche Bundestag der richtige Ort ist,
um über die Frage von Haftungsrisiken und über die
Frage, wer hier was bezahlt, zu reden. Man muss darüber
reden; das darf nicht totgeschwiegen werden.
({7})
Sie drücken sich darum. Ich finde das nicht akzeptabel.
Die entscheidende Frage ist: Wer kommt im Endeffekt für die Kosten auf? - Ja, wir sind für die Stabilisierung der Euro-Zone. Ja, wir sind als Sozialdemokraten
bereit, dabei Verantwortung zu übernehmen. Ja, wir sind
dazu bereit, auch zu sagen, was es kostet. Es darf aber
nicht über die Bilanz der europäischen Notenbank laufen, die dazu gezwungen wird, weil Sie nicht bereit sind,
zu handeln. Das ist sozial ungerecht; denn das führt
Carsten Schneider ({8})
dazu, dass diejenigen, die viel Geld haben, es letztendlich behalten, und die kleinen Leute alles bezahlen. Das
ist nicht akzeptabel.
({9})
Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundestag in solch
einer entscheidenden Frage eine klare Position hat. Eine
Debatte darüber findet nicht statt. Deswegen nutze ich
die heutige Gelegenheit, um es einmal deutlich zu sagen,
entgegen den Äußerungen aus Ihrer Koalition zu diesem
Punkt.
({10})
- Wir werden ja bei den einzelnen Hilfsanträgen von
Staaten darüber sprechen.
Wissen Sie, ich finde es bemerkenswert, wenn der
Präsident der Deutschen Bundesbank als die einzige
Chance, die er noch hat, um Ihnen an dieser Stelle ein
Warnzeichen zu geben - entgegen den Äußerungen, die
Sie hier immer wieder machen -, die Neue Zürcher Zeitung nutzt. Ich zitiere als letztes noch eine Stelle, in der
er auf den Aspekt der Haftungsrisiken eingeht, die Sie
angeblich negieren. Ich zitiere:
Zum Beispiel verteilt die SNB
- das ist die Schweizerische Notenbank mit ihrer Massnahme keine Risiken zwischen Steuerzahlern verschiedener Länder um, das Euro-System hingegen schon.
Ich würde gerne wissen, ob Sie das so sehen oder nicht,
sehr geehrter Herr Staatssekretär. Das ist eine relevante
Frage, wenn es um die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages geht. Darauf
müssen Sie einmal eine Antwort geben. Sie können das
doch nicht totschweigen, als gäbe es das nicht. Dabei
macht doch die EZB, weil Sie sich nicht einigen können,
das Geschäft, und der Bundestag hat nichts zu sagen.
Das ist undemokratisch, nicht legitimiert und führt letztendlich dazu, dass Haftungsrisiken vergemeinschaftet
werden und diejenigen, die die Krise verursacht haben,
eben nicht an den Kosten beteiligt werden.
({11})
Wir haben unsere Zustimmung im Bundestag zur Finanzierung dieser Lasten davon abhängig gemacht, dass
eine Finanztransaktionsteuer eingeführt wird. Wir erwarten, dass dazu noch im Oktober ein klarer Fahrplan auf
den Tisch kommt.
({12})
Es ist entscheidend, dass die Zusagen, die die Regierung
gegeben hat, auch tatsächlich umgesetzt werden. Nicht
die kleinen Leute sollten die Kosten der Krise bezahlen,
sondern diejenigen, die sie verursacht haben.
Vielen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Otto
Fricke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Nach einer solchen Rede muss man
immer aufpassen, dass man sein Gemüt unter Kontrolle
hält. Das will ich deutlich sagen, Kollege Schneider.
({0})
- Dazu gehört auch, dass man einfach einmal zuhört, so
wie wir das eben leider tun mussten.
Lieber Kollege Schneider, bei aller Kameradschaft,
die wir im Haushaltsausschuss haben:
({1})
Was Sie hier gemacht haben, war europarechtlich und
verfassungsrechtlich gesehen nichts anderes als weitere
Brandstifterei; nichts anderes haben Sie hier gemacht.
({2})
Sie versuchen, Dinge nach vorne zu ziehen, die mit der
Frage, über die wir hier eine Debatte zu führen vereinbart haben, nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.
({3})
Die Punkte, die Sie angesprochen haben, sind sicherlich
diskussionswürdig,
({4})
aber unsere Aufgabe hier - und das wäre auch Ihre Aufgabe gewesen - ist es, für Entscheidungen, die dieses
Parlament getroffen hat, für Entscheidungen, die das
Bundesverfassungsgericht getroffen hat, Vertrauen beim
Bürger zu erzeugen. Sie versuchen allerdings, durch
Misstrauen plumpe, primitive Politik zu machen. Das
kann ich am heutigen Tag nur ausdrücklich ablehnen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich will versuchen, es ein
wenig klarzustellen: Der Weg, der jetzt von der Bundesregierung gewählt worden ist und den das Parlament zur
Kenntnis nehmen wird, ist ein Weg, der nach meiner
Meinung elegant dafür gesorgt hat, dass Gesamteuropa
sagt: Was der Bundestag beschlossen hat und was die
Fraktionen vorbereitet haben, ist genau das, was wir
wollen. Es gibt keinen anderen Interpretationsraum.
Ich muss ehrlich sagen - vor Gericht und auf hoher
See ist man in Gottes Hand -: Vor der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes habe ich angesichts der vorherigen Entscheidungen gedacht: Mal sehen, was an unserem Gesetz noch zu korrigieren ist.
Ich finde es erstens gut und wichtig, festzuhalten,
dass das Bundesverfassungsgericht in einer einmaligen
Entscheidung, auch im Verfahren mit einer Anhörung
usw., dafür gesorgt hat, schlichtweg klarzumachen: Das
Gesetz, das der Gesetzgeber gemacht hat, ist so in Ordnung. - Das sollten wir auch für den Bürger festhalten.
Wir sollten auch ein Zweites festhalten, Herr Kollege
Schneider, nämlich dass es nicht, wie von vielen anderen
behauptet - auch Sie haben eben versucht, das nebenbei
so zu verkaufen -, irgendwie eine Obergrenze gibt, die
l’art pour l’art, wie man will, aufgehoben werden kann,
sondern dass dieses Gesetz eine feste Obergrenze vorsieht. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass auch Sie sagen,
dass das Gericht uns in dieser Auffassung bestätigt hat,
und einmal feststellen, dass das eine gute Entscheidung
war.
Sie hingegen machen etwas anderes. Dazu möchte ich
nun etwas sagen. Sie sagen nämlich: Jetzt sehe ich, die
Koalition hat bei der Gesetzgebung, bei der Parlamentsbeteiligung ordentliche Arbeit geleistet, mit allen
Schwierigkeiten, die wir hatten, weil wir Neuland betreten haben.
({6})
- Leute, ob ohne euch oder mit euch,
({7})
ich sage ganz klar: Für mich als Europäer, der stabile Finanzen will und der die Risiken für den Euro begrenzen
will, ist nachher nicht entscheidend, wer was wo wie gemacht hat, sondern für mich ist es entscheidend, dass wir
am Ende Gesetze haben, auf die die Bürger vertrauen
können. Wenn ihr daraus ein parteipolitisches Spiel machen wollt, dann macht es meinetwegen. Ihr werdet damit eurer Aufgabe und eurer Pflicht nicht gerecht.
({8})
Beim Umgang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist aber noch etwas Weiteres ganz wichtig
- Kollege Schneider, auch das zu sagen haben Sie vermieden -: die klare Absage an jegliche Möglichkeit der
Einführung von Euro-Bonds oder Altschuldentilgungsfonds. Die ausdrückliche Aussage des Bundesverfassungsgerichts lautet - ich will sie gerne zitieren, auch,
weil das einige nicht so gerne hören -:
Es ist insoweit auch dem Bundestag als Gesetzgeber verwehrt, dauerhafte völkervertragsrechtliche
Mechanismen zu etablieren, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer
Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit
schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden
sind.
({9})
Kurze Übersetzung: Euro-Bonds, die davon abhängen,
dass andere Länder ihre Schulden tilgen, und ein Altschuldentilgungsfonds, der davon abhängt, dass andere
Länder keine neuen Schulden machen, sind
({10})
schlichtweg verfassungswidrig. Das sollten Sie sich ins
Stammbuch schreiben und nicht versuchen, Dinge aufzubauen, die nicht möglich sind.
Nächster Punkt: die Europäische Zentralbank. Herr
Kollege Schneider, ich wollte das eigentlich nicht ansprechen, weil ich dachte, dass wir uns über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum ESM-Vertrag
unterhalten wollen. Aber unterhalten wir uns, nachdem
Sie das in Ihrer Rede angesprochen haben, kurz über die
Europäische Zentralbank. Eines ist bei Ihrer Rede klar
geworden, und das muss man immer wieder nach draußen geben: Sie mögen Unabhängigkeit nicht. Sie mögen
es nicht, wenn irgendjemand unabhängig ist. Sie mögen
es nicht, wenn die Bundesbank unabhängig ist. Sie mögen es nicht, wenn die Europäische Zentralbank unabhängig ist.
({11})
Ich sage das ausdrücklich. Sie haben hier erklärt: Es
kann nicht sein, dass die Europäische Zentralbank eine
Entscheidung trifft, und wir als Politiker können das
nicht in eine andere Richtung bringen. Das war Ihre
Aussage. Dieser Angriff gegen die Unabhängigkeit ist
ein Angriff gegen eine Säule der Stabilität der Bundesrepublik Deutschland und der Stabilität Europas.
({12})
Wenn Sie meinen, hier die billige Geschichte von den
Haftungsrisiken vortragen zu müssen, dann sage ich Ihnen: Meiner Fraktion gefällt das, was die Europäische
Zentralbank da gemacht und beschlossen hat, nicht. Ausdrücklich sage ich: Es gefällt ihr nicht.
({13})
- Frau Hagedorn, das ist der Unterschied. Wir können
auf der einen Seite feststellen, dass uns etwas nicht passt,
aber wir achten trotzdem sowohl die Unabhängigkeit des
Verfassungsgerichts als auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, auch wenn beides dafür sorgt,
dass wir als Politiker manchmal Entscheidungen hinnehmen müssen, die wir nicht mögen. Sie dagegen nutzen
Politik auf allen Ebenen der Gesellschaft und des Staates, um das zu korrigieren. Sie werden damit nach meiner Meinung gegen die Wand fahren. Vor allen Dingen
werden Sie damit nicht das erreichen, was wir erreichen
müssen: Sie sorgen nicht dafür, dass die Bürger wieder
mehr Vertrauen in die Politik haben,
({14})
insbesondere dann nicht, wenn Sie auch in anderen Bereichen jegliche Form der Unabhängigkeit und der Argumentation gegen Politik nicht mehr zulassen. Überlegen
Sie sich, ob das der richtige Kurs ist.
Ich jedenfalls erwarte, dass es die Europäische Zentralbank trotz der Dinge, die sie beschlossen hat ({15})
diese Dinge passen mir nicht, und ich hätte sie so auch
nicht beschlossen -, mit den Vorgaben, die sie sich selbst
gegeben hat, und mit der Anbindung an die Frage, was
wir im Parlament machen, sehr genau nimmt. Ich bin
ausgesprochen dankbar dafür, dass wir darüber mit
Herrn Draghi sprechen können. Ich hoffe, das geschieht
in einer guten Form: nicht so, dass er nur ein paar Sätze
sagt und wir zuhören dürfen, sondern so, dass uns in einem wirklichen Frage-und-Antwort-Spiel klar wird,
({16})
wie er das gemeint hat. Eines wird es mit der FDP-Bundestagsfraktion nicht geben: einen Angriff auf die Unabhängigkeit von Zentralbanken, egal um welche es geht.
Herzlichen Dank.
({17})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Diether Dehm.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Fricke, der Herr Kollege Schneider hat ausdrücklich die Aussagen des Herrn Weidmann in der Neuen
Zürcher Zeitung zitiert, und Sie sprechen von Brandstifterei. Ich glaube, da hatten Sie nicht nur Ihr Gemüt, sondern auch Ihre Worte nicht unter Kontrolle. Ich würde
mit diesen Worten etwas vorsichtiger sein.
Bis gestern Abend wollten Sie hier überhaupt nicht
diskutieren. Es ist unserer Drohung mit einer einstweiligen Verfügung zu verdanken, dass es überhaupt zu dieser Diskussion gekommen ist. Und es war unsere Klage
vor dem Bundesverfassungsgericht, die bewirkt hat, dass
es überhaupt die beiden völkerrechtlich verbindlichen
Vorbehalte zum ESM gibt.
({0})
Angesichts der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht vorletzte Woche die beiden entsprechenden
Auflagen erteilt hat, erstaunt schon die Einschätzung der
Bundesregierung, dass es sich hierbei um keine Vertragsänderung handelt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts war eben nicht eindeutig geregelt, dass
die Haftungsobergrenze von 190 Milliarden Euro nur
nach Zustimmung des Bundestags überschritten werden
darf. Genauso wenig war gewährleistet, dass der Bundestag als demokratisch legitimiertes Parlament unterrichtet wird, trotz der Schweigepflicht der lediglich ernannten und nicht gewählten ESM-Mitarbeiter.
Kollege Dehm, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lammert?
Ja, natürlich.
Lieber Kollege Dehm, würden Sie liebenswürdigerweise zur Kenntnis nehmen, dass es zur Ansetzung dieses
Tagesordnungspunktes nicht der Drohung mit einer einstweiligen Verfügung bedurft hat, sondern dass, nachdem
ich jede einzelne Fraktion angeschrieben hatte, ob sie
nach dem Verfahrensvorschlag, den die Bundesregierung
zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemacht hat, noch zusätzlichen Diskussionsbedarf sieht, die Anmeldung dieses Diskussionsbedarfs durch Ihre Fraktion unverzüglich zu einem
Einvernehmen aller Fraktionen zur sofortigen Ansetzung
dieses heutigen Tagesordnungspunktes geführt hat, was
Ihnen nun Gelegenheit zu dieser famosen Rede bietet?
({0})
Herr Bundestagspräsident, ich präzisiere meine Aussage: Durch das Schreiben des Kollegen Gregor Gysi
sind die Rechte dieses Bundestages, die natürlich bei Ihnen in den besten Händen liegen, gegenüber bestimmten
Willkürmaßnahmen der Bundesregierung noch einmal
aktiviert worden. Ich danke Ihnen sehr, ich glaube, auch
im Namen des Kollegen Gysi, dass wir gemeinsam gestern zur Auffassung gekommen sind, diese Debatte zu
führen. Erlauben Sie mir nur diese Spekulation: Ohne
uns wäre es vielleicht nicht möglich gewesen. - Ich
danke Ihnen.
({0})
Selbst wenn, wie der Herr Staatssekretär Kampeter in
seinem Schreiben vom 21. September ausführt - ich zitiere -, „lediglich der Inhalt des ESM-Vertrags klargestellt wird“ und sich diese Neufassung - ich zitiere erneut - „vollständig im Rahmen der stets von
Bundesregierung und Bundestag vertretenen Auslegung
bewegt“, so ist und bleibt das Ihre subjektive Meinung,
die man schätzen mag. Die Linke sieht dies allerdings so
wie das Bundesverfassungsgericht, das die Geltendmachung dieser Vorbehalte ausdrücklich eingefordert hat.
Damit haben wir es eindeutig mit einer Vertragsänderung zu tun, und sie erfordert sehr wohl die Zustimmung
und Ratifizierung durch die Parlamente der vertragsschließenden Parteien, gegebenenfalls auch die Billigung durch Volksabstimmung.
Glauben Sie nicht, dass mit Ihrem überhasteten und
unsauberen Vorgehen den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts nachgekommen werden kann! Und glauDr. Diether Dehm
ben Sie nicht, dass mit Ihrem Vorgehen das jetzt schon
angeschlagene Vertrauen der Menschen in diese Europapolitik gestärkt würde! Die Umfragen zeigen: Die Menschen schütteln über solche EU-Winkelzüge nur noch
den Kopf.
Das Mindeste, was verlangt werden kann, ist eine
ordnungsgemäße parlamentarische Behandlung im Bundestag und eine Überweisung an seine Ausschüsse, wie
wir es als Linke in diesem Falle vergeblich gefordert haben. Wenn hier stattdessen wieder einmal der Bundestag
unter unwürdigen Zeitdruck gesetzt wird und Trickserei
an die Stelle eines nachvollziehbaren und fairen Verfahrens treten soll, dann sind Sie ein weiteres Mal an dem
zunehmenden Misstrauen gegenüber der EU schuld.
Ich bin ganz sicher, dass die Wählerinnen und Wähler
Ihnen für Ihre Spekulantenpflege eine entsprechende
Quittung bei Wahlen erteilen werden; denn dann, wenn
es um Spekulanten geht, geht es holterdiepolter und
schnell, und wenn es um die Interessen der sozial Betroffenen geht, gibt es ewige bürokratische Vorgänge, etwa
die Schuldenbremse, unter der dann Länder und Kommunen, Krankenhäuser und Schulen leiden.
({1})
Warum zwingen Sie, Frau Merkel - sie ist jetzt nicht
da -, Länder in ganz Europa immer nur zu brutalen Regeln gegen Rentnerinnen und Lehrer und nie dazu,
Steueroasen rechtsverbindlich auszutrocknen? Trocknen
Sie diese aus! Gehen Sie einmal den griechischen Steuerhinterziehern an die Wäsche, die die 200 Milliarden in
die Schweiz und nach Liechtenstein verbracht haben, die
nötig wären, um die griechische Krise zu lösen! Und sorgen Sie dafür, dass Staaten und öffentliche Hand neue
Einnahmen bekommen! Das ist die eigentliche Ursache
der Krise: dass die Staaten in ihren Einnahmen gehemmt
werden, und zwar auch durch diese Bundesregierung.
({2})
Wenn Sie Rücksichtslosigkeit an den Tag legen wollen, Frau Merkel, dann tun Sie es gegenüber den Verursachern und Profiteuren der Krise, gegenüber Zockerbuden, Spekulanten und Finanzhaien, aber nicht gegenüber
jenen, von denen Sie glauben, sie könnten sich nicht
wehren.
({3})
Denn sie werden sich wehren, und Sie werden sehen,
dass sie sich auch in ganz Europa dagegen erheben werden.
Danke schön.
({4})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Manuel Sarrazin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
jetzt ja die Aufgabe, nach dem Kollegen Dehm zu sprechen, und darum muss ich dazu doch zunächst etwas
Qualifizierendes sagen.
({0})
Ich habe das Gefühl, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linkspartei, dass Ihr Auftreten hier klassisch mit
dem des schlechten Verlierers bzw. der schlechten Verliererin zu beschreiben ist. Das Verfassungsgericht hat
die Interpretation einer eindeutigen Formulierung im
ESM-Vertrag, die durch den Deutschen Bundestag noch
einmal eindeutig interpretiert wurde, nämlich dass von
einer klaren Höchstgrenze auszugehen ist, die vom
Deutschen Bundestag so auch vor Gericht vorgetragen
wurde, übernommen und noch einmal nach außen hin
bestärkt.
({1})
Daraufhin haben sich alle 17 Euro-Staaten dieser eindeutigen Interpretation des Deutschen Bundestages angeschlossen und eine eindeutige Erklärung unterschrieben,
die dieses ganz klar zur wesentlichen Grundlage macht.
({2})
- Sie können sich ja melden.
Dass Sie europarechtlich nicht so richtig bewandert
sind, merkt man an einigen Beispielen. Die Grünen
haben mit Verweis auf Art. 23 des Grundgesetzes gegen
die Umgehung des Deutschen Bundestages beim ESMVertrag vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Wir
haben hundertprozentig recht bekommen; das passiert
Ihnen selten. Sie hatten sich der Klage nicht angeschlossen. Stattdessen haben Sie in Karlsruhe mit Ihren Prozessvertretern das parlamentarische Verfahren zum ESM
falsch dargestellt.
({3})
In Ihren Reihen haben Sie wenig Kompetenz zu den
Themen Europarecht und Verfassungsrecht.
({4})
Ich kann Ihnen Randnummer 253 des Urteils vorlesen:
Die Bundesrepublik Deutschland muss deutlich
zum Ausdruck bringen, dass sie an den ESMVertrag insgesamt nicht gebunden sein kann, falls
sich der von ihr geltend gemachte Vorbehalt als unwirksam erweisen sollte.
Mit dieser Erklärung ist eindeutig eine Interpretation zur
Voraussetzung des Vertragsabschlusses vorgenommen
worden. Das heißt, wenn sich diese Interpretation als
nicht mehr gültig erweisen sollte, besteht nach Wiener
Vertragsrechtskonvention für die Bundesrepublik
Deutschland ausdrücklich die Möglichkeit zur Kündigung.
({5})
Das ist eindeutig. Sie sind einfach nur schlechte Verlierer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei.
({6})
Ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Sie glauben, dass
Sie der Demokratie einen Gefallen tun, dass Sie nach
Karlsruhe gehen, auch wenn Sie hier keine Mehrheit
haben. Sie wollen den Euro kippen. Dafür bräuchten Sie
eine Mehrheit in diesem Haus. Die Mehrheit hier hält jedoch am Euro fest. Sehen Sie doch bitte ein, dass Sie
hier keine Mehrheit für Ihr Vorhaben haben. Das ist nun
einmal so.
({7})
Wenn man daraus eine Lehre für die Demokratie ziehen kann, dann die, dass diese Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine legitimatorische Funktion
haben. Ich glaube, dass der Ablauf der Verhandlungen
gezeigt hat, dass das Gericht versucht, eine legitimatorische Funktion auszustrahlen. Sie werden letztlich auch
das Bundesverfassungsgericht in seiner legitimatorischen Funktion beschädigen, wenn Sie weiterhin eindeutige Feststellungen infrage stellen.
({8})
Daran sollte kein Demokrat in diesem Haus ein Interesse
haben.
({9})
- Wissen Sie, Frau Enkelmann, mir kann niemand in
diesem Haus unterstellen, dass ich mich in dieser Frage
nicht mit dem Europarecht beschäftigt hätte.
({10})
- Ich habe gerade die Randnummer 253 zitiert. Ich kann
Ihnen auch die Randnummer 240 vorlesen.
({11})
- Diether, du musst dich melden; meine Redezeit ist fast
abgelaufen.
Nachdem ich aufgezeigt habe, dass die Linkspartei
ein schlechter Verlierer ist, wollte ich noch etwas zur Regierung sagen. Ich wollte der Regierungsseite noch eines
sagen: Sie haben hier ausgeführt, dass es Ihnen nicht
passt, welche Entscheidung die EZB getroffen hat. Ehrlich gesagt, da muss ich Ihnen ins Stammbuch schreiben:
Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind doch heilfroh, dass
es in Ihrer kaputten Koalition nicht dadurch zum Bruch
kommt, dass sie irgendwann einmal eine Entscheidung
treffen müsste, wohin es mit Europa geht.
({12})
Das sieht man Ihnen doch an. Ich finde es schwach,
wenn Sie nur bluffen und immer anderen die Schuld
dafür geben wollen, dass etwas nicht geht.
Wir freuen uns über diese Erklärung der 17 EuroStaaten. Allerdings ist der Auftritt der Regierung hier
nicht viel besser als der der Linkspartei.
({13})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich darf auf den Redebeitrag des Kollegen
Carsten Schneider zurückkommen. Ich war verwundert,
worüber er sich hier ausgelassen hat. Das hat mit dem
Thema, das wir heute zu behandeln haben, wenig zu tun.
Erstens. Gerade wir in der Bundesrepublik Deutschland - Kollege Fricke hat bereits zu Recht darauf hingewiesen; aber es kann ruhig noch einmal gesagt werden haben den allergrößten Wert darauf gelegt, in Europa
eine unabhängige Zentralbank zu bekommen. Es war
kein Geringerer als der damalige Finanzminister
Dr. Theo Waigel, der sich hier sehr ins Zeug gelegt hat,
dass diese Vereinbarung in Europa getroffen werden
konnte und dass die EZB nach dem Muster der Deutschen Bundesbank unabhängig ist. Es wäre kurzsichtig,
die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank deswegen infrage zu stellen, weil man vielleicht die eine
oder andere Entscheidung gerne anders treffen würde;
dazu hat jeder von uns eine eigene Meinung. Ich glaube,
wir werden im Laufe der Zeit noch sehr dankbar dafür
sein, dass wir eine unabhängige Europäische Zentralbank haben.
Zweitens. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sehr
schnell nachkommt. Sie hat die Erklärungen, sowohl die
gemeinsame als auch die einseitige Erklärung, beschlossen und wird sie völkerrechtlich verbindlich abgeben.
Drittens. Ich will festhalten, was das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung festgestellt hat: Es
hat die Anträge auf Erlass einer einstweiligen AnordBartholomäus Kalb
nung abgelehnt. Damit hat es den Kurs der Koalition zur
Bewältigung der europäischen Finanzkrise und zur Lösung der Währungsprobleme bestätigt.
Herr Kollege Kalb, entschuldigen Sie, dass ich Sie
unterbreche. Der Kollege Dr. Danckert würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Kalb, stimmen Sie mir in der Einschätzung zu, dass wir die heutige Debatte überhaupt nicht
führen würden, wenn wir - da beziehe ich mich durchaus mit ein - nicht in Karlsruhe vorstellig geworden
wären?
({0})
Glauben Sie im Ernst, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn alles so klar gewesen wäre, wie Sie es hier
und heute darzustellen versuchen, vor der Ratifizierung
eine verpflichtende Erklärung verlangt hätte?
({1})
Wäre alles so sonnenklar, wäre das doch gar nicht notwendig gewesen, oder?
({2})
Ich möchte an dieser Stelle meine Zweifel daran
anmelden, dass die Erklärung, die jetzt vorliegt, den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts wirklich
entspricht; wir werden es sehen. Das, was Sie hier veranstaltet haben, war ein einziger Eiertanz. Wir haben ja
erlebt, dass es mehrere Fassungen gegeben hat, bis es
schließlich zu der jetzt vorliegenden Erklärung gekommen ist. Unsere Parlamentarierkollegen in anderen Ländern betrachten dies als einen schweren Eingriff in den
Vertrag.
({3})
Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wie Sie es von Anfang an dargestellt
haben. Wir haben Sie zu einer Klarstellung zwingen
müssen:
({4})
zur Haftung, zur Vertraulichkeit und zu weiteren Punkten, die in dem Urteil ausdrücklich erwähnt sind.
({5})
Lieber geschätzter Kollege Danckert, ich will Folgendes festhalten:
Erstens. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihre
Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt; das habe ich gerade ausgeführt.
({0})
Zweitens. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die von uns beschlossenen Maßnahmen mit
der Verfassung in Einklang stehen.
Drittens. Wir, die wir den ESM-Verträgen zugestimmt
haben, fühlen uns in keiner Weise beschwert, sondern,
ganz im Gegenteil, im Hinblick auf das, was wir im Rahmen des ESM-Finanzierungsgesetzes bereits beschlossen haben, durch das Bundesverfassungsgericht sogar
bestätigt. Man kann es nur begrüßen, wenn das auf Anregung bzw. Anordnung des Bundesverfassungsgerichts
sogar völkerrechtlich abgesichert wird.
Wir haben im ESM-Finanzierungsgesetz festgelegt,
was zu tun ist. Die Haftungssumme wurde auf 190 Milliarden Euro und ein paar Zerquetschte beschränkt, und
sie darf nicht erhöht werden - das ist der feine Unterschied zu mancher Interpretation -, wenn nicht das
Parlament erneut darüber befindet. Wir haben im ESMFinanzierungsgesetz auch festgelegt, dass der deutsche
Vertreter an den jeweiligen Sitzungen teilnehmen muss,
dass er sich nicht enthalten darf und folgerichtig mit
Nein stimmen muss, wenn es im Hinblick auf Entscheidungen, die den Haftungsrahmen betreffen könnten, kein
entsprechendes parlamentarisches Votum gibt.
Ich denke, hier hat das Bundesverfassungsgericht uns
voll und ganz recht gegeben. Es hat angeordnet, dass
das, was wir hinsichtlich der Innenbindung festgelegt
haben, auch den Vertragspartnern völkerrechtlich bindend mitgeteilt werden muss.
({1})
Nicht mehr und nicht weniger wird durch das, was hier
und heute Gegenstand der Debatte ist, getan. Ich denke,
damit ist das allermeiste zu dem ganzen Thema gesagt.
Herr Kollege Kalb, auch der Herr Kollege Stinner
würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie
möchten.
Ja.
Bitte.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Die mögen mich mehr.
Vielen Dank, sehr geehrter Herr Kollege Kalb. Teilen Sie meinen Eindruck, dass die Einlassung des
Kollegen Danckert, SPD, bezüglich des heute zu verhandelnden Themas völlig kontrovers zu der Einlassung des
Kollegen Schneider, SPD, war?
({0})
Teilen Sie auch meinen Eindruck, dass damit ein
weiteres Mal bewiesen ist, dass die SPD offensichtlich
gespalten und in dieser Situation nicht handlungsfähig
ist?
({1})
Herr Kollege, ich bin Ihnen ausdrücklich dankbar für
diesen Hinweis. Ich teile diesen Ihren Eindruck vollumfänglich, weil wir gerade bei all diesen Fragen immer
wieder feststellen müssen, dass der Kollege Schneider
hier so redet, wie er gelegentlich redet und wie wir ihn
kennen, während seine Partei und seine Fraktion eine
ganz andere Linie vertreten.
({0})
Ich muss fast sagen: In den grundsätzlichen Dingen vertreten die Führungen seiner Partei und seiner Fraktion
vielleicht sogar eine klarere Linie als der Kollege
Schneider.
({1})
Ich denke, damit ist das Wesentliche zu dem heute gegenständlichen Punkt gesagt. Die Fragen, die mir gestellt
worden sind, haben mir Gelegenheit gegeben, all das unterzubringen, was ich ohnehin gerne angebracht hätte.
Insofern darf ich mich beim Kollegen Stinner, aber auch
beim Kollegen Danckert ganz herzlich bedanken.
Auch der Herr Kollege Sarrazin würde Ihnen gerne
noch eine Frage stellen. Das ist dann aber die letzte. Danach sind wir am Schluss dieses Tagesordnungspunktes.
Da er so viel Mitleid hat mit mir und meine Redezeit
verlängern möchte, gerne.
Sie haben eigentlich noch zwei Minuten Redezeit.
({0})
Ich kann mich ja schnell wieder setzen. - Verehrter
Herr Kollege Kalb, teilen Sie meinen Eindruck, dass
Herr Gauweiler, wenn er sich heute gemeldet hätte, hier
eine Position vertreten hätte, die nicht derjenigen entspricht, die Sie vorgetragen haben, womit deutlich wird,
dass die Koalition in dieser Frage zerstritten und nicht
handlungsfähig ist?
({0})
Letzteres nicht. Es gibt abweichende Meinungen.
({0})
Die Debatte hätte dann vielleicht länger gedauert, aber
die Meinung der Mehrheit ist vollkommen klar. Die
Koalition ist nicht zerstritten. Wir müssen auch abweichende Meinungen akzeptieren.
Kollege Gauweiler ist übrigens anwesend. Wir beide
diskutieren sehr oft
({1})
und sehr gegensätzlich. Ich finde: Auch wenn man die
Meinung nicht teilt, sollte man dem anderen den Respekt
nicht versagen und anhören, was er zu sagen hat.
({2})
Danach muss es im demokratischen Verfahren zu einer Meinungsbildung und zur Entscheidung kommen, so
wie wir mit ganz großer Mehrheit hier in diesem Hause
zu einer Entscheidung gekommen sind. Dass hier abweichende Meinungen bestehen bleiben, liegt in der Natur
der Sache.
({3})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktion Die Linke wünscht die Überweisung der
Unterrichtung auf Drucksache 17/10767 zur federführenden Beratung an den Haushaltsausschuss und zur
Mitberatung an den Innenausschuss, an den Rechtsausschuss, an den Finanzausschuss, an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie und an den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen wünschen hingegen, die Behandlung der Unterrichtung heute durch Kenntnisnahme abzuschließen.
Wer stimmt für den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Überweisung? - Wer stimmt dagegen? - Das ist offenVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
kundig die Mehrheit. Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Die Unterrichtung ist somit zur Kenntnis genommen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 1:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Bericht der Bundesregierung
zum Stand der Deutschen Einheit 2012.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Hans-Peter
Friedrich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren Kollegen! Wir legen den Bericht, der
heute im Bundeskabinett verabschiedet worden ist, dem
Parlament vor. Wir haben uns dabei in diesem Jahr im
Wesentlichen auf zwei Schwerpunkte konzentriert, nämlich auf die Konvergenz im Bereich der wirtschaftlichen
Entwicklung und des Arbeitsmarktes sowie auf die
Frage der demografischen Herausforderung, die nicht
nur in den neuen Ländern, aber dort vor allem, schon seit
längerer Zeit zu beobachten ist.
Die erfreulichste Botschaft vorweg: Die Arbeitslosigkeit ist in den neuen Ländern auf einem historischen
Tiefstand. Wir haben in Ostdeutschland eine Arbeitslosenquote von 10,3 Prozent. Das ist historisch niedrig.
Aber das ist - das wissen wir alle - natürlich erheblich
über der Marke von 6 Prozent, die wir in den alten Bundesländern, also in Westdeutschland, haben.
Wir stellen als Herausforderung besonderer Art - das
ist der erste Punkt - eine nach wie vor unterentwickelte
Innovationsfähigkeit in den neuen Ländern im Bereich
der Wirtschaft fest, die im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass wir es dort mit einer sehr kleinteiligen
Wirtschaftsstruktur und mit zum Teil nicht nur mittelständischen, sondern auch sehr kleinen Unternehmen zu
tun haben, die, was ihre Innovationskraft angeht, Unterstützung brauchen und durch staatliche Hilfen natürlich
auch bekommen.
Ein zweiter Punkt, der ebenfalls mit dieser Kleinteiligkeit zusammenhängt, ist die noch ausbaufähige Exporttätigkeit und Exportorientierung der Wirtschaft in
den neuen Ländern. Auch hier versuchen wir, mit sehr
gezielten Programmen dafür zu sorgen, dass dieser
Nachteil für die Wirtschaft in den ostdeutschen Ländern
ausgeglichen wird.
Wir müssen insgesamt feststellen, dass wir im Grunde
den Wirtschaftsraum neue Länder in dieser allgemeinen
Form gar nicht mehr haben. Wir haben vielmehr sehr unterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenen Regionen und auch sehr unterschiedliche Entwicklungen in
den einzelnen Wirtschaftszentren. Es gibt Boomregionen
und strukturschwache Gebiete, die eine einheitliche Beurteilung des Wirtschaftsraums Ost mit allgemeinen
Aussagen gar nicht zulassen.
Wir sehen aber einen Punkt, der gerade in den neuen
Ländern flächendeckend sehr stark zum Tragen kommt,
nämlich die demografische Entwicklung. Das Abnehmen der Geburtenrate - in den 90er-Jahren gab es eine
Halbierung - und auch die Abwanderung haben in den
neuen Ländern besondere Herausforderungen mit sich
gebracht. Das ist auch der Grund dafür, dass sich der Beauftragte der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer zusammen mit mir für eine Nachfolgeregelung bei
der EU-Förderung für die neuen Länder mit sehr großer
Kraft einsetzt.
Wir wissen, dass das in der nächsten Förderperiode
durchaus schwierig wird. Aber wir sind der Meinung,
dass ein Sicherheitsnetz von zwei Dritteln des jetzigen
Förderniveaus geschaffen werden muss. Ich kann sagen,
dass die Verhandlungen des Beauftragten in Brüssel auf
einem sehr guten Weg sind. Ich glaube, das ist wichtig,
um diesen demografischen Herausforderungen Rechnung tragen zu können.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte - das ist
eine besondere Herausforderung, die sich in ganz
Deutschland abzeichnet, aber in den neuen Ländern besonders stark zum Vorschein kommt -, ist der drohende
Fachkräftemangel. Deswegen gibt es auch an dieser
Stelle eine sehr gezielte Politik der Bundesregierung:
Förderung der Ausbildung und Fachkräfteausbildung,
gerade um die kleinen und mittelständischen Unternehmen flankierend zu unterstützen. Ich denke, auch mit
dieser Offensive sind wir auf einem guten Weg.
Das zunächst zur Einleitung, Herr Präsident. Ich stehe
zur Beantwortung von Fragen ebenso wie der Beauftragte der Bundesregierung, der neben mir sitzt, zur Verfügung. Falls Sie unmittelbar Fragen an ihn haben, bitte
ich, mir das dann, mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zu
signalisieren.
Vielen Dank, Herr Friedrich. - Die erste Frage hierzu
stellt Herr Volker Beck von den Grünen.
({0})
- Entschuldigung, ich rufe Ihre Frage dann später auf. Ralph Lenkert ist der erste Fragesteller.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Bundesminister,
die Bundesrepublik ist noch Eigentümer von mehr als
11 000 Wohnungen in Ostdeutschland, die der TLG gehören. Diese soll jetzt privatisiert werden. Welche Aussagen macht der Jahresbericht zum Stand der deutschen
Einheit zu dieser Privatisierung, und warum wurde die
Bietergenossenschaft Fairwohnen vom Bundesministerium der Finanzen aus dem Bieterverfahren ausgeschlossen? Können Sie als Minister diese Privatisierung noch
verhindern?
Zunächst einmal ist zu sagen, dass auch die Bundesregierung eine solche Privatisierung nicht verhindern
kann. Ich habe vorhin gesagt, dass wir uns bei dem
Bericht im Wesentlichen auf die Fragen der wirtschaftlichen Konvergenz und des Arbeitsmarktes konzentriert
haben. Die speziellen Fragen der Wohnungsbauentwicklung in den neuen Ländern, die Sie angesprochen haben,
haben wir übrigens ebenso wie Fragen der Infrastruktur
in einem Bericht gebündelt, den der Bauminister vorlegen wird. Insofern enthält der Bericht keine Antwort auf
diese speziellen Fragen, die Sie gestellt haben.
Die nächste Frage stellt Dr. Martina Bunge.
Danke, Herr Präsident. - Herr Minister, Sie haben
über wirtschaftliche Fragen, den Arbeitsmarkt und die
demografische Entwicklung gesprochen. Ich hoffe, der
Bericht zur deutschen Einheit enthält auch etwas zum
Stand der sozialen Einheit. In diesem Zusammenhang
frage ich Sie, ob es bei den bisherigen Aussagen bleibt
- der Ostbeauftragte Bergner hat sich gestern Abend
dazu schon fast traditionell in den Medien geäußert -,
dass die in der Koalitionsvereinbarung verabredete und
als Wahlversprechen der Bundeskanzlerin auf dem Seniorentag 2009 in Leipzig explizit angekündigte Angleichung von Ost- und Westrenten nicht mehr kommt, und
ob das auch so in dem Bericht festgehalten ist.
Ich frage Sie, welche Perspektive sich aus dem Umstand ergibt - dazu gibt es eine entsprechende Zeitungsmeldung -, dass die Renten den Löhnen wie bisher folgen sollen. 1991 hat man gedacht, die Angleichung
dauert fünf Jahre; inzwischen sind es 20 Jahre. Die Differenz bei den Renten vergrößert sich immer weiter und
beträgt jetzt 142 Euro. Das sind keine Peanuts. Es gibt
Berechnungen, dass die Angleichung so 160 Jahre dauern würde. Sollen die Menschen in den neuen Ländern
darauf vertrauen?
Frau Kollegin, der Ostbeauftragte hat sich gestern
geäußert, weil er gefragt worden ist. Es entspricht den
Regeln der Höflichkeit, zu antworten, wenn eine Frage
gestellt wird.
Zu der Rentenproblematik allgemein: Wir wollen eine
Angleichung des Rentensystems in Ost und West. Das
ist nicht nur in der Koalitionsvereinbarung so festgehalten, sondern es ist auch unser fester Wille. Wir haben
aber auch immer gesagt: Wir werden das nicht gegen
den Willen und die Auffassung der Regierungen in den
neuen Ländern tun. Es gibt bisher keine einheitliche Haltung der Landesregierungen in den neuen Ländern in der
Frage der Angleichung des Rentensystems.
Man sollte nicht den Eindruck erwecken, dass es automatisch eine Rentenerhöhung für alle wäre, wenn wir
das Rentensystem angleichen würden. Es wäre für einige
eine Rentenabsenkung, und das macht die Sache so
kompliziert und so schwierig. Aber wir werden den besonderen Verhältnissen - Sie haben sie angesprochen wie den immer noch relativ niedrigen Löhnen dadurch
gerecht, dass wir eine Höherbewertung der Arbeitsverdienste vornehmen. Das würde bei einer Angleichung
der Rentensysteme wegfallen. Ich glaube, das ist auch
nicht in Ihrem Interesse.
Nächste Frage Wolfgang Tiefensee.
({0})
Sehr verehrter Herr Minister, in den letzten 22 Jahren
gab es eine positive Entwicklung im Osten; wir haben
viel erreicht. Der Bericht belegt aber, dass der Trend stagniert und ein Negativtrend droht.
Erstes Schlüsselthema: Wirtschaftskraft. Sind Sie mit
mir einer Meinung, dass die Absenkung der Förderung
der regionalen Wirtschaftsstruktur durch die Bundesregierung kontraproduktiv ist?
Zweites Schlüsselthema: Arbeitslosigkeit. Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich. Sind Sie mit mir einer
Meinung, dass die Kürzung der Gelder für die Arbeitsämter kontraproduktiv ist?
Drittes Schlüsselthema: Lohn. Es gibt nach wie vor
eine Schere zwischen Ost und West. Sind Sie mit mir
einer Meinung, dass wir bei vielen außertariflichen
Arbeitsverhältnissen dringend einen Mindestlohn brauchen?
Viertes Schlüsselthema: Die Investitionen des Mittelstands in Forschung und Entwicklung liegen deutlich
unter Westniveau. Sind Sie mit mir einer Meinung, dass
ein Nichtvollzug der steuerlichen Entlastung von Investitionen in Forschung und Entwicklung durch die Bundesrepublik für die Entwicklung Ostdeutschlands kontraproduktiv ist?
Herr Tiefensee, zunächst einmal glaube ich, dass die
Gefahr von Rückschlägen - das heißt, dass es zu einer
Vergrößerung der Lücke zwischen Ost und West kommen wird - nicht gegeben ist. Es kam in den letzten
Monaten durchaus zu einer unterschiedlichen Entwicklung - allerdings in ganz Deutschland - in den strukturstarken Gebieten und den strukturschwachen Regionen;
das wirkt sich natürlich auch in den neuen Ländern aus.
Was die Angleichung der Wirtschaftskraft angeht, so
glaube ich allerdings, dass wir auf ganzer Linie weiterhin auf einem guten Weg sind.
Die Unterschiede bzw. die Schwankungen mögen
auch dadurch zustande kommen, dass wir in 2008 in den
alten Ländern einen stärkeren Einbruch der Wirtschaft
hatten als in den neuen Ländern; der Aufholprozess dort
ist entsprechend ausgeprägter. Das mag die Prozentzahlen im Einzelnen erklären.
Zu Ihren Fragen:
Erstens. Wir sind dabei, die Förderung des Arbeitsmarktes mit sehr gezielten Programmen weiter voranzutreiben.
Zweitens. Ich bin nicht der Meinung, dass Mindestlöhne, wie Sie sie sich vorstellen - Sie fordern gesetzliche Mindestlöhne -, geeignet sind, irgendwelche wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Fragestellungen zu
beantworten.
Drittens. Wir werden weiterhin fünf Sechstel der Mittel, die für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ zur Verfügung stehen, in
den neuen Ländern investieren. Ich glaube, dass das eine
wichtige Investition ist.
Viertens. Wir erhöhen die Innovationskraft in den
neuen Ländern mit den Programmen, die zurzeit laufen.
Es gibt ein neues, sehr umfangreiches Programm des
Forschungsministeriums. Somit stärken wir Forschung
und Entwicklung und fördern neue Investitionen in den
neuen Ländern.
Vielen Dank. - Der nächste Fragesteller ist Frank
Tempel.
Herr Minister, inwiefern erachten Sie es als politische
Kultur, dass ein solcher Bericht beispielsweise der
Schweriner Zeitung früher vorliegt als den Berichterstattern im Deutschen Bundestag?
Sie sprachen soeben von den großen Anstrengungen,
die auf dem Arbeitsmarkt unternommen werden. Nach
unserer Einschätzung wird eher viel Kraft darauf verwendet, möglichst viele Programme auslaufen zu lassen.
Wie sinnvoll ist es, die Investitionszulage, von der gerade die Kommunen im Osten profitiert haben, bis 2013
auslaufen zu lassen?
Ich kann Ihnen zunächst einmal sagen, dass wir immer wieder sehr gezielt entsprechende Programme auf
den Weg bringen. Natürlich kommt es auch vor, dass
Programme auslaufen. Das gilt vor allem für die Bereiche, in denen wir keine originäre Zuständigkeit haben
und wo wir befristete Pilotprojekte auf den Weg bringen.
Das Auslaufen von solchen Programmen wird aber
durch eine Vielzahl neuer Programme überkompensiert,
die aufgrund neuer Herausforderungen und neuer Fragestellungen aufgelegt werden.
Zur Herausgabe des Berichts oder von Teilen des Berichts an die Schweriner Zeitung kann ich Ihnen nichts
sagen. Ich weiß nämlich nicht, wie diese Zeitung da rangekommen sein könnte. Ob das, was dort zitiert
wird - mir liegt die Zeitungsmeldung leider nicht vor -,
dem entspricht, was im Bericht steht, kann ich Ihnen
auch nicht bestätigen.
Vielen Dank, Herr Minister. - Die nächste Frage stellt
der Kollege Arnold Vaatz.
Sehr geehrter Herr Minister, ich bin erst einmal sehr
dankbar, dass Sie klargestellt haben, dass der geringere
Anteil der ostdeutschen Wirtschaft an der gesamtdeutschen Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahr - der Anstieg betrug rund 2 Prozent - darauf zurückzuführen ist,
dass der Einbruch bei der letzten Wirtschaftskrise in Ostdeutschland nicht so stark war und dass aus diesem
Grund die Konsolidierung nicht mit der Geschwindigkeit vorangegangen ist wie im Westen. Alle Zahlen einschließlich der verbesserten Arbeitslosenstatistik zeigen,
dass es in Ostdeutschland insgesamt ein Wachstum gegeben hat. Allerdings ist das Tempo unter Berücksichtigung des vorausgegangenen Einbruchs nicht so hoch wie
das im Westen. Es ist gut, dass Sie das klargestellt haben.
Ich habe zwei Fragen. Meine erste Frage lautet: Sie
haben in Ihrem Bericht großen Wert darauf gelegt, die
demografische Entwicklung darzulegen. Diese Entwicklung ist in der Tat sehr besorgniserregend. Können Sie
sich Maßnahmen vorstellen, die auf Landes- und Gemeindeebene, aber auch auf Bundesebene ergriffen werden, um der demografischen Entwicklung entgegenzutreten?
Meine zweite Frage lautet: Wie beurteilen Sie den infrastrukturellen Unterschied, also die Infrastrukturdichte im Osten im Vergleich zur Infrastrukturdichte im
Westen? Ich meine damit nicht nur Verkehrswege, sondern auch die wirtschaftliche Infrastruktur.
Es gibt sicherlich bei der Infrastruktur nach wie vor
Nachholbedarf. Da sind einige Projekte auf dem Weg,
für die der Etat des Bundesverkehrsministers eine entsprechende Ausfinanzierung vorsieht. Was die Infrastruktur im Allgemeinen einschließlich der Forschungsinfrastruktur angeht, haben wir als Bundesregierung,
glaube ich, sehr viel geleistet. Wir sorgen dafür, dass der
Forschungsstandort in den neuen Ländern enorm gestärkt wird. Das ist ein sehr wichtiger und zentraler
Punkt.
Zur demografischen Entwicklung. Wir werden am
4. Oktober auf einem großen Demografiegipfel im
Kanzleramt offiziell neun Arbeitsgruppen starten. In all
diesen Arbeitsgruppen, die sich mit neun zentralen und
unterschiedlichen Handlungsfeldern der Demografiepolitik der Bundesregierung befassen, werden die Interessen der neuen Länder vertreten sein. Dies ist deswegen besonders sinnvoll und notwendig, weil es in den
neuen Ländern viele Erfahrungen, kreative Ideen und
eine enorme Innovationsfähigkeit gibt, wenn es um das
Problem der demografischen Entwicklung geht. Wir
wollen diese Erfahrungen einbeziehen und versuchen,
zusammen mit den Landesregierungen und den Kommunen - es gab bereits einen ersten Onlinedemografiekongress - Antworten zu finden, die der spezifischen Lage
vor Ort gerecht werden.
({0})
Vielen Dank, Herr Minister. - Jetzt hat das Fragerecht
der Kollege Tankred Schipanski.
Vielen Dank, Herr Minister. - Sie haben die Innovationsfähigkeit der neuen Länder angesprochen. Wie wir
alle wissen, haben wir gerade ein sehr effektives Programm zur Förderung der Innovationsfähigkeit in den
neuen Ländern mit einem Volumen von 500 Millionen
Euro aus dem Hause Ihrer Kabinettskollegin Schavan
auf den Weg gebracht. Gestern wurde verkündet, dass
das BMBF zusammen mit der Wirtschaft Magdeburg
und Jena einen Forschungscampus faktisch sponsert.
Dresden hat zudem eine Exzellenzuniversität. Es gibt
ganz spannende Impulse in der deutschen Wissenschafts- und Universitätslandschaft.
Mich interessiert, wie Sie, Herr Minister, die weitere
Entwicklung Ostdeutschlands als Wissenschafts- und
Universitätsstandort gerade im Hinblick auf die mannigfaltigen Aktivitäten, die der Bund hier entfaltet, beurteilen.
Sie haben sehr plastisch und zutreffend beschrieben,
dass wir hier auch deswegen auf einem guten Weg sind,
weil der Bund Investitionen tätigt. Wichtig ist, dass die
Grundlage, die wir im Wissenschaftsbereich gelegt haben, auch zur Steigerung der Attraktivität der neuen
Länder als Investitionsstandort beiträgt. Hinzu kommen
müssen neben den staatlichen Investitionen, die wir
reichlich getätigt haben, Investitionen der Privatwirtschaft. Je mehr es uns gelingt, mit Exzellenzinitiativen
und einer hervorragenden wissenschaftlichen Ausbildung vor Ort die Attraktivität zu erhöhen, umso mehr
wird es zu Investitionen von privaten Unternehmen
kommen. Insofern glaube ich, dass wir auf dem richtigen
Weg sind.
Die nächste Frage hat der Kollege Patrick Kurth.
Herr Minister, wir haben das 23. Jahr nach der
Wende. Das Thema Aufarbeitung ist seit der deutschen
Einheit ein Thema, dem die Bundesregierung und auch
das Parlament einen hohen Stellenwert einräumen.
Meine erste Frage lautet: Wie schätzen Sie denn die Arbeit des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes ein? Inwiefern hat Roland Jahn
bisher Akzente setzen können? Was erwarten Sie von
ihm und seiner Arbeit in der Zukunft?
Die zweite Frage: Im „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“ machen Sie auf
die bestehenden Lohnunterschiede aufmerksam. Nun ist
es so, dass vor allen Dingen der Nettobetrag, der bei den
Menschen ankommt, entscheidend ist. Wir wissen, dass
die kalte Progression innerhalb eines bestimmten Gehaltsrahmens ihre Wirkung entfaltet. Genau in diesem
Rahmen bewegen sich überwiegend die Gehälter in Ostdeutschland, sodass sich die kalte Progression vor allen
Dingen in Ostdeutschland auswirkt. Wie bewerten Sie
im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost die Haltung
mancher Länder im Bundesrat zur Abschaffung der kalten Progression?
Das Thema kalte Progression, das Sie ansprechen, betrifft ganz Deutschland und ist seit vielen Jahren ein Problem. Deswegen habe ich es immer für richtig gehalten,
dieses Thema ganz oben auf die steuerpolitische Agenda
zu setzen. Ich bedaure es außerordentlich, dass wir gerade die sehr leistungsstarken Einkommensbezieher treffen und diesen durch die kalte Progression Kaufkraft
genommen wird. Deshalb kann ich es nicht nachvollziehen, dass man an dieser Stelle nicht gemeinsam und einmütig zu Korrekturen kommt.
Was die Arbeit von Roland Jahn angeht, muss ich sagen: Wir haben regelmäßig Kontakt und tauschen uns
aus. Ich glaube, dass er in ganz hervorragender Weise
seine Arbeit erledigt. Das Thema Aufarbeitung wird uns
beschäftigen. Ich glaube, dass er dieses Thema sachgerecht, mit Sorgfalt und auch mit der nötigen Leidenschaft behandelt.
Danke schön. - Die nächste Frage hat Stephan Kühn.
Herr Minister, Sie haben ein sehr fleißiges Ministerium, das in den letzten Monaten sehr viele Berichte und
Gutachten erstellt hat, zum Beispiel einen Evaluationsbericht zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung, das Handlungskonzept „Daseinsvorsorge im demografischen Wandel zukunftsfest gestalten“ und das
Gutachten „Wirtschaftlicher Stand und Perspektiven für
Ostdeutschland“. Mich würde interessieren: Welche der
Vorschläge aus den Handlungsempfehlungen wollen Sie
bis zum Ende der Wahlperiode umsetzen?
Die zweite Frage: Sie haben letztes Jahr den Innovationsstandort Ostdeutschland ausgerufen. Wie passt das
damit zusammen, dass die Mittel aus dem Solidarpakt,
Korb II, immer noch überproportional in Infrastrukturmaßnahmen fließen, obwohl Sie in den Berichten schreiben, die Infrastrukturlücke sei bis auf den Breitbandausbau geschlossen? Warum werden immer noch weniger
Mittel, gemessen an den Infrastrukturmitteln, in den Bereichen Bildung, Innovation und Forschung verausgabt?
Ich kann Ihnen sagen, dass wir in allen Bereichen
hohe und sachgerechte Ausgaben tätigen. Es ist wichtig,
zu erkennen, dass eine der wichtigsten Bedingungen für
die Attraktivität des Investitionsstandorts Deutschland
insgesamt und insbesondere in den neuen Ländern ist,
dass wir Infrastruktur zur Verfügung stellen. Wir betreiben die Pflege des Potenzials dadurch, dass wir in diesen
Bereich investieren. Ich glaube, dass sich das mittel- und
langfristig auszahlen wird.
Mittel- und langfristig sind auch alle Vorschläge angelegt, die wir in unserem Gutachten erarbeitet haben.
Manche lassen sich kurzfristig durch Programme, deren
große Zahl Sie dem Bericht entnehmen können, umsetzen; andere müssen langfristig angegangen oder mittelfristig realisiert werden. Ich kann Ihnen sagen, dass wir
an allen Vorschlägen, die gut und zielführend sind, mit
voller Kraft arbeiten.
Die nächste Frage hat erneut Frau Dr. Martina Bunge.
Herr Minister, ich habe mich gefreut über Ihr Bekenntnis zur Höherwertung, durch die gleiche Arbeit in
Ost und West, die bisher unterschiedlich entlohnt wird,
für die Rente gleichgestellt wird. Jetzt gehen wir einmal
von zwei Menschen aus, die die gleiche Arbeit tun und
über diesen Mechanismus 40 Entgeltpunkte haben. Bei
demjenigen, der in den alten Bundesländern wohnt, wird
mit 28,07 Euro malgenommen, während bei dem, der in
den neuen Bundesländern wohnt, mit 24,92 Euro malgenommen wird. Das Ergebnis sind 1 122,80 Euro für den
aus dem Westen und 996,80 Euro für den aus dem Osten. Halten Sie das für gerecht? Meinen Sie, es gibt
keine Lösung dafür?
Sehen Sie, es gibt eine Höherwertung der Arbeitsverdienste im Osten. Das bedeutet: Jemand, der im Osten
mit seinem Verdienst eigentlich 30 Entgeltpunkte hat,
wird höhergewertet auf zum Beispiel 40 Entgeltpunkte,
wie Sie es beschrieben haben. Das muss man dann mit
dem Rentenwert multiplizieren. Zum Beispiel derjenige,
der in Ostfriesland oder in einer anderen strukturschwachen Region in den alten Bundesländern lebt, bleibt bei
30 Entgeltpunkten. Multipliziert man das dann mit dem
höheren Rentenwert, der im Westen anzusetzen ist, dann
kommt man nicht ganz auf die Zahlen, die Sie genannt
haben.
({0})
- Einer wird höhergewertet, während ein anderer, obwohl er ebenfalls in einer Region lebt, in der niedrige
Löhne gezahlt werden, in der das gesamte Lohn-PreisGefüge niedrig ist, dann nicht hochgewertet wird. Insofern besteht da eine unterschiedliche Ausgangssituation.
({1})
Jetzt hat das Wort der Kollege Steffen Lemme.
Herr Minister, wir haben hier ein gesellschaftliches
Problem. Ich bezeichne es als das Problem der Armut.
Es gibt aber nicht nur die Altersarmut, wie Sie selbst als
Vertreter der Regierungsseite festgestellt haben, sondern
auch Kinder- und Jugendarmut sowie Armut im Osten
durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Ich frage Sie:
Was wollen Sie gegen die Armut im Osten tun?
Ich glaube, Sie sprechen einen ganz wichtigen Punkt
an. Wir müssen dafür sorgen, dass insbesondere unsere
Kinder sehr frühzeitig in all ihren Möglichkeiten gefördert werden. Das ist eine Aufgabe, die vom Kabinettsmitglied Kristina Schröder hervorragend wahrgenommen wird. Wir haben im Sozialbereich ein
Bildungspaket auf den Weg gebracht. All das ist ein wesentlicher Beitrag, den der Bund leistet, um unseren Kindern überall im Land, in Ost wie in West, eine Chance zu
geben.
Jetzt hat noch eine Frage der Kollege Stephan Kühn.
Herr Minister, Sie haben auf die Arbeitsmarktentwicklung hingewiesen. Was Sie aber nicht gesagt haben,
ist, dass 22 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ostdeutschland im Niedriglohnsektor beschäftigt sind. Sie haben gesagt, welche Maßnahmen Sie
nicht für sinnvoll halten, um diesen Missstand zu beseitigen. Mich würde interessieren, für welche Maßnahmen
Sie eintreten wollen, um diesen Missstand zu beseitigen.
Die zweite Frage dreht sich um den Stadtumbau Ost.
Der notwendige Rückbau von Wohnungen ist im letzten
Jahr zum Erliegen gekommen. Halten Sie vor diesem
Hintergrund an Ihrer Position fest, die Altschuldenhilfe
nach 2013 nicht fortzusetzen? Wenn Sie diese Position
weiterhin vertreten: Wie sollen die Instrumente aussehen, um den Wohnungsbestand in Ostdeutschland an den
demografischen Wandel anzupassen?
Ich glaube, dass es auch aus den Reihen der Regierungen der neuen Länder nicht mehr die Forderung gibt,
dass wir die Altschuldenhilfe fortsetzen. Sie wird 2013
auslaufen. Dabei bleibt es auch.
Beim Stadtumbau Ost ist nach wie vor ein Teil der
Mittel sicher auch für Abbrucharbeiten auszugeben.
Aber man muss sich im Einzelfall vor Ort sehr genau anschauen, was da zu tun ist.
Zum Niedriglohnsektor. Man muss erkennen, dass es
wichtig ist, dass wir die Wirtschaftskraft in den neuen
Ländern stärken, dass wir die Unternehmen stärken, dass
wir ihre Exportfähigkeit und ihre Innovationskraft stärken. Damit haben wir mehr hochwertige Arbeitsplätze,
was dazu führt, dass höhere Löhne gezahlt werden können. Das ist Ausdruck einer sich dynamisch entwickelnden Wirtschaft. Diese Idee treiben wir seit Jahren voran.
Sie ist, wie wir sehen, sehr erfolgreich.
Jetzt gibt es noch eine Frage zu anderen Themen aus
der Kabinettssitzung, und zwar vom Kollegen Volker
Beck. Bitte schön.
Herr Bundesinnenminister, ich habe zwei Fragen zu
der sogenannten „vermisst“-Kampagne Ihres Hauses.
Zur ersten Frage. Das Bundesinnenministerium hat
am 20. September per Pressemitteilung erklärt:
Aufgrund einer aktuellen Gefährdungsbewertung
des Bundeskriminalamtes … verschiebt das Bundesinnenministerium … den Start der Plakataktion
der Öffentlichkeitskampagne „vermisst“.
Ich kann es nur begrüßen, wenn das gestoppt wird; ich
finde, das gehört eingestampft.
({0})
Wie erklären Sie sich, dass dann heute in Neukölln
genau diese Plakate an Plakatwänden auftauchen? Haben Sie die Öffentlichkeit hier wahrheitsgemäß unterrichtet? Wie ist der Widerspruch zwischen Pressemitteilung und diesen an mehreren Stellen in Neukölln
aufgestellten Plakaten zu erklären?
Ist das ein Großflächenplakat?
Es ist ein Großflächenplakat. Ich habe das, was ich
Ihnen jetzt zeige, von der Website www.migazin.de heruntergeladen. Dort hat man mehrere Exemplare davon
dokumentiert. Dieses hier ist entsprechend verziert worden, weil es wohl auf erhebliche Irritationen in der Migrationscommunity stößt, was ich gut verstehen kann. Es
gab zu dieser Frage auch Kritik aus der Koalition, insbesondere aus der FDP-Fraktion, die ich voll teile. Also:
Wie kommt es dazu?
Zur zweiten Frage. Gestern wurden die gleichen Motive als Postkarten in Geschäften und Lokalen der Kölner Keupstraße verteilt. - In der Keupstraße hatte der
NSU eine Splitterbombe gezündet; es gab 20 Verletzte. Das führt zu erheblicher Beunruhigung in Köln und wird
als Stigmatisierung der Mordopfer des NSU gewertet.
Ich bitte Sie, Herr Innenminister: Würden Sie sich entschuldigen bei den Opfern dieses NSU-Anschlags und
bei den Anwohnern der Kölner Keupstraße, die sich
durch diese Öffentlichkeitsaktion Ihres Ministeriums erheblich herabgesetzt fühlen?
({0})
Lieber Herr Beck, diese Aktion ist auf ein Gespräch
zurückzuführen, das wir unter anderem mit Eltern von
Kindern geführt hatten, die sich selbst radikalisiert haben, die Deutschland verlassen haben und in pakistanische Terrorcamps ausgereist sind. Die Eltern haben uns
gesagt: Wir wussten nicht, wohin wir uns wenden sollen.
Ich habe noch in derselben Woche, als dieses Gespräch im Rahmen unserer Sicherheitspartnerschaft
stattgefunden hat, eine Hotline beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg schalten lassen, mit
der wir den Menschen in deutscher Sprache, aber auch in
jeder anderen Sprache Hilfe anbieten, bei der Eltern,
Verwandte, Freunde, die Sorge haben, dass sich ein Kind
radikalisiert, in Kreise gerät, wo es sozusagen radikalen
Kräften zum Opfer fällt, Hilfe suchen können.
Nun war es so, dass man gemeinsam überlegt hat:
Wie können wir diese Telefonnummer, diese Hotline, bei
all denen bekannt machen, die daran interessiert sind,
also insbesondere bei den Eltern? Man hat sich zusammen mit den muslimischen Verbänden dafür entschieden, diese Kampagne zu machen. 50 Prozent der Plakate
und auch 50 Prozent der Postkarten zeigen einen blonden Jungen, der insbesondere Eltern von Konvertiten ansprechen soll. Denn ein großes Problem des Homegrown
Terrorism ist, dass es viele Menschen gibt, die zum Islam konvertieren und sich dann radikalisieren. Das ist
also auch ein Hilfsangebot an deutsche Eltern, die das
erleben.
Wir wussten natürlich auch, dass es neben dem Konvertitenproblem ein Problem bei Familien arabischer
Herkunft und türkischen Familien gibt. Deswegen zeigen 50 Prozent der Plakate und Postkarten einen blonden
Jungen und 50 Prozent einen südländisch aussehenden
Jungen und sind zum Teil in arabischer Sprache und zum
Teil in türkischer Sprache.
Da einige Kreise, die ich nicht näher definieren will,
Interesse daran hatten, diese Plakataktion, die die Nummer der Hotline als Hilfe für Eltern bekannt machen soll,
zu skandalisieren - der blonde Junge ist übrigens in keiner der Skandalisierungsmeldungen aufgetaucht -,
({0})
da es nur darum ging, das zu skandalisieren, und das in
Teilen gelungen ist, hat das dazu geführt, dass viele
Menschen verunsichert sind. Das bedaure ich außerordentlich. Vorgesehen waren eine Anzeigenkampagne,
eine Internetkampagne, die Postkartenkampagne und
diese Plakataktion. Die drei erstgenannten Maßnahmen
laufen weiter. Die Plakataktion musste ich allerdings am
vergangenen Donnerstag aufgrund einer Gefährdungsbewertung des BKA im Zusammenhang mit den Drohvideos und zu befürchtenden Demonstrationen verschieben. Ich kann Ihnen jetzt nicht erklären, warum die
Plakate trotzdem aufgehängt wurden, aber ich gehe der
Sache nach.
({1})
- Die Postkartenaktion läuft normal weiter. Die Postkarten werden nicht gezielt in einer Straße verteilt, sondern
im ganzen Land. Ich füge hinzu: Die ganze Sache ist
sehr erfolgreich, weil inzwischen jeder die Nummer
kennt. Insofern ist ein wichtiges Ziel der Informationskampagne erreicht worden, nämlich dass Eltern, die sich
Sorgen um ihre Kinder machen, wissen, wo sie anrufen
können.
Bitte, eine Nachfrage.
Sie haben gerade die Kreise angesprochen, die diese
Aktion kritisieren. Das sind offensichtlich die Kreise,
mit denen Sie sie besprochen haben. Heute hat die
DITIB, die größte islamische Organisation in Deutschland, an die Bundeskanzlerin geschrieben und darauf
hingewiesen, dass die DITIB, der VIKZ, der Zentralrat
der Muslime und die IGBD aus der Sicherheitspartnerschaft mit dem Bundesinnenministerium wegen dieser
Kampagne ausgetreten sind. Das heißt, kein islamischer
Verband steht mehr oder stand je hinter Ihrer Kampagne,
was auch verständlich ist; denn mit dem Bild von irgendwelchen südländisch aussehenden Menschen, das sich
zwischen dem „Vermisst“ und dem Hinweis, dass jemand in den Islamismus abgedriftet ist, befindet, wird
der Anschein erweckt, man dürfe hinter jedem südländischen Gesicht einen Islamisten vermuten.
({0})
Das ist die Botschaft Ihrer Kampagne. Deshalb führt sie
nicht zu dem Ziel, das Sie verfolgen und das ich durchaus teile: Wir müssen uns mehr um diese Fragestellung
kümmern. Dabei ist Ihre Kampagne aber kontraproduktiv. Sie wird von den Migranten und Muslimen zu Recht
als beleidigend empfunden.
Ich frage Sie wirklich: Halten Sie es für geeignet,
diese Postkarte in der Kölner Keupstraße, am Tatort eines der NSU-Anschläge, zu verteilen,
({1})
oder finden Sie nicht eher, da ist Ihnen etwas aus dem
Ruder gelaufen, wofür sich das Ministerium bei den
Menschen zu entschuldigen hätte?
Lieber Herr Beck, das Ministerium und ich werden
uns nicht dafür entschuldigen, dass wir den radikalen Islamismus und Salafismus, die eine Gefahr
({0})
nicht nur für unser Land, sondern für ganz Europa darstellen, bekämpfen. Wir werden das mit aller Konsequenz tun. Ich bitte Sie, die Gefährlichkeit dieser radikalisierten Islamisten nicht zu unterschätzen.
({1})
Es wäre wirklich dramatisch, wenn man die Abwehrkraft des Staates in dieser Frage schwächen würde.
Ich bin sehr dankbar, dass die muslimischen Verbände
bei der Sicherheitspartnerschaft mitgemacht haben. Mir
ist nicht klar, warum sie auf einmal eine Kehrtwende
machen. Vielleicht gibt es - - Aber ich will da keine Details nennen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass mich Berichte aus der Türkei sehr ärgern, die erkennen lassen,
dass sich Leute überhaupt nicht mit den Fragen und Einzelheiten beschäftigen, sondern versuchen, in Deutschland Einfluss zu nehmen. Einem solchen Einfluss werde
ich mich nicht beugen.
({2})
Gibt es jetzt noch Fragen über das Gebiet der heutigen Kabinettssitzung hinaus? - Das ist nicht der Fall.
Dann beende ich die Befragung.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
- Drucksache 17/10736 Zunächst rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Gerd Bollmann auf:
Wer soll nach Auffassung der Bundesregierung die Trägerschaft für die geplante einheitliche Wertstofferfassung
- Wertstofftonne - erhalten: öffentlich-rechtliche Entsorger,
duale Systeme oder private Entsorger?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herr Präsident! Herr Kollege, Ihre Frage nach der
Trägerschaft beantworte ich wie folgt: Entscheidend ist
aus Sicht der Bundesregierung das Ziel, eine bürger23282
freundliche, ökologisch anspruchsvolle und zugleich
kosteneffiziente Erfassungsstruktur aufzubauen.
Ausgehend von den Erfahrungen mit der Verpackungsverordnung haben sich Produktverantwortung
und Wettbewerb als effektive Mittel zur Kostensenkung
sowie zur Förderung von Innovationen erwiesen. Im
Rahmen der geplanten einheitlichen Wertstofferfassung
strebt die Bundesregierung an, alle relevanten Akteure in
die Erarbeitung eines tragfähigen Konzeptes einzubeziehen. Dazu führt das Bundesumweltministerium derzeit
Gespräche mit dem Ziel, eine Basis für eine politisch realisierbare Lösung zu erarbeiten.
Nachfrage? - Bitte schön, Herr Bollmann.
Frau Staatssekretärin, da ich in dieser Antwort keine
Position der Bundesregierung erkennen kann, will ich
weiter nachfragen: Ist die Bundesregierung wirklich der
Ansicht, dass ein Verzicht auf eine eigene Position, gerade im Hinblick auf die Unvereinbarkeit bisher vorgetragener Positionen, zu einem zügigen Ergebnis führt,
oder handelt es sich vielmehr um einen Ausdruck der
Zerstrittenheit der Koalition über die Frage der Privatisierung in der Abfallwirtschaft?
Herr Kollege, wir haben es hier mit einer komplexen
Materie zu tun, die nicht nur durch den Bundestag, sondern auch durch den Bundesrat bestätigt werden muss.
Die privaten Entsorger, die kommunalen Entsorger und
die dualen Systeme müssen eine Lösung vereinbaren,
die am Ende trägt. Insofern ist es angesichts der Erfahrungen, die wir im Zusammenhang mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz gemacht haben, zwingend erforderlich,
politisch geboten und auch klug, wenn wir vorher mit allen Beteiligten sprechen und ausloten, welche Lösung
am Ende realisierbar ist.
Weitere Nachfrage?
Nein.
Nein. - Dann hat die Kollegin Dorothea Steiner eine
Nachfrage. Bitte.
Danke, Herr Präsident. - Vor dem Hintergrund, dass
wir eine nette Diskussion führen, ob die öffentlich-rechtliche Hand oder die Privatwirtschaft die Sammlung der
Wertstoffe federführend durchführt, frage ich die Bundesregierung: Haben Sie bei dem geplanten Wertstoffgesetz vor, die umweltpolitischen Ziele stärker zu verankern und zum Beispiel Standards zu formulieren? Was
genau planen Sie in dieser Richtung?
Frau Kollegin, die Weiterentwicklung der Verpackungsverordnung hin zu einer noch besseren Wertstofferfassung umfasst bereits umweltpolitische Ziele; denn
die Verpackungsverordnung hat sich alles in allem nicht
nur bewährt, sondern sie hat in ihrer Geschichte dazu geführt, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung vom
Müllaufkommen, vom Verpackungsmaterial entkoppelt
hat. Das ist nicht nur ein ganz wichtiges umweltpolitisches Ziel, sondern auch ein wichtiger umweltpolitischer
Erfolg.
Jetzt geht es darum, es zu schaffen, die Menge an zusätzlichem Abfall, die das UBA im Planspiel und in wissenschaftlichen Gutachten ermittelt hat, nämlich noch
einmal 570 000 Tonnen, zu erfassen und ökologisch zu
trennen, um die Erfolge, die wir in den letzten 10, 15
Jahren erreicht haben, weiter fortzusetzen. Die umweltpolitischen Ziele sind bereits mit darin beinhaltet.
({0})
Nein, leider nicht.
Wir kommen jetzt zur Frage 2 des Kollegen Gerd
Bollmann:
Ist die Bundesregierung angesichts vielfältiger Kritik weiterhin der Ansicht, dass die Verpackungsverordnung ein Erfolg ist und Grundlage für das Wertstoffgesetz sein soll?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Ja, gerne. - Herr Kollege, mit der Verpackungsverordnung von 1991 wurde die Rücknahme und Verwertung von Verpackungsabfällen in die Hände der Hersteller und Vertreiber von Verpackungen gelegt. Diese
Regelung der abfallwirtschaftlichen Produktverantwortung durchbrach, übrigens auf ausdrücklichen Wunsch
der Kommunen, erstmals die bis dahin übliche Aufgabenteilung, wonach die Wirtschaft für die Herstellung
und den Vertrieb der Erzeugnisse und die öffentliche
Hand für deren Entsorgung zuständig war. Mit dem Einbeziehen der produzierenden Wirtschaft in die Entsorgungsverantwortung ist es gelungen, die Entwicklung
der Verpackungsmenge vom allgemeinen Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Zugleich waren die Verwertungsanforderungen der Verpackungsverordnung auch
ein wesentlicher Treiber für den Aufbau fortschrittlicher
Recyclingstrukturen in Deutschland. Das dabei entwickelte technische und logistische Know-how wird heute
in aller Welt nachgefragt.
Die haushaltsnahe Getrennterfassung von Verpackungsabfällen wird von den Bürgerinnen und Bürgern mit
großem Engagement genutzt. Insgesamt wurden in Deutschland im Jahr 2009 fast 85 Prozent aller Verpackungsabfälle einer Verwertung zugeführt. Dies ist - dies noch
einmal an Sie, Frau Steiner - ganz eindeutig eine ökologische Erfolgsgeschichte.
Die von Ihnen angeführte Kritik betrifft demgegenüber praktisch ausschließlich die Frage der Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Systembeteiligung von
Verkaufsverpackungen, also wirtschaftliche Aspekte.
Dazu hat das Planspiel Antworten aufgezeigt; hierzu gehört insbesondere der Aufbau einer mit hoheitlichen Befugnissen beliehenen zentralen Stelle. Aus Sicht der
Bundesregierung gibt es mithin keine nachvollziehbaren
Gründe, die einer Fortentwicklung der Verpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetz entgegenstehen würden.
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen auf die
Lindhorster Trachtengruppe aus Schaumburg-Lippe aufmerksam machen, die oben auf der Tribüne in prächtigen
Trachten Platz genommen hat. Würden Sie bitte einmal
aufstehen, damit Sie gebührend bewundert werden können?
({0})
Vielen Dank.
Es gibt eine Nachfrage. Bitte, Herr Kollege Lenkert.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatssekretärin,
ist Ihnen bekannt, dass die Kosten für die Erfassung und
Sortierung von Verpackungsmüll im dualen System bei
400 Euro je Tonne liegen und dass darüber hinaus weitere 600 Euro pro Tonne an Overheadkosten anfallen?
Ist Ihnen des Weiteren bekannt, dass bis zu 200 Prozent
des lizensierten Verpackungsmaterials auftauchen, was
eigentlich unverständlich ist?
In diesem Zusammenhang frage ich mich, wie Sie
dazu kommen, das Ganze als Erfolgsmodell zu propagieren und zur Fortentwicklung zu empfehlen.
Herr Kollege, in der Vergangenheit haben sich Wirtschaftswachstum und das Aufkommen an Verpackungsmüll deutlich entkoppelt. Die Quoten für die Erfassung,
die in den 90er-Jahren noch bei knapp 27 Prozent lagen,
haben wir auf über 80 Prozent gesteigert. Es bedeutet,
wie ich meine, einen erheblichen wirtschaftlichen und
vor allem ökologischen Erfolg, diejenigen in die Verantwortung einbezogen zu haben, die für die Erzeugung
dieses Abfalls zuständig sind.
Der Hilferuf der Kommunen Anfang der 90er-Jahre
war nämlich, dass diese für die Abfälle verantwortlich
waren, weil die Produzenten nicht in die Verantwortung
einbezogen waren. Die Umschichtung der Verantwortlichkeit hat keine andere Regierung - weder der damalige Umweltminister Trittin noch Sigmar Gabriel -, auch
nicht Norbert Röttgen und schon gar nicht Peter
Altmaier infrage gestellt, sondern ganz im Gegenteil.
Wir wollen die Produktverantwortung fortschreiben und
dafür sorgen, dass noch mehr recycelt werden kann, wir
also hin zu einer echten Kreislaufwirtschaft gelangen.
Diesem Ziel diente die Novelle des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes sowie alle weiteren Novellen, die wir im Zuge der großen Novelle noch vor uns
haben.
Vielen Dank. Eine weitere Nachfrage hat der Kollege
Oliver Krischer.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin, für Ihre Ausführungen. Sie haben eben davon gesprochen, dass es
eine Erfassungs- und Wiederverwertungsquote von
85 Prozent gebe. Das ist in der Tat eine imposante Zahl,
damit nähern wir uns den 100 Prozent.
Meine Frage lautet: Was beinhaltet diese Quote von
85 Prozent Wiederverwertung? Ist hierin die thermische
Verwertung, sprich: die Verbrennung in Müllverbrennungsanlagen, enthalten? Oder handelt es sich bei diesen
85 Prozent um Recycling im Sinne von „Wiederverwendung des Produktes“?
Könnten Sie diese Quote bitte aufschlüsseln, sodass
ersichtlich wird, ob es sich hierbei um eine Wiederverwertung im klassischen Sinne handelt oder ob wir eher
über eine Entsorgung in Form der energetischen Verwertung, also Verbrennung, reden?
Gerade die Kommunen haben sich auf die eben von
Ihnen angesprochene Art der Verwertung spezialisiert;
Müllverbrennungsanlagen gibt es in kommunaler Hand.
Demgegenüber haben sich private Entsorger darum gekümmert, die Fraktionen möglichst trennscharf aufzuspalten, und sehr viel in intelligente Verwertung investiert. Wir wollen - das ist das Ziel der jüngsten Novelle die energetische Verwertung reduzieren, um am Ende
des Tages so viel wie möglich wiederzugewinnen.
Gleichwohl ist es gelungen, die Verwertungsquoten zu
steigern. Wir haben eine fünfstufige Abfallhierarchie
eingeführt, um die Fraktionen noch besser zu trennen
und einer geeigneten Verwertung zuzuführen.
Jetzt hat die Kollegin Dorothea Steiner eine Frage.
Bitte.
Danke, Frau Staatssekretärin, für Ihre Ausführungen
zur energetischen Verwertung, schlicht: zur Verbren23284
nung. Sie verweisen dabei auf die Abfallhierarchie, die
letztes Jahr mit dem geänderten Kreislaufwirtschaftsund Abfallgesetz eingeführt worden ist.
Wie werden Sie der Kritik gerecht, die schon damals
geäußert wurde - beileibe nicht allein von der Opposition in diesem Haus -, dass die Grenze, ab der man energetisch verwerten, sprich: verbrennen, darf, so niedrig
angesetzt ist, dass es möglich ist, sogar Altpapier - das
ist eine abfallpolitische Sünde - oder Altholz in die Verbrennung zu geben? Eigentlich sollte es die Aufgabe eines Wertstoffgesetzes sein, ökologische Standards zu
setzen, also die Grenze so hoch anzusetzen, dass ein
ganz hoher Anteil des Abfalls stofflich verwertet wird.
Wie werden Sie im vorgesehenen Wertstoffgesetz damit
umgehen?
Wir haben den Grenzwert von 11 000 Kilojoule pro
Kilogramm lange diskutiert, nicht nur mit dem Parlament, sondern auch mit allen beteiligten Kreisen. Wir
haben neben diesem Grenzwert eine Abfallhierarchie
mit fünf Stufen eingeführt. Wir hoffen und erwarten,
dass hier noch trennschärfer vorgegangen wird. Ich
meine jedenfalls, dass wir angesichts der Verwertungsquoten gerade auch im europäischen Vergleich einen
ganz großen Erfolg verbuchen und verzeichnen können,
wenn es darum geht, mit den Abfällen ökologisch umzugehen. Diesem Ziel wird sich auch ein potenzielles Wertstoffgesetz verschreiben. Wir wollen jedenfalls daran arbeiten, dass wir die Quoten weiter nach oben setzen.
Jetzt kommt eine Reihe von Fragen, die schriftlich zu
beantworten sind. Es handelt sich um die Fragen 3 und 4
der Kollegin Ute Vogt, die Fragen 5 und 6 der Kollegin
Sylvia Kotting-Uhl, die Fragen 7 und 8 des Kollegen
Dr. Hermann E. Ott, die Fragen 9 und 10 des Kollegen
Frank Schwabe sowie die Fragen 11 und 12 des Kollegen Dr. Matthias Miersch.
Wir kommen dann zur Frage 13 der Kollegin
Dr. Bärbel Kofler. Ist sie anwesend? - Sie ist nicht anwesend. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung
vorgesehen.
Die Frage 14 des Kollegen Hans-Josef Fell soll
schriftlich beantwortet werden.
Dann kommen wir zur Frage 15 der Kollegin
Waltraud Wolff:
Wie bewertet die Bundesregierung die in § 64 f Nr. 2 des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes, EEG, beschriebenen variablen Vergütungen für Strom aus Biomasse, die sich etwa an
Tageszeiten oder Börsenpreisen orientieren und somit eine bedarfsgerechte Einspeisung fördern, und gedenkt die
Bundesregierung, das Vergütungssystem dahin gehend zu ändern?
Sehr geehrte Frau Kollegin Wolff, ich beantworte Ihre
Frage wie folgt: Die Vergütungsregelungen für Strom
aus Biomasse im Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden
zum 1. Januar 2012 umfassend novelliert. Mit der Marktprämie wurde ein neues Instrument zur Verbesserung der
Marktintegration der erneuerbaren Energien sowie mit
der Flexibilitätsprämie ein neues Instrument zur Förderung der bedarfsgerechten Einspeisung von Biogas eingeführt. Die Wirkung der neuen Regelungen wird nun
im Rahmen des laufenden Vorhabens eines EEG-Erfahrungsberichts wissenschaftlich untersucht. In dem Zusammenhang wird auch geprüft, ob und inwieweit von
der im EEG festgeschriebenen Verordnungsermächtigung Gebrauch gemacht werden soll. Kurzfristige Anpassungen der Vergütungsregeln für Energie aus Biomasse nach dem EEG sind derzeit nicht vorgesehen.
Gibt es Nachfragen? - Bitte, Herr Lenkert.
Frau Staatssekretärin, was die Marktprämie angeht,
kann ich Ihnen nicht so ganz folgen, weil dem Umweltausschuss gerade eine Verordnung zur Novellierung vorliegt. Ich möchte Sie trotzdem fragen: Sind Sie nicht der
Meinung, dass es aufgrund der anderen fluktuierenden
erneuerbaren Energien dringend notwendig wäre, die
Nutzung der einzigen erneuerbaren Energie, die problemlos zu beliebigen Zeiten abgerufen werden kann,
dahin gehend zu optimieren, dass sie im Prinzip nicht
dann erzeugt wird, wenn die Sonne scheint oder der
Wind weht, sondern dann, wenn wir sie brauchen, also
wenn nicht ausreichend Energie aus Sonne und Wind zur
Verfügung steht? Sollte die Bundesregierung an dieser
Stelle nicht endlich Vorschläge für die Gesetzgebung unterbreiten?
Herr Kollege, das Erneuerbare-Energien-Gesetz wird
fortlaufend überprüft und fortgeschrieben. Allein in dieser Legislaturperiode haben wir das dreimal praktiziert.
Ich meine schon, dass die Marktprämie, die in den Bereichen Wind, PV und Biomasse gezahlt wird, auch deshalb ein Erfolg ist, weil erstmals gezeigt werden konnte,
dass Strom aus erneuerbaren Energien, auch wenn er
fluktuierend ist, vermarktungsfähig ist. Ich meine, dass
das ein Erfolg ist. Im Bereich Biomasse müssen wir hier
auch nicht korrigieren.
Sie sprechen an, was getan werden kann, um erneuerbare Energien grundlastfähig zu machen. Ich bin der
Überzeugung, dass mit Blick auf den nächsten Erfahrungsbericht wissenschaftliche Gutachten in Auftrag geben werden, um herauszufinden, wie wir eine optimale
Kombination aus stark fluktuierenden Energien, nämlich
Wind und Sonne, und grundlastfähiger Biomasse hinbekommen. Eine der nächsten Fragen, die ich gleich zu beantworten habe, bezieht sich auf Kombikraftwerke.
Auch das ist eine Möglichkeit, beide Dinge miteinander
zu verbinden.
Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Waltraud Wolff
auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeit, mithilfe von Kombikraftwerken/virtuellen Kraftwerken die Systemintegration von erneuerbaren Energien voranzutreiben,
und unterstützt sie entsprechende Projekte?
Frau Kollegin Wolff, Sie haben sich tatsächlich nach
Kombikraftwerken und virtuellen Kraftwerken erkundigt; das korrespondiert insofern ganz schön. Kombikraftwerke bzw. virtuelle Kraftwerke bieten einerseits
die Möglichkeit zur bedarfsgerechten Einspeisung erneuerbarer Energien und andererseits auch zur Erbringung von Systemdienstleistungen. Sie können dadurch
wichtige Funktionen im Energieversorgungssystem
wahrnehmen und zur Markt- und Systemintegration der
erneuerbaren Energien beitragen.
Vor diesem Hintergrund fördert das Bundesumweltministerium Forschungsprojekte in Bezug auf Technologieentwicklung und Demonstration von Kombikraftwerken und virtuellen Kraftwerken im Förderschwerpunkt
„Integration erneuerbarer Energien und regenerative
Energieversorgungssysteme“. Dieser Forschungsschwerpunkt wird kontinuierlich ausgebaut. Aktuell werden
20 Projekte im Bereich Kombikraftwerke/virtuelle
Kraftwerke mit einem Gesamtvolumen von rund 13 Millionen Euro gefördert.
Keine Nachfrage? - Danke schön.
Die Frage 17 des Kollegen Dirk Becker wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 18 der Kollegin Lisa Paus auf:
Inwieweit kann sich die Bundesregierung der Ankündigung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Peter Altmaier, am zweiten Tag der Energieeffizenz am 12. September 2012 in Berlin anschließen, nach
der bei der steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung in
spätestens acht Wochen eine Einigung erzielt sein wird, und
welche Schritte unternimmt die Bundesregierung, um die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss erfolgreich abschließen zu können?
Sehr geehrte Frau Kollegin, Bundesminister Altmaier
hat in seiner Rede am 12. September dieses Jahres seiner
Hoffnung Ausdruck verliehen, dass es im Vermittlungsausschuss noch zu einer Einigung kommen wird. Mit
diesem Ziel führt die Bundesregierung Gespräche mit
den Ländern.
Nachfrage?
Die Formulierung war ja doch etwas klarer. Herr
Altmaier hat angekündigt - so ist es nicht nur von einem,
sondern von verschiedenen Teilnehmern wahrgenommen worden -: Es wird in den nächsten sechs bis acht
Wochen ein Ergebnis geben, die Förderung wird kommen. Da ich selber an entsprechenden Gesprächen beteiligt war, kann ich mich sehr gut daran erinnern, dass
das Kanzleramt uns zu Beginn der Sommerpause gesagt
hat: Es wird gegen Ende der Sommerpause noch einmal
eingeladen, um zu einer Einigung bei der steuerlichen
Förderung energetischer Sanierung zu kommen. Diese
Einladung ist bis heute ausgeblieben. Aber um einen
Kompromiss zu finden, muss man doch vorher miteinander reden. Daher frage ich Sie noch einmal: Woher
nimmt Herr Altmaier seinen Optimismus, dass es in acht
Wochen zu einem Ergebnis kommt, wenn bisher nicht
einmal eine Einladung an die Länder und die entsprechenden Fraktionen ergangen ist?
Zunächst ist festzuhalten: Der Herr Bundesminister
ist ein grundsätzlich optimistischer Mensch,
({0})
und sein Optimismus gilt vor allem der Kompromissbereitschaft im Bundesrat, dessen Handeln momentan von
SPD-geführten Ländern und auch von grünen Landesregierungen maßgeblich bestimmt und beeinflusst wird.
Insofern erwarten und hoffen wir - darauf richtet sich
sein Optimismus -, dass am Ende des Tages die allgemeine Einsicht zustande kommt, dass die steuerliche
Abschreibung energetischer Sanierungsmaßnahmen äußerst sinnvoll und eine wichtige Ergänzung zu anderen
Förderprogrammen des Bundes ist.
Wir haben im gesamten Vermittlungsverfahren viele
Vorschläge gemacht, man ist aufeinander zugegangen;
aber tatsächlich ist es schwierig, nachzuvollziehen, wieso
die Hebelwirkung von eins zu zwölf - sprich: 1 vom
Bund investierter Euro löst am Ende 12 Euro an privaten
Investitionen aus - nicht auch durch den Bundesrat anerkannt wird. Ich finde das schade. Ich meine und hoffe
- auch der Minister ist, wie gesagt, optimistisch -, dass
wir zu einer Einigung kommen können.
Weitere Nachfrage? - Bitte.
Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass es kein
weiteres Angebot der Bundesregierung geben wird, sondern dass das, was auf dem Tisch liegt, für die Bundesregierung das letzte Wort ist? Auf dieser Grundlage
muss es einen Kompromiss geben, weil es sonst keinen
gibt? Habe ich Sie richtig verstanden? Es gibt keine
weiteren Initiativen oder Angebote seitens der Bundesregierung?
Wir führen derzeit Gespräche. Diese Gespräche führen wir so, dass wir am Ende des Tages hoffentlich zu einer gemeinsamen Lösung kommen werden.
Die Frage 19 der Abgeordneten Dr. Martina Bunge
wird schriftlich beantwortet. - Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Die Fragen 20 bis 30 zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung werden
schriftlich beantwortet. Es handelt sich um die Fragen 20
und 21 des Kollegen René Röspel, die Fragen 22 und 23
der Kollegin Marianne Schieder, die Frage 24 des Kollegen Klaus Hagemann, die Frage 25 des Kollegen Oliver
Kaczmarek, die Fragen 26 und 27 des Kollegen Michael
Gerdes, die Frage 28 des Kollegen Dr. Ernst Dieter
Rossmann sowie die Fragen 29 und 30 des Kollegen
Swen Schulz.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Uwe Kekeritz
auf:
Welche geförderten Zeitschriften lässt sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, vor der Veröffentlichung zur Prüfung vorlegen, und, neben dem jetzt bekannt gewordenen Fall im
Zusammenhang mit einem Artikel der Zeitschrift Südlink
({0}), in welchen weiteren Fällen wurde auf die Veröffentlichung einzelner Artikel Einfluss genommen?
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Kekeritz, über das Förderprogramm Entwicklungspolitische Bildung werden Mittel an staatliche und nichtstaatliche Organisationen für entwicklungspolitische Bildungsmaßnahmen im Inland zur Verfügung gestellt.
Darunter fallen auch, wie in diesem Fall, Publikationen.
Voraussetzung für die Förderung von Maßnahmen mit
Mitteln aus diesem Programm ist, dass sie einem Bildungsanspruch, und zwar einem entwicklungspolitischen Bildungsanspruch genügen. Vor diesem Hintergrund wird der Zuschussempfänger laut Fördervertrag
verpflichtet, im Falle von Publikationen eine Übersicht
über die Inhalte von Drucklegungen vorzulegen. Von
diesem Recht macht das BMZ Gebrauch, wenn es Anlass zu der Befürchtung hat, dass die Förderkriterien
nicht eingehalten werden. Insbesondere die Finanzierung von Kampagnenarbeit ist durch das genannte Programm nicht gedeckt. Das ist den Zuschussempfängern
bekannt. Das wird in kritischen Fällen mit dem Zuschussempfänger regelmäßig und detailliert erörtert.
Nachfrage? - Bitte schön.
Danke sehr, Frau Staatssekretärin. Ich muss mich jetzt
etwas wundern. Die Antwort, die Sie mir eben gegeben
haben, haben Sie mir bereits auf eine andere schriftliche
Frage gegeben. Insofern hatte Ihre Antwort keinen
neuen Gehalt.
Es geht hier um die Frage, ob das BMZ Zensur ausübt
oder nicht. Ich habe extra nachgelesen: Zensur ist ein
politisches Verfahren, um Inhalte zu kontrollieren. Wenn
das BMZ an einen Verleger oder Journalisten herantritt
und sagt: „Wenn du das veröffentlichst, kürzen wir dir
die Mittel“, ist das per Definition Zensur. Es stellt sich
die Frage: Wie kommt das BMZ überhaupt dazu, einer
Zeitschrift wie Südlink - es geht um die 161. Ausgabe;
es gibt diese Zeitschrift also schon sehr lange - Gelder
zu genehmigen, wenn Sie davon ausgehen, dass in dieser
Zeitschrift bedenkliche Texte veröffentlicht werden? Ich
denke, dass das nicht legitim ist. Gerade für Politiker der
FDP, einer Partei, die das Liberale im Titel trägt, sollten
die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit ganz hoch
angesiedelt sein.
Herr Kollege Kekeritz, genau das ist unser Anspruch.
Es geht nicht um eine Zensur, sondern es geht darum,
dass wir staatliche Gelder, also Steuermittel, an einen
Verein geben, der sich mit seiner Unterschrift und aufgrund der Tatsache, dass er Steuermittel erhält
- 100 000 Euro und es gibt einen Antrag auf Aufstockung der Mittel -, verpflichtet, bestimmte Kriterien
einzuhalten. Das BMZ finanziert keine Polemik auf
Staatskosten, sondern Publikationen, die einen Bildungsauftrag haben. Dafür gibt es Geld. Dieser Bildungsauftrag bedingt - davon gehen wir aus - eine ausgewogene
und sachliche Berichterstattung, in der ein Problemfeld
aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt wird. Es darf
nicht einseitig berichtet werden. In der letzten Ausgabe
war das aber so. Wir haben über „Engagement Global“
- das ist ja auch der direkte Ansprechpartner von Südlink darauf hingewiesen, dass sie doch ihre eigene Sichtweise
auf eigene Kosten veröffentlichen können, aber bitte
nicht auf Staatskosten.
Der Fragesteller hat noch eine Nachfrage. - Bitte
schön.
Danke, Frau Staatssekretärin. Sie haben in der Begründung, warum Sie diesen Artikel nicht veröffentlicht
haben wollen, den Begriff „Verunglimpfung Dritter“
verwendet. Ich habe diesen Artikel gelesen. Er ist sauber
recherchiert und entspricht den normalen Anforderungen
einer vernünftigen journalistischen Arbeit. Wenn Sie
Zeitung lesen und Radio hören, dann werden Sie in den
letzten sechs Monaten mindestens 100 solcher ähnlichen
Berichte und Dokumentationen vernommen haben. Es
ist für mich nicht begreiflich, warum sich das Entwicklungsministerium plötzlich auf die Füße stellt und sagt,
das dürfe man in dieser Form nicht mehr machen. In dieser Form passiert es zurzeit hundertfach, nicht, weil es
darum geht, irgendjemanden zu diffamieren, sondern
weil damit einfach die Realität tatsächlich souverän und
präzise abgebildet wird.
Herr Kollege Kekeritz, noch einmal: Die Gewährung
von Steuermitteln für die Publikation ist an eine ausgewogene, sachlich differenziert dargestellte Problematik
gebunden. Die Ausgabe, die Sie eben zitiert haben, enthält eben keine Ausgewogenheit,
({0})
sondern eine sehr einseitige Darstellung. Dagegen verwahren wir uns. Wir unterstützen damit ja keine allgemeine Zeitung, sondern es geht hier um einen Bildungsauftrag. Bildung heißt, dass derjenige, der diesen Artikel
liest, auch in die Lage versetzt wird, sich eine eigene
Meinung zu bilden. Das kann man nicht, wenn letztlich
eine einseitige Sichtweise dargestellt wird, noch dazu in
einer Art und Weise, die ich als nicht ausgewogen empfinde.
Sie mögen sämtliche Sachverhalte sehr genau kennen.
Aber ich finde, da muss man wenigstens der Gegenseite
die Chance geben, zu diesen Anschuldigungen oder angeblichen Tatsachen, die verbreitet werden, Stellung zu
beziehen. Alles andere ist Verunglimpfung, und die wollen wir nicht mit Steuermitteln finanzieren.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Die Frage 32 der Kollegin Dr. Bärbel Kofler soll
schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur
Beantwortung steht zur Verfügung der Parlamentarische
Staatssekretär Peter Hintze.
Die Frage 33 des Kollegen Hans-Josef Fell soll
schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zur Frage 34 des Kollegen Oliver
Krischer.
Welche konkreten Inhalte soll die von der Bundesregierung laut zahlreichen Medienberichten ({0}) geplante
gesetzliche Regelung haben, mit der Stilllegungen von Kraftwerken verboten werden sollen, und welche Entschädigungsregelung ist für die Kraftwerksbetreiber angedacht?
Schönen Dank, Herr Präsident. - Der Herr Kollege
Krischer hat von uns schon eine ausführliche Darlegung
bekommen. Da die anderen sie nicht bekommen haben,
möchte ich sie kurz skizzieren.
Es geht bei diesem Gesetzgebungsvorhaben um die
Sicherung der Versorgungssicherheit im Winter, damit
wir eine Situation, wie wir sie im letzten Winter erlebt
haben, nicht mehr erleben und zu jedem Zeitpunkt
sicherstellen können, dass wir an allen Stellen in
Deutschland Strom zur Verfügung haben.
Die einzelnen Eckpunkte der Neuregelung sind erstens verbindliche Meldepflichten für Kraftwerksstilllegungen, damit wir, wenn ein systemrelevantes Kraftwerk stillgelegt werden soll, einschreiten können,
zweitens eine entsprechende Entschädigungsregelung,
die dann bei einer solchen Stilllegungsabwendung fällig
wird, drittens Transparenz bezüglich der Kontrahierung
von Reservekraftwerken - Stichwort „Netzreserve“ -,
viertens die Absicherung der Belieferung systemrelevanter Gaskraftwerke bei Engpässen und fünftens eine Evaluierung dieser Regelung. Ich kann dies im Einzelnen
noch ausführen; aber Kollege Krischer hat das ja von uns
zugesandt bekommen. Das hat sich mit seiner Anfrage
überschnitten.
Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. In der Tat ist es
so gewesen, dass Ihr Brief eingegangen ist, nachdem ich
meine Frage gestellt hatte. Dennoch bleibt für mich einiges im Unklaren.
Insbesondere interessiert mich die Frage, wie konkret
Sie das andenken, ob die Regelungsinhalte, die Sie
gerade aufgezählt haben, im Energiewirtschaftsgesetz so
verankert werden sollen oder ob dies über eine Verordnungsermächtigung geschehen soll. Es werden ja insbesondere die Fragen zu klären sein, welche Kraftwerke
das Ganze in welcher Höhe betrifft, welche Entschädigungen zu leisten sind und welche Berechnungsbasis
dabei zugrunde gelegt wird.
Wir müssen uns ja darüber im Klaren sein, dass das,
so vermute ich, am Ende über die Nutzungsentgelte finanziert werden soll; die Finanzierung müssten sie noch
darlegen.
Deshalb die Frage: Werden diese Dinge im Parlament
geregelt, oder beabsichtigt die Bundesregierung, eine
Formulierungshilfe an die Koalitionsfraktionen zu
geben, die dann nur eine Verordnungsermächtigung enthält?
Weder noch. Ich erläutere es Ihnen gerne. Technisch
ist der Weg eine Formulierungshilfe. Der Regelungsort
soll in der Tat die Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz
werden. Das würde dann von den Fraktionen im Zuge
der Gesetzesberatungen so eingebracht. Die von mir genannten Eckpunkte kommen ins Gesetz. Die Details
kommen in eine Rechtsverordnung, und die Ermächtigung dazu findet sich im Gesetz.
Weitere Nachfrage? - Bitte.
Der nächste Winter ist ja nicht mehr weit. Wir müssen
also sehr schnell konkrete Entscheidungen treffen. Wenn
die Gesetzesnovelle ansteht, muss geschaut werden, welche Kraftwerke und welche Betreiber davon betroffen
sein werden. Können Sie schon heute Angaben zur Höhe
der Kapazitäten machen und dazu, welche Kraftwerke
und Betreiber in welchen Regionen von Deutschland davon betroffen sein werden?
Das Gesetz kann - das sehen wir, wenn wir uns den
Gesetzgebungsfahrplan für die Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz anschauen - frühestens im Januar 2013
in Kraft treten. Die volle Wirksamkeit ist also erst für
den übernächsten Winter gegeben. Das heißt, die Maßnahmen für diesen Winter müssten im Wesentlichen so
angedacht und vertraglich durchgeführt werden, wie es
im letzten Winter geschehen ist. Allerdings würde die
verbindliche Verpflichtung, Stilllegungen anzumelden
und von der Anmeldung bis zur Stilllegung zwölf
Monate verstreichen zu lassen, um entsprechende administrative Eingriffsmöglichkeiten zu geben, ab Januar
gelten.
Die Sorge hinsichtlich der Versorgungssicherheit
richtet sich stark auf Süddeutschland. Das gilt für die
nächsten Jahre, bis die großen Stromleitungsprojekte,
etwa die Thüringer Strombrücke, fertiggestellt sind,
durch die die Versorgungslücke geschlossen und eine
größere Sicherheit hergestellt werden soll. In diesem
Winter sind wir darauf angewiesen, dass die Übertragungsnetzbetreiber ähnliche Vereinbarungen wie im
letzten Winter treffen. Das Gebiet, auf das sich die Sorge
im Wesentlichen richtet, ist Süddeutschland.
Vielen Dank. - Wir kommen zur Frage 35 des Kollegen Krischer, die sich mit der Vereinfachung des
Planungsrechts beim Stromnetzausbau befasst:
Welche konkreten Überlegungen hat die Bundesregierung
zur Vereinfachung des Planungsrechts beim Stromnetzausbau
- so wie sie der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen
Homann, laut dpa am 20. September 2012 fordert -, und welche Gesetze, Verordnungen etc. müssten hierfür verändert
werden?
Hier liegt, glaube ich, ein Missverständnis vor. Der
Präsident der Bundesnetzagentur, auf den der Kollege
abhebt, hat nicht vorgeschlagen, neue Gesetze oder
Vorschriften zu erlassen, sondern er hat sich dafür ausgesprochen - er teilt damit die Einschätzung der Bundesregierung bzw. wir teilen seine -, dass das Instrumentarium des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes möglichst
schnell aktiviert werden sollte. In dem Sinne hat er sich
geäußert. Wir planen also keine neuen Gesetze, sondern
wir planen die Aktivierung dieses Instrumentariums.
Nachfrage?
Ich habe das Zitat von Herrn Homann nur als Beispiel
genommen. Wie gesagt, in der Meldung wird er etwas
anders wiedergegeben. Gut, es mag sein, dass er missverstanden worden ist.
Ich möchte nachfragen: Ihr Minister, Herr Rösler, hat
mehrfach öffentlich geäußert, dass er Naturschutzrecht
ändern möchte, um Netzausbau zu ermöglichen. Ich
habe bereits schriftlich nachgefragt, welche Veränderungen die Bundesregierung konkret plant. Die Antwort
war: Die Bundesregierung plant keine Veränderungen.
Ich möchte Sie bitten, hier jetzt aus Sicht der Bundesregierung klarzustellen: Wird es irgendwelche Veränderungen, zum Beispiel von Rechtsnormen, insbesondere
im Hinblick auf Naturschutzrecht geben? Planen Sie da
etwas, oder planen Sie nichts?
Solche Planungen gibt es derzeit nicht.
Weitere Nachfrage?
Das heißt, ich kann die Äußerungen von Herrn Minister Rösler, dass sich Naturschutzrecht ändern muss, als
Dampfplauderei bezeichnen?
Das können Sie nicht, weil das erstens beleidigend
wäre und zweitens den Sachverhalt verfehlt. Herr Minister Rösler hat darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland in der erfreulichen Situation sind, dass große Teile
des Bundesgebietes Naturschutzgebiete sind, und dass es
zu Schwierigkeiten kommt, wenn wir im Rahmen der
Umsetzung der Energiewende den Leitungsausbau vorantreiben. Hier besteht das Problem, dass Vorschriften
kollidieren. Das ist ein ernsthafter Gedanke. Aber ich
habe Ihnen ja auf Ihre Frage geantwortet, dass es keine
derartigen Planungen gibt. Das ist die Auffassung der
gesamten Bundesregierung, auch die von Herrn Bundesminister Rösler.
Jetzt gibt es eine Nachfrage der Kollegin Steiner. Bitte.
Danke, Herr Präsident. - Diese Frage fordert mich als
Umweltpolitikerin natürlich zu folgender Überlegung
heraus: Kann es sein, dass der Wirtschaftsminister, der
Naturschutzbelangen ohnehin nicht besonders wohlwollend gegenübersteht, dies benutzt hat, um von den eigentlichen Problemen abzulenken, die darin bestehen,
dass der Netzausbau gerade vonseiten des Wirtschaftsministeriums im ganzen letzten Jahr nicht mit Ernst und
nicht sorgfältig betrieben worden ist, was uns in die Situation gebracht hat, in der wir uns jetzt befinden?
Geschätzte Frau Kollegin, da Sie, wie Sie eben selbst
sagten, Ihren Schwerpunkt in der Umweltpolitik sehen,
hatten Sie wahrscheinlich nicht genug Zeit, um mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, wie engagiert das Bundeswirtschaftsministerium den Netzausbau betrieben und
vorangetrieben hat. Ich könnte Ihnen das jetzt im Einzelnen vortragen; aber ich erspare es uns. Insofern: Ihre
Vermutung ist in jeder Hinsicht falsch.
Auch Ihre Vermutung, Bundesminister Rösler habe
kein Herz für den Naturschutz und er sei ihm nicht wichtig, ist falsch. Er hat darauf hingewiesen, dass aufgrund
des Reichtums an Naturschutzgebieten in Deutschland
zwischen dem beschleunigten Netzausbau und einschlägigen Vorschriften ein Zielkonflikt besteht. Ich kann Ihnen aber sagen: Bundesminister Rösler ist ein Freund
des Naturschutzes.
Danke.
Herr Staatssekretär, es gibt eine weitere Nachfrage,
und zwar von Frau Kollegin Britta Haßelmann. - Bitte
schön, Frau Kollegin Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Hintze, ich habe
eine Nachfrage. Herr Minister Rösler hat der Presse zum
Thema Netzausbau öffentlich mitgeteilt, dass er, um den
Netzausbau in Deutschland voranzubringen, unter anderem beabsichtigt, das Naturschutzgesetz zu ändern. Wir
möchten von der Bundesregierung wissen: Plant die
Bundesregierung, das Naturschutzgesetz zu ändern, oder
nicht? Da Sie Staatssekretär im Wirtschaftsministerium
sind, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie dazu eine präzise
Aussage treffen könnten. Dann könnten wir sie bewerten, und dann könnte auch öffentlich bewertet werden,
ob sie mit den vielen Ankündigungen, die der Wirtschaftsminister in dieser Frage gemacht hat, in Einklang
zu bringen ist.
Ich möchte Ihnen nicht unterstellen, Frau Kollegin,
dass Sie nicht sorgsam zuhören. Aber ich habe auf die
klugen Fragen Ihres Kollegen Krischer und Ihrer Kollegin Steiner klar und präzise gesagt, dass eine solche Änderung nicht beabsichtigt ist.
Ich sehe, dass es hierzu keine weiteren Nachfragen
gibt.
Die Fragen 36 und 37 des Kollegen Martin Dörmann
und die Fragen 38 und 39 der Kollegin Beate Walter-Rosenheimer werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zur Frage 40 der Kollegin Katja
Keul:
Welche Auswirkungen sieht die Bundesregierung durch
eine Fusion von EADS und BAE Systems für den europäischen Rüstungsmarkt, und sieht sie die Notwendigkeit, hier
marktregulierend einzugreifen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Die Bundesregierung prüft derzeit alle mit einer möglichen Fusion - sie ist ja noch nicht beschlossen, und es
gibt auch noch keine politische Entscheidung der Bundesregierung, wie sie sich letztendlich dazu verhält - im
Zusammenhang stehenden rechtlichen Fragen, die
Standortfrage, die industriepolitischen Fragen und die
technologiepolitischen Fragen. Derzeit liegen uns noch
nicht alle Fakten zur genauen Struktur des zukünftigen
Unternehmens vor. Das hat seine Ursache unter anderem
im britischen Aktienrecht. Hier geht es ja um eine Joint
Operating Company, die nach englischem und niederländischem Recht möglich ist und die, auch was die Struktur betrifft, bestimmte Informationsrestriktionen zur
Folge hat, sodass wir Ihre Frage, welche Auswirkungen
eine mögliche Fusion, wenn es zu ihr kommt, hätte, noch
nicht abschließend beantworten können.
Frau Kollegin Katja Keul, Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe eine Nachfrage. Das Wirtschaftsministerium hat uns ja in seinem
schriftlichen Bericht informiert, auch über die geplante
Fusion. Der Anlage konnten wir Folgendes entnehmen:
BAE Systems und EADS betreiben hochsensible
und stark gesicherte Rüstungsunternehmen
- dann wird aufgezählt in den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien, Saudi-Arabien …
Da ich davon ausgehe, dass es an dieser Stelle nicht um
EADS geht, lautet meine Frage: Was sind das für Rüstungsunternehmen, die BAE Systems in Saudi-Arabien
betreibt, und wie bewertet die Bundesregierung die Tätigkeit dieser Unternehmen im Hinblick auf deutsche
Rüstungskontrollstandards?
Erstens ist mir nicht bekannt, was in Saudi-Arabien
betrieben wird. Zweitens kann ich, wie Sie meiner ersten
Antwort entnehmen konnten - vielleicht auch nicht,
dann muss ich es noch einmal genauer erläutern -, die
Frage, welche Firmenteile überhaupt in diese Joint Operating Company aufgenommen werden, wenn sie gebildet wird, jetzt auch noch nicht beantworten.
Insofern kann ich Ihnen Ihre Frage nicht beantworten.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin.
Ich hoffe, dass die Bundesregierung meine Sorge teilt.
Ich will meine Frage etwas allgemeiner formulieren:
Wird die Bundesregierung, bevor sie endgültig ihre Zustimmung zu dieser Fusion gibt, auch prüfen, inwiefern
durch diesen weltweit operierenden Konzern deutsche
Rüstungsexportkontrollvorschriften möglicherweise ins
Leere laufen könnten?
Erstens ist die Haltung der Bundesregierung zur Fusion noch völlig offen; das habe ich gesagt. Zweitens
werden wir, falls es zu einer solchen Fusion kommt, die
von Ihnen angesprochenen Fragen gründlich prüfen auch die rechtliche Frage, ob es hier überhaupt eine Genehmigungspflicht hinsichtlich der Fusion gibt oder
nicht. Es gibt ja auch Standorte dieses gemeinsamen Unternehmens in Deutschland, weswegen wir durch diese
Fusion möglicherweise betroffen sind.
Das sind rechtliche Fragen, die zu prüfen sind. Denen
werden wir auf alle Fälle nachgehen.
Vielen Dank.
Ich rufe jetzt die Frage 41 unserer Kollegin Frau
Katja Keul auf:
Inwiefern bindet die Bundesregierung die israelische Regierung in ihren Meinungsbildungsprozess zur Genehmigung
von Kriegswaffenexporten in Länder in der Nachbarschaft Israels ein?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Keul, wie Sie wissen und wie hier auch
von allen immer wieder vorgetragen wird - auch von allen Vorgängerregierungen; ich will jetzt nicht auf die
politische Farbenlehre eingehen -, treffen wir die Entscheidung über den Export von Kriegswaffen nach den
„Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den
Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem Jahr 2000 und nach dem „Gemeinsamen
Standpunkt 2008/944/GASP des Rates vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern“.
Bei Entscheidungen über Kriegswaffenexporte in die
Nachbarschaft Israels bezieht die Bundesregierung sicherheitspolitische Belange Israels stets in ihre Überlegungen mit ein.
Jetzt kommt die erste Nachfrage. Bitte schön, Frau
Kollegin Katja Keul.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, Sie werden nicht
überrascht sein, dass ich sage, dass mich diese Antwort
nicht überrascht.
Nein, das überrascht mich nicht. Ich wundere mich
trotzdem immer wieder.
Das war jetzt aber noch nicht die Frage.
Das hatte ich missverstanden, Herr Präsident. Ich
bitte um Nachsicht.
Über das hinaus, was Sie gerade gesagt haben, hat die
Bundesregierung ja schon immer deutlich gemacht, dass
sie solche Dinge unter Freunden natürlich auch im Vorfeld bespricht, damit niemand überrascht ist. So frage ich
Sie jetzt doch noch einmal, was im Falle der U-BootLieferung an Ägypten schiefgelaufen ist, sodass sich
namhafte Vertreter der israelischen Regierung und des
näheren Umfelds sehr erstaunt darüber gezeigt haben,
dass solche Konsultationen in diesem Fall offensichtlich
nicht stattgefunden haben.
Das ist eine Suggestivfrage, Frau Kollegin, bei der
Sie von verschiedenen Annahmen ausgehen, die nicht
zutreffen. Insofern sehe ich mich in dieser paradoxen
Fragesituation außerstande, mit einer Antwort auf Ihre
Frage einzugehen.
Ich darf noch eine weitere Nachfrage stellen, Herr
Präsident?
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sie haben gesagt - das war Ihrer nicht überraschenden Antwort jetzt auch zu entnehmen -, dass Sie israelische Sicherheitsbedenken durchaus einbeziehen. Auf
wen bezieht sich das bei Entscheidungen über Rüstungsexporte in die Region noch? Würden Sie umgekehrt also
beispielsweise auch Saudi-Arabien konsultieren, bevor
Sie U-Boote an Israel liefern, und haben Sie Israel einbezogen, bevor Sie Panzer nach Saudi-Arabien geliefert
haben?
Nach welchen Kriterien bindet die Regierung
Freunde in der Region in diese Entscheidungen ein, und
wann tut sie das nicht?
Die Antwort auf die Frage, was die Bundesregierung
in welcher Situation tut, richtet sich natürlich nach dem
jeweiligen Einzelfall. Es ist jetzt bei diesem konstruierten Einzelfall sehr schwierig, die Sache durchzubuchstabieren.
({0})
- Sagen wir es so: eine von Ihnen liebevoll gestaltete
Einzelfrage zu beantworten.
Der Abwägungsprozess hängt jeweils vom Einzelfall
und vom Kontext ab. Deswegen kann Ihre Frage so generell nicht beantwortet werden. Legitime Sicherheitsinteressen und insbesondere die Auswirkungen von möglichen Ausfuhr- oder Herstellungsgenehmigungen werden
immer sorgfältig - sorgfältigst! - bedacht. Dabei lässt
sich die Bundesregierung von niemandem übertreffen.
({1})
- Ich bitte darum, das zu Protokoll zu nehmen.
Das wird alles aufgezeichnet und ist Inhalt des Protokolls.
Zur Frage 41 gibt es keine Nachfrage mehr, Herr
Staatssekretär. Die Frage 42 der Kollegin Viola von
Cramon-Taubadel wird schriftlich beantwortet. Ich darf
mich beim Herrn Staatssekretär herzlich bedanken.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Bei diesem Geschäftsbereich werden, so
sehe ich, nach meinen Unterlagen die Frage 43 der Kollegin Viola von Cramon-Taubadel, die Fragen 44 und 45
des Kollegen Tom Koenigs, die Frage 46 der Kollegin
Ulla Jelpke, die Frage 47 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele, die Fragen 48 und 49 des Kollegen Klaus
Brandner und die Fragen 50 und 51 des Kollegen
Manuel Sarrazin schriftlich beantwortet. Sind hier irgendwelche Kolleginnen oder Kollegen, die das anders
sehen? - Das ist nicht der Fall. Dann werden die Fragen
alle schriftlich beantwortet.
Somit komme ich jetzt zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums des Innern. Hier ist ebenfalls die
Situation, dass die Fragen 52 und 53 der Kollegin
Gabriele Hiller-Ohm, die Fragen 54 und 55 des Kollegen
Andrej Hunko, die Fragen 56 und 57 des Kollegen Mehmet Kilic und die Frage 58 der Kollegin Sevim Dağdelen
schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Die Frage 59 der Kollegin
Sevim Dağdelen sowie die Fragen 60 und 61 des Kollegen Dr. Sascha Raabe werden, so höre ich gerade,
schriftlich beantwortet.
Somit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Auch hier habe ich die
Mitteilung, dass die Frage 62 der Kollegin Lisa Paus, die
Frage 63 der Kollegin Priska Hinz und die Frage 64 der
Kollegin Diana Golze schriftlich beantwortet werden.
Wir gehen weiter in den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Hier werden
die Fragen 65 und 66 des Kollegen Dr. Ilja Seifert, die
Fragen 67 und 68 des Kollegen Markus Kurth, die Fragen 69 und 70 des Kollegen Willi Brase, die Frage 71
des Kollegen Oliver Kaczmarek, die Frage 72 des Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann und die Fragen 73 und
74 der Kollegin Sabine Zimmermann schriftlich beantwortet.
Ich komme jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Hier werden die Fragen 75 und 76 der
Kollegin Bärbel Höhn schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 77 des Abgeordneten
Friedrich Ostendorff.
({0})
Er hat mein Flehen gehört und die Telekommunikation
unterbrochen. Da der Herr Staatssekretär auch gerade in
den Saal kommt, wurden die Gespräche wahrscheinlich
schon vor der Tür geführt. Trotzdem wird das Hohe
Haus die Ehre haben, die Fragen und die Antworten insgesamt zu hören. Ich rufe also Frage 77 unseres Kollegen Friedrich Ostendorff auf:
Welche über die heutige Gesetzeslage hinausgehenden
Vorgaben zur Haltung von Tieren im Hinblick auf eine Reduktion des Antibiotikaeinsatzes können nach den Regelungen des Entwurfs eines 16. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes verordnet werden?
Sie wird vom Herrn Parlamentarischen Staatssekretär
Peter Bleser beantwortet. Ich bitte darum.
Danke schön, Herr Präsident. - Lieber Kollege
Ostendorff, nach dem im neuen Entwurf des 16. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes enthaltenen
§ 58 c Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 des Gesetzes kann die Behörde die dort beispielhaft angeführte Anforderung an
die Haltung von Tieren anordnen, soweit es zur wirksamen Verringerung der Anwendung von Antibiotika erforderlich ist und Rechtsvorschriften dem nicht entgegenstehen. Die Anordnungsbefugnisse der zuständigen
Behörde bewegen sich im Rahmen des Ermessensspielraums, dürfen geltende tierschutzrechtliche Vorgaben allerdings nicht beeinträchtigen.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Friedrich Ostendorff.
Schönen Dank für die freundliche Unterstützung des
Präsidenten. - Kollege Bleser, die Antwort führt mich zu
einer weiteren Frage. Es geht hier - ich muss einen Satz
erklärend anfügen - um das Zusammenspiel von Bund
und Ländern. Die Länder müssen bei erkennbaren Missständen zusammen mit den Betrieben handeln. Wie, denken Sie, ist das durchführbar, zum Beispiel bei der Haltung von Puten? Hier gibt es keine Haltungsverordnung
des Bundes. Auf welcher rechtlichen Grundlage würden
dann Antibiotikaminimierungspläne mit den Ländern
und den Betrieben zusammen erarbeitet werden? Da
fehlt mir das Zwischenglied der Verordnung auf der
Grundlage des Gesetzestextes.
Kollege Ostendorff, im Arzneimittelgesetz werden
diese Dinge nicht geregelt. Sie werden in den entsprechenden Verordnungen, wenn es sie gibt, präzisiert. Ansonsten werden, wenn Missstände erkennbar sind, von
den örtlichen Behörden entsprechende Maßnahmen eingeleitet bzw. in Kooperation mit dem Tierhalter und dem
Tierarzt durchgeführt.
Vielen Dank. - Kollege Ostendorff, Ihre zweite Nachfrage.
Einen Satz direkt dazu: Es fehlt die gesetzliche
Grundlage, auf der die Behörden das tun können.
Nun komme ich zu meiner zweiten Frage. Wenn
1 734 Tonnen Antibiotika in die Tierhaltung wandern,
wie letzte Woche vom Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit festgestellt wurde, und davon 99 Prozent in die Nutztierhaltung, wie wir heute
Morgen erfuhren, dann hängt das auch damit zusammen,
dass nach Feststellung der Länder Niedersachsen und
Nordrhein-Westfalen 75 Prozent dieser Antibiotikamengen in der Großtierhaltung zur Prophylaxe eingesetzt
werden. Prophylaktischer Einsatz ist aber verboten. Wie
wollen Sie ihn eliminieren? Das ist kriminelles Handeln.
Bisher wurde noch nichts dazu gesagt, wie man dem bestehenden Gesetz, mit dem wir seit 2006 den prophylaktischen Einsatz von Antibiotika verbieten, zur Geltung
verhelfen will.
Herr Kollege Ostendorff, die Anwendung von Antibiotika unterliegt zunächst einmal der Verordnung durch
den Tierarzt. Ohne die Verordnung darf niemand Antibiotika einsetzen. Dies ist eine entsprechende Entscheidung des Arztes, der die Notwendigkeit erkennen muss.
Vielen Dank. - Es gibt jetzt eine Nachfrage unserer
Kollegin Dorothea Steiner.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär Bleser,
als niedersächsische Abgeordnete ebenso wie Sie treibt
mich in Anbetracht der Zahlen für Niedersachsen dieses
Problem ganz besonders um. Weil jetzt mehrfach unterstrichen worden ist, dass die prophylaktische Gabe von
Antibiotika verboten ist, Sie aber dieses Problem im
Rahmen der Gesetzgebung nicht ausreichend berücksichtigen, frage ich Sie: Wie und in welcher Form wollen
Sie gewährleisten, dass entsprechende Kontrollen zur
Verhinderung prophylaktischer Gabe tatsächlich effektiv
durchgeführt werden?
Bitte schön.
Liebe Frau Kollegin, zunächst darf ich Sie darauf hinweisen, dass ich aus Rheinland-Pfalz komme.
({0})
Ansonsten beantworte ich Ihre Frage in der Weise, dass
wir mit dem neuen Arzneimittelgesetz gerade die Verpflichtung der Meldung von verabreichten Antibiotika
durch die landwirtschaftlichen Betriebe vorsehen. Insofern werden dann auffällige Betriebe erkennbar, und die
örtlichen Behörden können entsprechende Maßnahmen
einleiten, falls Missstände auftreten sollten.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen 78 und 79 des Kollegen Harald Ebner
werden schriftlich beantwortet ebenso wie die Frage 80
des Abgeordneten Dirk Becker. Damit ist dieser Geschäftsbereich beendet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Anwesend ist der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt. Die
Frage 81 der Kollegin Ulla Jelpke, die Frage 82 des Kollegen Hans-Christian Ströbele und die Frage 83 des Kollegen Omid Nouripour werden schriftlich beantwortet.
Das waren alle Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich.
Trotzdem vielen Dank für die Anwesenheit, was auch
nicht immer selbstverständlich ist.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Die Fragen 84 und 85 des Kollegen Gustav Herzog
und die Fragen 86 und 87 des Kollegen Uwe Beckmeyer
werden schriftlich beantwortet.
Vizepräsident Eduard Oswald
Die Fragen 88 und 89 wurden von der Kollegin Karin
Roth gestellt, die nicht im Saal ist. Es wird verfahren,
wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Die Frage 90 wurde von dem Kollegen Thomas
Jarzombek gestellt, der ebenfalls nicht anwesend ist. Es
wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Die Frage 91 des Kollegen Ulrich Kelber, die Fragen 92
und 93 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter und die Frage 94
von der Kollegin Cornelia Behm werden schriftlich beantwortet.
Die Fragen 95 und 96 wurden von der Kollegin Rita
Schwarzelühr-Sutter gestellt. Sie ist nicht da. Es wird
verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Die Zuhörerinnen und Zuhörer sollten wissen, dass
die Kolleginnen und Kollegen in Ausschuss- und Arbeitsgruppensitzungen sind, sodass es verständlich ist,
dass sie nicht immer rechtzeitig hier sein können.
Die Fragen 97 und 98 der Kollegin Ute Kumpf werden schriftlich beantwortet, ebenso wie die Fragen 99
und 100 des Kollegen Dr. Diether Dehm.
Ich rufe die Frage 101 der Kollegin Voß auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Einweihung des JadeWeserPorts am 21. September 2012 mit 1 000 Gästen vor
dem Hintergrund eines gefährlichen Chemiewrackfrachters
mit unbekannten Gefahrenstoffen am Kai?
Die Frau Kollegin ist anwesend. - Bitte schön, Herr
Staatssekretär.
Herr Präsident! Frau Kollegin, die Antwort der Bundesregierung lautet:
Der JadeWeserPort ist inzwischen wie erwartet ohne
Zwischenfall eröffnet worden. Für die Feierlichkeiten wurde
ein Ort auf dem Hafengelände gewählt, der einige Hundert Meter vom Sicherheitsbereich der „MSC Flaminia“
entfernt liegt.
Alle Gefahrgüter, die sich an Bord befinden, sind bekannt. An Bord des Schiffes werden weiterhin fortlaufend Luft-, Wasser- und Wischproben genommen, um
Gefährdungen von Menschen und Umwelt auszuschließen. Die Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft, das Gewerbeaufsichtsamt, das Wilhelmshavener Gesundheitsamt, die Behörde für Hafengesundheit,
die Feuerwehr und eine Spezialfirma als Brandwache
sind vor Ort und überwachen sämtliche Maßnahmen.
Die „MSC Flaminia“ ist zwar an einigen Teilen
schwer beschädigt, aber kein Wrack.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Johanna Voß.
Danke schön, Herr Präsident. - Dann möchte ich fragen: Wusste die Belegschaft der „MSC Flaminia“ über
die Gefahren auf dem Schiff Bescheid? Waren alle Gefahrstoffe bekannt? Sind die Gefahrstoffe der Bundesregierung jetzt bekannt? Waren und sind die Leute, die
dieses Schiff jetzt in Schach halten, im Umgang mit diesen Gefahrstoffen geschult?
Frau Kollegin, die Frage habe ich bereits beantwortet.
Natürlich sind alle Gefahrgüter, die sich an Bord befinden, bekannt. Die zuständigen Behörden habe ich aufgeführt.
Hat die Reederei Niederelbe Schiffahrtsgesellschaft
aus Buxtehude versucht, mit juristischen Mitteln zu verhindern, dass eine vollständige Gefahrgutliste der „MSC
Flaminia“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird?
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus
diesem Verhalten?
Ich glaube, das ist eine Frage, die Sie später gestellt
haben.
Sie hatten eine Nachfrage zu Frage 101. Sie sind also
vorgesprungen, sodass ich gerne aufgreife, was der Herr
Staatssekretär sagt, und Ihre Frage 102 aufrufe:
Handelt es sich bei den Mitarbeitern der Entsorgungs- und
Bergungsfirmen, die bei der „MSC Flaminia“ eingesetzt werden, um Freiwillige oder um Mitarbeiter, denen Sanktionen
angedroht worden sind, sollte die Arbeitsaufnahme verweigert werden, sowie um Leih- bzw. Zeitarbeiter?
Der Staatssekretär beantwortet nun die Frage 102.
Dazu lautet die Antwort der Bundesregierung: Der
Bundesregierung liegen darüber keine Erkenntnisse vor.
Die Mitarbeiter des Unternehmens, die die Entladung
des Schiffes vornehmen werden, wurden im August
2012 auf einer Betriebsversammlung eingehend über die
bevorstehende Aufgabe informiert. Die Personalvertretung war dabei anwesend. Die Mitarbeiter, die die Entsorgung vornehmen, sind ebenfalls durch das Unternehmen eingewiesen worden.
Alle Maßnahmen werden unter den hohen Anforderungen des Unfall-, Arbeits- und Gesundheitsschutzes
geplant, kontrolliert und durchgeführt. Eine Bergungsfirma ist - da nicht mehr notwendig - nicht eingesetzt.
Erste Nachfrage, Frau Kollegin Johanna Voß.
Dann noch einmal die Frage: Hat die Reederei Niederelbe Schiffahrtsgesellschaft aus Buxtehude versucht,
mit juristischen Mitteln zu verhindern, dass eine vollständige Gefahrgutliste der „MSC Flaminia“ der Öffent23294
lichkeit zugänglich gemacht wird? Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus?
Darüber liegen mir keine Erkenntnisse vor.
Danke.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 103 der Kollegin Jutta Krellmann
auf:
In welcher Form wurde vor dem Einlaufen der „MSC
Flaminia“ geprüft, ob die unfertige Infrastruktur, Brandschutz- und Sicherheitsversorgung des JadeWeserPorts für die
Aufnahme des havarierten Schiffes ausreicht?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Krellmann, die Antwort der Bundesregierung
lautet: Der Zuweisung eines Notliegeplatzes geht in
Deutschland eine umfangreiche Beurteilung, ein sogenanntes Assessment, voraus. Dabei werden unter anderem schnelle Erreichbarkeit und Infrastruktur, aber auch
Umweltfragen bewertet sowie Gefährdungsbeurteilungen erstellt. In Wilhelmshaven finden als drittgrößtem
Hafen Deutschlands mit einem hohen Anteil des Umschlags von Öl regelmäßig Übungen zur Bekämpfung
von Umweltschäden statt. Mit der Aufstellung des Hafenmanagementplans, der auch TÜV-geprüfte Alarmund Notfallpläne umfasst, waren die verantwortlichen
Stellen bei der JadeWeserPort Realisierungsgesellschaft
gut vorbereitet auf die Ankunft der „MSC Flaminia“. Es
erfolgte selbstverständlich bereits vor der Ankunft des
Schiffes eine intensive Zusammenarbeit mit allen maßgeblichen Behörden, Institutionen und Firmen. Diese
wird noch fortgesetzt in täglichen Jour fixes unter Leitung des Havariekommandos.
Vielen Dank. - Bevor ich Frau Kollegin Jutta
Krellmann das Recht zur ersten Nachfrage gebe, muss
ich die Parlamentarischen Geschäftsführer bitten, zu mir
zu kommen. Es geht um die Frage der weiteren Gestaltung der Tagesordnung, da wir schneller sind, als es der
geplante Zeitablauf vorsieht. Das müssen wir miteinander besprechen.
Frau Kollegin Jutta Krellmann, Sie haben Ihre erste
Nachfrage.
Vielen Dank. - Als jemand, der einmal Chemielaborantin gelernt hat, habe ich bei Ihrer Beantwortung der
Frage von Frau Voß zur Kenntnis genommen, dass der
Bundesregierung die einzelnen Gefahrstoffe bekannt
waren. Meine konkrete Nachfrage lautet: Über welche
Gefahrstoffe reden wir eigentlich?
Es handelt sich um eine ganze Reihe von Gefahrstoffen, die anhand eines Ladungsplans dem Havariekommando zugänglich sind. Ich habe diese Liste nicht dabei.
Ich kann sie Ihnen aber gerne schriftlich zur Verfügung
stellen.
Das wäre sehr nett. Vielen Dank.
Wie ich sehe, haben Sie dazu keine weitere Nachfrage.
Wir kommen jetzt zu Frage 104 der Kollegin Jutta
Krellmann:
Was für erprobte Katastrophenschutzpläne gibt es für den
JadeWeserPort, um auf unvorhergesehene chemische Reaktionen mit unbekannten Substanzen und Gasen in den Mengen
der „MSC Flaminia“ zu reagieren?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Krellmann, die Antwort der Bundesregierung lautet: Für den Katastrophenschutz in Deutschland sind die Bundesländer - in diesem Fall das Land
Niedersachsen - verantwortlich. Hier gibt es keine Zuständigkeit der Bundesregierung.
Ihre Nachfrage, bitte schön, Frau Kollegin Jutta
Krellmann.
Meine Nachfrage lautet: Wo wurde die „MSC Flaminia“ mit den Gefahrstoffen beladen, und welches waren
ihre Bestimmungsorte?
Dazu liegen mir keine Erkenntnisse vor. Das werde
ich Ihnen schriftlich nachliefern.
Das wäre sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Jutta Krellmann.
Die Fragen 105 und 106 der Kollegin Dorothee
Menzner werden nach der Geschäftsordnung behandelt,
da die Kollegin nicht anwesend ist.
Ich rufe die Frage 107 des Kollegen Herbert Behrens
auf:
Wie sollen nach Kenntnis der Bundesregierung die Gefahrgutcontainer von der „MSC Flaminia“ im JadeWeserPort
in Wilhelmshaven von Bord geladen werden, und wo sollen
sie ohne Gefährdung der Menschen, die in der Umgebung
wohnen, sicher gelagert bzw. entsorgt werden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Behrens, darauf möchte ich Ihnen wie
folgt antworten: Das Entladungskonzept des Germanischen Lloyd für die „MSC Flaminia“ sieht vor, Container und Löschwasser gleichermaßen zu entladen, um die
Stabilität des Schiffes zu erhalten. Vorrang haben die
Container, bei denen eine erhöhte Temperatur festgestellt wurde. Danach folgen die Gefahrgutcontainer. Die
Container werden mithilfe einer Art Wanne entladen und
bei Bedarf gereinigt. Unbeschädigte Container und Inhalte werden nach der Besichtigung durch die Versicherer an ihren ursprünglichen Bestimmungsort gebracht.
Beschädigte Container und Inhalte werden fachgerecht
entsorgt oder die Inhalte gereinigt und neu verpackt.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Herbert Behrens.
Vielen Dank für Ihre Antworten, Herr Staatssekretär. Nun haben Sie erzählt, was mit den einzelnen Gefahrgutcontainern vorgesehen ist, Sie haben aber nicht gesagt, wie hafenintern mit diesen Containern umgegangen
wird. Gibt es ein Zwischenlagerungskonzept, oder wird
sofort abtransportiert? Wie muss ich mir das vorstellen,
auch im Hinblick auf entsprechende Nachfragen aus der
Wilhelmshavener Bevölkerung?
Ich finde, ich habe Ihnen die Frage ausreichend beantwortet. Die Gefahrgutcontainer werden mit einer Art
Wanne entladen; das habe ich Ihnen gesagt. Diese
Wanne wird am Kai abgestellt. Dort erfolgt die fachgerechte Beurteilung und natürlich auch die Entsorgung für
den Fall, dass diese notwendig ist. Aus meiner Sicht ist
diese Frage eindeutig beantwortet worden. Es werden
selbstverständlich alle Arbeitsschutzvorschriften und
alle Umweltvorschriften eingehalten. Danach hatte die
Kollegin vorhin schon gefragt. Insofern gibt es keinen
Grund zur Sorge. Diese Sorgen können wir entkräften.
Ich rufe die Frage 108 unseres Kollegen Herbert
Behrens auf:
Wie sieht der „erste Teil eines Konzeptes“ für die „fachund umweltgerechte Entsorgung des Löschwassers“ ({0}) auf der „MSC Flaminia“ hinsichtlich der Zwischenlagerung des Löschwassers und des Abtransportes dieses Löschwassers aus?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Die Antwort der Bundesregierung lautet: Eine Zwischenlagerung ist nicht vorgesehen. Das Löschwasser
wird in Spezialschiffe umgepumpt und in den dafür vorgesehenen Einrichtungen fachgerecht entsorgt. Die Entsorgungskonzepte werden vor der Durchführung von den
zuständigen Fachbehörden geprüft sowie die durchzuführenden Maßnahmen kontrolliert. Über den Verbleib
des Entsorgungsgutes erfolgt die dafür vorgesehene gesetzliche Nachweisführung und Dokumentation.
Ihre Nachfrage, Kollege Behrens.
Ihrer Antwort entnehme ich, dass das Löschwasser
ausschließlich auf ein anderes Schiff oder andere Schiffe
umgepumpt wird. Es finden keinerlei Transporte über
die Straße statt; denn auch die Schienenanbindung des
JadeWeserPorts ist noch nicht realisiert.
So ist es.
Danke.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Bei den Fragen 109 und 110 verfahren wir nach unserer Geschäftsordnung, weil die Fragestellerin, die Kollegin Heidrun
Dittrich, nicht da ist.
Es gibt keine weitere Fragen in diesem Geschäftsbereich.
Wir sind auch am Ende der Fragestunde insgesamt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf den Fraktionen mitteilen, dass ich nach Abstimmung mit den
Fraktionsgeschäftsführern die Sitzung bis 17 Uhr unterbreche. Wir treffen uns zu unserer Aktuellen Stunde hier
um 17 Uhr wieder.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Besorgnis über die Parlamentswahlen in
Weißrussland
Bevor wir mit dem ersten Redner beginnen, weise ich
noch darauf hin, dass der Staatsminister im Auswärtigen
Amt durch eine gegenwärtig stattfindende Ausschusssitzung verhindert ist. Ich glaube, wir haben angesichts des
Vizepräsident Eduard Oswald
vorzeitigen Beginns unserer Sitzung Verständnis dafür.
Er wird, wie ich höre, in zehn Minuten da sein.
Ich rufe den ersten Redner auf. Für die Fraktion der
FDP spricht unser Kollege Patrick Kurth. Bitte schön,
Herr Kollege.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Übergang von einem autoritären Staat in eine Demokratie ist für jede Gesellschaft
eine große Herausforderung. Das erleben übrigens wir
Deutsche selbst auch 20 Jahre nach der deutschen Einheit. Obwohl wir - das muss man immer wieder deutlich
sagen - westlich der Elbe sozusagen einen großen Bruder hatten, obwohl wir in Ostdeutschland Westfernsehen
hatten, obwohl die gemeinsame Währung so schnell zu
uns kam, obwohl wir sehr schnell wiedervereinigt worden sind, obwohl wir auf all das nach über 20 Jahren
deutsche Einheit zurückblicken - vorhin haben wir über
den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2012
gesprochen -, gibt es noch erhebliche Differenzen.
Eben weil wir das einzige Land in der westlichen
Welt sind, das eine solche Transformationserfahrung hat,
können wir mit besonderer Glaubwürdigkeit über die Situation im östlichen Europa sprechen. Dabei ist es zwingend notwendig - das machen wir immer wieder -, dass
wir bei den Transformationsprozessen in den östlichen
Partnerländern differenzieren. Einige Staaten sind gute
Nachbarn geworden. Andere sind Partner und Freunde
Deutschlands.
Aber gerade weil wir differenzieren, verurteilen wir
aufs Schärfste die Vorgänge in Weißrussland. Die Menschenrechtslage dort ist katastrophal. Die brutale Unterdrückung Andersdenkender ist bekannt. Die rechtsstaatlichen Grundsätze werden mit Füßen getreten. Gerade
im Vorfeld der Wahlen haben wir dies gesehen. Präsident
Lukaschenko unterstrich, dass Gewalt und Einschüchterung die Visitenkarte des Regimes sind.
Die Wahl wurde so zur Farce: fairer Wettbewerb,
Meinungsstreit, Akzeptanz der politischen Opposition all dies haben wir in Weißrussland nicht gesehen. Stattdessen wurde gefälscht, was man bei Wahlen fälschen
kann: die Höhe der Wahlbeteiligung, die Stimmzettelauszählung und letztlich auch das Ergebnis. Dies widerspricht allen erdenklichen Grundsätzen einer demokratischen und transparenten Wahl. Der Wahlboykott der
Opposition war unter diesen Umständen folgerichtig.
Angesichts der Brutalität des Regimes will ich ganz
deutlich sagen: So viel Zivilcourage muss unsere Anerkennung finden.
({0})
Wenn wir über Weißrussland reden, dann gilt aber
auch: Die Länder, die mit Weißrussland zusammenarbeiten, müssen ihr Verhältnis zu Weißrussland prüfen.
Gerade Russland ist dazu aufgerufen, seine ideelle Unterstützung gegenüber dem weißrussischen Regime, die
oftmals deutlich wird, zu hinterfragen. Auch andere Akteure müssen sich mit den Zuständen in Weißrussland
auseinandersetzen. Taube Ohren sind keine Option. Das
gilt nicht nur für die Länder in dieser Region, für den
Kulturkreis, an den wir immer denken, sondern auch für
die Demokratien im Westen.
2014 soll in Weißrussland die Eishockey-WM stattfinden. Wir haben hier im Plenum schon darüber gesprochen. Ich habe gemeinsam mit meinem Kollegen
Djir-Sarai dem Präsidenten der Internationalen Eishockey-Föderation, Herrn Dr. Fasel, geschrieben. Wir wiesen auf die dramatische Lage in Weißrussland hin. Wir
haben unsere Befürchtung geäußert, dass das belarussische Regime unter Lukaschenko die Eishockey-WM für
seine eigenen Ziele und Zwecke propagandistisch missbraucht. In Anbetracht der anhaltenden Repression der
eigenen Bevölkerung durch das Regime haben wir darauf hingewiesen, dass wir keine unangebrachte internationale Aufwertung für den weißrussischen Präsidenten
wollen.
Herr Dr. Fasel antwortete uns auf unseren Brief und
erklärte, dass eine Einmischung der Politik in sportliche
Veranstaltungen Schaden für die Athleten, für den Sport
als solchen und auch für die friedlichen Ziele der olympischen Bewegung bedeuten würde. Ich fand die Antwort in diesem Zusammenhang unangemessen.
In seiner Eröffnungsrede beim 134. Kongress der Eishockey-Föderation im Mai 2012 setzte er noch eins
drauf. Er erklärte, mit einem Boykott der EishockeyWM in Weißrussland würden sich die Verantwortlichen
der Sportverbände zu Marionetten der Politik machen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich glaube, ich spreche
hier für viele, wenn ich sage, dass wir diesen Marionettenvergleich entschieden zurückweisen.
({2})
Der Wahlverlauf bestätigte die von uns damals gehegten Bedenken. Herr Fasel hat jetzt am Wochenende, nach
der Wahl, erklärt, er habe von den politischen Zuständen
in Belarus nichts mitbekommen.
({3})
Meine Damen und Herren, das ist nun wirklich nicht
mehr erklärbar. Man kann es „Zweckignoranz“ nennen,
man kann es vielleicht auch „fragwürdige Verantwortung“ nennen; auf jeden Fall ist das ein Vorgehen, das
wir so nicht mittragen.
Gerade angesichts der bevorstehenden WM muss die
Eishockey-Föderation fortan - wir fordern noch einmal
dazu auf - gewissenhafter mit diesem Thema umgehen.
Der Präsident eines der wichtigsten Sportweltverbände
darf die Augen hier nicht verschließen; ebenso sind alle
anderen dazu aufgerufen, hier die Augen nicht zu verschließen.
Patrick Kurth ({4})
Wir setzen uns für Weltoffenheit, für Werteorientiertheit und für die Einhaltung der Grundrechte ein. Wir unterstützen die Länder, die mit ihren Reformbestrebungen
ihren guten Willen zur Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zeigen. Aber die völlige Ignoranz
in Bezug auf Menschenrechte und internationale Standards bei Wahlen ist für uns völlig inakzeptabel. Die verhängten europäischen Sanktionen, unter anderem das
Einreiseverbot für Lukaschenko, sind der richtige Weg;
wir unterstreichen das. Es ist gerade für uns Deutsche
nicht akzeptabel, dass massive Menschenrechtsverletzungen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft noch immer stattfinden.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({5})
Vielen Dank, Kollege Kurth. - Nächster Redner in
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Rolf Mützenich. Bitte
schön, Kollege Rolf Mützenich.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das ist ausdrücklich keine Aktuelle
Stunde, die sich gegen die Menschen in Weißrussland
richtet;
({0})
im Gegenteil: Wir wollen von dieser Stelle aus deutlich
machen, dass viele in Weißrussland - mutige junge Menschen, Frauen, Oppositionelle - in den letzten Jahren
versucht haben, dem Regime zu widerstehen. Wir wollen alle Aufmerksamkeit genau auf diese Menschen richten, die so viel Mut aufgebracht haben, diesen Machenschaften des Regimes zu widerstehen. Deswegen, glaube
ich, ist diese Aktuelle Stunde heute angebracht.
Ich will auch sehr deutlich sagen: Weißrussland gehört zum europäischen Kulturraum. Es hat große Beiträge zur Ideengeschichte geliefert; das gilt auch für die
Menschen selbst. Weißrussland - das müssen wir deutlich machen - wollen wir sozusagen in unserer europäischen Familie wissen, und deswegen machen wir uns
große Sorgen.
In der Tat, Kollege Kurth: Der Weg zu demokratischen Verhältnissen, gerade auch nach diesen Erfahrungen einer gefälschten Parlamentswahl, wird wahrscheinlich lang sein, aber er ist nicht ohne Chance. Wir sollten
den Menschen Mut machen, weiterhin alles dafür zu unternehmen, dass dieser demokratische Weg gelingt. Ich
glaube, das können wir nur gemeinsam mit den Partnern
in der Europäischen Union und mit Partnern, die an unserer Seite für demokratische Grundrechte eintreten.
Mit dieser Aktuellen Stunde wollen wir aber auf die
Machenschaften des Regimes und auf die gefälschten
Wahlen hinweisen. Wir müssen daran erinnern, dass die
Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren nicht nur gefälscht waren, sondern dass mutige Politiker, die zu diesen Wahlen angetreten sind, bis heute im Gefängnis sitzen. Wir wollen auch heute von dieser Stelle aus an das
Regime appellieren, sofort alle politischen Gefangenen
bzw. alle, die aus politischen Gründen verurteilt worden
sind, freizulassen. Ich erinnere zum Beispiel an den sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Statkevich,
dessen Familie in den letzten Wochen mehrmals bei uns,
in den verschiedenen Fraktionen, war und auf die humanitären Bedingungen hingewiesen hat, unter denen
Statkevich im Gefängnis sitzt. Er ist mit Inhaftierten zusammen, die an Tuberkulose leiden, und mit einem Gefangenen, der wegen Mordes verurteilt worden ist. Das
sind Bedingungen, die nicht hinnehmbar sind. Wir vonseiten des Deutschen Bundestages fordern dieses Regime auf, Herrn Statkevich und andere, die mutig für
ihre Rechte eingetreten sind, sofort freizulassen.
({1})
Wir sollten auch an die Verantwortlichen außerhalb
Weißrusslands appellieren, die Einfluss auf dieses Regime haben. Das ist in der Tat Russland, die russische
Regierung. Wir sollten gerade den Verantwortlichen in
Moskau gegenüber deutlich machen, dass man, wenn
man auf diejenigen setzt, die von der Geschichte längst
überholt sind, schnell selbst überholt werden kann. Instabilität an den Grenzen zu Russland ist weder in unserem
Interesse, noch kann es im Interesse Russlands und der
russischen Regierung sein. Deswegen wäre es klug,
wenn die russische Regierung in den nächsten Wochen einsähe, dass die Unterstützung des Regimes Lukaschenko
nicht weiterhin tragbar ist. Wir sollten das vonseiten des
deutschen Parlaments, aber auch vonseiten der deutschen Regierung vorantreiben.
Herr Kollege Kurth, Sie haben in diesem Zusammenhang auf die Eishockeyweltmeisterschaft hingewiesen.
Wir sollten gerade den Funktionären gegenüber noch
einmal deutlich machen, dass nicht nur nach den Präsidentschaftswahlen, sondern gerade nach den Parlamentswahlen ein neues Überlegen notwendig ist. Damit
würden wir vielen Sportlern entgegenkommen; denn sie
wollen sich vom Regime Lukaschenko, das von den Eishockeyweltmeisterschaften letztendlich auch profitiert,
nicht missbrauchen lassen. Ich glaube, der Verband
würde den Sportlern entgegenkommen, wenn er seine
Position an dieser Stelle überdenkt.
({2})
Zum Schluss möchte ich sagen: Auch vonseiten der
Bundesregierung wird, glaube ich, alles unternommen,
um auf das Regime einzuwirken. Aber vielleicht - das
ist meine Anregung - können wir noch etwas mehr tun.
Wir sollten durchaus noch einmal erörtern, was im Rahmen von Visaerleichterungen möglich ist,
({3})
insbesondere im Hinblick auf Stipendien für junge Menschen, die auf der einen Seite bereit sind, für Weißrussland einzutreten, die aber auf der anderen Seite eine gute
Ausbildung wollen. All das kann vorangebracht werden.
Ich hoffe, dass die Aktuelle Stunde mit dazu beiträgt.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Rolf Mützenich. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Karl-Georg Wellmann. Bitte schön, Kollege Wellmann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zustände in Belarus im Zusammenhang mit den Wahlen
sind hinlänglich bekannt. Die OSZE hatte eine Wahlbeobachtermission dort. Die Wahl war weder fair noch frei.
Ich habe bei den letzten Wahlen selbst erlebt, wie gefälscht wurde, wie Studentenkolonnen, Polizisten, Militärangehörige da hineingetrieben wurden. Auch das Umfeld war alles andere als demokratisch, wie man an der
nicht vorhandenen Pressefreiheit und Meinungsfreiheit
sieht. Die Führer der Opposition sind fast samt und sonders im Zuchthaus gelandet, in zum Teil beängstigenden
Verhältnissen; einige kamen menschlich gebrochen zurück. Das ist furchtbar. Der Staatschef macht sich lustig
über die Opposition: Er sagt, das seien Feiglinge. Ich
empfinde das als zynisch und abstoßend, und das sollten
wir hier noch einmal deutlich hervorheben.
({0})
Was bedeutet das Ganze für uns? Dieses Regime hat
die Chance verpasst, das Land zu modernisieren. Es hat
verpasst, die gesellschaftlichen Kräfte dieses sympathischen belarussischen Volkes zu mobilisieren. Und es hat
verpasst, das Land in die europäische Moderne zu führen. Stattdessen haben wir eine Kommandowirtschaft
sowjetischer Prägung mit all den Nachteilen wie Ineffizienz und fehlender Wettbewerbsfähigkeit. Statt politischer Teilhabe haben wir Unterdrückung und Bevormundung. In der Tat: Das ist eine Tragödie, wie es
jemand von der Bundesregierung gesagt hat. - Das Gedränge auf der Regierungsbank nimmt ja beängstigte
Ausmaße an. Ich finde es gut, dass wenigstens einer anwesend ist.
({1})
Es ist eine europäische Tragödie, und das auch deshalb, weil die Besten, vor allem die guten jungen Leute,
das Land in Scharen verlassen. Was bleibt zurück? Bei
uns bleibt so etwas wie Ratlosigkeit zurück. Herr
Mützenich, ich erinnere mich an unsere letzte BelarusDebatte. Die Erkenntnis ist vorhanden, dass Sanktionen
kaum noch etwas ausrichten bei einem Regime, das aus
Gründen des blanken Machterhalts sagt: Das ist uns alles
egal. - Es nimmt die Nachteile, die mit dieser Diktatur
verbunden sind, in Kauf und schneidet das Land von der
europäischen Wohlstandsentwicklung ab.
Was können wir tun? Noch mehr Sanktionen? Ich
habe Zweifel, ob dies Wirkungen hat, ob das wirklich
Änderungen herbeiführt. Wir haben, Herr Mützenich, in
diesem Kreis ganz richtig gesagt: Wir müssen mehr für
Studenten tun; wir müssen mehr Geld für Stipendien
aufbringen. Der DAAD muss zum Teil Studenten mit einem Notendurchschnitt von 1,2 zurückweisen, weil es
nicht genug Studienplätze gibt. Ich danke dem Kanzleramtsminister, der leider nicht anwesend ist. Er hat mir
neulich gesagt, dass sie, zusammen mit dem Auswärtigen Amt, darüber nachdenken, wenigstens ein paar Millionen Euro zu mobilisieren. Ein Stipendium kostet für
einen Studenten im Jahr 10 000 Euro. Die Hochschulen
in Deutschland nehmen uns die Studenten mit Kusshand
ab.
Über das Regime Lukaschenko wird die Geschichte
hinweggehen, wie die Geschichte über all die
Honeckers, Breschnews und Ceausescus hinweggegangen ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es irgendwann eine demokratische Entwicklung geben wird, früher oder später. Aber wir sollten auch etwas anderes
bedenken. Ich empfehle sehr den Artikel von Konrad
Schuller in der FAZ vom 10. September, der gesagt hat:
Lasst uns aufpassen, dass wir über die Prinzipienreiterei
nicht unsere strategischen Interessen vergessen und am
Ende mit leeren Händen dastehen. - Dies hat er nicht in
Bezug auf Belarus, sondern auf die Ukraine gesagt.
({2})
Das aber sollte für uns ein Ansporn sein, uns zum
Beispiel mehr um die Ukraine zu kümmern und unsere
strategischen Ziele nicht zu vernachlässigen.
Zum Schluss möchte ich - das passt in die Zeit - Altbundeskanzler Kohl zitieren. Helmut Kohl hat seinerzeit
mit Erich Honecker Verträge ausgehandelt. Er wurde
wild kritisiert, dass er mit Diktaturen überhaupt verhandelt, anstatt Sanktionen zu erlassen. Er hat gesagt, das
sei nicht wichtig. Wichtig ist, was den Menschen hilft.
Daran sollten wir uns auch in dieser Sache orientieren.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. Bitte schön, Kollege
Wolfgang Gehrcke.
({0})
Danke sehr. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man wäre versucht, zu spotten, wenn man
sieht, wie Lukaschenko das Wahlergebnis in der ÖffentWolfgang Gehrcke
lichkeit darstellt. Ich finde ein Parlament ohne einen einzigen Abgeordneten der Opposition völlig absurd. Darauf
noch stolz zu sein, ließe auf eine gewisse Verwirrung im
oberen Körperteil schließen. Trotzdem bleibt mir der
Spott im Halse stecken. Ich schaue auf Belarus, auf Weißrussland, und weiß, welche Opfer dieses Land unter der
deutschen Besatzung, also im Faschismus, gebracht hat.
Ich weiß, dass wir für dieses Land eine Mitverantwortung
haben. Das spüre ich auch. Ich möchte nicht von oben herab über dieses Land reden. Ich möchte, dass wir uns immer wieder in Erinnerung rufen: Das ist Europa und gehört zu Europa. Man muss einen Weg finden, wie man
beides ausdrückt: Verachtung für Lukaschenko und Offenheit für die Bürgerinnen und Bürger des Landes.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger Weißrusslands sind nicht
Lukaschenko, ganz im Gegenteil. Ich möchte nicht, dass
sie in diese Ecke gedrängt werden. Das hat bisher dankenswerterweise keiner gemacht.
Wir sollten trotzdem festhalten: Es waren Wahlen der
Ungleichheit und der Unfreiheit, ohne freie Presse, ohne
öffentliche Veranstaltungen, die man, wenn man es
möchte, hätte durchführen können. Es waren Wahlen mit
großem Druck auf diejenigen, die kandidieren wollten
oder die kandidiert haben.
In diesem Zusammenhang ist mir ein Gedanke sehr
wichtig: Sterben Freiheiten wie Freiheit der Presse oder
Freiheit der Politik und werden Parlamente, die man so
auch nur nennt, nur noch einberufen, um das zu bestätigen, was zuvor festgelegt wurde, dann stirbt die Demokratie, und dann stirbt das gesamte gesellschaftliche Leben.
Dieser Weg ist in Belarus leider vorgezeichnet. Bei
dieser Form von Politik erstirbt das gesellschaftliche Leben, eine Eiszeit kehrt ein. Das schlägt dann auf alle zurück. Der schöne Gedanke: „Sterben diese Freiheiten,
dann stirbt das gesellschaftliche Leben“ stammt übrigens
nicht von mir, sondern von Rosa Luxemburg. Bei ihr
kann man das - in besserer Formulierung - noch einmal
nachlesen.
Für uns stellt sich nun die nicht einfach zu beantwortende Frage: Was tun? Nur die Tatbestände an sich zu
beschreiben - vielleicht sind wir uns in der Beschreibung sogar einig -, hilft nicht weiter. Ich denke in ähnlicher Art und Weise wie der Kollege Wellmann: Man
sollte einmal ausloten: Was ist bisher gelaufen, und was
ist wirksam gewesen? Wir können ja nicht sagen: Wir
machen immer weiter so.
Ich finde, dass im Großen und Ganzen Sanktionen,
der Druck auf das Regime etc. nicht das erbracht haben,
was ich mir davon erhofft hatte. Es ist kein Wandel eingetreten - ganz im Gegenteil. Daher stelle ich mir die
Frage: Muss man vielleicht die eigene Taktik, wie man
an das Problem herangeht, verändern? Hier kann man zu
unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.
Ich bin dafür, dass wir maximale Kontakte in das
Land Belarus hinein entwickeln, inklusive der Eishockeyweltmeisterschaft, jedoch ohne dass wir so tun, als
hätte Politik mit Sport nichts zu tun. Meine These heißt:
Wenn an die Mumie Luft kommt, zerfällt die Mumie. Ich
möchte, dass die Mumie Lukaschenko, der schon sein
kleines Kind als seinen Nachfolger präsentiert, zerfällt.
Deswegen schlage ich vor, etwa darüber nachzudenken: Wie kann man beispielsweise die Kontakte zu Belarus vervielfältigen? Das fängt bereits bei der Visafrage
an. Wer nach Deutschland kommen möchte, soll kommen. Da müssen die Türen offenstehen,
({1})
da muss es eine Willkommenskultur geben. Wir müssen
auch überlegen, welche Möglichkeiten sich in beiden
Ländern im kulturellen Bereich ergeben.
Ich frage mich: Was passiert eigentlich mit den Städtepartnerschaften? Es gibt eine Menge Städtepartnerschaften zwischen Städten in Deutschland und in Weißrussland. Kann man diese Städtepartnerschaften nutzen,
um auf eine andere Politik, einen anderen geistigen
Atem hinzuwirken? Was können deutsche Abgeordnete
bewirken, wenn sie vor Ort fordern: „Wir wollen Zugang
zu den Gefängnissen haben!“?
({2})
Wir wollen wissen, was mit unseren Kolleginnen und
Kollegen, die kandidiert haben, in diesen Gefängnissen
passiert. Das alles sind Möglichkeiten, wie die politischen Verhältnisse verändert werden können. Hierüber
müssen wir nachdenken.
Diese Fragen dürfen auch in den Gesprächen mit
Russland nicht ausgespart werden, die für beide Seiten
nicht immer ganz einfach sind. Russland kann Einfluss
nehmen, und Russland muss Einfluss nehmen. Das bedeutet, dass Putin dazu gebracht werden muss, über sein
eigenes Verhalten nachzudenken.
({3})
Auch das gehört zum Problem dazu.
Ich kann nur vorschlagen, dass wir auf diese Art und
Weise versuchen, eine andere Form der Politik in Belarus durchzusetzen. Ich wiederhole noch einmal: Weißrussland ist nicht Lukaschenko, und Lukaschenko
spricht nicht für Weißrussland.
Danke sehr.
({4})
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Gehrcke. - Nächste
Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Viola von
Cramon-Taubadel. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
vertrete heute Marieluise Beck, die auf einer besonderen
Mission unterwegs war, leider erfolglos. Sie hat versucht, Herrn Chodorkowski im nordrussischen Strafgefangenenlager zu besuchen. Das ist ihr, wie man fast erwarten konnte, leider nicht geglückt. Aber ich glaube, es
war trotzdem gut, dass sie sich auf die Reise gemacht
hat.
Zurück zur Bewertung der Wahl. Ich kann mich dem
Kollegen Mützenich nur anschließen: Natürlich ist diese
Aktuelle Stunde zur Unterstützung der Menschen, der
Zivilgesellschaft in Belarus gedacht.
Lukaschenko hat in einer Atmosphäre von Repression
und Angst ein Theaterstück abgezogen. Das hatte mit einer Wahl überhaupt nichts zu tun. Von Anfang an wurde
nichts dem Zufall überlassen. Die Opposition wurde aus
den Wahlkommissionen herausgehalten; sie stellten
0,09 Prozent der Kommissionsmitglieder. Die Auszählung konnte deshalb unmöglich überprüft werden. So
wurde ein dem Diktator genehmes Ergebnis garantiert.
Wir haben es schon von Herrn Wellmann gehört: Bewohner von Studentenwohnheimen, Soldaten und Arbeitskollektive wurden wie in alter sowjetischer Zeit zur
vorzeitigen Stimmabgabe genötigt. Hierbei ist die Manipulation der Urnen besonders einfach. Das gibt es in anderen postsowjetischen Staaten auch, aber - das muss
man einfach sagen - nicht ganz so drastisch wie in Weißrussland. Oppositionelle wurden unter Druck gesetzt,
festgenommen und zum Teil an Leib und Leben bedroht.
Jetzt kommt der Punkt: Einzig eine Wahlbeteiligung
unter 50 Prozent hätte die Wahl ungültig gemacht. Auch
deshalb gab es Nötigungen von Wählern. Auch deshalb
wurden Wurst und Alkohol in den Wahllokalen verkauft;
vielleicht ist es eine Möglichkeit, um auch hier die
Wahlbeteiligung zu erhöhen.
({0})
- Scherz! - Auch deshalb reagierte das Regime gereizt
auf Boykottaufrufe der Opposition.
Was bedeutet die Wahl für die politische Entwicklung? Eigentlich sind solche Rituale wie diese Parlamentswahl in Weißrussland natürlich ein unnötiges Relikt; denn der Anschein demokratischer Legitimation
funktioniert schon lange nicht mehr. Spätestens seit dem
19. Dezember 2010 kann das Regime seine Macht nur
noch durch Repression und Angst sichern. Dennoch sage
ich - vielleicht sieht das Herr Wellmann ähnlich -: Es
war richtig, dass die Wahlbeobachter der OSZE im Land
waren; denn so konnten unabhängige Beobachter dokumentieren und vor allen Dingen anschließend kommunizieren, dass diese Wahlen weder frei noch unparteiisch
abliefen. Auch bei der Stimmenauszählung, und nicht
nur da, wurden die Wahlbeobachter ganz massiv beeinträchtigt.
Es ist richtig, dass die EU mit Sanktionen auf die
schweren Menschenrechtsverletzungen in Belarus reagiert. Derzeit sind immer noch 15 politische Gefangene
in den Straflagern. Sie werden seelisch und körperlich
malträtiert, um sie nach stalinistischer Manier zu
Schuldeingeständnissen zu zwingen. So sollen sie als
Opponenten des Diktators unschädlich gemacht werden.
Offensichtliche Wahlfälschungen und drakonische Bestrafungen der politischen Gegner zeugen aber auch von
einer Nervosität des Regimes. Wo sonst steht das organisierte Nichtstun unter Strafe? Nur so konnten die stillen
Proteste letzten Sommer unterbunden werden.
Die Sanktionen laufen jedoch ins Leere - das haben
hier schon einige Vorredner betont -, wenn sie von Russland ausgehebelt werden. Ohne Russland wäre Belarus
längst bankrott. Aber Russland gibt Kredite und billiges
Gas. So kann es sich die wenigen Filetstücke der belarussischen Industrie einverleiben. Belarus wurde zudem
in eine Zollunion gezwungen und wieder eng an Russland gebunden. Das ist ganz im Interesse Russlands, den
postsowjetischen Raum zurückzuerobern.
Ich denke anders als Sie, Herr Gehrcke: Es gibt keine
Alternative zur Sanktionspolitik. Wir können und wollen
eine Diktatur mitten in Europa nicht dulden. Wir brauchen einen längeren Atem. Es wird sich zeigen, ob die
Wirksamkeit der EU-Sanktionen am Ende nicht doch gegeben ist.
({1})
Wir werden sehen, ob Lukaschenko letztlich bereit ist,
sich immer als Marionette Moskaus instrumentalisieren
zu lassen.
Ich möchte auf die Polizeihilfe zu sprechen kommen,
die Deutschland geleistet hat. In der aktuellen Situation
braucht die Zivilgesellschaft - das habe ich am Anfang
gesagt - unsere Unterstützung. Stattdessen hören wir
von Hilfen für die belarussische Prügelpolizei durch das
Bundesinnenministerium. Es kann richtig sein, in Zeiten
der Annäherung auch in autoritären Staaten für eine Zivilisierung der Polizei zu arbeiten; aber die Belarussen
zum Castor-Transport oder zur Nazidemo in Dresden
einzuladen, zeugt vom Fehlen jeglichen politischen Gespürs.
({2})
Auch die Fortsetzung dieser Kooperation über den
19. Dezember 2010 hinaus ist unverzeihlich. So etwas
darf aus unserer Sicht nicht noch einmal passieren.
({3})
Das Innenministerium braucht dringend mehr Kontrolle
seiner außenpolitischen Aktivitäten.
Erleichterungen bei der Visavergabe wurden häufig
erwähnt. Ich würde sagen: Wir brauchen die Abschaffung der Visumpflicht. Die Prozedur der Visumvergabe
ist bürokratisch, demütigend und für Belarussen dazu
noch sehr teuer.
({4})
Durch die Visumpflicht ist kaum etwas gewonnen, aber
sehr viel verloren. Wir geben ein wichtiges außenpolitisches Instrument aus der Hand, wenn wir das Feld den
Innenpolitikern überlassen. Eine Zeit von durchschnittlich drei Minuten für die Bearbeitung eines Visumantrags garantiert jedenfalls keinen wirksamen Schutz vor
organisierter Kriminalität.
Zeigen wir also den Menschen in Weißrussland, dass
sie zu Europa gehören! Laden wir sie ein, unsere demokratische Gesellschaft kennenzulernen! So können wir
am besten eine Öffnung der Gesellschaft in Weißrussland fördern. Deshalb: Schaffen wir die Visummauer
zwischen Deutschland und Weißrussland endlich ab!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin von Cramon-Taubadel. Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Manfred Grund. Bitte schön, Kollege
Manfred Grund.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Parlamentswahlen in Belarus waren die Inszenierung einer
Demokratie - und nicht mehr als das. Die Berichte der
OSZE und auch von politischen Stiftungen sprechen im
Kern alle dieselbe Sprache: Alle Oppositionskandidaten
wurden massiv behindert, die Auszählung der Stimmen
war intransparent und nicht überprüfbar, und von einer
ausgewogenen Berichterstattung in den Medien konnte
auch keine Rede sein.
Es ist offensichtlich: Von der gegenwärtigen Führung
in Belarus sind keine Reformen zu erwarten, die ihre
Macht infrage stellen. Im Gegenteil: Mit der Parlamentswahl hat sich erneut die Verhärtung des autoritären Regimes manifestiert, die seit der Präsidentschaftswahl in
Belarus im Dezember 2010 die Lage in Belarus kennzeichnet. Von den Demonstranten, die damals brutal niedergeschlagen wurden, sind noch immer etwas mehr als
ein Dutzend Oppositionelle in Haft. Weder Sanktionen
der Europäischen Union - die wir hatten und haben noch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage haben
die Führung in Minsk bislang zum Einlenken veranlasst.
Im Gegenteil: Unter zunehmendem Druck zeigt sich das
Regime nur umso entschlossener, seine Kontrolle über
das ganze Land weiter auszubauen.
Die Lage in Belarus wird durch eine tiefe und systemische Wirtschaftskrise geprägt. Die Inflation galoppiert
davon. Der IWF vergibt keine Kredite mehr an Belarus.
Bei früheren Wahlen konnte sich das Regime noch die
Loyalität vieler Wähler durch kostspieligere Geschenke
als diesmal erkaufen und sichern. Dafür fehlten bei diesem Wahlgang offensichtlich die Mittel. Stattdessen verschärfen sich die politischen Pressionen.
Mit dieser Entwicklung verbindet sich für uns und für
die Politik der EU gegenüber Belarus aber ein Dilemma:
Einerseits hat die Politik der Annäherung an Belarus, die
die Europäische Union vor den Präsidentschaftswahlen
2010 verfolgt hat, nicht zu substanziellen Reformen geführt. Andererseits haben auch die verschärften Sanktionen, die wir nach den Präsidentschaftswahlen verhängt
haben, kein Einlenken erzwingen können. Die weiteren
Verhärtungen haben sie nicht aufgehalten. Zugleich haben diese Sanktionen - das ist von meinen Vorrednern
gesagt worden - dazu beigetragen, Belarus stärker von
Russland abhängig zu machen. Anders als die Europäische Union unterstützen Russland und die Eurasische
Wirtschaftsgemeinschaft Belarus weiterhin finanziell;
doch im Gegenzug hat Minsk im vergangenen Jahr den
Gesamtbesitz am Pipelinenetz von Beltransgaz an
Gazprom verkaufen müssen.
Bereits heute ist Belarus mit Russland und Kasachstan in einer gemeinsamen Zollunion verbunden. Diese
Zollunion soll künftig zu einer eurasischen Union ausgebaut werden. Den politischen Ansätzen der Europäischen Union gegenüber Belarus könnte damit auch langfristig ein Riegel vorgeschoben werden. Das betrifft die
im Rahmen der Östlichen Partnerschaft vorgesehene
Freihandelszone ebenso wie eine weitere Ausdehnung
der europäischen Energiegemeinschaft.
Die wirtschaftliche Lage in Belarus zeigt jedoch eindeutig, dass das gegenwärtige Regime nicht auf dauerhaften Fundamenten gebaut ist. Bei einer Verschärfung
der Krise wäre selbst die Möglichkeit eines ökonomischen und politischen Zusammenbruchs nicht völlig auszuschließen. Ein solcher Zusammenbruch muss aber weder zu einer europäischen Orientierung noch zu einem
demokratischen Neuanfang des Landes führen, und
selbst wenn er das täte, würde er eine gewaltige, möglicherweise unüberwindbare Belastung darstellen. Die
Wirtschaftskrise wird das bestehende Regime aber auch
zu umfangreichen Privatisierungen zwingen. Damit verbinden sich Chancen für eine marktwirtschaftliche Öffnung, die eine gesellschaftliche und politische Öffnung
nach sich ziehen könnte.
Es besteht aber zugleich eine grundlegende Gefahr,
nämlich dass infolge dieser Privatisierung auch in Belarus oligarchische Strukturen entstehen wie in den meisten anderen postsowjetischen Staaten, und wie in den
meisten anderen postsowjetischen Staaten würden oligarchische Strukturen auch in Belarus die politischen und
wirtschaftlichen Entwicklungschancen des Landes langfristig und über das gegenwärtige Regime hinaus einschränken. Je weniger aber europäische Politik in Belarus präsent ist, desto größer wird diese Gefahr.
Wir sollten uns keine Illusionen über die eigenen
Möglichkeiten machen. Das Bekenntnis zu unseren demokratischen Grundwerten muss die Ziele unserer Politik gegenüber Belarus bestimmen; aber das ist noch
keine wirkungsvolle und auch keine wirkmächtige Politik. Als Deutschland wie als Europäische Union haben
wir leider nur begrenzte Instrumente, um auf die innere
Entwicklung von Belarus Einfluss zu nehmen. Bislang
hatte weder eine Politik der Zusammenarbeit noch eine
Politik der Sanktionen nachhaltige Reformen in Belarus
zur Folge. Setzen wir allein auf Zusammenarbeit, dann
laufen wir Gefahr, ausgenutzt zu werden. Setzen wir allein auf Sanktionen, spielen wir anderen in die Hände.
Es wird nicht leicht sein, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Wollen wir überhaupt noch einen konstruktiven Einfluss ausüben, werden wir auch angesichts
der politischen Verhärtungen in Belarus Angebote zur
Zusammenarbeit mit unserer Sanktionspolitik verbinden
müssen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Kollege Manfred Grund. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Dietmar Nietan. Bitte schön, Kollege Dietmar
Nietan.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Parlamentswahlen in Belarus waren nicht nur eine Farce,
sie waren und sind eine Schande. Sie sind eine Schande
nicht nur für den Diktator Lukaschenko, sie sind letztlich
auch eine Schande für Europa. Das ist ein Schandfleck
mitten in Europa, in dem ein Diktator scheinbar machen
kann, was er will. Ich stimme deshalb Martin Schulz,
dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, ausdrücklich zu, der sagt, dass wir uns nicht länger der
Illusion hingeben dürfen, dass in diesem Regime
Lukaschenko auch nur ein Funken Willen besteht, sich
auf den Weg zu Reformen zu machen. Das muss man
jetzt selbstkritisch konzedieren.
Systematisch hat der belarussische Diktator die
Grundlagen für eine demokratische Ordnung in seinem
Land zerstört. Wir müssen uns eingestehen, dass wir
diese tragische Entwicklung nicht haben verhindern können. Aus meiner Sicht ist jetzt aber nicht die Zeit für
Vorwürfe, wer was hätte besser machen können, sondern
dies ist die Zeit, um uns grundsätzlich zu überlegen, wie
wir uns neu aufstellen und wie wir das Volk auf seinem
Weg, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, begleiten können. Dies wird nach allem, was wir jetzt sehen, ein sehr langer und steiniger Weg sein. Kollege
Grund hat auf das Dilemma hingewiesen: Sanktionen
oder Zusammenarbeit? Ich glaube, was hier deutlich
wird, ist, dass wir in der Tat - auch das hat Martin Schulz
in seiner Erklärung zu den Wahlen unterstrichen - eine
abgestimmte, effektive, wirklich durchdringende gesamteuropäische Strategie brauchen, damit dieses Land
beim Aufbau der Zivilgesellschaft vorankommt. Martin
Schulz hat gesagt: Zentraler Punkt dieser Strategie muss
die Frage sein, wie man das Volk in Weißrussland in seinem Kampf für eine Zivilgesellschaft unterstützen kann.
Wenn das so ist und wir eine solche Strategie brauchen, dann muss es in der Union der 27 Staaten geben,
die die Initiative ergreifen und die Verantwortung für einen solchen Weg übernehmen. Die polnische Regierung
hat das eindrucksvoll getan, insbesondere während ihrer
Ratspräsidentschaft. Es ist sehr zu begrüßen, dass sie dabei von Deutschland unterstützt wurde. Das reicht aber
nicht aus. Es ist hier schon gesagt worden: Wir müssen
den Druck erhöhen, und zwar mit Augenmaß; denn die
Sanktionen und der Druck sollen die Richtigen treffen,
nicht das Volk. Auch müssen wir, so schwierig das sein
wird - Kollege Gehrcke hat das zu Recht gesagt; in dieser Hinsicht ist vieles sowieso schon sehr schwierig geworden -, mit unseren russischen Partnern sprechen und
ihnen sagen, dass sie für das, was dort geschieht oder
eben nicht geschieht, eine Mitverantwortung haben.
Wenn wir langfristig Erfolg haben wollen, müssen
wir die Zivilgesellschaft stärken. Es ist bedenklich, wenn
ich lesen muss, dass Giselle Bosse vom European Policy
Centre in Brüssel sagt, dass die Unterstützung für nichtstaatliche Akteure in der EU, wenn man alle Programme
zusammennimmt, im Jahr 2011 6,4 Millionen Euro betrug, es in diesem Jahr letztlich aber nur noch 4,1 Millionen Euro sein werden. Bei allem Verständnis für die
Haushaltssituation: An dieser Stelle zu sparen, ist kein
gutes Signal für die Menschen in Belarus, die auf uns
zählen.
Eines ist auch wichtig: Wir brauchen neue Instrumente. Deshalb war es richtig, dass die polnische Ratspräsidentschaft sich so für ein Endowment for Democracy eingesetzt hat. Jetzt soll es eine Stiftung
belgischen Rechts geben, und nun geht es auch um die
Gretchenfrage: Mit welchen Ressourcen statten wir
diese Stiftung aus? Die polnische Regierung bemüht sich
da sehr. Wir wissen, dass nicht alle europäischen Partner
hierbei auf ihrer Seite sind, leider auch nicht unsere französischen Freunde. Jetzt beginnt das Schwarze-PeterSpiel: Alle schauen darauf, wie sich Deutschland auch
finanziell bei dem Aufbau dieser Stiftung engagieren
wird.
Ich weiß, dass die Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Amt sehr ambitionierte Vorstellungen haben.
Ich weiß aber auch, dass es bisher in dieser Bundesregierung nicht möglich war, das Veto aus dem Finanzministerium zu überstimmen. Ich sage an dieser Stelle: Wenn
wir es ernst damit meinen, dass wir für Belarus mehr tun
wollen, dann brauchen wir ein neues Instrument, das
vielleicht etwas anders agiert, als es den formalistischen
Vorstellungen des Bundesverwaltungsamts entspricht;
denn mit dessen Vorstellungen wird man die Demokratie
nicht ans Laufen bringen können. Dafür brauchen wir
dieses Endowment. Ich fordere die Bundesregierung auf,
sich dort klar und unmissverständlich in einem Deutschland zustehenden Maße finanziell zu engagieren und
nicht das Schwarze-Peter-Spiel weiter zu betreiben, das
da heißt: Wer bewegt sich als Erster und gibt Geld in dieses Endowment? Was wir in diesem Moment erleben,
halte ich für einen unwürdigen Akt.
({0})
Einen weiteren Punkt, der hier schon angesprochen
worden ist, möchte ich unterstützen. Mittlerweile studieren mehr junge Weißrussen in Russland als in der Europäischen Union. Ich glaube nicht, dass dies daran liegt,
dass alle Universitäten in Russland besser sind als die in
der Europäischen Union, sondern ich glaube, dass das
mit der Visapolitik der Europäischen Union zu tun hat.
Auch ich würde mich freuen, wenn eine moderne, weltoffene Visapolitik, die genau diese junge Generation unterstützt und ihr Chancen gibt, hier bei uns zu studieren
und Erfahrungen zu sammeln, in der EU umgesetzt
würde und wenn Deutschland dabei nicht im Bremserhäuschen säße, sondern es vom Führerhäuschen aus
möglich machte. Welche Rolle Deutschland in diesem
Bereich in der Europäischen Union spielt, halte ich für
unerträglich.
({1})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Das mache ich sehr gerne. - Ich will zum Schluss
Folgendes deutlich unterstreichen: Wir erleben, wie
Lukaschenko sein Volk und uns Europäer verhöhnt. Ich
bin mir ganz sicher, dass seine Zeit ablaufen wird, dass
sie jetzt schon abläuft. Dass er so reagiert, hat etwas damit zu tun, dass er Angst vor seinem eigenen Volk hat.
Ich weiß auch: Sein Volk wird ihm nie verzeihen, dass er
gerade etwas tut, was er immer verhindern wollte, nämlich sein Volk schnurstracks in die bedingungslose Abhängigkeit von Russland zu führen. Deshalb wird seine
Zeit zu Ende gehen. Aber die entscheidende Frage in der
geschichtlichen Bewertung dieser Zeit wird sein,
Herr Kollege, Versprechen sollte man einhalten.
({0})
- ob wir als Europäerinnen und Europäer, ob wir als
Bundesrepublik Deutschland, als Bundesregierung in
den Geschichtsbüchern auch bestehen können, dass wir
beim Niedergang dieses Systems das Volk unterstützt
haben, oder ob wir uns weggeduckt haben. Dies wird die
Frage sein, die wir selber durch Handeln beantworten
können.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege, gelegentlich kann man einmal die fünf
Minuten üben.
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unsere Kollegin Marina Schuster.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, ich kann hier für das ganze Haus sprechen, wenn
ich sage: Niemand von uns ist von den rechtswidrigen
Umständen und dem diktierten Ausgang der Wahlen
überrascht. Das heißt aber nicht, dass uns die Ereignisse
kalt lassen, ganz im Gegenteil. Wir erlebten eine absurde
Inszenierung. Lukaschenko hat verlauten lassen - ich zitiere -:
Man sollte uns beneiden. Wahlen, die langweilig
und ruhig verlaufen, sind ein Glück … sowohl für
das Volk als auch für die Regierung.
Diese Äußerungen sind zynisch und eine Ohrfeige für
die Menschen in Belarus.
Wir wissen alle: Belegschaften von Staatsbetrieben,
Soldaten und Studenten wurden zum Wählen abkommandiert. Auch im künftigen Parlament wird es keine
Abgeordneten der Opposition geben; der Wahlboykott
war eine verzweifelte Reaktion auf die aussichtslose
Lage der belarussischen Zivilgesellschaft. Belarus hat
eine weitere Chance vertan, den Weg zurück zu Europa,
zur Europäischen Menschenrechtskonvention, zum Europarat einzuschlagen.
Ich denke, wir müssen die Probleme ganz nüchtern
beim Namen nennen - viele Vorredner haben es bereits
angesprochen -: Die OSZE-Verpflichtungen sind nicht
eingehalten worden, darunter das Vereinigungsrecht, das
passive Wahlrecht und auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wir haben von Herrn Kollegen Mützenich
und von Frau Kollegin von Cramon deutlich gehört, dass
es Einschüchterungen und Inhaftierungen oppositioneller Kandidaten gab. Insofern ist vollkommen klar, dass
die Wahlen nicht frei und fair waren. Es ist auch inakzeptabel, dass ein Mitglied des Deutschen Bundestages,
nämlich Frau Beck, in ihrer Funktion als OSZE-Wahlbeobachterin nicht einreisen durfte. Das dürfen wir nicht
tolerieren.
({0})
Ich war besonders betroffen von der Nachricht, dass am
Dienstag vergangener Woche eine Delegation der International Federation of Liberal Youth, darunter auch
deutsche Teilnehmer, während eines Bildungsworkshops
von belarussischen Behörden festgehalten und dann des
Landes verwiesen wurden. Zu Recht hat Außenminister
Westerwelle aufgrund der Vorfälle den Botschafter ins
Auswärtige Amt einbestellt. Die Vorredner haben es angesprochen: Wir erleben eine traurige Chronologie von
Ereignissen.
Ich erinnere an unsere Debatten. Wir haben im März
dieses Jahres erlebt, dass zwei junge Männer, Herr
Konowalow und Herr Kowaljow, hingerichtet wurden.
Sie wurden beschuldigt, das verheerende Attentat in der
Minsker U-Bahn begangen zu haben, und sie wurden
nach einem fadenscheinigen Prozess hingerichtet. Zu23304
vor, im Jahr 2010, erlebten wir die brutale Niederschlagung von friedlichen Demonstrationen und massenhafte
Verletzungen der Menschenrechte und Inhaftierungen.
Wir haben die belarussische Regierung mehrmals von
diesem Hohen Haus aus aufgefordert, für Versammlungsfreiheit, für Meinungsfreiheit und für Pressefreiheit
zu sorgen. Aber unsere Hoffnungen, dass Lukaschenko
den Weg zurück zu Europa findet, haben sich nicht erfüllt.
Es ist immer unser Ziel gewesen, dass sich unsere
Nachbarn an Europa und die Werte, für die wir stehen,
annähern; wir wollen sie heranführen. Dieses Ziel gilt
nach wie vor. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir
die Kontakte zur Zivilgesellschaft halten und dass wir
dort aktiv sind. Das Auswärtige Amt führt zusammen
mit anderen EU-Mitgliedstaaten einige Programme zur
Unterstützung der belarussischen Zivilgesellschaft
durch. Die Mittel hierfür sind in den letzten drei Jahren
erhöht worden. Es geht um Programme des GoetheInstituts und des DAAD sowie um das Förderprogramm
Belarus des BMZ, das von der Begegnungsstätte
„Johannes Rau“ in Minsk durchgeführt wird. Natürlich
geht es auch um die wichtige Arbeit unserer politischen
Stiftungen und die Kulturprogramme. Ich denke, dass
das wichtige Bausteine sind, die dazu beitragen, dass der
Gesprächskanal zur Zivilgesellschaft nicht abreißt.
Die Rolle Russlands wurde mehrmals erwähnt. Russland ist aufgefordert, seine Verantwortung wahrzunehmen und seine Position zu ändern. Solange Putin schützend die Hand über das Regime hält, muss sich Herr
Lukaschenko natürlich kaum bewegen.
Die Situation ist für uns frustrierend. Dies darf uns
aber nicht lähmen. Ich richte zum Abschluss einen Appell
an uns alle: Es gibt das Programm „Parlamentarier
schützen Parlamentarier“, in dem wir für Oppositionelle,
für Menschenrechtsverteidiger Patenschaften übernehmen. Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen,
die noch keine Patenschaft übernommen haben, sich aktiv in diesem Programm einzubringen. Es ist eine Perle.
Wir sollten es nutzen und für die die Stimme erheben,
die ihre Stimme nicht selbst erheben können.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Marina Schuster. Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Gernot
Erler. Bitte schön, Kollege Dr. Erler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ganz offensichtlich haben wir in diesem Hohen Haus einen breiten Konsens darüber, dass die Wahlen in Belarus eine Farce und eine Provokation für ganz
Europa waren. Die internationalen Standards für freie
und faire Wahlen sind nicht nur nicht eingehalten worden. Präsident Lukaschenko hat sich auch gar keine
Mühe mehr gegeben, den Anschein zu erwecken, dass
sie eingehalten werden. Zu offensichtlich war es schon
im Vorfeld zu gravierenden Verstößen gegen internationale Regeln gekommen.
Die OSZE hat den Verlauf der Wahlen scharf kritisiert. Zahlreiche grundlegende demokratische Rechte
wurden missachtet; zahlreiche Kandidaten wurden gar
nicht erst zugelassen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde stark eingeschränkt. Auch die Überprüfung der Ergebnisse durch unabhängige Wahlbeobachter
geben Anlass zu „ernsthafter Sorge“; ich zitiere den Leiter
der internationalen Wahlbeobachterkommission, Antonio
Milososki. Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob tatsächlich die behauptete Wahlbeteiligung von 74,2 Prozent
erreicht wurde. Einiges spricht dafür, dass noch nicht
einmal eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent erreicht
wurde. Dann wären die Wahlen auch nach den Gesetzen
von Belarus ungültig.
Nach wie vor sitzen Vertreter der politischen Opposition
im Gefängnis. Ich möchte den Fall von Nikolai Statkevich
anführen, der bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert
hat. Jetzt befindet er sich für sechs Jahre im Arbeitslager,
und im Januar dieses Jahres wurde das Strafmaß durch
drei Jahre verschärfter Haft weiter zugespitzt. Ihm und
allen anderen politischen Gefangenen, die in den Gefängnissen von Minsk sitzen, gilt unsere Solidarität. Wir
fordern von diesem Hause aus die sofortige Freilassung
von Nikolai Statkevich und allen anderen politischen
Gefangenen.
({0})
Aber auch die Repressalien gegenüber Medien, Vertretern der Zivilgesellschaft und Oppositionellen dürfen
nicht weiter anhalten; sie müssen aufhören. Man muss
sich das einmal vorstellen: Die Nervosität dieser Regierung geht mittlerweile so weit, dass sogar - ich zitiere „das organisierte Nichtstun in Gruppen“ verboten wurde.
Das Regime hat also Angst vor einer Ansammlung
schweigender Menschen. Das ist eine weitere Steigerung, die man sich in der eigenen Fantasie eigentlich
kaum vorstellen kann.
Selbstisolierung, das ist offenbar die Praxis dieser Regierung. Wir wollen aber keine Isolierung der 10 Millionen Bürgerinnen und Bürger von Weißrussland. Insofern
begrüßen wir den Beschluss der EU-Außenminister vom
März dieses Jahres, wenigstens die Visagebühren von
60 auf 35 Euro zu senken. Aber selbst dies scheint an
bürokratischen Hindernissen zu scheitern. Das können
wir nicht hinnehmen. Das geht so nicht. Herr Link, hier
müssen wir etwas tun, und das kann nur der erste Schritt
sein.
({1})
Natürlich sind wir realistisch und wissen, dass wir nur
begrenzte Hebel haben, um auf die Politik in Belarus
einzuwirken. Deswegen ist es sehr wichtig, dass noch
einmal untersucht wird, welche Möglichkeiten zur Unterstützung einer kritischen Zivilgesellschaft wir haben.
Herr Staatsminister Link, ich möchte Ihnen sagen:
Meine Fraktion ist bereit, über die Unterstützung des
Minsker Forums, das durchaus seinen Sinn hat, hinaus
zu überlegen, wie wir, die Erfahrungen anderer Nachbarländer nutzend, die Unterstützung der Zivilgesellschaft
in Belarus verstärken können; wir haben da nämlich ein
paar Erfahrungen. Ich glaube, das sollten wir gemeinsam
versuchen. Schließlich haben wir auch hier eine gemeinsame Diskussion geführt.
Auch ich habe große Zweifel daran, dass es sinnvoll
ist, jetzt als einzige offizielle Reaktion die Sanktionen zu
verschärfen und die Visabannlisten auszuweiten. Wie
wir alle wissen, würde dies dazu führen, dass sich die
weißrussische Politik immer mehr in Richtung Russland
ausrichtet. Wir wissen auch, dass nur die großzügigen
Kredite und die kostenlosen Lieferungen aus Russland
verhindert haben, dass sich der Widerstand im Land angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung verstärkt. Nur
so konnte das Regime am Leben gehalten werden.
Ich finde, die Botschaft dieser Debatte sollte lauten:
Der Weg in Richtung europäischer Annäherung steht
den 10 Millionen Bürgerinnen und Bürgern von Belarus
weiterhin offen. Wir wollen ihn gemeinsam gehen. Dabei spielt insbesondere die Östliche Partnerschaft eine
wichtige Rolle. Unter dem jetzigen Regime können hier
aber keine Fortschritte erzielt werden. Unsere Botschaft
lautet: Wir suchen nach Wegen, um sicherzustellen, dass
diese Tür offen bleibt, auch wenn Herr Lukaschenko und
seine Nomenklatura sie mit aller Kraft zuzuziehen versuchen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gernot Erler. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Dr. Wolfgang Götzer. Bitte
schön, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Weißrussland, die letzte kommunistische Diktatur in
Europa, hat gewählt.
({0})
- Das müssten Sie doch wissen; da kennen Sie sich doch
aus, Herr Kollege Gehrcke. - Dabei stand der Wahlsieger, ähnlich wie bei den Kommunisten in der ehemaligen
UdSSR, von vornherein fest, nämlich Lukaschenko. Er
hat aus diesem Anlass gleich auch seinen Nachfolger
vorgestellt, nämlich seinen Sohn. Immerhin hätte diese
Erbdiktatur, die es nicht einmal in der Sowjetunion gab,
den Vorteil, dass man sich eine solche Farce, wie es sie
mit dieser sogenannten Wahl gab, künftig sparen kann.
Laut Informationen des Auswärtigen Amts hat gemäß
den bislang vorliegenden Wahlergebnissen in keinem
einzigen der insgesamt 110 Wahlkreise ein Kandidat der
Opposition gewonnen.
Die Opposition hat es heute unter dem LukaschenkoRegime wahrlich schwer genug. Vertreter der Opposition werden - oft samt ihren Familien - von Mitarbeitern
des Geheimdienstes KGB - ja, den gibt es noch in Weißrussland - bedrängt, unter Druck gesetzt, eingeschüchtert, eingekerkert. Die Ausübung der Grund- und Menschenrechte, allen voran der Meinungsfreiheit, ist im
ganzen Land nicht möglich. Wahlkampfveranstaltungen
wurden behindert, Internetseiten blockiert, und möglichen Kandidaten wurde das Rederecht verwehrt. Zahlreiche aussichtsreiche Kandidaten der Opposition konnten gar nicht erst aufgestellt werden, da sie zurzeit im
Gefängnis einsitzen oder aufgrund früherer Haftstrafen
nicht mehr kandidieren durften oder da ihnen aus anderen halbseidenen Gründen das Recht verwehrt wurde,
sich um ein Mandat zu bewerben. Die Tageszeitung Die
Welt schrieb gestern dazu - ich zitiere -:
… Opposition unter dem System Lukaschenko ist
der Gesundheit abträglich und kann mit dem Tode
enden.
Ausländischen Journalisten wurde die Ausübung ihrer
Arbeit verwehrt, teilweise wurden sie sogar verprügelt.
Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, konnte ihrer Aufgabe als Wahlbeobachterin nicht ungehindert nachkommen. Die weißrussische Wahlleitung verstieg sich zu der unglaublichen
Behauptung, die OSZE sei nicht im Lande, um die Wahlen zu beobachten, sondern um Konflikte zu schaffen,
und verweigerte den Zugang zu den Wahlurnen. Dabei
sollte doch das Mindeste sein, was man selbst von einem
Regime wie dem Lukaschenkos erwarten können sollte,
dass eine neutrale Wahlbeobachtungsmission der OSZE
ungehindert ihre Arbeit tun kann.
Dementsprechend negativ fällt auch der Abschlussbericht der Wahlbeobachtungsmission der OSZE aus. Angesichts dieser Repressionen gegen die Opposition bei
der Kandidatur und während des Wahlkampfs kritisiert
sie die Wahlen als undemokratisch. Die Abstimmung sei
in keinem Fall internationalen Standards gerecht geworden. Ferner mangelte es den Wahlbehörden an Neutralität und Unabhängigkeit. Fälschungen waren an der Tagesordnung. - Auch die Bundesregierung hat die Wahlen
scharf verurteilt und spricht von einer Tragödie. Ich
glaube, diese Kritik teilen wir alle uneingeschränkt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sollten diese
Wahlen zum Anlass nehmen, unseren Kurs gegenüber
dem Regime Lukaschenko zu überdenken. Der Kollege
Manfred Grund hat auf das Dilemma hingewiesen: Was
ist der richtige Weg? Sanktionen, das Angebot der Zusammenarbeit oder beides? Es ist schwer, hier die richtige Antwort zu finden.
Ich denke, es wird nicht ohne weitere und schärfere
Sanktionen gehen; das ist die eine Seite. Wir müssen die
Sanktionsmaßnahmen gegen Weißrussland zusammen
mit unseren europäischen Partnern und den USA verstärken. Eine Diktatur wie diese darf in Europa einfach keinen Platz haben. Wir wissen natürlich, dass die Gefahr
besteht - das ist schon angesprochen worden -, dass wir
das Regime in Weißrussland damit noch mehr an die
Seite Russlands drängen. Ich denke aber, Russland kann
seine Haltung, seinen Kurs nicht mehr lange aufrechterhalten. Allmählich muss das, was in seinem Nachbarland passiert, sogar Putin peinlich werden. Die Sowjetunion - - Entschuldigung, wenn ich an Weißrussland
denke, dann denke ich noch immer an die Sowjetunion.
Es ist ja eigentlich das letzte Überbleibsel der UdSSR. Auch Russland ist jetzt gefordert und muss sich erklären,
in welcher Weise es bereit ist, seinen unbestrittenen Einfluss - der größte Einfluss, den ein Land auf Weißrussland hat - geltend zu machen.
Sanktionen allein werden aber sicherlich nicht reichen. Wir müssen auch vermehrt auf politischer und diplomatischer Ebene agieren, beispielsweise auf die Freilassung der politischen Gefangenen drängen, und die
weißrussische Zivilgesellschaft so gut es geht stärken.
Verstärkte Kontakte können hierbei hilfreich sein. Nur
von der Zivilgesellschaft - es ist heute schon angesprochen worden - kann ein Wandel hin zu einem demokratischeren Weißrussland ausgehen, einem Weißrussland,
das sich von seinem Diktator befreit, den Weg zu Demokratie und Rechtsstaat beschreitet und endlich den
Anschluss an Europa findet.
Ich danke Ihnen.
({1})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer. - Nächster Redner, ebenfalls aus der Fraktion der CDU/CSU, ist
unser Kollege Dr. Johann Wadephul. Bitte schön,
Kollege Dr. Wadephul.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Debatte hier und heute ist ein Signal der
Solidarität mit dem weißrussischen Volk. Wir fühlen uns
den Menschen verbunden. Wir denken an sie. Wir fühlen
mit ihnen, und wir tun alles in unserer politischen Macht
Stehende, um sie von diesem Regime zu befreien.
Wir sagen nach diesen Wahlen ganz eindeutig - ich
will das im Einzelnen nicht wiederholen, weil das mehrere Redner betont haben -: Diese Wahlen waren unfrei.
Sie haben die wesentlichen Regeln von demokratischen
Wahlen in einem Rechtsstaat nicht befolgt. Herr
Lukaschenko und diejenigen, die sich jetzt gewählt fühlen, haben keine Legitimation. Sie stehen zu Unrecht an
der Spitze des weißrussischen Volkes. Das ist unsere
Auffassung, die wir hier klar und eindeutig miteinander
artikulieren.
({0})
Ich glaube, die Einmütigkeit in unserem Rund sollte
vielleicht einen Beitrag dazu leisten können, noch mehr
Aufmerksamkeit für diese letzte Diktatur in Europa zu
erwecken; denn das ist das, was helfen kann; das ist das,
was wir jetzt brauchen. Das ist das Ausleuchten all dessen, was dort stattfindet. Deswegen ist es wichtig, das
hier anzusprechen und dafür zu sorgen, dass das in die
Öffentlichkeit gerät.
Jeder, der dazu beiträgt, sei es durch die Debatte hier
im Hohen Hause, sei es durch Besuche vor Ort, wie sie
Kanzleramtsminister Ronald Pofalla häufig und regelmäßig durchgeführt hat und wie er sie jetzt im baltischen
Nachbarraum durchführt oder die Kollegin Marieluise
Beck, die jedenfalls den Versuch gestartet hat, eine
Wahlbeobachtung durchzuführen. Dafür sagen wir
Dank. Das hilft den Menschen; denn das, was Diktaturen
erschüttert, und das, was sie nicht mögen und was sie
scheuen, ist das Licht der Öffentlichkeit, welches die
Untaten dort ausleuchtet.
({1})
Deswegen hilft es auch, hier Kritik gegenüber denjenigen zu äußern, die Desinteresse zeigen oder die dieses
System sogar unterstützen. Wir brauchen Aufmerksamkeit in der deutschen, in der europäischen Öffentlichkeit.
Wir haben uns gefreut, dass die polnische Ratspräsidentschaft in der letzten Zeit auf EU-Ebene einen Versuch
gestartet hat, Aufmerksamkeit für die östliche Partnerschaft und für unsere östlichen Nachbarn zu erwecken.
Leider war das Interesse, nicht in Deutschland, aber in
vielen anderen EU-Staaten, nicht besonders groß. So
aufmerksam man beispielsweise die Entwicklung im
nordafrikanischen Raum sicherlich beobachten soll: Es
ist verkehrt, Osteuropa nicht zu betrachten oder ihm
nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken.
Osteuropa braucht die Aufmerksamkeit der gesamten
EU. Weißrussland ist genauso wie die Ukraine ein Teil
Europas. Es ist schade, dass das weißrussische Volk
nicht eine demokratische, rechtsstaatliche Vertretung im
Europarat hat, sondern sich weiter so geriert, dass es gar
keine Chance hat, dort aufgenommen zu werden. Wir
sollten die Anwälte auch aller osteuropäischen Völker
innerhalb der Europäischen Union sein. Wir alle miteinander sollten die Europäische Union gemeinsam auffordern, sich Osteuropa insgesamt zuzuwenden.
Dazu gehört auch, dass wir ganz klar das ansprechen,
was Russland zu verantworten hat. Ich habe gestern mit
einigen Kolleginnen und Kollegen zusammengesessen,
und wir haben über die Zusammenarbeit mit den Russen
im Ostseeraum diskutiert. Die Russen haben große Hoffnungen und große Erwartungen und sind stolz darauf,
dass es im Ostseeraum eine enge Kooperation gibt und
dass wir dort einen verstärkten Warenaustausch haben.
Sie verweisen nicht ohne Stolz auf die wirtschaftlichen
Erfolge, auf die Erfolge im Umweltschutzbereich und
auch in der Verkehrsinfrastruktur. Aber wir müssen
solche Gelegenheiten nutzen, Russland an seine Verantwortung zu erinnern. Wer nicht nur im eigenen Land,
sondern auch mit uns eine Modernisierungspartnerschaft
will, wer mit Europa kooperieren will und wer von einem Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon
spricht, der muss wissen: Mit uns gibt es eine gemeinsame Partnerschaft und Zusammenarbeit nur dann, wenn
grundlegende Regeln des Zusammenlebens, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Menschenrechte
eingehalten werden, meine sehr verehrten Damen und
Herren. Das gilt insbesondere auch für Russland.
({2})
Ich möchte abschließend auf einen Anfangspunkt zurückkommen, den schon der Kollege Kurth angesprochen hat, auch wenn es vielleicht ein Randthema ist
- aber es wird wahrscheinlich in der Öffentlichkeit mehr
Aufmerksamkeit wecken, wenn es so stattfindet wie
unsere Debatte hier -, nämlich die Eishockey-WM und
die aus meiner Sicht schwer erträglichen Äußerungen
auch des Präsidenten des Eishockeyverbandes, wir - diejenigen, die dazu aufforderten, das noch einmal zu überdenken - würden jetzt die Eishockeyspieler oder die
Funktionäre zu Marionetten der Politik machen. Nein,
die Gefahr ist umgekehrt, dass Sportler zu Marionetten
dieses Regimes werden.
({3})
Deswegen sind alle, die darüber zu entscheiden haben,
aufzufordern, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken. Man kann nicht einfach Eishockeyspiele stattfinden lassen und so tun, als wäre in Weißrussland alles
in Ordnung, sondern man sollte jede Möglichkeit nutzen,
darauf aufmerksam zu machen, dass es dort ein verbrecherisches Regime gibt und Menschen zu Tode kommen, gefoltert und eingesperrt werden, statt dazu überzugehen, sozusagen einfach nur den Puck einzuschießen.
Wir fordern die Eishockeyverbände auf, diese Entscheidung grundlegend zu überdenken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wadephul. - Letzter Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Arnold Vaatz. Bitte schön,
Kollege Arnold Vaatz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, so einig wie heute sind wir uns selten in einer aktuellen Debatte. Ich finde das gut. Ich
glaube, wir alle stimmen in der Beobachtung überein,
dass sich die Lage in Weißrussland verschlechtert hat.
Vor einigen Jahren waren für die Opposition wenigstens
noch öffentliche Meinungsäußerungen gefahrlos möglich, wenngleich man auch bespitzelt und an allen möglichen Ecken und Enden behindert wurde. Aber inzwischen ist sogar das gefährlich geworden. Uns ist gesagt
worden, Oppositionelle würden zum Beispiel damit
erpresst, dass ihren Familien unter Umständen etwas
geschehen kann.
Unterm Strich muss man wohl sagen: Die europäische
Vorstellung von einem Wandel durch Annäherung war
naiv. Sie haben die Polizeihilfe angesprochen, Frau
Cramon. Ich muss sagen: Das ist mir peinlich. Das ist
eine peinliche Fehlleistung, die wir uns leider geleistet
haben. Ich glaube, das sollten wir ruhig zugeben. Fehler
muss man ansprechen, und man darf sie nicht wiederholen.
Leider ist Weißrussland nicht der einzige Staat, der
die Menschenrechte missachtet. Es gibt innerhalb der
GUS eine ganze Menge von Staaten, in denen die Dinge
ganz ähnlich liegen.
({0})
Auch dass ein Land außerhalb Europas liegt, kann die
Kritik nicht entschärfen, wenn dort die Menschenrechte
nicht respektiert werden.
Es ist aber auch so, dass wir in Deutschland mit unserer gut ausgestalteten Demokratie und dem Schutz der
Menschenrechte zwar sehr weit gekommen sind, aber
wir sind nicht die Oberlehrer in Sachen Demokratie. Die
Ersten, die zu entscheiden haben, was in Belarus und anderen Ländern geschieht, sind die Menschen dort.
({1})
Demzufolge ist es nicht notwendig, dass wir hier perfekte Pläne machen, wie es in diesen Ländern weitergehen soll, sondern wir müssen zuerst auf die Menschen
in diesen Ländern hören. Das ist das Entscheidende.
Dafür ist es notwendig, dass wir uns eine Erkenntnis
ganz klarmachen: Jemanden, der sich mit solchen Mitteln zum Präsidenten eines Landes gemacht hat, können
wir nicht als den legitimen Sprecher des weißrussischen
Volkes ansehen. Das ist nicht möglich. Wir müssen vielmehr in die Gesellschaft hineinhören, und das bedeutet
insbesondere, dass wir auf die Menschen hören sollten,
die unter enormen persönlichen Risiken dort für eine
Demokratisierung ihres Landes eintreten. Dazu gehören
zum Beispiel all diejenigen, die von der weißrussischen
Opposition jetzt in Haft sind. Wenn man hört, dass dort
mit Mitteln wie Schlafentzug, mehrfachem Einweisen in
Arrestzellen, ständigen Leibesvisitationen und ähnlichen
Dingen gearbeitet wird und dass man Oppositionelle mit
verurteilten Kriminellen in einer Zelle unterbringt, dann
muss das angesprochen werden. Wir müssen die Namen
dieser Menschen immer wieder nennen.
Im Übrigen dürfen wir auch die Verbündeten von
Lukaschenko, die er auf der Welt hat, nicht aus der Verantwortung entlassen. Auch sie müssen wir ansprechen
und fragen, weshalb sie mit einer solchen Regierung zusammenarbeiten.
Aus diesem Grunde halte ich es für sehr wichtig, auch
die Bundeskanzlerin zu unterstützen, die es bei keinem
ihrer Besuche in einem Land, das nicht unserem Level
von Demokratie entspricht, unterlässt, dieses Land
gerade auf diesen Zustand anzusprechen, sich immer
wieder mit der Opposition trifft und diese Themen nicht
unberührt lässt. Ich halte das für eine ganz wichtige
Sache, und dabei sollten wir sie alle gemeinsam unterstützen.
({2})
Dies gilt natürlich auch für alle anderen Kollegen. Ich
habe großen Respekt vor der Arbeit, die Ronald Pofalla
und auch Marieluise Beck in den letzten Jahren in
Weißrussland geleistet haben; auch der Menschenrechtsausschuss war mehrmals dort.
Wir müssen uns darauf einrichten, dass wir hier ein
sehr dickes Brett bohren und dass sich die Dinge wahrscheinlich nicht von heute auf morgen zum Besseren
wenden. Aber gerade deshalb ist es notwendig, dass wir
auch dann, wenn es anscheinend nichts bringt, kontinuierlich auf diese Dinge hinweisen und nicht lockerlassen.
In der Kontinuität liegt eine gewaltige Kraft.
Ich glaube, eine einzige Voraussetzung ist maßgebend
für eine positive Veränderung. Sie haben es schon gesagt, Herr Gehrcke: viele Kontakte. Da stimme ich Ihnen
vollkommen zu. Das Wichtigste ist, dass unsere Lebensweise, unsere Demokratie hier in Deutschland und in der
gesamten Europäischen Union für die Bürger in den
Ländern, über die wir hier reden, so attraktiv sein müssen, dass ihren Herrschenden am Ende nichts anderes
übrig bleibt, als den Willen des Volkes zu erfüllen und
genau diesen Status, den sich alle wünschen, einzurichten. Wenn wir das schaffen, haben wir, glaube ich, sehr
viel erreicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Arnold Vaatz. - Mein
Dank gilt allen Rednerinnen und Rednern und allen, die
an dieser Aktuellen Stunde teilgenommen haben.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 27. September 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.