Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
begrüße Sie herzlich.
Der Kollege Günter Gloser hat gestern seinen
60. Geburtstag gefeiert. Dazu möchte ich ihm im Namen
des Hauses herzlich alle guten Wünsche übermitteln.
({0})
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten kön-
nen, müssen wir noch eine Reihe von Nachwahlen zu
Gremien durchführen. Die Fraktion der CDU/CSU
schlägt vor, anstelle der Kollegin Beatrix Philipp den
Kollegen Johannes Röring zum stellvertretenden Mit-
glied der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
parates und der Versammlung der WEU zu wählen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu
sein. Dann ist der Kollege Röring damit gewählt.
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt ferner vor, als Nach-
folgerin des Kollegen Hartmut Koschyk die Kollegin
Dorothee Bär zum stellvertretenden Mitglied des Stif-
tungsrats der Kulturstiftung des Bundes zu wählen.
Darf ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das
ist augenscheinlich der Fall. Dann ist auch die Kollegin
Bär damit gewählt.
Die nächste Nachbesetzung betrifft den Beirat der
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenver-
kehr. Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll die
Kollegin Lucia Puttrich Nachfolgerin der Kollegin
Julia Klöckner werden. - Auch hierzu kann ich keine
ernsthaften Einwände erkennen und stelle damit wie-
derum das Einvernehmen zur Wahl der Kollegin Puttrich
fest.
Schließlich hat die Kollegin Sibylle Laurischk bedau-
erlicherweise ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. -
Ich bin durch den offenkundigen Eindruck, dass Sie
meine Enttäuschung teilen, mindestens ein wenig getrös-
tet.
Als Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kol-
legen Torsten Staffeldt vor. - Auch dazu gibt es offen-
sichtlich Einvernehmen. Dann ist damit der Kollege
Torsten Staffeldt zum Schriftführer bestellt.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesregierung
- Drucksache 17/500 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2009/10 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 17/44 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({3}), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Für eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft Nachhaltiges Wachstum und mehr Beschäftigung schaffen
- Drucksache 17/521 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Zukunftsprogramm für 2 Millionen Arbeitsplätze
- Drucksache 17/470 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer
Brüderle.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern
habe ich den Jahreswirtschaftsbericht vorgestellt. Er
trägt die Überschrift „Mit neuer Kraft die Zukunft gestalten“. Deutschland kann gestärkt aus der Krise hervorgehen. Deutschland hat die Kraft, und die christlich-liberale Koalition hat die Kraft, dies umzusetzen.
({0})
Die Prognosen sind längst nicht mehr so düster wie im
Herbst: 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum und 3,7 Millionen Arbeitslose. Das hätte Rot-Grün mit Sicherheit als
grandiosen Boom verkauft. Wir sind da vorsichtiger.
Auch wenn es Chancen gibt, dass es besser läuft und die
Prognosen höher liegen, kann es Rückschläge geben; das
wissen wir alle. Wir fahren noch immer auf Sicht. Aber
die liberal-christliche Koalition hat einen Kompass. Unser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft.
({1})
Deutschland muss jetzt das Potenzial für dauerhaftes,
selbsttragendes Wachstum wieder aufbauen. Wir brauchen einen höheren Wachstumspfad. Das Wachstumspotenzial wird durch technischen Fortschritt, flexible
Arbeitsmärkte, Wettbewerb auf den Gütermärkten, eine
niedrige Steuerbelastung und solide Staatsfinanzen gestärkt.
Technischer Fortschritt und Wachstumspotenzial:
Forschung und Bildung sind die Schlüssel zu technischem Fortschritt, zu künftigem Wohlstand. Die Koalition wird die Ausgaben für Bildung und Forschung bis
2013 um 12 Milliarden Euro erhöhen.
({2})
Das Geld ist das eine, meine Damen und Herren, die
Einstellung zu neuen Technologien das andere. Die Koalition setzt hier auf eine Ermöglichungskultur. Wir
wollen keine Verhinderungs- oder gar Verteufelungskultur. Wir betonen Chancen neuer Technologien. Wir betonen bei CCS, dass dies vielleicht eine Möglichkeit ist,
CO2-arm Kohlestrom zu erzeugen.
({3})
Wir betonen bei der Elektromobilität, dass sie vielleicht
eine Möglichkeit ist, das Auto des 21. Jahrhunderts zu
erfinden. Wir betonen bei der Grünen und Roten Gentechnik, dass sie vielleicht die Möglichkeiten zur Bekämpfung von Hungerkatastrophen und zur Heilung von
Krankheiten bieten wird.
({4})
Es gibt ethische Komponenten des Fortschritts, ich
kenne ebenso die ethischen Gegenargumente und respektiere sie, aber Fortschritt per se zu verteufeln, halte
ich für falsch, auch ethisch für falsch.
({5})
Flexible Arbeitsmärkte und Wachstumspotenzial: Der
robuste Arbeitsmarkt ist das Verdienst von Strukturveränderungen in Deutschland.
({6})
Früher hatten wir die Debatte über „Jobless Growth“,
Wachstum ohne Beschäftigungseffekte. Mit Blick auf
die Wirtschaftskrise ist man fast versucht zu sagen: Wir
haben „Growthless Jobs“, Beschäftigungsstabilität trotz
des Wachstumseinbruchs, den wir zu verzeichnen haben.
Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen.
Die Tarifpartner haben flexible Lohn- und Arbeitszeitstrukturen geschaffen. Das hat sich in der Krise ausgezahlt. Die Gewerkschaften haben diese Vereinbarungen nicht „betriebliche Bündnisse“ genannt; sonst wären
sie bei Teilen der Opposition vielleicht in den Verdacht
des Neoliberalismus geraten. Die Tarifpartner haben
pragmatische, verantwortungsvolle Lohnpolitik betrieben. Ich kann sie in diesem vernünftigen Kurs nur bestärken.
Auch der Staat hat seinen Beitrag zur flexiblen Krisenbewältigung am Arbeitsmarkt geleistet. Die Kurzarbeiterregelung hilft den Unternehmen, ihre Belegschaften zu halten. Ich sage aber auch deutlich: Kurzarbeit ist
ein für den Staat wie für die Unternehmen teures Instrument. Eine Dauersubventionierung darf es nicht geben.
Wettbewerb und Wachstumspotenzial: Wir brauchen
mehr Wettbewerb, um aus der Krise zu kommen. Wettbewerb belebt die Wirtschaft. Für manche ist das unangenehm, manchmal auch in der Politik. Aber Wettbewerb ist das beste Entdeckungsverfahren, ein Garant für
Dynamik. Marktbeherrschende Unternehmen können
wie Mehltau auf unserer vitalen Wirtschaft liegen. Deshalb wollen wir die Möglichkeit der Entflechtung marktbeherrschender Unternehmen schaffen. Das amerikanische Recht kennt dieses Instrument schon seit mehr als
100 Jahren. Es kam zwar nur in wenigen Fällen zur Anwendung, aber allein das Drohpotenzial veranlasst manche Unternehmen zu wettbewerbskonformem Verhalten. Selbst wenn man nicht in die Schlacht zieht, kann es
gut sein, ein scharfes Schwert zu haben. Das Bundeskartellamt soll dieses Schwert haben; dort ist es in guten
Händen. Es wird nicht so sein, dass die Politik willkürlich etwas gestalten oder zerschlagen kann. Nein, es wird
ein rechtsstaatliches Verfahren werden, ohne politische
Willkür.
Geringe Belastung bei Steuern und Wachstumspotenzial: Dauerhaftes Wachstum erreichen wir nur mit niedrigen Steuern. Den ersten Schritt haben wir mit dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht; er ist auch
bitter nötig. Der private Konsum bleibt in diesem Jahr
schwach. Die Vorzieheffekte aufgrund der Abwrackprämie sorgen für eine spürbare Delle. Ein zweiter Schritt
wird folgen. Wir werden das Steuersystem mit einem
Stufentarif einfacher und gerechter machen, wir werden
die Belastung spürbar senken. Dazu bekennt sich die
Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht erneut.
({7})
Genauso bekennt sie sich zu einem ehrgeizigen Konsolidierungspfad ab dem Jahr 2011. Beides gehört zusammen.
({8})
Deutschlands Schuldenbremse ist ehrgeiziger als der
europäische Stabilitätspakt, und das ist richtig. Deutschland muss Stabilitätsanker in Europa bleiben. Wir sind
die größte Wirtschaftsnation der EU. An uns hängt viel,
auf uns wird besonders geachtet, wir haben eine Vorbildfunktion für die wirtschaftliche Stabilität in Europa, und
wir werden ihr gerecht werden. Einige Eurostaaten zeigen gefährliche Schwächen. Das kann fatale Auswirkungen auf alle Staaten der Eurozone haben. Es gibt keine
flexiblen Wechselkurse im Euroraum mehr. Zu starke
Ungleichgewichte zwischen den Staaten können zu erheblichen volkswirtschaftlichen Spannungen führen. Ein
Bail-out, eine Gemeinschaftslösung für nationale Schieflagen, sollte es nicht geben. Jedes Land muss zunächst
selbst seine Hausaufgaben machen. Die Mitgliedstaaten
stehen jeder für sich in der Verantwortung. Die kann ihnen niemand abnehmen.
({9})
Bei den Schieflagen in einigen Euroländern ist es
wichtig, dass angesichts der Krise die Wirtschafts- und
Finanzpolitik in Europa besser koordiniert werden müssen. Die EU braucht eine enge Exit-Strategie aus den
Notmaßnahmen, die ergriffen worden sind. Daraus darf
aber nicht der Nukleus einer europäischen Wirtschaftsregierung werden. Wir sollten darauf achten, dass der Subsidiaritätsgedanke auch in der EU-Strategie 2020 angemessene Beachtung findet.
Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten hat im großen Ganzen adäquat auf die Wirtschaftskrise reagiert. Auch die EZB hat Beachtliches geleistet.
Eine Deflation konnte glücklicherweise verhindert werden. Dazu waren unorthodoxe Maßnahmen notwendig.
Dabei musste das Risiko der Inflation in Kauf genommen werden. Ich bin optimistisch, dass die EZB auch
den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus den unorthodoxen Maßnahmen finden wird. Dann ist die Gefahr
eines rapide steigenden Preisniveaus ebenfalls gebannt.
Gewöhnungseffekte an zu niedrige Zinsen dürfen nicht
eintreten. Es gibt manche Beobachter, die angesichts der
niedrigen Zinsen vor der nächsten Blase warnen.
Die internationale Staatengemeinschaft muss ein kräftiges Signal an die Finanzmärkte aussenden. Die Staaten
sind mehr als ein großer Bankensicherungsverein. Sie
müssen die Leitplanken für die Märkte neu gestalten. Es
geht um die Rückkehr zu Maß und Mitte. Deutschland
tritt seit längerem für strengere Regeln ein. Auf dem
Gipfel in Pittsburgh wurden erste Schritte beschlossen.
Jetzt geht es um die Konkretisierung. Durch die aktuellen Äußerungen von Präsident Obama hat die Diskussion über die internationale Finanzarchitektur eine zusätzliche Dynamik bekommen. Ich will sie im Detail
nicht bewerten, aber das Signal ist wichtig. In Amerika
hat man erkannt, dass wir strengere Regeln brauchen.
Für Deutschland ist klar: Die G 20 sind für die Regulierungsfragen der richtige Rahmen. Im Kern müssen alle
Maßnahmen auf eine Reduzierung des Moral Hazard,
wie die Ökonomen es nennen, hinauslaufen. Wenn jemand im Finanzsektor weiß, dass der Staat eingreift,
wenn etwas schiefläuft, dann wird er sich selten ordentlich verhalten.
({10})
Wir brauchen spürbare Maßnahmen, die jedem am Finanzmarkt klarmachen: Der Staat kann auch anders. Der
Finanzsektor muss sich angemessen an den Kosten der
Krisenbewältigung beteiligen. Die Einschätzung meines
Kollegen Schäuble hierzu teile ich uneingeschränkt.
Auch seine Überlegung zur Managervergütung geht in die
richtige Richtung. Wir brauchen eine neue Verantwortungskultur in der Finanzbranche. Man kann bessere
Eigenkapitalregeln einführen. Man kann Zweckgesellschaften stärker regulieren. Man kann die Aufsicht verbessern. Das tun wir auch. All das sind richtige Maßnahmen. Kern aber bleiben die Marktteilnehmer selbst. Ihnen
muss bewusst gemacht werden: Ihr haftet am Ende für
euer Risiko und nicht der Steuerzahler.
({11})
Meine Damen und Herren, das Ziel dieser Bundesregierung ist es, die soziale Marktwirtschaft wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Die Zusammenhänge von Risiko und Haftung, von Eigenverantwortung und
Leistung müssen wieder deutlich werden. Der Staat
muss den Bürgern und den Unternehmen wieder mehr
Freiräume geben. Freiräume bedeuten Chancen; aber sie
bedeuten auch Verantwortung. Das Verhältnis von Staat
zu Privat, die Balance zwischen privaten und staatlichen
Entscheidungsmöglichkeiten müssen mit dem Abklingen der Krise neu ausbalanciert werden. Daran werden
wir arbeiten.
Der Jahreswirtschaftsbericht gibt die Richtung für die
marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands vor. Ich
hoffe auf Ihre Unterstützung.
({12})
Hubertus Heil ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung der
Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft beinhaltet
der Jahreswirtschaftsbericht drei Punkte:
Es geht darum, deutlich zu machen, welche wirtschafts- und finanzpolitischen Ziele eine Regierung hat.
Es geht um die geplanten Maßnahmen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Nicht zuletzt ist der Wirtschaftsminister, also Sie,
Herr Brüderle, aufgerufen, mit dem Jahreswirtschaftsbericht eine Stellungnahme zum Jahresgutachten des Sachverständigenrates abzugeben. Wer Ihre Rede gerade
gehört hat, hat festgestellt: Sie haben kein Wort zu dem
gesagt, was die Sachverständigen Schwarz-Gelb ins
Stammbuch geschrieben haben. Das ist kein Wunder;
denn das, was Sie da veranstalten, ist aus Sicht der Sachverständigen ziemlich peinlich.
({0})
Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten eine
Überschrift gewählt, die erstaunlich ist. An Ihre Adresse
gewandt, formuliert er die Warnung, die Zukunft nicht zu
verspielen. Wir können es auch konkreter machen. Der
Sachverständigenrat sagt: Wenn in diesem Jahr nicht die
richtigen Entscheidungen getroffen werden, dann droht
Deutschland dauerhaft eine Wachstumsschwäche zulasten von Wohlstand und Beschäftigung. Der Sachverständigenrat sagt auch, dass das, was Schwarz-Gelb mit dem
Koalitionsvertrag und dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das nichts anderes als ein Klientelbedienungsgesetz ist - ich komme gleich dazu -, in die
Wege leitet, nicht angetan ist, Wachstum wirklich zu generieren.
Auch das von Ihnen angestrebte Betreuungsgeld wird
vom Sachverständigenrat als wirtschaftspolitisch und
gesellschaftspolitisch kontraproduktiv angesehen. Nicht
zuletzt warnen alle Mitglieder des Sachverständigenrates
vor dem, was Sie in der Steuerpolitik vorhaben, nämlich
Steuersenkungen auf Pump und ohne Gegenfinanzierung. Das ist ein Armutszeugnis. Das, was Sie heute in
diesem Zusammenhang verschwiegen haben, ist ein
wirtschaftspolitischer Offenbarungseid der schwarz-gelben Bundesregierung.
({1})
Herr Brüderle, ich kann es Ihnen nicht ersparen:
Diese Bundesregierung und auch Sie scheinen in dieser
Phase den Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Sie haben
keine Konzepte und keine Ideen. Wenn Sie doch einmal
Ideen haben, dann gehen sie in die falsche Richtung.
Wollen wir das einmal miteinander durchgehen. Es ist
richtig, dass wir im letzten Jahr durch die Weltfinanzund Weltwirtschaftskrise den tiefsten wirtschaftlichen
Einbruch hatten; er lag bei minus 5 Prozent. Dass
Deutschland am Arbeitsmarkt und in der Binnennachfrage bis dato robuster als andere durch diese Krise gekommen ist, das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern
hat etwas damit zu tun, dass die damalige Bundesregierung, namentlich die Minister Steinbrück, Steinmeier
und Scholz, in der Krise das Richtige vorgeschlagen und
durchgesetzt hat, bei der Bankenrettung, bei den Konjunkturpaketen und bei der verlängerten Kurzarbeit.
({2})
- Es ist richtig: Diese Regierung ist abgewählt worden.
Aber ihre Maßnahmen wirken noch. Allerdings verlassen Sie diesen Wachstumspfad.
Herr Brüderle, Sie kritisieren etwas, was wir mit Frau
Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam beschlossen haben, nämlich die Umweltprämie. Dazu will ich Ihnen
sagen: Natürlich ist es ein unkonventionelles Instrument
gewesen; aber es hat schnell gewirkt. Es hat die Binnennachfrage stabilisiert, einen Einbruch verhindert, und es
hat Tausende von Arbeitsplätzen bei Automobilzulieferern und ähnlichen Unternehmen, auch in meiner Heimatregion, gesichert.
({3})
Das jetzt madig zu machen, ist ziemlich billig. Sie profitieren doch von diesen Maßnahmen.
({4})
In der jetzigen Situation werden die Wachstumszahlen durch eine leicht anspringende Exportkonjunktur
erfreulicherweise zwar etwas besser. Aber, Herr
Brüderle, ob Sie 1,4 oder 1,5 Prozent oder, wie einige Institute prognostizieren, 2 Prozent erzielen,
({5})
all das reicht nicht aus, um den Einbruch, der durch die
Nichtauslastung der Kapazitäten unserer Wirtschaft
droht, tatsächlich auszugleichen. Deshalb wird die Arbeitslosigkeit dieses Jahr steigen. Deshalb wäre es geboten, dass diese Bundesregierung sagt, was dagegen zu
Hubertus Heil ({6})
tun ist. Stattdessen tun Sie nichts, um zum Beispiel die
Binnennachfrage zu stärken. Im Gegenteil, Sie verunsichern die Menschen,
({7})
indem Sie verschweigen, an welchen Stellen Sie nach
der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kürzen wollen. Das führt zu Kaufzurückhaltung. Die Menschen
wissen doch: Das dicke Ende kommt noch.
Legen Sie Ihre Pläne, Herr Schäuble, wo Sie zuschlagen wollen, auf den Tisch. Wollen Sie angesichts der
steigenden Zahl von Arbeitslosen den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erhöhen? Wollen Sie im Bereich
der Familienleistungen kürzen, wie Frau Homburger es
schon vorgeschlagen hat?
({8})
Wollen Sie bei den Infrastrukturinvestitionen kürzen?
Sie sagen nicht, wo Sie sparen wollen. Das ist unehrlich
und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv, weil es die
Menschen in diesem Land verunsichert.
({9})
Die Zahlen verbessern sich leicht; darüber kann man
sich freuen. Aber es reicht halt noch nicht aus. Wir haben
keinen selbsttragenden Aufschwung. Deshalb ist Politik
gefragt, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen und
die richtigen Initiativen zu ergreifen. Wo ist denn Ihr
Konzept - Herr zu Guttenberg, kurzzeitig Bundeswirtschaftsminister, hat es angekündigt, aber es ist bis heute
von Ihnen, Herr Brüderle, nicht erarbeitet worden - für
eine moderne und ökologische Industriepolitik? Wo sind
Ihre Ansätze für eine moderne Dienstleistungspolitik von
Menschen für Menschen, mit Arbeitsangeboten, von denen Menschen auch leben können? Wo ist Ihr Konzept
für eine wirkliche Stärkung des Mittelstandes? Sie reden
viel über Mittelstandspolitik, tun aber nichts für die kleinen und mittleren Unternehmen. Es gibt zum Beispiel
keine Ansätze und Anregungen, was in dieser Krise zu
tun ist, damit die Maschinenbauindustrie in BadenWürttemberg, die im Moment notleidend ist, die richtigen
Impulse bekommt. Warum werden keine Vorstellungen
entwickelt, wie das produzierende Gewerbe etwa durch
verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten oder eine Innovationsprämie dabei unterstützt werden kann, in dieser
Phase beispielsweise seinen Maschinenpark zu modernisieren?
({10})
- Ja, aber Sie können in diesem Bereich mehr tun. Sie
reden - ({11})
- Brüllen Sie nicht, Frau Homburger. Das steht Ihnen
nicht.
({12})
Steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung, wie es in Ihrem Koalitionsvertrag steht, ist ein
schönes Schlagwort. Aber wo ist Ihr Konzept? Sie könnten doch mit Tax Credits dafür sorgen, dass kleine und
mittlere Unternehmen tatsächlich mehr in Forschung
und Entwicklung investieren.
({13})
Hinzu kommt eines: Die Steuergeschenke, die Sie für
wenige machen - Stichwort: Mövenpick -, und das, was
Sie darüber hinaus noch planen, wird Löcher in die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen reißen und die Investitionskraft der öffentlichen
Hand beschädigen; dabei brauchen wir sie 2011 nach
wie vor. Frau Roth, die Oberbürgermeisterin von Frankfurt, CDU-Mitglied, weist Sie darauf hin, dass Sie den
Ruin der Kommunen vorbereiten, nichts anderes. Das
hat auch wirtschaftliche Folgen.
Sie reden davon, dass mehr in Bildung investiert werden sollte. Wie sollen denn Bund, Länder und Kommunen mehr in Bildung investieren, wenn Sie solche Löcher reißen?
({14})
Und dann redet Ihr Herr Lindner davon - er wird ja
gleich auch noch reden -, der Staat sei ein teurer
Schwächling.
({15})
Dazu kann ich an dieser Stelle nur sagen: Wer unseren
demokratischen und sozialen Rechtsstaat, der gebraucht
wird, um den Rahmen für die soziale Marktwirtschaft zu
setzen und durch eine aktive Wirtschaftspolitik einen
Beitrag für Wachstum zu leisten, der jetzt gefragt ist,
mehr in Bildung zu investieren, um einen nachhaltigen
Wachstumspfad einzuschlagen, erst krankenhausreif redet bzw. krankenhausreif durch eine entsprechende Steuerpolitik macht und sich dann als Sanitäter anbietet, der
amputiert, der verfolgt ein Konzept, das vorne und hinten nicht stimmt. Sie werden scheitern, wenn Sie so weitermachen. Kehren Sie um!
Herzlichen Dank.
({16})
Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer ist nun der nächste
Redner für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
der Tat, Deutschland ist bisher besser durch die Krise gekommen als befürchtet: Das Wirtschaftswachstum ist,
wenn auch so stark wie noch nie, statt um 6 Prozent nur
um 5 Prozent zurückgegangen.
({0})
Die Verschuldung ist im letzten Jahr um 3 Prozent angestiegen. Wenn wir uns allerdings mit anderen Ländern
wie Großbritannien, Frankreich und USA vergleichen, in
denen die Neuverschuldung um 10 bis 15 Prozent gestiegen ist, dann können wir festhalten, dass wir noch ganz
ordentlich dastehen. Auch die Arbeitslosigkeit ist nicht
auf die erwarteten 5 Millionen gestiegen, sondern bei
3,4 Millionen im Jahresdurchschnitt geblieben. Das ist
auch und vor allem Ergebnis einer klugen Politik in der
Krise, die von großen Teilen dieses Hauses getragen
wurde, auch von der SPD - Gott sei Dank - und ebenso
von der FDP, die damals in der Opposition war. Stabilisieren in einer nie dagewesenen Krise des Wirtschaftsund Finanzsystems und Vertrauen schaffen, das war die
Aufgabe in den Jahren 2008 und 2009.
Die Zahlen der Sachverständigen und der Jahreswirtschaftsbericht zeigen, dass es in die richtige Richtung
geht, nämlich nach oben. Aber es gibt in der Tat keinen
Anlass zu Friede, Freude, Eierkuchen im Jahr 2010,
denn wir sind noch nicht über den Berg. In diesem Jahr
wird die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
abnehmen, voraussichtlich in einer Größenordnung von
700 000. Das heißt, 700 000 Personen weniger zahlen in
die Sozialversicherungssysteme ein. Andererseits wird
die Arbeitslosigkeit trotz Wachstums in diesem Jahr zunehmen. Wenn sie, wie vorausgesagt, um die Hälfte, ungefähr 350 000, zunimmt - demografiebedingt scheiden
mehr aus dem Arbeitsmarkt aus, als nachkommen -,
dann bedeutet das mehr Ausgaben in dem Bereich. Das
schlägt sich natürlich in den Haushalten nieder.
Auch das vorausgesagte Wachstum ist zum Teil
durch einen statistischen Effekt bedingt, nämlich dadurch, dass das vierte Quartal weniger schlecht lief als
befürchtet und dass vor allem in diesem Jahr die Maßnahmen greifen, die diese Bundesregierung und die Vorgängerregierung mit dem Bürgerentlastungsgesetz, dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz und den Konjunkturpaketen in Kraft gesetzt haben. Das reicht aber nicht aus,
um ein dauerhaftes Wachstum zu organisieren. Dies wird
die Herausforderung des Jahres 2010 und der folgenden
Jahre sein. Nur mit einem dauerhaften Wachstum schaffen wir es, aus der Krise zu kommen und den notwendigen Konsolidierungsbeitrag zu leisten. Jedes Prozent
mehr Wachstum bringt 5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen und damit auch mehr Einnahmen zum Beispiel in der Sozialversicherung.
Deshalb werden wir mit einem klugen Mix von Maßnahmen - Herr Brüderle hat es angesprochen - und mit
einem ordnungspolitisch klaren Kompass in allen Sektoren und auf allen Märkten agieren. Im Finanzmarkt werden wir zunächst dafür sorgen, dass die Realwirtschaft
auch im Aufschwung genügend Kredite zur Verfügung
hat und die Finanzierung dort nicht scheitert. Wir haben
bereits viele Instrumente über die KfW neu justiert. Wir
müssen aber auch dafür sorgen, dass insbesondere der
Mittelstand ausreichend mit Krediten versorgt wird.
Deshalb plädiere ich klar für die Idee der portfolio-orientierten Kreditversorgung: Ein Portfoliomix soll durch
zweckgebundene Globaldarlehen refinanziert werden,
damit die dadurch freiwerdenden Mittel zusätzlich in
den Kreditmarkt fließen können und so die Kreditversorgung gesichert werden kann. So wird der Wirtschaft intelligent auf die Sprünge geholfen, Herr Heil.
Es wird auch in diesem Jahr richtig und notwendig
sein, das verloren gegangene Vertrauen auf den Finanzmärkten wiederherzustellen. Wir müssen dafür sorgen,
dass sich die Dinge nicht wiederholen. Dazu gehört, dass
die Rahmenbedingungen international richtig gesetzt
werden. Die Bundesregierung unter Führung der Bundeskanzlerin arbeitet intensiv daran, dass das gelingt.
Wir müssen in Deutschland eine Allfinanzaufsicht
schaffen, die eine solche Krise zukünftig schlagkräftig
verhindern kann. Ich plädiere auch dafür, einen Krisenpräventionsfonds zu schaffen, der durch den Finanzsektor gefüllt wird, der die letzte Krise mit ausgelöst hat,
und nicht durch Steuereinnahmen. Auch das trägt dazu
bei, zukünftig besser vorbereitet zu sein.
({1})
Wir werden auch im Bereich der Gründer- und
Wachstumsfinanzierung neue Anreize setzen. Wir wollen, dass diejenigen, die Unternehmen gründen, Arbeitsplätze schaffen und neue Dienstleistungen in den Markt
bringen, eine gute Ausstattung erhalten und es dadurch
leichter haben. Nicht nur auf den Finanzmärkten, sondern auch auf den Gütermärkten müssen wir alles tun,
was wir tun können. Wir werden im Rahmen einer Ausstiegsstrategie, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen,
Beteiligungen der öffentlichen Hand dahin gehend überprüfen, ob eine Privatisierung zur Mobilisierung von
Wachstumspotenzialen beitragen kann. Wir werden den
Wettbewerb auf allen Gütermärkten verbessern. Beispielsweise im Bereich der Post wollen wir im Rahmen
des Postgesetzes mehr Wettbewerb bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung einer leistungsfähigen Grundversorgung in der Fläche erzielen.
({2})
Auch im Bereich der Telekommunikation werden wir
das deutsche Recht transformieren. Bei der Breitbandstrategie haben wir schon aufgeholt; hier werden wir uns
an die Spitze der Bewegung setzen.
({3})
Auch dies schafft Wachstum.
Wir brauchen eine Reform des Insolvenzrechts, um
den neuen Herausforderungen zu genügen. Restrukturierung und Fortführung sanierungsfähiger Unternehmen
müssen erleichtert werden. Auch damit wollen wir den
Erhalt von Arbeitsplätzen verbessern.
Bürokratieabbau ist ein weiteres Stichwort.
({4})
Auch hier sind Milliardenbeträge einzusparen. Wir wollen die Statistikpflichten reduzieren und die Bürokratie
insgesamt um 25 Prozent abbauen. Mit den eingesparten
Milliardenbeträgen kann man, geht man intelligent vor,
einen Wachstumsbeitrag leisten.
({5})
Wir werden im Rahmen eines klugen Energiekonzeptes einerseits ermöglichen, dass der Hauptanteil der
Energieversorgung durch erneuerbare Energien sichergestellt wird; dies stärkt die Wachstumsdynamik bei den erneuerbaren Energien. Andererseits werden wir die vorhandenen Potenziale entsprechend nutzen, beispielsweise
durch eine Rücknahme der willkürlich verkürzten Laufzeiten der Kernkraftwerke. Die Fakten sollten auch Sie
zur Kenntnis nehmen: Wenn wir international übliche
Fristen von 60 Jahren einhalten würden, dann wäre dort
ein volkswirtschaftliches Potenzial von 250 Milliarden Euro
zu heben.
({6})
Das Wirtschaftswachstum wäre dauerhaft mehr als
0,3 Prozent höher; das sagen uns alle Experten. Für einen privaten Haushalt mit einem Stromverbrauch von
3 500 Kilowattstunden pro Jahr bedeutete das, dass er
eine um 16 Prozent geringere Stromrechnung zu zahlen
hätte und 150 Euro im Jahr sparen würde. Zudem ist dies
der intelligenteste und preiswerteste Klimaschutz, den
wir nutzen können. Dies alles sind Dinge, die in der
Summe Sinn machen.
Auch auf dem Arbeitsmarkt werden wir Wachstum
organisieren. Ein Hauptziel muss insbesondere sein,
dass es gelingt, die Sozialversicherungsbeiträge, wie im
Koalitionsvertrag vorgesehen, dauerhaft unter 40 Prozent zu halten, damit Arbeit bezahlbar bleibt und Wachstum ausgelöst werden kann.
({7})
Wir müssen dort, wo es notwendig ist - ich nenne beispielsweise die Hinzuverdienstregelungen; sie haben
sich nicht bewährt; sie fördern die Teilzeitbeschäftigung
und das Verharren im Leistungsbezug; dies halte ich für
nicht richtig -, Anreize schaffen. Das schafft mehr
Wachstum. Arbeit muss sich lohnen.
({8})
Derjenige, der morgens aufsteht, sich die Mühe macht,
zur Arbeit zu gehen, und abends müde nach Hause
kommt, muss mehr in der Tasche haben als derjenige,
der morgens im Bett liegen bleibt.
({9})
Wir werden auch im Bereich der Bildung und Forschung neue Akzente setzen, und zwar mit 12 Milliarden
Euro.
({10})
- Jetzt kommt es wieder zu einer Redezeitverlängerung;
nicht dass nachher wieder Kritik geübt wird.
Noch nicht. Aber offenkundig gibt es ein informelles
Einvernehmen, das auf diese Weise herbeizuführen. Bitte schön, Herr Heil, Sie haben die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Pfeiffer mit drei f
({0})
- wir kennen und schätzen uns durchaus -, ich möchte
Sie fragen - denn Sie haben den schönen Satz: „Arbeit
muss sich lohnen“, den ich aus Herzen unterschreiben
kann, zitiert -: Was sagen Sie eigentlich Menschen, die
Vollzeit arbeiten, 2 oder 3 Euro pro Stunde bekommen
und die von dieser Arbeit nicht leben können, die sich
nach Ihren Plänen demnächst Almosen - ergänzende Sozialhilfe oder eine Arbeitslosengeld-II-Aufstockung holen müssen und denen Sie den Mindestlohn verwehren? Was hat das mit „Arbeit muss sich lohnen“ zu tun?
Ich stelle eine weitere konkrete Frage, Herr Pfeiffer,
wenn Sie gestatten: Sind Sie eigentlich dafür, dass Frau
von der Leyen beispielsweise in der Pflegebranche,
wenn es dort am Freitag eine Einigung gibt, einen tariflichen Mindestlohn durchsetzt, oder sind Sie wie Herr
Brüderle der Meinung, dass man das lieber nicht tun
sollte?
Vielen Dank, Herr Heil. - In der Tat kennen und
schätzen wir uns. Deshalb haben Sie es eigentlich nicht
nötig, marktschreierisch zu agieren. Wir sollten uns lieber sachlich auseinandersetzen; denn Ihre Marktschreierei hat mich eben sehr an den Kollegen Tauss erinnert,
der früher mit ähnlicher Lautstärke unterwegs war.
({0})
Deshalb ist es gut: Wir bleiben bei der Sache und unterhalten uns über Inhalte.
Wir müssen die Arbeit so organisieren, dass es sich zu
arbeiten lohnt. Im Niedriglohnsektor muss es so attraktiv
sein, dass wir die Leute in Arbeit bringen. Dies haben
wir gemeinsam geschafft. In der Zeit der Großen Koalition ist es gelungen, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erstmalig zugenommen hat. Wir hatten die Höchstzahl an sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten mit über 40 Millionen im Jahr 2008 erreicht.
({1})
Dies ist nur gelungen, weil wir gerade auch im Niedriglohnsektor entsprechende Anreize gesetzt haben, zum
Beispiel über Leiharbeit, die eine Brücke in die Beschäftigung war und ist.
({2})
Daher plädieren wir auch nicht dafür, die Leiharbeit einzuschränken oder zurückzunehmen; vielmehr müssen
wir sie intelligent machen.
({3})
Auch zeigt sich, dass der Mindestlohn nicht die richtige
Lösung ist.
Nehmen wir einmal eine Familie mit zwei Kindern.
Heute hat sie dank der Transferleistungen und der Unterstützung, die es gibt, netto fast 2 000 Euro zur Verfügung. Wenn Sie das einmal auf jemanden beziehen, der
im Handwerk oder im Dienstleistungsbereich beschäftigt
ist, dann werden Sie feststellen, dass er niemals mit einem Mindestlohn - weder von 6,50 Euro noch von
7,50 Euro
({4})
noch von 10 Euro noch von 12 Euro - auf diese 2 000 Euro
kommen wird. Deshalb wird es immer notwendig sein,
hier die Leute in Beschäftigung zu bringen und mit intelligenter staatlicher Ergänzung Brücken zu bauen.
({5})
Dabei geht es nicht nur um finanzielle Fragen. Vielmehr
ist Arbeit auch ein Wert an sich, und es geht darum, dass
die Menschen einen Beitrag leisten können.
Offensichtlich hält Herr Heil seine Frage für hinreichend beantwortet; er hat sich hingesetzt.
Ich übrigens auch, Herr Kollege, sodass ich Ihnen
keine Hoffnung auf weitere Verlängerung Ihrer Redezeit
machen kann.
({0})
Abschließend komme ich zum Thema Forschung
und Bildung. Neben den 12 Milliarden Euro, die wir zusätzlich zur Verfügung stellen und die Herr Brüderle vorhin bereits angesprochen hat, werden wir das Ziel nicht
aus dem Auge verlieren, bis zum Jahre 2015 10 Prozent
des Bruttosozialproduktes für Bildung und Forschung
auszugeben. Wir werden prüfen, ob wir das ZIM-Programm, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand,
das ein großer Erfolg war - durch die Ausweitung auf
die alten Bundesländer haben sich dort die Anfragen verdoppelt; dies wirkt für 2009 und 2010 absolut proaktiv
und schafft einen Wachstumsbeitrag -, über 2010 dauerhaft verlängern.
Außerdem werden wir eine steuerliche Forschungsförderung einführen, eine Absetzbarkeit von Ausgaben
für Forschung und Entwicklung, die sich mehr als lohnt.
Sie bringt das Dreifache dessen, was sie kostet. Zum
Beispiel bringt ein 10-prozentiger Tax Credit zunächst
für den Staat einen Steuerverlust von 4 Milliarden Euro
mit sich, mittelfristig aber über 12,4 Milliarden Euro
Mehreinnahmen und eine entsprechende Erhöhung des
Bruttoinlandsproduktes. Durch diese steuerliche Forschungsförderung lässt sich also dauerhaft eine Wachstumserhöhung um 0,5 Prozent erzielen, wenn man es intelligent macht.
Sie sehen, mit klarem ordnungspolitischen Kompass
sind wir in der Lage, aus der Stabilisierungsphase in diesem Jahr in eine dauerhafte selbsttragende Wachstumsund Aufschwungsphase zu kommen.
({0})
Das ist der beste Beitrag zu Wirtschaftswachstum, weil
er die Voraussetzung für eine intelligente Konsolidierung schafft.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Sahra Wagenknecht,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Tricksen, täuschen, verschleppen und betrügen - das
scheint die wirtschaftspolitische Strategie dieser Bundesregierung zu sein.
({0})
- Da brauchen Sie gar nicht zu lachen. Sie brauchen sich
nur das anzuschauen, was Herr Brüderle hier vorgestellt
hat. Ich denke, solange Sie diese Politik fortsetzen, so
lange wird die Hoffnung auf einen selbsttragenden, auf
einen wirklichen Wirtschaftsaufschwung nichts als ein
frommer Wunsch bleiben.
({1})
Das Grundproblem ist, dass Sie wirklich glauben,
dass es irgendwann einfach so weitergeht wie vor 2008.
Ich kann Ihnen nur sagen: Vergessen Sie es! Es wird kein
Zurück zu einem Modell geben, bei dem die deutsche
Wirtschaft jedes Jahr Exportüberschüsse in irrwitziger
Größenordnung aufhäuft und gleichzeitig der Binnenmarkt durch Sozialraub und Lohndumping immer mehr
ruiniert wird, wo alles Wachstum nur am Export hängt.
Ein Zurück zu diesem Modell ist weder wünschenswert
noch denkbar.
({2})
Es ist nicht wünschenswert, weil das ein Wachstum
erzeugt, das an der großen Mehrheit der Menschen vorbeigeht. Das haben wir beim letzten Wirtschaftsaufschwung gesehen. Es ist auch nicht denkbar, wenn Sie
sich die weltwirtschaftliche Situation ansehen. Was war
denn die Grundlage dieser Exporterfolge? Das war nicht
zuletzt die wachsende Verschuldung der amerikanischen
Konsumenten. Aber diese Konsumenten sind heute
kaum weniger überschuldet als zu Beginn der Krise.
Auch der US-Staat ist inzwischen weitgehend an der
Grenze seiner Defizitmöglichkeiten angelangt.
Oder schauen Sie in andere Regionen der Welt,
schauen Sie auf Osteuropa. Die Krise hat in Osteuropa
eine Schneise der Verwüstung geschlagen. Das bedeutet,
dass dort Wachstum und Nachfrage auf Dauer am Boden
liegen werden.
({3})
Südostasien - darauf setzen Sie so gern Ihre Hoffnung exportiert mehr als es importiert. Das heißt: Die Weltwirtschaft wird uns nicht retten. Wer immer nur darauf
setzt, dass das Heil von außen kommen muss, der benimmt sich wie jemand, der in einer kalten Wohnung
sitzt und auf den Winter schimpft, aber nicht auf die Idee
kommt, dass man vielleicht die Heizung anstellen
könnte. So ist Ihre Strategie.
({4})
Wer eine wirtschaftliche Erholung will, die diesen Namen verdient, der muss aufhören, auf warmes Wetter
draußen zu warten, sondern der muss etwas gegen die
soziale Eiseskälte in der Bundesrepublik Deutschland
tun.
({5})
Inzwischen hat es sich selbst bis zu Herrn Brüderle
herumgesprochen, dass wir ein akutes Nachfrageproblem haben. Dieses Nachfrageproblem haben wir nicht,
weil den Menschen die Lust, zu konsumieren, abhanden
gekommen ist, sondern weil Millionen Menschen in diesem Land einfach nicht mehr das Geld in der Tasche haben, um sich die Dinge zu kaufen, die sie dringend brauchen. Das ist das Ergebnis jahrelanger Lohnsenkungen.
Das ist ein Ergebnis von Rentensenkungen; auch jetzt
haben wir wieder zwei Nullrunden vor uns. Das ist ein
Ergebnis von Sozialabbau.
Ich traue dieser Regierung wirklich viel zu. Aber dass
sie tatsächlich glauben kann, dass sie die Nachfrage im
Land dadurch fördert, dass sie reiche Erben, Besserverdiener und spendierwillige Unternehmen mit Steuergeschenken bedenkt, dass sie wirklich annehmen kann, dadurch die Nachfrage zu stärken, dazu kann ich nur
sagen: So viel wirtschaftspolitischen Unverstand würde
ich selbst dieser Koalition nicht zutrauen wollen.
({6})
Die Große Koalition hat Ihnen ein giftiges Erbe hinterlassen, nämlich in Form von 13 Milliarden Euro an
Steuergeschenken, die in diesem Jahr wirksam geworden
sind. Das sind Einnahmeausfälle von 13 Milliarden.
Aber statt sich darüber zu beschweren und sie zu stoppen, setzen Sie mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz noch einen obendrauf. Ich muss schon sagen: Die
wilde Entschlossenheit, mit der diese Bundesregierung
die öffentlichen Haushalte ganz offensichtlich in den
Ruin hineintreibt, wohl wissend, dass die Haushaltspolitik ab dem nächsten Jahr im selbstgeschaffenen Korsett
der Schuldenbremse stecken wird, lässt den Verdacht
aufkommen, dass es gar nicht so ungewollt ist, dass man
härtesten Spar- und Konsolidierungszwängen unterliegen wird, weil man sich vielleicht so einen guten Vorwand schafft, sich der letzten Reste des Sozialstaates zu
entledigen, also all dem, was Rot-Grün und die Große
Koalition noch übrig gelassen haben.
Man hört schon einiges darüber, was Sie noch vorhaben, auch wenn Sie das offiziell nicht zugeben: Bei der
Bundesanstalt für Arbeit sollen Milliarden eingespart
werden. Sie erzählen uns, das sei vielleicht durch Reorganisation und Bürokratieabbau zu machen. Machen Sie
doch den Menschen nicht so viel vor! Wenn Sie dort
Milliarden sparen wollen, dann werden Sie die Leistungen kürzen. Das heißt, Sie werden in zynischer Kontinuität das machen, was Ihre Vorgängerregierungen auch
schon gemacht haben: Sie werden das Geld am Ende bei
denen holen, denen es schon heute dreckig geht, die
schon heute nicht mehr menschenwürdig leben können.
Das werden Sie machen. Das sage ich Ihnen voraus.
Man hört, dass die steuerfreien Nacht- und Feiertagszuschläge zur Disposition stehen. Man hört und liest im
Jahreswirtschaftsbericht düstere Andeutungen zur Zukunft der Krankenversicherung, die sich stark nach
Kopfpauschale, das heißt nach rapider Verteuerung und
Leistungsverschlechterung gerade für Geringverdiener
anhören. Sie sollten endlich aufhören, den Leuten vorzulügen, Sie wollten die Bezieher unterer und mittlerer
Einkommen entlasten. In Wahrheit wird Ihre Politik am
Ende darauf hinauslaufen, dass Schichtarbeiter, Arbeitslose, Rentner und Kranke die Rettung der Zockerbanken
und die Steuersenkungen für reiche Unternehmen, für
reiche Spitzenverdiener, für reiche Erben zu bezahlen
haben. Das ist Ihre Politik. Ich muss sagen: Wer so eine
Politik macht, der muss sich nicht wundern, wenn immer
mehr Menschen an der Demokratie verzweifeln; der
macht die Demokratie nämlich kaputt, indem er ganz
wenige hemmungslos bereichert und der Mehrheit seiner
Wähler ins Gesicht schlägt.
({7})
Wie Sie davon träumen können, unter solchen Bedingungen einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen, bleibt wirklich Ihr Geheimnis. Wir werden in dieser Debatte weiterhin immer wieder darauf beharren:
Natürlich gibt es zu dieser Art von Politik Alternativen.
Diese Alternativen liegen eigentlich auf der Hand: Wenn
die jahrelange Umverteilung der Einkommen von unten
nach oben den Binnenmarkt zerstört hat, liegt es dann
wirklich so fern, vielleicht einmal die entgegengesetzte
Richtung zu versuchen, das heißt darauf zu setzen, dass
jetzt diejenigen für die Krise zahlen, die von den Entwicklungen vorher profitiert haben, und nicht wieder
den Facharbeiter, die Lidl-Verkäuferin oder sogar den
Hartz-IV-Empfänger zur Kasse zu bitten? Warum verweigern Sie sich einer Millionärsteuer? Warum verweigern Sie sich einer Finanzkrisenverantwortungsgebühr,
wie Obama sie vorgeschlagen hat, und lassen stattdessen
die Banken schon wieder auf den internationalen Märkten herumzocken, als hätte es überhaupt keine Finanzkrise gegeben? Wenn die ständige Schrumpfung des öffentlichen Dienstes und der öffentlichen Investitionen
die Arbeitslosigkeit erhöht hat, liegt es dann so völlig
fern, vielleicht auch einmal auf das gegenteilige Konzept
zu setzen, nicht auf weitere Privatisierung, sondern auf
den Ausbau des öffentlichen Dienstes und die Erhöhung
der öffentlichen Investitionen? Die Bundesrepublik befindet sich in all diesen Bereichen inzwischen in einer
peinlichen Schlusslichtposition in Gesamteuropa. Wenn
die jahrelange Enteignung der Beschäftigten Kaufkraft
und Konsum nach unten gedrückt hat, ist es dann wirklich eine so fernliegende Idee, all die barbarischen Gesetze zurückzunehmen, die genau diesen Lohnraub ermöglicht haben, ganz vorn die Liberalisierung der
Leiharbeit und natürlich auch den mit Hartz IV verbundenen Zwang zur Annahme auch noch der letzten Hungerlohnjobs?
Die FDP möchte immer so gern Subventionen abbauen. Ich sage Ihnen: Eine Subvention können Sie
wirklich abbauen, das ist die Subventionierung der Billigjobs in diesem Land. Das kostet den Steuerzahler inzwischen fast 10 Milliarden Euro im Jahr.
({8})
Ich sage Ihnen: Schaffen Sie einen Mindestlohn von
10 Euro die Stunde, und Sie werden den größten Teil
dieser 10 Milliarden Euro einsparen können! Das ist ein
konstruktiver Sparvorschlag.
({9})
Aber wahrscheinlich wird das bei Ihnen wieder auf taube
Ohren stoßen.
Der wirtschaftspolitische Kurs, den diese Bundesregierung fährt, ist ein Crashkurs - man kann das nicht anders nennen -, der früher oder später in die nächste
große Krise hineinführen wird. Ich kann Ihnen ankündigen: Die Linke wird diesem Kurs weiterhin schärfsten
Widerstand entgegensetzen.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schauen Sie sich einmal die Gestaltung des Titelblatts
des Jahreswirtschaftsberichts an.
({0})
Das ist eine Botschaft für sich: Am Start sind nur Gelbe
und Blaue, Rote sowieso nicht. Einen Weißen sehe ich
noch. Schwarze, die solche Läufe immer gewinnen, sehe
ich auch nicht. Man hat auf eines Wert gelegt - das ist
entscheidend und durchzieht den ganzen Text -: Man
will deutlich machen, dass das kein Fehlstart ist. Die Kameraden kommen recht gleichmäßig aus den Startblöcken heraus. Die Botschaft des Jahreswirtschaftsberichts
lautet also:
({1})
Es war kein Fehlstart, sondern ein organisierter und in
einer gut harmonierenden Koalition gelungener Auftakt
für vier Jahre.
({2})
- So einfach bekommt man Beifall von Schwarz-Gelb.
({3})
Wenn Sie den Text lesen und die Ziele kennen, die ein
Jahreswirtschaftsbericht normalerweise aufweisen muss
- er muss sie aufgrund gesetzlicher Grundlage haben;
Herr Heil hat darauf hingewiesen -, dann sehen Sie, dass
dieser Bericht das nicht leistet. Er soll einen Überblick
über Ihre Vorhaben in der Wirtschafts- und Steuerpolitik
geben, er soll widerspruchsfrei sein, und er soll klären,
wie Sie die verschiedenen Ziele, zum Beispiel Wirtschaftswachstum und Haushaltskonsolidierung, gleichzeitig erreichen wollen.
({4})
Ich sage Ihnen nach aufmerksamer Lektüre dieses Berichtes: Er klärt keine der Fragen, die schon letzte Woche
bei den Haushaltsberatungen offengeblieben sind. Vielmehr wirft er zusätzliche Widersprüche und Fragen auf.
Es ist nicht geklärt, wie Sie die Ziele Wachstum und
Konsolidierung im Jahr 2011 erreichen wollen. Wenn
Sie schon keine mittelfristige Finanzplanung zustande
bringen, dann hätte ich zumindest jetzt erwartet, dass,
damit Vertrauen auf den Märkten entsteht, im Jahreswirtschaftsbericht steht, wie dies gehen soll. Aber, Herr
Brüderle, das haben Sie vermieden. Wir haben von Ihnen allgemeine Lyrik über Konsolidierung gehört, aber
Sie haben nicht die Frage beantwortet, wie die einzelnen
Posten, die im nächsten Jahr fehlen werden, zu finanzieren sind: 11 Milliarden Euro brauchen wir wahrscheinlich für die Bundesagentur für Arbeit. 10 Milliarden
Euro müssen Sie wegen der Schuldenbremse einsparen.
Um 19 Milliarden Euro wollen die gelben Helden die
Steuern zusätzlich senken. Insgesamt 10 bis 35 Milliarden Euro kann die Gesundheitsprämie aus dem Hause
Rösler kosten.
({5})
Das sind rund 60 Milliarden Euro, zu denen in diesem
Jahreswirtschaftsbericht nichts anderes steht als Wachstum, Wachstum, Wachstum. Das ist die einzige Botschaft
dieser Koalition, die hier in diesem Haus und in der Öffentlichkeit bisher gehört wurde. Ich kann nur sagen:
Diese Koalition benutzt den Begriff Wachstum wie eine
Droge. Sie verfolgen in voller Dröhnung dieses Programm und verlieren den Blick für die Wirklichkeit.
Denn 1 Prozent Wachstum bringt 5 bis 6 Milliarden Euro
mehr Staatseinnahmen, aber nicht 60 Milliarden. Dazu
bräuchten Sie 10 Prozent Wachstum; die haben Sie nicht.
({6})
Weil es sich oft so verhält, dass Sie das, was wir sagen, nach einem halben Jahr oder einem Jahr auch sagen,
will ich Ihnen einmal ernsthaft erklären, warum wir auf
dieser Wachstumsfrage insistieren; es gibt einen einfachen Grund dafür, dass wir von Wachstumsfetischismus
bei Ihnen reden. Auch wir Grüne wissen, dass es mit
Wachstum einfacher ist, einen Staatshaushalt aufzustellen; das ist klar. Aber wir wissen auch, dass man sich die
Frage stellen muss, was eigentlich wächst, ob es ein
Wachstum ist, das uns reicher macht, oder ein Wachstum, das uns ärmer macht.
Ich will zwei Beispiele nennen. Wenn wir 20 neue
große Kohlekraftwerke bauen - sie sind ja im Bau oder
in Planung -, dann wird unser Land ärmer, weil wir
durch den CO2-Ausstoß und durch die Beschränkung,
die das für die erneuerbaren Energien praktisch bedeutet,
eine ökologische Verschuldung eingehen. Also wird unser Land dadurch nicht wirklich reicher, sondern ärmer.
Es bringt zwar Wachstum in Ihrem Sinne, aber vermehrt
unsere Wohlfahrt nicht, sondern schwächt sie sogar.
({7})
Zweites Beispiel. Wenn wir in jedes Kinderzimmer
einen Fernseher stellen würden, dann würde das Wachstum bringen. Dennoch würde mit diesem Wachstum eine
soziale Verschuldung verbunden sein, weil klar ist, dass
die sozialen Folgekosten, die wir mit so etwas anrichten,
bewältigt werden müssen. Es gibt also Wachstum, das
die Wohlfahrt der Gesellschaft überhaupt nicht mehrt,
obwohl es in einem quantitativen Sinne die Staatseinnahmen und das Bruttosozialprodukt vergrößert.
Der Punkt, auf dem wir insistieren, lautet ganz einfach: Es kommt darauf an, in welchen Bereichen der
Staat zusätzliche Wachstumsanreize setzt, ob das Bereiche sind, die unser Land wirklich stärker und auch nachhaltig reicher machen, oder ob das nicht der Fall ist.
({8})
Darüber müssen wir diskutieren.
Sie werden sehen, dass eine der Folgen der Finanzmarktkrise eine weltweite intensive Diskussion über
diese Frage sein wird: Was tut unseren Gesellschaften
und unserer Welt und unserer Natur und unserem Klima
eigentlich gut, und was zerstört sie?
Der blinde Wachstumsbegriff, den Sie, Herr Brüderle,
im Jahreswirtschaftsbericht zugrunde legen, beantwortet diese Frage nicht. Wenn Sie dieser Frage nachgehen
würden, müssten Sie sich entscheiden: Wo wollen wir
zusätzliche Investitionen? Wo wollen wir auf die Bremse
treten? Wollen wir - wie die Grünen es vorschlagen die Schwerpunkte der Politik bei sozialer Gerechtigkeit,
bei Bildung und bei Klimaschutz setzen? Dagegen sagen
Sie: Ich bin hier der Wirtschaftsminister; ich will, dass
alles wächst, ganz egal, ob es nützt oder schädlich ist. Das ist der Unterschied zwischen uns, über den wir in
dieser Legislaturperiode viel zu streiten haben.
({9})
Sie tun zu wenig für den Binnenmarkt. Die Wachstumshoffnungen, die Sie in diesem Jahreswirtschaftsbericht mühsam aufbauen, beziehen sich ausschließlich auf
den Export. Sie tun systematisch zu wenig für den Binnenmarkt, weil Sie sich der Frage, wie man die Massenkaufkraft, die Kaufkraft der kleinen Leute, stärken kann,
systematisch verweigern.
({10})
Sie haben - das kann man nicht anders sagen - eine
ideologische Scheuklappe beim Mindestlohn, und da,
wo Sie entlasten, entlasten Sie in sozialer Schieflage.
Das sehen wir beim Kindergeld: Die Kinder in Familien,
die von Arbeitslosengeld II leben - mindestens 1 Million
Kinder in Deutschland -, bekommen nichts. Jetzt ist für
zwei Monate dennoch etwas überwiesen worden. Das ist
oberpeinlich! Der, der am Computer den Knopf gedrückt
hat, konnte sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass
in Deutschland jemand auf die Idee kommt, den Reichen
viel, den Mittleren mittel und den Armen gar nichts zu
geben. Und jetzt kommt Frau von der Leyen und sagt:
Wir leben in einem Rechtsstaat. Das muss zurückgezahlt
werden. - Man muss einmal die Bürokratiekosten dieser
Rückholaktion mit dem vergleichen, was sie bringt.
Vielleicht wäre es eine kluge Entscheidung, das Geld
diesen Familien zu lassen.
({11})
Übrigens: Wie die Bundesregierung bzw. Herr
Brüderle die Entwicklung des Binnenmarktes einschätzt,
kann man anhand der Zahlen schon nachlesen: Preisbereinigt wird der private Konsum in diesem Jahr um
0,5 Prozent sinken - so seine Prognose -, und die Sparquote wird um 0,2 Prozent steigen. Das ist das, was wir
immer vorausgesagt haben: Eine Belebung des Binnenmarktes bringt die Nummer, die die FDP mit dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz durchgezogen hat
- Senkung der Mehrwertsteuer für die Hotels -, nicht.
Selbst der Wirtschaftsminister ist an dieser Stelle skeptisch. Ich rate, nicht nur skeptisch zu sein, sondern diese
Politik einmal zu überprüfen.
({12})
Der wichtigste Punkt, wo wir eine offenere Sprache
pflegen müssen, Herr Wirtschaftsminister, ist die Frage
Bankenfinanzierung/Kreditklemme. Die Bankenkrise
ist in Deutschland nicht gemeistert; da lügen Sie sich etwas in die Tasche. Die Experten sagen, dass in den
Bilanzen der Banken - auch der Landesbanken - noch
bis zu 100 Milliarden Euro an faulen Papieren, an Risiken liegen. Deswegen können wir nicht sagen: Eine Kreditklemme ist nicht in Sicht, und das, was bei der Vergabe von Krediten an Schwierigkeiten bleibt, wird der
Kreditmediator schon richten.
Wir haben an der Art und Weise, wie Sie die Banken
gerettet haben, Verschiedenes kritisiert. Die Kernlinie
unserer Kritik war, dass Sie die Banken viel zu sehr nach
dem Freiwilligkeitsprinzip haben agieren lassen. Das betrifft das Bad-Bank-Gesetz, aber auch, dass Sie keinen
verbindlichen Stresstest für alle Banken angesetzt haben.
Das hat dazu geführt, dass nicht aufgedeckt wird, was an
Risiken noch in den Büchern schlummert, dass das alles
nicht so geht, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir
warnen Sie vor der Vorstellung, man könne durchatmen,
die Bankenkrise sei ausgestanden; denn wir wissen
nicht, was noch auf uns zukommt. Deswegen kann ich
der Tendenz des Jahreswirtschaftsberichts an dieser
Stelle nicht zustimmen.
Die Gemeinden - ich komme nicht darum herum,
diesen Punkt anzusprechen; eine systematische Darstellung dessen fehlt im Jahreswirtschaftsbericht - waren
gerade in einer Krise und einer aufkeimenden Konjunktur immer Konjunkturmotoren. Es ist einer der größten
wirtschaftspolitischen Fehler, dass Sie den Gemeinden
in dem Moment, wo sie investieren sollten, durch das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz und durch das, was
Sie sonst noch vorhaben, die finanziellen Mittel entziehen.
({13})
Das ist wirtschaftspolitisch völlig verkehrt. Wir werden
nicht müde, dies deutlich und klar darzustellen.
Sie drücken sich an einer Frage völlig vorbei, die die
Bevölkerung immer noch sehr umtreibt: Wer bezahlt eigentlich die Kosten der Finanzmarktkrise? Ihre Antwort
„Steuersenkung“ ist keine Antwort auf die Frage: Wer
bezahlt die Kosten der Krise? Ich höre von Frau Merkel,
von der Bundesregierung immer nur internationale Vorschläge, die dann auf der G-20-Ebene wieder verläppert
werden, aber nichts Konkretes zu der Frage, was Sie in
Deutschland vorhaben. Ich höre keinen Vorschlag, diejenigen, die riskant spekuliert haben, zur Kasse zu bitten.
Wir sagen Ihnen: Ohne Veränderungen auf der Einnahmeseite unserer Haushalte, ohne eine neue Diskussion über den Spitzensteuersatz und über die Frage, ob
wir eine Vermögensabgabe nach dem Lastenausgleichsprinzip brauchen - die Lasten können jetzt nicht mehr
von allen getragen werden -, werden wir die vielen
schwierigen Finanzfragen, die vor uns liegen, nicht bewältigen können. Sie diskutieren über Irrealo-Konzepte.
Die einheitliche Gesundheitsprämie ist doch nichts anderes als ein Irrealo-Konzept, das Sie unter den bestehenden Finanzbedingungen niemals durchbekommen können.
({14})
Da kann ich nur sagen: Verblendung der größten Art.
Herr Minister, im Bericht steht etwas von „Ideologiefreiheit“ der Energiepolitik. Ich bin wirklich sehr dafür; aber mir konnte bisher keiner begründen, wieso Sie
mit der Maßgabe, das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu beschreiten, die Atomkraftwerke und die Kohlekraftwerke als „Brückentechnologie“ hochleben lassen.
Das ist ein einmaliger Vorgang in der Innovationsgeschichte der Industriegesellschaften - Sie sollten den
Schumpeter vielleicht noch einmal gründlicher lesen, als
Sie es getan haben -: Die Brücke ins Neue wird durch
die Revitalisierung des Alten beschritten. Großartige
Botschaft!
({15})
Ich finde, dass wir einmal ideologiefrei über diesen
Punkt reden sollten.
Herr Minister, Sie schreiben sehr allgemein von einem Entflechtungsgesetz als scharfes Instrument gegen
marktbeherrschende Konzentration, das Sie im Rahmen
des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf
den Weg bringen wollen. Ich will Ihnen sagen: Da haben
Sie uns, Bündnis 90/Die Grünen, auf Ihrer Seite. Es ist
die originäre Aufgabe einer vernünftigen Wirtschaftspolitik, bei ihrer Rahmensetzung darauf zu achten, dass
Konzentrations- und Monopolprozesse unterbunden
werden, weil die ganze Ideologie und Praxis der freien
Marktwirtschaft sonst nicht funktionieren können. Da
sind wir auf Ihrer Seite; aber Sie müssen wissen, dass
wir Sie mit Fragen konfrontieren werden. Wir machen
daraus keine gemütliche Postdiskussion.
Wir werden die Frage stellen, ob Sie im Energiesektor
einen Wettbewerb ohne Konzentration für gewährleistet
halten oder nicht.
({16})
Wir sagen: Er ist nicht gewährleistet; vier große Energieversorger beherrschen 80 Prozent des Marktes. Sie müssen mit einem solchen Gesetz darauf reagieren.
Wir werden fragen: Gilt das auch für Banken? Was ist
mit der Deutschen Bank? Hat sie schon solch eine Stellung, dass Sie sagen: Es muss mit der weiteren Konzentration Schluss sein, weil sonst die berühmte Gleichung
„too big to fail“ virulent wird? Herr Minister, hier haben
Sie unsere Unterstützung; aber freuen Sie sich nicht zu
früh: Hier darf nicht nur gegackert werden, hier müssen
Sie legen, und zwar sichtbar und überprüfbar. Wir werden Sie dabei begleiten.
({17})
Ich komme zum Schluss. Wir setzen uns fundamental
von dieser einen Zielsetzung des quantitativen Wachstums ab, die Sie hier verfolgen. Wir wollen, dass die Politik ökologische und soziale Verschuldung als Maßstäbe
mit berücksichtigt, mit dem Ziel, diese zu vermeiden,
weil uns das, auch was Technologien angeht, stärker
macht. Wir müssen nicht nur schauen, was wir wachsen
lassen, sondern wir müssen heute auch schauen, wie wir
systematisch Folgekosten reduzieren können. Das ist das
Beste für unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand und unsere Arbeitsplätze.
Ich danke Ihnen.
({18})
Der Kollege Christian Lindner erhält nun das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser
Jahreswirtschaftsbericht ist keine Maßnahmensammlung, er ist keine volkswirtschaftliche Zahlensammlung,
sondern er ist ein Orientierungspunkt der neuen Wirtschaftspolitik. Er beschreibt die Wiederaufnahme ordnungspolitischer Traditionen in Deutschland.
({0})
Ich will das deutlich machen, indem ich zwei Dimensionen beschreibe:
Erstens. Wir stärken den Staat als Ordnungskraft
des Wirtschaftsgeschehens, indem wir beispielsweise
auf punktuelle Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen,
wie etwa die Abwrackprämie, verzichten.
({1})
Wir stärken den Staat als Ordnungskraft des Wirtschaftsgeschehens auch durch das neue Entflechtungsinstrument. Wer dagegen ist, der macht sich zum Anwalt
dominanter privater Konzerne, die Macht über Verbraucher und Wettbewerber ausüben wollen.
({2})
Wir stärken den Staat als Ordnungskraft des Wirtschaftsgeschehens schließlich auch dadurch, dass wir
wieder eine starke Finanzmarktaufsicht schaffen.
({3})
Es war nicht die FDP in Deutschland, die die Bankenaufsicht zersplittert hat, sondern das waren Sozialdemokraten und Grüne unter dem Bundesfinanzminister Hans
Eichel.
({4})
Es war nicht die FDP in Deutschland, die sich gegen
eine internationale Finanzmarktregulierung gewandt hat,
({5})
sondern es war der Sozialdemokrat Tony Blair, der sich
Hand in Hand mit dem neokonservativen George Bush
gegen die notwendige Regulierung gewandt hat. Hier
werden wir als Koalition einen neuen Ansatz wagen.
({6})
- Sie können sich ja melden, Herr Heil, aber rufen Sie
jetzt nicht unqualifiziert dazwischen!
({7})
Die zweite Dimension, die ich beschreiben will, betrifft die neue Balance zwischen dem Staat einerseits und
dem privaten Sektor andererseits.
Herr Heil, Sie haben eben gesagt, wir hätten Steuergeschenke im Sinn.
({8})
Allein das Vokabular entlarvt Ihre Denke. Es ist nämlich
nicht so, dass der Staat die Bürger finanziert, sondern die
Bürger finanzieren bitte schön den Staat.
({9})
Sie haben sich mit der Kritik an unserem Wachstumsbeschleunigungsgesetz - das betrifft die Grünen und die
Linke genauso - von den Alltagssorgen der Menschen
abgekoppelt.
({10})
Durch die kalte Progression und durch die Inflation haben die Beschäftigten in Deutschland in den letzten zehn
Jahren reale Einkommensverluste hinnehmen müssen.
({11})
Was tun wir? Wir sorgen für eine Entlastung der Familien in Deutschland im Umfang von 4,6 Milliarden
Euro. Das stärkt die Binnennachfrage und ist im Übrigen
auch ein Gebot der Gerechtigkeit.
({12})
Diese Entlastungspolitik ist aber nicht nur fair, sie ist
darüber hinaus auch Ausdruck unseres ordnungspolitischen Verständnisses. Hier unterscheiden wir uns von
Ihnen. Wir gehen davon aus, dass das Wissen über die
Zukunft dieser Gesellschaft in ihr selbst verstreut und
nicht im Büro von Herrn Heil zentral vorhanden ist.
({13})
Die Mittelständler, die Unternehmen, die Bürgerinnen
und Bürger haben sehr viel stärker ein Gefühl dafür, was
zukunftsfähig ist und was nicht.
Deshalb sorgen wir mit unserer Entlastungspolitik dafür - im Übrigen in Verbindung mit einer steuerlichen
Förderung von Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen -, dass das Kapital, die finanziellen Möglichkeiten, die „fiskalische Feuerkraft“, wie es der Philosoph
Peter Sloterdijk genannt hat, auch dezentral bei den
Menschen zur Verfügung stehen. So schafft man Innovationen, nicht durch Ihre zentralistisch-planwirtschaftliche Politik.
({14})
- Sie sagen jetzt „Ah!“ und stöhnen herum. Sie haben
hier und heute nichts von Ihren eigenen Vorstellungen
dargelegt; aber wir kennen sie ja durch Ihren „Deutschland-Plan“. Was war das denn? Das war ein Sammelsurium.
({15})
Herr Steinmeier hat mit seinen Beamten am grünen
Tisch überlegt, was vielleicht eine Zukunftsbranche sein
könnte, die dann bitte schön mit Subventionen beatmet
werden sollte.
({16})
So macht man keine Politik, und das ist Ihnen vom Sachverständigenrat damals zu Recht auseinandergenommen
worden.
({17})
Jetzt will ich noch einen Satz zu den Grünen sagen,
und zwar zu Herrn Kuhn, weil ich es als eine Anmaßung
empfunden habe, wie Sie hier gesprochen haben, Herr
Kuhn.
({18})
- Herr Kuhn, ich spreche mit Ihnen, aber offensichtlich
haben Sie intern andere Gespräche zu führen.
({19})
Sie haben hier von einem Wachstumsfetischismus gesprochen. Das finde ich interessant. Dies ist eine uralte
Debatte, die der Club of Rome schon in den 70er-Jahren
eröffnet hat. Wir wissen heute: Die Grenzen des Wachstums, von denen Sie ja auch auf Ihrer Vorstandsklausur
gesprochen haben, hat der menschliche Geist durch Spitzentechnologien und Spitzendienstleistungen immer
überwunden.
({20})
Aber was ist das für eine Gesellschaft, über die Sie
sprechen? Der Status quo, den Sie verteidigen, ist die
kärglichste Zukunftsvision, die man haben kann.
({21})
Wir wollen Wachstum.
({22})
Ich erkläre Ihnen auch, warum. Wir wollen Wachstum,
weil in einer prosperierenden Gesellschaft die Menschen, die sich einen sozialen Aufstieg erarbeiten wollen, sehr viel leichter zu dem Ziel kommen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
({23})
Die statische Gesellschaft, auf die Sie hinauswollen,
kann sozialen Aufstieg nur in einem harten Verdrängungs- und Verteilungswettbewerb organisieren. Das
wollen wir ausdrücklich nicht.
({24})
Unsere Politik, die auf Wachstum und Arbeit setzt, ist
ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Zu ihr gibt es
keine Alternative.
Ich danke Ihnen.
({25})
Lieber Kollege Lindner, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gebe zu, dass ich nicht darauf
gekommen wäre, wenn man mir das nicht ausdrücklich
mitgeteilt hätte. Meine besondere Gratulation und alles
Gute für die weitere parlamentarische Arbeit!
({0})
Ich setze das Einverständnis der FDP-Fraktion voraus, dass wir die Debatte bei möglichst wenig störender
Fortsetzung der Gratulationscour fortsetzen können.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Wir
diskutieren den Jahreswirtschaftsbericht 2010 auf dem
Hochpunkt einer Krise und können dennoch feststellen,
dass im Jahr 2009 die Arbeitslosigkeit in Deutschland
im Durchschnitt niedriger war, als es vor vier Jahren
ohne Krise in diesem Land der Fall war. Selbst wenn der
Anstieg, der im Jahreswirtschaftsbericht prognostiziert
wird, stattfindet, werden wir in einer besseren Lage sein
als 2005, als noch keine Krise in Sicht war.
Ich denke, das ist darauf zurückzuführen, dass in der
Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahren die Weichen richtig gestellt worden sind. Das
war Politik für die Menschen in Deutschland. Diese
kluge und zielführende Politik wollen wir auch weiterführen.
({0})
Wir haben in der Finanzmarktkrise gesehen, dass die
Staaten in der Weltgemeinschaft die letzten Vertrauensgeber waren, um fehlendes Vertrauen in den Märkten zu
ersetzen.
({1})
- Ich freue mich über den Beifall, Herr Heil. ({2})
Ich gebe allerdings zu bedenken, dass wir vor zwei Aufgaben stehen. Wenn die nächste Krise kommt,
({3})
werden wir darauf achten müssen, dass die Staaten noch
in der Lage sind, als Vertrauensgeber Krisenhilfe zu leisten.
({4})
Ich will zwei Dinge anmahnen. Zunächst einmal müssen wir darauf achten, dass wir unsere eigene Handlungsfähigkeit bewahren. Das bedeutet Haushaltskonsolidierung, die Hebung von Innovationspotenzialen und
Strukturveränderungen. Das müssen wir auch bei anderen Staaten anmahnen, weil wir Krisenprävention nicht
alleine betreiben können.
Wir werden des Weiteren dafür sorgen müssen, dass
die Initiative von Präsident Obama genutzt wird, um international zu Absprachen für eine bessere Regulierung
der Finanzmärkte zu kommen.
({5})
- Ich glaube, dass in der Koalition eine große Einigkeit
darüber besteht, dass Regulierung notwendig ist, dass sie
besser ausgestaltet werden muss als in der Vergangenheit
und dass wir den Willen haben, das auch international zu
vereinbaren und umzusetzen. Ich hoffe und wünsche,
dass auch andere Länder nicht nur diskutieren, sondern
die Absprachen jeweils in nationales Recht umsetzen.
Basel II war ein Negativbeispiel. Damals gab es Absprachen, die nicht umgesetzt wurden. Das darf nicht wieder
geschehen.
({6})
Die Wachstumsprognose für 2010 ist einerseits erfreulich, weil sie von einem Plus von 1,4 Prozent ausgeht. Andererseits muss man sehen, dass es einen statistischen Überhang aus 2009 gibt. Wir haben nach wie vor
positive Wirkungen aus den staatlichen Konjunkturprogrammen und durch die Auswirkungen der internationalen Konjunkturmaßnahmen zu verzeichnen. Das heißt,
der Aufschwung ist nach wie vor nicht selbsttragend.
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir alles tun müssen,
um Insolvenzen zu vermeiden und dadurch Beschäftigung zu sichern.
Dazu hat diese Koalition bereits etwas geleistet. Wir
haben die Sanierungsklausel im Steuerrecht entschärft.
Wir haben die Zinsschranke für den Mittelstand im Steuerrecht entschärft, und wir haben dafür gesorgt, dass Unternehmen nicht durch ertragsunabhängige Steuerbestandteile belastet werden. All diese Maßnahmen stehen
im Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Damit sollen Insolvenzen vermieden und Arbeitsplätze in Deutschland
erhalten werden. Das war leider Gottes mit den Sozialdemokraten nicht möglich. Sie haben aus rein ideologischen Gründen Arbeitsplätze und Unternehmen aufs
Spiel gesetzt. Diese Politik haben wir beendet. Ich
glaube daher, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind.
({7})
Herr Heil, Sie haben hier einen vollkommen falschen
Widerspruch aufgebaut. Sie haben nämlich versucht, die
Bürger gegen den Staat zu stellen.
({8})
Für uns gibt es keinen Widerspruch zwischen Bürgern
und Staat. Wir sind der Meinung, dass der Bürger in diesem Land handlungsfähig sein muss,
({9})
indem wir ihm Freiheit durch Bürokratieabbau und auch
finanzielle Handlungsfreiheit gewähren und ihm Chancen eröffnen, dass er in diesem Land Arbeit hat. Deshalb
haben wir das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet
({10})
und andere Entlastungsmaßnahmen mit einem Gesamtvolumen in Höhe von 24 Milliarden Euro beschlossen,
die den Bürgern in diesem Land an erweiterter finanzieller Handlungsmöglichkeit für 2010 zur Verfügung stehen. Das ist die richtige Politik für die Menschen in diesem Land.
({11})
Das ist keine Politik gegen die Kommunen. Ich will
erwähnen, der Bundesfinanzminister hat in der Schlussrunde der Haushaltsdebatte sehr wohl darauf hingewiesen, dass wir die Not der Gemeinden erkannt haben
({12})
und dass wir zeitnah beginnen werden, an dieser Stelle
den Kommunen Handlungsfähigkeit zurückzugeben.
Das heißt, wir spielen hier die Interessen der Beteiligten
nicht gegeneinander aus,
({13})
sondern wir versuchen in kluger Weise, Bürger und
staatliche Verwaltungsebenen für die Zukunft handlungsfähig zu machen.
({14})
Ich komme zu dem Kollegen Kuhn, der das Thema
Wachstum angesprochen hat. Wachstum ist wahrlich
nicht alles. Aber ohne Wachstum werden wir aus dieser
Krise nicht herauskommen.
({15})
Ihre Aussage ist richtig. Wir dürfen uns nicht nur auf
Wachstum konzentrieren. Wir dürfen aber auch keine
Reden gegen Wachstum halten, und wir dürfen keine Politik gegen Wachstum machen, sondern wir müssen
Wachstum in ein Gesamtkonzept stellen.
({16})
Ich greife Ihr Beispiel von den Kohlekraftwerken
gerne auf. Der Neubau von Kohlekraftwerken mit geringeren Emissionen in Deutschland ist, wenn sie als Ersatz
an die Stelle von alten Kraftwerken treten, sowohl hinsichtlich der Innovation als auch hinsichtlich der Ökologie eine Dividende für unser Land. Deshalb sollten wir
nicht wie die Grünen den Neubau verhindern, sondern
ihn fördern, was unseren Bürgern in Form niedrigerer
Energiepreise und dem Klimaschutz und unserer Umwelt zugutekommt.
({17})
Wir machen keine ideologiebetriebene Politik. Wir
schließen einzelne Technologien nicht aus, sondern wir
sagen klar und deutlich: Wir wollen verträgliche Preise,
wir wollen unsere Ziele ökologisch erreichen - ich
nenne in diesem Zusammenhang den Ausbau der erneuerbaren Energien und die CO2-Reduzierung -, und wir
wollen eine sichere Versorgung. An diesen Parametern
orientieren wir uns und nicht an ideologischen Vorprägungen.
({18})
Der Staat musste in der Krise sowohl im Finanzsektor
wie auch in der Realwirtschaft an der einen oder anderen
Stelle eingreifen und Hilfestellung gewähren. Das war
leider notwendig, weil die Marktteilnehmer an der einen
oder anderen Stelle ihre Verantwortung nicht wahrgenommen haben. Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, es war eine Maßnahme in der Not, und sie ist
nicht auf Dauer angelegt. Deshalb wird es jetzt darauf
ankommen, dass wir eine Exit-Strategie formulieren:
Wie steigt der Staat aus seinem Engagement so aus, dass
wir keine Verwerfungen in der Wirtschaft und keine Verwerfungen am Arbeitsmarkt bekommen?
Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang
stellt, lautet: Wie ziehen wir in geeigneter Weise die
nach wie vor vorhandene Überliquidität weltweit aus
den Märkten heraus, und zwar so, dass wir nicht in eine
neue Krise hineinkommen?
({19})
Da setze ich darauf, dass wir, was die nationale Finanzpolitik und die Abstimmung der internationalen Finanzpolitik angeht, und auch die Notenbanken eine kluge
Strategie an dieser Stelle fahren, um das Ziel, Überliquidität abzubauen, zu erreichen. Wenn wir das nicht schaffen, bilden sich neue Blasen und neue Gefahren, was zu
neuem Schaden führen kann.
Ich will noch das Thema Kreditversorgung für die
Unternehmen ansprechen. In der Diskussion tauchen
zwei Positionen auf, die manchmal widersprüchlich erscheinen. Wer die Berichte der Bundesbank liest, der
kommt zu dem Schluss, dass es in Deutschland makroökonomisch keine Kreditkrise gibt. Wer aber als Abgeordneter gelegentlich die mittelständischen Unternehmen in seinem Wahlkreis besucht,
({20})
der hört dort sehr wohl, dass es gesunde Unternehmen
mit vernünftigen Konzepten gibt, die riesige Probleme
haben, eine Finanzierung sowohl für Investitionen als
auch für Betriebsmittel zu bekommen.
({21})
Das mag zunächst einmal widersprüchlich erscheinen.
Aber ich glaube, dass diese beiden Positionen keinen
Widerspruch darstellen. Man muss sich anschauen, wer
Kredite bekommt und an welcher Stelle es möglicherweise Lücken gibt.
Wir müssen uns unser Bankensystem einmal genau
ansehen. Das deutsche Bankensystem hat die größten
Hebel in Bezug auf das Verhältnis von Eigenkapital zu
Kreditausgaben eingesetzt. Wenn wir wirklich zu einer
Neuregulierung der internationalen Finanzmärkte kommen, dann wird dieser große Hebel in Deutschland nicht
mehr möglich sein. Das bedeutet, dass die Banken mehr
Eigenkapital brauchen und dass die Kreditvolumina,
wenn das Eigenkapital nicht schnell genug aufgebaut
wird, geringer werden. Deshalb plädiere ich an dieser
Stelle dafür, dass wir in Deutschland ein Verbriefungsgesetz schaffen, nach dem hochwertige Mittelstandskredite verbrieft werden können und das die Banken in die
Lage versetzt, Kredite zu vergeben. Es ist wichtig, nicht
Ramsch zu verbriefen, wohl aber hochwertige Mittelstandskredite nach klaren Kriterien in die Verbriefung zu
bringen. Das wird uns an dieser Stelle wirklich einen
Schritt voranbringen. Hier können wir national handeln.
({22})
Wir müssen des Weiteren darüber nachdenken - damit komme ich zur Größe der Banken -, wo wir überhaupt Begrenzungen setzen können. Ich glaube, auch
hier müssen wir das Eigenkapital berücksichtigen. Wenn
die Größe wächst, sollte auch das Eigenkapital steigen.
Das Eigenkapital muss meiner Meinung nach aber auch
steigen, wenn das Risiko wächst. Wenn wir beides gesetzlich regeln, wird es - da Eigenkapital Geld kostet eine natürliche Grenze für Risikoaversion und Größenwachstum geben. In diese Richtung sollten wir die Diskussion führen, um einerseits marktwirtschaftliche Prinzipien aufrechtzuerhalten und andererseits das Spiel
„Am Ende wird uns der Staat schon aus der Not helfen“
zu beenden. Dafür müssen wir - marktwirtschaftlich geordnet - klare Grenzen setzen.
({23})
Ich freue mich, dass wir jetzt im Einzelfall versuchen,
den Widerspruch zwischen Makro- und Mikroökonomie,
den ich in Bezug auf die Kreditversorgung der mittelständischen Unternehmen angesprochen habe, durch
Hilfestellung des Kreditmediators aufzulösen. Wir haben mit dem Wirtschaftsfonds „Deutschland“ ein wichtiges Instrument. Nun geht es aber um die spannende
Frage: Wie können gesunde Unternehmen tatsächlich an
Mittel aus diesem Fonds kommen? Wir wollen nicht den
kranken Unternehmen helfen, wohl aber den gesunden;
diesen müssen wir das Geld zugutekommen lassen. Im
Einzelfall gibt es oft kleine Haken und Ösen, die beseitigt werden müssen. Ich hoffe, dass der Kreditmediator
die Dinge ein Stück weit voranbringt.
Der Geschäftsklimaindex in Deutschland ist jetzt
zehnmal in Folge angestiegen. Trotz Wirtschafts- und
Finanzkrise herrscht Optimismus unter den Menschen.
Wir als Politik sollten dies als Chance begreifen, die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise gemeinsam zu beDr. Michael Meister
wältigen. Die Bundesregierung ist auf einem guten Weg.
Wir sollten als Deutscher Bundestag unseren Beitrag
dazu leisten.
Vielen Dank.
({24})
Nun erhält der Kollege Duin für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kuhn, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede den Jahreswirtschaftsbericht
hochgehalten und ein paar Bildbeschreibungen abgegeben. Dabei haben Sie aber vergessen, dass das Bild ausgesprochen unscharf ist. Das Bild ist damit zu Recht auf
der Titelseite des Jahreswirtschaftsberichts; denn die
vorgelegte Konzeption ist unscharf, besteht aus vagen
Ankündigungen und bleibt hinter dem, was man in einer
solch schweren Krise in Deutschland zu erwarten hat,
deutlich zurück.
({0})
Herr Brüderle sagt immer - ich weiß nicht, was er im
Moment sagt und mit wem er gerade telefoniert; auf jeden Fall einen schönen Gruß -, Wirtschaft sei zu 50 Prozent Psychologie.
({1})
- Richtig, er ist nicht der Urheber dieses Satzes. - Das
mag sein. Aber das Problem ist, dass Herr Brüderle uns
im Unklaren darüber lässt, was die anderen 50 Prozent
für die Bundesrepublik Deutschland eigentlich sein sollen, mit denen wir das Ganze voranbringen sowie Stabilität und Wachstum erreichen wollen.
({2})
Die Menschen in Deutschland, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und nicht zuletzt die Unternehmen haben - so will ich es formulieren - großes Glück
gehabt, dass im Jahr 2008 und im Wesentlichen im Jahr
2009 andere regiert haben als Sie, dass Peer Steinbrück,
Olaf Scholz und andere Sozialdemokraten im Kabinett
dafür gesorgt haben, dass es einen klaren Plan gab, aus
dem hervorging, wie mit dieser Krise umzugehen ist,
dass man Weitsicht bewiesen hat und dass die richtigen
Instrumente in der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden sind.
Sie machen nun zweierlei: Erstens. Sie werfen gezielt
Geld aus dem Fenster, und zwar für Einzelne und Wenige, auch noch Geld, das Sie eigentlich gar nicht haben.
({3})
Zweitens kündigen Sie nur an, dass man eine strenge
Haushaltskonsolidierung brauche. Sie lassen vermissen - ich bin sicher, dies wird sich nach der NordrheinWestfalen-Wahl ändern -, den Leuten reinen Wein einzuschenken und ihnen mitzuteilen, wo Sie denn dann
kürzen wollen, damit das Geld, das Sie zum Fenster hinausgeworfen haben, wieder in den Haushalt eingestellt
wird. Das ist unverantwortlich.
({4})
Dadurch entsteht auch kein Wachstum. Das, was Kollege Lindner hier geäußert und wobei er laut die ideologische Pauke geschlagen hat, war im Wesentlichen ohne
Substanz. Dass jemand wie er nur solche ideologischen
Phrasen dreschen kann, das leuchtet mir ein. Denn wenn
man seit dem 20. Lebensjahr nur in Parlamenten an einem Pult wie diesem gestanden hat, ist wenig anderes zu
erwarten; deswegen ist das nicht verwunderlich.
({5})
Aber entscheidend ist etwas anderes: Kein Institut in
Deutschland würde auch nur ansatzweise Ihre Ideologie
bestätigen, weder in Bezug auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz noch auf das, was im Koalitionsvertrag
steht. Ich darf Ihnen, Herr Brüderle - Herr Heil hat vorhin schon darauf hingewiesen -, noch einmal wörtlich
zitieren, was auf Seite 3 des Gutachtens des Sachverständigenrates steht:
Insgesamt gesehen, vermag der Koalitionsvertrag in
einer Reihe von wichtigen Punkten nicht zu überzeugen.
Nicht nur mangelt es an konkreten Schritten zur
Rückführung der staatlichen Neuverschuldung,
stattdessen werden Steuererleichterungen und zusätzliche Ausgaben in Aussicht gestellt.
Das Zitat geht weiter; das ist der entscheidende Satz:
Wenn sie schon glaubt, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu haben, dann sollten diese besser für Zukunftsinvestitionen eingesetzt werden, anstatt sie
beispielsweise in Form von Betreuungsgeld und
Steuernachlässen für Hotelbetriebe zu verwenden.
Hier ist nicht Oppositionspolitik zitiert worden, sondern dies steht im Sachverständigengutachten.
({6})
Darauf haben Sie keine entsprechende Antwort gegeben.
({7})
Ich bin ganz sicher, dass wir ein paar Elemente in die
Diskussion einbringen müssen; einige davon sind hier
schon genannt worden, im Übrigen gerade von Herrn
Meister, der das Thema Verbriefungsgesetz angesprochen hat. Ich bin mir sicher, dass wir in sehr konstruktive
Gespräche darüber einsteigen können, weil dies ein
Thema ist, das in der Tat dringend einer vernünftigen
Lösung zugeführt werden muss.
Aber wir brauchen zunächst den Grundsatz - das betrifft nicht nur das Ressort von Herrn Brüderle, sondern
in gleicher Weise das von Herrn Schäuble und auch von
Frau Aigner, wenn man es genau sieht -, dass kein
Markt, kein Produkt und kein Akteur auf diesem Markt
in Zukunft unreguliert und unbeaufsichtigt bleiben darf.
Wir brauchen dort verschärfte Regeln. Von Ihnen, Herr
Brüderle, Herr Schäuble, aber auch Frau Bundeskanzlerin, erwarte ich mehr Energie, um das umzusetzen, was
in Pittsburgh beim G-20-Gipfel verabredet und als Ziel
beschrieben worden ist. Wir benötigen eine internationale Finanztransaktionssteuer.
({8})
Für die Erreichung dieses Ziels muss von Ihrer Seite
mehr Kraft aufgewendet werden, und auch wenn diese
Steuer international zunächst nicht durchzusetzen ist, so
muss doch dieses Ziel bestehen bleiben. Dann muss man
auf der europäischen Ebene anstreben, etwas zustande
zu bringen. Ich füge ausdrücklich hinzu: Wenn auch dies
in den nächsten Monaten nicht zu erreichen ist, dann
muss es eine nationale Börsenumsatzsteuer geben.
({9})
Dies jedenfalls raten wir Ihnen eindeutig, und unsere Bereitschaft, das umzusetzen, ist vorhanden.
Im Übrigen, Herr Brüderle, brauchen wir eine viel
stärkere europäische Koordinierung. Es reicht nicht
aus, nur auf die Geldpolitik auf der europäischen Ebene
zu blicken und auf die dortige Rolle der EZB und des
ECOFIN zu verweisen. Vielmehr brauchen wir eine
engere Abstimmung und eine engere Koordinierung
auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das heißt
zum Beispiel, dass man den Vorschlag des Ratspräsidenten, von Herrn Zapatero, ernst nimmt und noch einmal
darüber nachdenkt, ob es nicht richtig ist, 1 Prozent zu
investieren und noch einmal öffentliche Investitionen
auszulösen, damit Menschen gut durch diese Krise kommen und in Arbeit bleiben oder Arbeit finden können.
({10})
Ich kann aus Zeitgründen nicht mehr auf das eingehen, was wir im Bereich der Bildung benötigten. Das,
was Sie vorschlagen, ist viel zu wenig. Wir bräuchten
eine viel größere Anstrengung. Ich nenne einmal die
Zahl von rund 10 Milliarden Euro, die allein der Bund
jährlich investieren müsste, um im Bereich der Bildung
voranzukommen.
Abschließend will ich jedoch auf einen Punkt aus Ihrer Rede zu sprechen kommen. Sie haben über die Kurzarbeit gesprochen und zu Recht beschrieben, dass dies
ein wirksames Instrument war, um Menschen in Arbeit
zu halten. Sie haben aber darüber hinaus einfach nur davon gesprochen, dass es ein teures Instrument und eine
Subvention sei. Dieser Sprachgebrauch entlarvt Sie;
denn ich habe nicht den Eindruck, dass diejenigen, die in
den großen Betrieben, um die es dabei in erster Linie
geht, als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezwungen sind, kurz zu arbeiten, sich als Subventionsempfänger empfinden. Sie wissen genau, mit welcher psychologischen Wirkung das Wort Subvention in Deutschland
gebraucht wird. Das ist aus meiner Sicht im Zusammenhang mit der Kurzarbeit vollkommen unzulässig.
({11})
Hier geht es doch darum, die Menschen in Arbeit zu halten. Natürlich wissen die Betriebe, dass das ein teures Instrument ist, aber es geht doch darum, die Fachkräfte in
den Betrieben zu halten. Sie können nicht einerseits den
Fachkräftemangel, der auf uns zukommt, beklagen und
andererseits eine Beschränkung auf nur 18 Monate einführen.
({12})
Wir brauchen eine längere Perspektive für die Menschen
in den Betrieben, damit sie in Arbeit bleiben und damit
sie mit dem Einkommen, das sie zur Verfügung haben,
den Konsum ankurbeln.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Lindner, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Umverteilung mittels Steuersenkung zugunsten von Vermögenden und Konzernen sei etwas Neues, dann ist das
verlogen; es ist auch verlogen, zu sagen, damit werde die
Binnennachfrage gestärkt. Wir wissen, dass diese Politik
in den letzten Jahrzehnten die Armut verschärft hat, die
Binnennachfrage ruiniert hat, zu Spekulationen auf den
Finanzmärkten geführt hat und damit die Krise mit verursacht hat. Sonst gar nichts.
({0})
Lassen Sie mich zu dem Punkt „privat versus Staat“
kommen. Herr Brüderle, Sie schreiben in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht, eine der Herausforderungen sei die
Stabilisierung der Konjunktur. Umso erstaunlicher
finde ich allerdings, dass Sie im gleichen Atemzug ankündigen, dass Sie die staatlichen Konjunkturprogramme kürzen bzw. nicht mehr weiterführen wollen. Im
Jahr 2009 wurden Ausgaben in Höhe von 33 Milliarden Euro geplant und fast vollständig realisiert. Das
war uns zu wenig; es hat aber trotzdem Beschäftigung
gesichert, und zwar die von Handwerkern, die von kommunalen Aufträgen abhängig sind, und die von Bauarbeitern. Besonders erfolgreich war das Gebäudesanierungsprogramm, das dann aufgestockt wurde.
Diese Mittel waren nicht nur konjunkturell wichtig;
seit langem liegt Deutschland im europäischen Vergleich
bei öffentlichen Investitionen zurück. 40 Milliarden Euro
mehr müssten alleine Bund, Länder und Kommunen
jährlich investieren, um nur im europäischen Durchschnitt zu liegen, geschweige denn um Spitzenwerte erzielen zu können.
Die Bürgerinnen und Bürger merken Ihr Verständnis
von Staat in dieser Hinsicht überall: fehlende oder marode
Schulen und Kindergärten, Verkehrssysteme, die die Luft
verpesten, ungedämmte Gebäude, die viele CO2-Schäden
verursachen, und vieles andere mehr. Jetzt kürzen Sie die
Mittel bereits auf 28 Milliarden Euro und nehmen mit Ihrem Steuersenkungsprogramm den Kommunen die notwendigen Mittel für die Investitionen weg. Das ist unserer
Auffassung nach ein Skandal, Herr Brüderle.
({1})
Wir fordern die Aufstockung, nicht die Kürzung. Wir
wollen ein Zukunftsprogramm von 50 Milliarden Euro
für öffentliche Investitionen von Bund, Ländern und
Kommunen. Wir brauchen sie, um die Daseinsvorsorge
zu erhalten, wir brauchen sie, um den ökologischen Umbau, zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr, einzuleiten, und wir brauchen sie für den Ausbau regenerativer
Energien. Wir brauchen sie darüber hinaus zur Stabilisierung der Konjunktur, um Arbeitsplätze zu sichern. Der
Chef des Internationalen Währungsfonds, Strauss-Kahn,
hat kürzlich gewarnt, dass eine zweite Rezession drohe,
wenn die Industrieländer ihre Konjunkturprogramme zu
früh beendeten. Lassen Sie sich das doch endlich eine
Warnung sein, und folgen Sie unseren Ratschlägen!
({2})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch auf
das öffentliche Personal zu sprechen kommen. Auch da
ist Deutschland Schlusslicht, auch da haben Sie keine
Kraft, Zukunft zu gestalten, wie es so schön verheißt.
Soziale Dienstleistungen sind Gradmesser für Beschäftigung und Wohlstand. Sie entscheiden über Lebensqualität. Allein 400 000 zusätzliche Beschäftigte fehlen in
der Ganztagsbetreuung, sagt das DIW. Studien zur Altenpflege besagen, dass dort demnächst 500 000 Arbeitsplätze benötigt werden. Deshalb ist die Schaffung von
1 Million Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst ein weiterer Schwerpunkt unseres Programms.
({3})
Dritter Schwerpunkt. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem in den exportabhängigen Industrieregionen, zum
Beispiel in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg, gestiegen, und Kurzarbeit - das sagen auch Sie schützt nicht ewig vor Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig
leistet sich der Exportweltmeister Deutschland eine völlig überaltete Industrie. Unter dem Druck kurzfristiger
Renditeorientierung sind langfristige Ziele wie ökologische Erneuerung und Innovation der Industrie auf den
Hund gekommen. Aus einem Gutachten für das Umweltministerium der letzten Regierung geht hervor, dass
der Investitionsanteil der Industrie von 25 Prozent im
Jahr 1970 auf 18 Prozent gefallen ist und sich somit
ebenfalls unter dem OECD-Durchschnitt befindet. Dringend erforderlich ist, die Sicherung von Arbeitsplätzen
mit dem notwendigen ökologischen Umbau der Industrie zu verbinden.
({4})
Sie haben hier viel von Anreizen, Steuernachlässen
und anderen Maßnahmen gesprochen, mit denen Sie
Wachstum und Innovationen fördern wollen. Nach der
Verfassung sollen wir die Industrie aber nicht reizen;
vielmehr heißt es dort: Eigentum verpflichtet. Verpflichtet ist somit die Politik, die Rahmenbedingungen so zu
setzen, dass auch die Industrie dem Gemeinwohl dient
und nicht nur den Profiten einiger weniger.
({5})
Wir fordern eine aktive Industriepolitik, die den notwendigen ökologischen Umbau mit sozialen Fragen wie
Beschäftigungssicherung verbindet. Wir wollen, dass
aus dem Deutschlandfonds dafür 25 Milliarden Euro in
die Hand genommen werden. Bevor Herr Lindner wieder „SED“ und „Planwirtschaft“ schreit: In Frankreich
wird so vorgegangen. In Brasilien wird erfolgreich Industriepolitik betrieben, indem Mittel als staatliche Beteiligung vergeben werden, verbunden mit Auflagen für ökologischen Umbau und mit demokratischer Kontrolle. Ihr Deutschlandfonds schafft weder Rahmenbedingungen für den ökologischen Umbau, noch ist er demokratisch kontrolliert. Es ist ein Schattenhaushalt, über den
allein Staatssekretäre und Minister verfügen.
Wir wollen Alternativen zu Ihrer Exportorientierung,
die am Ende ist. Wir bieten Ihnen eine Alternative, die
Wirtschaftsdemokratisierung mit ökologischer Erneuerung, sozialen Dienstleistungen und öffentlicher Daseinsvorsorge verbindet. Das schüfe Kraft für Neues,
nicht aber Ihre Fortschreibung der Umverteilungspolitik.
Danke.
({6})
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es ist
selbstverständlich, dass eine so wichtige Landtagswahl
wie die in NRW ihre Schatten vorauswirft; man hat es
insbesondere bei den Reden der Opposition gespürt. Ich
bin der Auffassung, dass dieser Jahreswirtschaftsbericht
die besondere Chance geboten hat, in dieser Debatte herauszukehren, dass es eine historische Gemeinschaftsleistung der Politik und insbesondere der Bundespolitik
war, das zu erreichen, was wir hier geschafft haben. Es
wäre gut gewesen, wenn Sie das einmal angesprochen
hätten.
({0})
Wahlkampfgetöse gehört zwar dazu - ich mache das
auch gerne -; dennoch wäre es besser gewesen, wenn
Sie hier ein bisschen leiser getreten hätten.
Es geht hier darum, den Bürgerinnen und Bürgern
Vertrauen zu vermitteln. Das ist uns bisher sowohl auf
den Finanz- als auch auf den Arbeitsmärkten gelungen;
das muss man einmal betonen. Ich nehme zur Kenntnis,
dass wir jetzt einen spürbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit bekommen; so lauten die aktuellen Meldungen. Jetzt
geht es darum, zu verhindern, dass das gewonnene Vertrauen verloren geht. Dazu muss die Politik ihren Beitrag
leisten. Dazu leisten in diesem Land insbesondere die
vielen mittelständischen Unternehmer einen ganz entscheidenden Beitrag. Deshalb möchte ich an der Stelle
wieder einmal eine Lanze für den Mittelstand brechen.
Ich meine nämlich, dass der Mittelstand in dieser
schwierigen Situation in der Lage ist, Deutschland zu
stabilisieren.
({1})
In diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle der
Banken angesprochen. Es ist natürlich völlig richtig,
Herr Kuhn: Freiwilligkeit macht nur Sinn, wenn Verantwortung auch wahrgenommen wird.
({2})
Die Politik muss somit einerseits dafür Sorge tragen,
dass die Banken die notwendigen Spielräume haben, andererseits aber auch, wenn sie zur Kenntnis nimmt, dass
die Banken diese nicht so nutzen, wie wir uns das vorstellen,
({3})
sich über weitere Maßnahmen Gedanken machen. Da
pflichte ich Ihnen völlig bei.
({4})
Angesichts der Meldungen, dass noch Eigenkapitalausfälle in Höhe von 90 Milliarden Euro drohen und deshalb die Spielräume, Kredite zu gewähren, permanent
enger werden, sind Vorschläge wie der des Kollegen
Meister, ein Verbriefungsgesetz zu erlassen, ganz zentral. Das sind Dinge, die man dann auch entsprechend
schnell umsetzen muss.
({5})
Wenn wir sagen, wir haben den Mittelstand im Blick,
müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob wir das
auch im Tagesgeschäft tun. Bei all den wünschenswerten
Dingen, die wir in den Bereichen des Verbraucherschutzes und des Datenschutzes sowie in anderen Bereichen
noch gestalten wollen, müssen wir uns immer die Frage
stellen, welche Auswirkungen das letztendlich auf kleinere und mittlere Unternehmen hat.
Normalerweise wird in einer solchen Debatte - indirekt ist das heute auch passiert - regelmäßig auf Erhard
rekurriert:
({6})
Wohlstand für alle heißt aber auch Teilhabe für alle. Jetzt
ordne ich das, was der Bundeswirtschaftsminister derzeit
im Bereich des Kartellrechts vorschlägt, einmal in diesen Kontext ein. Ich gehe davon aus, dass es so gemeint
ist. Er hat sein Vorhaben heute leider nur mit der Sentenz
begründet: Si vis pacem para bellum! Also: Rüste dich
für den Krieg, wenn du Frieden willst! - Wenn Sie uns,
Herr Minister, sagen würden, wen Sie damit meinen und
bei welchen Fällen ein solches Zerschlagungsgesetz
Wirkung zeigen kann, dann sind wir als CSU eng an Ihrer Seite. Die Vorschläge, die ich bisher gehört habe, haben mich nicht überzeugt.
Mich würde überzeugen, wenn Sie sagen würden,
dass es im Handel eine Konzentration der Macht gibt,
die den Mittelstand massiv bedroht,
({7})
dass diese Marktmacht, auch wenn sie vielleicht auf der
Verbraucherseite noch nicht zum Tragen kommt, insbesondere auf den Beschaffungsmärkten den Mittelstand
gefährdet, dass also die Gefahr besteht, dass von der
Landwirtschaft über die mittelständischen Zulieferer bis
hin zum mittelständischen Einzelhandel ein Totalschaden entsteht. In dieser Republik haben wir ja die Situation, dass derzeit sechs Große im Lebensmittelbereich
darüber entscheiden, was 90 Prozent der Bürgerinnen
und Bürger auf den Tisch bekommen. Hier haben wir ein
Oligopol mit ganz außerordentlicher Marktmacht. Ich
behaupte, dass diese Marktmacht auch eingesetzt wird,
zwar nicht auf der Verbraucherseite, jedoch auf der Beschaffungsseite.
Wenn das Instrument, das Sie vorschlagen, dabei helfen würde, das eine oder andere wieder zurechtzurücken,
sodass der Mittelstand auch in diesen Bereichen gemäß
dem Motto „Teilhabe für alle“ wieder mehr atmen und
stärker zum Zuge kommen kann, dann würde uns das
durchaus gefallen; das hätte einen gewissen Charme.
Wenn es sich nur um ein allgemeines Instrument handelt,
das man an die Hand bekommen möchte, weil es andere
wie zum Beispiel die USA auch haben, dann tue ich
mich, ehrlich gesagt, auch mit Blick auf Art. 14 des
Grundgesetzes ausgesprochen schwer, dem zu folgen.
({8})
Ansonsten wird im Zusammenhang mit dem Mittelstand immer das Thema Bürokratieabbau angesprochen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man hier mit
Prozentzahlen hantieren sollte. Wenn man nämlich von
einem Abbau von 25 Prozent spricht, dann taucht immer
die Frage auf, von welcher 100-Prozent-Basis man ausgeht. Ich bin mir allerdings sicher, dass in diesem Bereich noch sehr viel mehr drin ist und hier insbesondere
das deutsche Steuerrecht immenses Potenzial bietet.
({9})
Wir müssen daher im Rahmen der Steuerreform zwei
Dinge tun: Auf der einen Seite müssen wir den Mittelstandsbauch abbauen. Auf der anderen Seite müssen wir
im Interesse unseres Mittelstands für Steuervereinfachungen sorgen.
({10})
Nun hat die Kollegin von der Linken vorhin den ökologischen Umbau der Wirtschaft mit Blick auf die Arbeitsplätze angesprochen. Zunächst einmal muss es uns
doch darum gehen, Arbeitsplätze zu sichern. Wenn das
gleichzeitig mit einem ökologischen Umbau, wie Sie es
taufen, geschieht, dann muss Ihnen doch klar sein, dass
dafür ein längerer Zeitraum nötig ist.
({11})
Über diesen längeren Zeitraum diskutieren wir hier. Das
tun wir zu Recht, insbesondere in der Energiepolitik.
({12})
Da geht es um die Frage: Wie können wir die erneuerbaren Energien so weit ausbauen, dass sie die Hauptrolle
im Energiemix spielen? Wie können wir das erreichen,
ohne energieintensive Bereiche aus dem Land zu treiben
oder die Strompreise unsozial zu verteuern? Wir sind für
einen dynamischen Energiemix, wobei die erneuerbaren
Energien sukzessive aufwachsen und dann die klassischen Energieformen ersetzen sollen. Wir müssen aber
mit Blick auf die Preise dafür sorgen, dass die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert werden, bis wir diese
ökonomische Erwägung realisieren können.
({13})
Nun sagen Sie, das sei widersprüchlich. Ich bestreite
das massiv. Wir haben einen Einspeisevorrang im EEG,
an dem niemand rütteln wird. Das heißt, die erneuerbaren Energien sind in keiner Weise gefährdet. Im Gegenteil: Derjenige, der heute in ein Kohlekraftwerk investiert, muss sich die Frage stellen, wie lange er am Markt
damit reüssieren kann. Denn nach der Merit-Order kommen zuerst die erneuerbaren Energien und dann die
Kernenergie; die Energieformen, die teuer sind und CO2
produzieren, werden sukzessive verschwinden. Das ist
eine klare Linie.
Meine Damen und Herren, ich erwarte keinen Konsens, aber ich erwarte zumindest, dass keine falschen
Dinge behauptet werden. Die Verlängerung der Laufzeit
der Atomkraftwerke hat nichts, aber auch gar nichts mit
den erneuerbaren Energien zu tun.
Vielen herzlichen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Tiefensee
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Der Jahreswirtschaftsbericht trägt eine
Überschrift, die sehr markige Worte beinhaltet. Da wird
von „neu“, von „Kraft“, von „Zukunft“ und von „gestalten“ gesprochen.
({0})
Wenn man den Bericht liest, kann man nichts erkennen,
was neu oder kraftvoll ist, was nach Gestaltung schreit
oder einen zukünftigen Weg beschreibt. Im Deutschen
gibt es ein schönes Bild. Der Volksmund sagt: Es gibt
Menschen, die mit dem Hintern einreißen, was andere
mit den Händen aufgebaut haben. - Es besteht die Gefahr, dass das, Herr Nüßlein, was die Große Koalition
und davor die rot-grüne Koalition aufgebaut haben und
was sich an guter Substanz im Jahreswirtschaftsbericht
und auch im Haushalt 2010 findet, durch diese Bundesregierung und speziell durch einen Wirtschaftsminister
eingerissen wird, der nicht auf dem richtigen Pfad, sondern auf einem falschen Pfad ist.
({1})
Ich bedaure es sehr, dass Herr Lindner nicht da ist. Ich
fände es gut, wenn diejenigen, die eine Rede halten,
auch später noch anwesend sind, damit man sie ansprechen kann. - Auf der Besuchertribüne sitzen junge
Gäste. Ich finde es gut, dass sie da sind. Sie sprechen,
Herr Brüderle, oft sehr vage und nebulös. Eines ist aber
immer sehr klar: Sie sprechen von einem bestimmten
Staatsverständnis. Dieses Staatsverständnis fließt auch in
die einzelnen Maßnahmen ein, auf die ich noch konkret
zu sprechen kommen will. Zu Beginn meiner Rede
möchte ich Herrn Lindner und Herrn Nüßlein ganz klar
sagen: Das Staatsverständnis, das Sie haben, teilen wir
nicht. Es macht uns Angst; es ist gefährlich.
({2})
Warum, liebe junge Leute? Hier wird kein Gegensatz
zwischen Bürger und Staat aufgebaut, sondern hier wird
künstlich ein Gegensatz zwischen Wirtschaft und Staat
aufgebaut, als ob die Wirtschaft um ihrer selbst willen
das Primat hätte. Das ist nicht so. Herr Brüderle, verlassen Sie diesen Pfad!
({3})
Wer baut die Straßen - nicht nach Theben, aber zu den
Unternehmen? Wer sorgt für die Qualifikation der Facharbeiterinnen und Facharbeiter? Wer gewährleistet die
Sicherheit? Wer bietet Lebensqualität in den Städten, damit die Menschen, die arbeiten sollen, sich wohlfühlen?
Doch wohl der Staat. Deshalb: Desavouieren Sie den
Staat nicht, sondern stützen Sie ihn in seiner Leistungsfähigkeit!
({4})
Ich will durchexerzieren, was sich im Jahreswirtschaftsbericht und in Ihren Vorhaben findet. Der erste
Punkt ist, dass Sie die Steuern senken und gleichzeitig
den Haushalt konsolidieren wollen. Sie werden im vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht der Forderung nicht
gerecht, diese Quadratur des Kreises aufzulösen
({5})
und zu beweisen, was Sie dem Sachverständigengutachten entgegenzusetzen haben. Von einem neutralen Gutachten kann man, da es um eine der größten Volkswirtschaften der Welt geht, erwarten, dass man, Herr
Brüderle, nicht nur sagt: „Wir wollen eine Schippe
drauflegen“ oder: „Wir haben den richtigen Kompass“;
vielleicht schauen Sie auch mal auf den Kompass. Es
geht vielmehr auch darum, dass man deutlich macht, warum durch Steuersenkungen und weitere Verschuldung Wachstum entstehen soll. Diese Begründung sind
Sie uns schuldig geblieben.
({6})
Daraus folgt, dass Sie die Kommunen arm machen.
Ich hatte zwischen Weihnachten und Silvester 2008 das
große Vergnügen, ein Konjunkturprogramm zur Gebäudesanierung und ein Konjunkturprogramm im Verkehrsbereich auszuarbeiten. Wenn Sie den Kommunen das
Geld wegnehmen, brauchen Sie sich nicht zu wundern,
dass nicht weiter investiert wird.
({7})
Das ist der völlig falsche Weg. Aus diesem Grund sage
ich: Verlassen Sie diesen Pfad!
Zur Arbeitsmarktpolitik. Hier schlagen Sie einen Irrweg ein. Auf der einen Seite, Herr Nüßlein, wird ab und
zu gelobt, dass die Geltungsdauer der Regelung zum
Kurzarbeitarbeitergeld verlängert worden ist. In der
Regel wird dann von „man“ gesprochen; man nennt
nicht Ross und Reiter, nicht diejenigen, die das geschafft
haben.
({8})
Aber es geht nicht nur um das Kurzarbeitergeld, sondern, Herr Brüderle, auch um den Kommunalkombi, der
zum Beispiel im Osten unserer Republik viel bewirkt
hat. Tausende Langzeitarbeitslose sind in Arbeit gekommen. Warum beenden Sie dieses Programm? Herr Vaatz,
warum beenden es der Ministerpräsident, der Finanzund der Wirtschaftsminister im Freistaat Sachsen? Menschen, die in Arbeit sind, werden herausgedrängt. Das ist
der falsche Pfad. Verlassen Sie ihn!
({9})
Das Gleiche gilt für die Mindestlöhne. Es ist mehrfach angesprochen worden: Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn, aber nicht aus ideologischen Gründen, Herr Brüderle, sondern aus dem einfachen Grund
- Herr Lindner, ich freue mich, dass Sie wieder da sind -,
dass zu einer menschenwürdigen Arbeit ein menschenwürdiger Lohn und damit ein menschenwürdiges Leben
gehören.
({10})
Wenn Sie das nicht gewährleisten, dann wird es nicht
nur weniger Kaufkraft geben und der Staat wesentlich
mehr Steuergelder aufbringen müssen - dies ist übrigens, wenn Sie so wollen, eine Subvention -, sondern
dann brauchen Sie sich nicht zu wundern - auch dies ist
wieder ein ostspezifisches Problem -, dass die Menschen von Ost nach West gehen und die Facharbeiter
dort fehlen, wo wir sie dringend brauchen, um die Industrie aufzubauen.
({11})
Jetzt stehen marktgerecht ausgestaltete Vermittlungsgutscheine auf der Tagesordnung. Auch soll Bürgerarbeit ausprobiert werden. Wenn Sie schon den Pfad
der Großen Koalition und letztlich den der rot-grünen
Regierung fortsetzen - man liest es im Jahreswirtschaftsbericht und im Haushaltsentwurf 2010 -, dann doch bitte
auch in diesem Bereich. Warum muss Bürgerarbeit ausprobiert werden? Warum wollen wir den Menschen zum
Beispiel im Osten, aber auch in anderen strukturschwachen Gebieten sagen: „Wir experimentieren erst noch
ein bisschen; das, was funktioniert, werfen wir weg“?
Verlassen Sie diesen Pfad! Er ist falsch.
({12})
Summa summarum: Herr Brüderle, Herr Lindner,
überdenken Sie Ihr Grundverständnis von Staat und
Wirtschaft; denn Sie verlassen einen guten Pfad und gehen in die Irre. Lassen Sie uns in der Zukunft darüber
diskutieren. Es ist keine theoretische Debatte. Das Wohl
und Wehe von Tausenden Menschen einer der stärksten
Industrienationen Europas und damit eine globale Entwicklung hängen an der Frage, ob Sie diesen Irrweg verlassen.
Vielen Dank.
({13})
Nun erhält der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Tiefensee, Sie haben uns aufgefordert, über
das Verhältnis von Wirtschaft und Staat nachzudenken.
Herr Tiefensee, wir glauben nicht, dass der Staat die
Aufgabe hat, Chancen für Zukünfte vorherzubestimmen.
Vielmehr glauben wir, dass die Wirtschaft aus eigener
Verantwortung Zukunft schaffen muss, dass der Staat dabei helfen und unterstützen kann, dass wir auf die Initiative des Einzelnen vertrauen, dass wir die Freiräume
schaffen müssen, dass der Einzelne vorangehen und aufbauen kann, nicht aber, dass der Staat eng gestrickte Programme auflegt, bei denen gesagt wird, was der Einzelne
tun soll.
({0})
Wir haben vom Sachverständigenrat und anschließend auch im Jahreswirtschaftsbericht drei zentrale Herausforderungen benannt bekommen: erstens, die Wirtschaft zu stabilisieren. Hier greift der Staat in Krisen ein,
und er hilft. Aber - so haben es Herr Brüderle und
Michael Meister gesagt - der Staat muss auch schauen,
wie schnell er sich zurückziehen kann, damit es nicht
kontraproduktiv wird; denn er weist nicht die Zukunft.
Die Zukunft kann der Staat nicht erfinden. Er muss Freiraum schaffen, damit Zukunft von denen geschaffen
werden kann, die in Wissenschaft und Wirtschaft die Arbeit zu tun haben.
({1})
Zweitens, Haushalte zu konsolidieren. Darüber haben
wir mit Wolfgang Schäuble in der vergangenen Woche
diskutiert.
({2})
Drittens, Wachstumsspielräume zu erweitern. Dies
wird hier definiert. Es wird gesagt, wo dies erfolgen soll:
in Bildung, in Forschung und in Innovation. Die Kollegin Nadine Müller wird nachher über Bildung sprechen,
einen der zentralen strategischen Bereiche.
({3})
Forschung und Innovation sind die Felder, auf denen Zukunft entsteht. Die Frage, ob Kreativität möglich ist, ist
zuerst eine Frage an die Wissenschaftler und an die Unternehmer. Wir fahren Bürokratie nicht nur zurück, um
Kosten zu senken, sondern auch, um Freiheiten zu schaffen, um die Möglichkeit zu Neuem zu eröffnen.
({4})
In einer schwierigen Zeit werden wir dabei durchaus
helfen. Bei der Forschung für den Mittelstand haben
wir mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand in der Krise gewaltige Summen draufgelegt; in
diesem Jahr sind es 450 Millionen Euro zusätzlich zu
den bisherigen 313 Millionen Euro. Was ist der Sinn?
Dass auch unter dem Druck der Krise die mittelständischen Unternehmen, die Quelle für viele Innovationen
sind, imstande sind, ihre Forschung durchzuhalten und
Zukunft zu schaffen. Damit sie sich nicht nur mit Krisenmanagement befassen, legen wir so viel Geld drauf.
Eine der interessanten Herausforderungen, lieber Herr
Brüderle, wird sein, wie wir in der nächsten Runde die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass hier nichts abbricht und dass die Förderung auf hohem Niveau fortgesetzt wird, damit wir einen Übergang bekommen, der in
eine gute Zukunft hineinträgt.
Bei diesem Zentralen Innovationsprogramm wird der
Übergang wichtig sein, und es wird wichtig sein, dass
das Signal an den Mittelstand von den Unternehmen verstanden wird: Macht die Forschung nicht kleiner! Stellt
auch in der Krise junge Wissenschaftler ein! - Wir haben
es 1994 und vorher schon 1979 erlebt, dass, wenn die
Wirtschaft in der Krise nicht einstellt, anschließend die
Zahlen junger Studenten zurückgehen, die Ingenieure,
Chemiker oder Physiker werden wollen.
Das aufzuholen, braucht dann Jahre. Deshalb halte
ich es für prima, dass Herr Hambrecht für die chemische
Industrie erklärt hat: Wir werden durchhalten. Wir werden auch in der Krise einstellen. - Das brauchen wir:
Staat und Wirtschaft als Partner. Das ist die Stärke. Das
ist die Voraussetzung für eine vernünftige Strategie.
({5})
Zur Hightech-Strategie: Herr Kuhn verlangt ein
Wachstum mit menschlichem Gesicht. Jawohl! Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es, dass sich die Förderung
der Schlüsseltechnologien der Hightech-Strategie zunehmend an gesellschaftlichen Zielen wie Gesundheit, Sicherheit, Alter, Kommunikation und Mobilität orientieren wird. Es ist genau diese Strategie aus einem Guss,
die dem Einzelnen Freiheit und die Chance gibt, seine
Rolle zu finden und erfolgreich zu sein, für sich selbst
und für uns alle.
Es gibt einige Bereiche, in denen wir noch viel tun
müssen. Manches ist in dem vorzüglichen Bericht mit
eleganter Beiläufigkeit erwähnt. Wenn es in einer einzigen Zeile unter Punkt 69 des Anhangs heißt, dass wir die
klinische Forschung stärken wollen,
({6})
dann ist das hochinteressant. Dahinter steht die Tatsache,
dass zwar in den Haushalten der Länder 3 Milliarden
Euro für klinische Forschung und die Unterstützung der
Universitätskliniken zur Verfügung stehen, aber der Wissenschaftsrat mahnt seit Jahren an, dass davon vielerorts
weniger als 10 Prozent in die Forschung eingehen. Dieses Problem zu beheben, wird eine faszinierende Aufgabe für die Bundesregierung im Zusammenspiel mit
vielen sein.
Es ist wichtig, dass wir bei der steuerlichen Forschungsförderung weiterkommen. Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es - er baut auf dem Gutachten des
Sachverständigenrats auf -:
Die Bundesregierung strebt an, mit einer steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung
zusätzliche Forschungsimpulse insbesondere für
kleine und mittlere Unternehmen auszulösen.
({7})
Das ist eine prachtvolle Bundesregierung.
({8})
Wenn sie etwas anstrebt, dann wird sie es auch erreichen. Wir werden alle helfen, dass dies gelingen kann.
Ich weiß, dass das unter dem Druck der Situation der
Haushalte und der Finanzen nicht einfach ist. Aber die
Zukunft liegt darin, dass wir eine unbürokratische Forschungsförderung von kleinen und mittleren Unternehmen vorantreiben, die für Technik offen ist und Zukunft
nicht vorschattiert, dass wir das tun, was zwei Drittel der
OECD-Staaten tun, was Großbritannien überprüft, novelliert und neu aufgestellt hat. Die Elemente sind vorhanden. Die Ministerien haben in der vergangenen
Legislaturperiode darüber nachgedacht. Der BDI unterstützt es inzwischen. Lange genug hat es gedauert, aber
wir freuen uns drüber.
Hier besteht eine Chance für Neues. Sie besteht im
Aufbruch der Einzelnen mit Zuversicht in eine Zukunft.
Rainer Brüderle hat Deutschland als Gründerland bezeichnet. Dabei zu helfen, ist nicht eine Sache der Gründerfonds und -programme allein. Wir haben prachtvolle
Programme: EXIST, High-Tech-Gründerfonds, ERPStartfonds, EIF/ERP-Dachfonds. Niemand hat so viele
Fonds staatlich mitfinanziert wie wir. Aber in steuerlicher Hinsicht sind wir noch nicht so weit, wie es sein
soll. In der letzten Legislaturperiode kamen wir nicht so
weit. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen gegeben sind, dass die Gründerzahlen steigen
können, dass der Wagniskapitalmarkt wieder funktioniert.
({9})
Herr Kollege Riesenhuber, Sie müssen zum Ende
kommen.
Daraus entsteht Zukunft. Daran arbeiten wir. - Wenn
Sie meinen, ich soll aufhören, dann tue ich dies gerne,
obwohl über die Zukunft Deutschlands, für die wir gewählt sind, noch Grundsätzliches in fröhlicher Gemeinsamkeit zu sagen ist.
({0})
Lassen Sie uns daran arbeiten.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Rolf Hempelmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lieber Herr Riesenhuber, wir sehen uns ja häufig im
Ausschuss. Ich genieße Ihre Redebeiträge immer. Sie
können ja nicht viel falsch machen. Denn bei Ihrer Flughöhe kommt man selten ins Detail, aber genau da sind
wir im politischen Alltag gefordert, und genau da erwarten die Menschen Antworten von uns.
({0})
Der Jahreswirtschaftsbericht sagt auch etwas zum
Thema Energie. Das muss er natürlich tun. Die Energie
ist nun einmal die wichtigste Ressource in einem Nochindustrieland wie der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen ist es notwendig, dass etwas dazu gesagt wird,
wie es in diesem Bereich weitergehen soll.
Wenn es um die Zukunft geht, ist der Bericht allerdings diffus - da ist der Wirtschaftsbericht an diesem
Punkt nicht anders als an allen anderen -: Da wird auf
die Zukunft verwiesen, insbesondere auf den Herbst des
Jahres und das dann vorzulegende Energiekonzept.
Wenn auf die Vergangenheit Bezug genommen wurde,
wurde ein Häkchen gemacht. Da hat die Große Koalition
offenbar ganz gut gearbeitet. 15 Häkchen und 8 Verweise auf die Zukunft, das ist das, was in diesem Bericht
zum Thema Energie gesagt wird.
Auch wenn grundsätzlich auf die Zukunft verwiesen
wird, darauf, dass ein Energiekonzept vorgelegt werden
soll, gibt es in einem Punkt ganz offensichtlich eine Setzung: Das ist die Laufzeitverlängerung für die deutschen Kernkraftwerke. Was bedeutet das eigentlich?
Ich glaube, Herr Nüßlein hat eben behauptet, dass der
Bereich der erneuerbaren Energien von einer Verlängerung der Laufzeiten nicht betroffen ist, nicht darunter
leidet. Der Bundesverband Erneuerbare Energie hat den
Köder, der ihm angeboten wurde, abgelehnt. Man wollte
ihm von dem Aufkommen, das im Zusammenhang mit
der Laufzeitverlängerung erwirtschaftet wird - 50 Prozent sollen ja dem Staat zufallen -, ein bisschen abgeben. Der Vorsitzende des Bundesverbandes Erneuerbare
Energie sagt: Nein, wir brauchen das nicht, wenn es eine
vernünftige Energiepolitik gibt, wie es sie in den letzten
elf Jahren gab. Das Traumpaar Atom und Wind ist kein
Traumpaar.
({1})
Wenn jetzt behauptet wird, dass man die Atomenergie
wunderbar rauf- und runterregeln kann, ist man offensichtlich einer Verwechselung unterlegen. Das ist richtig
für Gaskraftwerke, trifft in dieser Form auf Kernkraftwerke aber nicht zu. Die Fachleute wissen, dass man dort
nur sehr begrenzt regeln kann. Das gilt vor allen Dingen
für die benötigte Minutenreserve. Das ist die Energie, die
schnell zur Verfügung stehen muss. Außerdem hat das
den Preis, dass man mehr Brennstäbe braucht, weil sie
schneller verbraucht sind. Das heißt, dass das Ganze
auch unter Entsorgungsgesichtspunkten eine Milchmädchenrechnung ist.
({2})
Der Bundesverband stellt absolut zutreffend fest: Die
Bundesregierung baut ihr Energiekonzept um die Atomkraft herum. Was bedeutet das eigentlich? Das bedeutet
zum Beispiel - dazu gibt es Gutachten, die auch von
Stadtwerken vorgelegt worden sind -, dass man nachteilige Wirkungen für den Wettbewerb in Kauf nimmt:
Die Neuen haben mehr Schwierigkeiten, auf den Markt
zu kommen, und die Marktmacht der Alten, die 80 Prozent der Erzeugung in Händen haben, wird zementiert.
Dann kommt der Wirtschaftsminister und sagt: Ich habe
eine Antwort darauf; mir schwebt ein EntflechtungsRolf Hempelmann
oder Zerschlagungsgesetz vor. Ich will gar nicht sagen,
dass man grundsätzlich nicht auch über so etwas reden
kann. Aber wir haben gerade festgestellt, dass das Rezept zur Kompensation dieser nachteiligen Wirkung der
Laufzeitverlängerung in der Koalition noch strittig ist.
Die CSU hat Bedenken angemeldet. Wenn man eine
Struktur schafft, für die man anschließend Korrekturen
finden muss, man diese Korrekturen aber noch strittig
stellt, dann ist das eine Politik, die wir öffentlich nicht
unkritisiert lassen können.
({3})
Fast noch wichtiger ist der Hinweis in diesem Gutachten auf die negativen Auswirkungen auf die Investitionen in den Kraftwerkspark. Dabei geht es zum Beispiel auch um Investitionen in Kraft-Wärme-Koppelung,
aber - da lasse ich Sie nicht raus - auch um Investitionen
in die erneuerbaren Energien. Wir haben gegen Ende der
letzten Legislaturperiode versucht, eine Regelung zu finden, die es den Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien leichter macht, es für sie attraktiver macht,
in die Direktvermarktung zu gehen, sich also vom Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Stückchen zu lösen. Das
wird aber überhaupt nicht funktionieren, wenn sie mit
dann weiter perpetuierten, eigentlich abgeschriebenen
Kernkraftwerken in Konkurrenz treten müssen. Da ist
der Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien. Diesen lösen Sie nicht auf. Sie wollen die Direktvermarktung, Sie wollen die Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energien, und gleichzeitig bauen Sie das größte
Hindernis dazu auf, das man sich vorstellen kann.
({4})
Vernachlässigt werden alle anderen wichtigen Zukunftsthemen, zum Beispiel das Thema Effizienz. Wir
hätten schon in der letzten Legislaturperiode gerne einen
ambitionierten Gesetzentwurf dazu verabschiedet. Dazu
ist es leider nicht gekommen. Konkretes dazu findet sich
auch nicht im Jahreswirtschaftsbericht. Gerade jetzt ist
ein Thema aktuell, das die Effizienz im Gebäudebereich
betrifft: die energetische Effizienz. Da hätten Sie die Gelegenheit gehabt, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm aufzustocken, so wie wir es im letzten Jahr gemacht haben. Sie tun das nicht, obwohl es ein
Programm ist, das sich über Steuerrückflüsse selbst finanziert und das - Herr Nüßlein hat den Mittelstand
hochgehalten - insbesondere Beschäftigung im Mittelstand generiert.
({5})
Das geben Sie auf bzw. fahren es deutlich herunter. Etwas, was bewährt ist, wird sozusagen aufgegeben - das
wurde hier schon an anderer Stelle kritisiert -, und etwas
Neues ist noch nicht in Sicht.
Diese Politik führt nicht in die Zukunft. Im SPD-Antrag finden sich Vorschläge für eine ökologische Industriepolitik. Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen
über das Zukunftskonzept Energie. Was Sie bisher liefern, ist jedenfalls für uns keine Konkurrenz.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Nadine Müller für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
aktuelle wirtschaftliche Entwicklung ist wie eine sehr
empfindliche Pflanze. Sie kann schnell eingehen; denn
sie ist anfällig und abhängig von äußeren Einflüssen. Sie
kann aber durchaus auch groß und stark werden. Wir befinden uns in einer Phase der konjunkturellen Erholung. Allerdings ist diese noch fragil und muss stabilisiert werden.
({0})
Vor diesem Hintergrund macht der Jahreswirtschaftsbericht drei Herausforderungen aus, vor denen wir heute
stehen. Kollege Riesenhuber hat sie bereits aufgezählt.
Da ist zum Ersten die wirtschaftliche Lage, die kurzfristig stabilisiert werden muss. Dazu ist im Laufe der Debatte, denke ich, das Wesentliche gesagt worden.
Zum Zweiten müssen wir die öffentlichen Haushalte
langfristig konsolidieren. Das liegt mir gerade als Vertreterin der jungen Generation ganz besonders am Herzen.
Die Schuldenbremse gibt uns da einen schwierigen, aber
konsequenten und konkreten Weg vor. Dazu gibt es
keine Alternative.
({1})
Um eine Konsolidierung überhaupt zu ermöglichen
- damit bin ich beim dritten Punkt -, wird es mittelfristig darauf ankommen, Wachstumsspielräume zu schaffen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir in Zukunftstechnologien investieren müssen. Kollege
Riesenhuber ist darauf sehr detailliert eingegangen. Wir
investieren in Forschung, in Innovationen und in den
Technologietransfer. So sorgen wir dafür, dass Deutschland weiterhin das Land der hochwertigen Produkte und
der Zukunftstechnologien bleibt.
({2})
Allerdings bringt uns die beste Innovationsförderung
nichts, wenn wir nicht genügend Fachkräfte haben:
Fachkräfte, die forschen und entwickeln und dadurch die
Innovationen hervorbringen, und Fachkräfte, die Innovationen in Produkte umsetzen. Deshalb ist eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte aus meiner Sicht der erhöhte Fachkräftebedarf.
Dem zu begegnen, haben wir uns auf die Fahne geschrieben. Unsere Antwort darauf ist eine ganz klare
Schwerpunktsetzung auf Investitionen in die Bildung.
12 Milliarden Euro wird die Bundesregierung in Bildung und Forschung investieren.
({3})
Nadine Müller ({4})
Nun hat Herr Duin - er ist, glaube ich, gerade nicht
im Saal - bereits gesagt, das sei zu wenig. Auch Herr
Kuhn hat das gestern im Ausschuss angesprochen. Mir
ist aufgefallen, Herr Kuhn, dass Sie das heute in der Debatte nicht mehr erwähnt haben. Vielleicht haben Sie die
alten Unterlagen herausgeholt und sich daran erinnert,
dass vor nicht allzu langer Zeit auch Sie in Regierungsverantwortung waren. Wenn man das, was Sie in Ihrer
Zeit in die Forschung investiert haben, mit dem, was in
den letzten Jahren investiert wurde, vergleicht, kann man
deutliche Unterschiede feststellen.
({5})
Unter Rot-Grün sind die Ausgaben für Forschung und
Entwicklung innerhalb von sieben Jahren um 0,7 Milliarden gestiegen. In den vier Jahren, die die CDU/CSU
regiert hat, sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung um 3,1 Milliarden gestiegen.
({6})
In einem Schaubild des Statistischen Bundesamtes, das
im Jahreswirtschaftsbericht 2009 abgedruckt ist, wird
das grafisch dargestellt: Die Kurve, die die Ausgaben für
Forschung und Entwicklung zeigt, verläuft bis 2005 relativ gerade, danach folgt ein steiler Aufstieg. Schöner
kann man das mit Worten eigentlich nicht beschreiben.
({7})
Deshalb, lieber Kollege Kuhn, ist es unglaubwürdig,
wenn die Grünen heute mangelnde Investitionen in Bildung und Forschung beklagen.
Klar ist: Die Politik kann den Fachkräftemangel nicht
allein bewältigen. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
müssen Hand in Hand arbeiten. Ein Bereich, in dem das
sehr gut funktioniert, ist der Ausbildungspakt. Durch
den Ausbildungspakt wurde die Ausbildungssituation
für junge Menschen deutlich verbessert. Im vergangenen
Jahr hatten wir trotz der Wirtschaftskrise mehr unbesetzte Stellen als unversorgte Bewerber. Für die gemeinsame Kraftanstrengung aller Partner des Ausbildungspaktes möchte ich an dieser Stelle herzlich danken.
({8})
Schade ist allerdings - das möchte ich an dieser Stelle
erwähnen -, dass sich die Gewerkschaften dem Ausbildungspakt nach wie vor nicht angeschlossen haben. Ich
appelliere an die Gewerkschaften: Geben Sie sich einen
Ruck und machen Sie beim neuen Ausbildungspakt im
Herbst dieses Jahres mit! Es geht um die Zukunft unserer
jungen Menschen, es geht um die Zukunft unserer Betriebe und nicht zuletzt um die Arbeitsplätze in unserem
Land.
({9})
Nicht miesmachen, sondern mitmachen! In diesem Fall
lohnt es sich wirklich.
({10})
Gemeinsame Kraftanstrengungen braucht es aber
auch in anderen Bereichen: bei der Weiterbildung, bei
den Hochschulen, bei der Berufsorientierung. Im Jahreswirtschaftsbericht 2009, aber auch im Jahresgutachten
2009/10 des Sachverständigenrates zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - über dieses
Jahresgutachten debattieren wir heute ja auch - wird das
teilweise sehr detailliert angesprochen.
Zwei andere, entscheidende Themen bleiben im Jahresgutachten des Sachverständigenrates allerdings leider
nahezu unerwähnt: Gleichstellung und die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Hier ist Kritik angebracht; denn
beide Themen sind maßgeblich für die Zukunftsfähigkeit
Deutschlands, gerade im wirtschaftlichen Bereich. Deshalb sollte sich auch das Jahresgutachten des Sachverständigenrates mit diesen Themen beschäftigen.
Gleichstellung in der Wirtschaft ist - im Gegensatz
zu Gleichstellung in anderen Bereichen - in erster Linie
ein Frauenthema. Betrachten wir die Zusammensetzung
der Führungsetagen und Aufsichtsräte der Unternehmen
in Deutschland, finden wir überwiegend Männer. In vielen Branchen, gerade in den Zukunftstechnologien, fehlen Frauen. Wir können auf die Frauen in Zukunft aber
nicht verzichten.
({11})
Frauenförderung ist nicht nur unter Gleichstellungsgesichtspunkten ein wichtiges Thema, sondern liegt auch
im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse.
({12})
Daher begrüße ich die „Bundesinitiative zur Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft“, mit der die Bundesregierung dieses Thema konkret angeht.
({13})
Die Bundesregierung kümmert sich auch um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Das ist wichtig; denn wir können weder auf Kinder verzichten noch auf ihre gut ausgebildeten Väter und Mütter. Damit junge Familien Familie und Beruf vereinbaren
können, müssen wir junge Familien viel mehr unterstützen als bisher. Damit haben wir in der letzten Legislaturperiode begonnen. Liebe Kollegen, als die CDU/CSU in
der vergangenen Legislatur die Betreuungsmöglichkeiten ausgebaut und das Elterngeld eingeführt hat,
({14})
war gerade in meinem Bekannten- und Freundeskreis
das Aufatmen vieler junger Familien regelrecht zu hören.
({15})
Mit dem Teilzeitelterngeld macht Ministerin Kristina
Köhler weitere wichtige Schritte zu mehr Flexibilität.
Das alles sind überfällige Maßnahmen. Wenn wir jetzt
nicht tätig werden, verliert entweder der Arbeitsmarkt
die jungen Paare, oder die jungen Paare verlieren die
Nadine Müller ({16})
Lust am Kinderkriegen. Beides können wir uns auf
Dauer nicht leisten - im Interesse der jungen Paare, aber
auch in unserem eigenen Interesse.
({17})
Die christlich-liberale Koalition tut alles, um hier zu helfen. Es wäre schön, wenn sich auch der Sachverständigenrat in seinem nächsten Gutachten mit dieser Thematik eingehend befassen würde.
Insgesamt gilt: Wir sind in vielen Bereichen auf einem guten Weg. Vieles wurde begonnen, Probleme wurden erkannt. Für die Vermeidung des Fachkräftemangels
trägt nicht nur die Politik Verantwortung. Auch die Wirtschaft muss hier einen deutlichen Beitrag leisten.
Schließlich geht es um ihren Fachkräftebedarf und ihr
Potenzial an gut ausgebildeten Mitarbeitern.
Bund, Länder, Wirtschaft und Gesellschaft müssen
gemeinsam die wichtigen Zukunftsaufgaben angehen.
Die CDU/CSU-Fraktion will das gerne tun. Packen wir
es deshalb gemeinsam an!
Danke schön.
({18})
Kollegin Müller, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation und viele
gute Wünsche für die weitere Arbeit!
({0})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Thema.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/500, 17/44, 17/521 und 17/470 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Lohndumping verhindern - Leiharbeit strikt
begrenzen
- Drucksache 17/426 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zeitarbeitsbranche regulieren - Missbrauch
bekämpfen
- Drucksache 17/551 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem
Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wieder einmal debattieren wir im Deutschen
Bundestag über die Leiharbeit. Anlass ist dieses Mal die
Firma Schlecker.
({0})
Warum? Bei der Firma Schlecker wird den Verkäuferinnen gekündigt; dann wird ihnen angeboten, bei den
neuen XL-Märkten als Leiharbeiterinnen wieder anzufangen. Etwa 4 300 Leute sind betroffen. Ihnen wird gesagt, sie könnten dort für die Hälfte des Lohnes arbeiten,
ohne Weihnachts- und Urlaubsgeld, bei weniger Urlaubstagen. Bereits 1 000 der kleinen Filialen der Firma
Schlecker wurden geschlossen. Das Problem dabei ist:
All das, was die Firma Schlecker hier macht, ist vollkommen legal.
({1})
Für die betroffenen Schlecker-Beschäftigten heißt
das: Inzwischen werden Stundenlöhne von nur
6,50 Euro bezahlt. Der Tariflohn wäre 12,70 Euro. Die
Leiharbeitsfirma Meniar, für die die Arbeitnehmer letztendlich arbeiten müssen, hat einen Tarifvertrag mit der
Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit, CGZP, abgeschlossen.
Was sind die Folgen für die Beschäftigten? Inzwischen dürfte es sich herumgesprochen haben; der Stern
hat in seiner Ausgabe vom letzten Donnerstag in einer
sehr deutlichen Sprache vom „Geschäftsmodell Ausbeutung“ gesprochen. Die Menschen leben in Angst vor
Kündigung, werden gezwungen, unbezahlte Überstunden zu machen, schuften bis zu 60 Stunden in der Woche
für einen Hungerlohn usw.
Hier liegt die Situation vor, dass die Menschen bei der
Leiharbeitsfirma dieselbe Arbeit machen wie Festangestellte, aber nur die Hälfte des Lohns verdienen. Das ist
ein absolut unakzeptabler Zustand.
({2})
Er hat mit modernen Arbeitsbedingungen nichts zu tun.
Nachdem Sie von den Grünen und der SPD bei diesem
Thema inzwischen eine andere Position einnehmen,
würde ich mich im Übrigen freuen, wenn Sie darüber
nachdenken könnten, was Sie damals eigentlich ange1606
stellt haben, als Sie die Leiharbeitsregelungen gelockert haben.
Der Punkt ist: Immer mehr Arbeitnehmer in Leiharbeitsfirmen sind Aufstocker, so auch bei der Firma
Schlecker. Sie werden zum Teil aus Steuergeldern bezahlt, während Herr Schlecker, der Eigentümer dieses
Unternehmens mit einem geschätzten Vermögen von
2,4 Milliarden Euro, weniger Lohnausgaben hat. Wir
finanzieren mit Steuergeldern die billigen Löhne und
den Reichtum von Anton Schlecker. Das ist zurzeit der
Zustand.
({3})
Was macht die Bundesregierung? Noch im November
hat sie auf Anfrage von Sabine Zimmermann erklärt:
Die Bundesregierung ist kein Forschungsinstitut,
dessen Aufgabe es wäre, solchen Einzelfällen nachzugehen.
Keine zwei Monate später sehen wir jetzt, dass Frau von
der Leyen - leider ist sie nicht da - inzwischen dieses sehr
wichtige Thema aufgreift. In der Sendung Anne Will hat
sie am 10. Januar 2010 gesagt - ich zitiere wörtlich -:
Bei Schlecker gucken wir sehr genau hin, ob da
Missbrauch betrieben wird oder ob Gesetze umgangen werden. Wenn das der Fall ist, werden wir diese
Schlupflöcher schließen.
Man solle die Leiharbeit insgesamt doch bitteschön nicht
verteufeln, das wäre ja offensichtlich sozusagen nur ein
Ausreißer.
Ich kann nur sagen: Schlecker ist kein Einzelfall.
Wenn man so tut, als wäre dies ein Einzelfall, dann will
man die Leiharbeit offensichtlich generell nicht regeln,
sondern dann will man das nur auf einen Einzelfall
schieben. Das werden wir nicht zulassen.
({4})
Ich möchte einige Beispiele aus der Realität der Bundesrepublik Deutschland aufzeigen:
Bei dem Unternehmen BMW in Leipzig arbeiten rund
30 Prozent der Beschäftigten als Leiharbeitnehmer. Das
hat im Übrigen überhaupt nichts mehr mit Auftragsspitzen zu tun, wie oft argumentiert wird. Es müsste sich ja
schon um eine Hochebene handeln, wenn 30 Prozent der
Arbeitnehmer Leiharbeiter sind. Auftragsspitzen in
Höhe von 30 Prozent sind keine Spitzen mehr.
Bei dem Siemens-Schaltwerk in Berlin waren von
2 200 Beschäftigten 600 Leiharbeitnehmer.
Die Braunschweiger Zeitung beschäftigt Leiharbeitnehmer, wobei diese Angestellte der eigens dafür
gegründeten Druck- und Verlags-Service GmbH sind.
Deren einziger Kunde ist die Braunschweiger Zeitung.
Der Lohnunterschied zu den Festangestellten beträgt
1 000 bis 1 500 Euro im Monat. Die Leute dort haben
weniger Urlaubstage, sie erhalten weniger Zuschläge, sie
haben keine Freischicht usw.
Bei der Schmitz Cargobull AG in Altenberge kamen
auf 440 Beschäftigte mit einer Festanstellung in der
Spitze bis zu 600 Leiharbeitskräfte. Nach Protesten der
IG Metall und der Belegschaft ist die Quote nun auf
etwa 30 Prozent abgesenkt worden.
Ich könnte diese Liste beliebig lange fortsetzen. Wer
bei dieser Situation und bei dieser Realität noch sagt, es
handele sich bei der Leiharbeit um ein Einzelproblem,
der verkennt die Realität und der will das Problem verschleiern. Das ist die Realität.
({5})
Der Sinn der Leiharbeit ist inzwischen nicht mehr,
Auftragsspitzen abzudecken, der Sinn ist auch nicht
mehr, wegen Krankheit oder aus anderen Gründen kurzfristig Personal auszugleichen, sondern der Sinn der
Leiharbeit ist ganz einfach erstens eine Lohnsenkung
für die Beschäftigten und zweitens eine Disziplinierung
der Arbeitnehmer, die nicht in Leiharbeit beschäftigt,
sondern im selben Unternehmen wie die Leiharbeiter
fest angestellt sind.
Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können,
aber was glauben Sie eigentlich, wie es wirkt, wenn zwei
Leute nebeneinander dieselben Tätigkeiten ausüben, wobei der eine 30 oder 40 Prozent weniger Lohn erhält?
Das ist offensichtlich das, was der eine oder andere hier
unter Motivation versteht. Glauben Sie denn wirklich,
dass unter solchen Bedingungen tatsächlich eine Belegschaft vorhanden ist, die sich bemüht und richtig motiviert den Betrieb voranbringt? Ich denke, das glauben
Sie selber nicht.
Wir haben das Problem - das ist ein anderer Gesichtspunkt bei der Leiharbeit -, dass dadurch auch das
Beschäftigungsrisiko weg von den eigentlichen Arbeitgebern hin zu den Beschäftigten verlagert wird. Der
Gewinn wird oft auch als Risikozuschlag bezeichnet.
Ich sage Ihnen: Wenn nicht mehr der Arbeitgeber, sondern letztendlich die Beschäftigten das Risiko tragen,
weil sie sofort entlassen werden, wenn irgendetwas
kracht, dann ist letztlich auch der Gewinn des Unternehmens infrage gestellt. Wenn der Gewinn der Risikozuschlag ist, das Risiko aber die Arbeitnehmer tragen, dann
müssten sie letztendlich auch den Gewinn erhalten. So
einfach ist die Lage.
({6})
Meine Damen und Herren, ich brauche Ihnen die Daten nicht weiter aufzuzählen und nenne nur einige
Punkte: Zwischen 1997 und 2007 betrug die Zunahme
bei der Leiharbeit 235 Prozent, zwischen 2003 und 2009
kam über eine halbe Million Beschäftigte in der Zeitarbeitsbranche neu hinzu usw. Ich glaube, wenn man hier
noch von Einzelproblemen redet, dann verkennt man die
Realität wirklich.
Wie konnte es dazu eigentlich kommen? Warum haben wir das Problem? Unter Rot-Grün wurde die Leiharbeit 2002 im Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in einer Weise dereguliert und
hoffähig gemacht, dass man sich heute nicht wundern
muss, dass diese Leiharbeit auch in der Form praktiziert
wird, wie sie praktiziert wird.
Was ist passiert? Das Befristungsverbot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Das Synchronisationsverbot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Danach
darf ein Leiharbeiter nur genau so lange eingestellt werden, wie er verliehen wird. Das Wiedereinstellungsverbot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Die Beschränkung der Überlassungsdauer auf zwei Jahre ist
aufgehoben worden. Es gab ursprünglich eine Begrenzung der Überlassungshöchstdauer bei Leiharbeit auf
drei Monate, die inzwischen aufgehoben worden ist. Dafür hat man im Gesetz den Gleichstellungsgrundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, Equal Pay, verankert, der aber durch Tarifverträge ausgehebelt werden
kann. Im Ergebnis haben wir die Billigtarifverträge der
Christlichen Gewerkschaften.
Diejenigen, die dieses Gesetz damals gemacht haben,
hätten wissen müssen, dass dies passieren wird.
({7})
Erstens haben die Gewerkschaften damals davor gewarnt, das Gesetz so zu verabschieden.
({8})
Auch Rot-Grün ist gewarnt worden.
({9})
- Ich kann Ihnen gerne vorlesen, Herr Kuhn, auch das,
was Sie bzw. Ihre Fraktion damals gesagt hat.
Zweitens wollten Sie mit diesem Gesetz bewusst dazu
beitragen, dass die Löhne gesenkt werden. Aus den Protokollen geht hervor, dass durchaus zur Debatte stand,
Tarifverträge abzuschließen, die unter dem Niveau des
Equal-Pay-Grundsatzes lagen. Das war die damalige Situation.
Heute sagt die SPD, sie wolle alles anders machen.
Ich will aber festhalten, dass auch Klaus Brandner,
Hubertus Heil, Elke Ferner, Olaf Scholz und Anette
Kramme damals dieser Liberalisierung der Leiharbeit
zugestimmt haben. Ich halte das für eine Sauerei.
({10})
Klaus Brandner hat am 15. November 2002 im Bundestag gesagt:
Mit den neuen Bestimmungen holen wir die Leiharbeit insgesamt aus der Schmuddelecke.
Auf dem SPD-Parteitag am 13. November 2009 hingegen hat Herr Gabriel gesagt - ich zitiere -:
Was wir aber falsch gemacht haben, ist Folgendes:
Wir haben das Scheunentor für Scheintarifverträge
mit Scheingewerkschaften so aufgemacht, dass für
viele Leih- und Zeitarbeit der Regelfall geworden
ist und dass sie mit Armutslöhnen zu leben haben,
liebe Genossinnen und Genossen.
Mich wundert, dass euch das immer erst in der Opposition einfällt statt dann, wenn ihr regiert und es ändert
könntet, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen.
({11})
Deshalb fordern wir Linken - Sie können beweisen,
dass Sie es mit der Regelung der Leiharbeit ernst meinen; denn wir haben einen entsprechenden Antrag in den
Deutschen Bundestag eingebracht -: Erstens darf der
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht unterlaufen werden, auch nicht durch Tarifverträge. Es war
Ihr großer Fehler, dass Sie das ins Gesetz aufgenommen
haben.
Zweitens müssen Leiharbeitnehmer wie in Frankreich
besser gestellt werden als die normalen Arbeitnehmer,
weil sie besonders flexibel sein müssen.
({12})
Deshalb fordern wir eine Zulage in Höhe von 10 Prozent
des Bruttolohns für Leiharbeitnehmer in den Betrieben.
({13})
Die Überlassungshöchstdauer muss wieder auf drei
Monate begrenzt werden, und vor allen Dingen brauchen
wir wieder mehr Mitbestimmungsrechte für die Betriebsräte.
({14})
Wer weiß besser, ob reguläre Arbeitsverhältnisse zugunsten von Leiharbeit beendet werden sollen, als die
Betriebsräte? Sie können beurteilen, ob Leiharbeitnehmer dazu benutzt werden, die Zahl der Stammbeschäftigten abzubauen.
Sie haben Gelegenheit, unserem Antrag zuzustimmen. Dann werden wir die Ernsthaftigkeit Ihrer gegenwärtigen Debatte überprüfen können.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ralf Brauksiepe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
macht nach meiner Auffassung Sinn, dass wir uns an
dieser Stelle mit einigen Fakten der Zeitarbeit auseinandersetzen, um kein Zerrbild entstehen zu lassen. Zu den
Fakten gehört: Die Zeitarbeit baut Brücken für den Einstieg oder die Rückkehr in sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung, gerade auch für Menschen, die sonst nur
geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Fakt ist
weiter: Die Zeitarbeit sorgt für die Flexibilität, die die
Unternehmen heute dringend brauchen, um marktge1608
recht auf Nachfragespitzen oder Auftragsflauten reagieren zu können. Das sichert übrigens gerade auch die Arbeitsplätze in der Stammbelegschaft. Das sind im Kern
die Botschaften des Elften Berichts der Bundesregierung
über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die das Kabinett beschlossen hat
und über die wir in der nächsten Zeit noch diskutieren
werden.
Der Bericht macht unter anderem deutlich, dass über
60 Prozent - die neuesten Zahlen liegen bei 62,2 Prozent - der Menschen, die in Zeitarbeitsunternehmen eingestellt werden, vorher nicht beschäftigt waren. 11,4 Prozent waren überhaupt noch nie beschäftigt. Zeitarbeit ist
in der Regel kein Traumjob, und sie braucht einen vernünftigen rechtlichen Rahmen. Aber sie ist eine Chance
für Menschen, aus der Langzeitarbeitslosigkeit wieder in
Beschäftigung zu kommen. Diese Chance müssen wir
im Interesse der arbeitsuchenden Menschen nutzen.
({0})
Wir haben in Deutschland mehrere Hunderttausend
Menschen, die noch nie gearbeitet haben. Die Zeitarbeitsbranche prägt weiß Gott nicht das Geschehen auf
den Arbeitsmärkten. Aber sie bietet vielen Menschen
eine große Chance, wieder in Beschäftigung zu kommen.
Ich will noch ein paar Fakten hinsichtlich der Bedeutung der Zeitarbeit hinzufügen. Die Anzahl der Arbeitsplätze in der Zeitarbeit ist in der Krise zurückgegangen. Das ist zu befürchten gewesen. Die Zeitarbeit ist
ein Stück weit ein Frühindikator. Wir können jetzt aber
feststellen: In der Zeitarbeit gibt es wieder einen ersten
Aufwuchs von Beschäftigung.
({1})
Wir haben heute die neuen Zahlen vom Arbeitsmarkt
vorliegen. In einem Jahr ist die Zahl der Arbeitslosen bei
5 Prozent Wirtschaftsschrumpfung um gut 100 000 gestiegen. Natürlich ist das eine traurige Entwicklung.
Aber dass es angesichts von 5 Prozent Wirtschaftsschrumpfung gelungen ist, auf dem Arbeitsmarkt
Schlimmeres zu verhindern, ist ein Erfolg, der auf den
Rahmenbedingungen beruht, die wir gesetzt haben. Das
hat auch etwas mit der Zeitarbeit als Chance zu tun, die
seit dem Mai letzten Jahres von zunehmend mehr Menschen ergriffen wird. Auch das ist wichtig und sollte in
diesem Zusammenhang erwähnt werden.
({2})
Um die Dimension deutlich zu machen, über die wir
reden: Nach den Zahlen von heute haben wir in Deutschland insgesamt über 40 Millionen Erwerbstätige. Fast
28 Millionen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Hinzu kommen geringfügig Beschäftigte, Beamte
und Selbstständige. Im Juni 2009 gab es in der Zeitarbeit
rund 600 000 Beschäftigte. Das sind etwa 1,5 Prozent
der Erwerbstätigen in Deutschland.
In der Zeitarbeit gibt es 50 840 Personen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und darüber hinaus noch Arbeitslosengeld II bekommen. Darunter sind
diejenigen, die Teilzeit in der Zeitarbeit arbeiten oder die
in der Zeitarbeit geringfügig beschäftigt und anderswo
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Gut 50 000
Menschen bezogen auf 40 Millionen Erwerbstätige in
Deutschland ergeben einen Anteil von 1,25 Promille. Ich
sage dies nur, um einmal die Dimension deutlich zu machen. 1,25 Promille kann je nach Lebenslage eine Menge
sein. Aber hinsichtlich der Zahl der Erwerbstätigen in
Deutschland ist es eine kleine Zahl. Man entwirft ein völliges Zerrbild, wenn man so tut, als würde diese kleine
Gruppe der Beschäftigten den Arbeitsmarkt in Deutschland prägen. So kann man die Diskussion nicht führen.
({3})
Wir haben bei der Zeitarbeit wieder einen leichten
Anstieg der Beschäftigung. Das hat etwas mit den Auftragsspitzen zu tun. Damit komme ich auf das zurück,
was eben gesagt worden ist. Es ist ja richtig, dass im
Zuge der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt der Zeitarbeitssektor neu geregelt worden ist.
Aber für über die Hälfte aller Zeitarbeitnehmer endet das
Beschäftigungsverhältnis nach maximal 89 Tagen, also
nach weniger als drei Monaten. Das heißt, die Abdeckung von Auftragsspitzen mit kurzfristiger Beschäftigung - unabhängig davon, ob man das gut findet oder
nicht - ist der Regelfall. Über 60 Prozent sind weniger
als drei Monate beschäftigt. Das zeigt, Zeitarbeit hat etwas mit der notwendigen Flexibilität in der Wirtschaft
zu tun. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir zur Kenntnis
nehmen: Das Dauerarbeitsverhältnis in der Zeitarbeit ist
nicht der Regelfall.
Wir wünschen uns natürlich, dass Menschen aus der
Langzeitarbeitslosigkeit über die Zeitarbeit wieder eine
Perspektive auf eine andere Beschäftigung bekommen.
({4})
Wir stellen fest, dass dies in vielen Fällen auch gelingt.
Rund zwei Drittel der Beschäftigten sind auch zwei
Jahre nach der Beschäftigung in einem Zeitarbeitsunternehmen weiterhin sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie werden nicht alle von dem Unternehmen, in dem
sie gearbeitet haben, übernommen. Sie gehen zum Teil
in andere Unternehmen, oder sie nehmen einen anderen
Arbeitsplatz im Rahmen der Zeitarbeit ein. Aber es handelt sich immer noch um sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse, für die der Kündigungsschutz und diejenigen Regelungen im Wesentlichen gelten, die auch für die anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten.
({5})
Solche Wirkungen haben manche anderen arbeitsmarktpolitischen Instrumente leider nicht. Wenn es also gelingt, einen bedeutenden Teil der Menschen in Beschäftigung zu bringen oder zu halten, dann zeigt das: Dies ist
ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das sehr wohl
seine Berechtigung hat.
({6})
Es macht sicherlich Sinn, über Korrekturen zu reden, wo
sie notwendig sind. Aber man sollte das Kind nicht mit
dem Bade ausschütten. Vielmehr muss man sehen, dass
wir hier einen grundsätzlich sinnvollen Rahmen haben.
Ich war überrascht, von meinem Vorredner zu hören,
er wisse schon, dass bei Schlecker alles vollkommen legal gewesen sein soll. Es verwundert mich dann aber,
dass Sie mir immer so viele Fragen stellen, Herr Kollege
Ernst. Sie wollen doch immer ganz genau wissen, wie
die Bundesregierung das sieht. Ich kann das dem Hohen
Hause sagen: Wir prüfen selbstverständlich - bei uns ist
die Prüfung allerdings nicht so schnell abgeschlossen
wie bei der Linken; wir prüfen eben gewissenhaft; es
handelt sich natürlich nicht um einen Regelfall; denn
man würde über Schlecker nicht ständig reden, wenn das
überall landauf, landab passierte -, ob in diesem Fall die
bestehende Gesetzeslage eingehalten worden ist.
({7})
Selbstverständlich werden wir uns Gedanken darüber
machen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Für uns ist völlig klar: Die Bundesregierung und die
christlich-liberale Koalition werden Missbrauch in der
Zeitarbeit nicht dulden. Das ist mit uns nicht zu machen.
({8})
Abgesehen davon, dass es sich unbestreitbar nicht um
den Regelfall handelt, wollen wir in der Tat nicht, dass
Menschen für einen deutlich niedrigeren Lohn an ihren
alten Arbeitsplatz gestellt werden und die gleiche Arbeit
leisten müssen. Das ist nicht Sinn und Zweck der Zeitarbeit.
({9})
Dafür sind die Regelungen nicht gemacht worden. Wir
werden sehr wohl prüfen, wo das passiert und was man
dagegen tun kann.
({10})
Ich bin dankbar, dass die deutlichen Worte, die unsere
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen dazu in
der Öffentlichkeit gefunden hat, dazu geführt haben,
dass schon vor Abschluss einer rechtlichen Prüfung die
Firma Schlecker eingelenkt und klar erklärt hat, dass
diese Praxis nicht fortgesetzt wird. Es ist wichtig, dass
wir diese Initiative ergriffen haben und dass dieser Teilerfolg erzielt worden ist.
({11})
Das hat unsere Ministerin im Gegensatz zu dem, was Sie
verkündet haben, erreicht.
({12})
Wir werden also den Missbrauch bekämpfen, wo er stattfindet.
({13})
Aber wir werden das Instrument der Zeitarbeit als eines
von vielen Instrumenten in der Arbeitsmarktpolitik in einem vernünftigen Rahmen fortführen; denn es bietet vielen Menschen Chancen.
Ich will noch etwas zu den Tarifen sagen. Gesetzlich
ist klar geregelt, dass Equal Pay dort gilt, wo es keine
abweichenden Tarifverträge gibt. Mein Eindruck ist,
dass manches bei den Tarifvertragsparteien, auch bei den
Gewerkschaften und insbesondere bei den Christlichen
Gewerkschaften, in Bewegung gekommen ist und dass
es in Zukunft eine Perspektive für bessere Abschlüsse
gibt. Wir sagen als Staat allerdings ganz klar: Wir legen
nicht die Löhne fest. Der Staat ist nicht der bessere
Lohnsetzer in der Zeitarbeitsbranche, genauso wenig
wie in anderen Branchen.
({14})
Wir haben es hier mit einem Rahmen zu tun, den die
rot-grüne Regierung geschaffen hat. Wir werden prüfen,
wo die Regelungen so missbrauchsanfällig sind, dass
man sie korrigieren muss.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Gern, Herr Kollege.
Herr Brauksiepe, da Sie sich immer freuen, wenn man
Ihnen Fragen stellt, möchte ich Ihnen ein, zwei stellen.
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass das Ergebnis Ihrer
Prüfung und die Folgen, die Sie daraus ableiten, nur sein
können, dass gleiche Arbeit auch gleich bezahlt werden
muss, und dass deshalb die Ausnahmeregelungen im
geltenden Gesetz, die zur Folge haben, dass von dem
Grundsatz Equal Pay permanent nach unten abgewichen wird, und zwar nicht nur bei Schlecker, sondern
auch bei vielen anderen Unternehmen, so geändert werden müssen, dass gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit
gewährleistet ist? Sind Sie mit mir der Auffassung, dass
Leiharbeitnehmer, die in ihrem Job ganz besonders flexibel sind und permanent bei unterschiedlichen Arbeitgebern eingesetzt werden, besonders entlohnt werden müssen, weil sich Leistung lohnen muss, und dass deshalb
ein Aufschlag in Höhe von 10 Prozent durchaus ein sinnvoller Weg ist?
({0})
Herr Kollege Ernst, ich habe eben schon gesagt, dass
ich es nicht als meine Aufgabe und auch nicht als die
Aufgabe des Parlaments ansehe, Löhne festzusetzen und
von daher auch über einen angemessenen Lohn zu entscheiden. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, einen vernünftigen Rahmen für die Regelungen in der Zeitarbeit
zu setzen, und diesen Rahmen haben wir nach meiner
Überzeugung. Über Einzelheiten wird man dann sprechen können.
Ich bin auch nicht ganz so sicher wie Sie, ob man einem Facharbeiter einer Stammbelegschaft gerecht wird,
wenn man sagt, jemand, der seit Jahrzehnten in einen
Betrieb eingearbeitet ist, bringe wirklich exakt die gleiche Arbeit wie jemand, der aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommt und erst einmal wieder neu anfangen muss.
Ich bin nicht ganz sicher, ob jeder, der jahrelang arbeitslos war, gleich so gute Arbeit verrichten kann wie jemand, der seit Jahrzehnten zuverlässig an seinem Arbeitsplatz seine Arbeit verrichtet.
({0})
Von daher traue ich mir die Äußerung gar nicht zu, dass
jeder Zeitarbeitnehmer immer vom ersten Tag an eine
gleich gute Arbeit leistet wie jemand aus der Stammbelegschaft. Meine Erachtens können das die Tarifvertragsparteien viel besser entscheiden als wir.
({1})
Deswegen sollen sie es entscheiden, und deswegen haben sie es entschieden, und deswegen sage ich nicht: Der
Ralf Brauksiepe, die Bundesregierung oder die christlich-liberale Koalition wissen es besser.
({2})
Sie wissen es allerdings nach meiner festen Überzeugung auch nicht besser, worin der richtige Lohn besteht.
({3})
Deswegen überlassen wir es den Tarifvertragsparteien.
Meine Damen und Herren, Missbrauch zu bekämpfen
und die Chancen zu nutzen, die die Zeitarbeit für Menschen bietet, die lange arbeitslos sind, das sind wichtige
Voraussetzungen dafür, um am Arbeitsmarkt Erfolge zu
erzielen, um insbesondere in dieser Krise Menschen in
Beschäftigung zu halten bzw. wieder in Beschäftigung
zu bringen.
Lassen Sie es mich abschließend noch einmal sagen,
weil es da in der Tat durchaus Wahrnehmungsunterschiede gibt: 1,25 Promille der Erwerbstätigen sind in
der Zeitarbeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt
und bekommen zusätzlich Arbeitslosengeld II. Das ist
kein Phänomen, das diese Wirtschaft prägt.
Auch Folgendes sage ich ganz deutlich: Wenn es uns
gelingt, in dieser Zeit Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen, dann ist das ein Erfolg. Ich weiß,
dass die Arbeitsplätze in der Zeitarbeit für die Allermeisten keine Traumjobs sind. Für mich war ein ganz typisches Beispiel, als in meinem Wahlkreis jemand zu mir
sagte: Ich habe eine Arbeit in der Zeitarbeit. Ich bin da
nicht glücklich; ich würde gern woanders hingehen.
Aber ich war vorher arbeitslos, und bevor ich wieder arbeitslos werde, bleibe ich lieber in der Zeitarbeit. - Auch
das gehört zur Realität in Deutschland.
({4})
Von daher müssen wir alle Kräfte darauf konzentrieren, wieder mehr Wachstum zu haben. Dann werden wir
wieder mehr Beschäftigung und in der Folge auch mehr
gut bezahlte Beschäftigung bekommen. Das ist es, wofür
wir den Rahmen setzen.
({5})
Auch im Zusammenhang mit dem Thema Niedriglöhne sage ich Ihnen noch einmal: Die Bundesregierung hat nicht entschieden, dass es einen Niedriglohnsektor geben soll. Wir setzen die Rahmenbedingungen
für möglichst viel Arbeit.
({6})
Aber ich sage Ihnen noch etwas: Nach den gängigen statistischen Definitionen beginnt der Niedriglohnsektor
bei zwei Drittel unter dem Durchschnittslohn. Das sind
in Deutschland unter 9,62 Euro. Wenn jemand drei Jahre
arbeitslos war und er eine Beschäftigung für 9,60 Euro
findet, und sei es in der Zeitarbeit,
({7})
dann kann man durchaus sagen, statistisch haben wir einen Niedriglöhner mehr. Aber wir haben vor allem einen
Langzeitarbeitslosen weniger. Sie können schreien, solange Sie wollen: Für die Menschen, die dann wieder für
einen ordentlichen Lohn in Arbeit kommen, weit über
allen Mindestlohnforderungen, und für ihre Familien ist
das ein großer gesellschaftlicher Fortschritt, und an diesem gesellschaftlichen Fortschritt arbeiten wir weiter,
auch gegen Widerstände.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich
die Drogeriekette Schlecker in Bezug auf ihre ArbeitGabriele Hiller-Ohm
nehmerinnen und Arbeitnehmer geleistet hat, ist
schlichtweg eine Sauerei, und zwar XXL.
({0})
Hier hat ein Unternehmer mit sehr viel Raffinesse ein
unzureichendes Gesetz zulasten seiner Beschäftigten
schamlos ausgenutzt. Es ist gut, dass sich die Menschen
darüber öffentlich empören und sich mit solchen miesen
Machenschaften nicht länger abfinden.
({1})
An uns liegt es jetzt, die Weichen richtig zu stellen,
Missbrauch zu verhindern und die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu stärken. Ich hoffe
sehr, dass uns dies hier gemeinsam gelingen wird. Ich
halte es für gut, dass auch die CDU/CSU und an der
Spitze die neue Arbeitsministerin von der Leyen Handlungsbedarf sieht und Änderungen angekündigt hat.
Diese Einsicht von CDU/CSU hätte ich mir allerdings
schon während der gemeinsamen rot-schwarzen Regierungszeit gewünscht.
({2})
Vieles wäre uns und vor allem den betroffenen Menschen erspart geblieben. Herr Brauksiepe, prüfen alleine
wird hier nicht weiterhelfen. Taten müssen folgen.
({3})
Meine Damen und Herren, die Fraktionen der Linken
und der Grünen haben mit ihren Anträgen einen guten
Aufschlag gemacht. Wir werden im Februar ebenfalls
unsere Forderungen zur Arbeitnehmerüberlassung vorlegen. Es ist bedauerlich, dass es uns mit den bisherigen
Reformen nicht gelungen ist, die Leiharbeit endgültig
aus der Schmuddelecke herauszuholen. 2003 waren wir
gemeinsam mit den Grünen und mit den Gewerkschaften
auf einem guten Weg. Herr Ernst, wir haben die Reformen gemeinsam in engem Schulterschluss mit den Gewerkschaften durchgeführt. Darauf möchte ich ausdrücklich an dieser Stelle hinweisen.
({4})
Die rot-grüne Bundesregierung hat dafür gesorgt,
dass für die Leiharbeitsbranche endlich Regeln geschaffen wurden. Bis zum Beginn der weltweiten Wirtschaftsund Finanzmarktkrise hat die Leiharbeit in Deutschland
mit dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit zu senken.
Viele Leiharbeiter stehen aber heute in der Krise als
Erste wieder auf der Straße. Über 250 000 Leiharbeiter
wurden in sehr kurzer Zeit entlassen. Leider ist es den
Tarifparteien nicht gelungen, das hohe Arbeitsplatzrisiko
durch gute und faire Löhne auszugleichen oder überhaupt Lohngerechtigkeit in der Branche herzustellen.
Das ist ärgerlich; denn die rot-grüne Bundesregierung
hat 2003 ausdrücklich eine grundsätzliche Gleichstellung von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern
mit den Festangestellten in den Betrieben im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festgeschrieben.
({5})
Allerdings - das ist die große Schwachstelle - kann
durch eine anderslautende Tarifvereinbarung von diesem
guten Grundsatz abgewichen werden. Diese Ausnahmeregelung wird rigoros genutzt, um Lohndumping in der
Leiharbeitsbranche durchzudrücken - und das leider
nicht nur bei Schlecker. So betrug der durchschnittliche
Verdienst eines Leiharbeiters im zweiten Quartal 2009
1 775 Euro. Das durchschnittliche Arbeitnehmereinkommen lag dagegen bei 3 128 Euro.
({6})
Wir sprechen also über eine Lohndifferenz von rund
1 400 Euro. 2006 erhielten 20 Prozent der in regulären
Beschäftigungsverhältnissen Beschäftigten einen Niedriglohn. Bei den Leiharbeitern waren es schon damals
67 Prozent.
Wie konnte es dazu kommen? Durch Schaffung dubioser Gewerkschaften wie der Tarifgemeinschaft
Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen wurde die Arbeitnehmerseite systematisch geschwächt. Diese Scheingewerkschaften haben
arbeitgeberfreundliche Tariflöhne zulasten der Beschäftigten ausgehandelt. Es ist ein gutes Zeichen, dass das
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften jetzt die Tariffähigkeit abgesprochen hat.
({7})
Gut wäre es, wenn derartige Arbeitnehmernichtvertretungen grundsätzlich verschwinden würden.
Wir können hier im Bundestag unseren Beitrag dazu
leisten, und zwar durch einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.
({8})
Gerade in der Leiharbeit ließe sich so Lohndumping
wirksam bekämpfen. In ihrem Antrag bekennen sich die
Grünen zum Tarifvertrag, den der DGB abgeschlossen
hat: 7,31 Euro für den Westen und 6,36 Euro für den
Osten. Ich bin überrascht, dass die zentrale Forderung eines Mindestlohns in dem Antrag der Linksfraktion hingegen überhaupt nicht auftaucht.
({9})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen
einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens
7,50 Euro. Meine Damen und Herren von den Mindestlohnverweigererfraktionen CDU/CSU und FDP, die heutige Antragsberatung wäre völlig überflüssig, wenn Sie
sich unserer Position zum Mindestlohn angeschlossen
hätten.
({10})
Fakt ist: Sehr viele Zeitarbeiter können trotz einer
Vollzeitarbeit nicht von ihrem Lohn oder Gehalt leben
und sind auf aufstockende Sozialleistungen angewiesen.
Über 0,5 Milliarden Euro musste der Staat für zu niedrige Leiharbeiterlöhne zuschießen. Das ist für diese Beschäftigten zutiefst demütigend und auch volkswirtschaftlich der falsche Weg.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus dem
schönen Schleswig-Holstein.
({12})
Hier haben die SPD-Bundestagsabgeordneten schon im
Frühjahr 2008 gemeinsam mit der IG-Metall ein umfassendes Positionspapier zur Leiharbeit verabschiedet.
Leider fehlte uns bisher der richtige Partner, um die nötigen Gesetzeskorrekturen umzusetzen. Wichtige Forderungen sind: Stopp von Lohndumping durch einen gesetzlichen Mindestlohn; gleicher Lohn für gleiche
Arbeit, weg mit dem Tarifvorbehalt; gleiche Rechte für
Leiharbeiter und Stammpersonal, übrigens auch bei der
Weiterbildung; Synchronisationsverbot und Höchstquote
für Leiharbeiter in den Belegschaften; Begrenzung der
Verleihzeiten; Verbot von konzerninternen Verleihungen; Stärkung der Betriebsräte.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass der
öffentliche Druck jetzt auch die CDU/CSU zum Handeln
veranlassen wird und dass es uns im weiteren Beratungsverfahren gelingt, gemeinsam eine gute Lösung für die
Probleme der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in
Deutschland zu finden.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte gibt Anlass, über die aktuelle Situation
der Zeitarbeit in Deutschland einmal grundlegend
nachzudenken. Ich will zunächst einmal festhalten: Die
Reform der Leiharbeit mit dem Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist eine Erfolgsgeschichte, mit der deren Väter und Mütter, so auch
Mutter Hiller-Ohm heute, nichts mehr zu tun haben wollen. Das steht auf einem anderen Blatt. Das geht weiter
bei den Grünen. Die Überschrift ihres Antrags „Zeitarbeitsbranche regulieren - Missbrauch bekämpfen“ ist
ein Indiz dafür, dass auch sie die Rolle rückwärts üben
wollen. Weiter geht es auch bei den Linken. „Lohndumping verhindern - Leiharbeit strikt begrenzen“, so die
Überschrift ihres Antrages. Aber von Ihnen, Herr Ernst,
haben wir sowieso nichts anderes erwartet.
Man muss feststellen - ich habe von einer Erfolgsgeschichte gesprochen -: Die Zeitarbeit ist ein wichtiges
Instrument auf dem Arbeitsmarkt. Zeitarbeit schafft in
einem herausragenden Maße neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, und zwar mehr als jedes andere arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Instrument. Ich frage mich, Herr Ernst, wie man auf die Idee
kommt, diese erfolgreiche Maßnahme, dieses erfolgreiche Instrument strikt eingrenzen zu wollen.
Nach den Reformen von 2003 hat sich die Anzahl
der Zeitarbeitsplätze in den folgenden Jahren mehr als
verdoppelt - ich sehe das als Erfolg -: In der Spitze haben mehr als 800 000 Menschen eine Beschäftigung
über die Zeitarbeit gefunden. Besonders wichtig: 60 Prozent, zeitweise 70 Prozent der Zeitarbeiter waren zuvor
nicht regulär beschäftigt. Das zeigt die Stärke der Zeitarbeitsunternehmen quasi als Scout; sie sind bahnbrechend
für arbeitslose Berufsrückkehrer, Berufseinsteiger, Personen aus der stillen Arbeitsmarktreserve. Das alles steht
im elften AÜG-Bericht. Durch die Zeitarbeitsunternehmen wird eine Integrationsleistung erreicht, von der die
Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg nur träumen kann.
({0})
Herr Kollege Ernst, ja, es gibt in Einzelfällen den Versuch, das Instrument der Zeitarbeit zu missbrauchen.
Das beobachten wir sehr genau. Wir werden diesen
Missbrauch ohne Wenn und Aber erfolgreich bekämpfen.
({1})
Da sind wir uns mit unserem Koalitionspartner absolut
einig. Davon auszugehen, Zeitarbeit an sich sei Missbrauch, wie Sie und auch die Grünen es in ihrem Antrag
tun, halten wir aber für vollkommen verfehlt. Die große
Zahl der Zeitarbeitsverhältnisse läuft vollkommen korrekt und in geordneten Bahnen ab. Für jeden, der das
wissen will, ist das alles mit der Darstellung im elften
AÜG-Bericht sehr transparent. Frauen sind eben nicht
überproportional betroffen; vielmehr wird nur etwa ein
Viertel der Arbeitsplätze in der Zeitarbeit von Frauen besetzt. Ausländer werden eben nicht ausgebeutet; vielmehr sind nur gerade einmal 13 Prozent der Zeitarbeiter
Ausländer. Die Zeitarbeitsquoten liegen mit 2,5 Prozent
- zugegeben, das ist eine Verdoppelung gegenüber 2004;
aber das hat Rot-Grün mit seiner Reform damals wohl so
angestrebt - in einem Rahmen, der absolut akzeptabel
ist. Das kann man doch bei einer Gesamtabwägung wohl
kaum anders sagen. Deswegen rate ich uns, hier nicht in
Aktionismus auszubrechen.
({2})
Nun zum Fall Schlecker: Das Ministerium prüft hier
auf Anregung der Koalitionsfraktionen den Sachverhalt,
und es schaut auch, ob es noch andere Fälle von Missbrauch gibt und was man dagegen tun kann. Ohne dem
Ergebnis dieser Prüfung jetzt vorzugreifen, kann man
schon einmal - Herr Ernst, Sie wollen es ja immer genau
wissen - zwei Dinge festhalten:
Es gibt keine flächendeckende Flucht in die konzerninterne Zeitarbeit. Das lässt sich auch aus dem AÜG-Bericht herauslesen. Wenn es sie doch gäbe, so wäre es für
die Tarifpartner, die daran ja ein nachhaltiges Interesse
haben müssten, ein Leichtes, durch einen entsprechenden Zuschnitt des Anwendungsbereiches des Tarifvertrages Konzernbereiche von Zeitarbeit auszuschließen und
damit die Abweichung vom Grundsatz des Equal Pay
bzw. des Equal Treatment unmöglich zu machen. Wenn
es die Tarifpartner nicht hinbekommen, kann der Gesetzgeber das gegebenenfalls tun. Damit wäre das Problem
der konzerninternen Leiharbeit gelöst.
Ich sage auch sehr deutlich - das ist ein zweiter Fall
von Missbrauch, den ich zu erkennen glaube -: Da, wo
über die Nachwirkung ausgelaufener Tarifverträge
ein Problem entsteht, insbesondere von Haustarifverträgen, lässt sich durch eine gesetzliche Klarstellung leicht
Missbrauch abstellen.
Wie gesagt, wir werden sehen, was die Analyse des
Ministeriums am Ende ergibt, und werden unsere Politik
daran entsprechend ausrichten.
({3})
Ich möchte noch auf einen dritten Punkt eingehen,
aber zuvor möchte der Kollege eine Zwischenfrage stellen, Herr Präsident.
Also, Herr Kolb hat Ihnen quasi schon das Wort erteilt. - Bitte schön.
Danke für die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage,
Herr Dr. Kolb.
({0})
- Mache ich gerne. Sie wissen ja, ich höre Ihnen gerne
zu.
Sie sagen, überwiegend laufe im Bereich der Zeitarbeit alles korrekt. Jetzt wissen wir aber aus der Praxis,
dass die Löhne tatsächlich unterschiedlich sind, obwohl
Leute die gleiche Tätigkeit machen. Auch bei Facharbeitern ist es nicht so, dass sie automatisch alle das Gleiche
verdienen. Wenn einer neu im Betrieb ist, bringt er in der
Regel noch nicht die volle Leistung und verdient sowieso weniger. Das wäre aber richtig, weil er nicht - wie
ein Leiharbeiter - die gleiche Leistung erbringt. Nun
meine konkrete Frage: Halten Sie es wirklich für korrekt
und für motivierend für die Belegschaften, wenn akzeptiert wird, dass für gleiche Arbeit unterschiedliche
Löhne gezahlt werden?
Dann haben Sie auf die Tarifverträge hingewiesen.
Ich weiß, Sie kennen die Realität; Sie selbst haben ja ein
Unternehmen. In der Realität ist es aber doch so, dass
das Zustandekommen von Tarifverträgen davon abhängt,
ob eine Organisationsmacht vorhanden ist und sich die
Arbeitnehmer überhaupt gewerkschaftlich organisieren
können. Sie wissen doch ganz genau, dass das in einer
Leiharbeitsfirma nicht klappt. Das klappt bei den christlichen Gewerkschaften nicht, und auch bei den DGBGewerkschaften - das gebe ich selbstkritisch zu - ist die
Verhandlungsmacht nicht sehr groß. Deshalb meine
zweite Frage: Wie wollen Sie das ausgleichen, wenn es
tarifautonomisch überhaupt nicht funktioniert?
({1})
Danke schön. - Ich habe mich natürlich wie Sie auch,
Herr Kollege Ernst, gefragt, was Rot-Grün damals bei
dem Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt überhaupt bewogen hat, zum einen von Equal
Treatment zu sprechen, zugleich aber zu erlauben, dass
von tarifvertraglichen Vereinbarungen abgewichen werden kann.
({0})
Ich glaube, dass ich die Intention der Kollegen von RotGrün richtig interpretiere, wenn ich es so darstelle, dass
es insbesondere bei kurzfristiger Zeitarbeit und bei häufig wechselnden Einsätzen für das Entleihunternehmen
schwer und mit sehr viel Bürokratie verbunden ist, nachzuhalten, welche Tarifbedingungen am jeweiligen Einsatzort tatsächlich zu beachten sind.
({1})
- Nein, das ist keine Verrenkung. Ich interpretiere das so
und meine mich zu erinnern, dass das damals in der Debatte hier in diesem Hause sogar so vorgetragen worden
ist, Herr Kollege Ernst.
Wenn das so ist - ich glaube, man muss das so sehen -,
dann gibt es auch gute Gründe, bei kurzfristigen Einsätzen so vorzugehen.
Ergänzend zu dem, was der Staatssekretär vorhin gesagt hat, möchte ich auch noch auf Folgendes hinweisen:
Neben diesem kurzfristigen Geschäft - häufig wechselnde Einsatzorte - gibt es auch ein langfristig angelegtes Projektgeschäft der Zeitarbeitsunternehmen. Man
kann und muss auch feststellen dürfen, dass bei diesen
Projektgeschäften in der Regel auch sehr ordentlich bezahlt wird. Da werden nämlich hochqualifizierte Arbeitnehmer, Ingenieure und andere Spezialisten im Bereich
der Technik, an entsprechende Einsatzorte vermittelt.
Hier gibt es das von Ihnen angesprochene Problem
schon einmal nicht.
Mit anderen Worten: Bei einer Gesamtabwägung der
Umstände halte ich es für verantwortbar, so zu handeln,
wie es die Kollegen von Rot-Grün damals getan haben,
nämlich zu sagen, es dürfe eine Abweichung vom
Grundsatz des Equal Treatment auf der Basis eines Tarifvertrages geben.
Ihre zweite Frage war die nach der Tarifmächtigkeit.
Wir haben das auch im Ausschuss schon diskutiert. Ich
rate dringend dazu, die entsprechende Entscheidung abzuwarten. Zwei Entscheidungen befinden sich zwar
schon auf dem Rechtsweg, aber eine letztinstanzliche
Entscheidung steht noch aus. Man kann sie erahnen;
aber in einem Rechtsstaat gehört es sich, abzuwarten, bis
das Verfahren beendet ist, um dann zu beurteilen, ob
zum Beispiel Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen haben, die sie nicht hätten abschließen dürfen. Aber
eine Verhandlungsmacht ergibt sich aus dem erstgenannten Aspekt für die Gewerkschaften sehr wohl. Die Arbeitgeber haben ein großes Interesse daran, Tarifverträge
abzuschließen, weil sie ansonsten das Equal Treatment
praktizieren müssten. Das ist auch der Grund, warum es
in der Vergangenheit - der BZA hat erst vorgestern einen
neuen Tarifvertrag abgeschlossen - immer wieder gelungen ist, Tarifverträge abzuschließen, von denen man
nicht gehört hat, dass diese von ihrem Regelungsinhalt
her Gegenstand besonderer Kritik gewesen wären.
({2})
Damit habe ich die Frage beantwortet. Sie dürfen sich
bis zur nächsten Frage gerne setzen, Herr Kollege Ernst.
({3})
Ich will eine dritte Anmerkung machen, was die
Frage eines Mindestlohns in der Zeitarbeit anbelangt.
Zunächst einmal möchte ich - zu der Frage möglicher
Konsequenzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit komme
ich später - sagen, dass es aus meiner Sicht keinen
Grund gibt, aktuell einen Mindestlohn in der Zeitarbeit
einzuführen, weil - ich habe es eben gesagt - nur durch
Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden kann. Das hat dazu geführt, dass wir eine
nahezu 100-prozentige Tarifbindung haben. Selbst in
dem Fall, dass die CGZP für nicht tariffähig erklärt
würde, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir innerhalb
kürzester Zeit wieder eine 100-prozentige Tarifbindung
hätten,
({4})
und zwar aus den Gründen, die ich schon dargestellt habe:
weil die Arbeitgeber dann sofort in einen anderen Verband eintreten oder versuchen würden, mit den Gewerkschaften einen Haustarifvertrag zu schließen. Welchen
Sinn also soll ein Mindestlohn vor diesem Hintergrund einer 100-prozentigen Tarifbindung aktuell überhaupt haben? Das war ja auch die Frage, die sich die Große Koalition wohl gestellt hat, Frau Hiller-Ohm, und wegen der
sie sich bewusst entschieden hat, die Zeitarbeit im Gegensatz zu anderen Branchen nicht in das Mindestarbeitsbedingungengesetz aufzunehmen.
Bleibt als vierter und letzter Punkt die Frage: Führt die
Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa notwendig zu einem Mindestlohn bei der Zeitarbeit? Auch darüber sollten wir sine ira et studio, ohne Zorn und Eifer, in aller
Ruhe nachdenken. Zunächst einmal glaube ich, dass die
Vorstellung, Deutschland würde mit Herstellung der Freizügigkeit von ausländischen Zeitarbeitern überrannt,
überzogen ist; denn auch nach der Herstellung der Freizügigkeit brauchen die Verleiher eine Zulassung in
Deutschland, wenn sie tätig werden wollen. Zum anderen
stellt sich die Frage, wie viele Menschen zu welchen Löhnen tatsächlich in Deutschland als Zeitarbeiter tätig werden wollen. Zurzeit gibt es neun polnische Leiharbeitsunternehmen in Deutschland. Wir wissen aus dem
Saisonarbeitergeschäft, dass die Polen längst an Deutschland vorbei Richtung England ziehen und dort zu attraktiveren Bedingungen tätig werden.
({5})
Man kann insgesamt sagen, dass der Einfluss ausländischer Entleiher auf das Gesamtgeschehen der Zeitarbeit in Deutschland bisher jedenfalls vernachlässigbar
ist. Auch wenn sich das künftig in einem bestimmten
Maße ändern sollte, bleibt doch die Frage, ob es zu echten Marktverwerfungen kommen wird. Ich glaube, es
gibt - in dem Rahmen, den die bürgerlich-liberale Koalition für die Zeitarbeit mit dem Koalitionsvertrag geschaffen hat, und auch mit der ergänzenden Verabredung
zwischen den Fraktionsvorsitzenden - gute Möglichkeiten, auf eventuelle Verwerfungen im Markt der Zeitarbeit zu reagieren.
In diesem Zusammenhang will ich abschließend darauf hinweisen - das ist der letzte Satz, Herr Präsident -,
dass in den Branchen, die bereits heute in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz einbezogen sind, auch nach der
Herstellung der Freizügigkeit bei Entsendung in diese
Branchen nach § 8 Arbeitnehmer-Entsendegesetz der jeweils für diese Branche allgemeinverbindlich erklärte
Mindestlohn ohnehin zu zahlen ist. Wenn also ein polnischer Leiharbeiter in das Bewachungsgewerbe entsendet
und dort eingesetzt würde, wäre schon nach heute geltendem Recht für diesen Leiharbeiter der für das Bewachungsgewerbe allgemeinverbindlich erklärte Mindestlohn anzuwenden.
Ob sich das in den anderen Bereichen, wo wir bisher
die Notwendigkeit des Mindestlohns nicht gesehen haben, anders darstellen wird, sollten wir zu gegebener
Zeit prüfen. Das wollen wir im Gespräch mit unserem
Koalitionspartner, lieber Karl Schiewerling, gerne tun.
Jedenfalls besteht heute nach unserer Auffassung
Herr Kollege, Sie haben schon weit überzogen.
- danke, Herr Präsident - kein Anlass für ein vorschnelles, überzogenes Handeln nach dem Muster der
Anträge von Grünen und Linken.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Beate Müller-Gemmeke
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anfang 2009 bekam ich einen Prospekt von einer Zeitarbeitsfirma in die Hand gedrückt.
Die Überschrift lautete: „Alle müssen raus!“ Hoppla,
dachte ich, wieso macht eine Zeitarbeitsfirma SchlussBeate Müller-Gemmeke
verkauf? Dabei ging es aber nicht um Kühlschränke oder
Waschmaschinen, sondern um Menschen, die zu Dumpinglöhnen vermittelt werden sollten. Im Text stand:
Kalkulieren Sie mit spitzem Bleistift, dank unserer
Wirtschaftskrisen-Rabatt-Aktion … Exklusiv für
Sie - Sichern Sie sich 15 Prozent Rabatt auf alle
Hilfs- und Fachkräfte.
So etwas nenne ich menschenverachtend.
({0})
Natürlich ist dies ein Einzelfall, und nicht alle Unternehmen missbrauchen die Zeitarbeit und betreiben modernen Menschenhandel. Dies möchte ich hier explizit
sagen, um die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen gleich am Anfang zu besänftigen.
Aber ebenso schockierend ist der Fall Schlecker.
Dort findet derzeit eine beispiellose Umstrukturierung
statt. Mit dem Instrument Zeitarbeit sollen die Personalkosten deutlich gesenkt werden. Das Skandalöse daran
ist, dass Schlecker bestehende Gesetzeslücken ausnutzt.
Bisherige Schlecker-Filialen werden geschlossen. Den
Beschäftigten wird gekündigt, und anschließend werden
sie über eine eigens gegründete Zeitarbeitsfirma wieder
eingestellt, und zwar zu deutlich geringeren Löhnen und
Urlaubsansprüchen sowie ohne Anspruch auf Urlaubsund Weihnachtsgeld. So werden Tariflöhne unterlaufen.
Der Kündigungsschutz wird umgangen und den Beschäftigten der Bestandsschutz genommen. Hier sind
Korrekturen überfällig.
({1})
Schlimm ist, dass Schleckers Vorgehen legal ist.
Schlecker ist kein Einzelfall. Laut der Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation ist dies gängige Praxis in
7 Prozent der Unternehmen mit betrieblicher Interessenvertretung. Deswegen muss die Politik sofort aktiv werden und diesem Missbrauch einen Riegel vorschieben.
Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass
die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung gesetzlich verhindert wird.
({2})
Das reicht aber nicht. Die Zeitarbeit wurde in den
letzten Jahren vor allem auch zum Abbau von Stammpersonal missbraucht. Eine von Arbeitsminister
Laumann in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass ein
Viertel der Unternehmen die Zeitarbeit zur Substitution
von Stammbelegschaften nutzt. Nicht nur das: Viele Unternehmen benutzen die Zeitarbeit auch als strategisches
Instrument, um Stammbelegschaften unter Druck zu setzen. Ihnen werden Zeitarbeitskräfte zur Seite gestellt, die
zu deutlich geringeren Konditionen arbeiten müssen.
Die Festangestellten haben damit natürlich permanent
das Gefühl, dass sie ihre relativ sicheren Jobs gegen die
Zeitarbeitskräfte verteidigen müssen. Diese hingegen
wollen natürlich ein Jobangebot haben.
Ein Beispiel aus einem Zweischichtbetrieb: Eine
Schicht bestand nur aus Zeitarbeitskräften, die andere
Schicht aus Stammpersonal. Zuerst haben die Zeitarbeitskräfte 10 Prozent über Soll gearbeitet. Dann zog die
Stammbelegschaft nach. Das ging so lange, bis der Betrieb bei 170 Prozent der früheren Leistung angekommen war. Ich hoffe nicht, dass die FDP jetzt denkt, das
ist ja super für das Unternehmen. Denn solch ein System
bewirkt, dass die Menschen mit der Zeit völlig ausgebrannt sind. Die Zahl der Arbeitsunfälle und psychischen Erkrankungen nimmt massiv zu. Das kann für Unternehmen nicht gut sein. Echtes Engagement entsteht
nicht in einem Klima der Angst.
({3})
Von den Linken werden wir immer wieder lautstark,
Herr Ernst, daran erinnert, dass wir Grüne der damaligen
Reform zugestimmt haben. Sie haben recht. Allerdings
war unsere Intention eine völlig andere.
({4})
Wir wollten faire Bedingungen und mit dem Instrument
der Zeitarbeit Erwerbslose in Beschäftigung bringen.
Das hat aber nicht funktioniert. Keiner konnte wissen,
dass der Tarifvorbehalt die sogenannten christlichen Gewerkschaften mit ihren Gefälligkeitstarifverträgen auf
den Plan ruft. Es war auch nicht absehbar, dass so viele
Unternehmen im Rahmen der Zeitarbeit das eigene Personal in die Wüste schicken.
Wir sehen die Fehlentwicklung. Für mich ist es entscheidend, dass wir den Mut und die Ehrlichkeit besitzen, dies einzugestehen. Deswegen haben wir schon im
Jahr 2009 einen Antrag gestellt, um den Missbrauch der
Zeitarbeit zu verhindern, und zwar lange, bevor die Diskussion um Schlecker losging.
({5})
Wir haben erkannt, dass in der Zeitarbeit ein enormer
Regelungsbedarf besteht. Von der CDU/CSU und der
FDP habe ich bisher wenig zu diesem Thema gehört. Im
Gegenteil, das Ministerium von Frau von der Leyen hält
immer noch daran fest, dass sich die Zeitarbeit erfolgreich entwickelt hat und als arbeitsmarktpolitisches Instrument unverzichtbar ist. Dies wurde heute ja nochmals gesagt.
Die Bundesregierung hat aber mit dem 11. Bericht
über die Erfahrungen und Anwendungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes das Gegenteil belegt. Die
Wahrscheinlichkeit, nach einem Einsatz in der Zeitarbeit
vom Entleihbetrieb übernommen zu werden, ist gering;
sie liegt gerade bei 7 Prozent. Von daher kann überhaupt
nicht von einem funktionierenden Klebeeffekt gesprochen werden. Auch die Laumann-Studie, die Ihnen bekannt sein müsste, bestätigt: Wer vor dem Einsatz in der
Zeitarbeit arbeitslos war, ist es hinterher mit hoher
Wahrscheinlichkeit wieder. Deswegen sage ich der Ministerin, auch wenn sie heute nicht anwesend ist: Der
Klebeeffekt ist ein Mythos. Bitte nehmen Sie dies endlich zur Kenntnis.
({6})
Die Zeitarbeit ist also kein arbeitsmarktpolitischer Segen. Im Gegenteil, sie führt dazu, dass der Aufbau regulärer Beschäftigungsverhältnisse ins Stocken gerät. Dies
hat der letzte Aufschwung gezeigt.
({7})
Sie ist aber der Preis für die Flexibilität, die für die Unternehmen geschaffen wird. Ich denke, alle politischen
Parteien, sogar die Gewerkschaften, sind bereit, diesen
Preis für eine ökonomische Flexibilität zu zahlen. Jedenfalls habe ich weder von der Fraktion Die Linke noch
von den Gewerkschaften die Forderung gehört, dass die
Zeitarbeit gänzlich abgeschafft werden soll.
Was wir in unserem Antrag fordern, ist eine sinnvolle
Regulierung, damit die Zeitarbeit nicht zum Beispiel für
niedrige Löhne missbraucht wird; die Zeitarbeitsbeschäftigten müssen Lohneinbußen zwischen 35 und 45 Prozent
hinnehmen. Dazu müssen sie nur einmal in die LaumannStudie hineinschauen. Deshalb fordern wir, dass der
Tarifvorbehalt gestrichen wird. Der Gleichbehandlungsgrundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ muss ohne
Wenn und Aber gelten.
({8})
Als Ausgleich für die hohen Flexibilitätsanforderungen fordern wir die Einführung einer Prämie in Höhe
von 10 Prozent des Bruttolohns.
({9})
- Seit neuestem möchte Die Linke dies auch.
Diese Prämie gibt es bereits in Frankreich. Dort hat
sie sich nicht als Hinderungsgrund für den Einsatz von
Zeitarbeit erwiesen. Die Prämie passt auch gut zum Slogan der FDP, dass sich Leistung wieder lohnen müsse.
Der Unterschied zu den Konzepten der FDP ist nur, dass
die Prämie die Steuerzahler kein Geld kostet. Im Gegenteil, sie führt sogar zu höheren Einnahmen in der Sozialversicherung.
Wichtig ist uns auch die Wiedereinführung des Synchronisationsverbots. Es soll dazu führen, dass die
Zeitarbeitskräfte länger bei den Verleihern beschäftigt
werden und vor allem in verleihfreien Zeiten eine Qualifizierung erhalten können. In diesem Punkt geht unser
Antrag weit über die Forderungen der Fraktion Die
Linke hinaus.
An dieser Stelle fordern wir auch einen angemessenen
branchenspezifischen Mindestlohn, der in verleihfreien
Zeiten gilt. Nur so kann dafür gesorgt werden, dass Zeitarbeitskräfte auch in verleihfreien Zeiten von ihrem
Lohn leben können.
Ich komme zum Schluss. Wir wollen, dass die Zeitarbeit wieder zu einem verträglichen Instrument für die
Wirtschaft und die Beschäftigten wird, wir wollen, dass
die Menschen angemessen bezahlt und würdig behandelt
werden, und wir wollen, dass mit dem nächsten Konjunkturaufschwung nicht mehr die Zeitarbeit, sondern reguläre
Beschäftigungsverhältnisse die höchsten Wachstumszahlen aufweisen. Die Substitution von Stammbelegschaften muss endlich ein Ende haben. Zeitarbeit muss wieder
zu dem werden, was sie ursprünglich war: ein Instrument zum Abfedern von Auftragsspitzen, nicht mehr
und nicht weniger.
Wir fordern die Regierungsfraktionen auf, die Zeitarbeit so schnell wie möglich zu regulieren. Gerade in der
Krise hat sich gezeigt, dass aus dem sogenannten Klebeeffekt ein Schleudersitz in die Arbeitslosigkeit wurde.
({10})
Nach der Krise wird die Zeitarbeit einen neuen Aufschwung erleben - anstelle von regulären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.
({11})
Ich frage Sie von den Regierungsfraktionen: Wollen Sie
das wirklich? Wenn nein, dann müssen Sie handeln.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollegin Gitta Connemann für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fall
Schlecker ist Anlass der heutigen Debatte: Völlig zu
Recht! Denn das Gebaren dieses Konzerns empört wohl
jeden in diesem Haus.
({0})
Schlecker kündigte Mitarbeitern - ich habe übrigens
meine Zweifel, Herr Kollege Ernst, ob diese Kündigungen legal waren; die Überprüfung wird es zeigen -, aber
sie sind eben nicht angegriffen worden. Vielmehr kehrten die Mitarbeiter in das Unternehmen zurück, eingestellt als Zeitarbeitnehmer von einem früheren Schlecker-Manager. Sie machen dieselbe Arbeit zu einem
schlechteren Lohn. Dazu gibt es aus meiner Sicht nur eines zu sagen: Das ist unanständig.
({1})
Tausende Schlecker-Mitarbeiter sind Opfer kalten
Gewinnstrebens. Das ist ein Skandal. Leider hat Schlecker prominente Genossen, zum Beispiel die AWO
Westliches Westfalen. Sie gründete eine eigene Zeitarbeitstochter, um Küchenkräfte zu verschieben.
Die Frankfurter Rundschau ist ein weiteres Beispiel.
Die Beilagen werden nach Informationen des Deutschen
Journalisten-Verbandes von der Tochterfirma Pressedienst GmbH geliefert. Redakteure dieser Firma sind
ehemalige Pauschalisten der Frankfurter Rundschau.
Meine Damen und Herren von der SPD, das ist Ihr Verlag; denn Sie sind immerhin mit 40 Prozent beteiligt.
({2})
Frau Hiller-Ohm, Sie sagen, Sie wollten etwas tun. Dann
fangen Sie bei Ihren eigenen Betrieben an.
({3})
Zum Beispiel Verdi. Wenn es nach dem Willen dieser
Gewerkschaft geht, werden die Beschäftigten ihrer Bildungsstätten laut einem Artikel im Spiegel schon bald in
eine neue Gesellschaft ausgelagert und zu schlechteren
Konditionen weiterbeschäftigt. Auch das ist ein Skandal.
({4})
Schlecker und seine Genossen spielen ein perfides
Bäumchen-wechsel-dich-Spiel. Das ist eines gewiss
nicht: klassische Zeitarbeit. Denn das typische Dreiecksverhältnis von Arbeitnehmer, Entleiher und Verleiher besteht nur auf dem Papier. Das ist eine reine Umgehung
der Vorschriften. Das ist für mich Scheinzeitarbeit statt
Zeitarbeit.
({5})
Die Fakten belegen: Scheinzeitarbeit ist zum Glück
die Ausnahme. Der aktuelle Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - übrigens noch unter der
Regentschaft von Olaf Scholz vorbereitet - zeigt: Nur
2 Prozent der Betriebe, die Zeitarbeit nutzen, haben Beschäftigung abgebaut und gleichzeitig Zeitarbeit aufgebaut. Die Methode Schlecker ist die absolute Ausnahme.
({6})
Der Fall Schlecker darf nicht dazu missbraucht werden, die gesamte Zeitarbeitsbranche in Misskredit zu
bringen.
({7})
Dies tun die vorliegenden Anträge. Die Linken und
Bündnis 90/Die Grünen benutzen den Fall Schlecker und
fordern einmal mehr die Regulierung der Zeitarbeit.
Doch das ist der falsche Weg.
({8})
Denn in Wirklichkeit war die Zeitarbeit im Aufschwung
ein Turbo für den Arbeitsmarkt. Die Unternehmen haben
neue Flexibilität genutzt, die Einstellungsbereitschaft ist
gestiegen. Die Zeitarbeit war gerade für die Schwächsten eine Brücke in die Beschäftigung.
({9})
Um die Fakten zu nennen: 52 Prozent der Zeitarbeiter
waren zuvor arbeitslos. 9 Prozent waren ohne Berufserfahrung. Unter normalen Verhältnissen hätten sie keine
Chance auf dem Arbeitsmarkt gehabt. Viele von ihnen
haben erst über die Zeitarbeit den Sprung in die Festanstellung geschafft.
({10})
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, es gibt den Klebeeffekt.
({11})
Er ist kein Mythos. Schauen Sie sich bitte die Zahlen des
IAB an, das die entsprechenden Statistiken führt. 15 Prozent der Zeitarbeiter schaffen den Sprung in die Festanstellung bei den Entleihunternehmen. Wenn Sie die Zeitarbeit zu Tode regulieren wollen, dann nehmen Sie diesen
Menschen die Chance auf einen Einstieg in den Arbeitsmarkt. Das ist mit uns nicht zu machen.
({12})
Ich sage aber auch: Die Branche muss jetzt die Gelegenheit nutzen, ihre schwarzen Schafe auszusortieren.
Der Missbrauch der Zeitarbeit kann durch einen Tarifvertrag gestoppt werden. Wir begrüßen deshalb die Erklärung von DGB und BZA, die die Methode Schlecker
verurteilen. Diese Erklärung reicht aber nicht. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften müssen sich tarifvertraglich darauf verständigen, dass in Fällen wie Schlecker und bei anderen potemkinschen Zeitarbeitsfirmen
der Zeitarbeitstarifvertrag nicht zur Anwendung kommt,
sondern die Konditionen des Mutterkonzerns gelten.
Die Methode Schlecker wäre auf einen Schlag reizlos.
Nur wenn die Tarifvertragsparteien eine solche Regelung nicht zustande bringen, sind wir als Gesetzgeber
gefordert; denn wir sehen uns der Tarifautonomie verpflichtet.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin von der Linksfraktion?
Ja, natürlich.
Bitte schön.
Erst einmal vielen Dank, Frau Connemann. Wenn ich
das Stichwort „Flexibilität“ höre, gehen bei mir immer
alle Warnlichter an. Ich erlebe immer wieder, dass im
Grunde jede Belegschaft in jedem Betrieb absolut flexibel ist. Es gibt Arbeitszeitkonten, es gibt Kurzarbeit und
alles mögliche andere. Für was brauchen Betriebe noch
Leiharbeit? Im Grunde langt es doch, wenn man die Befristungen anwendet. Es gibt die Möglichkeit, Menschen befristet in Betrieben einzustellen. Es ist nicht notwendig, dass Betriebe von außen Leiharbeitnehmer
einstellen. Im Grunde geht es doch nur darum - das
bleibt am Ende nur übrig -, die Löhne und die Entgelte
zu reduzieren, indem man billigere Kräfte einstellt, indem man ihnen nicht das gleiche Lohnniveau bietet nach
dem Motto: Gleiches Geld für gleiche Arbeit.
({0})
Frau Kollegin, Sie reihen hier ein Klischee an das andere. Aber das macht es nicht richtiger.
({0})
Zum einen ist der Einsatz von Leiharbeitern für ein
Entleihunternehmen nicht günstiger als der Einsatz von
Festbeschäftigten; denn ein Entleihunternehmen muss zu
dem entsprechenden Lohn für den Beschäftigten immer
noch eine entsprechende Pauschale an das Zeitarbeitsunternehmen zahlen. Das ist Punkt eins.
({1})
Punkt zwei: Die von Ihnen angesprochene Flexibilität
betrifft nur die Flexibilität in dem Arbeitsverhältnis. Da
ist über Zeitarbeitskonten usw. tatsächlich viel geschehen. Darum geht es aber nicht. Wir brauchen ein Mittel,
damit Betriebe zum Beispiel auf Arbeitsspitzen ebenso
flexibel reagieren können wie zum Beispiel auf den
Wegfall von Aufträgen.
({2})
Dazu ist die Befristung kein gutes Instrument;
({3})
denn die Befristung - so, wie die befristeten Arbeitsverträge in der Regel ausgestaltet sind - sieht vor, dass eine
Kündigung vor dem Ende der Befristung nicht möglich
ist. Das heißt, man ist an die Befristungsdauer gebunden.
Das geschieht aus gutem Grund, übrigens auch zum
Schutz des Beschäftigten, verhindert aber den flexiblen
Einsatz.
({4})
Das Dritte ist: Eine Befristung ist möglich. Eine befristete Weiterbeschäftigung sieht das derzeitige Arbeitsrecht allerdings nicht vor.
({5})
Deshalb wollen wir als christlich-liberale Koalition das
Ersteinstellungsgebot aufheben. Das ist gut für den Arbeitsmarkt. Das ist ein weiterer Punkt auf unserer
Agenda.
({6})
Ebenso steht eine Regelung zur Verhinderung des
Missbrauchs auf unserer Agenda. Das hat übrigens nicht
nur die Bundesregierung angekündigt. Ich sage an dieser
Stelle sehr deutlich: Die christlich-liberale Koalition hat
durch ihre Sprecher sofort reagiert. Ich sehe Karl
Schiewerling und Dr. Heinrich Kolb. Sie haben sehr
deutlich für uns alle gesagt: Wir werden den Missbrauch
stoppen. Dazu stehen wir als Koalition,
({7})
aber nicht so, wie die Linken oder Bündnis 90/Die Grünen sich das wünschen. Meine Damen und Herren von
der Opposition, die Erfüllung Ihrer Forderungen würde
das Ende der Zeitarbeit in Deutschland bedeuten.
Sie fordern eine Flexibilitätsprämie wie in Frankreich. Haben Sie sich die dortigen Verhältnisse einmal
angesehen? Französische Zeitarbeitsunternehmen sind
eben keine Arbeitgeber, sondern reine Vermittlungsagenturen. Ein Arbeitnehmer ist dort nur für die Dauer
des Einsatzes beim Kunden beschäftigt, im Übrigen sehr
kurzzeitig, im Schnitt 9,5 Tage. Danach ist er arbeitslos
und muss sich selbst wieder um einen neuen Einsatz bemühen. Diese Flexibilitätsprämie in Frankreich ist also
eine reine Kompensation für das Fehlen eines Dauerarbeitsverhältnisses. Das wünschen Sie sich für Deutschland? Da sage ich im Namen unserer Fraktion sehr klar:
niemals.
({8})
In Deutschland sind Leiharbeitnehmer bei den Zeitarbeitsunternehmen sozialversicherungspflichtig angestellt. Sie werden auch in verleihfreien Zeiten bezahlt.
Sie haben alle Arbeitnehmerrechte wie zum Beispiel
Ansprüche auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf
bezahlten Urlaub, Kündigungsschutz etc.
({9})
Nur der Arbeitsort wechselt häufiger. Bei uns herrschen
keine französischen Verhältnisse, und das ist gut so.
({10})
Denn wir brauchen die Zeitarbeit als vollwertigen Arbeitgeber und als unverzichtbaren Beschäftigungsmotor,
auch in der Krise.
({11})
Betriebe können kurzfristig auf die gesunkene Auftragslage reagieren und bei einer Konjunkturerholung die
Produktion schnell anpassen. Damit stärkt die Zeitarbeit
auch in der Krise die Wettbewerbsfähigkeit. So werden
übrigens auch Stammarbeitsplätze im Einsatzbetrieb
gesichert.
({12})
Meine Damen und Herren von der Linken und den Grünen, ich weiß, das wollen Sie nicht hören. Denn Sie begründen Ihre Anträge mit der gegenteiligen Behauptung,
Stammbeschäftigte würden durch Leiharbeit verdrängt.
Das ist ein gängiges Argument. Doch Sie bleiben den
Nachweis schuldig.
({13})
Sie können diesen Nachweis auch nicht führen; denn
die Statistik zeigt vollkommen andere Zahlen.
({14})
Demnach liegt die Zeitarbeitsquote in Deutschland bei
- ich betone das - nur 2,6 Prozent.
({15})
Bei diesen 2,6 Prozent ist die Verweildauer nur kurz. Sie
liegt unter drei Monaten.
({16})
Nur jeder zehnte Leiharbeitnehmer hat eine Verweildauer von einem Jahr oder mehr, so zeigt es der aktuelle
Bericht der Bundesregierung
({17})
und bestätigt damit übrigens auch die Feststellung des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der
Bundesagentur für Arbeit. Ich zitiere:
Für die häufig formulierte Begründung, dass Entleiher systematisch reguläre Arbeitskräfte durch Leiharbeiter ersetzen, liefern die Auswertungen keine
empirische Evidenz. … Langfristige Einsätze - und
nur sie sind geeignet, reguläres Personal zu ersetzen - gibt es nur selten.
({18})
Ihnen fehlen die Argumente für Ihre Anträge. Sie
wollen eine Branche regulieren, die übrigens mittelständisch geprägt ist. Dem bürokratischen Aufwand, der übrigens mit der Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes verbunden wäre, die Sie einfordern, sind
diese mittelständischen Unternehmen nicht gewachsen.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Für jeden Mitarbeiter müsste vor jedem Einsatz im
Einzelnen geklärt werden, welche Bedingungen gelten.
Das hätte eine Marktbereinigung zulasten des Arbeitsmarktes, zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zugunsten von Arbeitslosigkeit zur Folge.
Deswegen werden wir Ihre Anträge ablehnen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Ottmar Schreiner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist schon ziemlich heftig, was von der christlich-liberalen - ich dachte immer, es sei eine christdemokratisch-liberale - Koalition gesagt wird. Ich fühle mich als Christ
ausgegrenzt, wenn Sie hier von einer christlich-liberalen
Koalition reden. Frau Connemann, das geht ein bisschen
weit.
({0})
Wie dem auch sei, zunächst einmal möchte ich ein
paar Bemerkungen zu dem machen, was der Vertreter
der Bundesregierung, Herr Brauksiepe, hier gesagt hat.
Sie haben zum einen gesagt, Sie seien im Prüfvorgang,
Sie würden prüfen, ob es bei Schlecker mit rechten Dingen zugeht oder ob Rechtsverstöße zu beobachten sind.
Diese Prüfung haben die zuständigen Fachleute bei der
Bundesagentur für Arbeit längst abgeschlossen.
({1})
Ich zitiere hier aus dem Handelsblatt vom 11. Januar
2010. Dort heißt es folgendermaßen:
Schlecker hat offenbar Stammbelegschaft entlassen, um sie dann in einer eigens gegründeten Zeitarbeitsfirma zu niedrigeren Löhnen wieder einzustellen.
Was ist denn das anderes, Frau Connemann, als der
Austausch von relativ ordentlich bezahlten Stammbelegschaften durch Billigstlöhner?
({2})
Das ist doch exakt das, was wir Ihnen hier vorhalten,
worüber zu diskutieren ist.
({3})
Weiter heißt es im Handelsblatt vom 11. Januar von
der Sprecherin der Nürnberger Behörde:
Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verbietet so
etwas nicht. Hier sind politische Entscheidungen
nötig.
Das ist exakt die Position der Bundesagentur für Arbeit.
({4})
Die Bundesregierung kann sich auch zu Tode prüfen, bis
das Ergebnis so ist, wie sie es haben will.
({5})
- Ich sage auch etwas zur Frankfurter Rundschau und,
wenn Sie wollen, auch zu den anderen Vorgängen. Wer
auch immer diese Form von Lohndumping betreibt, ist
zu kritisieren - ob das die Frankfurter Rundschau ist, ob
das Schlecker ist oder wer auch immer das sein mag.
({6})
Herr Brauksiepe, Sie haben zum Zweiten das Beispiel
gebracht, ein Langzeitarbeitsloser, der drei Jahre arbeitslos gewesen ist, freue sich, wenn ihm ein Bruttostundenlohn von 9,60 Euro gezahlt wird. 9,60 Euro ist der
Grenzwert in Richtung Niedriglohnsektor. Das ist ein
außerordentlich beschönigendes Beispiel. Es hat mit den
Realitäten des deutschen Arbeitsmarktes leider überhaupt nichts zu tun.
({7})
Ich nenne Ihnen ein paar andere Zahlen: Nach einer
Untersuchung des Instituts für Arbeit und Qualifikation
hat Deutschland mit einem Anteil von 23 Prozent an der
Gesamtbeschäftigung inzwischen nach den Vereinigten
Staaten von Amerika den zweitgrößten Niedriglohnsektor aller vergleichbaren Industrieländer. Die Amerikaner
liegen bei 25 Prozent, die Franzosen bei 11 Prozent, die
Dänen bei 7 Prozent. Wir haben nicht den geringsten
Grund, stolz darauf zu sein, dass wir inzwischen Vizeweltmeister in Sachen Niedriglöhne sind, lieber Kollege
Brauksiepe. Das Gegenteil ist der Fall.
({8})
Wie bereits gesagt, sind die 9,60 Euro exakt die Obergrenze des Niedriglohnsektors. Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern befinden sich trotz
Vollzeitarbeit im Armutslohnsektor, verdienen also weniger als 7,50 Euro brutto. Noch nicht eingerechnet sind
dabei die vielen anderen, die im Bereich der 400-EuroJobs, der zeitlichen Befristung usw. usf. ähnlich niedrige
Stundenlöhne haben. Insoweit müsste das Blickfeld der
Bundesregierung in dieser Frage deutlich erweitert werden.
Des Weiteren haben Sie auf die Brückenwirkung, den
Klebeeffekt der Leiharbeit hingewiesen. Frau
Connemann hat eben das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zitiert mit der Schätzung, dass etwa 15 Prozent der Leiharbeiter übernommen werden. Das heißt im Umkehrschluss: 85 Prozent
der Leiharbeiter werden nicht übernommen. Was ist das
für ein äußerst bescheidener Klebeeffekt, für den man
Arbeitsformen in Kauf nimmt, die inzwischen flächendeckend mit Lohndumping zu tun haben!
({9})
- Wir werden in Kürze einen Antrag einbringen, der klar
zum Ausdruck bringen wird, dass wir auf dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ beharren werden, liebe Frau Kollegin.
({10})
Sie sind doch Christdemokratin. Dann müssten Sie
mir einmal erklären, was christlich sein soll an einer Politik, die tatenlos hinnimmt, dass Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in ihrer Würde tief verletzt werden, weil sie mit Hungerlöhnen nach Hause
geschickt werden, von denen sie nicht leben können.
Was ist daran christdemokratisch? Das müssen Sie mir
einmal erklären.
({11})
- Die Liberalen sind ein hoffnungsloser Fall, Herr Kolb;
die wollen wir jetzt nicht weiter in die Diskussion einbeziehen.
Ich will Ihnen ein paar Zahlen zur Leiharbeit vortragen. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass Leiharbeitnehmer gegenüber Stammarbeitnehmern, die die
gleiche Tätigkeit ausführen, im Durchschnitt 30 Prozent
weniger verdienen. Wir wissen aus Untersuchungen der
jüngsten Zeit, dass jeder achte Leiharbeitnehmer trotz
Vollzeitarbeit Aufstocker ist, also von zusätzlichen Leistungen nach Hartz IV abhängig ist.
({12})
- Herr Kolb, Sie haben im Moment Sendepause.
({13})
Wir wissen aus Untersuchungen, dass im Jahr 2008 der
Bund, das heißt, der Steuerzahler, die Löhne der Leiharbeitsfirmen mit rund 500 Millionen Euro bezuschussen
musste, damit überhaupt ein Einkommen in Höhe von
Hartz IV herausgekommen ist. Das ist doch ein Skandal
ohne Ende! Es kann doch nicht sein, dass Betriebe unterstützt werden, deren Geschäftsidee darauf beruht, dass
der Steuerzahler für sie die Löhne zahlt.
({14})
Mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts mehr zu tun,
Herr Kollege Kolb.
({15})
- Das sieht nach einer Zwischenfrage aus, Herr Präsident.
Ja. Ich genehmige sie. Bitte schön.
Herr Kollege Schreiner, was Sie vorgetragen haben,
war ein bisschen zu viel.
Ich habe ein paar Fragen an Sie: Erstens. Seit wann
gehören Sie dem Deutschen Bundestag an? Zweitens.
Würden Sie bestätigen, dass die Notwendigkeit, einen
Niedriglohnsektor einzuführen, zu Zeiten der rot-grünen
Koalition hier im Deutschen Bundestag erkannt und umgesetzt wurde?
({0})
Drittens. Würden Sie bestätigen, dass auch die Möglichkeit zur Aufstockung Gegenstand und Ergebnis rotgrüner Politik ist? Ich weiß: Sie hatten mit alledem
nichts zu tun; Sie waren einer dieser Exoten. Ich lasse es
trotzdem nicht zu, dass Sie heute hier in den Ganges steigen und sich sozusagen von aller Schuld freiwaschen
wollen. Sie sagen: Ich weiß, ich weiß. Ich sage Ihnen: Es
genügt nicht, zu wissen; man muss auch tun.
Ich frage Sie viertens. Was werden Sie konkret tun,
damit sich die beschriebenen Verhältnisse bei der Frankfurter Rundschau in Zukunft ändern?
({1})
Ich weiß nicht, wie ernst man diese Zwischenfrage
nehmen sollte.
({0})
Nochmals: Ich werde versuchen, der Sache mit der
Frankfurter Rundschau auf den Grund zu gehen.
({1})
- Ja gut, das mag sein. - Ich habe einleitend gesagt:
„Wer auch immer diese Form von Lohndumping betreibt, ist zu kritisieren“. Das muss abgestellt werden.
({2})
Die Aussage ist völlig klar. Was mehr wollen Sie hören?
Im Übrigen ist der Niedriglohnsektor nicht von RotGrün erfunden worden; in Deutschland gab es auch vor
1998 einen Niedriglohnsektor.
({3})
Richtig ist aber der Hinweis, dass durch gesetzliche
Maßnahmen nach 1998, insbesondere nach 2002, der
Niedriglohnsektor in Deutschland zusätzlich an Fahrt
gewonnen hat.
({4})
- Was soll das heißen? Entschuldigung! Mir ist derjenige
lieber, der Fehlentwicklungen einräumt und sie abzustellen versucht, als jemand, der blind mit dem Kopf durch
die Wand will; das wäre blinder Dogmatismus, den Sie
offenkundig auch nicht wollen.
({5})
Seien Sie doch froh, dass diese Entwicklungen erkannt
werden, die - ich vermute, ohne Absicht - jetzt eingetreten sind.
Niemand konnte übrigens voraussagen, dass die sich
christlich nennenden Gewerkschaften in diesem Ausmaß Lohndumping betreiben und damit die Abwärtsspirale in Gang setzen würden.
({6})
Sie müssen mir als Experten noch erklären, was an diesen Gewerkschaften christlich ist.
({7})
Herr Kollege, Sie haben eine Zwischenfrage, nicht
Zwischenrufe zu beantworten.
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg sagt:
Das sind überhaupt keine Gewerkschaften, weil es ihnen
an Tarifmacht fehlt. Es ist anzunehmen, dass das Bun1622
desarbeitsgericht den Vorgang möglicherweise in ähnlicher Form bewertet. Dann bricht der ganze Laden an
dieser Ecke zusammen; dieser Art von Gefälligkeitsvereinbarungen und Scheintarifverträgen wäre zunächst
einmal die Grundlage entzogen. Das wäre in der Tat eine
außerordentlich wünschenswerte Lösung.
Wenn Sie schon über die Gründe diskutieren, müssen
Sie diese Entwicklungslinien mit einbeziehen, um den
Sachverhalt, über den wir reden, zu verstehen. Der entscheidende Punkt ist nicht: Wer hat wo was verursacht?
Der entscheidende Punkt ist, ob die Mehrheit dieses
Hauses bereit ist, dafür zu sorgen, dass wir in Deutschland Verhältnisse haben, wie sie in anderen europäischen
Ländern gang und gäbe sind.
({0})
- Herr Kolb, bleiben Sie ruhig stehen! Dann habe ich ein
bisschen mehr Redezeit.
({1})
- Herr Präsident, der Herr will noch stehen.
Herr Kolb hat eine Zwischenfrage gestellt; aber jetzt
sind Sie ständig mit Zwischenrufen beschäftigt. Darauf
wollte ich nur hinweisen.
Herr Kolb, wenn Sie eine Zwischenfrage auf der
Seele haben, kann man Sie entlasten. Das ist nicht das
Problem.
({0})
Herr Kollege, ich bitte Sie, in Ihrer Rede fortzufahren.
Herr Kollege Kolb, um die Frage abschließend zu beantworten:
({0})
Wir wissen, dass Deutschland nach Untersuchungen der
OECD, die die Zustände übrigens sehr hart kritisiert, das
einzige Land ist, wo der Grundsatz „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ nicht gilt.
({1})
Entweder machen alle anderen alles falsch und wir machen alles richtig oder umgekehrt.
Frau Kollegin Connemann, niemand will, wie Sie es
unterstellt haben, „die Zeitarbeit zu Tode regulieren“.
Das hat kein Mensch behauptet; das findet sich in keinem der Anträge.
({2})
Man kann doch nicht im Ernst von „zu Tode regulieren“
sprechen, wenn wir europäische Standards auch in
Deutschland anwenden wollen. In anderen europäischen
Ländern funktioniert die Leiharbeit, auch aus Sicht der
Beschäftigten, wesentlich besser, als es in Deutschland
der Fall ist.
({3})
Ich möchte zum Schluss sagen - der Präsident ist sehr
streng hinsichtlich der Einhaltung der Redezeit -, dass
sich inzwischen über die Hälfte der Beschäftigten unter
30 in prekären Arbeitsverhältnissen befindet: Leiharbeit, zeitlich befristete Verträge, missbräuchlicher Einsatz von Praktikanten. Weniger als die Hälfte der unter
30-Jährigen ist in regulärer, dauerhafter Beschäftigung.
Das ist eine Entwicklung, die nicht mehr hingenommen
werden kann. Wenn sich ein 30-jähriger junger Mann
oder eine 28-jährige junge Frau in einem zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnis befindet, dann kann sich
dieser Mann oder diese Frau eben nicht verantwortlich
für ein Kind entscheiden, weil er oder sie nicht weiß, ob
das Kind in zwei Jahren noch anständig gekleidet und ernährt werden kann. Das heißt, wir haben es in der Breite
mit einer eindeutigen Überflexibilisierung zulasten der
Sicherheit der Beschäftigten in Deutschland zu tun.
({4})
Dieses Maß an Überflexibilisierung muss abgebaut werden, um wieder eine vernünftige Balance zwischen Flexibilisierung und Sicherheit zu erreichen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie täten gut daran, wenn Sie damit bei der Leiharbeit beginnen und sie in eine Form bringen würden,
wodurch dieses Instrument nicht mehr als hemmungsloses Lohndumpinginstrument zulasten der Menschen in
Deutschland benutzt werden kann.
Schönen Dank.
({5})
Jetzt folgen zwei Kurzinterventionen. - Zunächst
spricht Kollegin Connemann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Schreiner, Sie hatten mich in unterschiedlichen Bemerkungen persönlich angesprochen. Ich habe in Ihren Ausführungen allerdings eine Stellungnahme zu den Vorgängen vermisst, die in Ihren eigenen Betrieben stattfinden.
Beispiel Frankfurter Rundschau.
({0})
Sie haben gesagt, das prüfen zu wollen, weil es Ihnen
nicht bekannt sei.
({1})
Es wundert mich sehr, dass Sie sich mit vielen Erkenntnisquellen nicht auseinandersetzen, obwohl Sie sonst alles zu wissen scheinen.
({2})
Ich würde Ihnen sehr empfehlen, hierzu beim Deutschen Journalisten-Verband, einer Gewerkschaft, nachzufassen. Dieser Deutsche Journalisten-Verband hält
übrigens fest, dass es eine SPD-Beteiligung nicht nur
bei der Frankfurter Rundschau, sondern auch bei den
folgenden Zeitungen gibt, die Redakteure in Form von
Leiharbeitnehmern einsetzen:
Die SPD ist über den Madsack-Konzern zum Beispiel
an der Leipziger Volkszeitung beteiligt. Das Blatt beschäftigt elf Leihredakteure.
Die SPD ist an der Neuen Westfälischen in Bielefeld
beteiligt.
({3})
- Auch wenn sie nur daran beteiligt ist. Die Pauschalisten sollen dort Arbeitnehmer werden - allerdings in einer Leiharbeitsfirma.
Die SPD ist an der Oberhessischen Presse in Marburg
beteiligt. Dieses Blatt beschäftigt drei Redakteure über
die Leiharbeitsfirma Browa.
({4})
Die SPD ist an der Sächsischen Zeitung beteiligt. Dieses Blatt beschäftigt Leiharbeiter über die SZ Sachsen
GmbH.
({5})
Davon wissen Sie tatsächlich nichts?
({6})
Das wollen Sie mir erzählen? Wie wollen Sie darauf reagieren? Meinen Sie nicht, mehr Sein als Schein wäre
gut? Nur: Sie haben das heute nicht unter Beweis gestellt.
Im Übrigen möchte ich einem beliebten Argument in
Ihrer Rede ebenfalls entgegentreten. Sie sind auf das
Thema Aufstockung eingegangen. Die Aufstockung in
Deutschland ist aber kein Problem aufgrund der Lohnhöhe, sondern aufgrund der Arbeitszeit.
({7})
Wenn Sie sich die Daten ansehen, dann werden Sie feststellen, dass nur 28 000 in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer aufstocken. Alle anderen Aufstocker befinden
sich in Teilzeitarbeitsverhältnissen.
Ich möchte Sie bitten, auch das zur Kenntnis zu nehmen. Zeichnen Sie hier keine Zerrbilder von etwas, was
nicht der Wirklichkeit entspricht.
({8})
Nun hat Kollegin Ute Kumpf das Wort. Danach antwortet Kollege Schreiner.
({0})
Verehrte Kollegin Connemann, Sie waren ja in der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“.
({0})
- Doch. Ich möchte für die SPD ganz gerne eine Klarstellung treffen.
Ich darf eine Zwischenbemerkung machen.
Die Reihenfolge der Kurzinterventionen ist nicht festgelegt. Wenn es zwei Kurzinterventionen auf eine Rede
gibt, dann können sie doch wohl hintereinander erfolgen,
sodass der Redner auf beide antworten kann.
Genau. - Sie erhalten dann auch noch eine Antwort
von dem Kollegen Ottmar Schreiner.
Ich möchte Sie gerne hinsichtlich des Vorgangs bei
der Frankfurter Rundschau aufklären.
Auch Ihnen müsste die Situation in der Medienlandschaft bekannt sein: Das sind ziemliche Haifischbecken.
({0})
- Hören Sie bitte erst einmal zu. - Bei der Frankfurter
Rundschau - daran sind wir beteiligt - besteht folgender
Sachverhalt: Es gab die Pauschalisten, die nur ein Zeilengeld erhalten haben. Diese Pauschalisten haben von
sich aus das Interesse bekundet, durch eine Zeitarbeitsfirma übernommen zu werden, weil sie - vielleicht kennen Sie solche Verläufe - aus ihren sehr prekären Arbeitsverhältnissen in eine einigermaßen geordnete Form
des Zeitarbeitsverhältnisses überführt werden wollten.
({1})
So ist der Sachverhalt.
Genauso bekannt ist unsere Position, dass Zeitarbeit
nicht verwerflich ist. Das haben wir auch nie bestritten.
({2})
- Moment, klatschen Sie nicht vorher! - Ich kenne sehr
wohl die Situation in meinem eigenen Wahlkreis, dass
man für Auftragsspitzen und besondere Situationen auf
Zeitarbeit zurückgreift, und weiß, dass dies auch manche
Gewerkschaften und Betriebsräte wollen, damit die
Stammbelegschaft geschützt wird. Zeitarbeit kann aber
nicht als generelle Lösung dienen und muss tariflichen
Regelungen unterworfen werden. Das hat mein Kollege
Ottmar Schreiner zur Genüge ausgeführt.
Ich will noch etwas zu dem Beispiel Frankfurter
Rundschau sagen, weil Sie immer wieder darauf gepocht
haben. Sachverhalt ist der, dass die Abwicklung auf eigenen Wunsch der Pauschalisten erfolgt ist.
({3})
Kollege Schreiner, bitte.
Auch ich möchte kurz zur Aufklärung der Frau Kollegin Connemann beitragen, weil sie meine Aussage eben
hinterfragt hat. Jeder achte Vollzeitbeschäftigte in der
Leiharbeit bezieht ergänzende staatliche Leistungen,
weil das Einkommen so niedrig ist, dass es unterhalb der
Hartz-IV-Grenze liegt. Das haben Sie infrage gestellt
und mit völlig anderen Zahlen operiert. Ich frage mich,
welcher Quelle Sie Ihre Zahlen entnehmen. Ich offenbare Ihnen jetzt die Quelle meiner Zahl und zitiere kurz
aus dem Bericht „Leiharbeit in Deutschland. Fünf Jahre
nach der Deregulierung“ des DGB-Bundesvorstands.
Darin heißt es:
Das niedrige Lohnniveau in Verbindung mit weiteren missbräuchlichen Praktiken hat dazu geführt,
dass inzwischen jeder achte Beschäftigte in der Leiharbeit ({0}) trotz Vollzeittätigkeit ({1}) auf ergänzende
staatliche Transferleistungen angewiesen ist. Damit
sind Beschäftigte in der Leiharbeit fünfmal so häufig
auf ergänzende Unterstützung angewiesen wie Beschäftigte anderer Branchen. Allein für die Unterstützung der Leiharbeiter müssen staatliche Stellen
rund 500 Millionen Euro pro Jahr aus Steuermitteln
aufwenden.
Ich hoffe, der notwendigen Aufklärung Genüge getan
zu haben. Wir können die Zahlen im Rahmen der Fachdiskussion im Ausschuss abgleichen. Es kann kein Problem sein, sich der Wahrheit zu nähern, wenn der gute
Wille da ist.
({2})
Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Molitor für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben
Sie mir als neues Mitglied dieses Hohen Hauses einige
Worte zu dieser Debatte. Ich bin recht erstaunt darüber,
welchen Berg uns Vertreter der Vorgängerregierung hinterlassen haben. Wir wollen uns dessen annehmen. Wir
haben auch gesagt, dass wir die missbräuchliche Praxis
in der Leiharbeit angehen wollen.
({0})
Im Dezember 2009 wurden 3,3 Millionen Arbeitslose gezählt. Heute Morgen sind die aktuellen Zahlen
der Bundesagentur veröffentlicht worden. Danach sind
3,6 Millionen Menschen ohne Arbeit. Wenn wir diese
Menschen fragen, ob es ihnen lieber ist, bei einer Zeitarbeitsfirma tätig zu sein, als keine Arbeit zu haben, liegt
die Antwort doch klar auf der Hand: Zeitarbeit ist besser
als null Arbeit.
({1})
Die FDP hat schon immer die Position vertreten, dass
Zeitarbeit eine wichtige Rolle am Arbeitsmarkt spielt.
Ich habe der Debatte eben entnommen, dass diese Praxis
offensichtlich auch bei den SPD-nahen Zeitungen geübt
wird.
Reguläre Zeitarbeit heißt im Normalfall, dass Arbeitnehmer Verträge mit Zeitarbeitsfirmen abschließen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pothmer von den Grünen?
Ja, gerne.
Frau Molitor, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass keiner der hier vorliegenden Anträge zum Ziel
hat, die Zeitarbeit abzuschaffen, sondern zum Ziel hat,
die Zeitarbeit
({0})
zu regulieren, damit sie nicht dazu genutzt wird, reguläre Arbeitsplätze zu ersetzen?
Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
in angrenzenden, vergleichbaren europäischen Ländern
das Volumen der Zeitarbeit deutlich höher ist als in
Deutschland und die Regelungen für die Zeitarbeit dort
ungefähr dem entsprechen, was im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen niedergelegt ist?
({1})
Verbesserte Regelungen für die Zeitarbeit sind mithin
kein Instrument, um Zeitarbeit zu reduzieren, sondern
ein Instrument, um die Zeitarbeit vernünftig zu regulieBrigitte Pothmer
ren und sie auch auszuweiten, weil sie dann aus der
Schmuddelecke herauskommt, Frau Molitor.
({2})
Zunächst einmal will ich deutlich sagen: Zeitarbeit
steht für mich nicht in der Schmuddelecke.
({0})
Es gibt sehr wohl Zeitarbeitsunternehmen, die reguläre
Beschäftigung anbieten. In dem, was Sie in Ihren Anträgen fordern, sehe ich schlicht und ergreifend die Gefahr,
dass durch vorschnelle Regulierung auf lange Sicht Zeitarbeitsplätze abgeschafft werden.
({1})
Dem treten wir entgegen.
({2})
- Frau Kollegin, da sind die Dinge anders geregelt. Das
Beispiel Frankreich ist eben schon angeführt worden.
Dort ist die Zeitarbeit auftragsbezogen geregelt. Die
Mitarbeiter werden von einer Agentur vermittelt und
werden nach Beendigung des Auftrags entlassen. Die
Beschäftigung endet zu diesem Zeitpunkt.
({3})
- Die Zeitarbeitnehmer in Deutschland bekommen aber
dann, wenn die Beschäftigung endet, weiter ihren Lohn,
weil sie weiterhin bei der Zeitarbeitsfirma beschäftigt
sind. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({4})
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich das Instrument der Zeitarbeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewährt hat. Wir merken jetzt: Besonders zu Beginn eines
wirtschaftlichen Aufschwungs und nach einer Krise, wie
wir sie auch in Deutschland hatten, hat die Zeitarbeit
positiven Einfluss auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Wenn zurzeit Arbeitsplätze entstehen, dann vorrangig in der Zeitarbeit.
({5})
Das zarte Pflänzchen der Erholung am Arbeitsmarkt dürfen wir nicht durch übereilte Regelungen erdrücken.
({6})
Natürlich hat der Fall Schlecker die Kritiker von Zeitarbeit auf den Plan gerufen. Wegen eines schwarzen
Schafes dürfen wir jedoch nicht die gesamte Branche in
Misskredit bringen.
({7})
Das Problem ist die missbräuchliche Nutzung des Instruments Zeitarbeit. Diesen Missbrauch - das haben wir gesagt - gilt es zu verhindern. Das wollen wir angehen.
Was nutzt uns denn ein ausgefeiltes Arbeitsrecht,
wenn es in letzter Konsequenz Arbeitsplätze vernichtet?
({8})
Mit Interesse habe ich gelesen, dass die SPD nach ihrer
Klausurtagung verkündet hat, die Interessen von Arbeitnehmern stärker zu vertreten. Wir, die FDP, wollen nicht
nur die Interessen von Arbeitnehmern, sondern auch die
Interessen von arbeitslosen Menschen vertreten.
({9})
Denn wir wissen, dass etwa 60 Prozent der Zeitarbeiter
vorher keine Beschäftigung hatten.
({10})
Lassen Sie mich ganz klar sagen: Wir müssen zwei
Themen voneinander trennen, die in der Diskussion immer wieder gerne in einen Topf geworfen werden, nämlich Missbrauch der Zeitarbeit und Mindestlöhne. Auch
in Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen, ist diese
Vermischung vorgenommen worden. Das wird der Sache
nicht gerecht.
({11})
Lassen Sie uns die Diskussion über Mindestlöhne führen, wenn sie spruchreif ist. Alles zu seiner Zeit. Das haben wir im Koalitionsvertrag auch so festgehalten.
({12})
Gerade in wirtschaftlich turbulenten Zeiten ermöglicht die Zeitarbeit den Unternehmen, sich an die jeweilige Auftragslage flexibel anzupassen. Mir ist lieber, ein
Unternehmen bleibt bestehen und kann weiterhin Arbeit
anbieten, als dass es in die Insolvenz geht.
({13})
Zusätzlicher Personalbedarf kann schnell gedeckt
werden. Mittlerweile sind 760 000 Zeitarbeitnehmer vor
allem in mittleren und größeren Betrieben eingesetzt.
Wir sprechen hier von Menschen, die wieder eine Arbeit
aufgenommen haben. Das ist allemal besser, als arbeitslos zu sein.
Wir Liberale machen eine Politik für Arbeitslose und
Beschäftigte. Die Leih- oder Zeitarbeit darf nicht geschwächt werden. Weil die Zeitarbeit nach unserer Auffassung auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen
wird, treten wir Missbräuchen entschieden entgegen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Juratovic für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor meiner
Wahl in den Deutschen Bundestag im Jahr 2005 habe ich
22 Jahre im Werk eines deutschen Automobilherstellers
gearbeitet. Ich habe in diesen Jahren und auch nach meiner Wahl in den Deutschen Bundestag mitverfolgt, wie
die Leiharbeit Einzug in das Werk hielt. In den vergangenen Jahren musste ich leider feststellen, dass vielerorts
reguläre Beschäftigungsverhältnisse durch Leiharbeit ersetzt wurden. Das war nicht beabsichtigt, als die
rot-grüne Bundesregierung das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz änderte. Geplant war vielmehr, mit dem Instrument der Leiharbeit den Bedarf an Arbeitskräften in
Spitzenzeiten abzudecken. In der damaligen Zeit dachten viele Unternehmen über eine Auslagerung der Produktion in das osteuropäische Ausland nach. Wie viele
andere Arbeiter hatten auch wir davor Angst. Für uns bedeutete die Reform des Arbeitsnehmerüberlassungsgesetzes unter Rot-Grün, dass unsere Arbeitsplätze an den
deutschen Standorten gesichert werden und Langzeitarbeitslose einen leichteren Zugang zum ersten Arbeitsmarkt bekommen. Ich bin mir sicher, dass mit der Leiharbeit einige Arbeitgeber davon abgehalten wurden, ihre
Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern.
({0})
Deswegen wurden damals Änderungen bei der Leiharbeit von allen Beteiligten unterstützt: von der Politik,
den Arbeitgebern und den Gewerkschaften.
({1})
Wir mussten jedoch in den vergangenen Jahren feststellen, dass die Leiharbeit von Unternehmen für andere
Zwecke missbraucht wurde. Schlecker nutzte die Leiharbeit, um Lohndumping zu betreiben; das ist kein Einzelfall. In vielen Unternehmen wird die Leiharbeit dafür
missbraucht, die Lohnstückkosten zu senken. Ein Unternehmen, das dabei nicht mitmacht, verliert oft den Anschluss an die Konkurrenz. Die Praxis wird von Pseudogewerkschaften unterstützt, die sich heuchlerisch auch
noch als christlich bezeichnen. Wir reden immer wieder
über Ethik in der Wirtschaft. So wie Leiharbeit aktuell
stattfindet, entspricht das jedoch keinen ethischen Maßstäben. Es ist unethisch, wenn Unternehmen ihre Mitarbeiter in zwei Kasten einteilen: in die Stammbelegschaft
und die Leiharbeiter. Es ist unethisch, wenn Leiharbeiter
in manchen Fällen nur 50 Prozent des Lohnes erhalten,
den ihre Kollegen der Stammbelegschaft für dieselbe
Tätigkeit bekommen.
Es läuft etwas komplett schief, wenn jeder achte Leiharbeitnehmer trotz Vollzeittätigkeit auf eine ergänzende
staatliche Unterstützung angewiesen ist. Für einen Leiharbeiter ist es unmöglich, einen Kredit oder eine Wohnung zu erhalten, weil er keine stabile Beschäftigung vorweisen kann. In der Krise konnten durch die Kurzarbeit
zwar viele Beschäftigte vor einer Kündigung bewahrt
werden. Die Leiharbeiter haben jedoch - weitgehend unbemerkt - ihre Arbeit verloren. Die OECD spricht im Zusammenhang mit der Leiharbeit von einer Zweiklassengesellschaft auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die
Leiharbeit ist bei uns eine Form prekärer Beschäftigung.
Die Leiharbeit sorgt dafür, dass in Deutschland zahlreiche
Kinder in Armut aufwachsen. Kolleginnen und Kollegen
von der Regierungskoalition, es ist nicht gerade glaubwürdig, dass sich die ehemalige Familienministerin und
jetzige Arbeitsministerin ernsthaft Sorgen um Kinderarmut macht und eine der Hauptursachen der Kinderarmut
ignoriert.
Wir Sozialdemokraten haben in der Großen Koalition
vehement Änderungen bei der Leiharbeit angemahnt.
Die Union hat aber den offensichtlichen Handlungsbedarf bestritten und bestreitet ihn noch immer. Es geht
uns nicht darum, die Leiharbeit komplett abzuschaffen.
Wir wollen weiterhin die positiven Effekte der Leiharbeit nutzen, denn mit der Leiharbeit können kurzfristige Auftragsspitzen in Unternehmen bewältigt werden,
und sie kann als Übergang in eine reguläre Beschäftigung dienen. Aber wir müssen Tarifflucht und Lohndumping in der Leiharbeit einen Riegel vorschieben.
({2})
Es muss klar sein: Wer dieselbe Arbeit verrichtet und unter denselben Bedingungen arbeitet, der bekommt auch
denselben Lohn.
Ich begrüße die Anträge von Linken und Grünen,
denn sie zeigen, dass beide Parteien Handlungsbedarf
bei der Leiharbeit sehen. Leider bieten die Anträge aber
zum Teil widersprüchliche und nicht vollständig durchdachte Lösungen an, so zum Beispiel in Bezug auf die
Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Das wollen zwar beide; auch wir wollen dies. Doch eine Forderung von 10 Prozent Flexiprämie nur für Leiharbeiter ist
eigentlich ein Widerspruch zur Forderung „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“. Flexibilisierung ist in allen Betrieben bei der Gesamtbelegschaft gerade jetzt in Krisenzeiten hoch im Kurs. Viel wichtiger wäre es, dass die
Leiharbeit schnellstmöglich in den Geltungsbereich des
Arbeitnehmerentsendegesetzes aufgenommen wird, damit der Mindestlohn für diese Branche gewährleistet
wird.
Des Weiteren fordert die Linke, dass die Betriebsräte
in einem Entleihbetrieb im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes ein zwingendes Mitspracherecht hinsichtlich des Einsatzes der Leiharbeiter bekommen. Meines
Erachtens ist dies bereits jetzt über die Anwendung verschiedener Paragrafen des Betriebsverfassungsgesetzes
weitgehend möglich. Viel wichtiger wäre für mich eine
Ausweitung des § 14 des ArbeitnehmerüberlassungsgeJosip Juratovic
setzes, damit der Entleihbetrieb Übersicht über die Bedingungen der Arbeitnehmer in dem Verleihunternehmen bekommt, ohne dass sich Arbeitnehmervertreter
wegen Verletzung des Betriebsgeheimnisses strafbar machen. Dies kann man über § 80 Abs. 1 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes abdecken, weil danach der
Betriebsrat über die Einhaltung gesetzlicher Regelungen
wacht.
Der Forderung der Grünen, die Anzahl aller Mitarbeiter in einem Betrieb innerhalb eines bestimmten Zeitraums für die Anzahl der Betriebsräte zugrunde zu legen, stimme ich zu. Aber ich bezweifle, dass bei
Betriebsratswahlen das Wahlrecht eines Leiharbeiters ab
dem ersten Tag gerecht gegenüber den Kandidaten und
der Stammbelegschaft ist.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen bei der
Leiharbeit Änderungen mit Augenmaß. Deswegen werden wir Sozialdemokraten im Februar einen Antrag einbringen, der die positiven Effekte der Leiharbeit weiterhin gewährleistet und den Missbrauch beseitigt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich empfinde es als sehr erstaunlich, wie die Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion und aus der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier zum Thema Zeitarbeit aufgetreten sind. Vielleicht muss man zum
Schluss der Debatte Folgendes noch einmal für alle festhalten, bevor es in Vergessenheit gerät: Die rechtlichen
Grundlagen für die Leiharbeit, die wir heute in Deutschland haben, und die Tatsache, dass Leiharbeit in den letzten Jahren in Deutschland salonfähig geworden ist, entspringen rot-grüner Gesetzgebung.
({0})
Mit dem Job-Aktiv-Gesetz und den sogenannten
Hartz-Gesetzen wurde der Startschuss zu einer weiteren
Deregulierung der Leiharbeit gegeben.
({1})
Alle Verwerfungen, über die wir diskutieren, sind Probleme, die auf der Grundlage dieser gesetzlichen Regelungen von Rot-Grün entstanden sind. Das muss man
festhalten.
({2})
Nun hat Kollege Schreiner gefragt: Was ist christlich?
Um dies zu beantworten, müsste ich jetzt einen theologischen Vortrag halten; das will ich nicht tun. Aber ich
kann eines sagen: Unchristlich ist mit Sicherheit, mit
dem Finger auf eine christlich-liberale Regierung zu zeigen, die seit wenigen Wochen im Amt ist, und sie dafür
verantwortlich zu machen, dass all die Probleme, die in
diesem Land aufgrund rot-grüner Gesetzgebung bestehen, noch nicht beseitigt sind.
({3})
Nun zur eigentlichen Problemstellung. Gerade die
Rede des Kollegen Juratovic, für deren ersten Teil ich
mich vor allem bedanken möchte, hat sehr sachlich und
nüchtern gezeigt, was die Absicht der Gesetzgebung war.
Die Absicht war, einerseits Leiharbeit vereinfacht zur
Anwendung zu bringen und andererseits für eine bessere
soziale Absicherung der Beschäftigten zu sorgen. Gleichzeitig sollte die Leiharbeit eine arbeitsmarktpolitische
Funktion übernehmen, indem vor allem Arbeitslose
über Leiharbeit in dauerhafte Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden sollten. Das war die
Absicht der Gesetzgebung.
Jetzt, über fünf Jahre später, kann man positiv feststellen: Zeitarbeit ist ein wichtiges integratives arbeitsmarktpolitisches Instrument. Sie ermöglicht vielen Menschen, deren formale Qualifikationen nicht ausreichend
sind und die sonst kaum einen Zugang zum Arbeitsmarkt
hätten, Arbeit zu finden. Zwei von drei Zeitarbeitern waren zuvor arbeitslos, und jeder Zehnte hatte zuvor überhaupt noch nie einen Arbeitsplatz. Nun kann man über
die Frage, was diese Zahlen bedeuten und was es mit
dem sogenannten Klebeeffekt, also dem Umstand, dass
jemand aus der Leiharbeit in eine unbefristete Beschäftigung übernommen wird, auf sich hat, trefflich diskutieren.
Ich finde - ob man die Zahlen hin- oder herschiebt -, wir
sollten über jeden glücklich sein, der die Chance hat, aus
der Arbeitslosigkeit herauszukommen, um wieder mit
eigener Hände Arbeit Geld zu verdienen.
({4})
- Und das ist christlich, Herr Kollege Schiewerling. In
der Tat. ({5})
Aber genauso gilt, dass die Fehlentwicklungen bei
der Inanspruchnahme von Zeitarbeit einer Korrektur bedürfen. Das prominente Beispiel Schlecker ist schon
mehrmals erwähnt worden. Es sind einige mehr oder
minder wenig rühmliche Genossinnen und Genossen
von Schlecker benannt worden. Dass man die eigenen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sämtlich entlässt und
sie postwendend über eine Zeitarbeitsfirma zu einem geringeren Lohn wieder einstellt, ist in der Tat unanständig, und das ist ein Missbrauch von Zeitarbeit.
({6})
Peter Weiß ({7})
Das hat auch nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun.
({8})
Offensichtlich haben einige Unternehmen nicht verstanden, was Zeitarbeit ist, sondern sie missbrauchen die
Zeitarbeit als ein Geschäftsmodell, auf dem die Existenz
eines Betriebes zu 100 Prozent beruhen soll. Ein solches
Verhalten bringt inzwischen die eigentlich in Deutschland anerkannte Branche Zeitarbeit in der Tat in Verruf.
({9})
Meines Erachtens schneiden sich solche Unternehmen
ins eigene Fleisch. Deshalb bin ich unserer neuen Bundesarbeitsministerin Dr. Ursula von der Leyen dankbar,
dass sie wenige Tage nach ihrem Amtsantritt unmissverständlich erklärt hat, dass sie künftig genau hinschauen
wird, wo Missbrauch geschieht,
({10})
und dass sie willens ist, diese Schlupflöcher, die einen
Missbrauch von Zeitarbeit ermöglichen, zu schließen.
Deshalb bin ich zuversichtlich, dass diese Koalition das
Notwendige tun wird, um wieder Ordnung auf dem Zeitarbeitsmarkt herzustellen.
({11})
Die Oppositionsfraktionen, die hier Anträge gestellt
haben, brauchen sich nicht zu belobigen. Es ist doch offenkundig: Auf die klare Ansage von Ursula von der
Leyen haben sich die Oppositionsfraktionen bemüht,
schnell einen Antrag zu pinseln.
({12})
Ich darf einen höflichen Hinweis geben: Die Opposition
müsste eigentlich die Regierung antreiben, aber sie sollte
nicht der Regierung hinterherlaufen.
({13})
- Entschuldigung, kaum hatte sich Frau von der Leyen
geäußert, habt ihr von den Linken und den Grünen angefangen, Anträge zu schreiben. Das kann jeder machen.
Nach der Vorlage von Frau von der Leyen einen Antrag
zu schreiben, ist keine Oppositionsarbeit.
({14})
Ich will ein weiteres Wort sagen. Leiharbeit sollte den
Unternehmen mehr Flexibilität ermöglichen, aber sie
sollte kein Instrument zu Lohndumping und unfairem
Wettbewerb sein.
({15})
Die Zeitarbeitsbranche ist aus bekannten Gründen die
einzige Branche, die zu 100 Prozent tarifgebunden ist;
das gibt es sonst nirgendwo. Aber anstatt dass durch die
vereinbarten Tarifverträge ein Wettbewerb um besonders
gute Vergütungen erfolgt, wird in einigen Teilbereichen
leider ein Wettbewerb nach unten ausgetragen. Das kann
ebenfalls nicht im Sinne qualifizierter Zeitarbeit sein.
Die Zeitarbeitsbranche nimmt damit nämlich letztlich in
Kauf, dass sie in Verruf gerät und dass Zeitarbeit mit Billigarbeit gleichgesetzt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um es klar
und deutlich zu sagen: Wir wollen gute Zeitarbeit. Wir
wollen Missbrauch und Fehlentwicklungen verhindern.
Dafür benötigen wir offensichtlich zusätzliche Regelungen. Ich vertraue darauf, dass uns unsere Bundesarbeitsministerin - ich verweise auf die klare Ansage, die sie
gemacht hat - demnächst einen praktikablen Vorschlag
vorlegt, wie wir dafür sorgen können, dass Zeitarbeit in
Deutschland eine Zukunft hat und dass Missbrauch und
Fehlentwicklungen unterbunden werden.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die
Unionsfraktion.
({0})
Der Letzte kann natürlich immer noch etwas dazu sagen. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Causa Schlecker hat ein mediales Trommelfeuer gegen die Zeitarbeitsbranche hervorgerufen, wie
ich meine, zu Recht. Das sage ich als Christsozialer, damit sich alle eingebunden fühlen, Herr Schreiner. Mit
uns, der christlich-liberalen Koalition, wird es ein „Geschäftsmodell Ausbeutung“, wie der Stern vergangene
Woche schrieb, nicht geben.
({0})
Was ist bei Schlecker passiert? Schlecker hat faktisch
unternehmensintern verliehen. Das klassische Dreieck
der Zeitarbeit „Zeitarbeitnehmer, Zeitarbeitgeber und
Zeitarbeitskunde“ ist nicht beachtet worden. Das ist
keine Zeitarbeit in dem Sinne, wie wir echte Zeitarbeit
verstanden wissen wollen.
({1})
Meine Damen und Herren der Fraktionen der Grünen
und der SPD, immer wieder hat man in dieser Debatte
gedacht: Wir können es langsam nicht mehr hören. Leider müssen Sie sich noch einmal anhören, wie ich darauf
hinweise: Die schrankenlose Zulassung von Leih- und
Zeitarbeit ist in Ihrer und nicht in unserer Regierungszeit
beschlossen worden.
({2})
Herr Kollege Schreiner, Sie können hier noch so laut
reden - auch ich versuche es gerade -, Sie sitzen mit
dem, was Sie hier machen, in der Populismusfalle.
({3})
Wenn Sie jetzt die Zeitarbeit anprangern, müssen Sie
sich vorhalten lassen, dass diese zeitarbeitsrechtlichen
Regelungen von Ihrer Koalition stammen. Ihre Koalition
hat auch die Möglichkeit geschaffen, das Equal Pay auszuhöhlen. Diese Möglichkeit haben doch nicht wir geschaffen.
({4})
Urheber dieses neuen Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes war nicht die heutige Koalition. Es ist aber bezeichnend, dass es einer christlich-liberalen Koalition
bedarf, um jetzt gegen Schlupflöcher vorzugehen.
({5})
Dass der Stern jetzt das Ende der Ära der Liberalisierung
im Arbeitsrecht fordert, ist eine Tragik für die Sozialdemokratie. Das müssen Sie sich angesichts dessen, was
in den letzten Jahren mit Ihrer Politik passiert ist, doch
ganz besonders zu Herzen nehmen.
({6})
Meine Damen und Herren von den Grünen, man kann
sich irren; aber Motivirrtum ist unbeachtlich. Sie müssen
sich vorher überlegen, was Sie tun, und nicht erst in der
Opposition.
({7})
Der Bericht der Bundesregierung über die Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zeigt, dass
Zeitarbeit Brücken zur Arbeit baut für Menschen, die
sonst schlechte Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt
hätten; wir haben die Zahlen vorhin schon mehrfach gehört. Zeitarbeit schafft Perspektiven;
({8})
das zeigt der Bericht ganz deutlich. Wir sind fest entschlossen, Missbrauch in der Zeitarbeitsbranche zu bekämpfen. Wir reichen nicht die Hand für systematische
Tarifflucht, die zu sozialer Schieflage führt. Aber ich
sage es mit gleicher Deutlichkeit: Wir sind nicht für eine
Änderung des Betriebsverfassungsrechtes, wie von
Linken und Grünen jetzt gefordert wird.
({9})
Diese Maßnahme würde eine Hürde für die Entstehung
von Arbeitsplätzen darstellen. Sie führte letztlich dazu,
dass Zeitarbeit in den Betrieben gar nicht mehr möglich
wäre. Das wollen wir nicht.
({10})
Es muss auch weiterhin möglich bleiben, flexibel einzustellen, ohne Einigungsstellen anzurufen. Einigungsstellen kosten Zeit und Geld. Sie tragen zu dem, was wir mit
Zeitarbeit erreichen wollen, nichts bei.
Ich appelliere aber auch an die Zeitarbeitsbranche:
Schwarze Schafe haben sie in Verruf gebracht. Unsere
Vorstellung von Zeitarbeit ist es nicht, dass Stammbelegschaft ersetzt wird. Das will ich hier auch in aller Deutlichkeit sagen.
({11})
Ich bin froh - wir alle begrüßen es -, dass unsere neue
Bundesarbeitsministerin angekündigt hat, dass, wenn es
zu keiner tariflichen Lösung kommt, dem Missbrauch
von Zeitarbeit mit einem konkreten Gesetzentwurf entgegengetreten wird.
Wir müssen jetzt die Schlupflöcher stopfen, die Sie
während der rot-grünen Koalition eröffnet haben. Das ist
doch die Tatsache.
({12})
- Na ja, da waren Sie doch auch dabei.
({13})
Wir können doch an dem im Koalitionsvertrag enthaltenen Rechtsgedanken der „Zuvor-Arbeitsverhältnisse“,
wie wir sie im Teilzeit- und Befristungsgesetz vorfinden,
anknüpfen. Da machen wir das doch. Setzen und vertrauen wir auf die Stärke der Tarifparteien! Das möchten
doch auch Sie. Stärken Sie Ihre Gewerkschaften! Halten
wir aber zugleich an Tariföffnungsklauseln fest! Fördern
wir die Tarifautonomie! Sie ist die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft.
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Mindestlöhne sind kein Allheilmittel und bieten erst recht keine Arbeitsplatzgarantie.
({15})
Der in unseren Augen bessere Weg ist die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Schreiben
wir die differenzierte Rechtsprechung zum Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich fest, um Lohndumping zu
verhindern und soziale Verwerfungen zu vermeiden.
({16})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, machen wir
uns die Mühe zur differenzierten Betrachtung. Geben
wir guter und seriöser Zeitarbeit den erforderlichen gesetzlichen Rahmen in einem gesicherten Tarifgefüge.
({17})
Dies führt zu motivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dies bietet einer Vielzahl von Arbeitslosen
eine Perspektive und ein Sprungbrett in eine Dauerbeschäftigung. Den schwarzen Schafen und Schlupflöchersuchern, die die Senkung von Personalkosten und den
flexiblen Einsatz von Arbeitskräften falsch verstehen,
die kein Gefühl für Verantwortung, Betriebstreue, Zuverlässigkeit und hohen persönlichen Einsatz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben, sagen wir
aber genauso klar: Wir stellen uns vor die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Missbrauch jedoch werden
wir nicht akzeptieren, Missbrauch werden wir nicht dulden. Wir werden handeln.
Herzlichen Dank.
({18})
Kollege Lange, das war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Wir gratulieren Ihnen dazu recht herzlich
und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/426 und 17/551 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches
Anlegerschutzniveau überwinden
- Drucksache 17/284 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Es handelt sich um eine Überweisung im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/284 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 l auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 a:
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 8 zu Petitionen
- Drucksache 17/473 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 8 ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 9 zu Petitionen
- Drucksache 17/474 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 9 ist ebenfalls einstim-
mig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 10 zu Petitionen
- Drucksache 17/475 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 10 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 23 d:
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 11 zu Petitionen
- Drucksache 17/476 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 11 ist einstimmig an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 23 e:
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 12 zu Petitionen
- Drucksache 17/477 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 12 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 f:
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 13 zu Petitionen
- Drucksache 17/478 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 13 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 14 zu Petitionen
- Drucksache 17/479 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 14 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 23 h:
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 15 zu Petitionen
- Drucksache 17/480 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 15 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 23 i:
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 16 zu Petitionen
- Drucksache 17/481 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 16 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 j:
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 17 zu Petitionen
- Drucksache 17/482 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 17 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 k:
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 18 zu Petitionen
- Drucksache 17/483 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 18 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 l:
l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 19 zu Petitionen
- Drucksache 17/484 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 19 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 l auf. Wir
kommen zu zwölf Gremienwahlen, die wir mittels
Handzeichen durchführen werden.
Tagesordnungspunkt 6 a:
Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“
- Drucksache 17/528 Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller
Fraktionen auf Drucksache 17/528 vor. Wer stimmt für
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b:
Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien
und Massenorganisationen der DDR“
- Drucksache 17/529 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/529 ab. Wer stimmt für diesen
Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 c:
Stiftungsrat der „Stiftung Caesar“ ({6})
- Drucksache 17/530 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 17/530 ab. Wer ist für
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 d:
Stiftungsrat der „Deutschen Stiftung Friedensforschung ({7})“
- Drucksache 17/531 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf
Drucksache 17/531 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Senat des Vereins „Hermann von HelmholtzGemeinschaft Deutscher Forschungszentren
e. V.“
- Drucksache 17/532 Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD auf Drucksache 17/532 vor. Wer
stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Wahlvorschlag
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 f:
Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
- Drucksache 17/533 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/533 vor. Wer stimmt für diesen
Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 g:
Parlamentarischer Beirat der „Stiftung für
das sorbische Volk“
- Drucksache 17/534 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 17/534 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 h:
Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
- Drucksache 17/535 Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/535 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 i:
Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek gemäß § 6 Absatz 1 Nummer 1 des Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek
- Drucksache 17/536 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 17/536 vor.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Wahlvorschlag ist
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 j:
Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Gesetzes zur Errichtung einer
„Bundesstiftung Baukultur“
- Drucksache 17/537 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/537 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 k:
Kuratorium der Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
- Drucksache 17/538 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 17/538
vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 l:
Stiftungsrat der „Stiftung Berliner Schloss Humboldtforum“
- Drucksache 17/539 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/539 vor.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Anhaltender Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung von Stasi-Verstrickungen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Bernhard Kaster für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 15. Januar 1990 erstürmten die Menschen die StasiZentrale in der Normannenstraße, und im Dezember
1991 beschloss der Deutsche Bundestag das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Die Bundestagskolleginnen und -kollegen
von damals, die Bürgerinnen und Bürger und vor allem
die Opfer der menschenverachtenden Stasi-Machenschaften konnten mit Sicherheit nicht ahnen, dass
15 Jahre, geschweige denn 20 Jahre nach dem Fall der
Mauer das Thema der Stasi-Verstrickungen auch in unseren Parlamenten noch so aktuell ist: in Brandenburg,
im Deutschen Bundestag und hier auch noch in der heutigen Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses.
Damals konnte sich wohl kaum jemand vorstellen,
dass 20 Jahre nach dem Fall der Mauer im Brandenburger
Landtag ehemalige Stasi-Zuträger gleich in Fraktionsstärke vertreten sind.
({0})
Genauso wenig war sicherlich vorstellbar, dass noch in
dieser Wahlperiode ein Abgeordneter der Linksfraktion
auf der Internetseite des Deutschen Bundestages lakonisch „ließ mich 1983 als IM des MfS verpflichten“ vermerkt und auf seiner eigenen Homepage die Tätigkeit
für die Stasi in einer chronologischen Harmlosigkeit darstellt, als wäre es die Mitgliedschaft bei den Pfadfindern.
({1})
Dies kann so nicht sein, dies muss uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen, aufrütteln. Es muss noch einmal
klar ausgesprochen werden, was es denn heißt, sich freiwillig bei der DDR-Geheimpolizei verpflichten zu lassen. Was war denn das, eine Tätigkeit beim MfS?
Es geht hier um Verbrechen an jungen Menschen. Es
waren die Bespitzelung von und der Verrat an Nachbarn,
Freunden, Arbeitskollegen. Was eine IM-Tätigkeit bedeutet, kann man in den mit Zweidrittelmehrheit beschlossenen Bundestagsdrucksachen zu den Überprüfungsverfahren zu Heinrich Fink oder Christa Luft oder
Roland Claus oder Gregor Gysi nachlesen. Hier wurden
junge Menschen, Jugendliche mit existenzvernichtenden
Folgen ans Messer geliefert. Berufliche und persönliche
Perspektiven wurden völlig zerstört. Das Widerlichste
daran ist: Es wurde Vertrauen missbraucht, Vertrauen
von Menschen in ihren angeblichen Freund oder Nachbarn, Vertrauen von Jugendlichen in ihren Jugendklubleiter, Vertrauen in seelsorgerische Gespräche oder
Vertrauen von Mandanten in ihren Anwalt. Vertrauen in
unsere parlamentarische Demokratie, in die Vertrauenswürdigkeit der Abgeordneten zu schaffen, war auch ein
Motiv für das Stasi-Unterlagen-Gesetz und die Überprüfungsverfahren nach dem Abgeordnetengesetz.
({2})
Bei den Abstimmungen über das Stasi-UnterlagenGesetz im Jahre 1991 oder bei der Verlängerung der
Fristen im Jahre 2006 war sich dieses Parlament mit
Ausnahme der SED-Nachfolger PDS und Linke darin einig, dass diese Gesetze und Verfahren einen Beitrag zur
Selbstreinigung des Parlamentes leisten müssen.
({3})
Es kann nicht sein, dass Menschen, die das eigene
Volk auf hinterhältigste Weise bespitzelt und verraten
haben, heute Abgeordnete sind.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht hat es auf den Punkt gebracht. Zu diesen Überprüfungsverfahren sagt das Bundesverfassungsgericht:
Das Überprüfungsverfahren beruht auf der Prämisse, dass die frühere Tätigkeit eines Abgeordneten für den Staatssicherheitsdienst diesem die Legitimität nehme, Abgeordneter des Deutschen
Bundestages zu sein.
Das muss auch für die Zukunft gelten.
({5})
Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass nach wie vor
dringender Handlungsbedarf besteht. Wir alle haben die
größte Bewunderung und den größten Respekt vor allem
vor dem Mut der Menschen, die diesen unmenschlichen
Machtapparat vor 20 Jahren zerstört und die friedliche
Revolution herbeigeführt haben.
({6})
Mein tiefer Respekt gilt auch den Opfern, die drangsaliert, eingesperrt und ihrer persönlichen und beruflichen
Perspektive beraubt worden sind - mit Wirkungen bis
heute.
({7})
Es wäre fatal, wenn auch nur der Eindruck entstehen
könnte, dass mit einer auslaufenden Frist ein Schlussstrich gezogen würde.
({8})
Die aktuellen Ereignisse zeigen: Heute, im Jahre 2010,
darf es nicht um Befristungen und Abschluss gehen, sondern es muss um Entfristung und Öffnung gehen. Wir
müssen das schlimmste Kapitel des SED-Unrechtsregimes weiter aufklären. Jeglicher Verharmlosung müssen wir entschieden entgegentreten.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offensichtlich ist
auch die DDR-Vergangenheit eine Vergangenheit, die
nicht vergeht. Seit 20 Jahren beschäftigen wir uns mit
diesem belastenden Erbe. Ich weiß nicht, die wievielte
Debatte das zu diesem Thema ist, an der ich mich beteilige, die wievielte Überprüfung ich beantragt habe.
Ich gehörte zu denen, die vor knapp 20 Jahren in der
Volkskammer für die Öffnung der Akten eingetreten
sind, die für die Einrichtung einer Stasi-Unterlagen-Behörde gesorgt haben. Das Thema ist nicht erledigt. Das
überraschend anhaltende Interesse Betroffener an der
Einsicht in die Akten - damit konnte man nicht rechnen,
dass auch nach 20 Jahren so viel Interesse an den Akten
besteht - erinnert uns daran. Es gibt immer neue Enthüllungen, zuletzt auch in Brandenburg. Das ist eigentlich
wenig überraschend, wenn man die menschliche Natur
kennt. Wer gibt schon freiwillig Schuld zu?
Der Brandenburger Weg - von dem immer wieder die
Rede war - wurde zunächst von einer Ampel-Koalition
und dann von einer Großen Koalition gegangen. Ich erinnere daran, weil ich glaube, dass eine parteipolitische
Instrumentalisierung der Vergangenheit nicht sehr viel
hilft, sondern dem Anliegen eher schadet.
({0})
Bei allem verständlichen Eifer und der Emotionalität,
die ich teile, sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass die Demokratie - das ist einer ihrer großen
Vorzüge - Menschen immer wieder die Chance gibt,
sich in ihr zu verändern.
({1})
Das heißt: Wir sollten der Versuchung widerstehen, anderen ein Kainsmal aufzudrücken, sie dauerhaft in das
Gefängnis ihrer Vergangenheit einzusperren. Ich hoffe,
darin sind wir uns einig.
Vor diesem Hintergrund gibt es für mich, für uns, ein
Kriterium, eine Bewertungsregel, die aus zwei Punkten
besteht. Erstens. Wer einmal Macht über Menschen
missbraucht hat, soll nie wieder Macht über Menschen
bekommen.
({2})
Zweitens. Es muss die Frage gestellt werden: Wie ist
einer mit der Stasi-Vergangenheit, der SED-Vergangenheit, der Blockparteivergangenheit in den vergangenen
20 Jahren umgegangen? Hat er, hat sie geschwiegen
oder gar gelogen, oder war er, war sie ehrlich und hat
sich in der gemeinsamen Demokratie bewährt? Auch das
sollte in die Bewertung einfließen. Das geht nie ohne die
Prüfung des einzelnen Falls und ohne genaue, sehr differenzierte Bewertung. Genau dafür bleibt der Zugang zu
den Akten notwendig. Deswegen sind wir für eine Verlängerung der Überprüfungsmöglichkeiten nach den
§§ 21 und 22 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes über 2011
hinaus.
Bei Menschen in herausgehobenen Positionen in Politik, Verwaltung, Justiz, Bundeswehr und Sport sollen die
Bürger sicher sein können, dass sie nicht früher Macht
missbraucht haben. Deswegen empfiehlt die SPD-Fraktion ihren Mitgliedern, sich auf eine Stasi-Mitarbeit
überprüfen zu lassen. Ich tue das auch. Ich glaube, bei
mir ist es das sechste oder siebte Mal. Deswegen soll
nach unserer Auffassung die Stasi-Unterlagen-Behörde
selbstverständlich über das Ende der Amtszeit von
Marianne Birthler hinaus weiterbestehen und weiterarbeiten können. Ich sage das, weil es in der vergangenen
Legislaturperiode in den Reihen der CDU ganz andere
Positionen gab, die das Ende dieser Behörde wollten.
({3})
- Ich rede doch präzise: das Ende der Behörde, Kollege
Vaatz. Ich weiß doch, wer das mit anderen zusammen
damals gefordert hat.
({4})
Wir haben in der Gedenkstättenkonzeption vereinbart,
dass der Bundestag eine Expertenkommission einberuft,
die Vorschläge entwickelt, wie die unterschiedlichen
Aufgaben der Behörde in der Zukunft - in welcher institutionellen Form und durch wen - zu verwirklichen sind.
Der Zugang zu den besonderen Akten verlangt nach besonderen Zugangsregeln. Schließlich sind diese Akten
nicht auf rechtsstaatliche Weise zustande gekommen.
Diese Akten sind das Erbe eines Unrechtsstaats. Forschung und politische Bildung sind andere Aufgaben
dieser Behörde. Wir sollten sehr genau und sehr sachlich
darüber debattieren, in welcher Form diese Aufgaben in
der nächsten Legislaturperiode weitergeführt werden
sollen.
Es muss auch weiterhin einen eindeutig rechtsstaatlich geregelten Umgang mit den Hinterlassenschaften eines Unrechtsstaats geben. Ich denke, es muss uns auch
um ein gemeinsames Eintreten gegen billige parteipolitische Instrumentalisierung von Vergangenheit gehen.
Dann will ich noch daran erinnern - auch darum muss es
uns gehen -: Die Stasi war Auftragnehmer und nicht
Auftraggeber.
({5})
Es muss uns immer auch um das politische System gehen, innerhalb dessen die Stasi gehandelt hat.
({6})
- Und die Partei, die SED.
({7})
Um die Gewichte richtig zu setzen, sage ich zum
Schluss: Die DDR war mehr als ein SED- und StasiStaat. Also sollten wir die Anstrengungen vermehren,
uns Alltag, Widerstand, Opposition und die Freiheitsgeschichte, die da begonnen hat, zu vergegenwärtigen. Das
Berliner Abgeordnetenhaus hat erfreulicherweise diesbezüglich einen Vorschlag gemacht. Ich habe sehr dafür
gekämpft, dass in die Gedenkstättenkonzeption genau
dieser Punkt Eingang findet. Der Bund steht auch hier in
der Verpflichtung. Wir sollten die falsche Faszination
durch die Krake Stasi überwinden, ohne die Erinnerung
zu verdrängen und die Aufarbeitung dieses Kapitels zu
beenden.
({8})
Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Deutsche Demokratische Republik trug zwar das Wort „demokratisch“ im Namen, aber
sie war keine Demokratie. Sie war auch kein Rechtsstaat
und schon gar nicht ein Hort der Freiheit. Sie bekämpfte
Andersdenkende. Sie bekämpfte diejenigen, die sich
Freiheit und Demokratie wünschten. Sie bekämpfte die
Menschen, die Sozialismus und Kommunismus nicht als
die einzig richtige Lehre akzeptierten. Kurzum: Sie war
eine typische Diktatur.
({0})
Das Ministerium für Staatssicherheit, kurz: MfS, war
das wichtigste Unterdrückungsorgan in den Händen der
herrschenden SED. Sie war das sogenannte Schild und
Schwert der Partei. Rechtsstaatliche und moralische
Werte wurden durch die Stasi außer Kraft gesetzt, und
das Leben der Opfer wurde buchstäblich aus den Angeln
gehoben. Die Stasi manipulierte, ruinierte und zerstörte
zahlreiche Existenzen. Zehntausende unschuldige Menschen erlitten als Opfer der Stasi in den Gefängnissen
körperliche und seelische Gewalt. Sie sind noch heute
von den Narben des Stasi-Treibens gezeichnet. Solche
Narben auf der Seele heilen eben schwer. Wer davon einen emotionalen Eindruck erhalten möchte, sollte sich
das von Opfern aufgeführte Theaterstück Staats-Sicherheiten des Hans-Otto-Theaters ansehen.
({1})
Mutige Demonstranten haben die Akten der Stasi für
die Nachwelt gesichert, so wie am 15. Januar 1990 in der
Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße, sicherten Bürgerinnen und Bürger der DDR überall die Aktenbestände vor weiterer Zerstörung. Nur wegen dieses beherzten Eingreifens sind wir heute überhaupt in der
Lage, das Wirken der Stasi mithilfe der Birthler-Behörde
aufzuklären. Für ihren Mut können wir den damaligen
Akteuren nicht dankbar genug sein.
({2})
Es ist unerträglich, wenn wir in regelmäßigen Abständen damit konfrontiert werden, dass Mandatsträger die
Öffentlichkeit über ihre Zusammenarbeit mit der Stasi
täuschen. Im Potsdamer Landtag führen Linke und leider
auch die SPD seit Monaten ein Stasi-Schmierenstück
erster Güte auf.
({3})
Erst gestern berichtete die Presse über einen Pädagogen
und SPD-Lokalpolitiker aus Brandenburg, der als IM
„Wolfgang“ mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Genau dieser IM hat sich mit Lehrmaterialien über die Geschichte der Stasi für Brandenburger Schulen befasst.
Das ist ein für mich unfassbarer Vorgang.
({4})
Der Gesetzgeber hat mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Regelung geschaffen, mit der ehemalige StasiMitarbeiter aus öffentlichen Ämtern ferngehalten werden sollen. Die sogenannte Regelüberprüfung auf StasiTätigkeit ist in den §§ 20 und 21 des Stasi-UnterlagenGesetzes geregelt. § 20 erfasst einen klar definierten Personenkreis von Richtern über Soldaten bis zu Beamten.
Es ist den Opfern der Stasi nicht zu vermitteln, wenn die
Täter von einst in Amt und Würden leben dürfen, während die Geschädigten selbst oft in Gefängnissen wertvolle Jahre ihres Lebens verloren haben oder auf andere
Weise in ihrem Leben beschränkt wurden. Deswegen
und gerade auch wegen der aktuellen Ereignisse in Brandenburg ist sich die Koalition einig, dass die Überprüfung auf Stasi-Mitarbeit auch 20 Jahre nach dem Mauerfall über 2011 hinaus möglich sein muss.
({5})
Ein Schlussstrich kommt für uns nicht infrage.
Schon in der 16. Wahlperiode hat die FDP-Bundestagsfraktion die Stärkung der Aufarbeitung des StasiUnrechts gefordert. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik und Westberlins haben mindestens 3 000 inoffizielle Mitarbeiter der Stasi gewirkt. Sinnbildlich für
dieses Problem steht der Fall der IM „Helene“ im Bundeswirtschaftsministerium. Hier handelt es sich laut
Stasi-Akten um eine noch heute aktive, allerdings nicht
leitende Beamtin, die vor dem Fall der Mauer für das
MfS spioniert hat. Bei der letzten Novellierung des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes 2006 wurde die Überprüfung
von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes
auf die Leitungsebene beschränkt. Demzufolge kann das
BMWi als Dienstherr laut Stasi-Unterlagen-Gesetz keinen Einblick in die Stasi-Akte der Beamtin nehmen, um
dienstrechtliche Maßnahmen einzuleiten.
Deswegen werden wir Liberale uns nicht nur dafür
einsetzen, dass die Regelüberprüfung über 2011 verlängert wird, sondern auch dafür, dass bei begründetem
Verdacht einer willentlichen und wissentlichen StasiMitarbeit diese Überprüfung auch für Beamte und Angestellte unterhalb der Leitungsebene möglich sein soll.
Danke.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Kaster, Sie haben hier wörtlich gesagt,
Gregor Gysi habe junge Menschen ans Messer geliefert.
({0})
Ich fordere Sie auf, diesen ungeheuren Vorwurf zurückzunehmen.
({1})
Das ist nicht die Art und Weise, wie wir in einem Parlament miteinander umgehen sollten. Das ist ungeheuerlich. Das können Sie nicht beweisen. Das nehmen Sie
bitte im Namen der politischen Kultur zurück.
({2})
Zuerst habe ich heute gedacht, ich lese nicht richtig.
Wann läuft die Regelung des im Jahre 2006 novellierten
Stasi-Unterlagen-Gesetzes aus, führende Beamte und
Angestellte im öffentlichen Dienst, kommunale Wahlbeamte, ehrenamtliche Richter, Sportfunktionäre, Intendanten usw. usw. auf eine eventuelle Stasi-Vergangenheit
zu überprüfen? Ende Januar 2010? In einem halben
Jahr? Ende 2010? Weit gefehlt. Sie läuft 2011 aus, also
in 23 Monaten. Deswegen müssen wir uns heute in einer
Aktuellen Stunde mit diesem Thema befassen. Ich muss
Ihnen ehrlich sagen: Das nenne ich eine Phantomdebatte, eine Gespensterdebatte.
({3})
In Wirklichkeit geht es Ihnen doch gar nicht um eine Gesetzesnovellierung; denn Sie haben ja keinen Antrag
oder sonst etwas eingebracht; Sie hantieren nur mit ein
paar Zeitungsmitteilungen. Es geht Ihnen um etwas ganz
anderes: Es geht Ihnen um eine Debatte über Brandenburg, wo die SPD mit der Linken regiert, was Ihnen
nicht gefällt, und es geht Ihnen um uns, Die Linke, insgesamt.
({4})
Dann sagen Sie das doch endlich! Dann führen wir eine
Debatte über die Linke und über Brandenburg, aber
nicht eine Debatte über die Änderung eines Gesetzes, die
erst in 23 Monaten auf der Tagesordnung steht. Das ist
kein Thema für eine Aktuelle Stunde.
({5})
Wir können gern über die Brandenburger Fälle von
Stasi-Verstrickungen reden. Diese Fälle haben uns Linke
schwer getroffen. Kennen Sie den Beschluss unserer
Partei aus dem Jahre 1991? Wer für ein Amt kandidiert,
muss offenlegen, ob es Stasi-Zusammenarbeit gab und
welcher Art sie war. Thomas Nord zum Beispiel hat dies
seit Jahren so gehalten: Er führt die Tatsache in seinem
Flyer auf, den er in einer Auflage von 30 000 Exemplaren hat drucken lassen. Jeder, der ihn gewählt hat, wusste
Bescheid. Thomas Nord wurde übrigens direkt gewählt;
aber das nur nebenbei.
({6})
Im Fall von Gerd-Rüdiger Hoffmann wussten die
Wähler nicht Bescheid und die Partei Die Linke und die
Fraktion im Landtag auch nicht. Gerd-Rüdiger Hoffmann
wurde aus der Fraktion ausgeschlossen.
Wenn die Wahrheit jahrelang verschwiegen wird, hat
das meiner Meinung nach nichts mit Überprüfungsregelungen zu tun, sondern mit Ängsten und mit der Verbreitung von Ängsten. Wenn wir Offenheit wollen - und die
wollen wir -, müssen wir uns mit der Vergangenheit differenziert auseinandersetzen.
({7})
Das ist aber etwas ganz anderes als die Diskussion, die
Sie führen, und Ihr Vorstoß heute. Was wird heute hier
gefordert? Die Überprüfung von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst bis 2016 fortzusetzen,
({8})
mit der Option auf eine weitere Verlängerung. Das wären dann 25 Jahre Überprüfung oder noch länger.
Ich frage Sie: Soll es nie eine Verjährung für StasiVerstrickungen geben?
({9})
Zum Rechtsstaat gehört der Rechtsgedanke der Verjährung, im Strafrecht wie im Zivilrecht.
({10})
Die Zeit spielt bei Fragen der Schuld eine entscheidende
Rolle. Selbst die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung oder der schweren Freiheitsberaubung verjähren nach zehn Jahren. Bei schwerer Vergewaltigung
ist die Tat ebenfalls nach zehn Jahren verjährt, und das
darf bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst nicht
einmal geprüft oder ermittelt werden. Auch dort gibt es
immer Betroffene, die diese Verjährung nicht verstehen.
Der Rechtsstaat hat sie dennoch beschlossen.
Wissen Sie von der FDP eigentlich, was Burkhard
Hirsch 1991 gesagt hat, nachdem beschlossen worden
war, dass 15 Jahre lang überprüft werden soll? Ich
zitiere:
Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer
Rechtstradition widerspricht, einem Täter über einen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzuhalten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz
habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbarmungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sagen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in
diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuchtung der Vergangenheit endet …
Das war vor 19 Jahren, und das war die Stimme eines
hochangesehenen FDP-Abgeordneten. Dem ist nichts
hinzuzufügen.
({11})
Jetzt kommt unser Credo als Linke, das wir - das wird
ja immer gefordert - wie ein Mantra vor uns her tragen
sollen: Ja, wir sind für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, und zwar je vertiefter und differenzierter,
desto besser; aber wir sagen Nein zu weiteren Überprüfungsfristen für den öffentlichen Dienst. Wir haben
schon die Verlängerung der Überprüfungsfristen über
2006 hinaus abgelehnt, weil wir dadurch das Prinzip der
Verhältnismäßigkeit verletzt sehen. Für eine Verlängerung bis 2016 oder über 2016 hinaus gilt das erst recht.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Frau Kollegin Jochimsen, die Gysi-Debatte hatten wir hier vor einem halben Jahr. Es bleibt unvergessen, wie er hier einzog. Deswegen will ich gar nicht darauf eingehen.
Aber zum Stichwort „ans Messer liefern“: Vor kurzem hat Herr Gysi vor laufender Fernsehkamera Ihren
Bundesgeschäftsführer ans Messer geliefert.
({0})
Selbst Ihr Parteivorsitzender Bisky fühlte sich an stalinistische Zeiten erinnert.
Ich rede gerne zu Brandenburg. Ich habe diese Aktuelle Stunde - wir haben sie nicht beantragt - so verstanden, dass wir auch zu aktuellen Dingen reden.
({1})
Matthias Platzeck hat - das hätte er lieber nicht tun
sollen - die Bildung der rot-roten Regierung als eine
Geste der Versöhnung überhöht und behauptete damit
werde „ein ungesunder Riss“ geheilt, der sich „auch
nach 20 Jahren … wieder zunehmend“ durch die ostdeutsche Gesellschaft ziehe. Dann kam der Nazivergleich; auch den erspare ich Ihnen nicht. Platzeck wörtlich:
Die gelungene Demokratisierung, die Westdeutschland nach 1945 sehr zügig zu einem anerkannten
Staat unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur
unter der Voraussetzung gelingen, dass ehemalige
Mitläufer und, wo verantwortbar, selbst Täter des
Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt
blieben, sondern einbezogen wurden.
Dass ich das noch erleben durfte! Eine Rehabilitierung der Globkes und Oberländers nach dem Vorbild der
„Bonner Ultras“ - so hieß es früher immer bei Ihnen ist nun auf einmal beispielhaft. Das kommt nicht von
uns, nicht von Hubertus Knabe, sondern von Ihrem
Koalitionspartner; aber Sie haben danach nicht halb so
laut aufgeschrien, wie Sie eben aufgeschrien haben. Das
ist wirklich unglaublich.
({2})
Aufgestöhnt haben andere, zum Beispiel Richard
Schröder. Er fragte verstört: „Versöhnung mit wem?“
Zitat:
Dass ein Riss durch die ostdeutsche Gesellschaft
gehe, halte ich für eine überdramatisierende Beschreibung. Nach einer Revolution gibt es unvermeidlich Verlierer, nämlich die Privilegierten der
Diktatur. Die Position, die sie nur in einer Diktatur
haben konnten, konnten sie eben deshalb danach
nicht mehr haben: SED-Bezirkschef, Politbüromitglied. Solche „Verlierer“ gibt es besonders viele in
der Ost-Linken. … Und natürlich stilisieren sie alle
sich als Opfer. Aber auf mein Mitleid warten sie
vergeblich. Sie werden auch gar nicht darauf rechnen.
Richard Schröder lag so richtig wie fast immer. An einer Stelle muss man ihn korrigieren: Nicht alle SED-Bezirkschefs fielen tief; manche fielen gar nicht. Heinz
Vietze blieb gleich auf seinem alten Arbeitsplatz im
Kreml sitzen und war bis zur Wahl die graue Eminenz in
Brandenburg; jetzt leitet er als Vorstandsvorsitzender
Ihre Rosa-Luxemburg-Stiftung. Selbst wenn ich wollte
- das muss ich Ihnen sagen -, fiele mir gar kein Nazivergleich ein.
({3})
Jetzt sagen Sie hier stolz: Alle haben doch vorher offengelegt; Herr Nord, die Fraktionsvorsitzende Kaiser,
der Innenpolitiker Scharfenberg usw. haben gesagt, dass
sie bei der Stasi waren. Das ist es doch: Sehenden Auges
hat man dieses Bündnis geschlossen. Der Fehler von
Platzeck war - das muss man so hart sagen -, dass er den
Schlussstrich vor der Aufarbeitung ziehen wollte. Das
klappt nie, das klappt nirgendwo, das ist krachend schiefgegangen.
({4})
Wir freuen uns, dass Brandenburg mit Ulrike Poppe nunmehr endlich eine Stasi-Landesbeauftragte hat. Wir
freuen uns, dass nun eine Enquete-Kommission diese
Merkwürdigkeiten vom Anfang der 90er-Jahre enthüllen
will.
Ich komme noch einmal auf Heinz Vietze zurück. Er
hat den schönen Satz gesagt:
Ich habe keine Berichte für die Stasi geschrieben.
Sie wurden für mich geschrieben.
Da hat er etwas Wahres gesagt: Die Stasi war Ihr Auftragnehmer, Schild und Schwert Ihrer Partei. Das müssen Sie endlich klären. Stattdessen geht Ihre designierte
Parteivorsitzende Gesine Lötzsch zur Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der
DDR. Das tut sie nicht etwa, um denen die Meinung zu
sagen,
({5})
um gegen deren Geschichtsrevisionismus vorzugehen,
sondern um sich dort als Heilige Johanna der Alttschekisten abfeiern zu lassen. Das ist ein Skandal; dazu müssen Sie Stellung nehmen.
({6})
Sie wollen auch noch Sahra Wagenknecht zur stellvertretenden Parteivorsitzenden machen. Für sie war die
DDR „das friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen, das sich die Deutschen im Gesamt ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“; Erich Honecker gebühre deshalb „unser bleibender Respekt“. Die Mauer ist
für sie eine Maßnahme „zur Grenzbefestigung …, die
dem lästigen Einwirken des feindlichen Nachbarn ein …
Ende setzte“. An der Mauer wurden selbst Kinder in Ihrem Auftrag erschossen.
Wie menschenfreundlich das Gesicht der DDR war,
können Sie am besten im Stasi-Knast in Hohenschönhausen sehen, einem Ort völliger Entrechtung und Demütigung. Sie glauben doch nicht, dass Sie mit dieser
personellen Aufstellung auch nur als Diskurspartner, geschweige denn als Bündnispartner infrage kommen. Das
ist eine Schande.
({7})
Abschließend: Wir haben eine Aufarbeitungsinstanz,
das ist die Birthler-Behörde. Wir müssen sie besser ausstatten und dürfen die Aufarbeitung nicht ins Bundesarchiv abschieben. Die geschredderten Akten müssen
endlich zusammengesetzt werden. Hierdurch sind neue
Erkenntnisse zu erwarten.
({8})
Es muss für die Zukunft dieser Behörde geplant werden.
Ich schließe mit einem Zitat von Marianne Birthler:
Das Ziel der Aufarbeitung ist zunächst, dass die
Opfer mit ihrem Schicksal klarkommen und die Täter zu ihrer Verantwortung stehen. Versöhnung ist
etwas Zusätzliches, sie kann sich aus der Auseinandersetzung zwischen Opfern und Tätern ereignen.
Sie braucht die Wahrheit und oft auch Zeit, und sie
lebt von der Einsicht der Täter.
Diese Einsicht - das ist die bittere Wahrheit - haben
Sie von der Linkspartei bis heute vermissen lassen.
Vielen Dank.
({9})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Andrea
Voßhoff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Als ich gefragt wurde, ob ich in dieser Aktuellen
Stunde heute reden wolle, habe ich einen Moment gezögert. Wenn man wie ich das Glück hatte, frei von Zwängen einer Diktatur und ohne Stasi aufwachsen, studieren
und arbeiten zu dürfen, dann sollte man beim Umgang
mit diesem Thema vielleicht etwas zurückhaltend sein.
Dass ich dennoch rede, hat zwei Gründe:
Zum einen ist es meine feste Überzeugung, dass wir
nach wie vor eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung
und Verantwortung haben, die Folgen der DDR-Diktatur
aufzuarbeiten - auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer.
({0})
Darin werde ich auch durch viele Gespräche mit SEDOpfern bestätigt, deren Lebens- und Leidensweg uns allen dauerhaft Verpflichtung sein muss. Liebe Frau
Jochimsen, ich weiß nicht, wie oft Sie Gelegenheit hatten, mit diesen Opfern zu reden. Tun Sie es! Sie müssten
dann einen Teil Ihrer heutigen Aussagen mehr als korrigieren.
({1})
Zum anderen können die politischen Ereignisse in
Brandenburg natürlich nicht unkommentiert bleiben.
Dass die Brandenburger SPD aus machttaktischen Gründen eine rot-rote Koalition eingegangen ist, ist ein demokratischer Vorgang, auch wenn mir dies politisch nicht
gefällt. Bitter und von einer fatalen Symbolik sind aber
die Tatsachen, dass der Koalitionsvertrag für die Partei
Die Linke von früheren Stasi-Spitzeln unterzeichnet
wurde und dass in der Folgezeit weitere führende linke
Landtagsabgeordnete als IM enttarnt wurden. Wochenlang haben Schlagzeilen die Medienlandschaft beherrscht, wonach die Stasi in Brandenburg mit am Regierungstisch sitzt und das Land im Stasi-Sumpf versinkt.
Offenbar mit der Absicht, aus diesen Negativschlagzeilen herauszukommen, hat Ministerpräsident Platzeck
diese Koalition sodann kurzerhand als Versöhnungsprojekt mit einem fragwürdigen historischen Vergleich ausgerufen. Verehrter Herr Ministerpräsident, das ist ein untauglicher Versuch. Versöhnung kann man nicht per
Koalitionsbeschluss anordnen. Sie setzt - das ist heute
gesagt worden - Aufarbeitung voraus. Versöhnung und
Vergebung sind zudem keine politischen Kategorien. Sie
können nur in Anspruch genommen werden, wenn die
Opfer konsequent darin eingebunden werden.
({2})
Was gehörte zu einer der ersten Amtshandlungen dieser neuen Landesregierung? Anfang Januar kam heraus,
dass der neue brandenburgische Finanzminister von den
Linken eine langjährige Verwaltungspraxis des Landes
aufgehoben hat, die beinhaltete, etwaige systemnahe
Dienstzeiten der Landesbeamten für Dienstjubiläumszuwendungen nicht anzuerkennen. Sollte den ehemaligen
Mitarbeitern des MfS durch diese Anrechnung auch der
systemnahen Jahre bei Jubiläen im öffentlichen Dienst
so kurz vor Weihnachten noch ein schönes Geschenk auf
den Gabentisch gelegt werden? Das ist ein Hohn gegenüber den Opfern.
({3})
Es scheint aber wohl so zu sein, dass man dadurch, dass
es öffentlich geworden ist, jetzt auf dem Rückzug ist und
dies verhindern will. Und das ist auch gut so.
Wenn dann in den Medien aktuell auch noch berichtet
wird - das ist heute schon genannt worden -, dass ein
früherer Stasi-Spitzel Lehrpläne für die Behandlung der
Stasi im Unterricht an Brandenburger Schulen schreiben
konnte, dann zeigt dies, wie dringend dieses Thema auf
die politische Tagesordnung und auch in dieses Haus gehört.
({4})
Die Ereignisse in Brandenburg machen zweierlei
deutlich: Zum einen hat die Linke in der Aufarbeitung
der Stasi-Verstrickungen komplett versagt. Das ist auch
heute wieder deutlich geworden.
({5})
Sie haben sich zur Rechtsnachfolge der SED bekannt.
Dies hat Ihr Bundesschatzmeister vor noch nicht einmal
einem Jahr an Eides statt versichert. Die daraus möglicherweise resultierende besondere Verantwortung haben
Sie schlicht nicht wahrgenommen. Nur darauf hinzuweisen, dass sich die Betreffenden selbst outen sollen, reicht
nicht, meine Damen und Herren von den Linken.
({6})
Sie stehen jetzt durch die Ereignisse in Brandenburg vor
dem Scherbenhaufen Ihrer immer wieder behaupteten
Aufarbeitungsbemühungen.
Meine Damen und Herren von der SPD, werben Sie
bei Ihren Genossen in Brandenburg für das, was seit einigen Wochen immer wieder eindrucksvoll von vielen
Bürgern auf einer Montagsdemo in Potsdam gefordert
wird, nämlich die SPD-Stasi-Koalition in Brandenburg
zu beenden!
({7})
Zum anderen müssen wir uns in diesem Hause fragen,
ob im Lichte der Brandenburger Ereignisse bundespolitischer Handlungsbedarf besteht. Das ist heute schon erwähnt worden. Ich kann mich dem nur anschließen.
Auch ich stimme den Überlegungen zu, die im Jahr 2011
auslaufende Frist zur Regelanfrage nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz zu verlängern.
Die Verlängerung ist notwendig. Denn einen Schlussstrich darf es erst recht nach den aktuellen Entwicklungen in Brandenburg nicht geben, auch nicht im Jahr 20
nach dem Fall der Mauer. Das sind wir vor allem den
Opfern schuldig.
({8})
Sich zu ihnen immer wieder zu bekennen, ist das eine.
Immer wieder zu hinterfragen und Schlussfolgerungen
zu ziehen, ob wir ihrem Schicksal ausreichend Rechnung tragen, ist das andere. Deshalb ist es zu begrüßen,
dass die christlich-liberale Koalition im Koalitionsvertrag eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verbesserung der
Situation der Opfer, aber auch zur weiteren Aufarbeitung
der SED-Unrechtsdiktatur vereinbart hat. Ich denke, das
ist mehr als notwendig.
Manche fragen, ob das alles im Jahr 20 noch erforderlich ist. Dafür darf es keine zeitliche Begrenzung geben.
({9})
Ich glaube - das hat auch Herr Thierse heute gesagt -,
die Aufarbeitung der Geschichte ist eine Daueraufgabe.
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Brigitte
Zypries das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Die friedliche Revolution von 1989 war für Deutschland und die Welt ein
großartiges Ereignis. Wie bei jeder Revolution stellt sich
auch hier die Frage nach der Verantwortung der Täter
des alten Regimes.
Einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung hat unsere
Justiz geleistet: Sie hat die Schreibtischtäter des Politbüros zur Verantwortung gezogen, und sie hat jene angeklagt, die als Mauerschützen an der Grenze geschossen
haben. Bei diesen einfachen Grenzsoldaten stand sicherlich nicht die Vergeltung im Vordergrund. Die Strafen
fielen auch zumeist sehr milde aus.
Es ging um etwas, was auch bei den Stasi-Verstrickungen wichtig ist: um Aufklärung, Transparenz und
um Offenlegung der historischen Wahrheit. Das ist - das
haben einige meiner Vorredner schon betont - vor allem
für die Opfer der Diktatur bis heute sehr wichtig.
Mit der Gründung der Gauck-Behörde wurden die institutionellen Voraussetzungen für die Aufarbeitung der
Stasi-Vergangenheit geschaffen. Mehr als 2,6 Millionen
Bürgerinnen und Bürger haben seither Einsicht in ihre
Akten beantragt. Das zeigt, wie sehr die Menschen in
Ost und in West mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit beschäftigt sind. Es ist seit Jahren kein Rückgang zu
verzeichnen. Im letzten Jahr gab es über 100 000 Anfragen zur persönlichen Akteneinsicht.
Dabei geht es im Wesentlichen um persönliches Fehlverhalten, um moralische Schuld. Gerade diejenigen, die
im wiedervereinigten Deutschland in demokratisch gewählten Organen Verantwortung übernehmen wollen,
müssen sich meines Erachtens dieser Frage nach ihrer
Vergangenheit stellen. Denn die Menschen, die bei der
Wahl über die künftigen Abgeordneten entscheiden, haben ein Recht darauf, über die moralische Integrität der
künftigen Volksvertreter vollständig informiert zu sein.
Es ist gewiss nicht einfach, sich selbstkritisch mit der
eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Es geht auch
keineswegs nur um die Stasi. Eine Stütze der Diktatur
waren auch die vielen Funktionäre der Blockparteien.
Politische Überheblichkeit ist deshalb völlig fehl am
Platz.
({0})
Sich der eigenen Vergangenheit kritisch zu stellen, ist
eine große persönliche Herausforderung für jeden, der
davon betroffen ist. Aber gerade von den Menschen, die
im demokratischen Deutschland mitgestalten wollen,
kann man dieses Maß an Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie erwarten. Die Bürger verstehen das
auch, und sie respektieren es. Denn wie anders ist es zu
erklären, dass Abgeordnete gewählt werden, obwohl sie
ihre Stasi-Vergangenheit offengelegt haben?
Das zeigt, dass ein offener Umgang mit der eigenen
Vergangenheit durchaus auch positiv wahrgenommen
wird. Ich denke etwa an die ehemalige DDR-Sprinterin
Gesine Tettenborn. Sie hat sich gerade in dieser Woche
große Hochachtung erworben, weil sie ihren Weltrekord
von 1984 aus der Bestenliste hat streichen lassen. Sie
hatte diesen Rekord damals mit Doping erzielt. Sie sagt
heute dazu: Ich will nicht lügen.
Unter diese Maxime sollten auch alle Abgeordneten
in den Parlamenten des Bundes und der Länder ihre Arbeit stellen. Deshalb fordere ich alle Kolleginnen und
Kollegen auf: Scheuen Sie sich nicht, der Wahrheit ins
Auge zu sehen! Sorgen Sie selber für Klarheit, und setzen Sie sich mit den Fehlern der Vergangenheit ehrlich
auseinander!
Mir ist noch etwas anderes wichtig. Das betrifft vor
allem die Kolleginnen und Kollegen, die wie ich aus
Westdeutschland stammen. Ich meine, für Überheblichkeit bei uns ist kein Platz. Wir sollten stattdessen anerkennen, dass sich Menschen ändern können, dass man
aus seinen Fehlern lernen kann und dass jeder das Recht
auf eine bessere Einsicht hat. Das ist im Übrigen auch
eine Erfahrung der alten Bundesrepublik. Dort waren
Kurt Georg Kiesinger, Walter Scheel oder Karl Carstens
gute Demokraten, obwohl sie früher Mitglieder der
NSDAP gewesen waren.
Aber die Lehre aus der westdeutschen Geschichte ist
auch, dass dort die Schatten der Vergangenheit zu lange
verdrängt worden sind. Das ist heute anders, und das
muss auch so bleiben. Jeder muss sich auch künftig umfassend über seine Stasi-Vergangenheit informieren
können. Deshalb wird die SPD dafür eintreten, dass die
Gültigkeitsdauer des Gesetzes über die Stasi-Unterlagen
verlängert wird und dass die Birthler-Behörde bestehen
bleibt.
Es wäre schön, wenn wir auch die Robert-HavemannGesellschaft künftig mit einer institutionellen Förderung
bedenken und von der Projektförderung wegkommen
könnten, um diesen Anteil der Erinnerung an die DDR
und der Aufarbeitung dieser Zeit auch noch bewältigen
zu können.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Kurth das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Zypries, das, was bisher vorgetragen wurde, war doch sehr abstrakt. Aber wir alle
wissen: Das Leben ist konkret, und das Wirken der Stasi
war konkret. Auch die Wirkung der Stasi bis heute bleibt
konkret:
Renate Adolph, Die Linke, Landtag Brandenburg,
enttarnt Ende 2009; Gerlinde Stobrawa, Die Linke, IM
„Marisa“, enttarnt Ende 2009; Gerd-Rüdiger Hoffmann,
Die Linke, Landtag Brandenburg, IM „Schwalbe“, enttarnt Ende 2009.
Brandenburg ist das eine. Sind neue Daten aufgetaucht? - Nein. Ende 2008: Volker Külow, Die Linke,
Sächsischer Landtag, IM „Ostap“. Mitte 2006: Ina
Leukefeld, thüringischer Landtag, IM „Sonja“ für die
politische Kriminalpolizei. Frank Kuschel - ein besonders schwerer Fall -, IM „Fritz Kaiser“, sitzt bis heute
im thüringischen Landtag.
Das sind nur einige wenige konkrete Fälle, von denen
wir sicher wissen. Es gibt aber zum jetzigen Zeitpunkt
noch mehr Fälle, von denen wir noch gar nichts wissen.
Es gibt leider auch Fälle, von denen wir wissen, über die
wir aber nichts sagen dürfen - leider.
({0})
- Sie haben es doch vorhin bewiesen. Wir haben ja eben
von IM „Notar“ und von ähnlichen Dingen gehört.
Patrick Kurth ({1})
({2})
Das Perfide an diesem System ist doch: Es sind alles
Beispiele dafür, wie ehemalige Stasi-Spitzel oder -Mitarbeiter über all die Jahre seit der Wende ihre Tätigkeit
bewusst verschwiegen haben. Sie haben sich dem einen
Staatsapparat angedient und haben dann, wenn man so
möchte, im nächsten Staatsapparat nahtlos weiter
Karriere machen wollen. Das ist der eigentliche Skandal:
weiterhin Karriere machen. Das ist ein Schlag in das Gesicht der Opfer.
({3})
Wer glaubte, einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des DDR-Unrechts ziehen zu können, sieht sich gerade durch die Vorfälle in Brandenburg getäuscht. Es ist
nicht möglich. Großer Dank an die Birthler-Behörde, die
hier - manchmal mit Gegenwind - engagiert arbeitet,
und Dank auch an diejenigen, die sich immer wieder
politisch für die Aufarbeitung einsetzen. Bei uns war es
Herr Lanfermann, der immer wieder forderte: Wir brauchen einen Stasi-Unterlagenbeauftragten in Brandenburg. - Er wurde dafür auch zurechtgewiesen. Es hieß,
man brauche so etwas nicht mehr. Erst als Herr Platzeck
gar keine andere Wahl mehr hatte, hat er sich zu einem
solchen Schritt entschließen können. Das war viel zu
spät, wie wir nun wissen; denn sonst wären manche Koalitionen erst gar nicht zustande gekommen.
({4})
Der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck
spricht davon, dass Zeit für eine Versöhnung sei. Was
heißt denn Versöhnung? Das heißt, zwei gehen aufeinander zu. Kann man denn von Versöhnung sprechen, wenn
einer die ganze Zeit verheimlicht, was er gemacht hat,
und erst durch einen Dritten enttarnt wird? Kann man
denn dann von Versöhnung in dem Sinne sprechen, dass
zwei aufeinander zugehen? Ich glaube, für eine Versöhnung muss zuallererst das ganze Ausmaß des Unrechts
aufgedeckt und aufgearbeitet werden. Vor allem muss
die Wahrheit ans Licht gebracht werden.
({5})
Solange sich die Täter des Stasi-Unrechtssystems dem
nicht stellen und sich nicht ehrlich damit auseinandersetzen, sondern heimlich weiterhin in hohen - zum Teil
staatlichen - Ämtern fungieren, ist eine Versöhnung sehr
schwierig. Zum Teil ist sogar das Gegenteil von Versöhnung der Fall. Es ist Hohn und Spott für die Opfer und
unsere demokratische Gesellschaft, wenn sich ehemalige
Stasi-Offiziere regelmäßig unter die Teilnehmer von
Veranstaltungen mischen und die Wortergreifungsstrategien extremistischer Parteien nutzen. Solange das passiert, brauchen wir eine Aufarbeitung.
Wir brauchen Aufarbeitungsbemühungen aus folgenden Gründen, über die zumindest unter den Demokraten
hier im Parlament Konsens herrschen muss:
Erstens. Die politische Hygiene ist immer Grundlage
des demokratischen Zusammenlebens und der demokratischen Zusammenarbeit. Wer einst seine engsten Bekannten ausspioniert hat und dies auch 20 Jahre nach der
Wende verheimlicht, gehört der in die öffentliche Verwaltung oder in die Parlamente?
Zweitens. Wir dürfen mit den Aufarbeitungsbemühungen nicht nachlassen, weil wir erst jetzt die technischen Möglichkeiten haben
({6})
- Ihre Wortergreifungsstrategien hatte ich schon angesprochen -, die vielen Aktenschnipsel zusammenzusetzen. Bisher gibt es Puzzler, die jeden Tag versuchen, die
Akten wiederherzustellen, ohne zu wissen, welches Bild
am Ende herauskommen soll. Nun wird durch das
Fraunhofer-Institut ein System entwickelt, das die Aktenschnipsel automatisch zusammensetzt. Sie wissen sicherlich oder haben sogar eine bessere Ahnung als ich,
wessen Akten in den letzten Stunden der DDR bzw. der
Wende zuerst vernichtet wurden.
Drittens. Wir dürfen mit den Aufarbeitungsbemühungen nicht nachlassen, weil wir es insbesondere den Opfern schuldig sind. Mir geht es dabei um folgende Opfer:
Die Stasi hat eine perfide Methode angewendet. Sie hat
irgendwann die Betreffenden nicht mehr in den Knast
gesteckt, sondern durch ganz andere Maßnahmen mundtot gemacht. Wer denkt denn an diejenigen, die kein Abitur machen durften?
({7})
Wer denkt denn an diejenigen, die nicht studieren durften? Wer denkt denn an diejenigen, die einfache Tätigkeiten bzw. Berufe ausüben mussten und nach der
Wende arbeitslos wurden? Das ist das Verschulden derjenigen, die gespitzelt haben.
({8})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Viertens.
Wir brauchen eine weitere Aufarbeitung, um urteilsfähig
zu bleiben; das ist das Wichtigste. Aufarbeitung betreiben wir auch wegen der Erinnerung und der Sühne. Aber
wir müssen urteilsfähig bleiben. Urteilsfähigkeit heißt,
aus der Geschichte zu lernen. Urteilsfähigkeit heißt, die
Erkenntnisse für die Zukunft zu gebrauchen. Urteilsfähigkeit heißt, nichts zu vertuschen. Urteilsfähigkeit
heißt, dass auch die nachwachsenden Generationen aus
diesem Unrecht lernen und richtige Entscheidungen treffen können, auch in Abwesenheit von Zeitzeugen.
Herzlichen Dank.
({9})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, ein
Hinweis: Es gab offensichtlich das eine oder andere
Missverständnis in der Auslegung der Geschäftsordnung. Aus mehreren Fraktionen wurde das Bedürfnis
nach Fragen bzw. Stellungnahmen signalisiert. Wir sind
aber in der Aktuellen Stunde und haben uns selbst die
Vizepräsidentin Petra Pau
Regel gegeben, dass das in einer Aktuellen Stunde nicht
möglich ist. Auch wenn das den einen oder anderen bis
zum Ende dieser Debatte beschweren wird, wird man
diese Auseinandersetzung woanders führen müssen. Ich
sage aber auch ausdrücklich: Zurufe und Beifallsbekundungen sind nach unserer Geschäftsordnung natürlich
vorgesehen. Auch darüber existierte offensichtlich ein
Missverständnis.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Tiefensee für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe junge Gäste! In der Aktuellen
Stunde zum anhaltenden Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung von Stasi-Verstrickungen haben Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben Koalition, vernommen,
({0})
dass wir als SPD sowohl für eine Fristverlängerung als
auch für den Fortbestand der Birthler-Behörde stehen.
({1})
Jetzt könnte man sich fragen, warum eigentlich diese
Aktuelle Stunde stattfindet.
({2})
Mich beschleicht das Gefühl, dass mit dieser Aktuellen
Stunde und mit deren Überschrift eine Subbotschaft vermittelt werden soll, nämlich die, dass die christlich-liberale Koalition aus Damen und Herren bestehe, die sich
dieses Themas mit dem erhobenen Zeigefinger, sozusagen mit der weißen Weste, annehmen und es okkupieren
könnten, während auf der anderen Seite diejenigen stünden, die Belehrung benötigten.
({3})
Ich will ganz deutlich sagen: Die SPD-Fraktion braucht
in der Tradition von Schwante vom 7. Oktober 1989
keine Belehrung, wie wir mit Stasi und Unrecht in der
DDR umgehen.
({4})
Jetzt stellt sich die Frage: Spielt nicht etwa Brandenburg die Hauptrolle? Wenn es so ist, dann hätte man das
ja anders vermerken können. Hierzu als Erstes: Lieber,
verehrter Kollege Kurth, Sie haben auf die Fakten und
auf das Konkrete hinweisen wollen. Wieso unterläuft Ihnen der Fehler, hier nicht deutlich zu sagen, dass Ministerpräsident Platzeck das Stasi-Unterlagen-Gesetz und
die Einrichtung der Beauftragten nicht etwa im Zusammenhang mit der Koalitionsbildung in Angriff genommen hat, sondern bereits weit zuvor, dass es sein Vorschlag ist, der einstimmig angenommen wurde, die von
mir sehr verehrte Ulrike Poppe einzusetzen? Warum tun
Sie so, als habe es erst der Koalitionsverhandlungen oder
irgendwelcher Machtoptionen bedurft, um diesen Schritt
zu gehen? Das ist falsch, das ist nicht redlich, und es
stellt den Ministerpräsidenten in ein falsches Licht. Das
weise ich zurück.
({5})
Das Zweite. Wenn wir auf Brandenburg schauen, ist
Folgendes Tatsache: Wir hatten es - das klang bei
Wolfgang Thierse bereits an - zunächst mit einer Ampelkoalition und schließlich mit einer Großen Koalition
zu tun, die diese Schritte einvernehmlich gegangen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses
Thema eignet sich nicht, um mit Schaum vor dem Mund
so zu tun, als hätte man eine weiße Weste. Mir persönlich hat man in meinem Leben vor 1989 viele Steine in
den Weg gelegt; aber ich werde sie, um einen biblischen
Vergleich aufzugreifen, nun nicht als Erster werfen und
so tun, als hätte ich keine Schuld. Wichtig ist, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der schwarz-gelben
Koalition: Lassen Sie ab davon, so zu tun, als wären Sie
die einzigen Gralshüter in dieser Angelegenheit! Auch
wir stehen dazu, dass wir in dieser Richtung Aufarbeitung brauchen.
({6})
Worum geht es jetzt? Es geht letztlich darum, dass wir
die Geschichte aufarbeiten, weil es nicht zuletzt für die
jungen Leute wichtig ist, zu erkennen, dass die Diktatur
eine Diktatur des Alltags gewesen ist, eine Diktatur, die
sowohl aus Stasi und Partei als auch aus den vielen bestanden hat, die mitgelaufen sind.
Ich will in Richtung der Linken, wenn ich Ihnen diesen Ratschlag geben darf, nachdrücklich sagen: Nutzen
Sie jede Gelegenheit, um deutlich zu machen, dass diese
DDR nicht nur ein Unrechtsstaat gewesen ist, sondern
dass Mauer, Schießbefehl und Stasi die Geschäftsgrundlage der DDR gewesen sind, nicht aber eine irgendwie
nebensächliche Fehlentwicklung! Tun Sie alles dafür,
dass nicht verniedlicht und verharmlost wird!
({7})
Tun wir auf der anderen Seite alles dafür, um differenziert zu sagen: Die DDR bestand aus Menschen, die
ihr Leben gelebt haben und die durch die Stasi nicht desavouiert wurden.
Es geht also um eine differenzierte Aufarbeitung. Angesichts der Tatsache, dass der ehemalige, bis zum Jahre
2008 stellvertretende Ministerpräsident von Brandenburg, Herr Junghanns, noch im Juli 1989 sagte: „Was die
Mauer betrifft, so lassen wir uns deren Schutzfunktion
nicht ausreden“, und dass die Biografie des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen stückweise ans Tageslicht kommt, sie gedeutet und umgedeutet wird,
({8})
sollten wir alles dafür tun, sehr differenziert mit dieser
Angelegenheit, vor allen Dingen aber mit den Menschen
umzugehen, die in einem Rechtsstaat das Recht haben,
dass die Diktatur nach rechtsstaatlichen und nach
menschlichen Gesichtspunkten aufgearbeitet wird. Das
ist die Bundesrepublik Deutschland, die wir gewollt haben.
({9})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
Unionsfraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Vorfälle in Brandenburg in den letzten Wochen und Monaten, aber auch die
heutige Debatte - das sage ich ganz offen - zeigen, dass
es weiteren Aufklärungs- und Handlungsbedarf bei der
Aufarbeitung von Stasi-Verstrickungen gibt.
({0})
Herr Kollege Tiefensee, ich möchte dem Eindruck, den
Sie zu erwecken versuchen, entgegentreten, nämlich
dass die christlich-liberale Koalition das SchwarzerPeter-Spiel betreibt und wir hier mit dem erhobenen Zeigefinger stehen. Ich möchte dies in aller Deutlichkeit
von uns weisen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es
nach wie vor in den nächsten Jahren und in den nächsten
Jahrzehnten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein
wird, alles dafür zu tun, dass dieses krasse und menschenunwürdige Unrechtsregime, das 40 Jahre in der
DDR geherrscht hat, aufgearbeitet wird. Man darf keinen Schlussstrich ziehen.
({1})
Ich möchte durchaus zugestehen, dass es ehrenwerte
SPD-Politiker gab, die sich dieser Bemühungen in den
letzten 20 Jahren angenommen haben. Ich möchte aber
genauso in aller Deutlichkeit hier zum Ausdruck bringen, dass ich den Versuch des brandenburgischen Ministerpräsidenten Platzeck, jetzt von einer großen Versöhnungskampagne zu sprechen, für reichlich naiv und
kurzsichtig halte.
({2})
Versöhnung kann nur individuell erfolgen.
Ich halte es für sehr bemerkenswert und bedenklich,
dass es selbst 20 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch Montagsdemonstrationen bedarf, in denen
„Stasi raus!“-Rufe skandiert werden, um deutlich zu machen, dass hier noch vieles aufgeklärt werden muss. Um
eines klarzumachen: Versöhnung kann und wird immer
nur individuell sein, Versöhnung kann aber auch nur auf
Wahrhaftigkeit beruhen. Versöhnung kann nur auf Aufklärung aufbauen.
({3})
Deswegen ist es notwendig, dass weiterhin alles dafür
getan wird, dass die perfiden Verbrechen, die von der
Stasi begangen wurden, weiter aufgearbeitet werden.
({4})
Es gibt nun einmal im Bundesland Brandenburg große
Unzulänglichkeiten. Es gab seit 1991 keine Überprüfung
eines Landtagsabgeordneten auf eine informelle Mitarbeit bei der Stasi. Das Land Brandenburg hat als erstes
Bundesland der neuen Länder schon 1995 die Regelüberprüfung im öffentlichen Dienst eingestellt. Erst jetzt,
20 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist auf den starken
Druck der CDU im Brandenburgischen Landtag hin
({5})
eine Stasi-Unterlagenbeauftragte berufen worden. Das
ist eine himmelschreiende Unzulänglichkeit, meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei.
({6})
An Zynismus und Sarkasmus nicht mehr zu übertreffen
ist es meines Erachtens, dass Finanzminister Markov,
der der Linkspartei angehört, angeordnet hat, dass die
Mitgliedsjahre bei der Stasi bei der Berechnung von
Dienstjubiläen angerechnet werden. Das ist eine Verhöhnung der Zigtausend Stasi-Opfer, die verleumdet wurden, die gefoltert wurden und von denen viele ums Leben kamen.
({7})
Deswegen ist es richtig, dass der Spiegel von dieser Woche „Das organisierte Vergessen“ titelt und Frau Birthler
vom „Kartell des Schweigens“ spricht.
Die Stasi kann auch in diesem Zusammenhang nicht
isoliert betrachtet werden. Die Stasi wurde in der ehemaligen DDR als das „Schild und Schwert der Partei“ bezeichnet. Die Stasi hat nun einmal das totalitäre und diktatorische Herrschaftssystem der DDR gestützt und
gesichert. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Ich halte es
für außerordentlich bedenklich, dass es in stärkerem
Maße Versuche gibt, dieses Unrechtsregime zu beschönigen und zu verharmlosen.
({8})
Die DDR war ein unterwandertes Land. In den 40 Jahren, in denen es die DDR gab, arbeiteten insgesamt über
600 000 DDR-Bürger informell für die Stasi. Selbst im
Dezember 1988 waren nach offiziellen Statistiken noch
174 000 Bürgerinnen und Bürger der DDR Informelle
Mitarbeiter der Stasi.
({9})
Stephan Mayer ({10})
Ich kann allen nur das jüngste Werk von Jürgen
Schreiber mit dem Titel Die Stasi lebt empfehlen. Ich
glaube, das bringt es auf den Punkt. Die Stasi lebt, weil
diejenigen, die in der Stasi aktiv waren, die Informelle
Mitarbeiter waren, nach wie vor in verantwortungsvoller
Position in unserem Land und insbesondere in Brandenburg tätig sind.
({11})
Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Es ist wirklich
außerordentlich zynisch und perfide, dass die Stasi im
brandenburgischen Landtag immer noch über Fraktionsstärke verfügt.
({12})
Das Interesse an der Stasi ist ungebrochen. Deswegen
ist es notwendig, dass wir uns weiterhin mit ihr beschäftigen. Jährlich steigt die Anzahl der Anträge von Personen, die sich über die Stasi informieren wollen, die Einblick in ihre Stasi-Akten oder in andere Akten, die über
sie geführt wurden, nehmen wollen. Deswegen ist es
richtig, dass es über das Jahr 2011 hinaus die Möglichkeit gibt, nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz Überprüfungen derjenigen vorzunehmen, die exponierte Positionen und Ämter in unserem Staat einnehmen wollen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich glaube, dass
es ganz wichtig ist, die Gedenkstätte in Hohenschönhausen zu stärken. Es ist für Gesamtdeutschland peinlich,
dass die Gedenkstätte in Hohenschönhausen im letzten
Jahr kurz vor der Insolvenz stand. Ich kann nur jeder
Bürgerin und jedem Bürger, insbesondere den jungen
Leuten in Deutschland empfehlen, diese Gedenkstätte zu
besuchen. Dann wird einem nämlich schnell bewusst,
dass die Ostalgie, die teilweise um sich greift, vollkommen deplatziert ist. Wir, der Bundestag, müssen alles dafür tun, dass die Gedenkstätte in Hohenschönhausen unter der hervorragenden Leitung von Dr. Knabe weiterhin
so erfolgreich und so konstruktiv wirken kann.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als wir Anfang der 90er-Jahre begannen, die Aufarbeitungsdebatte über die DDR-Geschichte, die Rolle der
SED und ihres „Schildes und Schwertes“, der Staatssicherheit, zu strukturieren - wie Sie wissen, hat der
Deutsche Bundestag zu diesem Zweck eine EnqueteKommission eingesetzt -, gab es immer wieder Stimmen, die meinten, man solle den Aufbau und Einheitsprozess nicht durch das ewige Bohren in der Vergangenheit belasten und stören; denn das könnte sich wie eine
Krake lähmend auf das vereinte Deutschland legen, und
man komme nicht so voran, wie man sich es wünsche.
Gott sei Dank war das nicht die Meinung der Mehrheit
in unserem Land.
({0})
Andere glaubten, dass bald „Gras über die Aufarbeitungsdebatte zur Stasiverstrickung wachsen“ werde, und
hofften, sich unbehelligt eine neue persönliche Karriere
aufbauen zu können. Auch sie tippten falsch. Schon der
Volksmund weiß, dass irgendwann ein „Esel“ daherkommt, der das Gras frisst, und dann alles wieder zum
Vorschein kommt. Brandenburg ist ein beredtes Beispiel.
({1})
Ich weiß nicht mehr, wie oft wir hier im Hohen Haus
die Notwendigkeit der Aufarbeitung von SED-Herrschaft und Stasi-Verstrickungen debattiert haben. Aber
ich weiß, dass es richtig ist - das hat auch die Aktuelle
Stunde gezeigt -, neben den vielen aktuellen politischen
Zukunftsaufgaben in der Befassung mit unserer jüngsten
Geschichte nicht nachzulassen; denn Zukunft hat Herkunft. Wenn die Fragen nach Verstrickung und Verantwortung verstummen, die Verdrängung System bekommt
und ein kollektives Schweigen normal wird, dann ist unsere Demokratie in Gefahr.
({2})
Doch die Instrumente, die wir uns gegeben haben, von
der Aktenaufbewahrung und -aufarbeitung in der StasiUnterlagen-Behörde über das Stasi-Unterlagen-Gesetz
bis hin zu unseren Landesbeauftragten, von denen Brandenburg nun Gott sei Dank auch einen bekommt, sichern, dass die damals Herrschenden heute nicht sagen
können: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. - Das
meiste von dem, was die Verantwortungsträger damals
durch Bespitzelung und Repression veranlasst haben zu
dokumentieren, richtet sich heute zum Teil auf sie selbst.
Sowohl die Befehls- als auch die Umsetzungsstrukturen
der SED und ihrer Helfershelfer sind uns bekannt. Trotzdem gibt es noch eine Menge zu erforschen. Wir sollten
nicht nachlassen. Schritt für Schritt kommen wir der
Wahrheit näher.
Der menschenverachtende Charakter, der hinter diesem System stand, mahnt uns, nach wie vor darauf zu
achten, dass sich die damaligen Machtinhaber nicht aus
der Verantwortung herauswinden können. Nächste Woche wird es 20 Jahre her sein, dass sich die SED von ihrem Parteikürzel trennte und sich PDS nannte. Egal, wie
sich die vereinte Linke heute oder in Zukunft nennt, sie
steht - wir haben es heute gesehen - in der Tradition der
SED; denn diese Partei hat sich nie aufgelöst.
({3})
Wir wissen heute, dass viele Menschen unter Druck
gesetzt wurden oder auch aus Karrieregründen Fünfe gerade sein ließen, aber später aus Gewissensgründen oder
durch Einsicht einen Schlussstrich gezogen haben. Wir
brauchen - das sage ich ausdrücklich auch an Herrn
Tiefensee - sie alle für die vielen Aufgaben in unserem
Land. Das gehört zur Demokratie. Wir reichen ihnen die
Hand. Das entspricht unserem christlichen Menschenbild; denn dazu gehört auch die Vergebung. Was wir aber
nicht brauchen und was wir auch nicht zulassen werden,
ist, dass die Stasi-Verstrickung bei der Berufung in hohe
öffentliche Ämter keine Rolle mehr spielen soll. Das
wäre verantwortungslos gegenüber der Zukunft.
({4})
Stasi-Verstrickung und ein hohes öffentliches Amt in einer Demokratie, das ist wie Feuer und Wasser; das passt
nicht zusammen. Deshalb handelt es sich hierbei auch
um eine Frage der Eignung für das hohe Amt, das angestrebt wird.
Wie schwierig es ist, im konkreten Fall nach Vorlage
von Unterlagen aus der Behörde der BStU in den Vertrauensgremien eine objektive Bewertung und eine Empfehlung für die jeweils betroffene Person auszusprechen,
das haben wir auf allen Entscheidungsebenen erlebt.
Trotzdem dürfen und werden wir uns vor dieser Aufgabe
auch in Zukunft nicht scheuen.
Wir haben mit dieser Aktuellen Stunde erreicht, dass
bis auf die Fraktion der Linken alle Fraktionen in diesem
Hohen Hause erklärt haben, bei einer Veränderung der
Frist für die Regelüberprüfung bei der Übernahme hoher
politischer Ämter oder Mandate mitzuwirken. Darauf
freuen wir uns. Das ist doch ein gutes und schönes Ergebnis dieser Aktuellen Stunde.
Vielen Dank.
({5})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur
Änderung steuerlicher Vorschriften
- Drucksache 17/506 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich all diejenigen, die an ebendieser teilnehmen wollen, Platz zu nehmen, und diejenigen,
die anderen Verpflichtungen nachgehen müssen, uns zu
ermöglichen, dass wir dieser Aussprache entsprechend
folgen können.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Hartmut Koschyk.
({1})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem jetzt in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf werden erforderliche Anpassungen des deutschen
Steuerrechts an europäische Vorgaben vorgenommen.
Zum einen ist der nationale Gesetzgeber aufgerufen, das
Umsatzsteuerrecht an sekundäres Gemeinschaftsrecht
anzupassen. Zum anderen bedürfen vom Europäischen
Gerichtshof in jüngster Zeit getroffene Entscheidungen
der Umsetzung in nationales Recht. Auch werden in diesem Gesetzentwurf zwei wichtige steuerpolitische Maßnahmen, die Gegenstand des Koalitionsvertrages von
CDU, CSU und FDP sind, aufgegriffen. Dies betrifft
zum einen die Einschränkung der Umsatzsteuerbefreiung auf Post-Universaldienstleistungen, mit denen eine
flächendeckende Grundversorgung der Bevölkerung mit
postalischen Dienstleistungen sichergestellt wird. Zum
anderen geht es um die steuerliche Förderung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen.
Die Liberalisierung auf dem Postmarkt macht eine
Anpassung der geltenden Umsatzbesteuerung von Postdienstleistungen erforderlich. Dass eine derartige Anpassung nicht einfach ist, können wir alle daran sehen, dass
es in der letzten Legislaturperiode nicht gelungen ist,
sich auf eine einvernehmliche Lösung zu einigen. Denjenigen, die daran denken, alle Postdienstleistungen umsatzsteuerpflichtig zu machen, ist entgegenzuhalten, dass
die EU-Mitgliedstaaten auch nach dem Wegfall des
Postmonopols für die Postdienstleistungen öffentlicher
Posteinrichtungen, die dem Gemeinwohl dienen, eine
Befreiung von der Umsatzsteuer vorsehen müssen.
Die Mehrwertsteuerbefreiung bleibt für flächendeckende Universaldienste in der Postbranche erhalten.
Unter die Begünstigung fallen somit Leistungen, die
eine Versorgung der Gesamtbevölkerung zuverlässig
gewährleisten. Die Unternehmen müssen sich verpflichten, tatsächlich flächendeckend und bundesweit alle
Post-Universaldienstleistungen oder einen Teilbereich in
einer bestimmten Qualität und zu einem angemessenen
Preis anzubieten. So kann sichergestellt werden, dass
Postdienstleistungen auch weiterhin für die breite Bevölkerung, das heißt für jede Bürgerin und jeden Bürger,
erschwinglich bleiben.
({0})
Mit einer solchen Regelung, die allen Unternehmen
ermöglicht, Postdienstleistungen an Letztverbraucher
bei Erfüllung bestimmter Kriterien steuerbefreit anbieten
zu können, erreichen wir eine Gleichbehandlung gleicher Umsätze. Neue Wettbewerbsnachteile entstehen
nicht; sie werden vielmehr beseitigt.
({1})
Auf der anderen Seite bedeutet dies aber auch: Werden
die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt, kann keine
Umsatzsteuerbefreiung mehr gewährt werden. Dies be1646
trifft beispielsweise Geschäftskundenprodukte, für die
individuelle Absprachen getroffen worden sind.
Die zweite Maßnahme aus der Koalitionsvereinbarung betrifft die steuerliche Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligungen. Bisher ist bei der Steuerbefreiung
der Mitarbeiterkapitalbeteiligungen, die 2009 durch das
Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz eingeführt wurde,
die Entgeltumwandlung, das heißt die Umwandlung von
regulärem Arbeitslohn in Mitarbeiterkapitalbeteiligungen, ausgeschlossen. Dies wird in der Praxis vielfach als
hemmend angesehen. Mit der Neufassung der steuerlichen Norm nehmen wir uns jetzt dieser Problematik an.
Insgesamt versprechen wir uns von der Verbesserung der
Rahmenbedingungen zur steuerlichen Förderung der
Mitarbeiterkapitalbeteiligung die weitere Verbreitung
von Arbeitnehmerbeteiligungen und eine stärkere Teilhabe der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg ihrer
Unternehmen.
({2})
Die Bundesregierung sieht dabei übrigens keinen
Zielkonflikt zwischen Mitarbeiterkapitalbeteiligung und
betrieblicher Altersversorgung. Der steuerliche Förderrahmen für die Altersversorgung beträgt bis zu
4 440 Euro im Jahr und liegt damit deutlich höher als die
steuerliche Förderung von Vermögensbeteiligungen in
Höhe von maximal 360 Euro. Auch ist der Anteilserwerb durch Arbeitnehmer kein Beitrag zur Altersvorsorge, da die Anteile jederzeit veräußert werden können.
Im Ergebnis muss jeder Arbeitnehmer für sich entscheiden, welche Form der staatlichen Förderung er in Anspruch nimmt.
Lassen Sie mich kurz die anderen Maßnahmen des Gesetzespaketes vorstellen. Es geht um eine Neufassung der
entsprechenden Normen des Umsatzsteuergesetzes. Dies
dient dazu, die Richtlinie zur Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen von Dezember 2008 umzusetzen. Mit der Neuregelung schaffen wir
nun auch in Deutschland die Voraussetzungen für einen
noch schnelleren Austausch von Informationen über Umsätze zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten. Schließlich erweitern wir im Einklang mit den europäischen Vorgaben den Kreis der Unternehmer, die eine UmsatzsteuerIdentifikationsnummer erhalten können.
Zudem geht es um die Umsetzung von zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. So ist jetzt vorgesehen, die Zulageberechtigung bei der Inanspruchnahme
der sogenannten Riester-Förderung an das Bestehen einer
Pflichtversicherung in der inländischen gesetzlichen
Rentenversicherung bzw. an den Bezug einer inländischen Besoldung zu koppeln. Außerdem sollen die Regelungen für die steuerlich geförderte zusätzliche private
Altersvorsorge künftig auch für die Anschaffung bzw.
Herstellung einer selbstgenutzten Wohnimmobilie im
EU- oder EWR-Ausland gelten.
Wir sehen auch eine Änderung der degressiven Abschreibung von bestimmten Gebäuden vor. Sie soll künftig auch bei solchen Gebäuden möglich sein, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder
des Europäischen Wirtschaftsraums gelegen sind.
Schließlich geht es um die Umsetzung einer weiteren
Entscheidung des EuGH. In Zukunft sind auch Spenden
an gemeinnützige Einrichtungen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in Staaten des europäischen Wirtschaftsraums steuerlich abziehbar.
Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass die
Koalitionsfraktionen im Zusammenhang mit diesem Gesetzespaket auch bei anderen wichtigen Fragen Änderungen vornehmen. Ich darf in diesem Zusammenhang
folgende Stichworte nennen: Funktionsverlagerung,
Erleichterungen für Leasingunternehmen und die Einbeziehung des CO2-Emissionszertifikatehandels in Maßnahmen zur Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug bei
Karussellgeschäften. Sie sehen, noch nicht einmal
100 Tage nach Bildung dieser Regierung legen wir ein
weiteres wichtiges Maßnahmenpaket vor,
({3})
das auf der einen Seite wichtige EU-Maßnahmen umsetzt und auf der anderen Seite Impulse für Wachstum
und Beschäftigung in Deutschland setzt.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir behandeln heute ein Sammelsurium ganz
unterschiedlicher Regelungen, die die Regierung als
Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben bezeichnet. Ich
möchte zunächst mit dem Kernpunkt des Gesetzentwurfes, mit der Umsatzsteuerbefreiung für Post-Universaldienstleistungen, beginnen. Das Urteil des EuGH bildet
dabei die Basis für diese Debatte.
Einen Aspekt möchte ich etwas näher beleuchten,
nämlich die Frage, ob auch Leistungen, die in AGBs geregelt sind, umsatzsteuerbefreit sind. Im Gesetzentwurf
wird dies verneint. Die SPD-Bundestagsfraktion ist jedoch der Auffassung, dass sie sehr wohl umsatzsteuerbefreit sein sollten. Die entscheidende Frage dabei lautet:
Wen will das europäische Recht durch die Umsatzsteuerbefreiung, die es für Universaldienstleistungen gewähren will, begünstigen? Soll nur der private Endverbraucher, der seinen einzelnen Brief beim Postamt oder bei
der Verkaufsstelle des Mitbewerbers einliefert, steuerlich entlastet werden, oder soll auch der gemeinnützige,
nicht vorsteuerabzugsberechtigte Verein, der per Mailing
zu einer Spendenaktion für Erdbebenopfer aufruft, gemeint sein?
Ich habe die Gelegenheit genutzt, bei einem Wohlfahrtsverband in meinem Wahlkreis nachzufragen. Die
jährlichen Ausgaben für Porto belaufen sich dort auf
über 25 000 Euro. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf würden knapp 5 000 Euro Mehrkosten entstehen.
({0})
Ich frage Sie: Ist dies für einen solchen Träger überhaupt
zumutbar? Wie viel ist dies hochgerechnet auf alle betroffenen Träger ehrenamtlicher Leistungen?
({1})
Wer zahlt für diese Mehrkosten letztendlich die Zeche?
({2})
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes trifft zu
der Frage, ob dies von der Umsatzsteuer befreit werden
soll, nach meiner Auffassung keine eindeutige Feststellung. Ich meine allerdings, dass es dem Gedanken der
Europäischen Union eher entspricht, wenn man auch
diese Leistung in die Umsatzsteuerbefreiung einbezieht.
Diese Auffassung bestätigt im Übrigen auch eine große
Wirtschaftskanzlei, die sicherlich nicht im Ruf steht,
wettbewerbsfeindlich zu sein.
({3})
Die Anhörung wird mit Sicherheit nichts anderes ergeben; denn schließlich will die EU eine Grundversorgung
aller Bürgerinnen und Bürger mit Postzustellung und
Postabsendung fördern. Die ehrenamtliche Tätigkeit gehört sicherlich zu dieser Grundversorgung. Wir halten
die Regelung im Gesetzentwurf für falsch, die die Leistungen aus Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht
von der Umsatzsteuer befreit; denn sie stehen grundsätzlich allen Bürgern zu gleichen Bedingungen zur Verfügung und unterscheiden sich damit ganz wesentlich von
den individuell ausgehandelten Leistungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
aber noch kurz auf Ihre Änderungsanträge eingehen.
Grundsätzlich begrüßen wir es, dass dem Umsatzsteuerbetrug im Emissionshandel durch die Anwendung von
Reverse Charge begegnet werden soll.
({4})
Zeitlich ist dies gerade noch rechtzeitig, um einen entsprechenden Beschluss des Bundesrates vorwegzunehmen. Aber ein bisschen verwundert hat mich dies schon;
denn die Bundesregierung hat mir auf meine schriftliche
Frage am 28. Dezember 2009 noch geantwortet, dass sie
keine Daten über das Umsatzsteueraufkommen und die
damit zusammenhängenden Betrugsfälle durch die entgeltliche Übertragung von CO2-Zertifikaten hat. Jetzt,
vier Wochen später, stellen Sie auf einmal die Eilbedürftigkeit fest, die ein normales Gesetzgebungsverfahren
unmöglich macht.
({5})
Das ging ganz schön schnell; aber wir freuen uns, dass
Sie jetzt unsere Erkenntnisse teilen.
Ein kleiner Wertungswiderspruch, Kolleginnen und
Kollegen von der Union, entsteht allerdings, wenn der
Handel mit Schrott und Altmetall sowie die Gebäudereinigung nicht gleichzeitig in dieses eilbedürftige Verfahren, das Reverse-Charge-Verfahren, aufgenommen werden, obwohl dort schon in der letzten Legislaturperiode
Einigkeit über die Handlungsnotwendigkeit bestand.
Hier wollen Sie - so Ihre Ankündigung - stattdessen ein
reguläres Gesetzgebungsverfahren abwarten, obwohl die
Länder auf eine Regelung drängen.
Damit nicht genug; Sie schieben uns noch zwei weitere Änderungen unter, die einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen den Volksparteien zeigen.
({6})
Was Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Union, mit
uns in der Regierung nicht machen konnten, setzen Sie
jetzt durch.
({7})
Während die SPD bei der Unternehmensteuerreform das
Interesse an Steuereinnahmen mit dem Interesse der Unternehmen abgewogen hat, zählt für Sie offensichtlich
nur das, was Ihre Geldgeber sich von Ihnen wünschen.
({8})
Die Wunscherfüllung erfolgt erstaunlich schnell, nämlich umgehend. Oder wie erklären Sie sich, dass Sie auf
ein Schreiben eines Lobbyisten hin
({9})
plötzlich Leasingunternehmen begünstigen?
({10})
Könnte dies eventuell, gegebenenfalls damit zusammenhängen, dass die Capital Lease Transportmittel GmbH
der CDU in den letzten sechs Jahren 230 800 Euro gespendet hat?
({11})
Wie dem auch sei; umso wichtiger ist es deshalb, dass
wir die Vielzahl an Regelungen zum Thema einer Anhörung machen, um uns auch hier intensiv beraten zu lassen.
({12})
Schließen möchte ich mit einem Ceterum censeo für
diese Legislaturperiode. Ceterum censeo: habitudinem
favoris clientium esse abolendam. Wer eine Übersetzung
wünscht, ist herzlich eingeladen, der späteren Debatte
über die Aufhebung der Umsatzsteuerermäßigung bei
Hotels zu folgen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Frau Kollegin Bätzing, es ist schon sonderbar, wie Sie
hier irgendwelche Konstruktionen darlegen. Wenn wir
uns die veröffentlichten Spenden der SPD genauer anschauen und daraus konstruieren, was Sie jeweils in Gesetzesform umgewandelt haben, kämen auch wir auf
eine sehr lange Liste.
({0})
Aber diese schäbige Art der Auseinandersetzung machen wir bestimmt nicht mit.
({1})
Wir haben heute das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben zu beraten, ein Gesetz, das das deutsche Steuerrecht EU-freundlicher machen wird. Das
werden auch die Bürgerinnen und Bürger spüren. Als
Beispiel sei die Vereinfachung der Altersvorsorge genannt; denn wir werden die Gewährung der Altersvorsorgezulage unabhängig vom Wohnsitz der jeweiligen
Person garantieren.
Mit dem Gesetz werden wir auch einen drohenden
Umsatzsteuerbetrug beim CO2-Emissionshandel bekämpfen. Scheingeschäfte mit Klimazertifikaten haben
in mehreren europäischen Ländern Steuerverluste von
knapp 5 Milliarden Euro verursacht. Allein in Bayern
untersucht die Münchner Steuerfahndung dubiose Transaktionen in dreistelliger Millionenhöhe. Bislang waren
vor allem Großbritannien, Frankreich, Dänemark, die
Niederlande und Spanien betroffen. Vielleicht ist das
auch die Erklärung dafür, Frau Bätzing, dass Sie am
28. Dezember die von Ihnen zitierte Auskunft bekommen haben; denn es droht jetzt nach Deutschland zu
wandern.
({2})
Der Handel mit CO2-Verschmutzungsrechten gilt als
effizientes Mittel im Kampf gegen den Klimawandel.
Doch wie die europäische Polizeibehörde Europol mitteilte, könnten in einigen Staaten bis zu 90 Prozent des
Handelsvolumens auf Betrug zurückgehen. Durch das
Grundkonzept für den Steuerbetrug durch sogenannte
Karussellgeschäfte wird die spezifische Regelung des innergemeinschaftlichen Erwerbs genutzt. Deshalb reagieren wir jetzt mit konkreten Änderungen im Steuersystem; denn diese milliardenschweren kriminellen
Betrügereien gefährden die Glaubwürdigkeit des gesamten EU-Emissionshandels.
Großbritannien und Frankreich wählten den ersten
möglichen Weg. Die Niederlande und Spanien wählten
einen anderen Weg. Auch wir halten das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren für die Emissionsrechte als Sofortmaßnahme für den besseren Weg, den wir nun auch
gehen werden. Damit schieben wir nicht nur den befürchteten Einnahmeausfällen bei den Finanzämtern einen Riegel vor, sondern bannen auch die Gefahr des
Reputations- und Vertrauensverlustes im gesamten CO2Markt.
({3})
Langfristig sollten wir aber auch hier die Umstellung
von der Soll- auf die Ist-Besteuerung prüfen; denn die
Ist-Besteuerung würde dem Umsatzbetrug die Grundlage komplett entziehen.
Ein weiteres großes Thema ist die Neuregelung der
gewerbesteuerlichen Hinzurechnung von Finanzierungsaufwendungen für Finanzdienstleistungsunternehmen,
also zum Beispiel Leasingunternehmen. Neben den Kreditinstituten leisten nämlich auch die Leasingunternehmen einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Finanzierungssituation in Deutschland, insbesondere der
des Mittelstandes. Diese Leasingunternehmen wurden
bisher gegenüber anderen Finanzunternehmen steuerlich
benachteiligt, und ich sage: bewusst benachteiligt.
({4})
Diese Benachteiligung beenden wir.
({5})
Wir entschärfen damit in der Krise eine Ungleichheit gerade in der Mittelstandsfinanzierung und lösen gleichzeitig eine Investitionsbremse, was den vielen mittelständischen Unternehmen in Deutschland helfen wird.
({6})
Durch eine verstärkte Investitionstätigkeit vor Ort werden gerade auch die Kommunen profitieren.
({7})
Lassen Sie mich klar sagen: Mit dem Ende dieser Benachteiligung ergibt sich eine Gleichstellung, keine Privilegierung.
({8})
Diese Zuspitzung aus der linken Hälfte dieses Hauses ist
ein unverhältnismäßiger Angriff auf die vielen Leasingunternehmen in unserem Land, die auch in schwierigen
Zeiten einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierungssicherheit in Deutschland geleistet haben.
({9})
Wir erleichtern mit unserer Politik die Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand; denn bei der FDP hat
der Mittelstand nicht nur in Sonntagsreden seinen Platz.
({10})
Im Zentrum unserer Politik stehen die vielen kleinen
mittelständischen Unternehmen in unserem Land. Deshalb machen wir eine mittelstandsfreundliche Politik.
({11})
Wir haben für die vielen mittelständischen Unternehmen, die keine großen Steuerbüros haben, eine weitere
Erleichterung geschaffen. Wir beseitigen die negativen
Auswirkungen der Regelung der Funktionsverlagerung
auf den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland. Wir haben bewusst keine Pflicht für den Unternehmer vorgeschrieben, sondern wir lassen jedem einzelnen
Unternehmen ein Wahlrecht, sodass jeder Unternehmer
selbst entscheiden kann, welche Bewertung für ihn am
unbürokratischsten und sinnvollsten ist.
Damit erreichen wir, dass die Besteuerung von sogenannten Funktionsverlagerungen den internationalen
Standards entspricht und nicht zulasten deutscher Arbeitsplätze geht. Im Zukunftsbereich Forschung und
Entwicklung erleichtern wir damit zusätzliche Investitionen in Deutschland und schaffen günstigere Rahmenbedingungen für die Entstehung neuer, zukunftssicherer
Arbeitsplätze in unserem Land.
({12})
Eine weitere Frage, über die wir heute zu diskutieren
haben, ist die Umsatzsteuerregelung im Postsektor.
({13})
Der Markt für Postdienstleistungen hat in den letzten
Jahren seine Rolle als Wachstumsmotor bestätigt. Für
die Verbraucher hat der dynamische Wettbewerb zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen mit stabilen Preisen geführt. Gleichwohl wird der Wettbewerb zwischen
der Deutschen Post AG und anderen Postdienstleistern
nach wie vor durch eine unterschiedliche umsatzsteuerliche Behandlung beeinträchtigt.
({14})
Zu Beginn des Jahres 2008 konnte im Postsektor
ein vielseits erwarteter Meilenstein erreicht werden:
Nach fast 500-jähriger Bestandskraft wurde das
staatliche Monopol für die Beförderung von Briefen zugunsten einer zeitgemäßen Wettbewerbslösung aufgegeben und der Markt vollständig geöffnet. Der Weg zu neuen Geschäftsmodellen, zu mehr
Wachstum und Innovation ist seitdem frei.
Das ist nicht von mir,
({15})
sondern das schreibt die Bundesnetzagentur in ihrem aktuellen Tätigkeitsbericht.
Frau Bätzing, ich glaube, dass Sie einem großen
Missverständnis erliegen: Eine Umsatzsteuerverpflichtung heißt nicht automatisch, dass die Preise um
19 Prozent steigen.
({16})
Im Wettbewerb sinken die Preise nämlich. Das ist der
entscheidende Punkt.
({17})
Hören Sie auf, ein Klima der Angst zu schüren, indem
Sie sagen, dass wir uns Briefe in Zukunft nicht mehr
leisten können. Wir sind hier in einem Bereich, in dem
von der Regulierungsbehörde genehmigte Entgelte festgesetzt werden, und die gelten.
({18})
Festzuhalten bleibt: Wir marktwirtschaftlichen Ordnungspolitiker sind zurück in der Regierungsverantwortung. Wir schieben dem Steuerbetrug einen Riegel vor.
Wir beenden steuerliche Ungleichheiten und sorgen so
für mehr Wachstumsimpulse. Wir schaffen mehr Wettbewerb, von dem die Verbraucher insgesamt profitieren,
sowohl durch niedrigere Preise als auch durch ein vielfältigeres Angebot an Dienstleistungen.
Ich danke.
({19})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schwarz-Gelb macht im neuen Jahr genau da
weiter, wo sie im alten Jahr aufgehört haben: Sie verteilen weiter Steuergeschenke für große Konzerne, und das
Ganze unter falscher Flagge.
({0})
Man muss allerdings sagen, dass das Einfallstor für
diese rasante und einfache Umsetzung des Vorhabens die
SPD für Sie geöffnet hat. Gemeinsam setzten Sie - leider - die Unternehmensteuerreform 2008 durch. Das hat
mindestens 10 Milliarden Euro Mindereinnahmen verursacht. Damit ist das ein Geschenk an die Konzerne.
({1})
Als Feigenblatt bauten Sie damals wenigstens einige
Gegenfinanzierungsmaßnahmen ein.
({2})
Die braucht Schwarz-Gelb jetzt nur noch - eine nach der
anderen - einzukassieren, um auf diese Art und Weise
weitere große Entlastungen für die Konzerne bereitzustellen. Das haben Sie im Dezember mit Ihrem Klientelbedienungsgesetz getan.
({3})
Weitere 3 Milliarden Euro werden uns dadurch mindestens verloren gehen, die Sie den großen Konzernen
schenken.
({4})
Diesmal täuschen Sie vor, dass Sie nur EU-Vorgaben
umsetzen wollen. Aber Sie mogeln wieder einfach Steuergeschenke an die Konzerne in dieses Gesetz.
({5})
Ich mache Ihnen das an drei Beispielen deutlich:
Erstens. Die Rücknahme einer Gegenfinanzierungsmaßnahme ist die eben von Ihnen erwähnte grenzüberschreitende Verlagerung von betrieblichen Funktionen.
Wir haben hier gemeinsam und einvernehmlich versucht, das zu begrenzen, weil es nicht der kleine Betrieb
ist, der Funktionsverlagerungen ins Ausland vornimmt.
Da müssen wir doch einmal ein bisschen in der wirtschaftlichen Realität bleiben.
({6})
Wer so etwas vornimmt, hat natürlich ein Steuerbüro.
Dieses wurde genutzt, um Gewinne im Ausland und Verluste im Inland zu verrechnen. Das wollen Sie jetzt wieder ermöglichen.
Zweitens: Ausweitung von Steuerprivilegien. Sie sagen, dass Sie jetzt hier die Ungleichbehandlung beseitigen. Am 20. Januar 2010 bekamen wir einen Brief vom
Deutschen Factoring-Verband, und am 26. Januar, sechs
Tage später, haben wir dann einen Umdruck der Koalition auf dem Tisch,
({7})
in dem das Anliegen dieses Verbandes eins zu eins übernommen wird. Es gehört schon einiges dazu, diese Klientelbedienungspolitik so dreist umzusetzen.
({8})
Ich frage Sie: Warum muss der Bäckermeister an der
Ecke Gewerbesteuer zahlen, Finanzdienstleister aber
nicht?
({9})
Das habe ich Sie hier schon vor zwei Jahren gefragt. Wir
brauchen eine Ausweitung der Gewerbesteuerpflicht,
um die Finanzkraft der Kommunen zu stärken. Wir sollten sie nicht weiter schwächen und dann noch erzählen,
das schaffe Arbeitsplätze.
({10})
Drittens. Sie machen hier eine steuersubventionierte
Lohnsenkung. Unternehmen sollen in Zukunft abgabenund steuerfrei einen Teil des Lohns in Vermögensbeteiligungen umwandeln können. Die Unternehmen haben
also eine doppelte Dividende: Löhne senken, Steuern
runter. Besser kann man sich das wirklich nicht vorstellen. Der Gipfel der Dreistigkeit ist: Sie weisen auf zwei
Umdrucken einfach einmal aus, dass das uns als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler überhaupt nichts kosten
würde, die Belastung würde 0 Euro betragen. Für wie
dumm halten Sie uns hier im Parlament und auch die Bevölkerung? Das geht wirklich zu weit.
({11})
Sie setzen hier ein Projekt um, an dem sich Peer
Steinbrück in der letzten Legislaturperiode schon einmal
versucht hatte. Sie wollen das bewährte System der flächendeckenden und universalen Bereitstellung von Postdienstleistungen aushöhlen und die Deutsche Post als deren einzige Anbieterin zerschlagen. Das ist Ihr Ziel. Das
Ganze verkaufen Sie hier, indem Sie sagen, dass Sie EUVorgaben umsetzen. Aber weder das angeführte Urteil
des Europäischen Gerichtshofs noch die Postdiensterichtlinie noch die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie - alles EU-Ebene - verpflichtet Sie, das zu tun.
Wenn von Ihnen die Frage gestellt wird, ob es nicht
sinnvoll sei, dass mehrere Briefkästen aufgestellt werden, frage ich: Ist es sinnvoll, dass an meinem Briefkasten pro Tag drei Briefträgerinnen vorbeikommen, von
denen eine von der Deutschen Post noch tariflich bezahlt
wird und die anderen, um im Wettbewerb großartig
Marktanteile erwerben zu können, zu Niedriglöhnen laufen müssen?
({12})
Das ist das Ziel Ihrer Politik. Dabei nehmen Sie in Kauf,
dass ein funktionierendes wichtiges Instrument im Bereich Infrastruktur hier einfach zur Disposition gestellt
wird. In der Art und Weise, wie Sie das hier vorstellen,
lehnen wir es ab.
({13})
Wir sind auf die Beratung gespannt. Die Punkte, die
ich hier kritisiert habe, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich freue mich, dass es in einigen Punkten
eine Übereinstimmung in der Opposition gibt, sodass Sie
da einen starken Widerstand erhalten werden.
Danke.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Thomas Gambke
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Gesetz zur
Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften“ - hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich eine Menge wichtiger Änderungen.
({0})
Manche sind notwendige Korrekturen - da gebe ich Ihnen
recht -, aber manche der Korrekturen sind substanzielle
Änderungen in der Steuergesetzgebung mit erheblichen
Auswirkungen. Ich finde es ganz schön erstaunlich, was
da sozusagen im Nebensatz mit durchgewinkt werden
soll.
({1})
- Zur Anhörung. Wir wollen einmal sehen, wie wir da
herauskommen.
({2})
Zunächst zur vorgeschlagenen Änderung der Umsatzsteuerregelung bei Postdienstleistungen. Schön, dass
jetzt auch die FDP die EU-Vorgaben zur Kenntnis nimmt
({3})
und das tut, was wir Grünen schon vor einem Jahr gefordert haben. Allerdings hat die FDP bereits angekündigt,
die jetzige Regelung kippen zu wollen. Das habe ich
sehr deutlich bei Ihnen herausgehört.
({4})
Plädiert die FDP bei den 7 Prozent für die Hoteliers aus
Wettbewerbsgründen für gleiche Mehrwertsteuersätze in
Europa, ist ihr das bei den Postdienstleistungen offensichtlich egal.
({5})
In den meisten Ländern der EU sind die Universalpostdienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit.
({6})
Aber zwischen den Zeilen sagen Sie, dass Sie zu etwas
anderem wollen, nämlich zu den 19 Prozent. Wenn man
die Spendentätigkeit der Deutschen Post mit der der Hotellerie vergleicht, kann man nur sagen: Ein Schelm, wer
Böses dabei denkt!
({7})
Der Wettbewerb, den wir uns wünschen - mit einer
vernünftigen Grenzziehung für die sogenannten Universalpostdienstleistungen -, wird durch den vorliegenden
Gesetzentwurf ermöglicht.
({8})
Über einzelne Grenzziehungen, zum Beispiel betreffend
die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, müssen wir im
Detail sicherlich noch reden.
({9})
Eine funktionierende Marktwirtschaft braucht klare
Marktregeln. Wir wollen mit diesen Regeln die Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen sicherstellen.
({10})
Die FDP aber - das ist mein Eindruck - will diese Verantwortung eigentlich nicht für alle Bürgerinnen und
Bürger übernehmen, sondern nur für eine bestimmte
Gruppe. Das ist Klientelwirtschaft, und das werden wir
Ihnen nicht durchgehen lassen.
({11})
So viel zu den Postdienstleistungen.
In diesem Gesetzentwurf stehen noch zwei Änderungen, zu denen ich kritisch etwas anmerken möchte. Die
eine ist die steuerliche Förderung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen. Die Einführung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen hat schon die Große Koalition beschlossen gegen unseren Willen. Sehenden Auges wollen Sie das
Gebot der Risikostreuung missachten und Angestellte
noch mehr den Risiken von Fehlentscheidungen des Managements aussetzen.
({12})
Es geht zwar auch um Chancen. Fakt bleibt aber, dass
Angestellte - und das auch noch staatlich gefördert - in
eine doppelte Abhängigkeit von ihrem Unternehmen gebracht werden: Geht es der Firma oder der Branche
schlecht, besteht die Gefahr, dass neben dem Arbeitsplatz auch noch die Altersrücklagen verloren gehen.
Durch die vorgeschlagene Regelung, einen Teil des Loh1652
nes für Unternehmensbeteiligungen einzusetzen, würde
das noch verstärkt.
({13})
Eine Regelung, den Vorstand nicht nur am Gewinn,
sondern auch an Verlusten des Unternehmens zu beteiligen, bringen Sie hier nicht ein. Die Mitarbeiter wollen
Sie diesen Risiken jedoch aussetzen. Das ist schlicht unverantwortlich und kann so nicht funktionieren.
({14})
Am Dienstagabend haben Sie en passant schnell noch
eine Änderung des Außensteuergesetzes eingebracht, die
Funktionsverlagerungen in Drittländer betrifft. Worum
geht es? Es soll verhindert werden, dass Konzerne die
Entwicklung hier in Deutschland als Aufwand steuermindernd geltend machen, die Gewinne aber ins Ausland verlagern können.
In der Regel wird das befeuert dadurch, dass ausländische Standorte mit geringer oder gar keiner Steuerlast locken. Zum Beispiel gewährt Singapur acht bis neun
Jahre Steuerfreiheit durch den sogenannten Pioneer-Status. Viele deutsche Unternehmen haben das ausgenutzt.
Das sollte dadurch verhindert werden, dass vor allem
die immateriellen Werte eines Geschäftes bei einer
Funktionsverlagerung ins Ausland durch die Bildung eines sogenannten Transferpaketes abgebildet werden. Natürlich wirft die Bewertung dieses Transferpaketes Probleme auf; d’accord.
({15})
Aber statt an einer Lösung des Problems zu arbeiten und
dabei die Ziele nicht aus dem Auge zu verlieren, wollen
Sie durch eine Rückkehr zu Einzelverrechnungspreisen
faktisch den alten Zustand wiederherstellen. So einfach
dürfen Sie es sich nicht machen, meine Damen und Herren.
({16})
Mit dieser Änderung bei Funktionsverlagerungen verzichten Sie auf Steuereinnahmen in Höhe von 1,8 Milliarden Euro, die als Gegenfinanzierung für die Unternehmensteuerreform 2008 eingeplant sind.
({17})
Angesichts der Haushaltslage ist das ungeheuerlich.
Wieder werden vor allen Dingen die Kommunen darunter zu leiden haben.
({18})
Sie geben eine wichtige Zielsetzung auf: War es nicht
Konsens in diesem Hause, dass wir verhindern müssen,
dass in Deutschland die Entwicklung gemacht wird, die
entsprechenden Gewinne aber im Ausland anfallen,
ohne dass zumindest ein Teil dieser Gewinne nach
Deutschland zurückfließt? Hier soll - die Lobby lässt
grüßen - mit heißer Nadel gestrickt werden. Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, an dieses
Thema müssen Sie mit mehr Tiefgang gehen. So können
wir Ihnen das nicht durchgehen lassen.
Vielen Dank.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der heute eingebrachte Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur
Änderung steuerlicher Vorschriften enthält eine Vielzahl
von gesetzlichen Vorschriften, die Sie, Herr Staatssekretär, vorgestellt haben.
Zentrale Änderung im Bereich der Umsatzsteuer ist
die Neufassung des § 4 Nr. 11 b UStG, die einerseits den
Umfang der bisherigen Umsatzsteuerbefreiung bei PostUniversaldienstleistungen einschränkt, andererseits die
jetzt enger gefasste Umsatzsteuerbefreiung nicht nur der
Deutschen Post AG, sondern auch den privaten Mitbewerbern einräumt. Dies ist ein Gebot der Gerechtigkeit
und der Wettbewerbsgleichheit. Deshalb unterstützt
meine Fraktion diese Änderung.
({0})
Frau Kressl, der jetzige Gesetzentwurf ist insoweit
wortgleich mit dem am 29. Januar 2009 - morgen vor
einem Jahr - von der Großen Koalition eingebrachten
Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Deshalb gehen wir bei diesem Gesetzentwurf von der vollen Unterstützung durch die SPD-Fraktion
aus.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kressl?
Ja.
Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kolbe, ist Ihnen bewusst, dass es
nach diesem Zeitpunkt vor einem Jahr eine EuGH-Entscheidung gegeben hat, die, wie Frau Kollegin Bätzing
ausgeführt hat, inzwischen von Wirtschaftskanzleien,
zum Beispiel von Freshfields, ausgelegt worden ist?
Diese Auslegungen besagen deutlich: Nach der EuGHEntscheidung muss der AGB-Bereich von der Umsatzsteuer befreit werden. Müssten wir uns eigentlich nicht
einig sein, dass wir diese neuen Auslegungen, die nach
dem alten Gesetzentwurf entstanden sind, im neuen Gesetzentwurf berücksichtigen müssen?
({0})
Frau Kressl, die EuGH-Entscheidung ist ergangen.
Ihre Kollegin Bätzing hat, wenn ich es noch richtig im
Ohr habe, gesagt, dass in der EuGH-Entscheidung gerade hierzu keine klare Aussage getroffen wurde. Somit
hat sich die Situation nicht grundlegend verändert. Vor
einem Jahr wurde über die Frage diskutiert; darüber wird
auch jetzt in der Anhörung zu diskutieren sein.
({0})
Ich komme zu einer anderen Vorrednerin, Frau Höll,
die von Steuergeschenken an Unternehmen und von der
Zerschlagung der Post gesprochen hat. Das ist wirklich
abartig. Das will keiner. Gerade diejenigen, die wie ich
einen Flächenwahlkreis vertreten, wissen die Leistungen
der Deutschen Post zu schätzen. Auch das will ich hier
sagen.
({1})
Ich habe aber keine Probleme, wenn die Post zweimal
am Tag kommt. Ich habe auch keine Probleme damit,
dass es heute mehrere Zeitungen, nicht nur eine Zeitung
gibt, obwohl das mehr Journalisten kostet,
({2})
und dass es heute mehrere Gaststätten gibt, nicht nur die
HO, wo man immer nur schwer einen Platz bekam.
({3})
Das ist eine grundlegende Frage, in der wir uns unterscheiden. Die Deutschen haben in den letzten 20 Jahren
klar zum Ausdruck gebracht, was sie wollen.
({4})
Ich komme jetzt wieder zur Umsatzsteuerbefreiung.
Nach dem geltenden § 4 Nr. 11 b UStG sind die unmittelbar dem Postwesen dienenden Umsätze der Deutschen
Post AG von der Umsatzsteuer befreit. Dies galt also
bisher allein für die Deutsche Post AG. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die Steuerbefreiung
entsprechend dem Art. 132 Abs. 1 a der MehrwertsteuerSystemrichtlinie unter Berücksichtigung, Frau Kressl,
der Auslegung des EuGH-Urteils vom 23. April 2009
ausgestalten. Nunmehr sollen nur noch Post-Universaldienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit sein, mit
denen durch einen oder mehrere öffentliche oder private
Unternehmer eine Grundversorgung der Bevölkerung sichergestellt wird. Den Nutzern muss ein Universaldienst
zur Verfügung stehen, der ständig allen Nutzern flächendeckend postalische Dienstleistungen in einer bestimmten Qualität zum tragbaren Preis bietet. Damit wird die
längst fällige Wettbewerbsgleichheit hergestellt.
Künftig sind noch folgende Post-Universaldienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit: die Beförderung
von Briefsendungen einschließlich der Versendung von
adressierten Büchern, Katalogen usw. bis 2 000 Gramm,
die Beförderung von adressierten Paketen bis 10 Kilogramm sowie Einschreibe- und Wertsendungen. Künftig
sind nicht mehr von der Umsatzsteuer befreit: Paketsendungen mit einem Gewicht von 10 bis 20 Kilogramm,
adressierte Bücher, Kataloge, Zeitungen und Zeitschriften mit einem Gewicht von mehr als 2 Kilogramm, Expresszustellungen und Nicht-Nachnahmesendungen.
({5})
- Ja, das ist interessant.
Nicht unter die Befreiung fallen nach dem Gesetzentwurf auch Leistungen, deren Bedingungen zwischen den
Vertragsparteien individuell vereinbart werden - insoweit besteht Übereinstimmung - und die aufgrund von
allgemeinen Geschäftsbedingungen zu abweichenden
Qualitätsbedingungen oder günstigeren Preisen erbracht
werden. Das ist der eigentlich strittige Punkt in diesem
Gesetzgebungsverfahren.
Durch den Regierungsentwurf wurde hier eine Vorgabe gesetzt. In der Anhörung werden wir auch andere
Meinungen hören. Dazu dient ja auch die Anhörung am
9. Februar 2010.
({6})
Die Anhörung wird an diesem Punkt sicherlich interessant werden. Danach werden wir eine fundierte Entscheidung fällen.
({7})
Insgesamt hält meine Fraktion den Gesetzentwurf,
den die Bundesregierung hier vorgelegt hat, für vernünftig. Beide Seiten sind nicht ganz zufrieden und haben
noch den einen oder anderen Wunsch. Dies spricht für
einen guten Kompromiss und einen guten Einstieg in die
Beratungen.
Danke.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich muss auch noch einmal
auf die Post eingehen, weil sich das geradezu anbietet,
um noch einmal deutlich zu machen, was diese Koalition
unter der Überschrift „Gleicher Wettbewerb und Liberalisierung“ meint und wie sie versucht, die Wettbewerbsregeln so umzudeuten, dass die Lasten auf jeden Fall die
Verbraucher und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tragen müssen.
Der EuGH hat deutlich gemacht, dass die Mehrwertsteuerbefreiung für alle Unternehmen, die öffentliche
Postdienste erbringen, nicht nur rechtmäßig, sondern
zwingend ist. Insofern gibt es hier nur einen relativ geringen Spielraum zur Auslegung. Das Kriterium für die
Steuerbefreiung ist die Erbringung eines Universaldienstes.
FDP und Teile der Union behaupten immer, dass dann
gleicher Wettbewerb herrscht, wenn man die Mehrwertsteuerpflicht im Bereich der Post für alle einführt oder
abschafft. Das ist Humbug, und das ist auch die Auffassung des EuGH und der EU-Kommission; denn man
kann nur Gleiches gleich behandeln, und man muss Ungleiches ungleich behandeln.
({0})
Ein Unternehmen, das im Auftrag der Politik gemäß
der Verfassung Leistungen erbringt, also im öffentlichen
Auftrag - man sollte vielleicht ab und zu einmal in die
Verfassung hineinschauen; ich empfehle die Lektüre von
Art. 87 f Grundgesetz, in dem es um das flächendeckende Angebot von Postdienstleistungen geht -, ist
doch anders zu behandeln als jemand, der sich die Rosinen heraussucht, womit sich möglichst viel Geld verdienen lässt, während ihm alles andere egal ist, weil man
dafür ja die Deutsche Post AG hat, die das dann erledigt.
({1})
In Zukunft soll natürlich jeder, der für sich die Verpflichtung übernimmt, Universaldienstleistungen zu erbringen, auch dieses Privileg - in Anführungszeichen der Steuerbefreiung in Anspruch nehmen können, während dies für alle anderen nicht gilt. Daran lässt sich
auch überhaupt nicht deuteln. Selbst die Kommission,
die uns deswegen ja verklagt hatte, sagt inzwischen - ich
darf zitieren -: Wie aus dem entsprechenden Abschnitt
hervorgeht, erfolgt nach Auffassung der Kommission
aus dem Urteil in der Rechtssache TNT, dass der Anbieter von Universaldienstleistungen wegen der besonderen
rechtlichen Grundlage, aus der sich die besonderen Verpflichtungen für einen solchen Anbieter ergeben, zur
Mehrwertsteuerbefreiung berechtigt ist. - Klarer kann
man das doch nicht sagen. Hier gibt es keinen Millimeter
Auslegungsspielraum.
({2})
Was ein Universaldienst ist, ist bei uns im Postgesetz
und in der Post-Universaldienstleistungsverordnung
festgelegt. Ich kann mir überhaupt nicht erklären, warum
es hier plötzlich die von Herrn Kolbe so eindrucksvoll
aufgelisteten Universaldienstleistungen wie Nachnahmesendungen und Pakete mit einem Gewicht von 10 bis
20 Kilogramm und Eilsendungen geben soll, die bei uns
per Gesetz als Universaldienstleistung definiert sind,
aber nicht von der Mehrwertsteuer befreit sein sollen,
während es andere Universaldienstleistungen gibt, die
von der Mehrwertsteuer befreit sein sollen.
Abgesehen von dem bürokratischen Humbug - es
muss sich noch zeigen, wie Sie steuerrechtlich unterscheiden wollen, ob in einem Postauto Universaldienstleistungen wie Pakete transportiert werden oder Kataloge, die schwerer als 2 Kilo sind ({3})
ist es überhaupt Unfug, eine solche Unterscheidung zu
treffen. Die europäische Postdienste-Richtlinie besagt
eindeutig, dass es Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten
ist, den Universaldienst zu definieren.
({4})
Sie rechnen bei Ihrem Vorhaben mit Mehreinnahmen
von 350 Millionen bis 500 Millionen Euro. Die spannende Frage ist, wer diese 500 Millionen Euro bezahlt.
Es ist völlig klar: Das ist eine Verbrauchsteuer, und als
solche ist sie von den Verbrauchern zu zahlen. Wer sind
in diesem Fall die Verbraucher? Das sind all diejenigen,
die Postdienstleistungen in Anspruch nehmen müssen,
die nicht vorsteuerabzugsberechtigt sind. Das sind neben
Banken und Versicherungen, die andere Wege finden,
die Kosten auf ihre Kunden abzuwälzen - das können
wir auf unseren Kontoauszügen sehen, wenn wir sie uns
noch zuschicken lassen -, im Wesentlichen die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Deutsche Rentenversicherung, die Krankenkassen, die Kommunen und die öffentlichen Verwaltungen. Sie bezahlen die 350 Millionen
bis 500 Millionen Euro, und sie werden sich sehr dafür
bedanken, dass wir jetzt auch noch über die Umsatzsteuer eine sozial ungerechte Umverteilung vornehmen,
indem wir die Umsatzsteuerentlastung von den Kirchen
und Sozialverbänden zu den Hotels verlagern. Das ist
Umverteilung à la Schwarz-Gelb; das muss man ganz
deutlich sagen.
({5})
Wer dann sagt, das werde der Wettbewerb regeln, das
könne gar nicht ganz auf die Kunden abgewälzt werden,
der muss wissen, dass im Postwesen 80 Prozent der Kosten Personalkosten sind. Insofern gibt es so gut wie
keine Abwälzungsmöglichkeiten. Das heißt, wenn es
nicht die Verbraucher bezahlen, dann bezahlen es die
Beschäftigten.
Wie wir heute gehört haben, ist der Postmindestlohn
leider nicht rechtskräftig. Das bedeutet also ganz klar,
was die Unternehmen schon angekündigt haben: Wenn
die bestehende Mehrwertsteuerregelung entfällt, dann
tragen die Beschäftigten die Kosten in Form von Arbeitsplatzverlust oder von niedrigeren Einkommen.
Auch das ist offensichtlich schwarz-gelbe Politik. So
etwas kann man nicht machen, und schon gar nicht mit
der Begründung, das habe etwas mit fairem Wettbewerb
oder mit europäischen Regelungen zu tun. Ich empfehle,
die entsprechenden Texte zu lesen.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Danke schön. - Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte mich eigentlich auf das
Thema Mitarbeiterbeteiligung konzentrieren wollen.
Aber nach der vorangegangenen Debatte möchte ich mir
noch einige andere Bemerkungen erlauben.
Eine Vorbemerkung betrifft die Post-Universaldienstleistungen. Hier sind zwei wichtige Stichworte genannt
worden. Das war zum einen der Hinweis auf das Stichwort „Grundversorgung“.
({0})
Dazu haben Sie, Frau Bätzing, ausgeführt, dafür könne
unter Umständen maßgeblich sein, was in den AGBs der
Unternehmen dazu festgelegt würde. Das kann meiner
Einschätzung nach nicht maßgeblich sein. Denn die Allgemeinen Geschäftsbedingungen werden von den Unternehmen selbst festgelegt, sodass man im Grunde alles
Mögliche hineinschreiben kann. Das kann also nie ein
sachlich vernünftiges Abgrenzungskriterium zur Bestimmung des objektiven Begriffs „Grundversorgung“ sein.
({1})
Im Übrigen wäre ich auch zurückhaltend in der Einschätzung der genannten Rechtsanwaltskanzlei. Ich habe
vielfältig mit ihr zu tun gehabt. Sie hat in meinem beruflichen Vorleben auch die Unternehmung Porsche bei der
versuchten Übernahme von VW beraten.
({2})
Die Beratung ist nicht besonders glücklich verlaufen.
Das Vorhaben ist auch mehrfach gerichtlich gescheitert.
Ich würde mich also nicht unbedingt allein auf solche
anwaltlichen Urteile stützen wollen.
({3})
- Dazu warten wir die Anhörung ab.
({4})
Der Kollege Volk hat ebenfalls einen sehr wichtigen
Hinweis gegeben: Selbst wenn wir bestimmte Leistungen, die jetzt im Postbereich angeboten werden, aus der
Mehrwertsteuerbefreiung herausnehmen, führt das nicht
notgedrungen dazu, dass in diesen Fällen die Preise steigen. In dem Bereich kommt es vielmehr zu vermehrter
Konkurrenz. Wir werden dann das Gleiche wie beim Telekommunikationsmarkt erleben. Dazu ein Hinweis: Die
Liberalisierung im Telekommunikationsmarkt hat dazu
geführt, dass wir 1998 für ein zweiminütiges Ferngespräch noch 1,45 DM - das wären gut 73 Cent - bezahlen mussten und heute dasselbe Gespräch zum Preis von
3 Cent führen können. Das ist ein erheblicher Vorteil für
alle Verbraucher in diesem Land.
({5})
Das belegt, dass das Herausnehmen von Leistungen aus
der Mehrwertsteuerbefreiung nicht zu Preissteigerungen
führen muss.
Das Thema Mitarbeiterbeteiligung halte ich für besonders wichtig. Was Ihre Kritik angeht, Herr Gambke:
Ich finde es durchaus berechtigt, die Einbeziehung der
Entgeltumwandlung in die steuerliche Begünstigung
zum Aufbau einer Mitarbeiterkapitalbeteiligung zu hinterfragen. Ich glaube aber, dass dies ein notwendiger
Schritt ist, um die Maßnahme Mitarbeiterkapitalbeteiligung attraktiv zu gestalten und um voranzukommen. Es
ist eine enorm wichtige Maßnahme, die auch die Große
Koalition mit in die Wege geleitet hat. Ich zitiere an dieser Stelle sehr gern Ihren früheren Arbeitsminister Olaf
Scholz, der gesagt hat, das sei ein Startschuss für eine
Neuentwicklung in Deutschland und ein neues Kapitel,
das mehr Gerechtigkeit schaffe und die Akzeptanz der
sozialen Marktwirtschaft stärke.
({6})
Diese Einschätzung halte ich für absolut richtig. Deswegen sollten wir alles dafür tun, dass wir mit dem Projekt
Mitarbeiterkapitalbeteiligung Erfolg haben. Auch wenn
noch weitere sinnvolle Vorschläge dazu gemacht werden - ({7})
- Ja, aber zum Thema Entgeltumwandlung. Deswegen
war es mir wichtig, darauf einzugehen. Es ist schön, dass
Sie an dieser Stelle deutlich signalisieren, diesen Weg
mit uns zu gehen.
({8})
- Um Gottes Willen! Das war keine, Herr Poß. Sie hätten sorgfältig zuhören müssen.
({9})
Im Übrigen hat Herr Staatssekretär Koschyk treffend
darauf hingewiesen, dass es sich bei der Mitarbeiterkapitalbeteiligung zunächst um einen relativ geringen För1656
derrahmen handelt und die Konkurrenz zur betrieblichen
Altersvorsorge eher überschaubar ist. Man sollte im
Blick behalten, dass die Mitarbeiterkapitalbeteiligung in
der Tat etwas anderes als die Altersvorsorge oder eine
normale Vermögensbildung ist.
({10})
Es bedeutet nämlich - das ist die Philosophie -, die
Arbeitnehmer am Produktivkapital ihres Unternehmens
und eventuell weiterer Unternehmen zu beteiligen. Ich
halte das für eine enorm wichtige und grundlegende
Maßnahme. Sie ist, wenn man bedenkt, dass die Kapitalintensität der Produktion in Deutschland immer bedeutender wird, ein schon fast zwingender Schritt, den wir
machen müssen.
({11})
Ich möchte zwei abschließende Bemerkungen zum
Thema Gleichstellung in der Besteuerung der Leasingunternehmen machen.
({12})
Ich sage ganz bewusst „Gleichstellung“. Frau Höll, so
lustig das Beispiel mit dem Bäcker auch war, so unzutreffend ist es.
({13})
Denn der Bäcker ist tatsächlich, wie wir jetzt neumodern
sagen, in der Realwirtschaft unterwegs. Die Leasingunternehmen sind Finanziers. Sie machen ein Finanzgeschäft und sind damit fast gleichermaßen unterwegs wie
die Banken.
({14})
Bisher war es so geregelt, dass sie ausschließlich im
Bereich der Finanzierung tätig sein durften. Wenn diese
Unternehmen nur einen zusätzlichen Service anboten,
waren sie im Grunde genommen von den gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen ausgeschlossen. Das war eindeutig nicht sachgerecht.
({15})
Das haben wir jetzt korrigiert. Ich bin überzeugt, dass
wir das Richtige gemacht haben.
Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Ich
komme schnell zum Ende. Ich bin das hier noch nicht
gewohnt. Ich bitte um Entschuldigung.
Es ist deshalb so wichtig, dass wir etwas für die Leasingunternehmen tun, da sie Finanzgeschäfte für die
Wirtschaft, besonders für den Mittelstand, in Deutschland machen.
({16})
Viele Mittelständler wickeln ihre Finanzierung über
Leasing von Produktionsmitteln, von Fahrzeugen und
anderem ab. Es macht keinen Sinn, sich über eine Kreditklemme im Mittelstand und in der Wirtschaft zu unterhalten, wenn man sich nicht auf der anderen Seite entschieden für gute Bedingungen hinsichtlich der
Finanzierung gerade des Mittelstandes in Deutschland
einsetzt.
Ich danke Ihnen.
({17})
Herr Kollege Dr. Middelberg, das war Ihre erste Rede
in diesem Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu
und wünsche Ihnen in Ihrer weiteren Arbeit viel Freude
und Erfolg.
({0})
Nun schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich
sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({1}), Petra Crone, Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention
im Kinderschutz optimieren - Förderung und
frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken
- Drucksache 17/498 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPDFraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen Antrag der SPD-Fraktion zum Kinderschutz. „Kinderschutz
wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz optimieren - Förderung und frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken“ lautet der Titel. Es ist nicht das erste Mal,
dass wir im Bundestag über den Schutz von Kindern debattieren. Zuletzt war das 2009 der Fall. Oft gaben
schreckliche Fälle Anlass zur Debatte. Wir glaubten
dann, ganz schnell reagieren zu müssen. Die letzte Regierung, die Regierung der Großen Koalition, hatte noch
einen Gesetzentwurf zum Kinderschutz vorgelegt. Dieser wurde aber nach einigen Verhandlungen und trotz
Verbesserungen nicht nur von uns, der SPD, sondern
auch von der Fachwelt bzw. den Fachverbänden abgeMarlene Rupprecht ({0})
lehnt, und das aus gutem Grund; denn Kinderschutz
braucht Besonnenheit, Fachwissen, Fachkenntnisse und
Sachverstand und keine Schnellschüsse.
({1})
Obwohl wir versucht haben, noch etwas zu ändern, und
viel Arbeit hineingesteckt haben - ich war daran beteiligt -, finde ich unsere Ablehnung gut; denn wir dürfen
nicht unter tagesaktuellem Druck handeln. Das wird weder den Kindern noch unserer Arbeit gerecht. Wir müssen zudem die Fachwelt, die sich täglich mit dem Thema
befasst, einbeziehen. Wir dürfen nicht von oben nach unten verordnen. Vielmehr muss der Weg von unten nach
oben gehen. Das ist die richtige Vorgehensweise.
Ich möchte deutlich herausstellen, dass ein Grund,
warum wir das Ganze abgelehnt haben, war, dass die Balance zwischen Prävention und Intervention im Gesetzentwurf - im Gegensatz zu unserem jetzigen Antrag nicht gegeben war. Es gab kein ausgewogenes Verhältnis. Nun stellt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
Prävention und Intervention die Grundlage unseres Antrags dar.
({2})
Ich möchte grundsätzlich betonen: Der größte Teil der
Eltern erzieht seine Kinder gut
({3})
und gibt sich redlich Mühe. Fehler darf man machen.
Schließlich sind wir alle Menschen. Manchmal brauchen
Eltern Hilfen, obwohl sie alles gut machen. Die Eltern
wollen Hilfen ohne Diskriminierung annehmen können.
Insbesondere Eltern mit hoher Gefährdung - dazu gehören zum Beispiel Eltern mit Suchtproblematik - muss
Hilfe gewährt werden. Aber im Notfall müssen auch
Maßnahmen der Intervention greifen. Deshalb enthält
unser Antrag ein Bündel an Maßnahmen, die ergriffen
werden sollen.
Bereits 2005, mit der letzten Reform, dem Kinderund Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz, haben wir
den § 8 a SGB VIII, den sogenannten Kinderschutzparagrafen, verändert. Wir haben eingeführt, dass schnellere
Meldungen erfolgen: Dazu braucht es aber auch Fachkräfte, die tatsächlich mit einem solchen Fall umgehen
können. Auswirkungen dessen sind bisher nicht analysiert worden; zumindest liegt dem Parlament nicht vor,
dass eine Auswertung stattgefunden hat. Es ist keine
Schwachstellenanalyse vorgenommen worden, und nach
wie vor besteht beim Kinderschutz ein Mangel an Zahlen und Statistik. Wir wollen die Umsetzung des § 8 a
überprüfen und feststellen, inwieweit Handlungsbedarf
gegeben ist.
Das Nächste ist: Wir haben 2000, als wir die gewaltfreie Erziehung ins BGB eingeführt haben, festgestellt,
dass Eltern Hilfe brauchen, also der § 16 SGB VIII die
Förderung der Elternkompetenz und der Erziehungsfähigkeit beinhalten muss. Wenn man jetzt nachforscht,
bemerkt man, dass das Ganze nicht wie gewollt umgesetzt wird. Auch diesen Paragrafen wollen wir genau anschauen, damit er zielgerichteter Hilfen zur Förderung
der Erziehungskompetenz in den Mittelpunkt stellt.
Wir haben eine weitere Schwachstelle entdeckt. Sie
besteht darin, dass gefährdete Eltern und deren Kinder
häufig Ortswechsel vornehmen und umziehen. Damit es
besser klappt und die Hilfe wirklich nahtlos und ohne
Lücke übergeht, müssen wir Wert darauf legen, dass die
Zuständigkeitswechsel reibungslos funktionieren. Wir
werden nicht fordern, dass man ein entsprechendes Verfahren genau festschreibt. Meines Erachtens werden die
Fachleute wissen, wie es auszugestalten ist. Wir müssen
jedoch darauf achten, dass diese Schwachstelle ausgemerzt wird.
({4})
Wichtig ist - das ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz
seit 1991 in Westdeutschland festgeschrieben; ich werde
nicht müde, es zu sagen -, dass alle am Wohlergehen des
Kindes Beteiligten zusammenarbeiten. Diese Kooperation ist gesetzlich verankert. Wir wollen, dass alle Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, die ihre Berufsgruppe betreffende Gesetzgebung noch einmal daraufhin
überprüfen, an welchen Stellen die Kooperation so wie
im Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichtend festgeschrieben werden kann. Das ist im Sinne einer guten Kooperation und schnellen Hilfe wichtig, damit sich keine
Berufsgruppe und niemand sonst davonstehlen und sagen kann, das interessiere ihn nicht. Dazu gibt es gute
Beispiele über das Nationale Zentrum Frühe Hilfen, das
festgestellt hat, wo es klappt, zum Beispiel in RheinlandPfalz mit dem Projekt „Guter Start ins Kinderleben“, in
dessen Rahmen man die Kooperation beispielhaft umsetzt.
({5})
- Ja, auch in Bayern. Das wollte ich gerade sagen; ich
komme ja aus Bayern. Dort gibt es die KoKis, die Koordinierenden Kinderschutzstellen. Ich nenne nur einige
gute Beispiele; es gibt im Bundesgebiet viele davon.
Ganz wesentlich ist Folgendes: Kinderschutz ist natürlich Aufgabe aller am Leben von Kindern Beteiligten,
aller mit Kindern Lebenden, zuallererst Aufgabe der Eltern; an sie gerichtet habe ich schon Dank gesagt. Aber
auch Erzieherinnen und Erziehern, Lehrern und Lehrerinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendämter danke ich hier noch einmal ausdrücklich; denn sie
stehen immer vor der Alternative, zu schnell oder zu spät
zu intervenieren, und laufen somit ständig Gefahr, von
diesen Mühlsteinen zerrieben zu werden. Diesbezüglich
richtige Entscheidungen erfordern eine hohe Qualifikation; auch darauf müssen wir achten.
({6})
Kinderschutz ist aber nicht nur für diese Gruppen von
Bürgerinnen und Bürgern wichtig, sondern für alle, weil
es eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und
Aufgabe ist. Deswegen müssen die Rechte der Kinder
auf Schutz, Förderung, Beteiligung und kindgerechte
Lebensverhältnisse in dem Gesetz niedergelegt werden,
in dem all das niedergeschrieben ist, was die Gesell1658
Marlene Rupprecht ({7})
schaft als wichtig für das Zusammenleben befindet,
nämlich im Grundgesetz.
Packen wir das Ganze deshalb gemeinsam an. Unsere
Kinder haben es verdient, dass wir uns mit großer Ernsthaftigkeit und gegenseitigem Respekt ihrem Aufwachsen in Wohlbefinden widmen und uns darum kümmern.
Ich bin bereit. Positive Signale habe ich von der gestrigen Anhörung aus dem Ministerium bekommen. Wenn
dies der Startschuss für ein gemeinsames Finden von Lösungen für unsere Kinder ist, dann bin ich guten Mutes,
dass wir es hinbekommen.
Danke schön.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Geis für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrte Frau Rupprecht, ich glaube, dass wir in
vielen Punkten übereinstimmen. Wir konnten eben in
unseren Reihen eine Verständigung darüber herstellen,
was Sie inhaltlich gesagt haben. Wir hoffen, dass wir,
was den Kinderschutz betrifft, zu einem gemeinsamen
Ergebnis kommen. Ich bedauere, dass der Entwurf eines
Kinderschutzgesetzes, der lange vorbereitet worden ist
und nicht erst gegen Ende der letzten Legislaturperiode
gerade noch auf den Tisch gelegt worden ist, sondern der
am 17. März letzten Jahres von der Bundesregierung
verabschiedet und dem Parlament zugeleitet worden ist,
nicht Gesetz geworden ist. Ich finde aber auch, dass die
Diskussion, die jetzt neu - auch durch Ihren Antrag entstanden ist, nützlich sein kann, und glaube, dass wir
zu einem guten gemeinsamen Ergebnis über die Parteigrenzen hinweg kommen können.
({0})
Es gibt natürlich schon Unterschiede und Versuche,
diese klarzumachen. Es geht in dem Kinderschutzgesetz
um die Organisierung des Kinderschutzes. Es geht nicht
um neue Straftatbestände, deren Einführung hin und
wieder verlangt wird. Wir haben in der zurückliegenden
Zeit alle möglichen Lücken, die sich aufgetan haben,
nach unserer Auffassung geschlossen. Wir haben das Sexualstrafrecht verschärft, und wir haben die Sicherungsverwahrung eingeführt, über die wir allerdings aufgrund
des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember des letzten Jahres neu
nachdenken müssen. Die Sicherungsverwahrung ist eine
echte Maßnahme der Prävention. Es kann nicht sein,
dass potenzielle Straftäter frei herumlaufen und unsere
Kinder diesen Straftätern ausgesetzt sind. Der Staat muss
die Kinder schützen. Deswegen brauchen wir die Sicherungsverwahrung. Ich meine, dass die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu sehr von
dem Gedanken des Strafrechts ausgegangen sind. Für
uns ist das eine Maßnahme der Prävention, und die wollen wir beibehalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Weiteres: Sie wollen die Kinderschutzrechte oder die Kinderrechte - das ist nicht so ganz deutlich geworden - in die
Verfassung aufnehmen und berufen sich dabei in Ihrem
Antrag auf die Kinderrechtskonvention der UNO aus
dem Jahr 1989. In der Tat steht dort, dass die Kinder genau dieselben Rechte haben wie auch die Erwachsenen.
Es gibt keinen Unterschied zwischen Mensch und
Mensch. Die Rechte der Menschen, der Bürgerinnen und
Bürger, sind durch das Grundgesetz hinreichend gesichert. Deswegen ist es nicht notwendig, dass wir Kinderrechte eigens ins Grundgesetz schreiben, zumal wir immer dann, wenn wir spezielle Rechte in das Grundgesetz
aufnehmen, verengen und nicht ausweiten. Jedenfalls
besteht die Gefahr dazu. Deswegen bin ich der Auffassung, wir sollten die Verfassung in dieser Frage nicht bemühen, sondern wir sollten unser Augenmerk insbesondere auf dieses Kinderschutzgesetz richten und in dieses
alles hineinbringen, was möglich und notwendig ist, um
zu einem guten Ergebnis zu kommen.
({1})
Frau Rupprecht, Sie haben mit Recht angesprochen,
dass die meisten Familien die Kinder richtig erziehen
und dass der Schutz der Kinder in den Familien am besten gewährleistet ist. Das geht auch aus dem Übereinkommen der UNO hervor. Die Familie gilt es zu schützen und zu stärken. Dabei wird nicht die sehr wolkige
Definition zugrunde gelegt, dass Familie dort ist, wo füreinander Verantwortung entsteht, sondern Familie im engeren Sinn ist dort, wo Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind. Diese Sorge der Eltern für ihre Kinder ist
das elementare Recht der Eltern. Das sollten wir nicht
verniedlichen oder verwässern. Es geht um den Schutz
auch des Elternrechts in dieser Frage. Dieser ist insbesondere dann zu wahren, wenn das Jugendamt eine Eingriffsmaßnahme treffen will. Wir wollen in diesem Gesetz die Prävention und die staatliche Intervention
vorsehen. Dort, wo eine Intervention vonnöten ist, weil
die Gefährdung des Kindes nur durch einen Eingriff verhindert werden kann, muss immer wieder mit dem Recht
der Eltern auf Sorge für das Kind, auf Kontakt mit dem
Kind abgewogen werden. Es darf nicht so weit führen,
dass man glaubt, ein Kind nur auf irgendeinen Hinweis
hin aus einer Familie herausholen zu dürfen. Hier muss
mit sehr viel Sensibilität gearbeitet werden. Sie ist in den
meisten Fällen vorhanden.
Wir müssen bei einem solchen Kinderschutzgesetz
berücksichtigen, dass die Ärzte und auch die Hebammen
- sie haben zu Neugeborenen und vor allen Dingen zu
den Müttern der Neugeborenen einen engen Kontakt verpflichtet werden, sich aus ihrer Tätigkeit ergebende
Hinweise an das Jugendamt weiterzugeben. Wir sollten
auch eine Regelung treffen - Sie haben sie angesprochen -, dass die Jugendämter untereinander Kontakt aufnehmen, wenn eine Familie in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendamtes zieht. Dann muss eine
Verpflichtung bestehen, dass die entsprechenden Unterlagen so schnell als möglich dem zuständigen Jugendamt
zukommen.
Notwendig ist auch, dass die Jugendämter ein Recht
zur Einsichtnahme in das Bundeszentralregister haben,
wenn ein schwerwiegender Verdacht gegeben ist. Wir
müssen eine Regelung finden - in Bayern und auch in
Rheinland-Pfalz gibt es sie bereits -, dass von den Ärzten Früherkennungsuntersuchungen vorgenommen werden.
Wie ich bereits angesprochen habe, müssen wir den
Hebammen, die zu den jungen Familien, insbesondere
zu den jungen Müttern, einen engen Kontakt haben, die
Möglichkeit verschaffen, über eine längere Zeit, etwa
über sechs Monate, tätig zu sein und einen entsprechenden Ausgleich zu erhalten.
Wie ich eingangs gesagt habe, hoffe ich, dass wir zusammen zu einem guten Ergebnis kommen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Dittrich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Woran denken die Bürger im Lande, wenn
sie das Wort „Kinderschutz“ hören? An vernachlässigte
Kinder und an das Jugendamt. Das Jugendamt wird
hauptsächlich als Eingreifbehörde gesehen, und die Kindeswohlgefährdung wird viel zu häufig als individuelles
Versagen der Eltern dargestellt. Dies blendet aber aus,
dass die Eltern in die Lage versetzt werden müssen und
Bedingungen vorfinden müssen, um die Bedürfnisse ihrer Kinder nach körperlichem und seelischem Wohlergehen, Anregung und Spiel, Schutz und Geborgenheit befriedigen zu können.
Die Situation vieler Familien ist aber gerade durch
Unsicherheit und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet.
Wer heute noch beschäftigt ist, kann morgen schon entlassen sein. Die berüchtigten Hartz-Gesetze und die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse haben
dazu geführt, dass eine Familienplanung erschwert wird.
In Hannover wird zum Beispiel bei Continental die LkwReifenherstellung komplett wegfallen. Bei VW wurden
zuerst die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter von Entlassung bedroht, und selbst bei der Stadtverwaltung, also
im öffentlichen Dienst, werden Auszubildende erstmals
nicht übernommen. Die Drangsalierung bei den Jobcentern macht den Menschen Angst und beschädigt ihre
Würde; denn sie können nichts dafür, dass ihr Arbeitsplatz wegfällt.
Meine Damen und Herren, glauben Sie denn, dass
diese soziale Verunsicherung an den Eltern und an den
Kindern spurlos vorübergeht? Kinder reagieren sensibel
auf die Ängste ihrer Eltern. Psychische Erkrankungen
und Suizide bei Kindern nehmen zu. Dies ist Ausdruck
einer tiefen Verunsicherung in unserer Gesellschaft.
Die Jugendhilfe mit ihren pädagogischen und präventiven Angeboten kann Kinder und Eltern ermutigen; sie
kann sie zum Jobcenter begleiten. Aber Arbeitsplätze
kann die Jugendhilfe nicht hervorzaubern, auch keine
kleineren Klassen, nicht mehr Erzieherinnen oder Lehrpersonal an Schulen. Die Jugendhilfe kann als Teilbereich der Sozialpolitik die gesamtgesellschaftliche Lage
nicht ausgleichen. Ich meine, dass der Ansatz für einen
wirksamen Schutz der Kinder vor allem in der Verbesserung der Lebenslagen der Familien liegt.
({0})
Wir leben im Zeitalter der Patchworkfamilien; deshalb
muss auch das Steuerrecht auf diese Familienform, auf
Alleinerziehende und Unterhalt zahlende Väter ausgerichtet sein.
({1})
Die Kinder profitieren dann von einem höheren Einkommen.
Seit Jahren, und nicht erst mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, werden im öffentlichen Bereich
Steuergelder sozial ungerecht umverteilt, umverteilt von
unten nach oben. Steuerliche Entlastungen für Unternehmen und die Rettung der Großbanken werden mit Kürzungen im sozialen Bereich bezahlt. Von diesen Einsparungen werden auch die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Jugendämtern nicht verschont. Durch die
Kürzungen in den Jugendämtern ging der präventive
Charakter der Jugendarbeit verloren. Das Kinder- und
Jugendhilfegesetz stellt aber gerade die Prävention in
den Vordergrund.
Es ist bekannt, dass bei Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge der Anteil der ratsuchenden Familien und
die Fallzahlen ansteigen. Durch stetigen Personalabbau
entstand eine Überlastung der Sozialarbeiterinnen und
Sozialarbeiter in den Allgemeinen Sozialen Diensten.
({2})
Nicht einmal die Fälle von Kindesmisshandlung mit Todesfolge, die sich bundesweit häufen, führen zu einer
flächendeckenden Aufstockung in den Allgemeinen Sozialen Diensten. Ja, es gibt bis heute keine an die Einwohnerzahl angelehnten Mindeststandards für die notwendige bezirkliche Sozialarbeit. Auf Überlastungsanzeigen von Kolleginnen und Kollegen in den Jugendämtern wurde unzureichend reagiert. Es kam damit zum
Organisationsversagen im Jugendamt Bremen. Den Tod
des misshandelten zweijährigen Kevin, festgestellt am
10. Oktober 2006, werden wir wohl nicht vergessen.
({3})
Mit dem großen Kitastreik im Sommer letzten Jahres
forderten die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen bessere Arbeitsbedingungen für sich und damit eine qualitativ bessere pädagogische Betreuung. Die frühen Hilfen
können nur dann als Prävention verstanden werden,
wenn sie allen Eltern zugutekommen und nicht nur für
Risikofamilien gelten. Sie beseitigen aber nicht den Personalmangel in den Jugendämtern. Nicht nur Eltern
müssen in die Lage versetzt werden, geduldig mit ihren
Kindern umzugehen, auch die pädagogischen Kräfte im
öffentlichen Dienst benötigen mehr Zeit, damit sie sich
beständig den Familien zuwenden können und nicht erst
kommen, wenn es brennt.
({4})
Hierzu sind erforderlich - das waren die Forderungen
aus dem Streik -: eine Verdopplung des Personals in den
Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter, Zeit
für die soziale Arbeit im Stadtteil und Zeit für die Beratung der Kinder und Eltern.
({5})
Diese Forderungen sind der Familienministerin wohlbekannt.
Der beste Kinderschutz ist daher nach unserer Meinung eine solidarische Sozialpolitik ohne Ausgrenzung.
({6})
Wir sind uns wohl alle einig, dass Kinder die Zukunft
der Gesellschaft sind. Daher müssen wir uns fragen lassen: Wie sieht eigentlich eine sichere Zukunft aus? Welche Welt wollen wir unseren Kindern vererben? - Auf
jeden Fall eine Welt ohne Krieg in Afghanistan; eine
Welt mit Löhnen, die zum Leben reichen, und sozialer
Absicherung; eine Welt ohne Atomkraftwerke und ohne
Klimakatastrophe. Diese Welt für unsere Kinder zu
schaffen, das ist unsere Aufgabe.
({7})
Frau Kollegin Dittrich, wenn ich es richtig sehe, war
das Ihre erste Rede hier. Herzlichen Glückwunsch dazu,
verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Miriam Gruß für die
FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kinderschutz, also Kinder vor Vernachlässigung
und Misshandlung zu schützen, ist uns nach wie vor ein
sehr zentrales Anliegen. In der Tat gab es in der letzten
Legislaturperiode dazu eine entsprechende Initiative,
und es wurde uns ein Gesetz vorgelegt. Aber ich finde es
richtig und wichtig und gut, dass wir jetzt noch einmal
darüber reden und damit auch die Chance haben, Verbesserungen in diesem Gesetz vorzunehmen.
Ich freue mich sehr - das war insbesondere uns von
der FDP ein großes Anliegen -, dass dieses Gesetz jetzt
zwei Schwerpunkte beinhalten soll, nämlich Prävention
und Intervention.
({0})
Zum Thema Prävention. Uns muss eines immer bewusst sein: Ein Kind, das in seinem Leben einmal missbraucht oder misshandelt worden ist, wird das nie mehr
los. Das begleitet einen Menschen ein Leben lang. Auch
als Erwachsener hat man unter den Folgen von Misshandlung und Missbrauch, die man als Kind erlebt hat,
zu leiden. Deswegen ist es so wichtig, dass wir präventiv
tätig werden: damit es erst gar nicht dazu kommt, damit
ein Mensch nicht sein Leben lang leiden muss. Dazu gibt
es viele Vorschläge, auch von der SPD, die wir ausdrücklich begrüßen.
Neben diesen Vorschlägen möchte ich ein weiteres
Thema ansprechen, das meines Erachtens häufig zu kurz
beleuchtet wird. Oftmals werden Erwachsene zu Tätern,
die selbst Misshandlung oder Missbrauch erfahren haben.
({1})
Von daher ist es ganz wichtig, die Erwachsenen in den
Blick zu nehmen und diese, wie wir es im Koalitionsvertrag formuliert haben, stark zu machen. Dazu zählen
zum Beispiel Verbesserungen bei der psychischen Aufarbeitung von selbst erlebter Misshandlung oder erlebtem Missbrauch. Dazu zählt aber auch, zu lernen, wie
man mit Kindern gewaltfrei umgeht, wenn man selbst
Gewalt erfahren hat. Deswegen sind bei der präventiven
Aufgabe die Elternbildung und das Starkmachen der Eltern meines Erachtens ein sehr wichtiger Punkt.
({2})
Frau Rupprecht und Herr Geis haben bereits einige
Punkte genannt. Familienhebammen können in der Eltern-Kind-Beziehung bzw. für die werdenden Eltern eine
wichtige Rolle spielen, weil sie an den Familien nahe
dran sind, weil sie niedrigschwellig in den Familien tätig
werden. Es können vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden, die eine Stigmatisierung vermeiden. Denn
jeder von uns hat manchmal eine Frage; jeder erlebt vielleicht einmal eine Überforderungssituation. In einer solchen Situation möchte man nicht als jemand stigmatisiert werden, der mit dem Kind nicht umgehen kann.
Deshalb ist eine Familienhebamme, zu der man schon
früh Vertrauen aufbauen kann, eine wichtige Ansprechpartnerin. Auch die Grünen haben in der vergangenen
Legislaturperiode hierzu schon Anträge gestellt.
({3})
Eine weitere wichtige präventive Maßnahme ist die
Verbesserung der Zusammenarbeit aller am Aufwachsen
der Kinder Beteiligten. Wir hören von den Jugendämtern
immer wieder, dass viele Angst haben, die Probleme, die
sie mit manchen Fällen haben, mit anderen zu besprechen. Diese Angst müssen wir ihnen nehmen, indem wir
ihnen sagen, dass wir hinter den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Jugendämter stehen. Und nicht nur das:
Unsere Aufgabe ist es vielmehr auch, in den Ländern dafür zu sorgen, dass die Jugendämter personell und finanziell besser ausgestattet werden. Denn sie wollen ihre
Aufgaben erfüllen; aber sie geraten an ihre Grenzen.
Deswegen müssen wir sie unterstützen. Dazu rufe ich
Sie alle auf, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir dürfen
die Jugendämter nicht im Stich lassen; denn sie sind diejenigen, die diese Arbeit hervorragend leisten.
({4})
Verschiedene Projekte sind schon angesprochen worden. In Augsburg beispielsweise war immer wieder
„Hallo Baby“ ein Thema. Da werden Begrüßungsbriefe
geschrieben, was wir nur anerkennen können. Fast wäre
das aus datenschutzrechtlichen Gründen gescheitert.
Aber auch in Bayern ist jetzt festgestellt worden, dass
dieser Weg durchaus möglich und gangbar ist. Die Politik - das will ich betonen - steht hinter dieser Möglichkeit.
Zum Thema Intervention. Auch das ist ein wichtiges
Stichwort; denn wenn es zu spät ist für die Prävention,
muss man einschreiten. Dafür brauchen wir den Staat,
einen starken, handlungsfähigen Staat - hinter dem auch
wir als FDP stehen -, der sich schützend vor die Kinder
stellt.
({5})
Natürlich zählt aber nicht nur der Staat; vielmehr zählen
wir alle. Das Stichwort lautet: Hinsehen, nicht wegsehen! Das ist ein Anliegen, das durch die Berichterstattung der letzten Jahre in unser aller Köpfe gebrannt
wurde: dass wir alle Zivilcourage zeigen, hinschauen,
aufmerksam sind, beobachten und dann entsprechend
einschreiten und möglicherweise Fälle melden.
Aber beim Einschreiten sind natürlich auch die Ärzte
gefragt. Uns als FDP ist es ganz wichtig, dass einerseits
die Ärzte in einer rechtssicheren Situation sind und andererseits das Verhältnis von Patienten, also Eltern mit
Kindern, zum Arzt nicht durch die Angst belastet wird,
beim Arzt kein Vertrauensverhältnis vorzufinden. Von
daher begrüße ich es, dass die Ministerin gestern mit vielen Verbänden gesprochen hat. Der Koalition wird es ein
Anliegen sein, entsprechende Regelungen zu finden, die
beides im Blick haben; dies ist meines Erachtens wichtig.
({6})
Uns war aber auch wichtig: Wir brauchen Qualitätsstandards in der Kinder- und Jugendhilfe. Wir brauchen
in regelmäßigen Abständen eine Evaluation in der Kinder- und Jugendhilfe, und wir müssen, last, but not least,
die Forschung ausbauen.
Es gibt noch viel zu tun. Wir haben dies nicht nur im
Koalitionsvertrag festgeschrieben, sondern bereits erste
Schritte gemacht. Ich würde mich freuen, wenn wir in
großem Konsens ein neues Kinderschutzgesetz auf den
Weg bringen würden. Ich finde nicht nur den Namen
wunderschön, sondern auch den Inhalt immer besser.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es sehr gut, dass wir in dieser Legislatur schon
sehr frühzeitig anfangen, dieses Thema zu bearbeiten;
denn wir alle wissen, es besteht großer Handlungsbedarf.
Wir haben in diesem Bereich sehr viel zu regeln. Leider
ist die Vorlage des Entwurfs eines Bundeskinderschutzgesetzes in der letzten Wahlperiode schiefgegangen, weil
das Ministerium nicht in der Lage war, die Bedenken der
Fachleute mit aufzunehmen. Es ist sehr viel Porzellan
zerschlagen worden.
({0})
Wir müssen nun das Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.
({1})
Dazu gehört, dass wir unser Handeln sehr breit anlegen. Ich möchte jenseits dessen, was wir grundsätzlich
brauchen, auf das Bundeskinderschutzgesetz eingehen.
Wir müssen einen soliden Vorschlag machen. Solide
heißt, dass wir den Mut haben sollten, bereits vorhandene Instrumente zu evaluieren. Ich spreche da ganz besonders § 8 a SGB VIII an. Er stellt eine richtige Verbesserung im Bereich der Kinderschutzstrukturen dar. Wir
müssen uns die Ergebnisse aber erst einmal anschauen,
bevor wir vorschnell daran herumwerkeln.
({2})
Denn wir müssen den Menschen Handlungssicherheit in
diesem Bereich geben.
Zur Prävention. All das, Frau Gruß, was Sie dazu gesagt haben, wissen wir im Grundsatz bereits. Wir brauchen aber auch einmal eine Vorlage zur konkreten Umsetzung und sollten nicht nur darüber reden. Im Moment
liegt dazu leider nicht sehr viel vor.
Ich weiß nicht, ob uns die heutige Debatte weiterbringt. Der Antrag, den die SPD vorgelegt hat, beinhaltet
zwar sehr viele und richtige Punkte, ein paar wesentliche
Dinge fehlen aber. Diese muss man aufnehmen. Sie beziehen sich zum Beispiel auf den 13. Kinder- und Jugendbericht. Über diesen Bericht hätten wir eigentlich
schon in der letzten Wahlperiode diskutieren können.
Dies haben wir nicht gemacht. Man könnte wahlkampftechnische Gründe dahinter vermuten; aber ich will natürlich nichts Böses unterstellen. Jetzt ist es aber an der
Zeit, diesen Bericht vorzulegen, über ihn öffentlich zu
diskutieren und die kritischen Punkte in den Mittelpunkt
zu rücken. Man sollte dies alles nicht noch mehr in die
Zukunft verschieben. Denn wenn es solche Berichte
gibt, dann sollten wir den Anstand haben, uns mit den
Ergebnissen auch dann zu befassen, wenn sie der Regierung oder uns nicht passen.
({3})
Ein weiterer Punkt ist: Sie geben in diesem Antrag
zwar den Sachstand der Fachdiskussion wieder; das ist
gut. Aber entscheidende Fragen bleiben nach wie vor
unbeantwortet. Gerade da besteht Handlungsbedarf. Ein
Beispiel ist die Problematik im Hinblick auf die Schnittstellen der verschiedenen Leistungsebenen. Das zu benennen, ist einfach. Aber in welchem Gesetz könnten
wir dies bearbeiten und welche detaillierten Lösungen
formulieren? Es gibt ein paar Modelle; aber die reichen
bei weitem nicht aus. Die Regierung ist uns letztendlich
einen Gesetzentwurf schuldig. Hier müssen wir dringend
handeln; die Problematik nur zu erkennen, reicht nicht.
Zur Familienbildung. Sie sprechen von verbindlichen
Leistungen. Jetzt müssen wir aber definieren, was verbindliche Leistungen sind. Sollen diese immer noch freiwillig gewährt werden, oder wollen wir einen Rechtsanspruch vorsehen, zum Beispiel in § 16 SGB VIII. Das
wäre eine gute Sache; Rechtsansprüche kosten aber
Geld. Auch das muss man einbeziehen. Man muss klar
Farbe bekennen und darf sich nicht hinter Allgemeinplätzen verstecken.
Sehr gut ist es, dass die Jugendhilfe angesprochen
wird. Sie benötigt natürlich Ressourcen. Sie braucht
Leute. Es wird mehr Zeit für die Kinder, die Familien
und die Eltern benötigt. Der Ausbau der Kapazitäten ist
notwendig. Das wird natürlich immer schwieriger, wenn
wir den Kommunen den letzten Atem nehmen, über den
sie noch verfügen, um in diesem Bereich überhaupt handeln zu können. Wir wissen doch, dass gerade die freiwilligen Aufgaben, um die es auch bei der Jugendhilfe
geht, in Haushaltssicherungsplänen als Erste gekürzt
werden müssen.
({4})
Wenn Sie den Kommunen wirklich alle Handlungsspielräume nehmen, dann können wir im Bereich der Jugendhilfe nicht immer mehr verlangen. Deshalb bin ich an
diesem Punkt ganz stark dafür, dass wir in diesem Bereich den Kommunen den Rücken stärken.
({5})
Was den Kitabereich angeht, reicht es nicht aus, nur
über quantitative Aspekte zu reden - das ist wichtig -;
aber wir müssen auf der Bundesebene endlich einmal anfangen, auch über Qualität, besonders die Strukturqualität, sowie darüber zu reden, was wir vielleicht im Kinder- und Jugendhilfegesetz dazu unternehmen können.
Qualität ist das A und O, wenn es um die frühe Förderung und um besseren Schutz und Stärkung der Kinder
geht.
Zu den Hebammen: Die Grünen haben schon 2006
hierzu einen sehr guten Antrag eingebracht. Wenn Sie
ihn gut finden, dann übernehmen Sie es. Wunderbar, ich
freue mich. Hauptsache, es passiert in diesem Bereich etwas, und dies ist notwendiger denn je.
Natürlich gibt es auch Gesetzeslücken. So müssen
etwa bei der Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Gesundheitssystem und Behindertenhilfe die gesetzlichen Regelungen nachjustiert und geschärft werden. Ich halte es
auch immer noch für wichtig, dass wir umdenken. Wir
brauchen einen Paradigmenwechsel und müssen die
Kinder in den Mittelpunkt stellen. Dies heißt für mich
nach wie vor, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen und eigenständige Rechte für sie zu sichern, damit
wir im Bereich des Kinderschutzes selbstbewusst handeln können und uns nicht nur auf unsicherem Terrain
bewegen. Dies halte ich für sehr notwendig.
({6})
Noch eines zur Regierung: Sie haben bis jetzt noch
nicht viel Erhellendes gemacht. Sie machen es immer
hinter den verschlossenen Türen und sozusagen geheim.
Bringen Sie doch ein bisschen Licht! Warum verstecken
Sie sich? Sie haben vielleicht etwas Gutes; dann zeigen
Sie es uns. Was Sie aber an Pressemitteilungen herausgegeben haben, ist bisher nicht gut. Sie wiederholen die
Fehler, die Frau von der Leyen gemacht hat: die Informationsweitergabe von Berufsgeheimnisträgern zu thematisieren und eine anständige Evaluation zu § 8 a
SGB VIII überhaupt nicht anzusprechen. Das ist ein
Fehler. Frau von der Leyen ist genau an diesen Punkten
gescheitert.
({7})
Wenn Sie nicht scheitern wollen, dann distanzieren Sie
sich von Ihrer eigenen Presseerklärung. Das ist der falsche Weg. Ich teile hier die Einschätzung der Praktiker
und der Fachleute. Diese Ideen sind nutzlos und kontraproduktiv. Bitte vermeiden Sie dies!
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Katharina Landgraf für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD ruft in mir widersprüchliche Gefühle hervor. Es geht um ein Thema, das mir sehr am Herzen
liegt. Aber er macht mich wütend und traurig zugleich.
Warum? Wir wollen alle mehr Schutz für die Kinder:
mehr Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung.
Dieses Ziel hätten wir im vorigen Jahr schon fast erreicht. Aber auf der Zielgerade haben Sie, meine Damen
und Herren von der SPD, uns alle ausgebremst.
({0})
Diese Verschleppung zulasten der Kinder war und ist unverantwortlich. Das müssen Sie sich zu Recht vorwerfen
lassen.
Dass Sie hier und heute diesen Antrag stellen, der
viele Regelungen des von Ihnen boykottierten Kinderschutzgesetzes von damals enthält, ist der Gipfel. Dies
könnte man auch als Scheinheiligkeit pur bezeichnen.
Aus meinem christlichen Verständnis vermute ich aber,
zumal ich Sie sehr schätze, Frau Rupprecht, dass es sich
um späte Reue und Einsicht handelt.
({1})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rupprecht?
Ja.
Bitte, Frau Rupprecht.
Frau Kollegin Landgraf, in der gestrigen Anhörung
des Ministeriums ist deutlich geworden, dass alle aufgeatmet haben, dass wir keinen Schnellschuss gemacht
hatten, weil in dem Entwurf zum Kinderschutzgesetz im
Sommer Intervention und Repression die wesentlichen
Elemente waren. Mittels eines Antrags haben wir versucht, noch andere Elemente nachzuschieben; dies ist
aber gescheitert. Es gebietet der Respekt voreinander,
dies zu erkennen. Wir waren der Auffassung, dass es
besser ist, etwas nicht zu machen, bevor man es falsch
macht. Für mich ist wirklich die Frage, ob Sie den Gesetzentwurf gut gekannt haben, der im Sommer vorlag.
Wenn man ihn und alle Bemühungen, an denen ich
auch beteiligt war, gut gekannt hat, kann man ihn so
nicht als - ({0})
- Ich habe gefragt, ob sie ihn gekannt hat.
({1})
- Ich weiß, ich kann eine Erklärung abgeben; das weiß
ich alles. Trotzdem wäre es mir wichtig, wenn das noch
einmal deutlich wird. Gestern wurde in der Anhörung
des Ministeriums deutlich klar: Es ist gut. Heute hat mir
jemand gesagt: Sie haben darauf angestoßen, dass es
nicht durchgejagt wurde. Der neue Staatssekretär, Herr
Hecken, hat in der Anhörung gesagt, es ist gut, dass wir
jetzt neu starten können und dass wir all das, was nicht
gemacht wurde, einarbeiten können. Ich glaube, das sollten wir alle zur Kenntnis nehmen.
Frau Kollegin Rupprecht, Sie wissen, dass ich Sie
schätze. Wir verstehen uns gut. In einigen Fragen bin ich
aber anderer Meinung. Ich hätte es besser gefunden,
wenn wir es gleich verabschiedet hätten; denn die Zeit
eilt, und wir müssen uns zum Schutz vor weiterer Vernachlässigung endlich auf eine Linie einigen und Gesetze verabschieden. Die Themen, die gestern besprochen wurden, kann man nachbessern. Es war von § 8 a
SGB VIII die Rede gewesen, der sowieso evaluiert wird.
({0})
- Genau. Das kommt jetzt dazu. Ich sehe ein, dass das
gut so ist.
({1})
Aber dass wir es nicht geschafft haben, ärgert mich wirklich. Ich denke, jetzt müssen wir wirklich ran.
({2})
Das will ich in meinen Ausführungen gleich darlegen.
In diversen Details bestätigen Sie unseren alten Gesetzentwurf für einen wirksameren Kinderschutz. Zum
Beispiel fordern Sie uns auf, die Regelung des § 86 c
SGB VIII - hierbei geht es um das sogenannte Jugendamt-Hopping bei Wohnortwechsel - zu überarbeiten.
Darüber hat schon der Herr Kollege Geis gesprochen.
Die Forderung nach Kinderrechten im Grundgesetz
ist meiner Meinung nach nicht schädlich, aber auch nicht
wirklich hilfreich. Es ist eine symbolträchtige Verankerung der Rechte, die den Kindern ohnehin schon nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zustehen. Das stellen Sie in Ihrem Antrag übrigens auch
fest. Welchem Kind hilft es, wenn im Grundgesetz seine
Rechte verankert sind, aber die Eltern nicht danach handeln? Was wirklich hilft, sind klare bundesgesetzliche
Regelungen, wie wir sie mit einem neuen Kinderschutzgesetz schaffen werden. In erster Linie helfen starke und
mündige Eltern.
Vieles in Ihrem Antrag ist richtig, was sicher daran
liegt, dass es schon in unserem Entwurf eines Kinderschutzgesetzes aus der letzten Wahlperiode stammt.
Doch es ist auch die reinste Polemik darin zu finden:
Dass Sie beispielsweise das Wachstumsbeschleunigungsgesetz als Initiative bezeichnen, welche den wirksamen Kinderschutz konterkariert, entbehrt jeglicher Logik.
Die Forderung der Bundesregierung, gemeinsam mit
den Ländern den Ausbau der Kinderbetreuung für unter
Dreijährige voranzubringen, kann getrost als obsolet bezeichnet werden. Genau dies ist bereits in vollem Gange.
Alles, was darüber hinausgeht, ist Ländersache. Die
Hauptsache ist, dass wir unser Ziel, bis 2013 für 35 Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz zur
Verfügung zu stellen, erreichen.
Nach der Anhörung zum Kinderschutzgesetz vom
Mai 2009 hatten wir einige Regelungen im Gesetzentwurf im Sinne der Experten verändert, Frau Rupprecht.
Selbst mit diesen Änderungen konnte die SPD nicht leben. Wir stehen nach wie vor dazu. Darum erläutere ich
jetzt, was in Ihrem Antrag alles fehlt und was wir im
Kinderschutzgesetz beschließen werden. Es besteht nun
aus zwei Säulen: Prävention und Intervention.
Ich werde zwei Punkte aus dem Bereich der Prävention hervorheben, die ich für besonders wichtig erachte.
In Zukunft soll für alle Personen, die sich mit Kindern
und Jugendlichen beschäftigen, die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses erforderlich sein. Dieses listet
- anders als das einfache Führungszeugnis - auch einschlägige Straftaten im Bagatellbereich auf. Außerdem
werden wir die Rechtsgrundlagen für Hebammen und
Familienhebammen verbessern. Damit schaffen wir
niedrigschwellige und frühe Hilfen für Familien. Dazu
gehört natürlich auch der Hausbesuch, bei dem vor allem
das Kind selbst, aber auch seine persönliche Umgebung
in Augenschein genommen werden.
({3})
Im Bereich der Intervention muss vor allem Rechtssicherheit für Ärzte und andere Berufsgeheimnisträger
hinsichtlich der Weitergabe von Informationen geschaffen werden. Dies haben uns auch die Experten bei der
damaligen Anhörung zum Kinderschutzgesetz bestätigt.
Die Lösung ist eine bundeseinheitliche Norm. Eine solche ist für die wirksame Vernetzung unerlässlich. Das
sehen sowohl Ärzte als auch Kriminalbeamte so.
Daher kam es vor einigen Jahren in Duisburg zur
Gründung der Datenbank „Riskid“, der „RisikokinderInformationsdatei“. Das ist ein Portal, auf das nur Ärzte
zugreifen können, um Informationen über Verdachtsfälle
von Kindesmisshandlung auszutauschen. Durch Eingabe
der Personalien kann ein Arzt erfahren, ob ein Kind
schon einmal bei Kollegen vorstellig geworden ist oder
ob Vorsorgeuntersuchungen eingehalten wurden. So
kann man das sogenannte Doktor-Hopping stoppen und
Leben retten. Allerdings ist „Riskid“ mit derzeit geltendem Recht nicht vereinbar. Gerade las ich einen sehr
treffenden Satz in der Zeitschrift Der Kriminalist vom
Bund Deutscher Kriminalbeamter:
Ärzte dürfen sich zwar bei einem Verdacht auf
Schweinegrippe austauschen, bei einem Verdacht
auf Kindeswohlgefährdung gilt das aber nicht.
Das müssen wir unbedingt ändern.
Zusätzlich müssen die Ärzte beispielsweise durch
Fortbildungen noch stärker für Anzeichen von Misshandlungen sensibilisiert werden. Erst gestern fand im
Ministerium ein breit angelegtes Fachgespräch - wir
sprachen schon davon - mit gut 50 Kinderschutzexperten aus Ländern, Kommunen und von Fachorganisationen zum Kinderschutzgesetz statt. Das Konzept, das von
uns und dem Ministerium vorgelegt wurde, fand eine
breite Unterstützung. Die Fachwelt wurde also wirklich
einbezogen. Es wurde auch über Schnittstellen der einzelnen Ebenen gesprochen. Wir werden jetzt dafür sorgen, dass es bald, ohne weitere Verzögerungen zum Abschluss dieses längst überfälligen Gesetzes kommt. Das
sind wir unseren Kindern schuldig.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegen Petra Crone für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Kinderschutz
wirksam verbessern“, das klingt nicht nur wie eine
Selbstverständlichkeit. Alle Redner und Rednerinnen
hier und heute haben versichert: Kinderschutz ist ihnen
wichtig, wichtig, wichtig. Doch auf dem Weg zu einem
optimalen Kinderschutz zeigen sich die Unterschiede;
Herr Geis, auch Sie haben die festgestellt.
Für die SPD heißt Kinderschutz vorrangig Prävention.
({0})
Prävention sollte so früh wie möglich beginnen; denn
Prävention bedeutet Erziehung zur Eigenverantwortung. In Kindern stecken vielfältige Begabungen und
Potenziale. Die können sie aber nur entfalten, wenn sie
früh und individuell gefördert werden; denn Entwicklung ist umweltabhängig.
Eltern wollen das Beste für ihre Kinder geben. Aber
die Anforderungen an sie steigen ständig. Gleichzeitig
haben sich die Familienstrukturen verändert. Sie bieten
in vielen Fällen kein Hilfsnetz mehr nach dem Motto:
Die Oma für den guten Rat zur richtigen Zeit. Alle Eltern - das ist unabhängig vom Verdienst - können in
eine Situation rutschen, die ihnen ausweglos erscheint.
Aber gerade Eltern, die in besonders riskanten Verhältnissen leben, sind auf Hilfe angewiesen.
Schon seit dem 30. April 2009 liegt dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der
13. Kinder- und Jugendbericht vor. Leider wurde er im
Plenum immer noch nicht behandelt. Weder Frau von
der Leyen noch Frau Köhler haben ihn bisher offen debattieren lassen. Warum nicht? Etwa weil darin der Prävention ein höherer Stellenwert zukommt, als es CDU
und CSU gern hätten?
({1})
Oder weil es Geld kostet, eine vernünftige und wirksame
Infrastruktur aufzubauen? Die Experten fordern in diesem Bericht eine bessere Verzahnung von Akteuren der
Kinder- und Jugendhilfe, ohne die gesamte Verantwortung für die Jugendförderung an diese abzugeben.
({2})
Die SPD stützt diese Forderung. Wir gehen sogar darüber hinaus: Wir fordern ein spezielles Präventionsgesetz.
({3})
Wir brauchen eine Netzwerkbildung, eine Präventionskette „frühe Kindheit“, die schon mit dem Einsatz von
Hebammen beginnt. Sie können sich bereits frühzeitig
um die Gesundheit des Kindes im Mutterleib kümmern
und auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von
Mutter und Kind Einfluss nehmen - und dies flächendeckend.
Damit wird ein Vertrauensverhältnis zu jungen Eltern
aufgebaut, um die Schwelle bei der Suche nach Hilfe
und Unterstützung so niedrig wie möglich zu halten. Darum haben wir - genauso wie Experten und Verbände den gesetzlich verpflichtenden Hausbesuch abgelehnt,
Frau Landgraf,
({4})
den Frau von der Leyen vorgeschlagen hat. Wir lehnen
ihn auch heute noch ab, weil er Vertrauen zerstören kann
und damit kontraproduktiv ist.
({5})
In einigen Städten und Gemeinden gibt es schon jetzt
vorbildliche Strukturen; das ist eben angesprochen worden. Ich aus Nordrhein-Westfalen kenne zum Beispiel
das Dormagener Modell. Dort wurde ein sinnvolles Präventionsnetzwerk geschaffen; denn zu schützen sind alle
Kinder vom Baby bis zum Jugendlichen.
Meine lieben Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, ich habe schon eine Idee, wie das finanziert werden kann. Werfen Sie den Plan für das Betreuungsgeld
auf den Müllhaufen der Geschichte; da gehört er hin,
denn er ist rückwärtsgewandt.
({6})
Nehmen Sie die Milliarden in die Hand und stecken Sie
sie in Kinderschutz und Kindertagesstätten. Ich habe
noch eine zweite Idee: Machen Sie das Schuldenbeschleunigungsgesetz rückgängig, das die Kommunen finanziell ausblutet.
({7})
Dann bleiben sie in der Lage, ein Netzwerk von Gesundheitshilfe, Bildungswesen und Jugendhilfe aufzubauen.
Die Investition in den Kinderschutz rechnet sich spätestens dann, wenn weniger Kinder in Heimen untergebracht werden müssen, wenn weniger Geld für die reaktive Gesundheitspflege ausgegeben werden muss. Um es
deutlich zu sagen: Es geht nicht um freiwillige Leistungen, sondern um den ganz elementaren Schutz vor Gewalt und Vernachlässigung sowie um das jedem Kind
zustehende Recht auf die Entwicklung und Entfaltung
seiner Persönlichkeit. Darum muss das Kinderrecht ins
Grundgesetz. Denn im Grundgesetz steht das, was uns in
der Gesellschaft wichtig ist.
({8})
Frau Kollegin Crone, auch für Sie war dies die erste
Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere auch Ihnen
sehr herzlich und wünsche Ihnen für die weitere Arbeit
alles Gute.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Eckhard Pols für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zukunft von Kindern ist unsere Verantwortung. Ihr Wohlergehen ist unsere Pflicht. Kinder benötigen unseren
Schutz, da sie sich als schwächste Glieder unserer Gesellschaft nicht selbst schützen können: Schutz vor Vernachlässigung und vor jeglicher Form körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt. Den Kinderschutz in
Deutschland haben wir in den letzten Jahren bereits
deutlich verbessert, zum Beispiel durch das Gesetz zur
Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe im Jahre
2005.
Die SPD hat jedoch zum Ende der vergangenen Legislaturperiode - sicherlich auch aus wahltaktischen
Gründen - ein dringend benötigtes Kinderschutzgesetz
blockiert, auf das sich sogar die Ministerpräsidenten der
Bundesländer parteiübergreifend geeinigt hatten und
über das auf Grundlage eines Entwurfes des Familienministeriums verhandelt worden war. Dies geschah nach
dem Motto: Gönnen wir der damaligen Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen nicht noch einen
weiteren Erfolg in Sachen Familien- und Kinderpolitik,
nachdem sie dieses Feld aus dem Schattendasein geholt
hat, das es bei Rot-Grün fristete.
({0})
Nun will die SPD mit ihrem Antrag zur Verbesserung
des Kinderschutzes Versäumtes wiedergutmachen. Diese
Einsicht ist durchaus lobenswert, Frau Rupprecht,
kommt aber reichlich spät, da die Blockade uns wichtige
Monate zulasten betroffener Kinder gekostet hat.
({1})
Die Ansätze in dem Antrag der SPD sind wenig zielführend: Da wird auf einer grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten bestanden, die unnötig ist. Wir
von der Union sind der Meinung, dass die im Grundgesetz bereits verankerten Kinderrechte ausreichend sind.
Sie müssen nur mit Leben erfüllt werden, sprich: Es
muss endlich ein Gesetz zum Schutz von Kindern verabschiedet werden.
({2})
Dies ist im Übrigen auch die Auffassung vieler Experten.
Ich möchte aus Art. 6 des Grundgesetzes zitieren - in
diesem Artikel geht es um Familien und Kinder -:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft.
Jetzt kommt das Wichtigste:
Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der
Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
Durch eine Änderung des Grundgesetzes würden falsche Hoffnungen geweckt. Durch eine Änderung oder
Ergänzung des Grundgesetzes lässt sich der Kinderschutz nicht verbessern.
Notwendig ist vielmehr ein umfassendes Kinderschutzgesetz, das auf zwei Säulen beruht. Diese beiden
Säulen sind - Frau Landgraf hat das schon gesagt - Prävention und Intervention.
({3})
Prävention heißt: Vorbeugung und Früherkennung.
Ein funktionierendes soziales Frühwarnsystem von Risikofrüherkennung bis hin zu wirksamen Hilfen ist Voraussetzung für die Prävention von Kindervernachlässigung und Kindesmisshandlung. Der Kinderschutz kann
sicherlich nicht allein durch ein Gesetz oder durch Einführung einer zusätzlichen Früherkennungsuntersuchung
verbessert werden. Vielmehr braucht es ein ganzes Netz
von Hilfen, die frühzeitig ansetzen müssen.
({4})
Vor der Geburt des Kindes, aber auch danach müssen
wir den Eltern Hilfestellung geben: durch Entwicklungsbegleitung, durch Beratung über Pflege und Erziehung
von Kindern und durch Frühförderung. Nur so können
wir den Schutz- und Entwicklungsbedürfnissen des Kindes gerecht werden und die vorrangige elterliche Erziehungsverantwortung und -kompetenz stärken.
({5})
Der präventive Ansatz umfasst aber auch die gezielte
Unterstützung von Eltern in belastenden Lebenssituationen, die spezifische Risiken für Kinder bergen können.
Welches sind die wirksamsten Zugangswege zu risikobelasteten Eltern? Und sind die Hilfen, die angeboten
werden, die richtigen? In unterschiedlichen Modellprojekten im Rahmen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen
für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ beschäftigen sich die Kommunen derzeit mit diesen Fragen, die insbesondere die Phasen der Schwangerschaft,
der Geburt und des frühen Säuglingsalters betreffen. Erforderlich ist ebenfalls eine enge, verlässliche Vernetzung und Zusammenarbeit von Behörden, Diensten und
Einrichtungen wie Kinderärzten, Hebammen, Geburtskliniken, Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Schwangerschaftsberatung, Frauenhäuser, Polizei und Gerichte.
Dies ist eine zentrale Voraussetzung, um Entscheidungen
qualifiziert treffen zu können.
Auch hier sind noch Fragen offen: Welche Rahmenbedingungen brauchen wir, damit diese Netzwerke funktionieren? Was ist förderlich bzw. hinderlich bei der Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und
dem Gesundheitssystem, und wo gibt es Lücken in der
Hilfestruktur?
Im Bereich der Intervention werden wir uns zur Erhöhung der Rechtssicherheit und zum Schutze unserer Kinder für klare bundeseinheitliche Regelungen einsetzen
und für die Weitergabe von Informationen an das Jugendamt im Falle von Gefährdungen des Kindeswohls.
Ich freue mich daher ganz besonders, dass unsere Familienministerin, Frau Dr. Kristina Köhler, das Kinderschutzgesetz ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat.
Meine Damen und Herren, im Interesse eines aktiven
und wirksamen Kinderschutzes wünsche ich mir, dass
wir trotz aller unterschiedlichen Ansichten, die hier geäußert wurden, gute, konstruktive und zielführende Arbeit leisten, damit dieses so wichtige Thema nicht in die
Mühlen von Halbherzigkeiten gerät.
({6})
Zum Wohle unserer Kinder fordere ich Sie alle zur praktischen Mitarbeit auf. Ich hoffe, dass wir dieses wichtige
Vorhaben bald erfolgreich zum Abschluss bringen werden.
Vielen Dank.
({7})
Herr Kollege Pols, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer
ersten Rede sehr herzlich. Ich wünsche Ihnen in Ihrer
weiteren Arbeit viel Freude und Erfolg.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/498 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Dr. Hermann Ott, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Regierungs- und Parlamentshandeln konse-
quent am 40-Prozent-Klimaziel ausrichten
- Drucksache 17/446 -
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimaschutzgesetz vorlegen - Klimaziele verbindlich festschreiben
- Drucksache 17/132 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen
- Drucksache 17/522 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
dass Sie auch damit einverstanden sind. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Klimakonferenz von Kopenhagen ist gescheitert.
Nun kommt es auf uns an. Die Welt braucht jetzt Vorreiter im Klimaschutz. Und Deutschland braucht die Wirtschaftskraft und die Arbeitsplätze, die eine solche Vorreiterrolle mit sich bringt.
({0})
Das heißt, die Konsequenz aus dem Scheitern von Kopenhagen kann nicht die Abschwächung der deutschen
Klimaziele sein; denn das würde letzten Endes den Klimaschutz untergraben und der Zukunftsfähigkeit unserer
Wirtschaft schaden.
Wir haben es im Automobilbereich gesehen: Wenn
man die Trends verschläft, gefährdet man die Arbeitsplätze. Das soll uns beim Klimaschutz nicht passieren.
({1})
Deshalb habe ich mit großer Sorge gehört, wie die Bundeskanzlerin letzte Woche in ihrer Regierungserklärung
das deutsche Klimaziel für 2020 infrage gestellt hat. Das
Ziel ist, die deutschen Treibhausgasemissionen bis 2020
um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Dazu hat die
Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung von diesem Pult
aus gesagt:
Was ich nicht zulassen werde …, ist, dass wir von
30 auf 40 Prozent gehen, andere ihre Position nicht
verändern und wir anschließend etwas versprechen
sollen, was wir zum Schluss realistischerweise
nicht halten können.
Das klingt für mich wie eine Relativierung des 40-Prozent-Ziels. Wenn es nicht so gemeint ist, liebe CDU/
CSU, können Sie heute mit einer Zustimmung zu unserem Antrag deutlich machen, dass Sie das Ziel der Reduktion um 40 Prozent weiterhin verfolgen wollen.
({2})
Wir dürfen beim Klimaschutz nicht zurückweichen,
sondern müssen vorangehen. Deshalb schlagen wir im
zweiten Antrag, den wir jetzt zur Abstimmung stellen,
ein Klimaschutzgesetz vor. Wir wollen ein Klimaschutzgesetz, weil wir damit Klimaziele verbindlich festschreiben und präzisieren sowie ihre Erreichung regelmäßig
überprüfen können. Andere Länder haben es vorgemacht: Zum Beispiel hat Großbritannien 2008 ein solches Gesetz eingeführt. Brasilien hat nach der Konferenz
in Kopenhagen gesagt: Wir zeigen es der Welt; wir sind
zuverlässig und setzen ein Klimaschutzziel fest. Anfang
dieses Jahres ist ein entsprechendes Gesetz in Brasilien
in Kraft getreten.
Es wäre ein tolles Signal, wenn wir im Bundestag sagen würden: Das machen wir auch.
({3})
Ich spreche die Kollegen Göppel und Jung an, mit denen
wir viele gute Sachen auf den Weg gebracht haben: Es
wäre eine gute Sache, das fraktionsübergreifend hinzubekommen. Wir bieten Ihnen hier die Zusammenarbeit
an.
Ein Klimaschutzgesetz kann viel leisten. Bislang ist
es so: Es gibt Klimaschutzziele; aber sie sind nicht mehr
als politische Versprechungen. Wir wollen eine größere
Verbindlichkeit der Klimaschutzziele erreichen: eine
konkrete Klimaschutzstrategie, Zwischenziele, Sektorziele - etwa in den Bereichen Verkehr und Landwirtschaft - sowie mehr Transparenz und Kontrolle. Jedes
Jahr muss geklärt werden: Sind wir auf einem guten
Weg? Wir können nicht heute hier Versprechungen machen, von denen wir wissen, dass sie bis 2020 gar nicht
eingehalten werden.
({4})
Eines kann ein Klimaschutzziel nicht: Es kann wirksame Klimaschutzmaßnahmen nicht ersetzen. Da herrscht
bei der Regierung leider völlige Fehlanzeige. Herr Mi1668
nister Röttgen redet viel und schön über den Klimaschutz; aber er tut das Gegenteil bzw. gar nichts:
({5})
kein Effizienzgesetz, keine Energiesparfonds, kein Tempolimit. Stattdessen unterstützt der Minister neue, klimaschädliche Kohlekraftwerke und den Ausbau von Flughäfen. Das ist das Gegenteil von Klimaschutz.
({6})
Minister Röttgen möchte den erneuerbaren Energien
die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken
als Bremsklotz entgegenstellen. Das ist keine Brücke,
das ist ein Bremsklotz, eine Mauer, gegen die Sie die erneuerbaren Energien fahren.
({7})
Mit der überzogenen Kürzung der Solarförderung
droht Minister Röttgen ganze Branchen zu ruinieren, wie
das die letzte Koalition zum Beispiel mit den Biokraftstoffen ja auch schon gemacht hat. Wir brauchen mehr
Klimaschutz, und wir brauchen in diesem Bereich mehr
Arbeitsplätze in Deutschland.
({8})
Wenn man weiter so wie die jetzige Bundesregierung
vorgeht, dann ist Deutschland nicht Vorreiter im Klimaschutz; denn als Vorreiter im Klimaschutz brauchen wir
beides: ehrgeizige Ziele und konsequentes Handeln. Das
wollen wir erreichen - auch mit diesem Antrag.
Wir bitten Sie um gute Beratungen im Ausschuss
nach der Überweisung und darum, dass wir gemeinsam
ein solches Klimaschutzgesetz auf den Weg bringen.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich erinnere mich an die Debatte vor dieser Konferenz
von Kopenhagen.
({0})
Bei dieser Debatte haben wir einvernehmlich gesagt:
Dieser Gipfel von Kopenhagen darf nicht scheitern.
Heute stellen wir ebenfalls gemeinsam fest: Es ist
zwar ein kleiner Schritt erreicht worden, aber das, was
wir uns erhofft und wofür wir, die Bundesregierung und
auch die Europäische Union gekämpft haben, ist nicht
erreicht worden. Davon sind wir weit entfernt. Ich
glaube, deshalb ist es normal, dass sich bei denen, die
dabei waren, und bei denen, die diesen Prozess beobachtet haben, Ernüchterung und Enttäuschung breitmachen.
({1})
Wenn man die Konsequenzen zu ziehen hat, dann muss
man aber auch die Frage beantworten, woran dieser Gipfel gescheitert ist.
({2})
Zunächst ist hier die USA zu nennen. Auch wir alle
gemeinsam hatten große Hoffnungen in Präsident
Obama und in die von ihm angekündigte neue Politik
gesetzt, die er bei diesem Gipfel zumindestens noch
nicht erfüllen konnte. Die Angebote, die die USA vorgelegt haben, kamen spät und waren unzureichend.
Es ist die Volksrepublik China zu nennen, die sich gegen die Vereinbarung verbindlicher und nachprüfbarer
Klimaschutzziele gewehrt hat. Nach unserem Eindruck
hat sie sich sogar mehr als bei vergangenen Gipfeln dagegen gewehrt. Sie hat gesagt: Wir, China, und die anderen armen Länder müssen außen vor bleiben. Wir armen
Länder dürfen nicht belastet werden.
({3})
Das alles hat dazu geführt, dass die Verhandlungen
auf diesem Gipfel nicht nur schwierig waren, sondern
dass die entscheidenden Ziele am Ende nicht erreicht
wurden.
Es ist auch eine chaotische Organisation zu nennen,
durch die vieles erschwert wurde.
Zu nennen ist sicherlich auch eine undiplomatische
Moderation der dänischen Präsidentschaft, durch die
vieles noch mehr erschwert wurde.
Schließlich ist auch die eine oder andere Blockade zu
nennen. Für die Motivation, solche Blockaden zu errichten, kann man zumindest teilweise Verständnis haben,
im Ergebnis haben sie aber dazu geführt, dass wertvolle
Zeit verloren wurde.
({4})
Ich will gar nicht bestreiten, dass ein solcher Gipfel
auch Anlass sein kann, die eigene Strategie zu überdenken, aber zunächst einmal will ich festhalten: Gescheitert ist dieser Gipfel an anderen, gescheitert ist er nicht
an der EU und nicht an der Bundesrepublik, die mit der
Bundeskanzlerin und mit dem Bundesumweltminister
glänzend verhandelt hat.
({5})
Andreas Jung ({6})
Der Umweltminister hat in der Haushaltsdebatte als
Konsequenz aus diesem Gipfel gesagt, dass die Parole
jetzt heißen muss: Jetzt erst recht! Was heißt dieses
„Jetzt erst recht“?
Für mich heißt das zum einen, dass wir feststellen
müssen, dass zwar ein Klimagipfel, aber eben nicht der
Klimaschutzprozess gescheitert ist und dass es deshalb
nach wie vor keine Alternative zu dem Klimaschutzprozess unter dem Dach der Vereinten Nationen gibt.
({7})
Zum anderen: Wenn man dann fragt, was mit der eigenen Strategie ist und ob wir genauso weitermachen
wollen wie zuvor, dann muss die Botschaft „Jetzt erst
recht“ heißen, dass wir als Bundesrepublik und als Europäische Union unsere Vorreiterrolle ausbauen. Wir als
Bundesrepublik bekennen uns dazu. Minister Röttgen
hat ganz eindeutig klargestellt, dass es keine Relativierung des unkonditionierten 40-Prozent-Ziels der Bundesrepublik Deutschland gibt.
Ich persönlich bin der Meinung, dass unsere Botschaft an die EU sein sollte, dass auch sie ihr 30-Prozent-Ziel unkonditioniert erklärt und damit das nachvollzieht, was wir in Deutschland schon gemacht haben.
Damit könnten wir gemeinsam deutlich machen, dass es
jetzt darauf ankommt, dass diejenigen, die den Erfolg
wollen, schneller vorangehen und zeigen, dass Klimaschutz und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehören
und dass unkonditionierte Ziele deshalb keine Bedrohung, sondern gerade auch für Arbeitsplätze und Wirtschaft eine Chance sind.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Wie immer sehr gerne.
Bitte.
Danke schön. Es beruht ja auch auf Gegenseitigkeit,
Zwischenfragen zuzulassen.
Ich habe mich sehr über die von Ihnen geäußerte persönliche Meinung zum unkonditionierten 30-ProzentZiel gefreut. Teilen Sie auch meine Einschätzung, die die
internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen in Kopenhagen vorgetragen haben, dass es die
letzte Chance der Europäischen Union gewesen ist, im
weiteren Prozess aus der konditionierten Klimaschutzzusage - die Bedingung ist, dass andere mitmachen - eine
unkonditionierte Klimaschutzzusage zu machen?
Wissen Sie, dass es die Bundeskanzlerin war, die anders als der französische Staatspräsident, der britische
Premierminister und die Vertreter der skandinavischen
Staaten in Kopenhagen dagegen gestimmt hat? Wissen
Sie, dass in dieser Woche auch der deutsche Vertreter in
Brüssel erneut gegen ein unkonditioniertes Klimaschutzziel gestimmt hat? Würden Sie uns darin unterstützen,
das zu ändern?
Herr Kollege Kelber, erstens glaube ich, dass ich eindeutig meine Auffassung klargemacht habe, die wohl
auch geteilt wird, dass dieser Gipfel nicht an der Bundesrepublik Deutschland oder der EU und auch nicht daran gescheitert ist, ob die EU konditionierte oder unkonditionierte Angebote gemacht hat. Ich glaube, da gibt es
kein Vertun.
Zweitens teile ich ausdrücklich nicht die Auffassung,
dass Kopenhagen oder bestimmte Angebote in Kopenhagen die letzte Chance gewesen sind. Das würde nämlich
in der Konsequenz bedeuten, dass wir jetzt keine Chance
mehr haben und die Flinte ins Korn werfen könnten. Das
ist ausdrücklich nicht meine Auffassung.
Ich glaube, dass wir jetzt erst recht die Chance ergreifen und uns daranmachen müssen, in Deutschland und in
der Europäischen Union mit klaren Zielen und Maßnahmen voranzugehen.
({0})
- Frau Merkel hat eindeutig klargemacht, dass auch sie
weiterhin zu der Vorreiterrolle der Bundesrepublik und
der Europäischen Union steht, und zwar sowohl bei den
Verhandlungen auf internationaler Ebene als auch bei
den Maßnahmen, die in Deutschland zu treffen sind.
({1})
Ich kann in der knappen Zeit nicht auf jeden einzelnen Einwand von Frau Kollegin Höhn eingehen. Ich will
nur die Kritik, die sehr pauschal vorgetragen wurde,
ebenfalls pauschal zurückweisen.
({2})
Denn die Bundesregierung geht konsequent den Weg des
Klimaschutzes weiter. Das gilt auch für die Bereiche, in
denen es um Energieeffizienz und Energiesparen geht.
Deshalb sind wir gemeinsam froh, dass die Mittel für die
Gebäudesanierung fließen. Übrigens sind dafür im letzten Jahr so viele Mittel geflossen wie wohl noch nie.
Deshalb stehen wir auch dafür, verlässliche Grundlagen für erneuerbare Energien zu schaffen, und zwar sowohl beim Erneuerbare-Energien-Gesetz als auch beim
Marktanreizprogramm, und deshalb waren wir auch
dankbar dafür, dass unser Haushälter Bernhard SchulteDrüggelte eindeutig klargemacht hat, dass der Sperrvermerk beim Marktanreizprogramm verschwinden sollte.
Denn es sollte für den Umwelthaushalt kein Risiko
Andreas Jung ({3})
bedeuten, ob mit Zertifikaten mehr oder weniger Geld
erzielt werden kann.
Frau Kollegin Höhn, Sie haben die Automobilindustrie angesprochen. Die Bundesregierung hat klargemacht, dass sie im Verkehrsbereich einen klaren Schwerpunkt auf das Thema Elektromobilität setzen möchte,
um zu erreichen, dass wir im Verkehr, der in Deutschland zu einem erheblichen Anteil zu den CO2-Emissionen beiträgt, umweltfreundlicher und effizienter unterwegs sind.
Ich glaube, das alles sind Maßnahmen, durch die unterstrichen wird, dass die Bundesregierung einerseits die
Ziele ernst nimmt und andererseits konkrete Maßnahmen angeht, um diese Ziele zu verwirklichen.
Ich freue mich auf die Debatte über diese Maßnahmen wie auch über Ihren Antrag und andere Vorschläge
im Plenum und im Ausschuss.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
der Kollegin Bulling-Schröter?
Bitte schön.
Danke schön, Herr Kollege Jung. - Wir stimmen darin überein, dass wir mehr Energieeffizienz brauchen.
Darin sind wir uns auch im Umweltausschuss sehr einig.
Meine Frage ist: Wann legt die Koalition das Energieeffizienzgesetz vor? Sie wissen, dass es in der letzten Legislaturperiode nicht verabschiedet wurde, weil sich der
Wirtschaftsminister und der Umweltminister uneinig
waren. Nun ist die Situation folgende: Die EU wartet.
Wenn wir das nicht umsetzen, muss die Bundesrepublik
Strafe zahlen. Das wollen wir alle nicht. Im Sinne der
Energieeffizienz frage ich deshalb: Wann können wir
dieses Gesetz im Umweltausschuss verhandeln?
Frau Kollegin, Sie werden Verständnis dafür haben,
dass ich Ihnen kein genaues Datum nennen kann. Wie
auch ich wissen Sie, dass wir nicht nur einen neuen Wirtschaftsminister, sondern auch einen neuen Umweltminister haben. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass wir
sehr bald über dieses Gesetz beraten und darüber sprechen werden, wie wir die Verbesserung der Energieeffizienz über die Maßnahmen hinaus, die wir bereits ergriffen haben, voranbringen können. Ich denke, dass die
neue Koalition gerade an dieser Stelle Schwerpunkte setzen wird. Denn wir wissen: Die Energieeffizienz, ein
Bereich, in dem wir einsparen können - ich habe den
Gebäudebereich genannt -, ist einer der Bereiche, in
dem wir den Klimaschutz besonders effizient vorantreiben können. Wir können uns also gemeinsam darauf
freuen, dass wir schon bald entsprechende Gesetze beraten können.
({0})
Ich komme damit zum Ende meiner Rede. Ich möchte
festhalten, dass wir uns national auf einem guten Weg
befinden. Wir geben das an Europa weiter und sollten
gemeinsam dafür arbeiten, dass Kopenhagen nicht der
Endpunkt war. Wir sollten Anlauf für einen neuen Versuch nehmen, um am Ende zu erreichen, was wir alle für
notwendig halten, nämlich ein internationales, ein verbindliches und ein ehrgeiziges Klimaschutzabkommen
unter Einbeziehung der Industriestaaten, aber auch unter
Berücksichtigung und Mitwirkung der Schwellen- und
Entwicklungsländer. Dazu gibt es nach wie vor keine Alternative.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kanzlerin Angela Merkel hat Ende Dezember vor einem
Schlechtreden der Ergebnisse des Klimagipfels in Kopenhagen gewarnt. Ich sage klipp und klar: Wenn man
die Ergebnisse an den Zielen misst, bleibt nur eine
Schlussfolgerung: Die Konferenz in Kopenhagen ist gescheitert.
Warum ist sie gescheitert? Sie ist sicherlich an China,
an den USA und anderen gescheitert. Aber auch Europa
hat nicht alles getan, was es in Kopenhagen und vor Kopenhagen hätte tun können. Kollege Jung hat gerade gesagt, dass die Regierung glänzend war. Ich sage: Die Regierung ist glänzend gescheitert, und zwar mit ihrer
Strategie und ihrer falschen Einschätzung der politischen
Lage vor Kopenhagen und in Kopenhagen.
({0})
Es war falsch, zu glauben, dass es eine Schlussrunde
geben würde und Europa in dieser Schlussrunde das
unkonditionierte 30-Prozent-Ziel auf den Tisch legen
könnte. Zu dieser Schlussrunde kam es gar nicht. Europa
hat sich aus dieser Schlussrunde herausmanövriert und
keine Dynamik erzeugt. Deutschland war maßgeblich
daran beteiligt.
Was mich in der Tat interessiert, ist etwas, das gerade
nicht deutlich geworden ist - gleich spricht aber noch ein
Redner von der Koalition -: Was ist denn nun eigentlich
die Position der Bundesregierung zum unkonditionierten 30-Prozent-Ziel? Wenn ich den Herrn Kollegen
Jung richtig verstanden habe, hat er Bundesminister
Röttgen so interpretiert, dass dieser für ein unkonditioniertes 30-Prozent-Ziel eintritt. Wie aber verträgt sich
das mit den Ausführungen der Kanzlerin in der Haushaltsdebatte der letzten Woche? Da hat sie sich nämlich
ausdrücklich dagegen ausgesprochen, als Europäische
Union mit einem unkonditionierten Ziel voranzugehen.
An dieser Stelle hätte ich gerne Klarheit.
Was wir in Kopenhagen sicherlich erlebt haben, ist
eine Neuaufstellung der Welt, eine neue Situation für
Europa. Man muss darüber reden, wie Europa und die
europäischen Institutionen gestärkt werden können und
wie man auf solchen Konferenzen auftritt. Dazu werden
wir an anderer Stelle noch Gelegenheit haben. Heute
werden wir das nicht umfassend erläutern können.
Was wir aber erläutern können, ist die deutsche Rolle
in Kopenhagen. Es war eine unsägliche Debatte, die die
Bundesrepublik Deutschland vor Kopenhagen zur Frage
der Verrechnung der Posten für die Entwicklungszusammenarbeit mit den Aufwendungen für den Klimaschutz
begonnen hat.
({1})
Man muss sich vergegenwärtigen, mit wem man auf
internationaler Ebene eigentlich redet. Es gibt ein Zitat
des Vertreters von Tuvalu in Kopenhagen, der gesagt
hat:
Es ist nicht leicht für einen Mann, das zuzugeben, aber heute morgen erwachte ich weinend.
Es geht um die Existenz von Staaten, dramatische Veränderungen in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und
Asiens sowie kaum vorstellbare Probleme. Trotzdem
wollen Sie von der Koalition, angeführt von Herrn
Niebel, diese Staaten gewinnen, indem Sie die Mittel für
den Umgang mit dem Klimawandel, Deichbau, Waldschutz und andere Maßnahmen mit den Mitteln für die
Armutsbekämpfung und die Malariaprophylaxe verrechnen. Das ist nicht nur zynisch. Vielmehr scheitern Sie
mit solchen Plänen auf der internationalen Bühne. Deswegen fordere ich Sie auf: Korrigieren Sie Ihre Position
- Sie haben heute oder demnächst im Deutschen Bundestag Gelegenheit dazu -, damit Deutschland wieder
eine führende Rolle in Europa einnehmen kann und damit Europa letztendlich weltweit führend sein kann!
({2})
Es geht nicht nur um eine führende Rolle in der internationalen Politik, sondern auch um Glaubwürdigkeit in
der nationalen Politik. Es geht jetzt um die Frage, ob Klimaschutz Hemmschuh oder Fortschrittsmotor ist. Wir begrüßen in der Tat das unkonditionierte 40-Prozent-Ziel.
Wir begrüßen auch, dass auch Sie sich mittlerweile unkonditioniert dazu bekennen. Aber es reicht eben nicht,
schöne Reden zu halten, wie es Herr Röttgen und andere
gelegentlich tun. Sie betreiben ein Versteckspiel in der
Energiepolitik. Sie wollen erst im Oktober ein Energiekonzept auf den Tisch legen, Hauptsache, nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Klar ist aber schon
jetzt: Sie wollen die Atompolitik fortsetzen. Sie wollen
die Sonnenenergieförderung herunterfahren. Sie sind außerdem beim Thema Energieeffizienz unambitioniert.
Feld eins, die Atompolitik. Man muss Ihnen von der
Regierung und in der Koalition bei diesem Thema jeden
Wurm aus der Nase ziehen. Sie wollen tricksen und Altreaktoren wie Neckarwestheim und Biblis A am Netz
lassen. Sie leiten die Energieversorgungsunternehmen
geradezu zum Vertragsbruch an. Das führt zu nichts anderem, als dass den Energieversorgern die Taschen gefüllt werden. Sie bremsen Investitionen. Das Ganze ist
- so will ich das nennen - mit einer Schamprämie verbunden, die vielleicht gut gemeint ist, aber im Endeffekt
für die Förderung der erneuerbaren Energien nichts
bringt, weil sie viel zu spät kommt.
({3})
Damit komme ich zu Feld zwei. Wenn Sie die erneuerbaren Energien fördern wollen, dann dürfen Sie nicht
zur Abbruchbirne greifen und massive Einschnitte im
Erneuerbare-Energien-Gesetz vornehmen. Das ist bislang das einzig Konkrete, was Sie bislang auf den Tisch
gelegt haben. Warme Worte reichen nicht aus. Es gibt
massive Auseinandersetzungen in der Koalition. Ich
möchte den Kollegen Michael Fuchs, Vorsitzender des
Parlamentskreises „Mittelstand“ der Union, aus dem
heutigen Handelsblatt zitieren:
Ziel müsse es sein, zusätzliche Milliardenbelastungen für die Verbraucher und unsere Wirtschaft zu
vermeiden. „Strom muss in Deutschland bezahlbar
bleiben. Nur so bleiben wir wettbewerbsfähig“ …
Er fordert eine Kappung der Subventionen für Sonnenenergie um 25 bis 30 Prozent. Das hört sich an wie Vorschläge aus der Steinzeit oder wie die Debatten von vor
20 Jahren. Ich bin gespannt, wie die Debatte ausgeht.
Denn gleichzeitig war heute in der Frankfurter Rundschau zu lesen: Der CDU-Bundestagsabgeordnete
Ulrich Petzold kündigte in der Mitteldeutschen Zeitung
Widerstand seiner Fraktion an. Wichtig wäre, dass es für
diese Branche schnell Klarheit gibt, damit Investitionssicherheit gewährleistet ist.
({4})
Feld drei ist gerade genannt worden. Es handelt sich
um das Thema Energieeffizienz. Es ist schon für die
Große Koalition unrühmlich gewesen, dass wir nicht zu
einem Energieeffizienzgesetz gekommen sind. Sie wollen nun eine Eins-zu-eins-Umsetzung im Rahmen der
Europäischen Union. Sie wollen von dem Effizienzziel,
um 3 Prozent pro Jahr zu steigern, abrücken. Sie sind
nicht mehr in der Lage, die EU-Vorgaben zu erfüllen,
und sehen sich nun mit Klageverfahren der Europäischen Union konfrontiert.
Wenn man die in der Großen Koalition gemeinsam
gefassten Klimabeschlüsse von Meseberg im Jahr 2007
zugrunde legt und nachrechnet, dann kommt man zu einem Reduktionsziel von 35 bis 36 Prozent. Wenn man
berücksichtigt, dass Sie die Vorgaben nicht einhalten und
dass schon zuvor Dinge verwässert wurden, dann kommt
man vielleicht auf knapp 30 Prozent. Das reicht nicht
aus. Sich viele Ziele zu setzen, ist das eine. Etwas anderes ist aber, Ziele entsprechend zu unterlegen. Deswegen
fordern wir genauso wie die Fraktion der Grünen ein
Klimaschutzgesetz in Deutschland, das sich am Climate
Change Act orientiert, den es in Großbritannien schon
seit 2008 gibt. Das bringt zweierlei: zum einen ein langfristiges Klimaschutzziel von 80 bis 95 Prozent bis zum
Jahr 2050 und zum anderen eine jährliche Überprüfung
der Maßnahmen der Regierung durch ein unabhängiges
Gremium, zu dessen Vorschlägen sich die Regierung
entsprechend verhalten muss. Das fordern wir. Sie haben
ja bis zum Oktober Zeit, ein entsprechendes Gesetz vorzulegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in jedem Scheitern
liegt aber auch eine Chance, hier die Chance, den internationalen Wettbewerb um das beste Klimaschutzgesetz
zu beginnen, zu begreifen, dass Klimaschutz im nationalen Interesse liegt, unabhängig davon, was international
geschieht. Um diese Chance zu wahren, dürfen Sie in der
Regierung aber die Energiewende nicht blockieren, denn
damit würden Sie ökonomische Chancen und Vertrauen
in der Welt verspielen.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Klimaschutz ist eine Frage von Generationengerechtigkeit; Klimaschutz ist aber auch eine Aufgabe für eine Innovationsstrategie in diesem Land. Wenn wir Vorreiter im
Klimaschutz sind und davon ausgehen, dass dies der
weltweite Trend ist, dann ist es eben auch eine kluge
Technologiepolitik, Vorreiter beim Klimaschutz zu sein.
Deshalb - das sage ich sehr eindeutig - steht diese Koalition für 40 Prozent CO2-Verringerung bis zum Jahr 2020,
ohne Wenn und Aber.
({0})
Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir weiterhin das Einsparziel von 80 bis 95 Prozent bis zum
Jahr 2050 in die Verhandlungen in dem UN-Prozess aufnehmen und daran auch unsere Szenarien ausrichten,
beispielsweise für das Energiekonzept, an dem diese Regierung arbeitet.
Der Deutsche Bundestag hat eine CO2-Reduzierung
um 40 Prozent bis 2020 bereits beschlossen - da waren
Sie alle hier -, nämlich am 3. Dezember 2009, ein so
ambitioniertes Ziel, wie es der Deutsche Bundestag vorher nicht beschlossen hat: 40 Prozent bis 2020 unkonditioniert, 80 bis 95 Prozent bis 2050. Deshalb haben wir
überhaupt keinen Nachholbedarf. Es ist nicht nötig, dass
die Opposition jetzt hier einen Schaufensterantrag stellt.
Wir springen nicht über jedes Stöckchen, das Sie uns
hinhalten. 40 Prozent galt vor Kopenhagen, 40 Prozent
gilt nach Kopenhagen, und das wird diese Koalition so
verwirklichen, unabhängig von Ihrem Antrag.
({1})
Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höhn?
Ja.
Bitte schön, Frau Höhn.
Herr Kollege Kauch, ich habe eben die Bundeskanzlerin zitiert. Aus dem Zitat wird sehr deutlich, dass sie
keineswegs mehr zu diesem 40-Prozent-Ziel steht, sondern dass sie es infrage stellt. Sie haben jetzt sehr deutlich gesagt, Sie stehen trotzdem zu diesem 40-ProzentZiel.
Wir stellen heute einen Antrag zur Abstimmung, der
die Frage zu beantworten trachtet, ob diese Koalition
weiterhin zum 40-Prozent-Ziel steht. Stimmen Sie unserem Antrag zu, ja oder nein? Das wüsste ich gern.
Liebe Frau Höhn, als wir in der Opposition waren, haben wir diese Spielchen auch gemacht; das gehört ja irgendwie zum Geschäft.
({0})
Aber wenn der Umweltminister hier erklärt - die Kanzlerin hat das überhaupt nicht infrage gestellt -, dass das
Ziel von 40 Prozent unkonditioniert gilt, wenn der Koalitionspartner, die FDP, erklärt, dieses Ziel gelte unkonditioniert, wenn dies der Außenminister und der Entwicklungshilfeminister sagen, dann, liebe Frau Höhn,
können Sie davon ausgehen, dass diese Zusage auch
stimmt.
({1})
Meine Damen und Herren, wir werden deshalb das
tun, was in der Koalitionsvereinbarung steht. Wir werden im Jahr 2010 das Integrierte Klima- und Energieprogramm daraufhin überprüfen, ob die Ziele der Bundesregierung erreicht werden. Zu diesen Zielen gehört die
Reduzierung der CO2-Emissionen unkonditioniert um
40 Prozent bis 2020. Ebenso wissen wir, dass wir mit
dem, was die früheren Regierungen hierzu geliefert haben - auch die rot-grüne -, diese 40 Prozent nicht erreichen. Deshalb müssen wir herausfinden, wie wir unser
Ziel erreichen können.
Wir haben einen Emissionshandelssektor, auf dem europarechtlich bis 2020 alles geregelt ist. Das heißt, wenn
wir zusätzliche Maßnahmen ergreifen wollen und müssen, dann muss dies in den Nichtemissionshandelssektoren passieren, also konkret im Wärmesektor und im Verkehr. Da wir wissen, dass der Wärmesektor bei der CO2Einsparung tendenziell billiger ist, wird das der Schlüssel sein, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
Ob wir in diesen Sektoren dann eine gesetzliche Fixierung von Zielgrößen brauchen, werden wir bei der
Überprüfung des Integrierten Klima- und Energieprogramms diskutieren. Ich sage aber auch ganz klar: Die
gesetzliche Fixierung von Zielgrößen spart noch keine
Tonne CO2 ein. Da muss man schon konkrete Maßnahmen benennen, die dann auch umgesetzt werden: bei den
Bürgern, bei den Unternehmen. Mit vielen kleinen Einzelmaßnahmen - nicht mit großen Überschriften - werden wir das 40-Prozent-Ziel erreichen.
({2})
Die FDP wirbt weiterhin dafür, dass wir - anders als
es beispielsweise die Grünen wollen - den Emissionshandel ausweiten, nämlich auf die Bereiche von Wärme
und Verkehr; denn das würde bedeuten, dass eine gesetzliche Obergrenze festgelegt wird, die dann auch für jeden Bürger und jedes Unternehmen verbindlich ist - anders als das im Klimaschutzgesetz vorgesehen ist, das
Sie vorschlagen. Wir halten das weiterhin für den richtigen Weg und werben auch bei unserem Koalitionspartner dafür, noch einmal in diese Richtung zu denken.
Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schwabe von der
SPD?
Ja.
Herr Kauch, habe ich Ihre Ausführungen zur Frage
der gesetzlichen Fixierung und zur Frage der einzelnen
Maßnahmen richtig verstanden in dem Sinne, dass Sie
ein Klimaschutzgesetz für überflüssig halten?
Lieber Kollege Schwabe, es gilt das, was ich gesagt
habe: Wir werden beim Integrierten Klima- und Energieprogramm überprüfen, welche Maßnahmen notwendig sind. Wir werden auch prüfen, ob ein solcher Weg
sinnvoll ist. Ich sage aber deutlich: Der beste Weg wäre
die Ausweitung des Emissionshandels auf die Bereiche
Wärme und Verkehr. Über zweitbeste Lösungen werden
wir sprechen, wenn es so weit ist, lieber Kollege.
({0})
Nun zur internationalen Verhandlungsposition. Wie
schaffen wir es, die Ziele, die wir uns gesetzt haben,
auch tatsächlich zu erreichen? Wenn wir vorangehen
wollen, wenn wir das auch unkonditioniert wollen, werden nationale Alleingänge für sich genommen - das ist
doch klar - nicht reichen. Deshalb steht die FDP weiterhin zum Prozess in den Vereinten Nationen. Ein Abdriften in bilaterale Abkommen wäre auch aus übergeordneten Gründen der Außenpolitik der falsche Weg. Wir
glauben: Weltinnenpolitik muss bei den Vereinten Nationen gemacht werden.
({1})
Wir stehen also zum UN-Prozess, aber auch wir sagen: Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Bisher ist
es nämlich wie folgt: Man verhandelt auf Beamtenebene
ein Jahr lang. Dann gibt es eine große Konferenz. Die
Staats- und Regierungschefs reisen an den letzten beiden
Tagen an, und dann wundert man sich darüber, dass die
Zeit nicht reicht, um eine Einigung herbeizuführen.
Es ist wichtig, dass man vor den UN-Verhandlungen
auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs - im
Rahmen der G 8 plus 5 oder der Gruppe der 20, wenn
man noch mehr Schwellenländer einbinden will - zu
substanziellen Vorergebnissen kommt. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Es darf nicht einfach
business as usual mit den Beamten geben, sondern wir
brauchen politische Führung, politische Führung von
Europa, politische Führung von den USA. Notwendig ist
aber auch eine Verantwortung der Schwellenländer, allen
voran China. Wir sind bereit, voranzugehen, aber wir erwarten von den anderen, dass sie ihre Beiträge international überprüfen lassen. Das ist die Mindestvoraussetzung, die wir an die Schwellenländer richten müssen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
spreche jetzt nicht über Spielchen, wie vorhin gesagt
wurde, sondern über den Klimagipfel. Der Klimagipfel
war aus Sicht der Linken ein Desaster - das muss man
immer wieder sagen -: kein verbindliches ambitioniertes
Klimaschutzabkommen, sondern nur ein unverbindliches, völlig unzureichendes Abschlussdokument, das lediglich zur Kenntnis genommen werden konnte. Mehr
war da nicht. Das ist das Ergebnis des größten UN-Klimagipfels aller Zeiten nach zweijähriger Vorbereitungszeit. Da kann ich nur sagen: Bravo!
Dass das Abschlussdokument nicht verabschiedet
wurde, empfinde ich persönlich nicht als einen Beinbruch; denn es steht überhaupt nichts darin. Also braucht
man auch nichts zu verabschieden. In diesem Dokument
ist das Ziel formuliert, die Erderwärmung auf unter
2 Grad zu begrenzen. Diese Formulierung bleibt folgenlos und ist nichtssagend. Die notwendigen Minderungsziele werden eben nicht benannt. Dafür befindet sich in
diesem Dokument eine leere Tabelle mit dem Aufruf an
die Industrieländer, bis Ende Januar an das UN-Klimasekretariat freiwillig, also nach Klingelbeutelmethode,
Minderungsziele für 2020 zu melden. Ich bin gespannt,
was dabei herauskommt. Wahrscheinlich kommt das
Gleiche wie in Kopenhagen heraus.
Wenn ich mir anschaue, was da angeboten wurde,
dann stelle ich fest: Die Summe dieser Angebote würde
zu einer Erderwärmung von durchschnittlich 3,5 Grad
Celsius führen. Der Chef des PIK, des Potsdam-Instituts
für Klimafolgenforschung, Herr Schellnhuber, spricht
allerdings davon, dass dann über Land eine Erderwärmung von 5 Grad Celsius befürchtet werden müsse. Man
muss den Menschen in diesem Land sagen, worum es
überhaupt geht: Es geht um eine zu befürchtende Klimaerwärmung von 5 Grad und nicht von 2 Grad oder
1,5 Grad. Hier müssen wir handeln, im Interesse der
Menschen, die demnächst wahrscheinlich absaufen werden.
({0})
Die Industrieländer haben zu wenig vorgelegt - wir
haben es gehört -: Die USA haben ein Minus von
4 Prozent angeboten. Der CO2-Ausstoß der USA ist von
1990 bis jetzt um 17 Prozent gestiegen. Das ist natürlich
zu viel. Die USA müssen sich bewegen. An diesem
Punkt liegt die Hauptursache für die Blockade des Gipfels und nicht bei den angeblichen Desperado-Staaten
wie Venezuela oder Bolivien.
({1})
- Meine Freunde. - In Bezug auf Hugo Chávez und Evo
Morales ist von einigen eine Gespensterdebatte angestoßen worden. Ich muss Ihnen sagen: Mir haben die beiden
gut gefallen. Endlich wurde auf der Klimakonferenz einmal über Kapitalismus, über Arm und Reich und über
Verantwortung gesprochen. Ich finde, es ist an der Zeit,
dass das in viel größerem Ausmaß geschieht.
({2})
Frau Kollegin Bulling-Schröter, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kauch?
Ja, klar.
Bitte schön, Herr Kauch.
Liebe Kollegin, können Sie als Vertreterin der neuen
Kommunistischen Internationalen - wie immer man die
Achse mit Venezuela und Bolivien nennen mag - mir erklären, was die von Ihnen offensichtlich befürwortete
Linie zu Venezuela und Bolivien in Verbindung mit einem Land wie Saudi-Arabien bringt? Venezuela und
Saudi-Arabien hatten eine gemeinsame Verhandlungsposition: Wir blockieren diese Konferenz; wir blockieren die Verhandlungen. Das bedeutet ganz klar, dass Sie
als Linke es hier offensichtlich begrüßen, dass ein feudales und in seinem wirtschaftlichen Gehabe eher kapitalistisches Regime, das vom Ölverkauf lebt, durch Ihre
sozialistischen Freunde unterstützt wurde.
({0})
Ich höre gerade: „Die Frage ist sehr berechtigt!“ Mir
geht es um die Reden. Dabei ging es um Arm und Reich
und um Verantwortung. Dass die Ölstaaten eine Verantwortung haben, das wissen Sie so gut wie ich; Sie kennen mich.
({0})
Man muss Lösungen finden. Wir sind der Meinung: Fossile Energien müssen eingespart werden. Auch wir als
Industriestaat müssen eventuell dafür bezahlen, dass
diese Länder kein Öl mehr fördern. Das müssen wir diskutieren; da sind wir uns einig.
({1})
- Bei Saudi-Arabien nicht. Es geht um andere Länder.
Es ist kein Wunder, dass sich die Supermacht China
bei den mickrigen Angeboten der Industriestaaten weigert, verbindliche Zielstellungen zu übernehmen. Es ist
auch nicht überraschend, dass Tuvalu wenig Lust hat,
seinen Untergang zu beschließen, oder Nicaragua seine
Versteppung. Es wurden wenige finanzielle Beschlüsse
gefasst, und es wurde viel diskutiert. Es ist nicht klar,
wer die versprochenen 100 Milliarden Dollar zahlt. Die
EU und Deutschland haben keine Vorreiterrolle eingenommen. Notwendig ist, dass sich die EU und Deutschland zum informell längst beschlossenen Ziel bekennen,
den CO2-Ausstoß um 30 Prozent zu senken. Zu der versprochenen Summe von 100 Milliarden Dollar kann ich
nur fragen: Wie soll das aufgeteilt werden? Ein Drittel
sollen die Entwicklungsländer selbst bezahlen. Ein weiteres Drittel soll über Carbon-Markets, das heißt über
CDM usw., aufgebracht werden. Wir haben viel darüber
gesprochen. Dabei handelt es sich zum großen Teil um
faule Zertifikate. Einen solchen Weg kann man den Entwicklungsländern nicht zumuten. Außerdem soll das
Ganze auf die Entwicklungshilfe angerechnet werden.
Ich kann dazu nur sagen: Die Bilanz von Kopenhagen
ist verheerend, sowohl in klimapolitischen als auch in
bürgerrechtlichen Fragen.
({2})
Es gab Übergriffe gegen friedliche Demonstrantinnen
und Demonstranten, Pfefferspray-Angriffe und Schlagstockhiebe. Medienvertreter wurden verprügelt. Das ist
für mich keine Demokratie. Wir wollen eine offene Demokratie.
({3})
Wir wollen den offenen Diskurs über diese Fragen.
Das sind übrigens Überlebensfragen. Das trifft uns,
wenn auch etwas später, nämlich genauso wie viele andere. Es wird endlich Zeit, dass gehandelt wird. Ein Klimaschutzgesetz ist wichtig. Es ist ein erster Schritt, genügt aber noch lange nicht.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Michael Kauch.
Liebe Kollegin Bulling-Schröter, wie Ihre Vorredner
von der SPD haben Sie hier eine Falschbehauptung in
den Raum gestellt. Es ist, denke ich, an der Zeit, Ihren
Unterstellungen entgegenzutreten und einmal die Sachlage klarzustellen.
Sie reden immer davon, wir würden die Mittel für den
internationalen Klimaschutz, die an die Entwicklungsländer fließen, mit der Entwicklungshilfe verrechnen.
Das, meine Damen und Herren, tun wir nicht. Wir stellen
frisches Geld bereit. Das, was wir tun, ist, dass wir diese
Gelder auf die Entwicklungshilfequote anrechnen. Genau das haben die alte Regierung und selbst die rotgrüne Regierung getan.
({0})
Das hat sich nicht geändert, meine Damen und Herren.
Ich sage auch ganz klar
({1})
- jetzt kommt wieder eine Wortmeldung von der SPD -:
Obwohl die SPD elf Jahre die Entwicklungshilfeministerin stellte, hat sie es nicht geschafft, die 0,7-ProzentQuote zu erreichen. Es ist ganz klar: Sie laufen hier der
Fata Morgana, dass die Verhandlungen angeblich an der
Haltung von Herrn Niebel gescheitert seien, hinterher.
Es ist absoluter Nonsens, wenn Sie das Herrn Niebel in
die Schuhe schieben wollen. Diese Regierung macht
eine hervorragende Klimapolitik im Umwelt- und im
Entwicklungsministerium.
({2})
Kopenhagen hat gezeigt: Bei den Finanztransfers für
den Waldschutz, beim Technologietransfer und bei den
Anpassungsmaßnahmen für die armen Staaten haben wir
eine Grundsatzeinigung hinbekommen.
({3})
Deshalb können Ihre Argumente eigentlich nur falsch
sein, meine Damen und Herren.
({4})
Ich habe jetzt mehrere Wortmeldungen zu Kurzinterventionen. Wenn ich die zuließe, würde das aber die Debatte verfälschen. Ich schlage vor, dass ich jetzt Frau
Bulling-Schröter die Gelegenheit gebe, zu antworten,
und dass wir dann in der Debatte weiter fortfahren.
({0})
- Sind Sie persönlich angesprochen worden? - Gut,
dann schlage ich vor, dass wir die Wortmeldung von
Frau Wieczorek-Zeul vorziehen.
({1})
- Entschuldigung, die Kurzintervention erfolgte auf den
Redebeitrag von Frau Bulling-Schröter. Sie hat das
Recht zu antworten. Wir können nicht eine Kurzintervention auf Kurzinterventionen mit erneuter Antwortmöglichkeit zulassen. Das entspräche nicht der Geschäftsordnung.
({2})
Wenn Sie Ihre Kurzintervention abgeben wollen, Frau
Wieczorek-Zeul, dann ziehen wir sie jetzt vor. Dann hat
Frau Bulling-Schröter die Chance, zu antworten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt zu
dem klimapolitischen Teil nichts weiter sagen, als dass
es wirklich eine falsche Behauptung ist, dass wir keine
Fortschritte - das habe ich hier schon mehrfach geschildert - bei der Official Development Assistance erreicht
hätten. Wir haben im Jahr 2001 zusammen mit der Europäischen Union einen Stufenplan zur Steigerung der
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, die Official
Development Assistance, erstellt. Dieser sah vor, bis
zum Jahr 2005 eine ODA-Quote von 0,33 Prozent zu erreichen. Das haben wir geschafft. Im Jahr 2005 haben
wir dann im Rahmen der Europäischen Union einen weiteren Stufenplan erstellt, der für das Jahr 2010 eine
ODA-Quote von 0,51 Prozent und für das Jahr 2015 von
0,7 Prozent vorsieht.
Sie werden es in den Haushaltsberatungen erleben,
dass wir das 0,51-Prozent-Ziel entsprechend unterfüttern
werden. Im Hinblick darauf ist zum Beispiel die Einführung einer internationalen Finanztransaktionsteuer ein
ganz wichtiger Punkt; hierdurch könnte nämlich der Finanzsektor herangezogen werden, um mitzuhelfen, die
Zeche für den Schaden zu zahlen, den er angerichtet hat.
Vergessen zu erwähnen haben Sie, dass im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für das Erreichen
der 0,7-Prozent-Quote kein festes Jahr genannt wird und
man sich auch nicht auf ein Zwischenziel festgelegt hat.
Gehen Sie deshalb einmal mit sich selbst kritisch zurate,
statt andere anzugreifen. Dass die FDP jetzt das Entwicklungsministerium hat, muss andere Ursachen haben.
Versuchen Sie nicht andauernd, das zu begründen, indem
Sie die vorherige Regierung und ihre Arbeit schlechtmachen. Das ist völlig unakzeptabel.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Bulling-Schröter das Wort.
Herr Kauch, ich weiß nicht, warum Sie sich so aufgeregt haben; ich verstehe es nicht. Feststellen kann man,
dass die vorherigen Regierungen das 0,7-Prozent-Ziel
alle nicht erreicht haben. Aus entwicklungspolitischer
Sicht wäre es allerdings dringend notwendig. Die Linke
hat das immer kritisiert, egal wer an der Regierung war.
Jetzt aber zu Ihrer Anrechnung. Sie sagen ja, das wird
nicht angerechnet.
({0})
Dazu zitiere ich aus dem Antrag der Koalition zu den
Klimaverhandlungen - es ist nur ein Satz -:
… sicherzustellen, dass die Beiträge für die Finanzierung des internationalen Klimaschutzes und der
Anpassungsmaßnahmen auf das Ziel angerechnet
werden,
(Frank Schwabe [SPD]: Aha! - Michael Kauch
[FDP]: Angerechnet! Nicht verrechnet!
0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit … zur Verfügung zu stellen …
({1})
Was heißt „anrechnen“? Da müsste man vielleicht
einmal ein paar Kollegen fragen.
({2})
Es heißt natürlich „verrechnen“.
({3})
Das ist so auch in den Medien diskutiert und in den
Debatten besprochen worden. Wenn das nicht so ist,
können Sie das ja hier noch richtigstellen. Wir würden es
begrüßen, wenn es nicht angerechnet wird. Wir beschließen das mit; die Opposition steht dahinter. Denn so kann
man mit Entwicklungsländern nicht umgehen. Auch
wenn Sie das vielleicht nicht glauben: Wir haben in den
Entwicklungsländern viele Gespräche geführt, die ergeben haben, dass sie sich vorgeführt fühlen. Nur mit Glasperlen kommt man im 21. Jahrhundert nicht weit.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Josef Göppel von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren! Mein Thema ist: Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen. So lautet ja auch
der hier vorliegende Antrag. Natürlich gab es durch den
Verlauf der Konferenz in Kopenhagen eine Debatte darüber, ob es überhaupt Sinn macht, diesen Weg weiterzugehen, bei dem man aufgrund des Prinzips der Freiwilligkeit immer auf den Letzten warten und den kleinsten
gemeinsamen Nenner finden muss und mehr eigentlich
nicht herauskommt.
Ich war sowohl bei dieser internationalen Klimakonferenz als auch bei den Klimakonferenzen in den fünf
Jahren davor. Meine persönliche Erfahrung ist: Man
muss trotz aller Schwächen den Weg des internationalen
Übereinkommens gehen. Aber ebenso ist meine Erfahrung, dass wir die Entwicklung mit Brückenköpfen und
ganz konkreten Projekten sehr viel schneller voranbringen und damit auch das wirtschaftliche Interesse am Klimaschutz stärker befördern können.
Ich möchte zwei Beispiele nennen, die die Brücke zur
Entwicklungspolitik schlagen:
Vor den Konferenzräumen in Kopenhagen hatten
Nichtregierungsorganisationen ihre Ideen ausgestellt.
Darunter war ein Vorschlag von sechs Ländern in Afrika,
vom Senegal quer über den Kontinent bis Äthiopien eine
Anpflanzung zu machen, auf einer Länge von etwa
6 000 Kilometern am Südrand der Sahara und 25 Kilometer tief, um den Sand aufzuhalten. Das ist ein Projekt,
das die Afrikaner sich selber ausgedacht haben. Ihr Wille
ist auch, dass die Einheimischen diese Pflanzungen
durchführen. Sie brauchen natürlich Hilfe, weil die positiven Wirkungen solcher Pflanzungen nicht sofort monetär zu Buche schlagen. Sie haben uns auch gesagt, dass
besonders die Frauen eingesetzt werden sollen, weil sie
die entscheidenden Meinungsträgerinnen sind. Sie haben
sogar davon gesprochen, Großmütter einzusetzen. Denn
die Großmutter kann durchaus bestimmen, dass die Ziegenherde nicht mehr dahin getrieben werden darf, wo
eine Anpflanzung ist, damit diese wirklich hoch wächst.
Ich bin der Meinung: Solche konkreten Projekte sollten
wir auch von Deutschland aus aufgreifen und unterstützen.
Ein anderes Beispiel: Wir haben Leute aus Burundi
getroffen und sie gefragt: Was wäre eurer Meinung nach
die wirksamste Maßnahme für euer Land? Sie haben klar
gesagt: Dies wäre eine Produktionsstätte für Solarkocher, damit unsere Leute nicht jeden Tag kleine Büsche
abhacken müssen, die sie als Feuerholz zum Kochen
verwenden.
Es gibt im technologischen Bereich natürlich weitere
Projekte. Wichtig ist aber, dass wir diese Dinge, die banal zu sein scheinen, nicht geringschätzen, sondern dass
wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf
solche Projektvorschläge eingehen. Das ist ein Parallelprogramm zum Vorantreiben von internationalen Konferenzen.
Ich möchte zum Verlauf der Debatte hier eines sagen:
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktionen, zum 31. Januar 2010 ist die Meldung fällig,
welches Klimaziel Deutschland hat. Gehen Sie davon
aus, dass es das 40-Prozent-Ziel sein wird. Daran ist
nichts zu deuteln.
({0})
- Frau Kollegin Höhn, wir brauchen nicht alle vier Wochen dasselbe zu beschließen. Ich möchte Ihnen allerdings sagen: Ich habe eine gewisse Sympathie dafür,
dass unsere Klimaschutzanstrengungen, die sich schon
konkret beziffern lassen, in ein Gesetz Eingang finden.
Wenn die Vereinigten Staaten, wie wir alle heute früh gehört haben, noch in diesem Jahr ein Klimaschutzgesetz
verabschieden werden, dann wird die Diskussion bei uns
an Geschwindigkeit zunehmen, und es wird ihr noch
mehr Nachdruck verliehen. Entscheidend ist, dass wir
konkret handeln. Die Minderung der CO2-Emissionen
um 22 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990, die
Deutschland bisher erreicht hat, ist ein Fakt. Das, was
Präsident Obama angeboten hat, sind 4 Prozent, bezogen
auf 1990 - und dies mit drei großen Fragezeichen.
Herr Kollege Göppel, erlauben Sie, dass die Frau
Höhn eine Zwischenfrage stellt?
Gerne.
Frau Kollegin Höhn.
Danke schön, Herr Kollege Göppel. - Ich schätze Sie
ja sehr. Aber können Sie nicht bestätigen, dass - anders,
als Sie es eben gesagt haben - nicht Deutschland den internationalen Gremien das 40-Prozent-Ziel melden
muss, sondern dass es darum geht, was die EU meldet?
Die EU hat gerade beschlossen, dass sie eine Reduktion
um 30 Prozent nicht ohne Wenn und Aber meldet, sondern nur konditioniert. Das ist etwas anderes als das, was
Sie eben gesagt haben.
Frau Kollegin Höhn, Sie wissen doch genau, dass sich
das 30-Prozent-Ziel der EU aus nationalen Minderungsanstrengungen zusammensetzt.
({0})
Angesichts des Potenzials, das Deutschland hat, ist entscheidend, was wir anbieten. Aufgrund unseres klar erklärten Ziels besteht die realistische Chance, die anderen
in Europa zur Anerkennung des 30-Prozent-Ziels zu
bringen.
({1})
Genau das hat Frau Merkel von diesem Pult aus erklärt.
Dabei bleibt es.
({2})
Die Uhr zeigt, dass ich keine Redezeit mehr habe.
Ich bedanke mich. Schönen Abend.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/446
mit dem Titel „Regierungs- und Parlamentshandeln kon-
sequent am 40-Prozent-Klimaziel ausrichten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Dann ist der Antrag mit der Mehrheit der
Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/132 und 17/522 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen Konditionen für Kurzarbeit verbessern
- Drucksache 17/523 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Jutta Krellmann, Klaus Ernst,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Abschaffung des Progressionsvorbehalts
für Kurzarbeitergeld
- Drucksache 17/255 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der
SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass ich
zu dem Antrag der SPD sprechen darf, der die wichtige
Botschaft selbstverständlich in seinem Titel führt. Es
geht darum, Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit zu schützen und die Konditionen für Kurzarbeit zu verbessern.
Dies ist dringend nötig. Wir hätten gar nicht tätig werden
müssen, hätte die schwarz-gelbe Regierung die guten
Konditionen gelassen, die wir in der Großen Koalition
aus gutem Grund so formuliert hatten und die wirklich
vielen Menschen in Deutschland ermöglicht haben, ihre
Arbeit zu behalten. Weltweit - aus den USA und aus
europäischen Ländern - sind wir dafür gelobt worden.
Wir sind mit diesem Instrument zum Vorbild geworden.
Sicherlich ist die Kurzarbeit nicht das einzige Instrument oder der einzige Grund dafür, dass wir in der
Bundesrepublik Deutschland über einen in der Krise bemerkenswert stabilen Arbeitsmarkt verfügen. Auch Unternehmen und Beschäftigte und ihre Vertretungen haben
viel dazu beigetragen. Deshalb gilt auch ihnen mein
Dank, dass sie in den letzten Monaten konstruktiv dafür
gesorgt haben, dass Arbeit erhalten blieb und Unternehmen so auf Dauer gute Perspektiven haben.
Was aber hat stattgefunden? Kaum war der Regierungswechsel vollzogen, hat man sich darangemacht, die
Bedingungen für Kurzarbeit auf einen Stand zurückzuführen, von dem wir sagen: Er mag vor der Krise akzeptabel gewesen sein, ist es jetzt aber keinesfalls. Zurzeit
haben wir zwar einen relativ stabilen Arbeitsmarkt; aber
die Frage, ob schon alles vorbei ist, wir uns zurücklehnen können und Ruhe einkehren wird, werden viele
wohl mit Nein beantworten müssen. Konjunkturelles
Kurzarbeitergeld ist ein Hauptelement aktiver Arbeitsmarktpolitik. Sie haben die Bedingungen verschlechtert.
Deshalb sagen wir: Wir wollen den alten Zustand wiederherstellen.
({0})
Damit verfolgen wir zwei Ziele: Wir wollen Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen und - dies ist uns
genauso wichtig - den im Kern gesunden Unternehmen
ermöglichen, ihre gut ausgebildeten Beschäftigten zu
halten. Damit legen wir eine stabile Basis für einen Aufschwung, den wir wohl alle wollen.
({1})
Wir wissen: 2009 war ein schwieriges Jahr; 2010 wird
nicht einfacher werden. Wir können auch nicht sagen:
2011 werden wir alle Probleme gelöst haben. Deshalb
kämpfen wir für die Verlängerung der Brücke „konjunkturelle Kurzarbeit zu optimalen Bedingungen“.
Wir haben viele auf unserer Seite. Mich hat es besonders gefreut, dass sich auch Herr Kannegiesser so geäußert hat. Dies sollte eine Überlegung auf Ihrer Seite wert
sein.
({2})
- Eben, genau deshalb könnten Sie ihm ja vielleicht eher
als uns folgen. Das verstehe ich ja.
({3})
Wir alle sehen: Der Arbeitsmarkt ist angespannt, und
auf ihm sind regionale und zeitliche Disparitäten zu erkennen. Wir haben dazu eine Information der Bundesagentur für Arbeit bekommen, in der deutlich wird, dass
die Kurzarbeit wie schlechtes Wetter auf einer Wetterkarte durch das ganze Land zieht. Dieses schlechte
Wetter ist noch nicht vorbei. Deshalb müssen wir darauf
achten, dass die Bedingungen gut bleiben und dass die
Unternehmen, die Mut haben, eine langfristige Perspektive erhalten.
Welche Branchen nutzen die Kurzarbeit bisher eigentlich? Wir wissen: Am stärksten ist Kurzarbeit im Maschinenbau vertreten; die Quote beträgt dort 22,7 Prozent. In der Metallindustrie, in der Automobilbranche,
bei der Herstellung elektronischer und optischer Erzeugnisse gibt es viel Kurzarbeit. Das sind aber Branchen, die
eine sehr langfristige Planungssicherheit brauchen. Insofern ist das Signal, das Sie gesetzt haben, falsch. Ich zitiere aus einer heute veröffentlichten Pressemitteilung
von Frau von der Leyen. Sie schreibt: „Der Arbeitsmarkt
braucht weiter die volle Aufmerksamkeit.“ Das unterschreibe ich sofort. Ich zitiere weiter:
Wir müssen genau beobachten, ob das Bemühen
der Unternehmen, Beschäftigte im Betrieb zu halten, weiter trägt - damit wir flexibel und kurzfristig
reagieren können. Das hat sich in der ganzen Krisenzeit bewährt.
Recht hat sie. Sie schreibt allerdings auch: „Noch ist unklar, welche Entwicklung die nächsten Monate dominieren wird.“ Wenn das so ist, frage ich mich, warum man
dann vorschnell so restriktive Entscheidungen getroffen
hat.
({4})
Deshalb sagen wir: Weg mit der Begrenzung auf
18 Monate! Wir wollen, dass weiterhin Sozialbeiträge
durch die BA übernommen werden, auch über 2011 hinaus. Ich darf aus dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates zitieren:
Entscheidend für die weitere Entwicklung auf dem
Arbeitsmarkt wird sein, wie die Unternehmen in
den kommenden Monaten die Kosten der Weiterbeschäftigung relativ zu den Entlassungs- und späteren Such-, Einstellungs- und Einarbeitungskosten
einschätzen werden. Dass die Kostenabwägung
bisher zugunsten des Haltens der Arbeitskräfte ausgefallen ist, liegt nicht zuletzt an der Kostenerleichterung durch die Veränderung bei der Kurzarbeiterregelung.
Wo der Sachverständigenrat recht hat, hat er eben recht.
({5})
Wir müssen dafür sorgen, dass es einen erleichterten
Zugang zur Kurzarbeit gibt. Wir wollen auch für Zeitarbeitsfirmen die Option auf Kurzarbeit erhalten. Die
Sonderregelung für Qualifizierungsmaßnahmen muss
bis Ende 2011 verlängert werden. Deshalb heißt es auch:
Standhaft bleiben bei Qualifizierung! Wir haben gelernt,
dass da die Unternehmenskultur in Deutschland deutlich
besser werden kann. Wir haben einen zaghaften Einstieg
über die konjunkturelle Kurzarbeit. Das wollen wir ausbauen. Dabei müssen wir bleiben. Wir sehen, wie gut das
der Metallbereich beispielsweise in Baden-Württemberg macht. Das heißt aber noch lange nicht, dass es in
ganz Deutschland optimal läuft.
Wir wollen dieses gute Instrument behalten. Wir müssen aber auch den Missbrauch im Blick behalten. Den
lassen wir nicht durchgehen. Wir wissen, dass es zu Jahresanfang 800 Verdachtsfälle gab, davon sind fast
200 Verfahren eingestellt worden. 130 Verfahren sind
noch im Gange. Es ist richtig, dass die Staatsanwaltschaft tätig wird. Denn eins ist klar: Wir haben ein gutes
Instrument. Wir wollen es behalten. Wir wollen zurück
zur alten Regelung. Das ist der feste Wille der SPD.
Meine große Bitte an die neue Koalition ist, zu überlegen, ob sie nicht etwas vorschnell war. Ihre Ministerin
zeigt schon millimeterweise Einsicht. Wir wollen wieder
dahin, dass ein gutes Instrument gut angewendet wird;
denn wir alle haben ein Interesse daran, dass für die Unternehmen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland aus der Krise eine Chance wird.
Das ist unser Ziel. Deshalb wäre es gut, wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen!
Werte Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, insbesondere Sie, geschätzte Frau Kollegin
Lösekrug-Möller, mit dem heutigen Antrag fordern Sie
verbesserte Konditionen für Kurzarbeit. Wie Sie wissen,
sind wir für konstruktive Vorschläge, auch und gerade
von unseren Freunden von der geschätzten Opposition,
jederzeit dankbar.
({0})
- Da haben Sie völlig recht, Herr Kolb.
Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass die unionsgeführte Bundesregierung der vergangenen und der laufenden Legislaturperiode bereits umfassende und kostenintensive Verbesserungen der Kurzarbeit auf den Weg
gebracht hat, welche sich in der derzeitigen Wirtschaftskrise sehr gut bewährt haben. Ich will auch nicht verhehlen, dass der frühere Arbeitsminister Olaf Scholz einen
nicht unerheblichen Anteil daran hat.
Arbeitsplätze von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland konnten dadurch gesichert werden.
Kurzarbeit hilft, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Sie ist
ein flexibles Instrument, das besonders den unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Branchen und
Regionen Rechnung trägt. Außerdem können Unternehmen und Betriebe durch das Instrument der Kurzarbeit
bei verbesserter Auftragslage die Produktion mit ihren
bewährten und eingearbeiteten Mitarbeitern wieder
hochfahren.
Wie Sie sich sicherlich noch erinnern können, haben
wir dazu in der letzten Wahlperiode gemeinsam mit Ihnen von der SPD im Rahmen des Maßnahmenpakets
„Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“,
dem sogenannten Konjunkturpaket I, dem Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland, Konjunkturpaket II, und dem 3. SGB-IV-Änderungsgesetz diverse Regelungen umgesetzt, welche vor
nicht allzu langer Zeit von den Kolleginnen und Kollegen der SPD noch für erforderlich, aber auch für ausreichend befunden wurden.
({1})
Obwohl sie Ihnen noch geläufig sein dürften, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, werde ich die mit Ihnen
gemeinsam beschlossenen Regelungen gerne noch einmal kurz nennen:
Wir haben die Bezugsfrist des Kurzarbeitergeldes auf
18 Monate verlängert und die Antragstellung für Arbeitgeber vereinfacht. Die Agenturen für Arbeit erstatten ab
dem siebten Monat der Kurzarbeit die vollen Beiträge
zur Sozialversicherung, die auf Kurzarbeit entfallen. In
den ersten sechs Monaten werden die Beiträge zur Sozialversicherung zur Hälfte von den Agenturen für Arbeit übernommen. Für jene Mitarbeiter, die während der
Kurzarbeit an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen,
können in dieser Zeit die Sozialversicherungsbeiträge zu
100 Prozent übernommen werden. Auch die Weiterbildungsmaßnahmen selbst werden von den Agenturen für
Arbeit umfangreich gefördert. Die Bedingung, dass mindestens ein Drittel der Belegschaft von einem Entgeltausfall betroffen sein muss, wird ausgesetzt: Um für einen
oder mehrere Beschäftigte Kurzarbeitergeld beantragen
zu können, reicht der Nachweis eines Entgeltausfalls von
mehr als 10 Prozent. Der Arbeitgeber kann bei der Antragstellung wählen, ob er davon Gebrauch machen
möchte. Arbeitszeitkonten müssen vor Bezug des Kurzarbeitergeldes nicht ins Minus gebracht werden. Ab dem
1. Januar 2008 durchgeführte vorübergehende Änderungen der Arbeitszeit aufgrund von Beschäftigungssicherungsvereinbarungen wirken sich nicht negativ auf die
Höhe des Kurzarbeitergeldes aus. Kurzarbeitergeld kann
auch uneingeschränkt für Leiharbeitnehmer sowie für
befristet Beschäftigte beantragt werden.
Unter dem ehemaligen Bundesarbeitsminister Dr. Jung
wurde durch die Zweite Verordnung zur Änderung der
Verordnung über die Bezugsfrist für das Kurzarbeitergeld die Bezugsfrist für das Kurzarbeitergeld verlängert,
({2})
und das ist gut so. Für Kurzarbeit, die ab dem Jahr 2010
beginnt, kann bis zu 18 Monate lang Kurzarbeitergeld
gezahlt werden. Ohne den Erlass der Verordnung hätte
die Bezugsfrist für Kurzarbeitergeld, wenn die Kurzarbeit 2010 begonnen wird, entsprechend der gesetzlichen
Regelung nur 6 Monate betragen. Mit der Verordnung
wurde die Bezugsfrist auf 18 Monate verlängert. Das
heißt, vieles von dem, was Sie sich für die Zukunft wünschen, haben wir für die laufende Bezugszeit bereits ein
Stück weit berücksichtigt, und zwar auch nach Ende der
Großen Koalition. Die Verlängerung gilt nur für jene Betriebe, die mit der Kurzarbeit 2010 beginnen.
Den Arbeitgebern, die im Vertrauen auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation keine Entlassungen vornehmen, wird somit Planungssicherheit gegeben.
Gegebenenfalls ist im Sommer auch für die Zeit nach
dem 1. Januar 2011 eine Verlängerung zu prüfen - Sie
haben auf entsprechende Äußerungen unserer Bundesarbeitsministerin, Frau von der Leyen, hingewiesen -, sofern die wirtschaftlichen Rahmendaten dies dann notwendig machen. Zum jetzigen Zeitpunkt ein Signal zu
senden, dass wir auch im Jahr 2011 in erheblichem Ausmaß mit Kurzarbeit rechnen, halte ich schlichtweg für
den falschen Weg.
Frau Kollegin Lösekrug-Möller, Sie haben selbst ausgeführt, dass wir zurzeit einen relativ stabilen Arbeitsmarkt haben.
({3})
Was in einem halben oder Dreivierteljahr sein wird, können weder Sie noch ich verlässlich voraussagen. Sie haben auch ausgeführt, Frau Lösekrug-Möller - ich darf
Sie zitieren -: „Das schlechte Wetter ist noch nicht vorbei.“ - Sie kommen mir vor wie jemand, der bei Sonnenschein bzw. heranziehenden Wolken bereits den Regenschirm aufspannt, noch bevor die ersten Regentropfen
fallen.
({4})
Wie auch unserem Koalitionsvertrag zu entnehmen
ist, ergreifen wir effektive Maßnahmen, um die in der
Geschichte der Bundesrepublik einmalige Finanz- und
Wirtschaftskrise rasch zu überwinden und gestärkt aus
ihr hervorzugehen. Die von uns getroffenen Maßnahmen
haben zur Robustheit des Arbeitsmarktes in der Krise
entscheidend beigetragen und bedürfen keiner weiteren
Ergänzung. Wir geben damit sowohl den Arbeitnehmern
und ihren Familien als auch den Unternehmen und Betrieben in der derzeit schwierigen Wirtschaftssituation
Sicherheit und Stabilität.
({5})
- Danke schön. - Deshalb müssen wir heute die weitergehenden Anträge leider ablehnen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kurzarbeit war schon in der Vergangenheit im
Bundestag immer wieder ein Thema. Die Bundesregierung klopft sich auf die Schulter, um sich dafür zu loben,
wie sie dafür gesorgt hat, mit dem Instrument der Kurzarbeit Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Regelmäßig gibt es
dann einen Zwischenruf von der SPD: Olaf Scholz ist es
aber gewesen. - Betriebsräte, Vertrauensleute und Gewerkschaften kommen als Akteure so gut wie gar nicht
vor. Ich möchte an dieser Stelle all meinen Kolleginnen
und Kollegen in den Betrieben ganz große Anerkennung
dafür aussprechen, dass ihnen das gelungen ist.
({0})
Ich kenne nicht wenige Betriebe, in denen Betriebsräte und Betriebsrätinnen gegen den anfänglichen Willen
ihrer Geschäftsleitungen Kurzarbeit auf den Weg gebracht haben. Geschäftsleitungen und Personalabteilungen einiger Maschinenbaubetriebe hatten noch nicht realisiert, dass sie in einer Krise waren. Aber die
Beschäftigten, Betriebsräte und Betriebsrätinnen hatten
sehr schnell gemerkt, dass die Arbeit im Grunde wegbricht. Kurzarbeit auf zwei Jahre zu verlängern, war
richtig. Kurzarbeit auf 18 Monate zu verkürzen, ist
falsch.
({1})
Die Krise ist nicht vorbei. Im Schiff- und im Anlagenbau kommt die Krise aufgrund langer Auftragsvorläufe
und Lieferzeiten gerade erst an. Auch in Teilen der Automobilindustrie beginnen erst jetzt mit dem Ende der
Abwrackprämie die Beschäftigungsprobleme. Die Linke
hat bereits in ihrem 10-Punkte-Sofortprogramm direkt
nach der Bundestagswahl die Verlängerung der Kurzarbeit auf drei Jahre gefordert. Wir freuen uns, dass die
SPD unser Anliegen aufnimmt.
({2})
Betriebsräte und Betriebsrätinnen, Gewerkschaften
und Geschäftsleitungen brauchen Planungssicherheit
und Instrumente zum Handeln. Kurzarbeit inklusive der
Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen - ich habe
gehört, was Herr Lehrieder eben gesagt hat; ich hätte
gerne einmal schriftlich von Ihnen, wo das steht; denn
nach meinen Informationen ist es nicht so ({3})
muss erhalten bleiben, genauso wie die Qualifizierungsmöglichkeiten während der Kurzarbeit. Außerdem ist es
ein Fehler, gerade jetzt geförderte Altersteilzeit abzuschaffen.
({4})
Auch sie ist ein Instrument, das dabei helfen kann, Menschen in Arbeit zu halten und die Einstellung und Übernahme von Beschäftigten und Auszubildenden zu unterstützen.
Diejenigen, die schon jetzt in Kurzarbeit sind, waren
vom ersten Tag an Betroffene der Krise, ganz im Gegensatz zu den Banken, für die man große Rettungsschirme
aufgespannt hat. Kurzarbeit ist für Beschäftigte nicht
kostenlos. Die Bundesagentur für Arbeit ersetzt nur 60
bzw. 67 Prozent des Entgeltverlustes. Das sind teilweise
erhebliche Einschnitte für die Betroffenen; denn die monatlichen Belastungen durch Miete, Lebensunterhalt und
weitere laufende Kosten bestehen zu 100 Prozent weiter.
Jetzt bekommen diese Beschäftigten möglicherweise
noch eine Rückzahlungsforderung durch das Finanzamt.
Das darf nicht sein.
({5})
Eigentlich ist Kurzarbeitergeld steuerfrei; so glaubt man.
Allerdings muss man in den Einkommensteuererklärungen das komplette Jahreseinkommen versteuern. Dann
ist Kurzarbeitergeld plötzlich zu versteuerndes Einkommen. So will es der Progressionsvorbehalt. Damit können plötzlich erhebliche Nachzahlungsforderungen entstehen, mit denen die Betroffenen nicht gerechnet haben
und für die sie keine Rücklagen gebildet haben. Aus diesem Grund fordert die Linke den Verzicht auf den sogenannten Progressionsvorbehalt bei Kurzarbeitergeld zugunsten von Beschäftigten und deren Familien und zur
Stärkung bzw. zum Erhalt der Binnennachfrage.
({6})
Das Kurzarbeitergeld ist schon ausgegeben; die Betroffenen haben keinen finanziellen Spielraum für Rückzahlungen. Wir hatten in der vergangenen Legislaturperiode bereits einen Antrag auf Abschaffung des
Progressionsvorbehaltes eingebracht; jetzt tun wir es erneut. Denn das Problem für Tausende von Beschäftigten
ist immer noch nicht aus der Welt. Hier muss dringend
eine Lösung gefunden werden.
Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen Instrumentenkasten für Betriebsräte und Betriebsrätinnen, Gewerkschaften und Personalabteilungen in Form von Verlängerung des Zeitraums für Kurzarbeit auf 36 Monate,
({7})
Erhalt der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge
durch die Bundesagentur für Arbeit, Qualifizierungsmaßnahmen während der Kurzarbeit,
({8})
Förderung von Altersteilzeit, Verzicht auf den Progressionsvorbehalt und, wo Sie das sagen, Herr Kollege,
Reichtum für alle.
Vielen Dank.
({9})
Frau Kollegin Krellmann, auch Ihnen gratuliere ich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat der Kollege Sebastian Blumenthal von
der FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie allgemein bekannt, haben wir in den vergangenen anderthalb
Jahren die heftigste Wirtschafts- und Finanzkrise unserer
Zeit erlebt.
Um den wirtschaftlichen Einbruch abzufedern und
überbrückend Arbeitsplätze zu sichern, sind die aktuellen Regelungen für Kurzarbeit sehr hilfreich gewesen.
Auf die Details der Erfolge der Regelungen für Kurzarbeit ist bereits mehrfach eingegangen worden; deswegen
möchte ich das nicht wiederholen.
Ich komme zu dem, was die SPD fordert. Das Instrument der Kurzarbeit wirkt nur kurzzeitig und begrenzt.
So war es von Anfang an geplant; denn wenn sich bei
den betreffenden Unternehmen mittelfristig kein Wachstum einstellt, werden die Nachteile der Regelungen für
Kurzarbeit die Vorteile überwiegen.
({0})
Daher möchten wir der Forderung, den Zeitraum für
Kurzarbeit zu verlängern, nicht folgen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Kurzarbeit
eine Subvention aus öffentlichen Mitteln ist, Frau Kollegin. Die SPD fordert in dem vorliegenden Antrag eine
weitere Verlängerung des Zeitraums für Kurzarbeit. Wir
sollten uns die Konsequenzen einmal anschauen. Wenn
wir den Zeitraum für Kurzarbeit einfach verlängern, führen wir eine Dauersubventionierung ein.
({1})
- Hören Sie bitte zu! Sie müssen sich auch mit den Konsequenzen auseinandersetzen, die die Regelung, die Sie
fordern, zur Folge hätte. - Diese Regelung würde weitere hohe Kosten verursachen, sie würde den Staatshaushalt nachhaltig belasten, vor allem aber würde sie die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belasten, die das
Kurzarbeitergeld über ihre Versicherungsbeiträge mitfinanzieren müssen.
({2})
Wir würden eine weitere Subvention schaffen, die, wie
wir das in der Vergangenheit bereits mehrfach erlebt haben, zu Mitnahme- und Gewöhnungseffekten führen
würde: Es gab zum Beispiel Fälle, dass bei Automobilherstellern trotz steigender Nachfrage infolge der Abwrackprämie und trotz monatelanger Wartezeiten bei
Pkw-Bestellungen Zehntausende Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt wurden, gleichzeitig aber Boni ausgeschüttet wurden. Es besteht also die realistische Gefahr von
Mitnahmeeffekten. Darüber sollten wir uns Gedanken
machen. Letztendlich würden solche Mitnahmeeffekte
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schaden;
denn sie finanzieren all das indirekt mit.
Zum anderen würden Steuermittel und Versicherungsbeiträge verwendet, um Unternehmen künstlich am Leben zu erhalten. So ist es zum Beispiel bei einem großen
Versandhändler geschehen. Wenn das Unternehmen,
weil es keine wirtschaftliche Basis mehr gibt, dann in die
Pleite entlassen werden muss, verlieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer doch ihren Arbeitsplatz.
Das ist eine Konsequenz, die man sich immer wieder vor
Augen führen muss, die Sie bei Ihrem Antrag aber völlig
aus den Augen verloren haben. Kurzarbeit in solchen
Unternehmen hat dazu beigetragen, dass wertvolle Zeit
verloren gegangen ist, die die betreffenden Arbeitnehmer hätten nutzen können, um sich auf dem Arbeitsmarkt neu zu orientieren. Das ist ja auch eine Chance,
die man einmal erwähnen sollte.
Anstelle von dauersubventionierter Kurzarbeit
({3})
brauchen wir klare und verbindliche Wachstumsstrategien. Genau das ist das Kernthema der FDP und der
Bundesregierung. Dafür haben wir das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Der erste Beitrag ist
also bereits geleistet.
Nach aktuellen Prognosen und Modellrechnungen
wird die Schwarzarbeit in Deutschland in diesem Jahr
ein rekordverdächtiges Volumen von bis zu 260 Milliarden Euro annehmen. Das entspricht knapp 15 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts, ist also jeder siebte Euro, der
erwirtschaftet wird. Auch das ist ein interessanter Punkt,
den Sie einmal berücksichtigen sollten.
Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, die
Menschen wieder in legale Beschäftigungsverhältnisse
zu überführen. Das ist der Ansatz, den wir weiter verfolgen.
({4})
Eine wichtige, für uns unverzichtbare Maßnahme dazu
ist eine grundlegende Reform der Einkommensteuer.
Dafür tritt die FDP in der Regierungskoalition an. Wir
brauchen spürbare steuerliche Entlastungen, damit sich
legale Arbeit wieder lohnt.
({5})
- Das glaube ich auf jeden Fall. Darum haben wir dieses
Ziel beschlossen.
({6})
Jetzt komme ich zu den Linken, die hier die zweite
Vorlage zu diesem Thema eingebracht haben. Man muss
eine interessante Veränderung Ihrer Einstellung betrachten. Vor kurzem gab es eine Pressemitteilung der Fraktion der Linken, in der der Einsatz von Konjunkturmaßnahmen gefordert wird.
({7})
Genau das ist Bestandteil des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Sie müssen einmal erkennen, dass genau
das, was Sie fordern, bereits von der Regierung umgesetzt wurde; das müssen Sie zur Kenntnis nehmen und
anerkennen. Zwei Wochen zuvor wurde eine andere
Pressemitteilung von Ihnen herausgegeben, in der Sie
sagen, es gebe überhaupt keinen Spielraum für Steuersenkungen. Das ist ein Widerspruch: Innerhalb von zwei
Wochen behaupten Sie zunächst, dass Steuersenkungen
nicht möglich sind, und wenig später fordern Sie Konjunkturmaßnahmen.
({8})
- Herr Kollege, da sind Sie grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Zu diesem Erkenntnisgewinn möchte ich Ihnen gratulieren und Sie ermuntern, auf dieser Ebene weiter mitzuarbeiten. Dann können Sie unsere Arbeit
konstruktiv begleiten.
({9})
Damit eine Steuerreform langfristig und nachhaltig
wirkt, müssen drei Kriterien erfüllt werden: Die Steuern
müssen niedrig, fair und einfach ausgestaltet sein. Hier
hat der Entwurf der Linken konkrete Defizite, auf die ich
jetzt im Einzelnen eingehe. Die Linken fordern nämlich,
dass der Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld
abgeschafft wird. Es gibt allerdings eine Vielzahl von
Leistungen, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen.
Dazu gehören zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das
Krankengeld und das Übergangsgeld. Es gibt ein Dutzend weiterer Leistungen; ich habe diese drei exemplarisch herausgegriffen.
Wir stellen uns schon die Frage, wie hier die soziale
Ausgewogenheit, die Sie sonst immer betonen, gewährleistet wird. Ihre Initiative lässt diese Frage völlig unbeantwortet und ist daher unzureichend.
({10})
Hier stellt sich einfach die Frage: Warum soll eine Bäckereifachverkäuferin, die kein Kurzarbeitergeld bezieht, mehr Steuern zahlen als ein Facharbeiter, der
Kurzarbeitergeld bekommt und ein höheres Einkommen
als die Verkäuferin hat? Das ist ein Widerspruch, den Sie
nicht auflösen können.
Herr Kollege Blumenthal, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Nein, ich möchte den Gedanken zu Ende führen; ich
verzichte.
Bitte schön, keine Zwischenfrage.
Sie verletzen hier den Grundsatz, dass gleich hohe
Einkommen gleich besteuert werden müssen. Wo bleibt
hier die soziale Ausgewogenheit? Es ist schon bemerkenswert, wenn ich als Mitglied der Freien Demokraten
Sie an diesen Aspekt erinnern muss. Vielleicht gehen Sie
noch einmal in sich und kommen zu einer vernünftigen
Schlussfolgerung.
Abschließend möchte ich sagen: Wenn wir hier eine
Verbesserung der Situation der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer erreichen wollen, dann brauchen wir im
Zuge der Einkommensteuerreform drei konkrete Maßnahmen, nämlich einen flachen und abgestuften Tarifverlauf, hohe Freibeträge und niedrige Steuersätze. Das
nützt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und
den Familien am meisten. Dafür stehen die FDP und die
Regierungskoalition.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir sind uns wirklich fraktionsübergreifend darüber einig, dass die Kurzarbeit ein geeignetes und gutes
Instrument ist, um in der Krise Arbeitslosigkeit abzufedern. Ich glaube, da brauchen wir uns jetzt nicht gegenseitig katholisch zu machen.
Ich will darauf hinweisen: Kurzarbeit ist eine große
Leistung der Solidargemeinschaft - also nicht nur der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über Lohnverzicht ihren Beitrag leisten, oder der Arbeitgeber, die
einen erheblichen Teil der Festkosten weiter tragen müssen -, die dieses Kurzarbeitergeld mit 5 Milliarden Euro
finanziert.
({0})
Frau Lösekrug-Möller, da ist es eigentlich nur richtig
und fair, dass wir uns intensiv Gedanken darüber machen, an welcher Stelle das Kurzarbeitergeld dringend
und sinnvoll eingesetzt werden muss.
Es gibt, glaube ich, gar keinen Zweifel, dass das Instrument der Kurzarbeit in der Krise weiter genutzt werden soll. Frau Lösekrug-Möller, auch nach Ihrem Beitrag ist mir aber nicht klar geworden, warum wir heute,
zum jetzigen Zeitpunkt, die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate verlängern sollten. Im Moment
ist nicht abzusehen, ob diese Form der Laufzeitverlängerung nötig ist; wir sind gegen die eine, vielleicht auch
gegen die andere Form der Laufzeitverlängerung. In der
jetzigen Situation, in der keiner genau abschätzen kann,
wie sich die Krise weiterentwickeln wird, ist es falsch,
eine Entscheidung zu treffen, die auf drei Jahre ausgelegt ist.
({1})
Frau Lösekrug-Möller, ich möchte Sie noch auf etwas
anderes hinweisen. Sie haben in Ihrem Antrag darauf
hingewiesen, dass die OECD empfohlen hat, das Kurzarbeitergeld auf andere Länder zu übertragen, weil es ein
geeignetes Kriseninterventionsinstrument sei. Sie haben
aber nur die halbe Wahrheit gesagt. Die OECD gibt
Deutschland auch auf, jetzt damit anzufangen, darüber
nachzudenken, wie wir diese Subventionierung wieder
beenden können.
({2})
Subventionierungen sind manchmal notwendig, aber
man muss den Zeitpunkt sehr genau abpassen, ab wann
man diese vielleicht auch wieder beendet.
({3})
In die gleiche Richtung geht auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in einem Gutachten. Es
wird gesagt: Durch das Kurzarbeitergeld kann nicht über
einen langen Zeitraum dafür gesorgt werden, Arbeitsplätze tatsächlich zu erhalten. - Bei der Idee des Kurzarbeitergeldes geht man quasi von einer „Untertunnelung“
der Krise aus. Es gibt ein Problem, das „untertunnelt“
wird, sodass die Situation nach der Krise genauso wie
vor der Krise ist. Ich habe erhebliche Zweifel daran.
In dieser Krise geht es auch um erhebliche strukturelle Probleme. Wenn wir die strukturellen Probleme
nicht angehen, dann schmeißen wir viel Geld aus dem
Fenster heraus. Die Beschäftigten werden gehalten, aber
sobald die Zahlung des Kurzarbeitergeldes eingestellt
wird, zahlen wir für die Arbeitslosigkeit. Ich finde, das
ist einfach zu wenig. Das können wir so nicht machen.
({4})
Ich finde übrigens, dass wir im Ausschuss intensiv darüber reden sollten, und ich finde auch, wir sollten darüber
nachdenken, ob wir dazu nicht eine Anhörung durchführen. Das würde sich wirklich einmal lohnen.
Ich will aber noch auf etwas anderes hinweisen: Ich
bin sehr unzufrieden damit, wie die Kurzarbeit mit der
Qualifizierung verknüpft worden ist. 1 Million Menschen befinden sich im Durchschnitt in Kurzarbeit. In
dieser Zeit haben insgesamt nur 100 000 Menschen parallel dazu an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen.
({5})
Das sind nur 10 Prozent, liebe Leute. Das ist einfach viel
zu wenig.
({6})
Wir alle wissen, dass wir in Deutschland ein Qualifizierungsdefizit größter Ordnung haben. Das wäre die
Chance gewesen, die Krise tatsächlich zu nutzen, dieses
Qualifizierungsdefizit zu verringern.
({7})
Deswegen lohnt es sich, im Ausschuss auch darüber
noch einmal nachzudenken.
Ich glaube, es wird im Ausschuss eine sehr solidarische Diskussion auf einem guten fachlichen Niveau geben. Insofern freue ich mich auf die Beratungen.
Danke schön.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir müssen den Menschen in dieser Krise Antworten
darauf geben, wie wir unser Land aus dem Tal herausführen. Hierfür war die Ausweitung und die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes ganz unbestritten eine richtige Maßnahme.
({0})
Was wir nicht brauchen, sind solche Anträge wie der
vorliegende von der Linkspartei,
({1})
mit denen populistische Ziele verfolgt werden. Das wird
auch dadurch nicht besser, dass Sie diesen Antrag nun
schon zum zweiten Mal stellen.
Die Linke will die Abschaffung des Progressionsvorbehaltes für Kurzarbeitergeld. Damit will sie anerkannte
steuerrechtliche Grundsätze aushebeln;
({2})
denn durch den Progressionsvorbehalt wird ja die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sichergestellt.
Hier verstehe ich Sie nun wirklich nicht. Ich dachte immer, die Linken seien gerade diesem Prinzip verbunden.
Wer mehr verdient und mehr erhält, der muss höhere
Steuern zahlen als derjenige, der weniger hat.
({3})
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung, die Sie hier
stellen, schon etwas verwunderlich. Tatsache ist doch,
dass Lohnersatzleistungen und damit auch das Kurzarbeitergeld steuerfrei sind. Sie werden lediglich zur Berechnung des individuellen Steuersatzes herangezogen.
Wenn wir nun bestimmte steuerfreie Einkünfte beim
progressiven Verlauf des Einkommensteuertarifs außer
Ansatz lassen würden, dann würde dies nicht nur bedeuten, dass für diese Einkünfte ein Steuerausfall zu verzeichnen ist, sondern auch, dass ein niedrigerer Steuersatz für die übrigen Einkünfte angewendet wird.
Ich hatte Sie eigentlich immer so verstanden, dass die
Linken keine Steuersenkungen wollen. Sie wettern ja
auch immer gegen unsere Pläne, gerade die Bezieher
niedriger und mittlerer Einkommen zu entlasten. Wenn
ich die Worte Ihres Parteivorsitzenden richtig in Erinnerung habe, dann hat er sinngemäß gesagt: Diese Steuersenkungen der christlich-liberalen Koalition dürfen nicht
sein; denn dadurch werden die Kommunen in die Pleite
getrieben. Aber nichts anderes als eine Steuersenkung
mit einer gewissen Unwucht propagieren Sie jetzt, und
zwar völlig inkonsequent.
({4})
Warum sollte der Progressionsvorbehalt nur für das
Kurzarbeitergeld aufgehoben werden? Diese Frage
wurde bereits gestellt. Was ist mit den anderen zahlreichen Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld und Insolvenzgeld?
({5})
Ein kompliziertes Einkommensteuersystem mit einer
Vielzahl von Ausnahmen und wiederum Ausnahmen
von diesen Ausnahmen haben wir schon. Wir brauchten
konstruktive Vorschläge zu einer Reform der Einkommensteuer anstelle solcher Anträge.
Uns in der Union geht es in allererster Linie um ein
einfacheres und schon deswegen gerechteres Steuersystem.
({6})
Ihr Antrag, den wir heute debattieren, ist aber in keiner
Weise für eine Vereinfachung geeignet.
({7})
Grundsätzlich muss gelten, dass sich die Einkommensteuer nach der individuellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerzahlers richtet. Dazu gehört in diesem System zwingend der Progressionsvorbehalt. Wir wollen
eine Reform der Einkommensteuer, durch die neben der
Vereinfachung gerade die Steuerzahler mit mittleren und
niedrigen Einkommen entlastet werden.
({8})
Das sind doch all die Menschen, die morgens aufstehen,
zur Arbeit gehen und hart für ihre Brötchen arbeiten. Sie
zu entlasten, das sind wir ihnen schuldig.
({9})
Wenn wir mehr Wachstum wollen, dann müssen wir
unser Steuerrecht leistungsgerechter gestalten und dürfen gerade nicht, wie in Ihrem Antrag geschehen, die
Leistungsfähigkeit ausblenden. Erste Schritte in die richOlav Gutting
tige Richtung haben wir in dieser Koalition schon gemacht. Das Bürgerentlastungsgesetz, die Absenkung des
Eingangssteuersatzes, die Anhebung des Grundfreibetrages, die Rechtsverschiebung des Tarifs und das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zusammen entlasten die
Menschen in diesem Land seit dem 1. Januar um knapp
22 Milliarden Euro.
({10})
Abschließend will ich als Fazit festhalten: Unter dem
Gesichtspunkt einer gerechten Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit ist im Einkommensteuerrecht der
Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld nur folgerichtig und deswegen beizubehalten. Ergo werden wir
Ihren Antrag ablehnen.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/523 und 17/255 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 17/520 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zurücknehmen
- Drucksache 17/447 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Sabine Bätzing von der SPDFraktion das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Da ich beabsichtige, wie vorhin angekündigt,
meine Rede mit einem lateinischen Zitat zu beenden,
werde ich sie auch so beginnen: Quousque tandem, cancellaria?
Wie lange noch wollen Sie diese unsolide Haushaltspolitik fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union?
({0})
Diese Frage mag vielleicht verfrüht erscheinen, ist
doch die schwarz-gelbe Regierung noch gar nicht so
lange im Amt. Aber seien Sie versichert: Aufgrund der
Ankündigungen und vor allen Dingen der Nichtankündigungen Ihrer Regierung insbesondere in der Finanzpolitik werden wir diese Frage immer wieder und bei jeder
Gelegenheit stellen.
Einen ersten Anlass dazu hat uns bereits Ihr erstes
Gesetz gegeben, mit dem Sie unter anderem den Umsatzsteuersatz für Übernachtungen von 19 auf 7 Prozent
gesenkt haben. Das war eine offensichtliche Fehlentscheidung. Dies sehen nicht nur wir alleine so.
({1})
Mit unserem heutigen Gesetzentwurf wollen wir Ihnen die Gelegenheit geben, diesen Fehler wieder gutzumachen Wenn Sie diese Gelegenheit nicht nutzen und
nicht zustimmen, dann werden Sie sich unseren Fragen
auch weiterhin stellen müssen. Wir werden Sie wieder
und wieder fragen, was Sie denn zu tun gedenken, um
Ihre Steuergeschenke zu finanzieren. Wir werden Sie
wieder und wieder fragen, wem Sie das Geld wegnehmen, mit dem Sie Ihre Steuergeschenke finanzieren.
({2})
Ohne jetzt näher auf die Details des Spendenrechts
einzugehen: Der Wähler wird sich schon seinen eigenen
Reim darauf machen, wenn eine Partei Geld geschenkt
bekommt und dieses mit Steuergeldern zurückzahlt.
({3})
Er wird auch erkennen, dass dies bei FDP und Union mit
größerer Häufigkeit vorkommt und es sich um höhere
Summen handelt als bei den anderen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu Ihrer
heutigen Chance und unserem Gesetzentwurf. Die Experten in der Anhörung, vor allem die aus der Wirtschaft
- ich nenne beispielhaft den BDI und den DIHK; sie
sind wahrlich nicht SPD-nah -, waren sich beim
Wachstumsbeschleunigungsgesetz einig: Die Umsatzsteuerermäßigung für Übernachtungen ist - ich will es
vorsichtig formulieren und zitiere aus der Anhörung Professor Dr. Homburg - ökonomischer Irrsinn. Denn sie
führt ausschließlich zu mehr Bürokratie.
({4})
Sie führt nicht zu mehr Wachstum, und sie führt schon
gar nicht zur Senkung der Übernachtungskosten.
({5})
Einen Monat nach Inkrafttreten haben sich diese Aussagen in der Praxis bestätigt. Tatsächlich haben 7 Prozent der Hotels die Preise gesenkt, 14 Prozent aber haben sie erhöht. Sie argumentieren immer wieder, dass
vorrangig investiert wird
({6})
und dass nur dort, wo nicht investiert wird, die Preise gesenkt werden. Das ist eine clevere Argumentation und
eine geschickte Strategie. Fakt ist leider: Es passiert
nichts. Die Hotels stecken sich ihr schwarz-gelbes Steuergeschenk in die Tasche, und das war es.
({7})
Dies ist auch der Grund, warum sich praktisch jeder
Betroffene in der Republik - Reiseveranstalter, Finanzämter, Steuerberater und Steuerzahler - über diese Regelung beschwert. Selbst die begünstigten Hotels sind nicht
glücklich, weil sie mit den Details der Regelung - zum
Beispiel in Bezug auf die Umsatzsteuerausweisung des
Frühstücks - nicht zurechtkommen.
({8})
Auch Sie, meine Damen und Herren von der CDU,
haben das in weiten Teilen so gesehen. Prominente Mitglieder Ihrer Fraktion wie der Bundesfinanzminister haben das durchblicken lassen, und andere, zum Beispiel
Herr Professor Dr. Lammert, der Präsident dieses Hauses, haben es offen gesagt. Das ist durchaus positiv anzurechnen. Leider haben Sie nicht danach gehandelt.
({9})
Es stellt sich mir daher die Frage: Wenn Sie den Fehler erkannt haben, warum haben Sie dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz in dieser Fassung dennoch zugestimmt? Streit in der Koalition zu vermeiden, kann nicht
Ihr Argument gewesen sein; denn Sie streiten sich andauernd. Was - das ist die Frage - hat Ihnen die FDP im
Gegenzug zugesagt? Oder entscheidet die FDP bei Ihnen
in der Steuerpolitik allein?
({10})
Oder - was noch viel schlimmer wäre - wird die Steuerpolitik in Zukunft auch in anderen Bereichen durch gezielte Spenden bestimmt werden? Beim Ausschließlichkeitskriterium lässt sich der Verdacht nicht völlig
ausräumen, wie wir vorhin erfahren haben. Bedeutet das
vielleicht, dass wir uns gegen eine entsprechende
Spende unseren Mindestlohn hätten kaufen können?
({11})
Wie dem auch sei: Wir überlegen, was die Gründe dafür waren, dass Sie zugestimmt haben. Das kann man
mit Koalitionsräson begründen.
({12})
Aber Koalitionsräson gilt doch nur für das größere
Ganze. Auch wir haben in unserer Regierungszeit - ich
will nichts beschönigen - die eine oder andere bittere
Pille schlucken müssen.
({13})
Wir wussten aber genau, was wir jeweils im Gegenzug
bekommen und dass es den Kompromiss und die Absprache wert war. Bei uns gab es kein „Wünsch dir was“
nach dem Motto: Geld her! Dann bekommt ihr euren
Wunsch erfüllt.
({14})
Entsprechende Überlegungen bei Ihnen vermissen
nicht nur wir, sondern die ganze Republik. Im Gegenteil:
Um das Steuergeschenk durchzusetzen, haben Sie auch
noch die widerstrebenden Länder gekauft. Womit, haben
Sie uns allerdings bis heute nicht gesagt. Wir fragen uns:
Werden Sie, die CDU, auch an anderer Stelle Steuerpläne der FDP mittragen, die selbst von Experten massiv
kritisiert werden, ohne dagegenzuhalten?
Wir geben Ihnen mit unserem Gesetzentwurf die Gelegenheit, Ihre falsche Entscheidung zu korrigieren und
für Übernachtungen wieder den angemessenen Umsatzsteuersatz zu erheben. Wir fordern von Ihnen - genauso
wie die Kanzlerin in ihrer Antrittsrede von der Opposition -, an der Verbesserung Deutschlands mitzuwirken.
Wir fordern Sie auf, individuelle Größe zu zeigen. Wir
richten diese Forderung nicht an FDP und CSU, weil wir
wissen, dass das wahrscheinlich vergebens ist. Aber wir
richten sie an die CDU, in der viele Abgeordnete in dieser Sache richtig entscheiden würden, wenn sie sich
trauten. Wenn Sie es nicht für uns tun, dann trauen Sie
sich wenigstens für Ihre Kommunen, Ihre Länder und
den Bund, für den Sie Verantwortung tragen, und ersparen Sie den Gebietskörperschaften Mindereinnahmen in
Höhe von 1 Milliarde Euro.
({15})
Wir werden die Nachricht über Ihr Abstimmungsverhalten den Bürgern sicherlich nicht vorenthalten. Wir
werden das jedes Mal tun, wenn Sie von der Allgemeinheit Opfer verlangen, obwohl keine Notwendigkeit dafür
besteht und es sich um reine Klientelpolitik handelt.
({16})
Wir werden jedes Mal den Wähler fragen, ob er es richtig findet, dass rund 45 000 Hotels mehr Geld bekommen, während er höhere Abgaben und Steuern zahlen
muss.
({17})
Wir werden ihn fragen, ob er von der Umsatzsteuerermäßigung für Hotels profitiert hat. Wir werden dieses
Thema immer wieder bei der Regierung in Zahlen nachfragen. Alles das können Sie sich mit einer mutigen Entscheidung bei der späteren Abstimmung ersparen.
({18})
Ansonsten werden Sie von mir noch öfter hören: „Ceterum censeo: Habitudinem favoris clientium esse abolendam.“ Im Übrigen bin ich der Meinung: Ihre Klientelpolitik gehört abgeschafft.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, meine Überraschung darüber auszudrücken, dass heute die erste Beratung über Ihren Gesetzentwurf auf der Tagesordnung steht, Frau Kollegin
Bätzing. Vielleicht schaffen wir es, dass Sie heute - das
haben Sie von uns gefordert - die Chance zu einer besseren Erkenntnis nutzen. Entscheidungen, die dieses Hohe
Haus mehrheitlich getroffen hat, zu akzeptieren, gehört
zu einer guten Zusammenarbeit.
({0})
In Ihrem Gesetzentwurf, meine sehr geehrten Damen
und Herren von der SPD, bezeichnen Sie die Ermäßigung des Umsatzsteuersatzes für Beherbergungsleistungen durch die christlich-liberale Koalition als eklatante
Fehlentscheidung.
({1})
- Danke schön. Ich hoffe, dass Sie auch gleich noch klatschen. - Die SPD beantragte im Bayerischen Landtag
bereits im Jahr 2006 - das sollte man bitte nicht vergessen; ich zitiere wörtlich -:
Die Staatsregierung wird aufgefordert, ihren Einfluss
- man spricht bei der SPD von Einfluss dahin gehend geltend zu machen, dass der Bund für
die Hotellerie den reduzierten Mehrwertsteuersatz
in Höhe von 7 % einführt.
({2})
Wie kommt der plötzliche Meinungsumschwung zustande? Jetzt, da das Anliegen der SPD erfüllt ist, kommentiert der bayerische SPD-Landesvorsitzende Pronold
die Maßnahme wie folgt: Die CSU hat Subventionen
ohne sachliche Begründung durchgesetzt,
({3})
und zwar zugunsten ihrer Klientel. Da drängt sich doch
die Frage auf: Gehört die Bayern-SPD mittlerweile zur
Klientel der CSU? Meines Erachtens sollte sich die SPD
in Bayern vergegenwärtigen, dass sie, nur weil wir das
getan haben, was die SPD gefordert hat, noch nicht zur
Klientel der CSU gehört.
({4})
Die angeblich fehlende sachliche Begründung liefert
die SPD in Bayern im vorgenannten Antrag selbst:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, die deutsche Hotellerie wettbewerbsfähiger zu machen, indem sie die Umsatzsteuer für die Hotellerie senkt.
Wie recht Sie doch haben, liebe Kolleginnen und Kollegen der bayerischen SPD.
({5})
An dieser Stelle kann ich nur dem wirtschaftspolitischen Sprecher der Grünen im Bayerischen Landtag,
Herrn Dr. Martin Runge, recht geben, der die Debatte
um die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes als sehr
seicht empfindet. Er sieht es genauso wie die CSU.
({6})
- Seicht ist Ihr Vorgehen, nicht unseres.
({7})
Er hat recht, weil es Ihnen nicht um die Sache geht,
meine sehr geehrten Damen und Herren, sondern weil
versucht wird, etwas zu konstruieren. Käuflichkeit,
Klientelpolitik und vieles mehr führen Sie ins Feld. Ihnen geht es gar nicht um Inhalte. Doch was macht die
SPD bei dieser Debatte? Sie weiß heute nicht mehr, was
sie gestern gesagt hat.
({8})
Die christlich-liberale Koalition hat eine klare Linie,
einen klaren Kurs. Wir haben das, was wir in unseren
Wahlprogrammen versprochen haben, gehalten und
müssen nicht die in der Vergangenheit gutgeheißenen
Forderungen nun bekämpfen. Wir stehen zu unserer Vereinbarung im Koalitionsvertrag.
({9})
Im Folgenden führe ich einige inhaltliche Aspekte an,
wenn Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren der
Opposition, diese überhaupt sehen und zur Kenntnis
nehmen wollen.
Durch die Ermäßigung der Umsatzsteuer bei Beherbergungsleistungen stärken wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Hotel- und Gastronomiegewerbes. Der überwiegende Teil der europäischen
Mitbewerber in dieser Branche profitiert bereits von ermäßigten Umsatzsteuersätzen, Herr Poß.
({10})
Wenn Sie zu Ende gesammelt haben, nehmen wir die
Box gern mit. Wir finden bestimmt eine gute Gelegenheit, den Inhalt zu verwenden.
({11})
Ich vertraue weiterhin auf die Prognosen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes und das zielgerichtete Handeln jedes einzelnen Hoteliers und Unternehmers. Der Großteil dieser Unternehmer ist im
mittelständischen Gewerbe tätig.
({12})
Bereits jetzt werden Investitionsmaßnahmen umgesetzt,
die konkrete Impulse in unserer wirtschaftlich schwierigen Zeit geben.
Unsere tourismuspolitische Sprecherin Marlene
Mortler hat mir von einem Gespräch erzählt, bei dem
deutlich wurde, dass gerade diejenigen, die Urlaub auf
dem Bauernhof anbieten, im Durchschnitt 5 000 Euro im
Jahr investieren und diese Mittel zielgerichtet für Investitionen zur Steigerung der Qualität verwenden. Der dadurch ausgelöste Impuls ist meines Erachtens ein wichtiger Beitrag gewesen.
({13})
Mit Ihrem Verhalten schüren Sie nicht nur die Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger, meine sehr
geehrten Damen und Herren der Opposition; Sie verletzten auch das Vertrauen in die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Politik. Leisten Sie wirkungsvolle und konstruktive Oppositionsarbeit! Das bisher Dargebotene
erscheint eher spärlich.
Die christlich-liberale Koalition hat einen ersten Teil
ihrer Wahlversprechen
({14})
mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz umgesetzt,
Herr Poß, und damit Wort gehalten.
({15})
Mit Ihrer Politik der Willkür werden Sie sicherlich nicht
das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Das hat
auch die letzte Wahl deutlich gezeigt.
Ich empfehle Ihnen, die Menschen und auch Ihre
Wählerinnen und Wähler mit Blick auf die in diesem
Haus getroffenen Entscheidungen ernst zu nehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Herr Kollege Aumer, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Jetzt hat das Wort der Kollege Richard Pitterle von
der Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Einen Monat ist die Regelung zur
Steuerermäßigung für die Übernachtung in Hotels alt,
und schon hat sie für viel Aufregung und die heutige Debatte im Bundestag gesorgt. Nun fragen sich die Bürgerinnen und Bürger: Wissen die im Bundestag eigentlich,
was sie da tun?
({0})
Wie sieht die Regelung in der Praxis aus? Durch die
Umsatzsteuersenkung sind weder die Hotelpreise gesunken - nach Angaben vom Focus dieser Woche sind sie
teilweise sogar gestiegen -, noch haben die Hotelbeschäftigten mehr Geld bekommen. Hingegen haben Sie
für mehr Bürokratie gesorgt. Jetzt werden die Übernachtung mit 7 Prozent, das Frühstück und andere Zusatzleistungen des Hotels aber mit 19 Prozent besteuert. Diese
Zusatzleistungen müssen auf der Rechnung extra ausgewiesen werden. Die Hotels müssen sich neue Software
zulegen. Das ist für die großen Hotelketten kein Problem, für Besitzer kleinerer Hotels jedoch eine zusätzliche finanzielle und arbeitsmäßige Belastung.
Aber auch die Hotelgäste haben das Nachsehen. Bisher bekam zum Beispiel eine Betriebsrätin oder ein Betriebsrat nach einer Schulung eine Rechnung des Hotels,
die beim Arbeitgeber zur Auszahlung eingereicht werden konnte. In dieser Rechnung war die Übernachtung
mit Frühstück in einem Gesamtbetrag ausgewiesen. Da
ich vor meiner Wahl in den Bundestag als Rechtsanwalt
tätig war, rufen mich heute die Mandanten an und fragen, ob es sein könne, dass der Arbeitgeber für das mit
12 Euro ausgewiesene Frühstück nur noch den steuerlichen Pauschbetrag von 4,80 Euro bezahlen müsse. Sie
sind ziemlich aufgebracht.
Genauso geht es vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Außendienst sowie anderen Dienstreisenden. Auch sie finden auf der Hotelrechnung Positionen, die vom Arbeitgeber nicht mehr in voller Höhe
erstattet werden; wenn doch, werden sie als vermögenswerte Vorteile versteuert
({1})
und auch der Sozialversicherungspflicht unterworfen.
Das zum Thema „Arbeitgeberbeiträge senken!“.
Kein Wunder, dass der Spiegel in dieser Woche über
die Klagen der Hotelbesitzer berichtet, wonach viele
ihrer Gäste es vorziehen, statt in ihrem Hotel bei
McDonald’s nebenan zu frühstücken. Verstehen Sie das
unter „Beschleunigung des Wachstums“?
({2})
Wenn die Anzahl der Frühstücksgäste bei McDonald’s
weiter wächst, sollte man anfangen, die Konten der FDP
zu beobachten.
({3})
Warum haben Sie die Folgen Ihres Handelns nicht bedacht? Fast alle Expertinnen und Experten bei der Anhörung im Finanzausschuss waren sich doch darin einig,
dass dieses schwarz-gelbe Geschenk von circa 1 MilRichard Pitterle
liarde Euro an das Hotelgewerbe nicht die Ergebnisse
zeitigen würde, die Sie uns versprochen haben.
({4})
Erzählen Sie mir bitte nicht wieder, auch andere Parteien
hätten diese Forderung in ihrem Forderungskatalog gehabt; denn das ist keine Entschuldigung dafür, wie Sie
die Forderung konkret umgesetzt haben.
({5})
Ja, es ist wahr: Auch die Linke hatte die Forderung in ihrem Wahlprogramm,
({6})
aber sie war in einen Katalog von Maßnahmen eingebettet. Vorrangig haben wir einen ermäßigten Steuersatz auf
Kinderkleidung, Medikamente und arbeitsintensive
Handwerkerleistungen gefordert - das ist der Punkt -,
und davon steht in Ihrem Gesetz kein Wort.
({7})
Meine Damen und Herren der Koalition, wenn Sie
schon nicht auf die Meinung der Expertinnen und Experten
({8})
gehört haben, dann sollten Sie sich anschauen, was für
einen Schlamassel Sie in der Realität angerichtet haben.
Bekanntlich geht Erfahrung vor Belehrung. Ich sage Ihnen: Fehler zu machen, ist menschlich, auch für eine Regierung; aber einen Fehler zu machen, ihn nicht einzugestehen und nicht zu korrigieren, ist politische Dummheit.
({9})
Haben Sie den Mut, Ihren Fehler zu korrigieren! Nehmen Sie die Regelung zurück! Mit unserer Unterstützung können Sie in diesem Fall ausnahmsweise rechnen.
Danke.
({10})
Herr Kollege Pitterle, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Bundestag.
({0})
Jetzt hat der Kollege Dr. Martin Lindner von der
FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Eine
Bemerkung vorweg: Nehmen Sie grundsätzlich ernst,
was in unseren Wahlprogrammen steht.
({0})
Das mag bei Ihnen anders sein. In Ihren Wahlprogrammen steht irgendetwas, und man hält sich daran oder
nicht. Wir aber meinen es so, wie es in unseren Programmen geschrieben steht.
In der Hotellerie in Deutschland arbeiten 1 Million
Menschen - 100 000 davon sind Auszubildende - in
240 000 vorwiegend kleinen und mittelständischen Unternehmen. 22 von 27 Staaten in der Europäischen
Union, alle unsere Nachbarstaaten mit Ausnahme Dänemarks, kennen einen reduzierten Mehrwertsteuersatz.
Damit wäre dieser Debattenbeitrag eigentlich schon zu
Ende gebracht. Was wir gemacht haben, ist lediglich
eine Frontbegradigung, ist lediglich die Herstellung gleicher Wettbewerbsverhältnisse für unsere Wirtschaft, für
die Hotellerie in Deutschland.
({1})
Es schadet nicht, Vergleiche zu ziehen. In diesem Gewerbe hatten wir letztes Jahr einen realen Umsatzrückgang von 6,3 Prozent. Was wir mit dieser Ermäßigung
der Umsatzsteuer erreicht haben, ist lediglich, dass in
dieser Branche wieder investiert werden kann. Es ging
doch nicht darum, die in Deutschland eh schon relativ
geringen Hotelpreise abzusenken, sondern darum, dass
die Menschen anständig entlohnt werden können.
({2})
Sie sitzen doch immer nur hier, fordern die Einführung
von Mindestlöhnen und quatschen irgendetwas von
Lohndumping. Wenn es aber einmal darum geht, einen
so arbeitsintensiven Bereich zu stärken, damit die Menschen anständiges Geld für ihre Arbeit bekommen, dann
sind Sie dagegen. Sie sind eine Klientelpartei. Außer
Hartz IV können Sie nichts bieten. Wir sorgen für anständige Löhne, und das ist auch gut so.
({3})
Sie machen nichts als Sprüche. Hier eine Konnexität
mit einer Spende herzustellen, das ist schon abenteuerlich. Bereits das Tourismuskonzept der FDP-Bundestagsfraktion aus dem Jahre 2000 hat die Forderung nach
einer Absenkung der Umsatzsteuer für die Hotellerie
enthalten. 2005 wurde diese Forderung wiederholt, 2007
noch einmal. Sie werden doch nicht ernsthaft auf die
Idee kommen, dass ein Unternehmer, der noch halbwegs
bei Trost ist, 1 Million Euro spendet, um eine Forderung,
die schon seit zehn Jahren von einer Partei erhoben wird,
quasi zu untermauern. Dieser Unternehmer ist doch
nicht geisteskrank.
({4})
Dr. Martin Lindner ({5})
Das Schlimme ist: Sie wissen das ganz genau. Hier geht
es um nichts anderes als darum, Dreck zu spritzen.
({6})
Lassen Sie mich gerade in die Richtung der Grünen
etwas zum Begriff der Klientelpolitik sagen. Wenn Sie
diesen Ausdruck in den Mund nehmen, dann fällt mir
mein alter Lehrer ein, der immer sagte: Wenn man mit
dem Finger auf jemanden deutet, sollte man bedenken,
dass drei auf einen selbst zurückzeigen. Bei Ihnen kommen zehn Finger zurück. Es gibt doch keine klientelistischere Partei als Bündnis 90/Die Grünen.
({7})
Ich erläutere Ihnen das einmal an einem klassischen
Beispiel. Wie wir gerade lernen, erhält die Solarwirtschaft in Deutschland durch Subventionen Margen, von
denen andere nur träumen können. Wer kümmert sich
darum, dass es der Solarwirtschaft weiterhin traumhaft
geht? Bündnis 90/Die Grünen! Sie sind sich nicht zu
schade, Ihre ganzen Vorfeldorganisationen wie die Deutsche Umwelthilfe - deren Geschäftsführer ist zufällig Ihr
ehemaliger Staatssekretär Baake - in Marsch zu setzen,
damit sie ihre dicken Subventionen behalten können.
Diese Organisationen haben keine Umsatzrückgänge
von 6 Prozent. Sie sind die Klientelpartei. Wenn ich genauso niveaulos wäre wie Sie, dann würde ich Ihnen
jetzt Ihre ganzen Spenden aus der Solarwirtschaft aufzählen, wie es der Kollege Altmaier gemacht hat.
({8})
Das erspare ich Ihnen aber und uns genauso.
Besonders lächerlich wird es dann, wenn Ihr Geschäftsführer Beck daherkommt und, um uns Klientelismus nachzuweisen, uns eine Beitragsreduzierung von
5 Prozent durch die DKV vorhält. Ich habe schon Angst
bekommen: Gestern haben wir die Einladung eines Deli
Lama, einer Art Salatservice, bekommen. In dieser Einladung stand: Mitarbeiter und Abgeordnete der FDPFraktion erhalten einen Rabatt von 15 Prozent. - Da
habe ich gesagt: Um Gottes willen, werft das Ding weg!
Holt euch bloß nicht einen Salat mit einem Preisrabatt
von 15 Prozent. Sonst kommt der Kollege Beck wieder
und haut uns das Ganze um die Ohren. - Kollege Beck
würde natürlich nie auf die Idee kommen, seiner eigenen
Fraktionsvorsitzenden vorzuhalten, dass sie im Wahlkampf forderte, einen Toyota Prius zu kaufen, wo doch
gleichzeitig Herr Al-Wazir im Wahlkampf für einen sehr
günstigen Preis einen Toyota Prius gefahren ist. Das
würde er nie tun.
({9})
Uns aber einen Rabatt vorzuhalten, der jedem Kegelklub
gewährt wird, dazu sind Sie sich nicht zu blöd.
Am Schlimmsten ist die SPD. Ihnen kann man als
Einzigen keine Klientelpolitik vorwerfen. Sie haben
keine Klientel mehr. Sie haben einen Rest von Wählern,
die aus Sentimentalität oder Tradition SPD wählen, aber
Klientel haben Sie keine mehr.
({10})
- Haben Sie einmal Ihre gesehen? Sie ziehen hier eine
populistische Nummer ab, aber trotzdem sind Sie in der
Wählergunst noch nicht gestiegen. Sie haben den Parteivorsitzenden gewechselt, Sie sind trotzdem noch im Tal.
Was wollen Sie eigentlich noch machen, um in der Wählergunst zu steigen? Sie bleiben bei 20 Prozent. Da können Sie machen, was Sie wollen.
({11})
Das wundert mich natürlich auch nicht. Ihr stellvertretender Parteivorsitzender Wowereit, den ich nun ein
paar Jahre kenne, kritisiert diese Spende und sagt, das sei
ein Riesenskandal. Das ist derselbe Wowereit, der sich
von der Berlinwasser Holding ein Spenden-Dinner ausrichten ließ, nachdem er sie vorher teilprivatisiert hatte.
Ein Spenden-Dinner eines teilprivatisierten Unternehmens, dessen Einnahmen sich ausschließlich aus Zwangsgebühren der Bürger rekrutieren! Dieser Wowereit
macht nun die Backen dick über Parteispenden.
({12})
Ich lache mich tot.
Oder nehmen Sie Herrn Gabriel: Er fordert uns jetzt
auf, diesen Vorgang juristisch überprüfen zu lassen.
Liebe Freunde, juristisch ist an dem Ding alles einwandfrei.
({13})
Wir haben alles deklariert, alles ist geklärt.
({14})
Hat er denn schon die 150 000 Euro, die die SPD einen
Monat vor Einführung der Abwrackprämie von der Automobilindustrie bekommen hat, nach Haiti gespendet?
Wenn er es gemacht hat, dann legen Sie doch den Überweisungsträger auf den Tisch.
({15})
Ihre albernen Anträge werden wir ablehnen; das ist
klar.
({16})
Was wir allerdings ernst nehmen werden, ist das Thema
Parteienfinanzierung. Darauf können Sie sich verlassen.
Wir werden sehr genau schauen, wie sich Parteien in
Deutschland finanzieren, insbesondere wenn sich Parteien aus Beteiligungen an Verlagsgesellschaften finanzieren,
({17})
indem sie von der parteieigenen Gesellschaft zweistellige Millionenbeträge pro Jahr abkassieren
Dr. Martin Lindner ({18})
({19})
und den Menschen, denen sie diese Medien zumuten,
überhaupt nicht sagen, dass hinter dieser Zeitung, hinter
diesem Medium eine Partei steckt, wenn auch nur mit einer Minderheitsbeteiligung. Ich lese Ihnen mit Erlaubnis
des Herrn Präsidenten -
Nein, Herr Lindner, es ist zwar Ihre erste Rede, aber
Sie überziehen jetzt schon die zweite Minute.
Dann erspare ich Ihnen das Zitat von Inge WettigDanielmeier.
Ich sage Ihnen aber eines: Wir werden dafür sorgen,
dass in diesem Bereich genauso viel Transparenz herrschen wird und jeder Bürger erfahren wird,
({0})
dass nicht die Genialität von Herrn Gabriel oder von
Herrn Steinmeier Redakteure dazu verführt hat, ein solches Loblied auf sie zu singen, sondern dass das der Beteiligung der SPD an dem entsprechenden Verlag zu verdanken ist. Verlassen Sie sich darauf: Transparenz bei
der Parteienfinanzierung wird ganz oben auf der Agenda
dieser Regierung stehen!
({1})
Herr Kollege Lindner, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Man hat aber
gemerkt, dass Sie im Landesparlament von Berlin schon
ausreichend Zeit zum Üben hatten.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Gambke von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lindner, Sie nehmen zwar jetzt die Gratulationen
für Ihre erste Rede entgegen, ich möchte Sie aber doch
bitten, Ihre Aufmerksamkeit kurz auf das zu richten, was
ich zu sagen habe.
Ich habe den Eindruck, Herr Lindner, dass Sie hier
mit sehr viel heißer Luft versucht haben, einen Vorgang
schönzureden. Ich habe keinerlei Fakten gehört.
({0})
Doch die Fakten sollten Sie sich einmal anhören: Die
Steuerermäßigung für Hotels kommt beim Kunden nicht
an;
({1})
die ersten Umfragen haben das klar ergeben. Im Gegenteil, die Preise gehen sogar leicht nach oben. Geschäftsreisen - auch das ist Fakt - verteuern sich, weil weniger
abgesetzt werden kann. Das Steuersystem wird durch
weitere Ausnahmetatbestände nicht einfacher, sondern
komplizierter.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Der CSU-Mann
Guttenberg wurde heute Morgen als der große Ordnungspolitiker bezeichnet, und es wurde viel über Ordnungspolitik geredet. Als Neuling in diesem Parlament
hatte ich wirklich die Hoffnung, da auch einmal Taten zu
erleben. Aber wenn Sie diese Regelung, die dem, was
Sie bei einer Umsatzsteuerreform brauchen und wollen,
diametral gegenübersteht und um 180 Grad entgegensteht, als eine Maßnahme verkaufen wollen, die in die
richtige Richtung geht, dann müssen Sie wirklich mit anderen reden. Hier im Parlament nimmt Ihnen das niemand ab. Das ist einfach unglaubwürdig.
({2})
Wir haben im Finanzausschuss nach dem Normenkontrollrat gefragt. Ein Redner hat hier von Tricksen,
Täuschen, Tarnen gesprochen; genau das haben Sie gemacht. Sie haben abgelehnt, dieses Gesetz durch den
Normenkontrollrat prüfen zu lassen. Jetzt sagt die Bundesregierung, dass alle Gesetze geprüft werden sollen.
Sie sind gerade noch durch die Lücke gehuscht, weil Sie
nicht wollten, dass unabhängige Experten Ihnen vorrechnen, was das an zusätzlichen Bürokratiekosten bedeutet. Das haben Sie vermieden, weil Sie schlicht und
einfach Angst vor der Wahrheit hatten.
({3})
Der Kollege Hinsken - Herr Aumer kommt aus Regensburg, habe ich gerade gesehen - hat hier als Niederbayer die geringe Entfernung zu Schärding erwähnt.
({4})
Ich komme aus Niederbayern und war, als ich den Inn
entlanggeradelt bin, auch in Schärding, weil es das
schönste Barockstädtchen Österreichs ist. Die Mehrwertsteuer war jedenfalls nicht der Grund, warum ich
dort war. Dann bin ich nach Breitenberg im Bayerischen
Wald, 5 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, gefahren, um von dort auf den Dreisessel zu marschieren. Auch hier spielte die Mehrwertsteuer keine
Rolle.
Die Niederbayern sollten da mal hinhören. Den Campingplatz in Rostock vergleichen Sie mit einem Hotel in
Nizza. Es ist doch absoluter Blödsinn, anzunehmen, dass
da Wettbewerb eine Rolle spielt. Das können Sie doch
niemandem erzählen.
({5})
- Nein. Ich wollte nur die Begründung erwähnen.
Die IHK Passau, Herr Lindner, hat mich im Mai letzten Jahres gebeten und aufgefordert: Arbeitet bitte gegen
die 7 Prozent! - Sie haben uns dazu mit Informationen
versorgt, die ich Ihnen gleich vorlesen werde. Damals
haben, wie wir wussten, die Franzosen die Mehrwertsteuer in der Gastronomie abgesenkt. Jetzt liegen die ersten Ergebnisse vor. Die Franzosen haben sogar Freiwilligkeit vereinbart. Ziel war die Schaffung von 40 000
zusätzlichen Arbeitsplätzen. Nur 6 000 sind es, wohlwollend gerechnet, geworden.
Herr Kollege Gambke, ich muss Sie unterbrechen. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Sehr gerne.
Bitte schön, Herr Hinsken.
Werter Herr Kollege Gambke, ich habe mich gemeldet, weil Sie mich namentlich genannt, aber nicht gesehen haben.
({0})
So ist es; tut mir leid.
Ich bin ein niederbayerischer Landsmann, aber ich
stelle fest: Sie verstehen vielleicht viel vom Radfahren
und vom Wandern, aber von der Hotellerie relativ wenig.
Sie haben bei Ihrer Wanderung durch Niederbayern und
nach Schärding vielleicht alles Mögliche gemacht, aber
nicht mit den Hoteliers gesprochen; sonst hätten Sie mitbekommen, dass diese sehr große Schwierigkeiten haben, überhaupt über die Runden zu kommen.
Jetzt meine Frage: Was sagen Sie zu der Aussage Ihres wirtschaftspolitischen Sprechers im Bayerischen
Landtag, Herrn Dr. Runge, dass diese Mehrwertsteuersenkung dringend erforderlich ist, dass sie geboten ist
und dass sie unter allen Umständen schnellstmöglich
durchgesetzt werden muss? Wollen Sie dem widersprechen,
({0})
oder welche Meinung vertreten Sie hier?
Diese Aussage hat er im April letzten Jahres getroffen, also wenige Monate vor den Bundestagswahlen. Bei
den Grünen weiß anscheinend die Rechte nicht mehr,
was die Linke tut. Das ist das große Problem. Darum
wäre es gut, wenn Sie sich erst einmal informieren würden, bevor Sie hier das Wort ergreifen.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Hinsken, für diese Frage.
Natürlich rede ich mit Herrn Dr. Runge, und natürlich
kenne ich seine Meinung dazu. Ich kann Ihnen auch sagen, wie sie begründet ist.
({0})
Es gibt viele, die sich über die Umsatzsteuerreform Gedanken gemacht haben und die ordnungspolitische
Grundsätze einführen wollten, im Gegensatz zu dem,
was Sie gemacht haben. Man hat sich gefragt, was diese
ordnungspolitischen Grundsätze sein könnten. Herr
Dr. Runge hat gesagt: „Arbeitsintensive Dienstleistungen“ könnten ein Bereich sein, in dem ein verminderter
Mehrwertsteuersatz angewendet werden könnte. Genau
darauf bezog sich die Aussage der bayerischen Grünen
zu diesem Thema.
({1})
Es ging darum, ordnungspolitische Grundsätze einzuführen. Die Hotellerie gehört zu den arbeitsintensiven
Dienstleistungen. Schauen Sie sich die Erklärungen der
bayerischen Grünen von letzter Woche an; da werden
Sie das sehen.
({2})
Herr Kollege Gambke, erlauben Sie eine Nachfrage
des Kollegen Hinsken?
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Hinsken.
Ich möchte mich kurzfassen, Herr Gambke. Ich
möchte Ihnen empfehlen, einmal nachzulesen, was Herr
Dr. Runge genau gesagt hat. Da finden Sie das Gegenteil
von dem, was Sie hier ausgeführt haben. Er lag richtig,
und Sie liegen falsch. Wenn Sie auf den Pfad der Tugend
zurückkehren und sich von ihm etwas sagen lassen, dann
liegen auch Sie in Zukunft richtig.
({0})
Herr Hinsken, Sie können nicht einfach ignorieren,
was mir in schriftlicher Form vorliegt. Es tut mir leid,
Sie haben nicht zu Ende gelesen. Sie sollten nicht das
herauslesen, was Sie lesen oder hören wollen, sondern
das, was wirklich geschrieben und gesagt wurde.
({0})
Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Was Sie hier zum
Besten gegeben haben, erinnert mich an den CheflobDr. Thomas Gambke
byisten der Tourismus- bzw. Hotelleriebranche, aber
nicht an jemanden, der ernsthaft will, dass wir mit der
Umsatzsteuerreform weiterkommen, der sich ernsthaft
({1})
mit dem Thema beschäftigt, wie man zum Beispiel das
Wachstum beschleunigt, und der keine Klientelbeglückungspolitik machen will.
({2})
Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.
({3})
Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Gambke.
Sehr gerne.
Wer hier glaubwürdig über Ordnungspolitik reden
und bei den Wählern Verständnis dafür erzeugen will,
dass die Beiträge zu den Sozialversicherungssystemen
steigen, sollte nicht für die eigene Klientel, die Hotelbesitzer und Steuerberater, noch etwas aus der Kasse nehmen.
({0})
Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie mit den Grünen
({1})
für die Abschaffung der Umsatzsteuerermäßigung.
Danke schön.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Christian Lindner.
({0})
Herr Präsident, vielen Dank. - Ich will Ihren Redebeitrag zum Anlass nehmen, auf ein eklatantes Missverständnis hinzuweisen, dem Sie und im Übrigen auch die
antragstellende Fraktion unterliegen. Hier wird nämlich
fortwährend davon gesprochen, dass die Hauptintention
der Reduzierung des Umsatzsteuersatzes für die Hotellerie gewesen sei, Preissenkungen für Hotelgäste zu erreichen. Das ist ein Irrtum. Diese Maßnahme ist deshalb in
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeordnet worden, weil wir uns davon einen Konjunkturimpuls erhoffen.
Tatsächlich zeigen aktuelle Berichte, dass dieses Gesetz diesen Zweck erfüllt. So hätten Sie heute Nachmittag bei der dpa lesen können - ich darf zitieren -, dass
„vor allem kleinere Betriebe“ diese Reduzierung „für die
Modernisierung ihrer Bäder, Fenster, Heizungs- und
Lüftungsanlagen oder die Fortbildung ihrer Mitarbeiter
nutzen“ wollen. Anders, als Sie glauben machen wollen,
wenn Sie in diesem Zusammenhang von Hoteliers bzw.
von Fünfsternehäusern sprechen, heißt es im Übrigen
weiter - das hätten Sie vor Ihrer Rede wissen können -:
Die Branche sei in Deutschland im Vergleich zum
Ausland sehr mittelständisch geprägt. Der Anteil
der großen Ketten mache gerade einmal gut
3 Prozent der fast 38 000 Betriebe aus.
Damit ist diese Maßnahme auch unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten viel treffsicherer als all das,
was die SPD mit ihrem Bundesfinanzminister Steinbrück
beschlossen hat.
({0})
Herr Kollege Gambke, Sie haben die Möglichkeit, zu
erwidern.
Vielen Dank. - Ich habe sehr häufig auch andere
Stimmen aus Ihrer Partei gehört. Da ging es um Preise
für Übernachtungen. Das können Sie jetzt nicht einfach
wegdrücken.
({0})
Ich habe auch etwas von Wettbewerb gehört.
({1})
Sie sollten sich einmal dahin gehend sortieren, was
Sie wirklich wollen. Warum haben Sie nicht zumindest
Vereinbarungen getroffen, in denen Sie nachweislich
festlegen, wie hoch die Investitionen sein sollen? Ich
sage noch einmal: In Frankreich wurde dies gemacht und
nicht eingehalten. Wir wissen ja, was man von freiwilligen Vereinbarungen zu halten hat. Aber Sie haben sich ja
noch nicht einmal bemüht, so etwas zu vereinbaren.
({2})
Jetzt wollen Sie uns aber verkaufen, dass da etwas passiert. Es tut mir leid, aber das ist nicht sehr glaubwürdig.
({3})
Jetzt kommen wir zum letzten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Es handelt sich um Ingbert Liebing
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Oppositionsfraktionen von SPD und
Bündnis 90/ Die Grünen beantragen mit gleicher Zielsetzung die Rücknahme eines Gesetzes, das der Deutsche
Bundestag am 4. Dezember beschlossen hatte und das
erst seit vier Wochen in Kraft ist. Ich finde es schon erstaunlich, welche Schlüsse Sie nach vier Wochen ziehen
können, wenn es um die Frage geht, ob ein Gesetz funktioniert oder nicht.
({0})
Der Branche sollte man etwas mehr Zeit geben, zu zeigen, was möglich ist und was nicht.
Diese Anträge sind in der Form und in der Sache
- dies haben wir heute erlebt - Klamauk und kein Beitrag zur Lösung der Probleme unseres Landes.
({1})
Dabei ist es überhaupt kein Geheimnis, Herr Gambke,
dass es auch in unserer Fraktion unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema gegeben hat.
({2})
Es gibt nicht wenige, denen eine Diskussion über dieses
Thema im Zusammenhang mit der gesamten Umsatzsteuerproblematik lieber gewesen wäre. Aber für den
Budenzauber, den Sie hier veranstalten, hat bei uns niemand Verständnis.
({3})
Die Anträge sind in der Form daneben; denn es ist
schon ein merkwürdiger Stil, Debatten und Entscheidungen, die gerade erst geführt und getroffen wurden, wenige Wochen später wieder aufzuwärmen. Wenn es die
Strategie der Opposition sein soll, in dieser Wahlperiode
immer die Schlachten von gestern zu führen, dann ist das
ein Armutszeugnis für die Opposition.
({4})
Wenn Sie ankündigen, Frau Kollegin Bätzing, dass sie
das regelmäßig machen wollen, dann erst recht. Offensichtlich haben Sie keine besseren Argumente und Themen, als dass Sie uns mit längst ausdiskutierten und entschiedenen Sachfragen kommen.
({5})
Für mich ist es schon bezeichnend - das ist schon gesagt worden -, dass es auch in Ihren Reihen nicht wenige
gegeben hat und gibt, die dieser Umsatzsteuersenkung
für das Beherbergungsgewerbe sehr wohl etwas Positives abgewinnen können.
({6})
Die Tourismuspolitiker Ihrer Fraktion im Tourismusausschuss vertreten dies; aber sie sind heute nicht einmal
hier. Wo sind sie denn? Wahrscheinlich ist es ihnen peinlich, was Sie hier an Anträgen vorgelegt haben.
({7})
Diese Anträge sind auch in der Sache daneben; denn
Sie schüren Neidkomplexe, indem Sie das Beherbergungsgewerbe darstellen, als bestehe es nur aus wenigen
Hotelketten oder einigen reichen Hoteliers, die sich die
Taschen vollstopfen. Davon ist doch die Rede. Welches
Bild haben Sie eigentlich von der touristischen Branche
in unserem Land? Diese Branche steht in einem harten
Wettbewerb, der nicht zuletzt deswegen in Europa härter
geworden ist, weil inzwischen 21 Länder um uns herum
den abgesenkten Mehrwertsteuersatz eingeführt haben nicht zuletzt deshalb, weil der damalige SPD-Finanzminister Steinbrück einer entsprechenden EU-Regelung
ausdrücklich zugestimmt hat.
({8})
Nun argumentieren Sie, es müssten auch die Preise sinken, wenn es um den Wettbewerb mit den Nachbarländern geht. Ich halte es schon für bedauerlich, dass man
Ihnen erst erklären muss, dass Wettbewerb nicht nur
über den Preis, sondern auch über die Qualität geführt
wird. Entscheidend ist das Preis-Leistungs-Verhältnis
und nicht nur ein Preiskampf.
({9})
Herr Kollege Liebing, der Kollege Gambke würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Wenn Sie von Wettbewerb sprechen, wie kommentieren Sie dann die Meldung, dass Deutschland nach dem Sparkassen-Tourismusbarometer Spanien und Italien in Bezug auf
Übernachtungen als Marktführer in der EU abgelöst hat?
Ich gebe Ihnen dazu gern eine passende Antwort, weil
wir, die Tourismuspolitiker unserer Fraktion, gerade gestern mit Professor Feige, der dieses Tourismusbarometer
erstellt hat, und dem Sparkassen- und Giroverband zusammengesessen haben. Sie haben aus ihrer Gesamtbetrachtung ein Fazit gezogen, weil wir gefragt haben, was
man jetzt tun müsse, um der Branche zu helfen. Sie haben uns Folgendes gesagt: Entscheidend sind Innovationen, Investitionen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in Europa.
Das ist das Fazit aus dem Tourismusbarometer. Genau
deswegen senken wir den Umsatzsteuersatz: für Innovation, für Investition und für eine bessere Wettbewerbsfähigkeit in Europa.
({0})
Ein Beispiel: Ein Betrieb in der Schweiz hatte im vergangenen Jahr bei einem Umsatz von 1 Million Euro einen um 125 000 Euro höheren Ertrag als sein deutscher
Kollege. Über diesen Ertrag kann er verfügen, um ein
besseres Preis-Leistungs-Verhältnis zu erzielen, egal ob
durch Preissenkungen oder für Investitionen in bessere
Qualität. Bei der Qualität haben wir in Deutschland
Nachholbedarf. An der Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Wir kennen doch Betriebe im Charme der 70er- und
80er-Jahre. Aber es gibt auch Betriebe, die top sind, weil
sie in den letzten Jahren investiert haben. Aber wer top
ist, muss auch viel tun, um top zu bleiben. Für diese Investitionen leisten wir einen Beitrag.
({1})
Das Bild von einigen wenigen reichen Hoteliers, das
Sie von der Branche zeichnen, geht an der Wirklichkeit
völlig vorbei. Wir haben es mit einer stark mittelständisch geprägten Branche zu tun. Es gibt insgesamt
45 000 Betriebe. Dreiviertel aller Hotels verzeichnen einen Jahresumsatz von weniger als 500 000 Euro. Dazu
gehören kleine Landpensionen und Bauernhöfe mit wenigen Ferienwohnungen, hinzu kommen Campingplätze
und zahlreiche private Kleinvermieter mit ein oder zwei
Appartements. Zur Branche gehören auch über
350 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Zehntausende Auszubildende. Sie alle profitieren davon, wenn
es ihrem Betrieb besser geht, wenn er wettbewerbsfähiger ist. Die Sicherung von Arbeitsplätzen in der Branche
ist ein wichtiger Grund, warum wir dieses Gesetz genau
so gestaltet haben.
({2})
Die Senkung des Umsatzsteuersatzes ist ein Bestandteil des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Das Gesetz
trägt diesen Namen nicht ohne Grund. Es geht um neues
Wachstum. Ich bin überzeugt: Hiermit schaffen wir
neues Wachstum; denn wir geben den Betrieben Luft für
Investitionen. Ich habe 300 Hotels, Pensionen und Campingplätze in meinem Wahlkreis angeschrieben und
nachgefragt, wie die neuen finanziellen Spielräume genutzt werden. Mir wurden viele Beispiele genannt, wie
investiert wird. Ein renommiertes Hotel wollte
900 000 Euro investieren. Die Bank hat das nicht finanziert. Die Branche ist derzeit schlecht geratet. Nach dieser Gesetzesänderung ist die Wirtschaftlichkeit des Betriebes besser. Der Betrieb bekommt den Kredit. Es wird
investiert. Das sind 900 000 Euro, die auch dem Handwerk zugutekommen.
Wir fordern Bürokratieabbau. Sie sagen: Das Gesetz
bedeutet mehr Bürokratie.
({3})
Ich will Ihnen zwei Antworten vorlegen, die mir Hoteliers gegeben haben. So groß ist der zusätzliche bürokratische Aufwand, der die Beschränkung auf die Beherbergungsleistung erfordert, nämlich gar nicht.
({4})
Mit entsprechender EDV-Software ausgerüstet sind die
marginalen Änderungen der Stammdaten leicht zu bewältigen - so ein Hotelier. Ein anderer sagt: Da wir das
Frühstück aus grundsätzlichen Erwägungen stets getrennt aufführen, gibt es keinen bürokratischen Aufwand. - Das sind Antworten auf die Panikmache, die Sie
betreiben.
({5})
Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nur auffordern: Beenden Sie endlich Ihre unsägliche Kampagne! Sie schaden dem Ansehen einer
Branche. Sie hat es nicht verdient, dass Sie Ihre parteipolitischen Spielchen auf ihrem Rücken austragen.
({6})
Beteiligen Sie sich lieber an der Lösung der tatsächlichen Probleme unseres Landes. Davon gibt es genug.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/520 und 17/447 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst,
Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Verbesserung der Rentenanwartschaften von
Langzeiterwerbslosen
- Drucksache 17/256 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Matthias Birkwald für die Fraktion Die
Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mitte der 90er-Jahre wurden für
Langzeiterwerbslose noch weit über 200 Euro im Monat
in die Rentenkasse eingezahlt. Unter Rot-Grün war es
vor zehn Jahren noch knapp die Hälfte. Mit der Einführung des unsäglichen Hartz-IV-Gesetzes vor fünf Jahren
sank der Rentenbeitrag für Langzeiterwerbslose auf monatlich 78 Euro. Im gleichen Maße sinken natürlich
die Rentenansprüche der Betroffenen.
Doch damit nicht genug: Um weitere 2 Milliarden Euro auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen einzusparen, hat die Große Koalition ohne Gegenstimmen
der FDP den Beitrag zur Rentenversicherung nochmals
fast halbiert, von 78 Euro auf nur noch 40 Euro pro Monat. Das sind sage und schreibe 80 Prozent weniger als
vor 15 Jahren. Das bedeutet: Für ein Jahr Hartz-IV-Bezug erhalten die Betroffenen etwas mehr als 2 Euro
Rente. 2 Euro! Damit brauchten Langzeiterwerbslose
mehr als 300 Jahre für eine Rente auf Hartz-IV-Niveau.
Das ist Altersarmut per Gesetz. Das ist Sozialraub. Das
ist völlig inakzeptabel, und das muss ganz dringend wieder geändert werden.
({0})
Die Altersarmut von morgen wird auch das Ergebnis
dieses langjährigen Sozialabbaus durch SPD und Grüne
sowie Union und FDP sein.
({1})
Jedes Jahr mit Hartz-IV-Bezug ist ein verlorenes Jahr für
die Alterssicherung langzeiterwerbsloser Menschen. Mit
dieser Politik haben Sie die Alterssicherung der Langzeitarbeitslosen ruiniert.
({2})
Diese Politik schadet den Betroffenen; denn ihre Altersarmut ist damit vorprogrammiert.
Für die künftigen Rentnerinnen und Rentner gilt
Art. 1 des Grundgesetzes genauso wie für alle anderen in
Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gilt auch für die Würde von Erwerbslosen, die
das Rentenalter erreicht haben. Darum sollten wir alles
daransetzen, Armut zu verhindern und Altersarmut gar
nicht erst entstehen zu lassen.
({3})
Die Rentenkürzungen münden - so sieht es auch der
Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband - für viele
Langzeitarbeitslose zwangsläufig in die Grundsicherung
im Alter, also im SGB XII. Damit schieben Sie einen
Teil der Kosten der Langzeiterwerbslosigkeit auf die
Kommunen ab. Erwerbslosigkeit und ihre Spätfolgen
sind aber ein gesamtgesellschaftliches Problem und keines, das den Kommunen übergeholfen werden darf.
({4})
Die Minibeiträge reißen Löcher in die Rentenkassen.
Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger hat
schon vor Jahren gewarnt, die Minibeiträge könnten die
Kosten, die aus den Ansprüchen aus Rehamaßnahmen
und Erwerbsminderungsrenten entstünden, nicht ansatzweise decken. Ein Grund mehr, umgehend angemessene
Beiträge für Langzeiterwerbslose in die Rentenversicherung einzuzahlen.
({5})
Der tiefere Sinn der bisherigen Politik scheint mir anders gelagert zu sein. Die fünf Wirtschaftsweisen des
Sachverständigenrates nehmen da kein Blatt vor dem
Mund. Sie sagen - ich zitiere -:
Der Zweck dieser aus Steuermitteln finanzierten
Rentenversicherungsbeiträge liegt … nicht darin,
den Begünstigten einen relevanten Rentenanspruch
aufzubauen, sondern ihnen einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente oder die Riester-Förderung
zu eröffnen und zudem eine Unterbrechung rentenrechtlicher Zeiten zu verhindern.
Auf Deutsch heißt das: Die Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose sind gar nicht für ihre Alterssicherung gedacht. Das ist doch zynisch.
({6})
Herbert Rische, der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, sagte zu dem Thema im Deutschlandradio Kultur, wir sollten uns - ich zitiere - darüber
„Gedanken machen, ob man auch hier - so wie beim
Arbeitslosengeld I - einen Bezugspunkt hinsichtlich des
vorherigen Einkommens nimmt …, zum Beispiel etwas
weniger als 80“ Prozent, „aber doch ein bisschen mehr
als heute.“ Sie sehen: Wir Linken stehen mit unseren
Forderungen nach besseren Rentenanwartschaften von
Erwerbslosen nicht allein. Darum fordere ich Sie auf:
Folgen Sie mit uns den Appellen, Forderungen und Vorschlägen des DGB, der IG Metall, des Sozialverbandes
Deutschland, der Volkssolidarität, des Sozialverbandes
VdK und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Bekämpfen Sie Altersarmut, bevor sie entsteht!
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die neue Regierungskoalition aus CDU, CSU und
FDP hat in ihrer Koalitionsvereinbarung eine, wie ich
finde, bemerkenswerte und sehr wichtige Festlegung getroffen, die ich deswegen wörtlich zitiere:
Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch
veränderte wirtschaftliche und demographische
Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut besteht. Deshalb wollen wir, dass
Peter Weiß ({0})
sich die private und betriebliche Altersvorsorge
auch für Geringverdiener lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der
Grundsicherung
- um in der alten Sprache zu sprechen: oberhalb des Sozialhilfeniveaus erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert
ist. Hierzu wird eine Regierungskommission einen
Vorschlag für eine faire Anpassungsregel entwickeln.
Während sich die Linke - das ist typisch - einzelne
Rosinen herauspickt, wollen wir als Koalition eine
grundlegende Regel für alle schaffen, die Rentenversicherungsbeiträge gezahlt haben, durch die ihnen garantiert wird, dass sie nach einer langen Phase der Erwerbstätigkeit oder auch der Nichterwerbstätigkeit, in der auf
jeden Fall Rentenversicherungsbeiträge gezahlt worden
sind, ein Einkommen im Alter haben, das über der
Grundsicherung liegt. Mit diesem grundlegenden Ansatz
führen wir eine zusätzliche Schutzklausel in das deutsche Rentenrecht ein; das geht weit über das hinaus, was
die Linke vorschlägt.
({1})
Wir wissen, dass gerade die Linke, aber auch andere,
Parlamentsdebatten gern für Märchenstunden nutzen.
({2})
Als das Sozialgesetzbuch II, das gemeinhin immer noch
als Hartz IV betitelt wird - diesen Titel würde ich lieber
weglassen -, eingeführt wurde, hat man zwei unterschiedliche Systeme, die steuerfinanziert waren, nämlich
die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe, zusammengeführt. Das war und ist bis zum heutigen Tag ein sozialpolitischer Meilenstein.
({3})
Sozialhilfeempfänger haben in der Vergangenheit null
Entgeltpunkte für Rentenansprüche erwerben können.
({4})
Mit dem Sozialgesetzbuch II haben wir Hunderttausende
Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger in
Deutschland in die Lage versetzt, zum ersten Mal überhaupt einen Rentenanspruch erwerben zu können.
({5})
Deshalb war und ist es richtig, dass wir bei Menschen,
die im Prinzip erwerbsfähig sind, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten können, nicht zwischen denen unterscheiden, die einen Rentenanspruch bekommen, und denen, die keinen Rentenanspruch bekommen,
sondern dass wir allen einen Rentenanspruch zusprechen. Wenn die Linke hier immer wieder fordert,
Hartz IV müsse weg, dann ist das ein Schlag ins Gesicht
der ehemaligen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Rentenanspruch begründen können.
({6})
Das Interessante ist übrigens, dass der Antrag, der uns
heute vorliegt, mehr als substanzlos ist. Er besteht aus
acht Sätzen, und anschließend werden zwei Aufsätze zitiert.
({7})
Das kann man machen. Der Punkt ist nur der: Man sollte
solche Aufsätze bis zum Ende durchlesen. Dann passiert
es einem nicht, dass man einige ganz wichtige Passagen
übersieht. Zum Beispiel hält der Beitrag von Christina
Wübbeke im IAB-Kurzbericht Einmal arm, immer arm?
fest, dass man eben nicht sagen kann, dass der Arbeitslosengeld-II-Bezug automatisch ein erhöhtes Risiko von
Altersarmut bedeutet, sondern dass es auch auf verschiedene andere Faktoren ankommt und dass vor allen Dingen die älteren Bezieher von Arbeitslosengeld II schon
heute aus unterschiedlichen Vorphasen, auch der Berufstätigkeit, einen Rentenanspruch erworben haben, der
deutlich über dem Grundsicherungsniveau liegt. Deswegen weise ich die These, ALG II bedeute automatisch
Altersarmut, entschieden zurück.
Die Linke hat einen zweiten Punkt einfach vergessen.
Ich möchte vor allen Dingen die Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion Die Linke herzlich einladen, morgen, Freitagvormittag, 9 Uhr, an der Debatte teilzunehmen; denn morgen früh beraten wir einen Gesetzentwurf
der Bundesregierung, der einen wichtigen Beitrag zur
Verhinderung von Altersarmut enthält.
Wir werden das Schonvermögen - heute 250 Euro
pro Lebensjahr - verdreifachen.
({8})
Das ist ein entscheidender Punkt. Die Riester-Rente ist
ohnehin geschützt. Aber auch wer rechtzeitig für das Alter vorgesorgt hat, nach einem langen Berufsleben aber
leider noch arbeitslos wird, aus dem Arbeitslosengeld-IBezug herausfällt und Arbeitslosengeld II beziehen
muss, braucht jetzt nicht zuerst sein Vermögen einzusetzen, bevor er staatliche Hilfe bekommt. Das Vermögen,
das er fleißig angespart hat, schonen wir in einem wesentlich höheren Maße, als dies je der Fall war, damit es
ihm im Alter zur Verfügung steht.
Das Motto „Leistung muss sich lohnen“ muss auch
im Hinblick auf die Vorsorge für das Alter gelten. Die
christlich-liberale Koalition setzt dieses Motto in die Tat
um. Das beste Mittel gegen Altersarmut ist, wenn das,
was angespart ist, im Alter zur Verfügung steht.
({9})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich habe das Signal schon gesehen, Frau Präsidentin.
Peter Weiß ({0})
Durch die Rosinenpickeranträge der Linken wird sozialpolitisch überhaupt nichts bewegt. Wir verfolgen einen generellen Ansatz. Wir verfolgen vor allen Dingen
den Ansatz: Wer für das Alter vorsorgt, fährt mit der
christlich-liberalen Koalition besser, als er je in der Vergangenheit gefahren ist.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Anton
Schaaf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor
ich zu dem Antrag der Linken komme, möchte auf einen
Punkt eingehen, der mir in der vorherigen Debatte aufgefallen ist: Der Herr Kollege Blumenthal hat zum
Thema Kurzarbeit etwas gesagt, was ich hinterfragen
möchte. Er hat das, was der ehemalige Arbeitsminister
Olaf Scholz gemacht hat, nämlich die Förderung der
Kurzarbeit, als Subvention bezeichnet. Die Tatsache,
dass wir viel Geld in die Hand nehmen, um die wirtschaftliche Substanz in den Betrieben und Arbeitsplätze
zu erhalten, damit Deutschland nach dieser Krise zukunftsfähig ist, als Subvention zu bezeichnen, finde ich
ziemlich abenteuerlich.
({0})
Wenn das tatsächlich Ihre Auffassung ist, Herr
Blumenthal - das kann durchaus sein; das kennzeichnet
ein Stück weit Ihr Verständnis vom Sozialstaat -, dann
müssen Sie mir einmal erklären, wie Sie zustimmen
konnten, als in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart
wurde, die Zuverdienstgrenzen anzuheben. Das ist eine
unmittelbare Subvention der Löhne, die die Arbeitgeber
zahlen. Auch das müssten Sie dann als Subvention bezeichnen.
({1})
Welches Staatsverständnis die FDP hat, ist mir in den
letzten Tagen wieder aufgefallen. Herr Lindner hat eben
für die Büttenrede im Kölner Karneval geübt. Gesagt
wird aber immer das Gleiche: Wir brauchen eine neue
Balance zwischen Privat und Staat; das Bürgergeld soll
kommen; die Zuverdienstgrenze soll angehoben werden. Sie haben schon ein merkwürdiges Verhältnis zum Sozialstaat; das haben Sie, Herr Kollege Blumenthal, eben
noch einmal deutlich dokumentiert. Übrigens: Die Entlastung der Hoteliers bei der Umsatzsteuer ist eine echte
Subvention, die Sie beschlossen haben, nicht wir.
({2})
Sie jammern über 6 Prozent Umsatzrückgang in der Hotellerie. Vielleicht sollten Sie im Zusammenhang mit
dieser Debatte einmal darüber nachdenken, wie man den
Menschen ein ordentliches Einkommen sichert; dann
können sie vielleicht wieder in Urlaub fahren.
({3})
Herr Birkwald, ich habe Sympathie für Ihren Ansatz,
zu sagen: Wir müssen eine Menge unternehmen, um Altersarmut zu vermeiden. In der Tat - das ist nicht wegzudiskutieren - zeichnet sich ein Zunehmen der Altersarmut ab. Das hat mit der Einkommenssituation zu tun,
das hat sicherlich mit Erwerbslosigkeit zu tun, das hat
aber auch etwas mit Lohndrückerei und damit zu tun,
dass sich die Regierungskoalition beharrlich weigert,
Mindestlöhne einzuführen.
({4})
Ihr Vorschlag reicht aber bei weitem nicht aus, um Altersarmut zu verhindern. Das ist nur ein kleiner Einschnitt. In der Begründung Ihres Antrags haben Sie die
Mindestlöhne erwähnt. Da bin ich sofort wieder bei Ihnen. Allerdings hat Kollege Weiß an dieser Stelle recht.
Wenn wir uns dieses Instrument anschauen, dann sehen
wir, dass es im Hinblick auf das Alter nicht armutsvermeidend wirkt. So ist das Instrument aber auch nicht angelegt.
({5})
Wir haben 1 Million Menschen aus der Sozialhilfe
herausgeholt. Damit sind rechtliche Ansprüche etwa in
den Bereichen Reha und Erwerbsminderungsrente verbunden, die vorher nicht bestanden haben. Wohin würde
es führen, wenn wir auch im Bereich des SGB II armutsfeste Rentenbeiträge zahlen würden? Wie steht es hier
um das Abstandsgebot? Man müsste den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Steuern und Sozialbeiträge zahlen, erklären, wie das wirkt und was das bedeutet.
Ich glaube außerdem, dass andere Maßnahmen viel
wirksamer sein könnten. Beispielsweise kann man sich
Gedanken darüber machen, eine nachgelagerte Betrachtung durchzuführen und Zeiten der Arbeitslosigkeit höher zu bewerten, sodass jemand, der langjährig versichert war, einschließlich der Zeiten der Arbeitslosigkeit
beispielsweise auf 30 Entgeltpunkte kommt. Man könnte
die Arbeitslosigkeit also nachgelagert höher bewerten,
anstatt eine vorgelagerte Bewertung durchzuführen. Ich
bin auch bei Ihnen, wenn Sie - auch das steht nur in der
Begründung Ihres Antrags - eine Weiterentwicklung der
Rente nach Mindesteinkommen fordern. In der Krise
sollte man zumindest darüber nachdenken, dieses Instrument zu verlängern. Dieses eine, isolierte Instrument,
das Sie in Ihrem Antrag fordern, ist nicht zur Bekämpfung der Altersarmut geeignet.
Herr Kollege Weiß, Sie haben bei der Frage, wie man
die Armutsvermeidung am besten in den Griff bekommt,
im Koalitionsvertrag insbesondere die Frage der privaten
und betrieblichen Altersvorsorge für Geringverdiener in
den Fokus genommen. Mir wäre es lieb gewesen, wenn
die alten Kollegen der Union aus den Sozialausschüssen
dafür gesorgt hätten, dass im Koalitionsvertrag gestanAnton Schaaf
den hätte: Die gesetzliche Rentenversicherung soll verbreitert und substanziell verbessert werden, und zwar für
alle Menschen. Das haben Sie aber nicht im Koalitionsvertrag durchgesetzt.
Ich komme zur realen Politik der Koalition und zur
Frage des Zuverdienstes. Das ist eine ganz spannende
Frage. Anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschen ordentliche Ansprüche aus Arbeit erwerben können, wollen Sie die Zuverdienstgrenzen anheben, und dann wird
eben draufgezahlt. Wir haben schon jetzt eine Aufstockerproblematik. Menschen, die sich in solchen Arbeitsverhältnissen befinden, werden niemals ordentliche Ansprüche für das Alter erwerben können. Das ist doch
Fakt.
({6})
Es ist der falsche Weg, die private Altersvorsorge zu
stärken. Die gesetzliche Altersvorsorge muss gestärkt
werden; wir müssen mehr Menschen einbeziehen. Hier
reden wir zum Beispiel über die drohende Gefahr im Zusammenhang mit der Solo-Selbstständigkeit, wo es ein
Riesenproblem gibt. Da kann die Antwort doch nicht
sein - Sie haben sie gebracht -: Wir öffnen die RiesterFörderung auch für Selbstständige. - Das ist doch der
falsche Weg. Wir haben die Riester-Förderung vor dem
Hintergrund der Absenkung des Rentenniveaus als
Nachteilsausgleich für die betroffenen gesetzlich Versicherten installiert. Diejenigen, die nicht gesetzlich versichert sind, werden durch die Absenkung des Rentenniveaus nicht benachteiligt; aber Sie wollen ihnen die
Vorteile der Riester-Förderung einräumen. Ich halte den
Weg, den Sie da gehen, für völlig falsch. Ich bin der festen Überzeugung - das habe ich immer gesagt -: Man
kann die Menschen am besten vor Altersarmut schützen,
wenn man ihnen Arbeit verschafft, die aber auch vernünftig bezahlt wird, also sozialversicherungspflichtige
Arbeit. Ihr Weg ist völlig falsch.
({7})
Ich sage noch etwas zum Mindestlohn, weil einem in
diesem Zusammenhang immer wieder Vorwürfe gemacht werden. Herr Kollege Weiß, Sie wissen, dass wir
in der letzten Legislaturperiode über branchenspezifische Mindestlöhne geredet und sie zum Teil vereinbart
haben. Ich finde, wir haben das teilweise sehr ordentlich
geregelt; immerhin sind einige Branchen hinzugekommen.
({8})
Ich weiß noch nicht, wie es jetzt mit der Lex FDP aussieht: Die FDP kann eventuell Mindestlöhne, die wir
vereinbart haben, im Kabinett anhalten. Das ist schon ein
starkes Stück. Das müssen Sie mit denen ausmachen.
In der Großen Koalition stand auch die Frage des
Mindestlohns im Bereich der Zeit- und Leiharbeit auf
der Tagesordnung. Hier lagen Anträge vor, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam unterstützt
wurden. Die Union hat den Mindestlohn in der Zeit- und
Leiharbeitsbranche verhindert, und zwar aus ideologischen Gründen. Da gibt es Dumpinglöhne, die von
Christlichen Gewerkschaften ausgehandelt wurden.
Dann sagt die Union, es gebe konkurrierende Tarifverträge und deshalb werde kein Mindestlohn eingeführt.
Wir waren, wenn es darum geht, Menschen vor Altersarmut zu schützen, schon einen Schritt weiter: Zumindest haben wir branchenspezifische Mindestlöhne
vereinbart. Ich sage aber noch einmal: Ziel ist ein vernünftiges Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Wer Vollzeit
arbeitet, muss ein anständiges Einkommen und einen anständigen Rentenanspruch haben, sodass er seine Familie ernähren kann.
Man muss von seiner Arbeit leben und sich durch sie
ordentliche Ansprüche erwerben können. Das, was Sie
hinsichtlich des Einkommens betreiben, ist ganz genau
das Gegenteil. Alle rentenpolitischen Maßnahmen werden Ihnen nicht helfen - und Heilsversprechungen auch
nicht.
Sorgen Sie dafür, dass die Menschen ordentliche Mindestlöhne und Einkommen haben! Beenden Sie die
Schmuddelgeschichten bei der Zeit- und Leiharbeit!
Dann sind wir schon ein Stück weiter.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere der Linkspartei! Wir als christlich-liberale
Regierungskoalition freuen uns natürlich über jeden, der
sich darüber Gedanken macht, wie eine drohende Altersarmut zu verhindern sein wird. Insofern finden wir das
gut. Vielleicht sind Sie auch dadurch auf den Gedanken
gekommen, dass Sie unseren Koalitionsvertrag gelesen
haben.
({0})
Dort ist nämlich klar ausgeführt, dass wir uns diesem
Thema stellen wollen.
Altersarmut könnte in der Tat zu einem größeren Problem werden, wenn wir es jetzt nicht beherzt anpacken.
Im Koalitionsvertrag haben wir bereits einen wesentlichen Teil der Lösungen dafür vereinbart. Morgen werden wir eine erste Säule zur Beratung hier in den Bundestag einbringen. Herr Weiß hat es schon erwähnt: Wir
werden den Freibetrag beim Schonvermögen für HartzIV-Empfänger, der der verbindlichen Altersvorsorge
dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifachen. Das
ist das eine.
({1})
Zum anderen haben wir im Koalitionsvertrag auch schon
festgelegt, dass wir selbst genutzte Immobilien umfassend schützen werden. Auch das ist vereinbart; auch das
wird kommen. Mit diesen beiden Maßnahmen erreichen
wir freilich noch nicht jeden; auch das wissen wir. Da es
aber von Tag zu Tag glücklicherweise immer mehr Menschen gibt, die privat für ihr Alter vorsorgen - im Übrigen auch aus Verantwortung der Solidargemeinschaft
gegenüber -, erreichen wir mit dieser Maßnahme zukünftig immer mehr Menschen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf?
Ja.
Bitte sehr.
Das ist sehr freundlich, Herr Kollege. - Können Sie
mir hinsichtlich des Schonvermögens beantworten, wie
viele Betroffene nach den aktuellen Zahlen von dieser
Anhebung des Schonvermögens tatsächlich profitieren?
Mir liegen Zahlen vor, wonach es um 0,5 Prozent sind.
({0})
Herr Schaaf, ich sehe es Ihnen nach, dass Sie aufgrund der Vorbereitung auf Ihre Zwischenfrage die letzten Sätze nicht gehört haben. Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass dadurch, dass immer mehr Menschen
privat vorsorgen werden, was wir alle miteinander wollen, in Zukunft auch immer mehr Menschen davon betroffen sein werden. Ich füge aber hinzu, Herr Schaaf: Es
muss natürlich unser aller Bemühen sein, dass möglichst
wenige Menschen in die Situation kommen, Hartz IV
beziehen zu müssen.
({0})
Hier strengen wir uns an; das kann ich Ihnen versichern.
({1})
Ich bin mir sicher, dass durch die Verdreifachung des
Schonvermögens - mit Blick auf die Zukunft gedacht,
und über die Zukunft reden wir - einige soziale Härten
in unserer Gesellschaft verhindert werden. Lieber Herr
Schaaf, auch deshalb ist die Kritik, die jetzt gerade aus
den Reihen der SPD zu diesem Thema kommt, wonach
das nur einen sehr eingeschränkten Personenkreis betreffen würde - Sie haben das gerade gesagt -, schlichtweg
falsch. Das zeigt nur, dass Sie nicht weit genug in die
Zukunft blicken.
({2})
Erhöhung des Schonvermögens und Schutz der selbst
genutzten Immobilie: Das sind schon einmal zwei ganz
wesentliche Pfeiler, mit denen wir die gröbsten Ungerechtigkeiten der rot-grünen Hartz-IV-Reformen beseitigen wollen und mit denen wir dem Problem einer zukünftig drohenden und sich möglicherweise ausweitenden Altersarmut begegnen werden. Bei diesen beiden
Pfeilern wird es aber nicht bleiben. Herr Weiß hat das
schon ausgeführt. Wir haben im Koalitionsvertrag darüber hinaus vereinbart, eine Regierungskommission
zum Thema einer drohenden Altersarmut einzusetzen,
deren Ergebnisse wir als selbstbewusste Parlamentarier
natürlich kritisch prüfen, dann aber auch zur Grundlage
unserer künftigen Arbeit und Entscheidung machen werden.
({3})
Klar ist aber auch, dass es bei all unseren Bemühungen,
die rot-grünen Hartz-IV-Reformen gerechter zu machen
und die gröbsten Härten abzumildern, das vordergründigste Ziel dieser christlich-liberalen Regierung und Regierungskoalition ist, dass sich möglichst viele Menschen
in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen
befinden, sie damit eigene Beiträge in die gesetzliche
Rentenversicherung einzahlen und in der Lage sein werden, zusätzlich privat für ihr Alter vorzusorgen und in den
Genuss einer betrieblichen Altervorsorge zu kommen.
Dazu ist ohne Frage ein Bündel von sozialpolitischen, arbeitsmarktpolitischen, bildungspolitischen, familienpolitischen, wirtschaftspolitischen, finanzpolitischen und
haushaltspolitischen Maßnahmen notwendig, die wir aber
allesamt zügig angehen werden und zu einem guten Teil
auch schon angegangen sind.
Es gibt aber auch noch ein anderes wichtiges Ziel dieser Regierungskoalition, nämlich die Haushaltskonsolidierung.
({4})
Dazu stehe ich auch als Sozialpolitiker, der ohne Zweifel
finanzielle Mittel für seinen Bereich und vor allen Dingen für die Menschen, für die wir Politik machen,
braucht.
({5})
Aber als Sozialpolitiker dieser christlich-liberalen Regierungskoalition stellen wir uns auch der Herausforderung, dass wir in Zukunft noch besser begründen müssen, wofür wir Geld einsetzen werden. Wir werden
nachweisen, was es für die Betroffenen wirklich bewirkt,
und wir werden vor allen Dingen sagen, wie viel es ist.
Dazu findet sich in Ihrem Antrag leider nichts, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei. Darin heißt
es lapidar:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf, die Rentenanwartschaften von
Langzeiterwerbslosen umgehend deutlich zu verbessern.
Wie viel es sein wird, was es kosten wird, und wie
man es macht, schreiben Sie nicht.
({6})
Das liegt vielleicht daran, dass Sie das, was Sie politisch
wollen, selbst für nicht finanzierbar halten, oder dass Sie
das, was Sie finanzieren wollen, gegenüber Ihrer eigenen
Anhängerschaft politisch nicht vertreten wollen.
Wir wollen Politik anders machen. Wir denken etwas
länger nach, beraten uns intensiv, berechnen und geben
an, ob es etwas kostet und gegebenenfalls wie viel, und
werden damit, ganz im Sinne der betroffenen Menschen,
erfolgreich sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang
Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht. Art. 22 der
Menschenrechtserklärung sollte für uns alle der Maßstab
sein, wie man mit den Schwächsten der Gesellschaft,
den Langzeitarbeitslosen, umgeht.
Wie zum Beispiel Herr Koch, mein Ministerpräsident
in Hessen, herumschwadroniert und über die Hartz-IVEmpfänger herzieht, ist nicht der Umgang mit den Langzeitarbeitslosen, den wir uns wünschen. Das, was die
Ministerin dazu gesagt hat, war nur ein bisschen abgeschwächt.
({0})
Mit demselben Ansatz gehen wir auch an die Rente
und die Rentenansprüche von Langzeitarbeitslosen heran. Es ist völlig richtig, dass der Betrag von 2,19 Euro
lächerlich ist.
({1})
- Nein.
({2})
- Er ist von der Großen Koalition auf 2,19 Euro halbiert
worden.
Herr Birkwald hat vorhin das Prozedere beschrieben.
Herr Weiß hat darauf hingewiesen, dass es gar nicht darum ging, einen Satz zu finden, der nach 40 Jahren Arbeitslosigkeit eine existenzsichernde Rente ergeben
würde.
({3})
Das ist der nächste Punkt. Wir haben einen Kritikpunkt
gegenüber der Linken. Denn man muss ehrlich sein:
Auch eine Erhöhung würde noch keine existenzsichernde Rente bedeuten, es sei denn, man verzehnfacht
oder verfünfzehnfacht den Satz. Dann müsste man allerdings auch sagen, wie das Ganze zu finanzieren wäre.
Sie von der Linken nicken zwar, aber in Ihrem Antrag
ist nichts dazu enthalten. Im Antrag wird eine deutliche
Erhöhung gefordert, aber was heißt das denn? Damit
können Sie uns nicht kommen. Es ist viel zu billig, einfach zu sagen, dass die Welt besser werden muss. Dem
kann man sich nicht verschließen; das ist völlig richtig.
Aber was heißt „deutlich besser“? Meinen Sie das Fünffache, Zehnfache oder Zwanzigfache?
Bei einer deutlichen Erhöhung auf ein existenzsicherndes Niveau, zum Beispiel um das Zehnfache, gäbe
es das Problem, das Herr Schaaf angesprochen hat. Was
wäre dann beispielsweise mit den Geringverdienern?
Müsste man das nicht auch auf sie beziehen? Es gibt
viele Folgeeffekte.
Sie sagen auch nicht, wie Ihre Forderungen finanziert
und umgesetzt werden sollen. Es fehlt also noch einiges.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gesamtproblem der
Altersarmut. Auch das ist nur eine Teilgruppe. Man
braucht aber ein Gesamtkonzept. Dazu haben Sie in der
Begründung zu Ihrem Antrag ein paar Stichpunkte genannt, aber das ist noch ein bisschen wenig. Sie müssen
mehr leisten. Für unsere Fraktion kann ich versprechen,
dass wir ein Gesamtkonzept gegen Altersarmut vorlegen
werden.
Die schwarz-gelbe Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, etwas machen zu wollen. Der Satz,
der vorgelesen wurde, strotzt allerdings vor Widersprüchen. Es wird eigentlich nicht ganz klar, was dabei herauskommen soll. Es wird nicht deutlich, dass Sie eine
existenzsichernde Rente haben wollen.
({4})
Da steht etwas von betrieblicher und privater Alterssicherung, die irgendwie besser auf die Grundsicherung
angerechnet werden soll. Es soll weiterhin eine bedürftigkeitsgeprüfte Leistung geben. Diesem Satz zufolge
handelt es sich also eher um eine Grundsicherung de
luxe als um eine existenzsichernde Rente. Wir dagegen
streben ebendiese an.
({5})
Wir werden, wie gesagt, ein Konzept dazu vorlegen.
Ich bin auf das Konzept der Regierung und auf das Konzept der Linken gespannt. Vielleicht kommt sogar noch
von der SPD ein Gesamtkonzept zum Thema Altersarmut.
({6})
Ich finde allerdings, dass man sich diese Ein-Satz-Anträge, die die Linke manchmal einbringt, eigentlich sparen kann. Ziehen Sie den Antrag am besten einfach zurück. Wenn dann alle Konzepte vorliegen, können wir
eine ausführliche Diskussion darüber führen.
Herzlichen Dank.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Linken haben heute wieder nur zu einem bestimmten Thema einen Antrag eingebracht, in diesem Fall zur
Altersarmut. Diesen Antrag haben sie auf die Langzeitarbeitslosigkeit abgestellt.
Ich glaube, dass dies der Sache in keiner Weise gerecht wird. Sie müssten nämlich zuerst definieren, was
Langzeitarbeitslosigkeit überhaupt bedeutet. Ich kann
mich durchaus erinnern, dass man von Langzeitarbeitslosigkeit spricht, wenn ein Jugendlicher länger als ein
halbes Jahr arbeitslos ist. Bei Älteren spricht man von
Langzeitarbeitslosigkeit, wenn sie über ein Jahr arbeitslos sind.
Ich kann mir bei weitem nicht vorstellen, dass bei einem Jugendlichen, der sieben, acht oder selbst zwölf
Monate arbeitslos ist, dann wieder eine Arbeit bekommt
und der sein Arbeitsleben von 45 Jahren noch vor sich
hat, die Altersarmut vorprogrammiert ist. Von diesem
Gesichtspunkt aus ist der Antrag abzulehnen. Er ist weiterhin den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern gegenüber nicht gerecht. Es geht schließlich darum, dass
das Äquivalenzprinzip in der Rente eine Grundlage hat.
({0})
Die beste Vorsorge gegen Altersarmut - das haben
wir auch im Koalitionsvertrag niedergelegt - sind möglichst viele Arbeitsplätze und damit möglichst sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bei guter Bezahlung. Dafür stehen wir. Daran werden wir
arbeiten.
Im Hinblick auf die Forderungen der SPD und der
Grünen möchte ich Folgendes sagen: Mit gesetzlichen
Mindestlöhnen werden Sie die Altersarmut nicht bekämpfen. Denn wenn jemand 45 Jahre lang auf einen
Stundenlohn von 7,50 Euro angewiesen ist, wird er hinterher auch auf Grundsicherung angewiesen sein.
({1})
Das kann es nicht sein. Deshalb ist es besser, starke Tarifparteien, starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände zu haben. Wir als christlich-liberale Regierung werden für ein gutes wirtschaftliches Umfeld
sorgen, damit in unserem Land viele Arbeitsplätze entstehen.
({2})
Den Menschen wird dadurch ermöglicht, nicht nur
Rentenanwartschaften zu begründen, sondern auch Eigentum zu bilden. Dies ist ein entscheidender Gesichtspunkt. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen Eigentum erwerben können und Eigentum gebildet werden
kann. Man muss sich ein eigenes Haus leisten können,
das im Falle von tatsächlicher Altersarmut geschützt ist.
Für eine entsprechende Regelung haben wir bereits gesorgt. Darüber hinaus muss die Möglichkeit, privat vorzusorgen, geschützt werden. Das werden wir morgen in
der Parlamentsdebatte ausführlicher diskutieren.
Kollege Schaaf hatte vorhin gefragt, wie vielen Menschen das nützt. Ich sage: Es nützt allen Menschen, die
möglicherweise von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht
sind, aber schon seit langer Zeit arbeiten und Vermögensbildung betrieben haben. Wir garantieren damit den
Menschen letztendlich Sicherheit. Das ist doch das Entscheidende für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und nicht die Anzahl derjenigen, die davon einen
Nutzen haben. Das Beste ist, wenn niemand diese Regelungen in Anspruch nehmen muss und jeder bis zum
Renteneintrittsalter einer Beschäftigung nachgehen
kann.
({3})
Sie von der Linken haben besondere Probleme mit
der Eigentumsbildung in unserer Gesellschaft. Eigentum
ist bei Ihnen verpönt; denn Eigentum muss nach Ihrer
Auffassung stark besteuert werden und entsprechend mit
Erbschaftsteuer belegt werden. Das zeigt deutlich den eigentumsfeindlichen Charakter Ihres Antrags. Sie wollen
gar nicht die Menschen in die Lage versetzen, eine wichtige Grundlage für ihre Altersvorsorge zu legen. Sie rufen nur nach sozialen Leistungen.
({4})
Ihr Antrag enthält etwas versteckt den Ruf nach einer
Mindestrente bzw. einem Mindesteinkommen. Das zeigt
sehr deutlich, dass es sich hier um keine gute sozialpolitische Agenda handelt. Sie wollen letztendlich vom sogenannten Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung, mit dem wir über Jahrzehnte gut
gefahren sind, abweichen. Das ist sozialpolitisch nicht
sinnvoll; denn damit werden geringfügig Beschäftigte
und Teilzeitbeschäftigte deutlich besser gestellt als Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die Vollzeit gearbeitet haben.
Wir werden sicherlich noch Gelegenheit haben, in
Anhörungen über diesen Antrag zu diskutieren. Es wäre
gut, wenn sich die Linke darauf verständigen könnte,
dass unser gesetzliches Rentenversicherungssystem eine
großartige Grundlage ist, Altersarmut vorzubeugen, und
Menschen, die keine ausreichende Rente haben, einen
hervorragenden Schutz durch eine Grundsicherung bei
Erwerbsunfähigkeit bzw. im Alter bietet.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 13:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({0}), Brigitte Pothmer, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Jugendlichen bessere Ausbildungschancen geben - DualPlus unverzüglich umsetzen
- Drucksache 17/541 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann können wir
so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Priska Hinz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Schönen guten Abend! Auch wenn uns noch nicht
alle aktuellen Zahlen der Nachvermittlung vorliegen,
kann man grundsätzlich ein paar Fakten feststellen, die
noch immer für den Ausbildungsbereich gelten. Etwa
50 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber im letzten
Jahr haben keinen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Der Verbleib von etwa 100 000 Jugendlichen ist völlig unklar. Man weiß nicht, ob sie in Maßnahmen, zu
Hause oder in Beschäftigung sind. Es gibt zudem
300 000 Altbewerber. Wir haben des Weiteren ein völlig
ineffektives und circa 3 bis 5 Milliarden Euro teures
Übergangssystem. Trotz aller Anstrengungen des Handwerks und der Industrie ist die Zahl der Ausbildungsverträge im letzten Jahr einzig und allein im öffentlichen
Dienst gestiegen. Ansonsten haben die Ausbildungsangebote abgenommen.
Das heißt im Klartext, wir brauchen ein konjunkturunabhängiges System für die Ausbildung, in dem mehr Ausbildungsbetriebe eingebunden sind: Ausbildungsbetriebe,
die nur besondere Sparten ausbilden können, solche, die
keine Ausbildungstradition haben, und kleine Ausbildungsbetriebe, die das allein nicht stemmen können.
Wir haben ein System entwickelt - darüber haben wir
hier schon mehrfach diskutiert -, mit überbetrieblichen
Ausbildungsstätten gemeinsam die Betriebe dazu zu
bringen, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Das
hätte den Effekt, dass wir mehr Quantität hätten, das
heißt eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen,
aber auch einen qualitativen Sprung, weil in überbetrieblichen Ausbildungsstätten die Betriebe beteiligt sind und
dort tatsächlich etwas anderes stattfindet als in den dequalifizierenden Warteschleifen, die wir zurzeit haben.
Das System ist anschlussfähig an das, was DIHK und
ZDH bislang vorgelegt haben: an das System der Qualifizierungsbausteine, wie es der ZDH vorgelegt hat, und
an die Skizze „Dual mit Wahl“, die der DIHK vorgelegt
hat.
({0})
Was aber macht die Bundesregierung? Sie kürzt im
vorliegenden Haushalt die Mittel für die überbetrieblichen Einrichtungen, anstatt sie massiv auszubauen.
({1})
Auf dem Bildungsgipfel wird zwar viel diskutiert; aber
mit den Ländern wird nicht einmal darüber geredet und
festgehalten, wie man die berufliche Ausbildung tatsächlich reformiert. All die Versuche, Projekte und Modelle,
die immer stückchenweise vom Haushalt mitfinanziert
werden, führen nicht dazu, dass man einen besseren Einstieg in die Ausbildung hat und man für Altbewerber tatsächlich gute, qualifizierende Systeme und Einstiegsangebote schafft. Es gibt keine Durchlässigkeit hin zur
Weiterbildung, und es gibt keine ausreichende Zahl von
Ausbildungsangeboten.
({2})
- Natürlich stimmt das. Diese Fakten können Sie doch
nicht leugnen. Die Fakten liegen auf dem Tisch, und es
wird nicht besser, wenn Sie immer nur auf den Ausbildungspakt schielen und immer noch Vereinbarungen nur
mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag
und dem ZDH treffen. Das ist sicherlich ganz schön und
wichtig, aber es reicht nicht aus.
Wir brauchen eine Reform der Ausbildung, bei der
mehr Akteure ins System einbezogen werden, damit wir
tatsächlich eine entsprechende Qualität für Nachwuchskräfte und soziale Integration hin zur Beschäftigungsfähigkeit junger Leute erreichen.
({3})
Es geht nicht an, dass wir eine solche Desintegrationsstrategie fahren. Deswegen bitten wir Sie, unseren
Antrag im Ausschuss ordentlich zu beraten und ihm anschließend zuzustimmen sowie im Haushalt möglichst
die Mittel für die überbetrieblichen Einrichtungen aufzustocken.
Danke schön.
({4})
Nun hat das Wort der Kollege Axel Knoerig für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Uns liegt ein Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr Jugendlichen bessere Ausbildungschancen geben - DualPlus unverzüglich umsetzen“ vor. Dabei geht es in erster Linie
darum, neben Berufsschule und Betrieb eine staatliche
überbetriebliche Ausbildungsform als dritte Säule neben
dem dualen System aufzubauen. Das soll nach Meinung
der Grünen zu einer Neustrukturierung der gesamten Berufsausbildung führen. Über 300 000 junge Leute, die
sich in Warteschleifen befinden, sollen einer Ausbildung
zugeführt werden.
Dazu merke ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Folgendes an:
Erstens. Wir sind auch durch unsere Verbundenheit
mit dem ländlichen Raum und durch die damit einhergehenden Kontakte mit bodenständigen Handwerksmeistern der festen Überzeugung, dass unser duales Berufsausbildungssystem überaus erfolgreich ist.
({0})
Zweitens. Wir glauben nicht, dass ein stärkerer staatlicher Einfluss auf die Berufsausbildung die Lage der
schwer vermittelbaren Jugendlichen - um solche handelt
es sich überwiegend - nachhaltig verbessert.
({1})
Drittens. Wir sind der Überzeugung, dass die Unternehmen und Handwerksbetriebe sich der Problematik
des demografischen Wandels und der daraus resultierenden Knappheit an qualifizierten Mitarbeitern bewusst
sind.
({2})
Dass dies so ist, kann man schon daran ablesen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass der stärkste Einbruch
der Konjunktur in Friedenszeiten seit der Weltwirtschaftskrise nicht zu einem entsprechenden Anstieg der
Arbeitslosigkeit in 2009 geführt hat. Warum ist das so?
Weil die Unternehmen Fachkräfte an Bord halten wollen, dafür die Kurzarbeiterregelung nutzen und auch in
Zukunft nutzen können.
Ich habe in meinem Wahlkreis die wissenschaftlich
fundierte Initiative „Qualifizieren statt Entlassen“ gestartet, die von zwei Professoren der privaten FOM,
Hochschule für Oekonomie & Management, entwickelt
worden ist. Unternehmer und Handwerker der Region
wollen qualifizierte Leute auch über die Durststrecke
hinweg im Unternehmen behalten und sind bereit, dafür
auch Gewinneinbußen oder sogar Verluste hinzunehmen.
Viertens. Wenn ich mir vor diesem Hintergrund überlege, warum es so viele junge Leute in Warteschleifen
gibt, komme ich zu dem Schluss, dass dies sicher nicht
deshalb so ist, weil unsere Unternehmer und Handwerksmeister ausbildungsfeindliche Egoisten sind, denen womöglich der Staat die Notwendigkeit von Ausbildung und Investitionen in Bildung erklären und dies
sogar noch vormachen müsste. Ich kenne genügend Betriebe, die mehr oder überhaupt Jugendliche ausbilden
würden, wenn sie entsprechend qualifizierte junge Leute
finden würden.
({3})
Fünftens. Ich sage auch ganz klar: Dabei geht es überhaupt nicht um theoretisches Überfliegertum. Ein Dachdeckermeister sucht keinen Schüler, der sich für die
Relativitätstheorie von Einstein interessiert; er sucht jemanden, der sich für das Handwerk begeistert, notwendige Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ehrlichkeit mitbringt und ein entsprechendes Sozialverhalten an
den Tag legt.
({4})
Wenn er solche Jugendliche nicht findet, wird Ausbildung nicht nur uninteressant, sondern objektiv unmöglich.
Sechstens. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks geht davon aus, dass rund jeder vierte Jugendliche
nicht ausbildungsfähig sei; jährlich verließen 8 Prozent
der Schüler ihre Klassen ohne Abschluss; dazu kämen
weitere 15 Prozent, die selbst in den Hauptfächern Mathematik und Deutsch unzureichend ausgebildet seien.
Diese Defizite beseitigen Sie mit Ihrem Antrag nicht.
Hier muss im Vorfeld, insbesondere bei Familien und
Schulen, angesetzt werden.
Siebtens. Das bedeutet, dass notwendige Sekundärtugenden und Eigenverantwortung in der Erziehung in
Deutschland wieder einen höheren Stellenwert bekommen müssen.
({5})
Dadurch wurde unser Land zu einem der erfolgreichsten
Länder der Welt. Durch Fehlentwicklungen wie die antiautoritäre Erziehung und die Spaßgesellschaft haben wir
Zukunftsfähigkeit verloren.
({6})
Diese gilt es zurückzugewinnen. Wir müssen die eigentlichen Probleme lösen und dürfen nicht, wie die Grünen
beabsichtigen, an den Symptomen herumdoktern. Viel
wichtiger ist es, den Kindern wieder Leistungsbereitschaft und Freude an der eigenen Arbeit sowie soziale
Verantwortung beizubringen.
({7})
Achtens. Bei der Neujahrsansprache der Kreishandwerkerschaft in meinem Wahlkreis Diepholz-Nienburg I
sagte deren Kreishandwerksmeister sinngemäß: Junge
Menschen, die sich für eine Ausbildung interessieren,
sollen praxisfähig sein und nicht durch die Qualitätshürden der Theorieausbildung an einem Abschluss gehindert werden. Die übertriebene Verschulung in der Ausbildung ist im Handwerk eine Hürde für den
Auszubildenden. Der Handwerksmeister muss wieder
einen Mehrwert bekommen, der sich aus der PraxisfäAxel Knoerig
higkeit der Berufsausbildung ergibt. Die Qualitätshürden
der beruflichen Ausbildung dürfen also nicht so hoch
sein, dass der gute Praktiker an der Theorie versagt und
keinen Abschluss macht.
Die Grünen wollen mit ihrem Modell noch mehr
Theorie.
({8})
Wir brauchen aber weniger. Auch das ist eindeutig ein
Beleg dafür, dass das Vorhaben „DualPlus“ in Wahrheit,
wenn man von der erfolgreichen dualen Ausbildung in
Deutschland ausgeht, eigentlich ein „DualMinus“ wäre.
Wir sagen eindeutig Nein zu „DualPlus“, weil unser bestehendes duales Ausbildungssystem ein wirkliches
„DualMultiPlus“ ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Herr Kollege Knoerig, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr
herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel
Freude, Erfolg und alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist nun für die SPD-Fraktion der
Kollege Willi Brase.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Als Mitglied zweier
Berufsbildungsausschüsse muss ich mich schon ein bisschen darüber wundern, dass man hier sehr schnell mehrere Hunderttausend Jugendliche als nicht ausbildungsfähig abgestempelt hat. Man hat behauptet, sie seien
nicht in der Lage, täglich zur Arbeit bzw. zur Ausbildung
zu gehen. Ich halte das für schlecht.
({0})
Ich habe selten Handwerksmeister oder Kleinbetriebler erlebt, die sagen: Mit diesen jungen Leuten können
wir nichts anfangen. Im Gegenteil, sie sagen schon seit
Jahren - auch wir haben hier darüber diskutiert -: Der
Übergangsbereich - wir bekommen ihn jedes Jahr im
Berufsbildungsbericht zahlenmäßig vor Augen geführt muss endlich einmal vernünftig geordnet werden, nach
dem Motto „Weniger ist mehr“. Es blickt nämlich keiner
mehr durch, was wir dort an Maßnahmen haben.
({1})
Dazu habe ich wenig bzw. gar nichts gehört.
Eine Randbemerkung sei erlaubt: Wenn Sie die ÜBS,
bezogen auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, in
eine Ecke stellen, aber gleichzeitig im Haushaltsplan die
Mittel für die ÜBS auf über 50 Millionen Euro aufstocken, dann müssen Sie mir einmal im Ausschuss erklären, wie das inhaltlich zusammenhängt. Das ist ein
schlechtes Vorgehen.
({2})
Ich möchte auf den Bereich Übergangsmanagement
eingehen. Dankenswerterweise hat eine Kollegin von
uns die Regierung angeschrieben und gefragt, wann wir
endlich anfangen, diesen Bereich vernünftig zu organisieren. Die Antwort war sehr erstaunlich: Die Bundesregierung will erst eine Vorstudie und dann eine Evaluation durchführen; danach will sie entscheiden, was sie
tut. Meine Güte, bis diese Entscheidung getroffen ist, gehen wieder drei oder vier Jahre ins Land. Das bringt
doch den jungen Leuten und auch unseren Unternehmen
nichts, weil sie nämlich Fachkräfte suchen. Da müssen
wir etwas tun.
({3})
Meine Bitte ist - die FDP spricht häufig vom Eintreten der politisch-geistigen Wende in Deutschland; das
kennen wir aus alten Zeiten -: Geben Sie einmal Gas!
Laden Sie die Ministerpräsidenten und die Kultusminister ein - Frau Schavan kann das tun -, und beschäftigen
Sie sich damit, wie es in diesem Bereich aussieht! Wir
wissen, dass dieser Bereich vor allen Dingen regional zu
betrachten ist. Ich kann Ihnen Beispiele von Nürnberg
bis Hamburg dafür nennen, dass sich die Zuständigen in
den Gebietskörperschaften mit den örtlichen IHKs, mit
den Gewerkschaften, mit der Agentur für Arbeit, mit den
Argen zusammensetzen, um sinnvolle Maßnahmen
durchzuführen. All dies wäre zu bündeln.
Das setzt allerdings voraus, dass die Kommunen auch
zukünftig in der Lage sind, entsprechende Finanzen vorzuhalten. Wenn Sie die in Ihrem Koalitionsvertrag formulierten steuerpolitischen Vorschläge umsetzen, dann
kommt auf die Kommunen möglicherweise einiges zu.
Sie bekommen dann ein weiteres Problem, weil Sie den
Kommunen mit Ihrer Steuerpolitik Geld wegnehmen,
das sie unbedingt brauchen.
({4})
Im Antrag der Grünen und auch im Koalitionsvertrag
von Schwarz-Gelb habe ich gelesen, dass man zur Bewältigung der schwierigen Aufgabe - das will ich durchaus anerkennen - differenzierte und modularisierte Angebote machen will. Das Berufsprinzip will man dabei
wahren.
({5})
Was ist denn das Berufsprinzip? Das Berufsprinzip der
dualen Ausbildung wird nicht dadurch gewahrt, dass
man eine Abschlussprüfung bei der IHK macht. Das ist
ein bisschen billig. Die Ausbildung in Arbeits- und Geschäftsprozessen, also dort, wo das reale wirtschaftliche
Leben stattfindet, verbunden mit der notwendigen Unterstützung und der wichtigen theoretischen Unterweisung, die Erlangung der Beschäftigungsfähigkeit in einem Zeitraum von drei bis dreieinhalb Jahren, das
zusammen ist das Berufsprinzip. Frau Hinz, wir müssen
sehr intensiv darüber streiten, ob dieses Prinzip über
DualPlus aufrechterhalten werden kann. Wir müssen
auch der Frage nachgehen, was die Koalition vorhat, um
dieses Problem in den Griff zu bekommen.
In Ihrem Koalitionsvertrag steht auch, dass Sie die
Gewerkschaften und die Kommunen gerne einladen
wollen, an einem Pakt für Ausbildung teilzunehmen.
Das halte ich für eine gute Sache.
({6})
Ich habe von den Gewerkschaften gehört, dass sie bei
der Betrachtung dessen, was wir haben, gern eine ehrliche Bilanz hätten. Für eine solche Bilanz brauche ich nur
den Berufsbildungsbericht der Bundesregierung zu zitieren: Es fehlen nicht nur Ausbildungsplätze für die noch
Unversorgten, sondern auch beinahe 250 000 Plätze für
die sogenannten Altbewerber.
Wir haben damals das Ausbildungsbonusprogramm
auf den Weg gebracht mit mittlerweile 30 000 Geförderten. Meine Frage wäre an dieser Stelle, da die FDP das
Programm ja massiv kritisiert hat:
({7})
Wie läuft es bei Ihnen weiter? Wird der Ausbildungsbonus weitergeführt? Können wir damit rechnen, dass er
auch durch Kampagnen begleitet wird, damit weiterhin
junge Leute gerade auch aus dem Altbewerberbereich in
dieses Programm aufgenommen werden und somit eine
vernünftige Perspektive erhalten bzw. für sich entwickeln können? Es wäre eine wichtige und gute Sache,
wenn Sie das auf den Weg brächten.
Wenn wir ehrlich sind - das sage ich nicht nur heute
hier, sondern das habe ich auch zu Zeiten der Regierungsbeteiligung meiner Partei gesagt -, müssen wir uns
eingestehen, dass wir zwar einen Weg entwickelt haben,
um am 30. Juni und am 31. Dezember statistische Zahlen zu erhalten, die wir dann wunderbar bewerten können, es aber auch immer wieder vorkommt, wie wir wissen, dass sich junge Leute gar nicht mehr melden. Diese
gelten dann nach unserer Definition als „versorgt“.
Wenn man das Problem auch im Hinblick auf die demografische Entwicklung vernünftig in den Griff bekommen will, dann müssen wir dazu übergehen, ehrliche Erhebungen über die Zahlen an unversorgten jungen
Leuten durchzuführen und all denen dann auch ein vernünftiges Angebot zu unterbreiten.
Wir haben die Berufseinstiegsbegleitung auf den Weg
gebracht. Ich höre sehr Gutes über die Arbeit der Berufseinstiegsbegleiter. Dass bestimmte junge Leute an die
Hand genommen werden, ist eine wichtige Sache. Dazu
steht nicht viel im Koalitionsvertrag. Wir sind deshalb
sehr gespannt, was die neue Koalition in den nächsten
Wochen und Monaten tun wird, um jungen Leuten ein
vernünftiges Mittel, ein vernünftiges Angebot an die
Hand zu geben, damit sie auch eine Perspektive haben.
Es gibt ein weiteres Problem: die Ausstattung der Berufskollegs. In manchen Regionen sind sie gut ausgestattet, in anderen Regionen weniger gut. Ich will nur darauf
verweisen, dass man sich immer vor Augen halten sollte,
dass immer zwei Teile dazugehören, wenn das duale
System vernünftig laufen soll. Es nutzt den jungen Leuten überhaupt nichts, wenn sie in ihren Unternehmen
bzw. Betrieben fantastisch ausgebildet werden, aber im
Berufskolleg die Bedingungen schlecht sind, weil die
notwendige Zahl an Fachlehrern nicht vorhanden ist.
Dieses Problem müssen Sie angehen. Deshalb noch einmal unsere Aufforderung: Rufen Sie die entscheidenden
Leute zusammen! Überlegen Sie, wie Sie hier vorankommen und vor allen Dingen endlich einmal das Übergangssystem vernünftig auf den Weg bringen können!
Vor Ort gibt es viele gute praktische Beispiele. Darauf
kann man sich beziehen. Das ist eine gute Sache.
Die Weiterentwicklung der dualen Ausbildung war eigentlich immer eine Angelegenheit des ganzen Parlamentes und kein Thema, mit dem man sich am Rande
befasste. Ich darf daran erinnern, dass wir die Reform
des Berufsbildungsgesetzes in diesem Parlament ohne
Gegenstimme beschlossen haben. Es gab nur Zustimmung und Enthaltungen. Nach fünf Jahren sage ich:
Diese Reform hat sich in weiten Teilen schon ausbezahlt. Wir haben damals im Gesetz verankert, dass die
Berufsorientierung wieder ein Stück weit stärker in die
Hände der Betriebe gelegt wird. Wir haben Möglichkeiten aufgezeigt, wie in schwierigen Zeiten über eine schulische Ausbildung in Vollzeit gegengesteuert werden
kann. Hier stelle ich auch die Frage: Wie wollen Sie dieses zeitlich befristete Element gemäß § 43 Abs. 2 positiv
nutzen, damit nicht noch mehr junge Leute in Warteschleifen geparkt werden - es handelt sich ja um mehrere Hunderttausende -, sondern eine vernünftige Ausbildung machen können?
Nutzen Sie die Instrumente! Damit tun Sie etwas Gutes für das Land, aber vor allen Dingen für die betroffenen jungen Leute.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Heiner
Kamp.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Mit diesem Antrag verhält es
sich wie mit grünem Tee: im Urzustand schon ein ungenießbares Gebräu!
({0})
Leider wird das Gesöff nicht besser, wenn man es immer
und immer wieder neu aufgießt. Es ist dann genauso
fade wie Ihr x-ter Antrag zum sogenannten DualPlusModell, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen.
({1})
Dieses Modell ist ein Ladenhüter - keiner will es, vor allem nicht die Kammern, denen Sie eine tragende Rolle
zubilligen wollen. Fragen Sie doch einmal beim Handwerk nach! Gehen Sie doch einmal zu den Kammern!
({2})
Da wird Ihnen kein Jubel entgegenschlagen - höchstens
die Tür.
({3})
Kein Wunder! Sie wollen zwei bewährte Elemente
unserer beruflichen Bildung, das duale System der betrieblichen Ausbildung und die überbetrieblichen Ausbildungsstätten, miteinander kreuzen. Eine Maßnahme,
die für sich genommen gut ist und sich wie die überbetrieblichen Ausbildungsstätten durchaus bewährt hat,
wird durch die zwangsweise Integration in das erfolgreiche und anerkannte duale System nicht besser.
({4})
Die FDP will am Erfolgskonzept der Kooperation von
Betrieb und Berufsschule festhalten.
({5})
Sonder-, Übergangs-, Misch- und Scheinlösungen lehnen wir ab. Unser Anliegen ist es, die Berufsausbildung
im Gespräch mit den Akteuren - hier sind die ausbildenden Betriebe ein wichtiger Ansprechpartner - krisenund zukunftssicher zu machen. Während die Grünen an
Modellen stricken, die sich auf Parteitagen nett verkaufen, vor denen aber in der realen Welt alle Betroffenen
die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, die Bürokratie aufbauen, Ausbildungsunternehmen belasten und
das Dualsystem der betrieblichen Bildung aushöhlen,
setzt sich die FDP mit den Betroffenen zusammen und
sucht nach echten Wegen zur Weiterentwicklung der Berufsbildung.
({6})
Nicht zuletzt deshalb hat die FDP-Fraktion bereits
2007 mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks
eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet. Aus dieser Zusammenarbeit ist ein Positionspapier hervorgegangen,
das in zehn Punkten die erforderlichen Maßnahmen zur
Verbesserung der Ausbildungssituation in Deutschland
aufzeigt.
Die Ausweitung des Einzugsgebiets der überbetrieblichen Ausbildungsstätten auf das herkömmliche Feld der
Berufsbildung ist nicht praktikabel. Wir zweifeln keineswegs an der Funktionalität der überbetrieblichen Bildungsstätten - dort, wo sie gebraucht und von den Beteiligten gewünscht werden. Daher hält die FDP die
überbetriebliche Ausbildung gerade zum Beispiel im
Handwerk zur Vermittlung von Aus- und Fortbildungsinhalten sogar für unverzichtbar.
({7})
Doch unser Orientierungspunkt ist und bleibt dabei die
betriebliche Ausbildung. Diese ist das deutsche Erfolgsmodell. Hierauf müssen wir unser Augenmerk richten.
Denn nur diese sichert erstaunliche Quoten des Übergangs in den Beruf und bewahrt uns vor einer Jugendarbeitslosigkeit wie in Skandinavien oder Frankreich. Die
überbetriebliche Ausbildung kann deswegen nur als
Stütze der betrieblichen Ausbildung dienen. Sie wird
niemals als eigener Pfeiler in einem „trigonalen Ausbildungssystem“ eine positive Wirkung entfalten können.
({8})
Lassen Sie mich auch kurz auf die in Ihrem Antrag
unterschwellig mitklingende Kritik am Ausbildungspakt
eingehen. Seit 2003, dem letzten Jahr vor dem Ausbildungspakt, gibt es zum Beispiel im Bereich der Industrie- und Handelskammern trotz Krise ein Plus von
8 Prozent bei den abgeschlossenen Ausbildungsverträgen, und dies bei einem gleichzeitigen Rückgang der
Schulabgängerzahlen um 5 Prozent. Reden Sie doch mit
den Betroffenen statt über sie!
({9})
Dann wüssten Sie auch, dass es selbst im Jahr der Krise,
2009, keine Lücke auf dem Ausbildungsmarkt, sondern
ein Überangebot an Lehrstellen gab. 9 600 unvermittelten Jugendlichen im September 2009 standen 17 300 offene Lehrstellen und 20 000 freie Einstiegsqualifizierungsangebote gegenüber. Statt Anträge mit unseriösen
Zahlen zu verbreiten, sollten Sie besser das Gespräch
mit den Betroffenen suchen.
({10})
Die duale Berufsausbildung in Deutschland ist eine
Errungenschaft, der gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eine große Bedeutung zukommt.
Durch ihre enge Verzahnung mit und Verankerung in der
beruflichen Praxis gelingt es dem dualen System, Ausbildungsinhalte auf dem neuesten Stand zu halten.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund halte ich es geradezu für aberwitzig, dass die Grünen die Berufsbildung nun für Freilandversuche heranziehen wollen. In
Hamburg gehen Schüler und Eltern bereits gegen eine
verkorkste grüne Bildungspolitik auf die Straße.
({11})
Hoffen wir, dass es bei der beruflichen Bildung nicht erst
so weit kommen muss.
({12})
Die FDP hält nichts von diesen fragwürdigen Experimenten. Wir werden an Bewährtem festhalten und Änderungen dort vornehmen, wo es sinnvoll und erforderlich
ist. Dabei wird die FDP den eingeschlagenen Weg fortsetzen und mit den betroffenen Akteuren im Gespräch
sachgerechte Lösungen entwickeln.
({13})
Ein besonderes Anliegen ist mir persönlich eine bessere Verzahnung von Aus-, Weiter- und Hochschulbildung. Nach einer dualen Ausbildung zum Industriekaufmann und Betriebswirt ({14}) habe ich an der
Universität Münster Betriebswirtschaft studiert und war
selbst von den Problemen der mangelnden Anrechnungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Teilen
des Bildungssystems betroffen. Hier müssen wir das Bildungssystem effizienter gestalten. Ich fordere Sie alle
dazu auf, daran mitzuarbeiten.
Vielen Dank.
({15})
Herr Kollege Kamp, auch für Sie war dies die erste
Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin viel Freude, Erfolg
und Spaß an der Arbeit.
({0})
Nun hat das Wort für die Fraktion Die Linke die Kollegin Agnes Alpers.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Hohe Jugendarbeitslosigkeit, nur ein Viertel der Betriebe bilden
noch aus, Hunderttausende von Jugendlichen sind in
Übergangsmaßnahmen, meist ohne Ausbildungsperspektive. Jeder vierte Hauptschüler und jede vierte
Hauptschülerin ist vier Jahre nach dem Schulende immer
noch ohne Ausbildung. Besonders betroffen sind Jugendliche, die in Armut leben, junge Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung. Das ist das Kielwasser des Flaggschiffes unserer Bildungsministerin.
In meiner Heimatstadt Bremen hatte 2008 nur die
Hälfte der Schulabgängerinnen und Schulabgänger eine
Chance, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Zusätzlich
suchten 3 000 Altbewerberinnen und Altbewerber sowie
Tausende von Schülerinnen und Schülern aus dem Umland einen Ausbildungsplatz in unserer Stadt. So gingen
80 Prozent der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss, die Hälfte aller Hauptschülerinnen und
Hauptschüler sowie 25 Prozent der Realschülerinnen
und Realschüler in das sogenannte Übergangssystem.
Wir Linke sagen: Es ist die Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit endlich jeder Jugendliche eine qualifizierte Ausbildung erhält.
({0})
Es geht um eine Ausbildung für alle.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
wollen dieses Ziel erreichen, indem Sie das ganze Ausbildungssystem in Module zerlegen, die wahlweise im
Betrieb und/oder in überbetrieblichen Ausbildungsstätten absolviert werden. In der jetzigen Situation sind
überbetriebliche Ausbildungen wichtig, weil sie für viele
Jugendliche die einzige Chance sind, überhaupt einen
Ausbildungsplatz zu erhalten. Aber mit Ihrem Modell
akzeptieren Sie, dass sich die Betriebe weiterhin aus ihrer Verantwortung stehlen. Dabei kann es schnell passieren, dass es bald noch weniger Ausbildungsplätze gibt.
({1})
Sie sagen: Module sind ein Anreiz für die Betriebe, weil
sie so nur Bausteine der Ausbildung übernehmen müssen. Die Kammern sollen dafür in den Betrieben werben.
Ich habe 16 Jahre in der überbetrieblichen Ausbildung gearbeitet und kann Ihnen nur eines sagen: Die Betriebe werden da nicht mitmachen. Noch viel wichtiger
ist: Die Jugendlichen, die keine Ausbildung bekommen
und die in diesen überbetrieblichen Ausbildungen untergebracht werden sollen, brauchen kein flexibles ModulHopping, sondern einen verlässlichen Betrieb, in dem sie
handlungsorientiert lernen und zusätzlich individuell gefördert werden.
({2})
Ihr Modell bietet das nicht.
Wenn wir das Problem der Ausbildungsmisere grundsätzlich in den Griff bekommen wollen, müssen wir endlich alle Betriebe
({3})
verbindlich an der Ausbildung der jungen Menschen beteiligen. Dann nützt es nichts, zu sagen: Die jungen
Menschen wollen keine Leistung zeigen. Worin besteht
die Leistung von 75 Prozent aller Betriebe, die weder für
die Jugendlichen noch für ihre Zukunft sorgen?
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, erstens
bis zum Sommer 2010 ein Konzept für die berufliche
Bildung vorzulegen, zweitens die Betriebe wieder in die
Verantwortung zu nehmen, den Jugendlichen qualitativ
hochwertige Ausbildungsplätze anzubieten, und drittens
eine Ausbildungsumlage einzuführen,
({4})
damit Ausbildung endlich nicht mehr von wirtschaftlicher Konjunktur abhängt.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Das
duale System steht für betriebliche Praxis mit begleitender Theorie. Der Antrag, den die Grünen eingereicht haben, kehrt dieses Prinzip um. Das heißt im Grunde: viel
Theorie und wenig Praxis. Sie haben gesagt, geschätzte
Kollegin Hinz, dass die Kammern eine Vorlage für diese
Ausarbeitung geliefert hätten. Seit Montag habe ich verzweifelt versucht, irgendjemanden bei IHK und ZDH zu
finden, der Ihr Konzept unterstützt. Ich habe niemanden
gefunden.
({0})
Von daher kann ich nur empfehlen: Reden Sie einmal
mit den Kammern und versuchen Sie, ihnen dies näherzubringen.
Konsequent ist eben, dass bei uns Ausbildung originär von der Wirtschaft und subsidiär vom Staat organisiert wird, der vorausschauend Hilfe zur Selbsthilfe zu
leisten hat, wenn es einen Mangel gibt. Die betriebliche
Praxis führt bei uns auch zu einer schnellen Integration
in den Arbeitsmarkt. Dies zeigt die Zahl der Arbeitslosen bis 25 Jahre im europäischen Vergleich. Bei uns sind
es 11 Prozent; diese Zahl ist natürlich zu hoch. Aber
wenn man die verschulten Berufsausbildungen beispielsweise in Großbritannien sieht, dann stellt man fest, dass
dort die Jugendarbeitslosigkeit bei 17,5 Prozent liegt, in
Frankreich bei 22,5 Prozent und in Spanien bei
35,7 Prozent. Das heißt, aufgrund der dualen Ausbildung
haben wir in Deutschland die besten Daten bei der Integration von jungen Menschen, die qualifiziert worden
sind.
({1})
Dieses duale System ist auch in der Krise stabil. Zwei
von drei Jugendlichen absolvieren derzeit eine duale
Ausbildung. Das sind 1,5 Millionen Azubis in
500 000 Betrieben, und allein die Wirtschaft finanziert
in Deutschland die Qualifikation, die Ausbildungsvergütungen und die Ausbildungswerkstätten jährlich mit
30 Milliarden Euro. Andere Volkswirtschaften wären
dankbar, wenn sie eine Kultur der Wirtschaft wie in
Deutschland hätten.
({2})
Bei Ihrem Modell frage ich mich und fragen sich andere, beispielsweise Vertreter der Kammern, wer bei einem neuen Modell die Ausbildungsvergütung zahlen
soll. Der Staat? Wollen Sie die Betriebe, wie es zu Recht
angemerkt wurde - was natürlich noch nicht heißt, dass
wir Sie von der Linkspartei gut finden -, wirklich aus
der Verantwortung für die Ausbildung entlassen, wie es
bei Ihnen mitschwingt, indem man sie weitgehend auf
die Zuständigkeit für Module und Praktika verweist?
Wenn Module permanenten Prüfungsstress schaffen, wie
wir das auch im Zusammenhang mit Bologna diskutieren, dann frage ich, ob es nicht sinnvoll wäre, den Jugendlichen, die Sie meinen, beim systematischen Lernen
zu helfen. Wir benötigen andere Formen des Lernens
und der Prüfungen - wie Stufenausbildungen und gestreckte Abschlussprüfungen -, als Sie vorschlagen.
({3})
Bisher sind Ausbildung und Prüfung nicht in einer
Hand. Das heißt, es gilt der Grundsatz, der bei Ihnen
nicht mehr eingehalten wird: Wer lehrt, prüft nicht. Wie
wollen Sie dies in Ihrem Konzept vernünftig auf den
Weg bringen?
2005 haben wir - Willi Brase hat es erwähnt - in Bundestag und Bundesrat einstimmig eine Berufsbildungsreform verabschiedet; es war die erste seit 1977. Ich
empfand den Ansatz als richtig, die Elemente dieser Berufsbildungsreform, nämlich Stärkung der Verbundausbildung, Aufwertung von Stufenausbildung und
gestreckte Abschlussprüfung, erreichen zu wollen. Gleiches gilt für die Anerkennung ausländischer Bildungszeiten, was die Folge hat, dass heute nicht 2 000 Auszubildende wie im Jahre 2005, sondern über 10 000 Teile
ihrer Ausbildung im Ausland absolvieren. Ich denke
aber auch an die Zulassung vollzeitschulischer Berufsausbildung zur Kammerprüfung, die befristet ist. Nach
fünf Jahren ist es sinnvoll, diese Elemente der Berufsbildungsreform zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Wir
werden nicht mehr 25 Jahre warten. Ich denke, dass wir
einen gemeinsamen Ansatz haben, das Thema Berufsausbildung frühzeitig ins Zentrum der parlamentarischen
Debatte zu stellen. Wir als Koalitionsfraktionen werden
eine entsprechende Überprüfung und Fortentwicklung
einbringen.
({4})
Wir haben eine Alternative zu dem, was die Grünen
in ihrem Antrag vorstellen.
({5})
Sie wollen „neue überbetriebliche Ausbildungsstätten …
als Träger der Ausbildung“ aufbauen. Sie wollen, dass
Kammern die Betriebe anwerben, die Module und nicht
mehr vollständige Berufsbilder anbieten. Die „gesamte
Berufsausbildung“ soll „neu strukturiert und in bundesweit anerkannten Modulen organisiert“ werden.
Das heißt, Sie wollen ein neues System und keine Reform im System, wie das immer die Mehrheitsmeinung
im Parlament gewesen ist. Deshalb werden wir zu einem
Miteinander aufrufen. Wir werden Reformen anbieten,
die pragmatisch und lösungsorientiert sind. Wir wollen
kein Ideal, das sich wunderbar zeichnen lässt, aber in der
Praxis elendig scheitert.
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns bei der Überprüfung der Berufsbildungsreform gemeinsame Wege gehen. Vielleicht kann das heute ein Anfang sein. Wir von
der christlich-liberalen Koalition werden weitere und
bessere Papiere vorlegen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der
Vorlage, und zwar auf Drucksache 17/541, an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Mehr Chancengleichheit für Jugendliche Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkommen
anrechnen
- Drucksache 17/524 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag liegt auf dem Tisch. Wir wollen, dass
jeder Jugendliche von seinem Ferienjob gleich viel hat;
denn für uns ist der Ferienjob vor allen Dingen der Einstieg in den beruflichen Aufstieg, der Einstieg in die
praktische Berufsorientierung. Jeder Jugendliche, der in
den Ferien arbeitet, zeigt ein Höchstmaß an Eigeninitiative und nutzt seine Ferienzeit sinnvoll, um Praxiserfahrung in einem Betrieb zu sammeln.
({0})
Was will die SPD im Detail? Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Gesetz vorzulegen. Wir machen konkrete Vorschläge; denn wir lassen uns an unserem
Grundsatz „fördern und fordern“ messen. Frau von der
Leyen muss unseren Antrag nur noch zu einem Gesetz
machen. Derzeit ist es so: Jugendliche, die Sozialgeld
beziehen, müssen einen Teil des Ferienjobgehalts für
den Lebensunterhalt aufwenden. Bei vier Wochen Ferienjob mit einem Gehalt von 1 200 Euro sind das immerhin bis zu 600 Euro.
Sie erinnern sich: In meiner letzten Rede zu diesem
Thema im November habe ich Ihnen Markus und Julia
vorgestellt. Markus, Kind einer alleinerziehenden Mutter
aus Pforzheim, konnte kein Jimi Hendrix werden; denn
seine E-Gitarre kostete 1 200 Euro, aber er musste
600 Euro seines Gehalts für den Lebensunterhalt aufwenden. Julia, die bei einem Ferienjob ebenfalls
1 200 Euro verdient hat, konnte diese voll in den Führerschein investieren. Ihre Eltern sind Lehrer. Das ist eine
Gerechtigkeitslücke, die wir mit unserem Antrag klug
schließen.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion will, dass jede Schülerin
und jeder Schüler bis 25 Jahre das angemessene Gehalt
des Ferienjobs behalten kann,
({2})
und das unabhängig vom sozialen Status der Eltern.
Als Ferienjob gilt in Anlehnung an das Jugendarbeitsschutzgesetz ein Job mit einer maximalen Dauer von
vier Wochen für alle Jugendlichen unter 25 Jahren. Nur
so bleibt der Anreiz zur Berufsorientierung für alle Jugendlichen gleich. Nur so bauen wir Chancen im Bildungssystem auf.
Gut ist, dass die SPD-Bundestagsfraktion mit dem
heutigen Antrag eine Lösung für das Herzensanliegen
des Unionsfraktionsvorsitzenden Volker Kauder vorlegt.
Er hat in der Sendung hart aber fair im August letzten
Jahres gesagt - ich zitiere -, es müsse doch möglich
sein, für vier Wochen eine Ausnahmeregelung zu machen und die Arbeit von Schülerinnen und Schülern
nicht anzurechnen.
Auch der Kollege Lehrieder von der CSU hat im November in einer Bundestagsdebatte
({3})
seine ausgestreckte Hand für die Lösung des Problems
angeboten.
({4})
Wir von der SPD schlagen ein, geschätzte Regierungskoalition.
({5})
Wir nehmen Sie beim Wort und messen Sie an Taten.
({6})
Sie, Kollege Lehrieder, sagten doch - ich zitiere aus
dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom November -:
Auch ich bin der Meinung, dass die Eigeninitiative
von Schülern nicht blockiert werden darf.
({7})
Wir, die SPD, machen Ihnen ein Angebot: Wir lösen
Ihr Problem. Von der Union liegt seit August bis heute
keine Lösung vor. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie dem
SPD-Antrag zu. Stimmen Sie für Ihre Ziele. Stimmen
Sie für Markus und Julia.
Ich weiß, gleich wird von der FDP- und der CDU/
CSU-Fraktion wieder das Argument kommen, man
müsse doch nur die Hinzuverdienstgrenzen erhöhen,
dann sei das Problem von Markus gelöst. Mitnichten.
Heute liegt die Grenze bei 100 Euro. Markus braucht
eine Grenze von 1 200 Euro. So weit wollen Sie nicht
gehen. Das wissen Sie ganz genau. Sie brauchen eine
Regelung. Wir, die SPD, legen heute diese Regelung vor.
Stimmen Sie zu.
({8})
Im Übrigen zu Ihren unkonkreten Vorschlägen, die
Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld anzuheben: Es ist kein Zufall, dass all jene Parteien, die einen
gesetzlichen Mindestlohn ablehnen, die Hinzuverdienstgrenzen anheben wollen. Das führt nämlich nur zu einem, zum Ausbau von Hungerlöhnen per Gesetz.
({9})
Wir legen heute einen konkreten Vorschlag vor, der
unserem Sozialstaatsverständnis entspricht: „Fördern
und Fordern“ und „Die Gemeinschaft hilft, wenn du dir
selbst nicht helfen kannst.“ Das unterscheidet uns auch
von den Kolleginnen und Kollegen optisch ganz links
von mir. Ihr Antrag vom November war unkonkret und
ohne Richtung. Da muss ich Ihnen widersprechen, Kollege Lehrieder. Konstruktive Opposition geht anders, mit
konkreten Vorschlägen. Das zeigen wir heute.
Unser Vorschlag bedeutet Chancengleichheit für alle
Jugendlichen in der Berufsorientierung. Er bedeutet,
dass junge Erwachsene durch Eigeninitiative und Leistung ihre Ziele verfolgen können. Ich fordere Sie alle
auf: Unterstützen Sie den Antrag, und gehen Sie unseren
Weg mit.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, „Menschen stärken, Wege öffnen“, das ist der Anspruch, den die SPDFraktion verfolgt. Wir wollen, dass im nächsten Sommer
Markus und Julia beide ihren Ferienjob gerne machen.
Wir brauchen diese Lösung. Verbauen Sie nicht den Einstieg in den beruflichen Aufstieg wegen vermeintlicher
Koalitionszwänge. Zeigen Sie Feingefühl, und folgen
Sie dem Wunsch des Kollegen Kauder: hart aber fair.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten
Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Fast das
gleiche Thema wie im vergangenen Jahr im November
beim Antrag der Linken, fast die gleiche Uhrzeit, auch
damals haben wir abends debattiert
({0})
- 21.04 Uhr, also stimmt es fast -, und fast die gleiche
Besetzung im Plenum, aber exakt dieselbe Antwort der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Wir sind bei diesem
Thema bereits am Ball.
({1})
Die Bundesregierung hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt,
({2})
und diese Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit dem
SGB II insgesamt und damit auch mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten. Sie wissen ganz genau, dass am
9. Februar dieses Jahres ein ganz wichtiges Urteil aus
Karlsruhe über die Regelsatzbemessungen ansteht.
({3})
Sie können die Anrechnung der Leistungen aus Ferienjobs nur im Kontext hiermit sowie den Hinzuverdienstmöglichkeiten sehen. Das ist alles ein Thema.
Frau Mast, ich geben Ihnen ja in der Sache recht
- nicht dass wir uns da falsch verstehen -, dass Ferienjobs nicht nur einen rein monetären Effekt haben. Wenn
junge Menschen im Sommer in einem Betrieb einen Ferienjob haben, lernen sie soziale Kompetenz, persönliche
Kompetenz, praktische Kompetenz und Teamfähigkeit.
Alles, was Sie gesagt haben, stimmt. Deshalb gehen wir
dieses Thema an.
({4})
Die notwendige Ehrlichkeit sollten wir aber schon haben. Ich habe mich sowohl mit Vertretern der Argen in
meinem Wahlkreis, in meiner Region sowie mit dem
Vorstand der Bundesagentur für Arbeit unterhalten. Wir
sollten die Bedeutung dieses Themas jetzt nicht überschätzen. Im Verwaltungsalltag hat es eine nachrangige
Relevanz.
({5})
Auch das gehört zur Ehrlichkeit. Damit will ich nicht sagen, dass wir dieses Thema nicht angehen. Wir werden
es tun. Wir sollten es im Kontext tun. Es gibt die entsprechende Arbeitsgruppe, und - Herr Lehrieder hat es bereits gesagt - im Sommer wird sie ihre Ergebnisse vorlegen. Das Arbeitsministerium hat die Federführung und
arbeitet mit Vertretern aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Gesundheit und Steuern zusammen. Sie sehen:
Das Thema wird komplett untersucht. Deshalb sollten
wir abwarten.
Ich halte Ihren Vorschlag zum jetzigen Zeitpunkt für
Flickwerk. Wir brauchen Politik aus einem Guss.
({6})
Wir müssen das im Kontext sehen. Das wurde viel zu
lange nicht gemacht. Die CDU/CSU-Fraktion steht für
Politik aus einem Guss. Deshalb werden wir Ihrem Antrag heute nicht folgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Matthias Birkwald.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ferienjobs nicht auf Hartz IV anzurechnen, ist in erster Linie eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Es ist schon seit langem bekannt, dass Schülerinnen
und Schüler nicht allein deshalb jobben, weil ihre Eltern
wenig Geld haben. Bei Ferienjobs geht es um die wertvolle Erfahrung, etwas aus eigener Kraft zu schaffen,
sich Ziele zu setzen und sie auch zu erreichen. So entsteht Selbstbewusstsein.
({0})
Diese wichtige Lebenserfahrung darf Schülerinnen und
Schülern nicht deshalb verleidet werden, weil ihre Eltern
Hartz IV beziehen. Das ist und bleibt diskriminierend.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in der
vergangenen Wahlperiode, Anfang September 2009, haben Sie unseren Vorschlag, Ferienjobs nicht anzurechnen, schnöde abgelehnt. Klaus Wowereits Versprechen
in der Sendung hart aber fair, diese Gerechtigkeitslücke
zu schließen, war wohl nicht ganz ernst gemeint. Sie erinnern sich an die Enttäuschung der 15-jährigen Laura,
die gejobbt hatte, um sich einen Elektrobass zu kaufen.
Hartnäckig wie wir sind, hatten wir Linken im November 2009 erneut einen Antrag eingebracht, in dem gefordert wurde, auf die Anrechnung von Verdiensten aus Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II zu verzichten. Nun
legen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
einen Antrag vor, den ich mit Ausnahme eines - allerdings entscheidenden - Wortes teilen kann. Der Gang in
die Opposition hat also offensichtlich zu einem Sinneswandel bei Ihnen geführt oder einen Lernprozess ausgelöst. Wie auch immer, herzlich willkommen auf der richtigen Seite.
({2})
Ja, Ihr Antrag weist in die richtige Richtung,
({3})
aber Sie bleiben leider auf halber Strecke stehen. Sie
wollen die Ferienjobs zeitlich auf vier Wochen im Jahr
begrenzen und berufen sich dabei auf das Jugendarbeitsschutzgesetz. Einverstanden. Warum aber wollen Sie zusätzlich begrenzen, wie gut der Ferienjob bezahlt sein
darf? Sie wollen „angemessene Einnahmen“ von Schülerinnen und Schülern freistellen. Doch was heißt „angemessen“?
({4})
Solche unbestimmten Rechtsbegriffe gibt es im SGB II
schon viel zu viele. Auch darum gibt es so viele erfolgreiche Klagen gegen Hartz IV. Nein, das würde nur zu
Rechtsunsicherheit und neuem Chaos zulasten der Betroffen führen. Das gilt es zu verhindern.
({5})
Es mag sein, dass einige ganz wenige die Freistellung
von Einkommen aus Ferienjobs über Gebühr nutzen
könnten. Das rechtfertigt aber keinesfalls schikanöse
Kontrollen aller Ferienjobberinnen und Ferienjobber,
wie es sie gäbe, folgte man dem Antrag der SPD. Nein,
neue Kontrollen - die noch dazu über das für alle geltende sozial-, arbeits- und steuerrechtliche Maß hinausgehen - lehnt die Linke entschieden ab.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
versuchen krampfhaft, sich - auf dem Rücken der Betroffenen - von unserem Antrag abzugrenzen.
({7})
Das ist hart, aber nicht fair.
({8})
Es ist doch so: Jobbende Schülerinnen und Schüler
können rein gar nichts dafür, wenn ihre Eltern schon
lange arbeitslos sind. Deshalb sollten Jugendliche ihr in
den Ferien hart verdientes Geld komplett ausgeben dürfen - für eine Gitarre, für Reisen, für ein Mokick oder
für was auch immer. In meiner Heimatstadt Köln gibt es
ein schönes Sprichwort: Mer muss och jönne künne. Auf
Hochdeutsch: Man muss auch gönnen können. Gönnen
Sie, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
den Schülerinnen und Schülern ihren ganzen Lohn aus
dem Ferienjob und verzichten Sie darauf, den Ferienverdienst von Jugendlichen aus SGB-II-Haushalten einzuschränken! Es muss doch darum gehen - darin sind wir
uns doch einig -, die ungerechte und entmutigende Sonderbehandlung von Schülerinnen und Schülern aus armen Familien abzuschaffen. Lassen Sie uns deshalb
keine neue Sonderbehandlung einführen!
Zum Schluss möchte ich ein Wort an die Kolleginnen
und Kollegen von Union und FDP richten
({9})
und sie heute erneut an das Versprechen erinnern, dass
der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder,
in der Fernsehsendung hart aber fair abgegeben hat. Er
hat versprochen, dass es nicht dabei bleiben dürfe, dass,
wie es in dieser Sendung eindruckvoll geschildert worMatthias W. Birkwald
den ist, eine Schülerin von ihrem gesamten Lohn aus
dem Ferienjob nur 100 Euro behalten darf. In dieser Hinsicht habe ich den Redebeitrag von Herrn Dr. Linnemann
mit großer Freude vernommen. Ich fordere Sie auf: Legen Sie zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf vor!
Das Problem muss in den Osterferien endlich vom Tisch
sein.
({10})
Meine Damen und Herren von der FDP, die Leistung
von Ferienjobberinnen und Ferienjobbern aus Hartz-IVHaushalten am Fließband, am Schreibtisch, im Lager
oder am Computer muss sich genauso lohnen wie die aller anderen jobbenden Schülerinnen und Schüler.
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist heute meine fünfte Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin neu gewählt worden, rede heute aber schon
zum zweiten Mal zum gleichen Thema.
({0})
Das ist wirklich etwas Besonderes; das hatte ich so nicht
erwartet.
Am 26. November 2009 haben wir über einen nahezu
identischen Antrag diskutiert. Er ist ein bisschen detailreicher ausgeführt; aber im Grundsatz geht es heute um
den gleichen Antrag.
({1})
Deshalb wundert es mich, dass Sie es nicht für nötig
befunden haben, einmal nachzulesen, was die Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der FDP, aber
auch von den anderen Fraktionen in dieser Debatte gesagt haben.
({2})
Für den Grundgedanken habe ich durchaus Sympathie bekundet. Kollege Birkwald, wir von der FDP glauben wirklich, dass Leistung sich lohnen muss. Das muss
natürlich - da haben Sie völlig recht - für jede Leistung
gelten, insbesondere für die Leistung von Jugendlichen,
die sich die Mühe machen, in einem Ferienjob zu arbeiten.
Ich habe an dem Antrag der Linken kritisiert, dass sie
nur die materiellen Vorteile für die Jugendlichen - den
Verdienst und den Vergleich mit anderen Jugendlichen gesehen hat.
Dieser Punkt ist jetzt von der SPD aufgegriffen worden: Man hat sich die Mühe gemacht, auch die Gedanken
von den Chancen, die ein Ferienjob für die Orientierung
bei der Berufswahl bietet, und von den Chancen, die ein
Ferienjob für die Stärkung des Selbstbewusstseins bietet,
zu Papier zu bringen. All das finden wir auch. Ich habe
damals gesagt, dass uns Liberalen die Erfahrung des Gelingens besonders wichtig ist. Das ist - mein Kollege
Carsten Linnemann hat das auch gesagt - wirklich eine
gute Sache.
({3})
Ich habe aber auch kritisch angemerkt, dass Missbrauch ausgeschlossen werden muss. Wir müssen irgendwie sicherstellen, dass es wirklich die Jugendlichen sind,
die arbeiten, und dass das Geld wirklich den Jugendlichen
zur Verfügung steht. Das mag nicht das größte Problem
sein; aber auch dieses Problem sollten wir im Auge behalten.
({4})
Ich habe einen weiteren Punkt kritisiert; es wundert
mich wirklich, dass Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, sich daran zu erinnern oder, wenn Sie damals nicht
zugehört haben, es nachzulesen. Uns von der FDP wundert, dass Sie hier nur an diejenigen denken, die für eine
begrenzte Zeit in einem Ferienjob arbeiten. Was ist denn
mit den Jugendlichen, die Woche für Woche vielleicht
Zeitungen austragen,
({5})
babysitten, den Rasen des Nachbarn mähen etc.? Es gibt
ganz andere Arbeitsverhältnisse als nur Ferienjobs. Was
ist mit diesen Jugendlichen? Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen sie jedenfalls nicht vergessen.
({6})
Jetzt haben Sie uns vorgeworfen, dass seit August in
dieser Frage nichts geschehen ist. Nun möchte ich zumindest klarstellen, dass wir von der FDP am 27. September in die Regierung gewählt wurden
({7})
und der Bundestag erst seit November tagt. Insofern
sage ich nur eines: Hätten Sie sich vielleicht mehr Zeit
gelassen und mehr darüber nachgedacht, was Sie bei den
Hartz-IV-Reformen tun, dann wäre vielleicht manches
für die Betroffenen nicht so hart gekommen, wie es sich
jetzt darstellt.
({8})
Wir stellen uns im Sinne der betroffenen Menschen
unserer Verantwortung. Wir werden jetzt sukzessive, gut
durchdacht, die gröbsten Härten und Ungerechtigkeiten,
die Rot-Grün in die Gesetze geschrieben hat, ausbessern.
({9})
Wir haben uns auf den Weg gemacht und bereits angekündigt, dass wir im Rahmen der Diskussion über Hinzuverdienstmöglichkeiten auch über dieses Thema beraten und entscheiden werden. Das heißt nicht unbedingt,
dass es zu einer Aufrechnung kommen wird. Wir werden
prüfen, wie wir das lösen können. Seien Sie einmal gespannt, wie wir ganz in Ihrem Sinne, im Duktus Ihres
Antrages, einen gescheiten Antrag vorlegen werden.
Vielen Dank.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kober, eines vorweg: Ihr Vergleich mit den Schülerinnen und Schülern, die Woche für Woche Zeitungen
austragen oder den Rasen des Nachbarn mähen, hinkt
schon allein deshalb, weil es einen Freibetrag von monatlich 100 Euro gibt.
({0})
Solche Jobs fallen unter diese Regelung; ein solcher
Hinzuverdienst jeden Monat ist abgedeckt.
({1})
Es geht tatsächlich und konkret um die Ferienjobs.
Natürlich betonen alle Fraktionen wie schon im November 2009, dass eine Gesetzesänderung notwendig ist, um
jugendlichen Schülerinnen und Schülern in Arbeitslosengeld-II-Bedarfsgemeinschaften die deprimierende Erfahrung zu ersparen, dass von ihrem ersten selbstverdienten
Geld der größte Teil wieder genommen wird.
Herr Lehrieder, Frau Mast hat Sie bereits zitiert, ich
darf etwas hinzufügen. Sie sagten am 26. November
auch:
Deshalb kann niemand wollen, dass die SGB-IIGesetzgebung einen gegenläufigen, die Schüler demotivierenden Effekt entwickelt.
({2})
Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle „Beifall bei
der CDU/CSU und der FDP“.
({3})
Herr Kober, in derselben Debatte haben Sie Ihre
grundsätzliche Sympathie - das haben Sie jetzt bekräftigt - für den Antrag der Fraktion Die Linke ausgedrückt.
({4})
- Nein, ich habe das im Protokoll nachgelesen: Sie haben von grundsätzlicher Sympathie gesprochen. Sie haben auch gesagt:
Immerhin greifen Sie ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen auf, das wir gerne unter
dem Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Ausdruck bringen.
({5})
Bei so viel Zustimmung zum Anliegen sollte man
meinen, dass eine gesetzliche Regelung bei der nächstbesten Gelegenheit zu erwarten wäre.
({6})
Jetzt wäre die Gelegenheit da: Morgen beraten wir in
erster Lesung ein Gesetz zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozialversicherungssysteme. Hier schlägt die
Bundesregierung unter anderem vor, das Schonvermögen von Langzeitarbeitslosen für die Altersvorsorge
deutlich zu erhöhen.
({7})
Offensichtlich handelt es sich dabei um eine Einzellösung. Es wäre ein Leichtes, in demselben Gesetz eine
weitere Einzellösung zu treffen, nämlich die Anrechnung von Ferienjobs zu regeln.
({8})
Herr Lehrieder, im November 2009 war Ihr Kernvorwurf an die Linken, man dürfe „keinen Flickenteppich
schaffen“. Ja, wo ist denn jetzt die von Ihnen angekündigte Lösung „im Gesamtzusammenhang“? Haben Sie
nicht vor zwei Monaten den Eindruck erweckt, eine Lösung des Problems stünde unmittelbar bevor? Ich zitiere
Sie wiederum aus dem an dieser Stelle sehr hilfreichen
Plenarprotokoll:
Wir
- Sie meinten die Regierungskoalition ({9})
haben uns längst an die Arbeit gemacht und das
gründlicher und umfassender, als Sie es vorschlagen.
So, so: „gründlicher und umfassender“. Halten Sie
denn Ihre gründlichen und umfassenden Ergebnisse unter Verschluss, oder, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, mauert der Koalitionspartner, weil vielleicht gerade kein passender Spender in Sicht ist?
({10})
Sie haben noch eine zweite Gelegenheit zur Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten; denn wir werden
in den nächsten Monaten das Gesetz zur Neuordnung der
Jobcenter beschließen. Auch hier könnten Sie eine sinnvolle Regelung unterbringen.
({11})
Wir, die Oppositionsfraktionen, sollten zusammen einen
Änderungsantrag einreichen.
({12})
Es stellt sich die Frage, ob sich, wenn man sich diesen
Gesetzentwurf, den Arbeitsentwurf, näher anschaut,
auch nur ein Hinweis darauf findet. Nein, ganz im Gegenteil: Sie wollen die Sanktionen verschärfen. Daran
zeigt sich, was Sie von Union und FDP wirklich wollen.
({13})
Sie bieten denjenigen jungen Menschen, die in ALG-IIBedarfsgemeinschaften leben und Leistungen erbringen
- etwa im Ferienjob -, keine verbesserten Anreize, sondern Sanktionen. Wie wäre es, wenn Sie von der Regierungskoalition sich einmal darum kümmern würden, die
Anreize für diejenigen zu verbessern, die arbeiten wollen?
Wir vom Bündnis 90/Die Grünen fordern schon seit
langem eine verbesserte Förderung von Arbeitslosen, einen höheren Regelsatz - insbesondere für Kinder und
Jugendliche - und eine Verbesserung der Arbeitsanreize.
Daher werden wir den Antrag der SPD-Fraktion unterstützen.
Vielen Dank.
({14})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Als ich den Antrag der SPD auf den
Schreibtisch bekommen habe, habe auch ich erst einmal
überlegt: Da war doch schon einmal etwas, das haben
wir doch erst vor wenigen Wochen behandelt. Genau vor
acht Wochen haben wir bereits über einen ähnlichen Antrag der Linkspartei diskutiert. Ich habe erst gedacht, das
sei ein Fall kollektiver Amnesie aufseiten der SPD. Man
hat es über die Feiertage vergessen.
Am 26. Januar 2010 erhielten wir den Antrag der
SPD, der im Wesentlichen inhaltsgleich mit dem ist, was
die Linken gefordert haben,
({0})
und nur marginale Änderungen enthält. Sie wollen uns
das nun als neuen Wein in alten Schläuchen verkaufen.
({1})
Meine lieben früheren Koalitionspartner von der
SPD,
({2})
Sie müssen das einfach realisieren: Die Linken waren
hier schneller. Sie hecheln den Linken hinterher. Nichts
mehr bedeutet Ihr heutiger Antrag.
({3})
- Sie haben das völlig zu Recht ausgeführt.
Liebe Kollegin Mast, wenn Sie das Protokoll vom
26. November 2009 gelesen haben - ich unterstelle das -,
dann wissen Sie, dass nicht nur das darin steht, was Sie
zitiert haben.
({4})
Nichts ist schlimmer als Halbwahrheiten. Diese sind oft
schlimmer als eine Lüge.
Jawohl, auch wir sehen hier einen Handlungsbedarf.
Es ist auch völlig richtig, dass unser Fraktionsvorsitzender bereits im August in der Sendung hart aber fair gesagt hat, hier bestehe Handlungsbedarf. In der Debatte
am 26. November 2009 haben wir hier zur gleichen Zeit
am selben Ort ausgeführt, dass wir bis Mitte des Jahres
eine Lösung bei den Hinzuverdienstgrenzen anstreben nicht mehr und nicht weniger. Lieber Herr Kurth, wir arbeiten gründlich und nicht vorschnell.
({5})
- Kollegin Mast, ich lasse grundsätzlich liebend gern
eine Zwischenfrage zu, aber wir sind heute arg in Verzug, und ich will meine Redezeit eh nicht komplett ausschöpfen.
Wir haben zu dem Thema das Wesentliche gesagt. Sie
haben meine Argumente bereits nachgelesen. Ich glaube,
das meiste ist bereits in der Debatte über den Antrag der
Linken ausgeführt worden. Hartz IV ist ein lernendes
System. Kollege Linnemann hat völlig zu Recht darauf
hingewiesen: Am 9. Februar 2010 gibt es eine Entscheidung zu den Bedarfssätzen für Kinder. Auch hier müssen
wir etwas tun.
Im Übrigen haben wir mit unseren früheren Partnern
- auch das haben Sie längst vergessen - die Hartz-IVSätze für 6- bis 13-Jährige zum 1. Juli 2009 um 35 Euro
erhöht. Wir haben das Schulstarterpaket eingeführt, und
wir werden jetzt das Schonvermögen verdreifachen.
Dazu werden wir morgen etwas ausführen.
Hartz IV ist ein lernendes Problem, Hartz IV ist nicht
perfekt, und bei Hartz IV gibt es noch Ungereimtheiten.
Eine der Ungereimtheiten bei Hartz IV ist die fehlende
Motivation für Schüler, sich zur Integration ins Berufsleben rechtzeitig zu einem Unternehmen aufzumachen, da
sie den Hinzuverdienst nicht für sich behalten dürfen.
Hier werden wir etwas ändern. Wir, die christlich-liberale Koalition, haben das Thema auf dem Schirm.
({6})
Bevor wir zu schnell handeln und einen Schuss aus
der Hüfte abgeben, werden wir das gründlich und ordentlich ausarbeiten. Ich hoffe, dass wir bis zum
Sommer die Lösung vorlegen können. Sie wird besser
als beide Papiere sein: besser als das Papier der Linken
vom 25. November 2009 und besser als das Papier der
SPD vom 26. Januar 2010. Deshalb werden wir heute
auch den vorliegenden Antrag der SPD ablehnen.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/524 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 15 a und
15 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Strässer, Dr. Rolf Mützenich, Edelgard
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Syrien - Abschiebungen beenden, politischen
Dialog fortführen
- Drucksache 17/525 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abschiebungen nach Syrien stoppen - Abschiebeabkommen aufkündigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({1}), Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unverzügliche Aussetzung des DeutschSyrischen Rückübernahmeabkommens
- Drucksachen 17/237, 17/68, 17/570 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({2})
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die relativ gute Nachricht zuerst: Der seit seiner Abschiebung aus Deutschland im September 2009 in syrischer Haft befindliche syrische Kurde Khaled Kenjo ist
anscheinend aus der Haft geflohen - wir hatten in unserem Antrag die Begleitung seines Prozesses durch die
deutsche Botschaft gefordert - und hat in der Türkei
Asyl beantragt.
Er klagt in einem Interview darüber, in Damaskus zunächst sieben Tage in einer winzigen Einzel-Dunkelzelle
festgehalten worden zu sein. Sie sei so klein gewesen,
dass er sich zum Schlafen nicht habe ausstrecken können. Er sei vier Tage von der Staatssicherheit verhört
worden. Man habe ihm bei allen Verhören die Augen
verbunden und die Hände gefesselt. Er sei geohrfeigt
und mit Kabeln auf die Füße und andere Körperteile geschlagen worden.
Zentral während der Verhöre sei die Frage nach der
Teilnahme an einer Demonstration in Berlin gegen das
deutsche Rückübernahmeabkommen mit Syrien im Jahr
2008 gewesen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass dieses Rückübernahmeabkommen gekündigt
werden muss. Wir orientieren uns dabei an Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Folter und unmenschliche Behandlung verbietet.
Dabei nehmen wir durchaus positiv zur Kenntnis,
dass sich die Stellung Syriens in der internationalen Politik verbessert hat, unter anderem durch die Aufnahme
Angelika Graf ({0})
diplomatischer Beziehungen zum Libanon und die Bereitschaft, mit den USA und Israel zu verhandeln. Wir
bedauern es sehr, dass die Zeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU durch Syrien bisher nicht erfolgt
ist.
Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion muss die Bundesregierung den Öffnungsprozess Syriens gegenüber
den Nachbarländern in der Region und der internationalen Gemeinschaft weiter unterstützen, auch und gerade
in Hinsicht auf den Nahostkonflikt. Das Angebot an
Syrien zur Zeichnung des Assoziationsabkommens, und
zwar inklusive der Menschenrechtserklärung, muss die
Bundesregierung gemeinsam mit der EU aufrechterhalten.
Den positiven Signalen in der Außenpolitik stehen
leider sehr negative Signale hinsichtlich der Menschenrechtslage in Syrien gegenüber. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich bilateral und auch auf EUEbene für eine Verbesserung der Menschenrechtslage in
Syrien sowie für die Freilassung syrischer politischer
Gefangener einzusetzen.
({1})
Ein genauer Blick auf die Menschenrechtslage in
Syrien zeigt, dass Folter, Misshandlung von Gefangenen
und das Verschwindenlassen von Menschen leider keine
Ausnahmeerscheinungen sind. Es gibt Korruption, Zensur und keinen verlässlichen Rechtsstaat.
Seit 1963 gilt in Syrien der Ausnahmezustand, weswegen die rechtsstaatlichen Elemente der Verfassung
weitgehend außer Kraft sind. Das Auswärtige Amt
spricht übrigens von einem von Sicherheitsapparaten
und vom Militär geprägten autoritären Regime.
Es gibt in Syrien etwa 13 Menschenrechtsorganisationen, darunter auch kurdische. Diesen gilt unsere Unterstützung. Ihre Lage ist sehr schwierig. Politisch sensiblen Vereinen wird in der Regel die Registrierung
verwehrt. Das hat zur Folge, dass jemand, der sich in
nicht genehmigten Vereinen engagiert, mit bis zu drei
Jahren Haft bestraft werden kann.
Schikane und Verhaftungen sind keine Seltenheit. Es
gibt laut dem von Menschenrechtsanwälten betriebenen
Syrian Human Rights Information Link fast 1 000 politische Gefangene in Syrien. 2008 gab es 183 Festnahmen
und 129 Verurteilungen.
Andere Organisationen sprechen von noch höheren
Zahlen. Ich verweise auch darauf, dass der Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes an einen syrischen Anwalt gegangen ist, der unter Einsatz seines Lebens Menschen in Syrien verteidigt. Er konnte zur
Preisverleihung übrigens nicht erscheinen, weil er in Syrien im Gefängnis saß.
Wir wissen also, wie sich die menschenrechtliche
Lage in Syrien darstellt. Das betrifft insbesondere die Situation der rund 2 Millionen Kurden im Land. Noch viel
stärker aber betrifft es die 250 000 bis 300 000 Kurden in
Syrien ohne syrische Staatsangehörigkeit sowie alle politisch engagierten Kurden. Wir wissen auch, wie die erste
Bilanz des 2009 in Kraft getretenen Rückführungsabkommens mit Syrien aussieht. Im ersten Halbjahr 2009
wurden 28 Personen abgeschoben, in drei Fällen kam es
unmittelbar im Anschluss zu Inhaftierungen. Entsprechende Nachfragen des Auswärtigen Amtes wurden von
den syrischen Behörden nicht beantwortet.
Wir müssen damit rechnen, dass weitere solche Fälle
folgen, wenn nicht die Reißleine gezogen wird. Neben
einer Inhaftierung kann Ausgewiesenen zum Beispiel
eine Anklage wegen Verbreitung von Lügen und Beschädigung des Ansehens Syriens im Ausland drohen.
Dies sind alles Punkte, die man sehr ernst nehmen muss.
Mitte Dezember 2009 hat die Bundesregierung die Bundesländer genau deshalb in einem Rundschreiben aufgefordert, Rückführungen illegal aufhältiger Personen
nach Syrien mit besonderer Sorgfalt zu prüfen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurde gebeten,
vorerst keine Asylanträge als offensichtlich unbegründet
abzulehnen und Entscheidungen über Folgeanträge zurückzustellen. Das ist aus unserer Sicht nicht ausreichend. Wir brauchen einen Abschiebestopp und eine
Kündigung dieses Rückübernahmeabkommens.
({2})
Bei syrischen Staatsangehörigen und bei für Syrien
bestimmten Staatenlosen müssen Abschiebungen so
lange ausgesetzt werden, bis sich die Menschenrechtslage in Syrien erkennbar verbessert hat. Die Notwendigkeit dafür können wir nicht nur den dokumentierten Inhaftierungen, sondern auch der Reaktion - vielmehr der
mangelnden Reaktion - der syrischen Behörden auf
deutsche Nachfragen hinsichtlich des Schicksals der Abgeschobenen entnehmen.
Der aktuelle Zustand führt zudem zu einer tiefen Verunsicherung der von Abschiebung bedrohten Syrer, die
kein Dauerzustand sein darf. Die taz hat am Montag berichtet, dass die Empfehlungen des Bundes an die Länder bisher wohl nicht gefruchtet haben. So ist von einem
Fall die Rede, wo ein Syrer am 5. Januar 2010 um 5 Uhr
morgens von der Polizei abgeholt worden ist, um ihn sofort abzuschieben, was durch den Niedersächsischen
Flüchtlingsrat und einen von ihm eingeschalteten Anwalt gerade noch verhindert werden konnte. Es reicht
deshalb offensichtlich nicht, Empfehlungen auszusprechen und dann zu hoffen, dass schon alles gut gehen
wird. Es reicht nicht, darauf zu vertrauen, einen Rechtsstaat zu haben, der schon verhindern wird, dass Abschiebungen in menschenrechtlichen Katastrophen enden.
Genau das ist aber passiert. Wir sprechen nicht von irgendwelchen erfundenen Situationen. Wir brauchen also
eine klare Rechtslage. Die Bundesregierung ist in der
Bringschuld, diese klare Rechtslage zu schaffen.
({3})
Das aber geht nur mit einer Kündigung dieses Rückübernahmeabkommens.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte
um Zustimmung für unseren Antrag. Was die Anträge
der Grünen und Linken betrifft, gibt es Kollegen in unse1718
Angelika Graf ({4})
rer Fraktion, die aus gutem Grund die Meinung vertreten, unser Antrag sei der differenzierteste und der beste,
und man müsse deshalb die anderen Anträge, die in die
gleiche Richtung gehen, ablehnen. Es gibt auch andere
Meinungen; das sage ich hier ganz deutlich. Der Menschenrechtsausschuss hat gestern eine andere Empfehlung ausgesprochen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch eine angenehme Debatte über dieses wichtige Thema. Ich glaube
wirklich, dass es wert ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Ich bedaure sehr, dass wir das zu so später
Stunde tun.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Deutschland leben rund 7 000 ausreisepflichtige Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit, die sich trotz
der Ablehnung ihres Asylantrages zum Teil schon deshalb seit vielen Jahren in unserem Land aufhalten, weil
es in der Vergangenheit ausgesprochen schwierig war,
Passersatzpapiere für sie zu beschaffen. Weil dies den
Asylbewerbern bekannt ist, haben sie in nahezu allen
Fällen ihre Ausweispapiere vernichtet und über ihre
Identität getäuscht. Allein dies macht die große Bedeutung des Rückführungsabkommens mit Syrien deutlich,
das zu einem deutlich besseren Kooperationsverhalten
der syrischen Behörden geführt hat.
Die effektive Durchsetzung bestehender Ausreisepflichten durch die Ausländerbehörden der Länder und
Kommunen ist ein wichtiges Element unserer Ausländerpolitik. Um die Integration der rechtmäßig in
Deutschland lebenden Ausländer konsequent zu fördern,
ist es geboten, den Zuzug insbesondere von solchen ausländischen Personen zu steuern, die entweder illegal in
unser Land kommen oder bei denen absehbar ist, dass
sie kein Recht haben, auf Dauer in Deutschland zu leben.
Die Anerkennungsquote bei Asylbewerbern mit syrischer Staatsangehörigkeit liegt bei rund 2 Prozent.
Syrien war seit langem ein Problemstaat im Rückführungsbereich. Ein besonderes Problem für unsere Ausländerbehörden war, dass Syrien bislang keine Rückübernahme von Staatenlosen und Drittstaatsangehörigen
zugelassen hat, obwohl eine Vielzahl Ausreisepflichtiger, die aus Syrien kommen, lediglich vorgibt, staatenlos
zu sein oder eine andere als die syrische Staatsangehörigkeit zu besitzen.
({0})
Durch das Rückführungsabkommen hat sich die syrische
Regierung verpflichtet - das ist die Antwort auf Ihre
Frage -, wesentlich zügiger Passersatzpapiere für seine
Staatsangehörigen zur Verfügung zu stellen und vor allem die Rückführung von vermeintlich staatenlosen Personen oder Drittstaatsangehörigen zu ermöglichen, wenn
diese über einen Aufenthaltstitel oder ein Visum der syrischen Seite verfügen oder unmittelbar aus Syrien
rechtswidrig nach Deutschland eingereist sind. Bei den
rückgeführten Personen handelt es sich überwiegend um
abgelehnte Asylbewerber, die zum Teil - das muss man
wissen - erhebliche Straftaten verübt haben. Abschiebungen gehören nicht nur zu einer glaubwürdigen Ausländerpolitik, sondern liegen auch im Interesse der Sicherheit der Menschen in unserem Land. Das darf man
bei diesem Thema nicht übersehen.
({1})
Humanitäre und menschenrechtliche Aspekte werden,
und zwar völlig unabhängig von diesem Abkommen, ohnehin in jedem Einzelfall sehr sorgfältig geprüft. Dabei
wird auch die Menschenrechtslage im jeweiligen Herkunftsland berücksichtigt. In einer ganzen Reihe von
Fällen haben dementsprechend syrische Staatsangehörige subsidiären Schutz erhalten. Kollegin Graf hat völlig zu Recht darauf hingewiesen: Das Bundesinnenministerium hat nochmals mit Schreiben vom 16. Dezember 2009 gebeten, bei Abschiebungen nach Syrien
mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob im Einzelfall zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse vorliegen könnten. Die Bundesländer haben den Ausländerbehörden
vor Ort dementsprechende Weisungen erteilt. Nach dem
Rückführungsabkommen ist es vorgeschrieben - Frau
Kollegin Graf, das haben Sie nicht erwähnt -, dass sich
Syrien an die international üblichen Menschenrechtsstandards hält. Das ist Teil des Abkommens. Darauf achten wir - das werde ich gleich noch deutlich machen bei der Umsetzung des Abkommens.
Bei allem Verständnis für Ihre berechtigten Hinweise
muss man in dieser Debatte auch erwähnen: Die Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
sowie die Mitarbeiter in den Ausländerbehörden der
Länder und Kommunen leisten eine schwierige Arbeit.
Sie machen sie verantwortungsbewusst und haben es daher nicht verdient, dass man ständig unterstellt, dass sie
rechtswidrig handeln und es an der notwendigen Sorgfalt
fehlen lassen, was die Prüfung möglicher Abschiebehindernisse angeht. Man muss nicht nur mit den rückführungspflichtigen Ausländern, sondern auch mit den Mitarbeitern der Ausländerbehörden anständig umgehen.
({2})
Würden wir auf das Rücknahmeabkommen verzichten, wären erhebliche Pulleffekte für zusätzliche illegale
Zuwanderung zu befürchten. In der Vergangenheit - Experten wie der Kollege Veit wissen das - sind viele türkische Kurden nach Deutschland gekommen und haben
wahrheitswidrig angegeben, sie seien syrische Staatsangehörige oder aus Syrien stammende staatenlose Kurden.
({3})
- Wir wissen das aus den Befragungen und den Erkenntnissen, die sich im Laufe der Verfahren ergeben haben.
Jeder, der sich in der Szene auskennt, weiß, dass das in
der Tat so gewesen ist. Es macht vor dem Hintergrund
der bisherigen Schwierigkeiten, die wir mit der Rückführung in Richtung Syrien hatten, ja auch Sinn; denn
sie haben dies im Lichte der größeren Chancen getan,
auf Dauer in Deutschland bleiben zu können, weil es
eben bis 2008 ausgesprochen schwierig war, Rückführungen nach Syrien durchzuführen.
Durch das deutsch-syrische Abkommen ist hier eine
gewisse Eindämmung gelungen. Bei einer Aufkündigung des Abkommens - auch das muss man wissen spielten wir wieder Schleuserbanden in die Hände. Dass
diese Banden auch kleinste Rechtsänderungen zur
Kenntnis nehmen und darauf reagieren, um ihre verbrecherischen Ziele sofort umzusetzen, konnte man gestern
auf Seite 3 der Berliner Zeitung sehr eindrucksvoll anhand eines vietnamesischen Beispiels lesen. Wir sollten
die Schlupflöcher für illegale Zuwanderung nicht öffnen,
sondern sie schließen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es gibt überhaupt keine Veranlassung für einen generellen Abschiebestopp, und einen solchen hat auch kein
Bundesland, sei es von der SPD, von den Grünen oder
von der Linkspartei mitregiert, bislang in der Innenministerkonferenz beantragt.
Mittlerweile haben sich die ausreisepflichtigen syrischen Staatsangehörigen auf die Situation eingestellt. In
nahezu allen Fällen, in denen die Abschiebung angekündigt wird, werden Asylfolgeanträge gestellt. Das war der
Hintergrund des Falles in Niedersachsen, nicht aber, dass
sich dort humanitäre Organisationen davorgestellt hätten. Der entsprechende abzuschiebende Ausländer hat
auf dem Flughafen in Frankfurt einen Asylfolgeantrag
gestellt.
Bisher sind lediglich in drei Fällen Inhaftierungen
von rückgeführten Personen bekannt geworden, wobei
in zwei Fällen die Betroffenen nach einer Befragung
durch die syrischen Behörden auf freien Fuß gesetzt
wurden. Nur in einem Fall - das ist richtig - soll es zu einem längeren Gefängnisaufenthalt gekommen sein. Die
näheren Umstände kennen unsere Vertretungen in Syrien
nicht; vielmehr beruhen die Unterlagen, aus denen Sie
ebenfalls zitiert haben, auf Angaben des entsprechenden
Anwalts.
Die Forderung nach einer Aufklärung des Sachverhalts durch die deutschen Behörden und einer entsprechenden Berichterstattung an den Bundestag geht schon
deshalb ins Leere, weil es sich bei den rückgeführten
Personen eben gerade um syrische Staatsangehörige
handelt und die Behörden in Damaskus deshalb nicht zur
Auskunft gegenüber unseren diplomatischen Vertretungen verpflichtet sind.
Natürlich - ich unterstreiche das - ist Folgendes richtig: Die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien ist kritisch; sie ist nicht hinzunehmen. Es gibt Verhaftungen
und Folter. Die politische Opposition ist strikter Kontrolle unterworfen. Diese allgemeine Lage reicht aber
eben nicht zur Begründung eines Asylantrages oder generellen subsidiären Schutzes aus,
({4})
sondern es müssen Umstände hinzukommen, die eine individuelle Verfolgung begründen.
Das ist kein Zynismus, Frau Jelpke, das ist die geltende deutsche Rechtslage, mit der Sie als Linkspartei
vielleicht nicht so vertraut sind.
Ausweislich des letzten allgemeinen Lageberichts des
Auswärtigen Amtes zu Syrien werden rückgeführte Personen bei ihrer Ankunft von syrischen Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund der Abschiebung
befragt. Danach wird ihnen, so das Auswärtige Amt, in
der Regel die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet. In Einzelfällen werden Personen für die Dauer einer Identitätsüberprüfung durch die Einreisebehörden
festgehalten.
({5})
Die Yeziden unterliegen aufgrund ihrer Religion keinen staatlichen Repressionen. Sie werden vom syrischen
Staat als kurdische Muslime behandelt.
Dieser Lagebericht - auch das muss man nun einmal
sagen - stammt vom 9. Juli 2009. Er ist also unter der
Verantwortung des früheren Außenministers, des Kollegen Steinmeier, heute Fraktionsvorsitzender der SPD, erstellt worden.
({6})
Meines Erachtens ist die SPD mit diesem Antrag einmal
mehr auf der Flucht vor ihrer eigenen Vergangenheit.
Sehr glaubwürdig ist das nicht.
({7})
Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Partnern in der EU mehrfach der syrischen Seite ihre große
Besorgnis über die Menschenrechtslage in dem Land
deutlich gemacht. Die EU-Zusammenarbeit ist im Fall
Syrien besonders intensiv. Es werden Prozesse beobachtet, und es wird intensiver Kontakt mit Bürgerrechtlern
und Vertretern verschiedener Minderheiten gepflegt.
Gleichzeitig gibt es aber das große Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Rückführung von Personen, die nicht nur unseren Staat über viele Jahre hohe
Sozialausgaben gekostet haben, sondern die auch ein
Kriminalitätsrisiko darstellen. Sie haben, Frau Graf, von
der relativ kleinen Zahl der abgeschobenen Personen gesprochen. In aller Regel handelt es sich dabei um Alleinlebende, nicht um Familien, und es handelt sich auch
zum überwiegenden Teil um Personen, die Straftaten begangen haben. Es gibt ein Interesse daran, dass wir - unter Beachtung der humanitären und Menschenrechtsstandards - sie wieder in ihre ursprüngliche Heimat
zurückführen. Deshalb wäre es zum jetzigen Zeitpunkt
unverantwortlich, das Rückübernahmeabkommen mit
Syrien auszusetzen oder sogar zu kündigen - ein Abkommen, das von dem SPD-geführten Auswärtigen Amt
2008, unter der Mitverantwortung des Kollegen Erler,
verhandelt worden ist.
Wir als CDU/CSU halten an diesem Abkommen fest,
weil es uns hilft, eine ganz wichtige Glaubwürdigkeits1720
lücke in unserer Ausländerpolitik zu schließen. Deshalb
lehnen wir die Anträge der Opposition ab.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Ulla
Jelpke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf der Tribüne, die Sie
Migranten aus Syrien und Kurden sind und dieser Debatte heute folgen! Meine Damen und Herren! Die Linke
fordert schon lange, dass Abschiebungen nach Syrien
sofort gestoppt werden müssen und das Rückübernahmeabkommen mit Syrien aufgekündigt werden muss;
({0})
denn die Bundesregierung liefert damit dem syrischen
Regime Oppositionelle regelrecht ans Messer. Das ist
unverantwortlich und muss sofort beendet werden.
({1})
Es ist schon lange bekannt, dass in Syrien gefoltert
wird und die Menschenrechte nicht viel wert sind. Ganz
besonders gilt dies für Angehörige der kurdischen Minderheit. Von Anfang an hat die Linke dagegen protestiert, Herr Grindel, ein Abschiebeabkommen mit einem
dezidierten Folterstaat zu schließen - mit einem Staat,
der die meisten internationalen Menschenrechtsabkommen nicht unterzeichnet hat, zum Beispiel auch die Genfer Flüchtlingskonvention nicht. So etwas geht unseres
Erachtens gar nicht.
({2})
Das Abschiebeabkommen ist, wie das von Herrn
Grindel richtig dargestellt wurde, in der Tat von Innenminister Schäuble ausgehandelt worden. Aber auch ich
denke, es ist wenig glaubwürdig, wenn die SPD heute so
tut, als hätte sie es nicht verhindern können. Nichtsdestotrotz, in der Opposition hat die SPD die Menschenrechte
wiederentdeckt.
({3})
Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Das ist aber nicht
mein Problem. Mir geht es um die Sache. Deswegen
sage ich: besser spät als nie. Von daher sollte man die
Position der SPD hier jetzt respektieren.
Auch das Auswärtige Amt, Herr Grindel, gibt mittlerweile zu: Die Menschenrechtslage in Syrien ist unbefriedigend. Es gibt Folter, Misshandlung und Fälle von Verschwinden-Lassen. Die Kollegin Graf hat schon auf den
Fall des Kurden Khaled Kenjo aufmerksam gemacht, der
versucht hat, in Deutschland Asyl zu bekommen, dann
nach Syrien abgeschoben wurde und dort, wie wir gehört
haben, sieben Tage in Dunkelhaft gehalten wurde, gefoltert wurde, es dann aber glücklicherweise geschafft hat,
wieder aus Syrien herauszukommen. Ich bin der Meinung, dass Deutschland alles tun sollte, damit Khaled
Kenjo wieder nach Deutschland kommen kann, hier aufgenommen wird und nach dem, was er erlebt hat, entsprechend versorgt wird.
({4})
Was Sie hier heute vorgeführt haben, Herr Grindel,
zeigt, dass das Abschiebeinteresse dieser Bundesregierung offensichtlich schwerer wiegt als die Sicherheit von
Menschen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben.
Das ist so, obwohl Sie alles das wissen, was in Syrien
passiert. Das hat auch die Debatte gestern im Innenausschuss gezeigt. Sie lehnen unsere Anträge gänzlich ab.
Ich finde es ziemlich zynisch, Herr Grindel, wenn Sie sagen - sei es im Innenausschuss oder heute hier -, es
seien nur drei Leute verhaftet worden, verhört worden;
bei einem sei es ein bisschen schiefgegangen. Ich
möchte Sie gern einmal fragen: Woher wissen Sie eigentlich, was mit anderen Abgeschobenen passiert ist?
Eine Anfrage des Bayerischen Flüchtlingsrates beispielsweise hat ergeben, dass das Auswärtige Amt von
der syrischen Regierung keine Antwort auf die Frage bekommt, was mit den Flüchtlingen dort überhaupt passiert ist. Das gilt auch für die konkreten Fälle, wie man
nachlesen kann. Deswegen bleibt die Linke dabei: Das
Rückübernahmeabkommen mit Syrien muss sofort gekündigt werden. Das gebieten die Menschenrechte und
die Humanität.
({5})
Mehr als 8 000 Menschen fürchten, dass sie abgeschoben werden. Diese Menschen brauchen einen sicheren
Aufenthalt und eine Zukunftsperspektive ohne Angst.
Ich sage hier ganz deutlich: Wir werden weiter Druck
machen mit den zahlreichen Flüchtlingsinitiativen und
Menschenrechtsorganisationen, die in den vergangenen
Tagen auf die Straße gegangen sind und dafür eingetreten sind, dass es eine humane Politik für die Flüchtlinge
aus Syrien gibt. Ich hoffe, dass wir andere Fraktionen
dafür gewinnen, diese Aktionen zu unterstützen.
Ich danke.
({6})
Nun hat das Wort der Kollege Hartfrid Wolff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die
SPD, wenn sie an der Regierung ist, ihre Wahlversprechen wenig ernst nimmt, ist in Deutschland inzwischen
sattsam bekannt. Neu aber ist der umgekehrte Vorgang.
Eine ehemalige Regierungspartei distanziert sich nur wenige Wochen nach ihrer Abwahl von der eigenen Politik.
Das ist es, was wir im Fall des RückübernahmeabkomHartfrid Wolff ({0})
mens mit Syrien nun zur Kenntnis nehmen müssen. Es
ist wirklich bizarr, wenn der ehemalige Vizekanzler und
Außenminister Steinmeier, der dieses Abkommen mit
Syrien ausgehandelt hat, plötzlich als Fraktionsvorsitzender in der Opposition so seine ureigene Regierungsarbeit für unsinnig erklärt.
({1})
Es ist leider nichts Neues, wenn ich feststelle: Die
Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig; Meinungsund Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben; die Inlandsopposition ist starken Repressionen ausgesetzt.
Dies benennt die neue Bundesregierung ebenso wie ihre
Vorgängerin.
Das Abkommen war bereits in Zeiten der Verhandlungen heftiger Kritik ausgesetzt. Flüchtlingshilfeorganisationen haben Abschiebungen nach Syrien generell abgelehnt. Da ist es auch aus Ihrer Sicht konsequent, wenn
Sie entsprechende Beschleunigungsmechanismen ablehnen. Die Vorgängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier
hat sich dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschieden. Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes Instrument des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der
Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu effektivieren.
Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blankoschecks für Ausländerbehörden; vielmehr ist weiterhin,
wie immer, genau zu prüfen, ob im Einzelfall die Voraussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Gewährung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen setzen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur
Ausreise verpflichtet ist.
Wenn die Linken hier eine Aufgabe des Abkommens
fordern, ist das aus ihrer Sicht folgerichtig: Eine möglichst weitgehende Aushöhlung des Ausländerrechts
durch inflationären Umgang mit dem Abschiebestopp ist
hier Programm. Das ist einfach die linke Spielart von
„am deutschen Wesen soll die Welt gewesen“.
({2})
Dies ist aus Sicht der FDP zu einfach.
Die Forderung der vorliegenden Anträge, das Rückübernahmeabkommen auszusetzen, lehnen wir ebenso
ab wie die Forderung, die Abschiebungen nach Syrien
sofort generell zu stoppen. Für einen Abschiebestopp
sind in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zuständig. Generelle Abschiebestopps können auch nur ein
letztes Mittel für eine besonders eskalierende Situation
sein.
Die Linken fordern die Bundesregierung auf, gegenüber den Bundesländern anzuregen, generell ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren. Eine generelle Gewährleistung würde die Systematik unseres Asyl- und
Aufenthaltsrechts aushebeln: Dieses sieht vor, dass in jedem Einzelfall die besondere Verfolgungssituation nachzuweisen ist.
({3})
Im Falle einer erkennbaren Verfolgung gewährt die Bundesrepublik bereits heute Schutz. Das muss und wird
auch so bleiben.
Die Grünen fordern, dass das Schicksal der bisher
nach Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung
aufgeklärt und der Bundestag darüber unterrichtet wird.
Das ist selbstverständlich und, soweit bislang möglich,
auch schon geschehen.
Laut Antrag soll die Bundesregierung auch die Erkenntnisse über den Umgang mit nach Syrien Abgeschobenen bei der Anerkennungspraxis des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu
ist zu sagen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien
in die Bewertung einbezogen. Das Bundesinnenministerium hat dankenswerterweise die Länder nochmals sensibilisiert und gebeten, bis zu einer abschließenden Klärung anstehende Abschiebungen nach Syrien mit
besonderer Sorgfalt zu prüfen.
Dass Rückübernahmeabkommen sowohl auf nationaler wie europäischer Ebene nur mit Staaten abgeschlossen werden sollen, die die wesentlichen menschenrechtlichen Übereinkommen unterzeichnet haben, ist
wohlfeil. Auch für die FDP-Bundestagsfraktion ist unbestreitbar, dass Rückübernahmeabkommen nicht einfach
blind abgeschlossen werden dürfen.
({4})
Der jeweilige Partner muss nicht nur beim Abschluss,
sondern auch danach, bei der Durchführung des Abkommens, in die Pflicht genommen werden. Diese Aufgabe
nimmt die Bundesregierung wahr.
({5})
Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für
andere Fälle, liebe Kollegin, muss die Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft werden. Auch deshalb werden wir die Menschenrechtslage in Syrien unsererseits weiterhin kritisch und regelmäßig beobachten
und, wenn nötig, auch die entsprechenden Maßnahmen
ergreifen.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Wolff, Sie haben heute Geburtstag. Ich
gratuliere Ihnen sehr herzlich
({0})
und wünsche Ihnen einen ganz besonders schönen
Abend am heutigen Festtag und ansonsten alles, alles
Gute.
({1})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker
Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege Wolff, herzlichen Glückwunsch zum
Geburtstag. Trotzdem muss ich sagen: Das, was Sie und
Herr Grindel hier abgeliefert haben, war vom Niveau her
ein Tiefpunkt der Debatte des heutigen Tages.
({0})
Sie treten hier als christlich-liberale Koalition an; aber in
Ihren Reden habe ich weder etwas Christliches noch etwas Liberales gefunden.
({1})
Es steht doch außer Zweifel - das sagt ja sogar der
Bericht des Auswärtigen Amtes ({2})
- reden Sie einmal über die Menschen in diesem Zusammenhang! -,
({3})
dass abgeschobene Syrer in Syrien mit dem Tatvorwurf
festgenommen wurden, dass sie in Deutschland an Demonstrationen gegen das deutsch-syrische Abschiebeabkommen teilgenommen oder dass sie hier Asylanträge
gestellt haben. Das heißt doch, eine Abschiebung von
Personen, auf die diese Tatbestände zutreffen, ist nicht
zu verantworten. Das gilt doch faktisch für alle. Sie haben doch alle einen Asylantrag gestellt. Deswegen wird
ihnen dann in Syrien vorgeworfen, sie hätten das Land
beleidigt und Respekt gegenüber dem syrischen Staat
vermissen lassen. Das wissen wir doch. Wir können uns
als Bundestag, als Gesetzgeber, und als Bundesregierung
doch nicht dümmer stellen, als wir sind.
({4})
Wir wissen, dass das passiert ist. Das ist eine neue Sachlage, die man zur Kenntnis nehmen muss, selbst wenn
man bei der Ratifizierung des Abkommens noch weggeschaut hat. Das ist geschenkt.
({5})
Aber wenn wir sehen, dass wir durch die praktische
Umsetzung des Abkommens, also durch Abschiebung,
Leib, Leben und Freiheit von Menschen gefährden, dann
muss man die Umsetzung aussetzen. Von mir aus müssen Sie es nicht kündigen. Mir ist erst einmal auch egal,
welchen Aufenthaltsstatus die Betroffenen bekommen.
Diese Frage können wir später klären. Ich bin da ganz
bei Ihnen. Jetzt geht es aber erst einmal darum, das Leben dieser Menschen zu retten. Deshalb haben wir es in
unserem Antrag auch so soft formuliert, dass Sie, wenn
Sie noch ein Stückchen Humanität im Herzen und im
Kopf haben, unserer Forderung, das Abkommen auszusetzen, keinen mehr abzuschieben und die Leute hier zu
lassen und uns um all die zu kümmern, die wir abgeschoben haben, zustimmen müssten. Ich erwarte von der
Bundesregierung, dass sie uns auflistet, wer abgeschoben wurde, und in Erfahrung bringt, ob diese Menschen
noch leben, ob diese Menschen noch in Freiheit sind
oder ob sie verschwunden sind, wie es wahrscheinlich
als Ergebnis festzustellen sein wird.
({6})
Herr Grindel, ich habe in Ihrer Rede sehr viel über die
Systematik des Ausländerrechts gehört.
({7})
Auch ich bin dafür, dass jemand, der weder Flüchtling
noch legaler Migrant ist, nicht hier bleiben darf, sofern
es keine humanitären Abschiebehindernisse gibt. Das ist
selbstverständlich; denn ansonsten macht eine gesteuerte
Migrationspolitik keinen Sinn. Aber dieses Prinzip kann
man nicht um jeden Preis gegen Menschen durchsetzen,
bei denen de facto EMRK-Abschiebehindernisse bestehen.
({8})
Es ist doch ganz offensichtlich, dass die Garantien der
Menschenrechtskonvention in Syrien nicht respektiert
werden. In diesem Fall kommt es nicht auf das kodifizierte Recht an, sondern auf die tatsächliche Praxis.
Diese haben wir ja nun kennengelernt. Sie machen sich
zum Komplizen eines Regimes, das die Menschenrechte
mit Füßen tritt, wenn Sie ihm die Menschen ans Messer
liefern, indem Sie sie im Rahmen eines solchen Abkommens abschieben.
Ich bin wirklich entsetzt, dass man hier so hartherzig
darüber herzieht und keine effiziente Maßnahme ergreift.
Es gibt einen Brief des Bundesinnenministeriums - wie
wunderbar! Aber was schert sich Ihr niedersächsischer
Innenminister darum? Am 5. Januar wurde - Frau Graf
hat es zitiert - erneut versucht, einen kurdischen Syrer
abzuschieben. Das konnte vom Anwalt gerade noch verhindert werden. Aber in unserem Rechtsstaat, der humanitär orientiert ist, muss doch klar sein, dass nicht nur
derjenige, der einen Anwalt griffbereit hat, sein Leben
retten kann. Vielmehr müssen unsere Gesetzgebung und
unsere Verwaltungspraxis von Anfang an garantieren,
dass die Menschen nicht in ein Land abgeschoben werden, in dem sie umgebracht werden, in dem sie festgesetzt werden und ihre Freiheit verlieren oder in dem sie
durch Folter ihre Gesundheit verlieren.
({9})
Das ist das Mindeste, was ich von Ihnen erwartet habe.
Ich bin entsetzt, dass Sie das nicht machen - vielleicht
nicht auf Grundlage der Anträge der Opposition; das
wäre ja geschenkt. Aber Sie haben nicht im Ansatz erkennen lassen, dass Ihnen das Leben und die Freiheit
dieser Menschen etwas wert sind. Sie wollen zynisch
Ihre ausländerrechtliche Logik exekutieren - auf dem
Rücken dieser Menschen. Ich bin wirklich entsetzt.
Volker Beck ({10})
({11})
Damit schließen wir die Aussprache.
Wir kommen noch zu einigen Abstimmungen, zu-
nächst zu Tagesordnungspunkt 15 a. Dabei geht es um
die Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/525 mit dem Titel „Syrien - Abschie-
bungen beenden, politischen Dialog fortführen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthal-
tung? - Der Antrag ist damit mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 15 b: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksa-
che 17/570. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a)
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/237 mit dem
Titel „Abschiebungen nach Syrien stoppen - Abschiebe-
abkommen aufkündigen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltung? -
Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und großen Teilen der SPD-Frak-
tion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke sowie einer Enthal-
tung bei der SPD-Fraktion angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 15 b. Unter
Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/68 mit dem
Titel „Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syrischen
Rückübernahmeabkommens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltung? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und Teilen der SPD-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der
Fraktion Die Linke und Teilen der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wiedereinführung der Förderung von Atomexporten stoppen - Keine Hermes-Bürgschaft
für Angra 3 in Brasilien
- Drucksache 17/540 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich dabei
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Andreas Lämmel, Rolf Hempelmann, Marco Bülow,
Dr. Martin Lindner, Dr. Gesine Lötzsch, Sylvia KottingUhl und Parlamentarischer Staatssekretär Peter Hintze.
Dieser Antrag zeigt erneut, dass die Grünen aus gutem Grund auf der Oppositionsbank sitzen. Ihre Anträge
haben ökonomisch sowie klima- und energiepolitisch
keinen Bezug zur Realität. Sie bevorzugen die Bequemlichkeit Ihrer ideologischen Kuschelecke und verschließen die Augen vor den Tatsachen.
Worum geht es? Seit 1975 existiert ein Abkommen
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Brasilien
zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. 1976 begann
der Bau der Kraftwerke Angra 2 und 3. In den 1980erJahren wurden die Arbeiten an Angra 3 unterbrochen.
Angra I und 2 leisten bisher einen Beitrag von 4 Prozent
zur brasilianischen Stromerzeugung. Die brasilianische
Regierung hat im Juni 2007 die Fertigstellung von
Angra 3 beschlossen.
Brasilien ist ein aufstrebendes Schwellenland. Zwischen 1990 und 2005 hat sich der Stromverbrauch in
Brasilien um fast 75 Prozent gesteigert. Dieser Wachstumskurs ist auch zu begrüßen, da auf diesem Wege viele
Brasilianer der Armut entkommen konnten. Wollen wir
uns als Vertreter des deutschen Volkes dieser erfreulichen Entwicklung entgegenstellen? Ist es den Kollegen
von den Grünen denn lieber, wenn die Menschen in
Schwellen- und Entwicklungsländern in Armut leben
und mit internationaler Entwicklungshilfe alimentiert
werden müssen? Oder unterstützen wir ihren Weg heraus aus der Armut?
Brasilien ist gegenwärtig die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Nach der kurzen Rezession des vergangenen Jahres wird für 2010 ein Wachstum von 5 Prozent
erwartet. Darüber hinaus verfügt Brasilien über umfangreiche Devisenreserven ({0}). Die Zahlungsgarantie des
brasilianischen Finanzministeriums stellt also eine
glaubhafte Sicherheit dar. Die finanziellen Risiken und
damit die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme
der Bürgschaft sind folglich eher gering.
Die Fortsetzung des Wachstumskurses in Brasilien
erfordert einen entsprechenden Ausbau der Stromversorgung. Die Internationale Energieagentur, IEA, prognostiziert bis 2020 die Erhöhung des Strombedarfs um
50 Prozent. Brasilien verlässt sich an dieser Stelle bisher
in umfangreichem Maße auf die Wasserkraft als Energieträger.
Dies ist erfreulich, und sicher können wir Deutschen
da auch noch etwas lernen, obgleich das Potenzial deutscher Gewässer vergleichsweise gering ist, Elbe und
Rhein sind weder Amazonas noch Iguaçu. Das Potenzial
zum Ausbau der Wasserkraft besteht weiterhin, obgleich
nicht mehr in dem Maße wie in der Vergangenheit. Weiterhin bedingt die Fokussierung auf einen Energieträger
auch Abhängigkeiten. Diese Erfahrung machte Brasilien im Jahre 2001, als in Folge einer Dürre Elektrizität
rationiert werden musste. Es ist daher verständlich, dass
Brasilien sein Energieträgerportfolio erweitern will.
Bei der Erweiterung des Angebots an Energieträgern
setzt Brasilien auch auf fossile Energieträger. Brasilien
hat hier umfangreiche eigene Vorkommen. Im Jahr
2007 wurde das wohl drittgrößte Ölfeld der Welt - circa
33 Milliarden Barrel - vor der Küste Brasiliens entdeckt. An dieser Stelle zeigt sich aber auch, dass die
Grünen ein Problem mit der Realität haben. Wenn
Klimaschutz ernsthaft auf der Agenda steht, dann ist es
absolut widersprüchlich, einer aufstrebenden Volkswirtschaft, wie der brasilianischen, den Zugang zu emissionsfreier Stromerzeugung zu verwehren. Wir können in
Deutschland und Europa gar nicht ausreichend konventionelle Kraftwerke und Fabriken abschalten oder autofreie Sonntage veranstalten, um die globalen CO2-Emissionen zu reduzieren, wenn die Brasilianer ihren
zusätzlichen Strombedarf ausschließlich durch Gas,
Kohle und Öl decken. Meinen Sie - von den Grünen - es
nun ernst mit dem Klimaschutz oder nicht?
Selbstverständlich ist beim Bau eines Kernkraftwerkes der Aspekt der Sicherheit von herausragender Bedeutung, dies gilt im politischen und im technischen
Sinne. Das Projekt Angra 3 entspricht deutschen und internationalen Standards. Dies haben Untersuchungen
des deutschen Instituts für Sicherheitstechnologie, ISTec
GmbH, ergeben. Dies gilt sowohl für die Standards der
Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, als auch
die der deutschen Genehmigungspraxis. Bei diesen Untersuchungen wurden auch regionale Risiken wir Erdbeben oder Erdrutsche betrachtet und entsprechend in die
Projektplanung einbezogen. Dass die deutsche Nukleartechnik zu den weltweit sichersten gehört, sollte an dieser Stelle auch erwähnt sein.
Auch im politischen Sinne ist der Export deutscher
Nukleartechnik unbedenklich. Brasilien ist eine stabile
Demokratie. Brasilien hat umfangreiche völkerrechtliche Abkommen ratifiziert. Jetzt hier alle aufzuzählen,
würde den Rahmen sprengen. Es seien hier die wichtigsten und obligatorischen genannt: der Atomwaffensperrvertrag, der Nichtverbreitungsvertrag und der Atomwaffenteststoppvertrag. Zusätzlich hat Brasilien an
einer atomwaffenfreien Zone in Südamerika mitgearbeitet. Des Weiteren ist die bisher betriebene und in Angra 3
vorgesehene niedrige Urananreicherung zur Herstellung von Atomwaffen ungeeignet. Brasilien hat zudem
entschieden, auf die Wiederaufbereitung zu verzichten.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der
in der brasilianischen Verfassung niedergeschriebene
Verzicht auf Nuklearwaffen.
Das Problem der Endlagerung besteht selbstverständlich auch in diesem Fall. Gegenwärtig befindet
sich am Standort Angra I und 2 ein Zwischenlager, welches bis 2017 erweitert wird. Seitens der brasilianischen
Regierung ist noch keine Entscheidung zur Endlagerung
hochradioaktiver Abfälle gefallen. Auch auf diesem Gebiet können die brasilianisch-deutschen Energiebeziehungen noch intensiviert werden.
Ein weiterer Aspekt, der mir sehr wichtig ist, sind die
Arbeitsplätze in Deutschland. 5 200 Mitarbeiter der
AREVA NP GmbH in Erlangen und weitere in kleinen
und mittleren Zulieferbetrieben sind von diesem Auftrag
abhängig. Ein Großteil der Wertschöpfung wird in
Deutschland stattfinden und hier bei uns Arbeitsplätze
und kommunale Gewerbesteuern sichern. Ich weiß,
diese Fragen des politischen Alltags - Arbeitsplätze und
Steuern - sind für die Kollegen der Grünen nicht sonderliche interessant.
Bedenken Sie bitte schließlich den positiven Effekt eines energiepolitischen Austausches mit Brasilien. Ich
hatte es am Beispiel der Wasserkraft und der Endlagerung schon erwähnt. In Brasilien verfügt man über vertiefte Kenntnisse und Erfahrung in der Nutzung von Bioethanol als Energieträger. Hier gibt es sicher auch für
Deutschland interessante Erkenntnisse zu gewinnen. Sicher gibt es in Brasilien auch Potenzial für deutsche Methoden der Steigerung von Energieeffizienz und deutsche
Techniken bei den erneuerbaren Energien. Wie werden
die Verantwortlichen in Brasilien wohl reagieren, wenn
die Mitglieder des Deutschen Bundestages ihnen besserwisserisch und belehrend diese Anfrage verwehren?
Diese Potenziale einer brasilianisch-deutschen Energiepartnerschaft zur Beruhigung der grünen Psyche oder
treffender: Psychose zu verschenken, dient niemandem,
nicht in Brasilien, nicht in Deutschland und dem Weltklima schon gar nicht.
Dieser Antrag ist daher abzulehnen. Er ist ökonomisch und ökologisch unkonstruktiv.
Grundsätzlich begrüßen wir als SPD-Fraktion die
Unterstützung deutscher Investitionen im Ausland und
halten das Instrument der Hermesabdeckungen für richtig und wichtig. Dennoch müssen bei jedem Projekt insbesondere die ökonomischen Risikoabschätzungen
genau beleuchtet werden, bevor ein solcher Antrag genehmigt werden kann. Im vorliegenden Fall hat die Bundesregierung viele wichtige Aspekte entweder nicht berücksichtigt oder falsch eingeschätzt. Der Bericht der
Bundesregierung an den Ausschuss wirft mehr Fragen
auf, als er Antworten gibt. In dem Bericht werden keine
Aussagen zu einer Ausfallwahrscheinlichkeit getroffen.
Doch gerade bei einer Bürgschaft in Höhe von über
2 Milliarden Euro, für die ja im Zweifelsfall der deutsche Steuerzahler geradesteht, sollte das Risiko eines
Ausfalls genau geprüft werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der geplante Reaktortyp Stand der Technik der
70er-Jahre in Deutschland ist und heute in Deutschland
unter keinen Umständen eine Baugenehmigung erhalten
würde. Es liegt auf der Hand, dass der Einsatz derart alter Technik die ökonomischen Erfolgsaussichten dieses
Projektes erheblich mindert und damit das Ausfallrisiko
deutlich erhöht. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung klare Aussagen zu den wirklichen ökonomischen Risiken der beantragten Bürgschaft.
Im Umgang mit dieser Bürgschaft zeigt sich wieder
einmal, dass die Bundesregierung das Thema Atomkraft
ohne Rücksicht auf Verluste in den Mittelpunkt ihres
politischen Handelns stellt: Noch vor der Diskussion um
ein Gesamtenergiekonzept verhandelt sie mit den großen
Kraftwerksbetreibern über eine Laufzeitverlängerung,
Zu Protokoll gegebene Reden
ohne sich Gedanken über die negativen Auswirkungen
auf Wettbewerb und Investitionen zu machen. Ihnen geht
es nur darum, ein Zeichen für die Atomkraft zu setzen.
Auch die Unterstützung der Bürgschaft soll außenpolitisch zeigen, dass die Regierung den breit in der
deutschen Gesellschaft angelegten Konsens des Atomausstiegs wieder verlässt. Weder offensichtlich ökonomische noch sicherheitspolitische Risiken können die
schwarz-gelben Ritter der Atomkraft stoppen.
Zudem stellt sich die Frage, ob eine Bürgschaft seitens des Bundeshaushaltes in diesem Fall wirklich das
richtige Instrument darstellt; denn das deutsche Unternehmen Siemens wird sich bis Ende 2012 aus dem
Areva-Konzern zurückziehen. Dann würde der deutsche
Steuerzahler die Risiken eines französischen Staatsunternehmens tragen. Hier erwarten wir ebenfalls eine
klare Aussage der Bundesregierung. Aus dem Bericht
geht hervor, dass die Prüfung des Antrags unter anderem auf Grundlage der deutschen Genehmigungspraxis
für Kernkraftwerke erfolgt ist. Dies verwundert uns
doch sehr, ist doch in Deutschland 1988 das letzte Kernkraftwerk ans Netz gegangen. Insofern kann in diesem
Zusammenhang nicht von einer wirklichen Genehmigungspraxis gesprochen werden. Deshalb wollen wir
von der Bundesregierung wissen, ob auch neuere
externe Risiken, wie die Gefahr eines Terrorangriffs, bei
der Beurteilung berücksichtigt wurden.
Beim Export von nukleartechnischen Gütern, insbesondere in Schwellenländer, muss aus meiner Sicht stets
auch die Frage der Nichtverbreitung von Atomwaffen im
Mittelpunkt der Prüfung stehen. In diesem Zusammenhang sind wir beunruhigt, dass Brasilien bis heute nicht
das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat, welches der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, unangemeldete Kontrollen ermöglicht.
Da passt es ins Bild, dass Brasilien im Jahr 2006 den
Kontrolleuren dieser Behörde den Zutritt zu den zentralen Urananreicherungsanlagen in Resende zunächst
verweigerte und damit erhebliche Spannungen auslöste.
Ich gehe auch davon aus, dass der Bundesregierung die
Tatsache bekannt ist, dass Brasilien gegen internationale Konventionen verstößt, indem es über keine unabhängige Atomaufsicht verfügt. Vielmehr liegen Förderung und Kontrolle der Atomenergie in den Händen ein
und derselben Behörde, was sowohl eine Verletzung des
Euratom-Vertrags als auch eine Verletzung der Internationalen Konvention zur Atomsicherheit bedeutet. Im
Übrigen hat der brasilianische Kongress selbst diese
Vorschrift im Jahre 1998 in nationales Recht übernommen. Es sollte der Bundesregierung doch zu denken geben, dass sich die Verantwortlichen der brasilianischen
Atompolitik nicht einmal an die eigenen Gesetze halten.
Neben der Berücksichtigung der genannten ökonomischen Risiken und Sicherheitsbedenken ist die Bundesregierung nach OECD-Leitlinien verpflichtet, ökologische
und soziale Risiken zu prüfen. Ob dies mit der notwendigen Sorgfalt geschehen ist, muss bei genauer Betrachtung stark bezweifelt werden. Denn bisher ist die Frage
der Lagerung der verbrauchten Brennelemente völlig
ungeklärt. Brasilien verfügt weder über ein Zwischennoch über ein Endlager für atomare Abfälle. Nach unseren Informationen sollen die Brennstäbe auf dem Gelände des Kraftwerks gelagert werden. Wie weit die dortigen Kapazitäten reichen und was bei Erschöpfung
derselben mit den Abfällen passieren soll, ist offen.
Zudem fordern wir von der Bundesregierung, die Sicherheitssituation vor Ort zu prüfen. Denn welche Folgen es für Mensch und Umwelt hat, wenn diese Brennelemente nicht sachgemäß gelagert werden oder gar in
die falschen Hände gelangen, kann sich jeder selbst vorstellen.
In Brasilien gibt es ein potenzielles Erdbebengebiet
mit instabilen Gesteinsschichten. Dieses befindet sich in
der Nähe des geplanten Standortes. Dies zeigte sich eindrucksvoll, als bei Bauarbeiten an Angra 2 das Maschinenhaus von Angra 1 absackte. Auch bezüglich dieser
Tatsache lassen sich die Risiken kaum seriös abschätzen.
Es sind also noch viele Fragen offen, ohne deren
klare und ausführliche Beantwortung durch die Bundesregierung eine Genehmigung dieser Bürgschaft hohe
Risiken mit sich bringt: für den Bundeshaushalt und damit für den deutschen Steuerzahler, für die internationale Sicherheit und nicht zuletzt für die Menschen und
die Umwelt in Brasilien.
Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zu
dem gesamten Verfahren machen, in dem die Bundesregierung eine grobe Missachtung des Parlaments zum
Ausdruck gebracht hat. Grundsätzlich muss der Haushaltsausschuss über beantragte Bürgschaften in dieser
Höhe informiert werden. Ich denke, es gehört zu einem
fairen Umgang miteinander, dass die Abgeordneten vor
der Presse und der Öffentlichkeit informiert werden.
Doch bereits am 2. Dezember vergangenen Jahres war
in den Zeitungen über die geplante Bürgschaft zu lesen.
Den ganzen Dezember über wurde auf verschiedenen Internetseiten bereits über diese Pläne diskutiert. Der
Haushaltsausschuss dagegen wurde erst im Januar informiert. Dies ist aus unserer Sicht eine Missachtung
des Parlaments, die so nicht hingenommen werden kann.
Es ist skandalös, dass mit deutschen Steuergeldern
der Bau des brasilianischen Atomkraftwerks Angra 3
abgesichert werden soll. Kaum ist die neue Regierung
im Amt, überhäuft sie die Atomwirtschaft mit Geschenken. Der Atomausstieg soll rückgängig gemacht werden,
und zusätzlich wird großzügig auch noch eine milliardenschwere Hermesbürgschaft für den Export von
Nukleartechnologie genehmigt. Willkommen in der
Lobbyrepublik! Die Begünstigungen an die Hoteliers
wirken gegenüber den Geschenken an die Atomlobby
wie Peanuts. Wurden von Union und FDP die Atomkraftgegner häufig als ideologisch verbohrt diffamiert,
zeigt sich am konkreten Beispiel, wer wirklich ideologisch verblendet handelt.
Nicht nur, dass man sich generell wieder für die Möglichkeit der Kreditabsicherung für Nukleartechnologieexporte einsetzt, sondern es werden dann nicht einmal
die Bedingungen der individuellen Projekte ausführlich
Zu Protokoll gegebene Reden
geprüft. Es scheint die Bundesregierung schlichtweg
überhaupt nicht zu interessieren, dass es sich im Falle
von Angra 3 um einen veralteten und damit noch unsichereren Reaktortyp handelt, dass Teile benutzt werden, die seit Jahren eingemottet sind, und dass der
Standort im einzigen erdbebengefährdeten Gebiet Brasiliens liegt. Hinzu kommt, dass die Endlagerfrage komplett ungeklärt ist, dass Brasilien keine unabhängige
Atomaufsicht besitzt und nicht einmal das Zusatzprotokoll des Atomwaffensperrvertrags unterschrieben hat.
Wir dürfen doch kein Land in einer so sensiblen Technologie unterstützen, wenn es nicht einmal bereit ist, unangekündigte Kontrollen der Internationalen Atomenergie-Behörde zu akzeptieren. Was ist das für ein Signal,
das wir setzen? Union und FDP sprechen immer davon,
dass die Atomenergie nur eine Brückentechnologie ist,
aber hier unterstützen sie ein Atomprojekt, das eventuell
ein halbes Jahrhundert in Betrieb sein wird und das
gleichzeitig viele Projekte der erneuerbaren Energien
verhindern wird.
Das geplante brasilianische AKW wäre in Deutschland schon vor Jahren nicht genehmigungsfähig gewesen. In Brasilien setzt die Bundesregierung aber offenbar andere Maßstäbe an. Sie macht sich durch diese
riskante Bürgschaft mitverantwortlich dafür, dass die
Gesundheit vieler Menschen gefährdet wird, die im Einzugsbereich des AKW leben müssen.
Zur Wirtschaftlichkeit. Alle Erfahrungen zeigen, dass
AKW-Neubauten nie zum kalkulierten Preis fertiggestellt werden. Das brasilianische AKW Angra 2 war
ein ökonomisches Desaster, der Neubau des finnischen
AKW in Olkiluoto wird zu einem gigantischen Zuschussgeschäft für Areva, und selbst in den USA liegt das Ausfallrisiko bei AKW-Neubauten laut einer Studie des USamerikanischen Bundesrechnungshofes bei über 50 Prozent.
Quintessenz: Die Kreditausfallwahrscheinlichkeit bei
diesem Projekt ist hoch. Schon das argentinische AKW
Atucha hat den deutschen Steuerzahler über 900 Millionen Euro gekostet. Sollte Brasilien in eine finanzielle
Notlage geraten, nutzt auch die Gegengarantie des brasilianischen Finanzministeriums nicht viel. Es ist bitter:
Die Motivation der Bundesregierung, die deutsche
Atomwirtschaft zu hofieren, scheint größer zu sein als
ihre Motivation, den Steuerzahler vor zusätzlichen Lasten zu schützen. Hinzu kommt, dass die Exportgarantie
in Milliardenhöhe einem Unternehmen gewährt wird,
das nur zu einem Drittel in deutscher Hand ist und in absehbarer Zeit komplett in französischen Besitz übergeht.
Zusammenfassend stelle ich fest: Das Vorgehen der Bundesregierung ist sicherheitstechnisch, energiepolitisch
und auch ökonomisch unsinnig und es ist gefährlich.
Leider kommt es noch schlimmer: Die Anträge für
AKW-Projekte in Pakistan und Kaliningrad liegen den
Ministerien schon vor, und auch in diesen Fällen soll es
Befürworter geben. Die Bundesregierung wird zum
Sponsor dafür, dass auch in sensiblen Regionen wieder
mehr auf Atomenergie statt auf saubere Zukunftstechnologien gesetzt wird. Ich möchte daran erinnern: Auch
das iranische AKW Buschehr, welches aufgrund seiner
Gefahr für den Weltfrieden weltweit im Fokus steht,
wurde mit Hermesbürgschaften abgesichert.
Lernen Sie endlich aus Ihren Fehlern. Wir brauchen
eine Regierung, welche Sicherheit und Zukunftsfähigkeit
in die globale Energiepolitik bringt und keine Lobbygeschenke verteilt.
In Zeiten einer gerade zögerlich wieder in Fahrt kommenden Wirtschaft haben wir in der Koalition beschlossen, „die Entscheidungsverfahren für die Garantien für
Exportkredite, Investitionen und ungebundene Finanzkredite zu beschleunigen und vorrangig an der Sicherung des Standortes Deutschland und der Förderung
von Wirtschaft und Beschäftigung im Inland“ auszurichten. Genau diese Ziele können durch die Bürgschaft für
Angra 3 in Brasilien erreicht werden: zum einen das
Stärken des Standortes Deutschland durch die Absicherung eines Auftrages an ein Unternehmen mit Sitz in
Erlangen und 5 200 Beschäftigen in Deutschland, zum
anderen die Förderung eines Hochtechnologieunternehmens auf internationale Ebene.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen beruht auf Unwissenheit und dem Schüren der
Angst. Doch die Lage der Sicherheit stellt sich tatsächlich wie folgt dar:
Erstens. Durch das Deutsche Institut für Sicherheitstechnologie wurden die vorliegenden brasilianischen
Studien und die erteilten Umwelt- und Baugenehmigungen geprüft auf Umweltverträglichkeit, Sicherheitskonzept, Brennstoffkreislauf sowie Betriebsführung.
Zusätzlich wurden die relevanten Standards und Anforderungen der Internationalen Atomenergieorganisation, der EU sowie die Nuclear Guidelines der staatlichen US-Exportkreditagentur US Ex-Im Bank
herangezogen. Das Projekt hält also deutsche und internationale Standards ein. Auch die neuen Herausforderungen durch mögliche terroristische Aktionen, wie die
Sicherheit bei Flugzeugabstürzen, wurden bedacht. Bei
der Festlegung des Konzepts wurden seinerzeit gemäß
der internationalen Praxis die IAEA Safety Guides berücksichtigt. In diesem Rahmen wurde die Luftverkehrssituation im Bereich der Anlage berücksichtigt. Demzufolge sind in der Umgebung des Projektgebietes keine
Flugplätze vorhanden, und es besteht auch kein erhöhtes
Risiko durch Flugaufkommen von Militärmaschinen.
Die Anlage kann, wie auch bei deutschen Kernkraftwerken üblich, mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen versehen
werden, um auch gegen einen etwaigen gezielten Flugzeugabsturz - terroristischer Anschlag - gerüstet zu
sein. Diese Maßnahmen bestehen beispielsweise in verstärkter Luftraumüberwachung in Kombination mit der
Abschaltung des Reaktors sowie Vernebelungseinrichtungen. Zudem zeigen neuere Studien, dass die Betonhülle der Reaktorgebäude größere Explosionsdruckwellen, als bisher angenommen, abtragen können.
Auch seismische Studien waren Gegenstand der Umweltstudien. Weltweit betrachtet gehört der brasilianische Schild zu den geologisch stabilsten Formationen
der Erde. Die brasilianische Umweltgenehmigung umZu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Lindner ({0})
fasste auch Auflagen hinsichtlich der Risiken im Falle
eines Erdbebens sowie weitergehende Auflagen zur
Überwachung von Gebieten und zur Stabilisierung von
Hängen, die Anzeichen für Erdrutsche aufweisen. Die
vorgeschriebenen Untersuchungen wurden allesamt zur
Zufriedenheit der brasilianischen Umweltbehörde abgeschlossen.
Zweitens. Genau wie in Deutschland ist der Betreiber
des Kraftwerks - hier Eletronuclear - für die Zwischenlagerung der abgebrannten Brennelemente am Standort
verantwortlich. Am Projektstandort Angra sind Zwischenlager für Brennelemente in Betrieb. Mittelfristig
ist neben den schon bestehenden Nass- und Trockenlagern ein weiteres Nasslager bis 2017 geplant. Die Endlagerung liegt im Verantwortungsbereich des Staates
und somit bei der nationalen Nuklearenergiekommission.
Drittens. Brasilien hat den Atomwaffensperrvertrag
ratifiziert, das später hinzugekommene und freiwillige
Zusatzprotokoll aus Gründen des Eingriffs in die Staatssouveränität und zum Schutz gegen Industriespionage
indes nicht. Brasilien bemüht sich allerdings, die Kontrollen entsprechend der Vorgaben der IAEO gleichwohl
zu erfüllen. Brasilien hat daneben eine Reihe von Verträgen unterschrieben, wie den Atomwaffenstopp-Vertrag
und das Abkommen über das Verbot der Produktion von
spaltbarem Material für Atomwaffen, und hat an einer
atomwaffenfreien Zone in Südamerika mitgewirkt. Zur
behaupteten Sorge der Oppositionsparteien, Brasilien
könne Atomwaffen bauen, ist zu entgegnen, dass die beiden bisher betriebenen Anlagen und das geplante Projekt Angra 3 nur eine niedrige Urananreicherung besitzen. Diese Anlage ist zur Herstellung von Atomwaffen
ungeeignet, zumal Brasilien sich entschieden hat, auf
eine Wiederaufbereitung zu verzichten. Ferner hat Brasilien zusammen mit Argentinien eine regionale Aufsichtsbehörde zur Kontrolle von Nuklearmaterial gegründet und sogar in der Verfassung den Verzicht auf
Atomwaffen aufgenommen.
Brasilien als zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt ist
ein wirtschaftlich stabiles Land. Im Hinblick auf die Garantie des brasilianischen Finanzministeriums und die
vergleichbar geringe internationale Verschuldung und
die hohen Devisenreserven bestehen auch haushaltspolitisch keine Bedenken. Sogar im Verlauf der Krise
hatte Brasilien lediglich eine Minirezession und verzeichnete zwischen April und Juni 2009 bereits wieder
Wachstum. Laut German Trade and Invest wird Brasilien schon 2010 wieder ein Wachstum von circa 5 Prozent erreichen.
Viertens. Bei dem Antragsteller handelt es sich um
das deutsche Unternehmen Areva NP GmbH in Erlangen mit 5 200 Mitarbeitern. In die Areva NP sind die Nuklearaktivitäten der Siemens AG aufgegangen. Gerade
mit Blick auf den Erhalt und die Sicherung der Arbeitsplätze im Hochtechnologiesektor ist somit eine Absicherung dieses Projekts mit einer Hermesbürgschaft mehr
als geeignet. Zum einen trägt das Projekt in erheblichem
Umfang zur Sicherung des stetig steigenden brasilianischen Energiebedarfs sowie zur Diversifizierung des
Strommixes bei. Zum anderen werden durch die verbrieften deutschen Lieferungen und Leistungen zahlreiche
Arbeitsplätze in Deutschland gesichert. Dementsprechend begrüßt meine Fraktion die Vergabe einer Hermesbürgschaft für Angra 3 in Brasilien.
Bündnis 90/Die Grünen ist eine Klientelpartei, die
sich ausschließlich auf ein bestimmtes Segment im
Bereich regenerativer Energien konzentriert. Verantwortungsvolle Regierungspolitik hat wieder die volle
Bandbreite eines vernünftigen Energiemixes im Auge zu
behalten. Darüber hinaus ist es unsere Pflicht, einen
Beitrag zum Erhalt hochwertiger Arbeitsplätze in
Deutschland zu leisten. Daher lehnen wir den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab.
Die Bundesregierung will den Bau des Atomkraftwerks Angra 3 in Brasilien durch Siemens mit einer
Exportkreditgarantie ermöglichen. Die Steuerzahler
müssten mit 2,5 Milliarden Euro haften. Im Haushaltsausschuss haben wir sehr ausführlich über die Risiken
eines solchen Geschäfts diskutiert. Die Vertreter der
Bundesregierung konnten auf unsere Fragen keine seriösen Antworten geben. Es ist nicht akzeptabel, dass die
Bundesrepublik solche Risikotechnologien weiter unterstützt und dafür noch die Steuerzahler in Haftung nehmen will. Umweltorganisationen benennen vier Kritikpunkte an diesem Risikogeschäft.
Ökonomische Risiken. Gerade bei Atomanlagen ist
das Ausfallrisiko für Bürgschaften enorm hoch, da sie
hohe Anfangsinvestitionen erfordern und es oftmals zu
immensen Kosten- und Bauzeitüberschreitungen kommt.
Bereits der Bau von Angra 2 hat mit 25 Jahren Bauzeit
und einem zwei- bis dreimal höheren Preis als veranschlagt enorm zur Verschuldung Brasiliens beigetragen.
Politische Risiken. Die brasilianische Atomaufsicht
ist nicht unabhängig, denn ein und dieselbe Behörde, die
CNEN ({0}), ist für
die Förderung und Kontrolle von Atomkraft zuständig.
Die Internationale Konvention zur Atomsicherheit, die
der brasilianische Kongress 1997/98 in nationales
Recht übernommen hat, schreibt eine funktionale Trennung zwischen Aufsichtsbehörde und Förderern/Nutzern
der Atomenergie vor. Die bestehende Struktur entspricht
somit nicht einmal geltendem brasilianischen Recht, geschweige denn europäischen Standards.
Sicherheitsrisiken. Vom Stand der Technik ist Angra 3
vergleichbar mit dem in den 70er-Jahren in Deutschland
errichteten Kraftwerk Grafenrheinfeld. Dabei handelt es
sich um einen Druckwasserreaktor der zweiten Generation. Der Neubau eines Atomkraftwerkes nach diesen
Standards wäre heute in Westeuropa nicht mehr durchsetzbar.
Ungelöste Müllentsorgung. Zentrales ökologisches
Problem der Anlage ist die auch nach 20 Jahren Betriebslaufzeit von Angra 1 noch immer sehr provisorische Lösung für die radioaktiven Abfälle. Zurzeit lagert
der radioaktive Müll der Atomreaktoren Angra 1 und 2
in sogenannten blauen Schwimmbecken unter Wasser.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der brasilianische Umweltminister Minc kritisiert diese
Lagerung als völlig unzureichend und fordert endlich
eine Langzeitlösung für die Abfälle. Tatsächlich empfehlen sich die geologischen Verhältnisse in diesem von
Erdbeben und Erdrutschen gefährdeten Küstengebirge
zwischen Rio und São Paulo weder für sensible Bauwerke noch für die Zwischenlagerung von strahlendem
Müll.
Dieser Analyse ist nur hinzuzufügen, dass die Bundesregierung im Wissen um die genannten Probleme
trotzdem an einer Hermesbürgschaft festhält. Das zeigt,
dass die Bundesregierung der Atomlobby blindlings
folgt. Offensichtlich wird Politik nicht mehr gewählt,
sondern nur noch bestellt. Die Linke als großspendenfreie Partei folgt den Empfehlungen der Umweltverbände und lehnt die Bürgschaft ab.
2001 wurde in Deutschland die Exportförderung von
Atomtechnologie beendet. Das hatte seine guten
Gründe, die bis heute ungeschmälert gelten. Zur Deckung des weltweiten Energiebedarfs spielt Atomkraft
eine geradezu verschwindende Rolle. Daran ändert
auch der ständige Versuch der Liebhaber dieser Technologie, das anders darzustellen, nichts. Atomenergie wird
global weder für die künftige Energieversorgung noch
für den Klimaschutz von größerer Bedeutung sein. Demgegenüber stehen die unverantwortbaren Risiken der
Atomkraft, die dort noch steigen, wo keine unabhängige
Atomaufsicht besteht oder Atomanlagen in erdbebengefährdeten Gebieten geplant werden. Beides trifft auf Brasilien zu, für dessen geplantes Atomkraftwerk Angra 3
Siemens/Areva eine Hermesbürgschaft von bis zu 2,5 Milliarden Euro beantragt.
Wir wissen, dass der Bau von Atomkraftwerken in vielen Ländern insgeheim mit der Hoffnung verbunden ist,
darüber in den Kreis der Atommächte aufzusteigen.
Atomtechnik birgt immer die Gefahr des militärischen
Missbrauchs. Die internationale Debatte um das Atomprogramm des Iran zeigt exemplarisch die große Sorge,
die viele Staaten hier umtreibt. Das Ziel der Bundesregierung 2001 war, solche Risiken durch den Ausschluss
der Förderung für Atomtransporte zu verringern. Dazu
gehörte die Haltung, weltweit für den Ausstieg aus der
zivilen wie militärischen Nutzung der Atomenergie zu
werben, sich für eine Stärkung des Nicht-Verbreitungsregimes von Atomwaffen einzusetzen und die Atommächte bezüglich ihrer Abrüstungsverpflichtungen zu
mahnen.
CDU, CSU und FDP haben sich nun laut Koalitionsvertrag entschieden, die gute Praxis der Hermes-Umweltleitlinien nicht mehr anzuwenden. Wenige Monate
nach der Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb
steht der Antrag von Siemens/Areva als Präzedenzfall
zur Entscheidung an. Nichts an diesem Antrag spricht
dafür, ihn zu bewilligen.
Hermesbürgschaften für Atomtechnologie bergen
grundsätzlich ein hohes Risiko für den Bundeshaushalt.
Die ständigen Begleiter der jüngsten AKW-Projekte, als
da wären: explodierende Kosten, Verzögerungen im Bau
und schlechte Planungen, erhöhen das Kreditausfallrisiko überdurchschnittlich, wie das Congressional Budget Office, eine Art amerikanischer Bundesrechnungshof, errechnet hat. Aber eine Bürgschaft für den Bau
eines Atomreaktors in Angra dos Reis ist noch aus ganz
anderen, darüber hinausgehenden Gründen abzulehnen.
Die erdbebengefährdete Region liegt nur rund 100 Kilometer von der Millionenstadt Rio de Janeiro entfernt,
ganz sicher nicht der geeignete Standort für ein Atomkraftwerk. Brasilien hat ein wichtiges Zusatzprotokoll
zum Atomwaffensperrvertrag bis heute nicht unterzeichnet und hat keine unabhängige Atomaufsicht. Die funktionelle Trennung von Betrieb und Aufsicht über Atomanlagen ist also nicht möglich. Auch wenn mir Ihre, verehrte
Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, Haltung zur Atomkraft bei allem Unverständnis
meinerseits bewusst ist, so gehe ich doch davon aus,
dass Sie solche Unsicherheitsfaktoren nicht gutheißen
können.
Sie bereiten die Rückkehr zur Atomkraft in Deutschland derzeit auf allen Kanälen vor. Unsere Einschätzung
Ihrer Absicht kennen Sie, und wir werden uns mit Ihnen
darüber weiterhin gründlich auseinandersetzen. Heute
geht es um die Frage einer Bürgschaft mit Steuergeldern
für ein ökonomisch unsinniges und ökologisch nicht verantwortbares Projekt. Sie müssen diesen Antrag auf
Bürgschaft ablehnen. Eine Lex Siemens in Verbindung
mit der Inkaufnahme extremer Risiken, für die vor allem
Sie, meine Damen und Herren von der FDP, sich bei Ihrem ständigen Gerede von Mittelstandsförderung schämen müssten, ist nicht das, was dieses Land derzeit
braucht.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt
mir heute Gelegenheit, über ein ganz entscheidendes
Instrument der Außenwirtschaftsförderung zu sprechen:
die Exportkreditgarantien des Bundes.
Erstens. Die Exportkreditgarantien des Bundes, bekannter unter dem Namen Hermesdeckungen, haben
sich gerade in der jetzigen Finanzkrise besonders bewährt. 2009 war ein schwieriges Jahr für die deutsche
Exportwirtschaft, und auch in diesem Jahr wird die Exportwirtschaft vor großen Herausforderungen stehen.
Die Bundesregierung unterstützt die deutsche Exportwirtschaft gerade jetzt mit Hermesdeckungen. Mit
diesem Instrument ermöglicht und erleichtert die Bundesregierung den Zugang deutscher Exporteure zu Auslandsmärkten und schützt - gegen Zahlung risikogerechter Prämien - vor dem Ausfall ihrer
Auslandsforderungen. Das gilt für alle Bereiche der
deutschen Exportwirtschaft. Das heißt für mich auch:
Hermesdeckungen müssen für alle zulässigen Exporte
zur Verfügung stehen. Das schließt den zulässigen Export von Nukleartechnologie mit ein. Auch hier müssen
faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Industrie gelten.
Zweitens. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und
FDP wurde festgeschrieben, dass die sogenannten
Zu Protokoll gegebene Reden
OECD-Umweltleitlinien alleiniger Maßstab für die Umweltprüfung bei den Hermesdeckungen sind. Diese international anerkannten Leitlinien erlauben Deckungen
bei Exporten von Nukleartechnologie. Demgegenüber
machte eine in der rot-grünen Koalition eingeführte
Praxis Hermesdeckungen für solche Exporte leider unmöglich. Diese Praxis, die einseitig zulasten der deutschen Industrie ging, haben wir nun beendet. Die seinerzeitige Praxis war ohnehin durch die inzwischen
international vereinheitlichten Regelungen überholt.
Würde die Bundesregierung auch weiterhin Exportkreditgarantien in diesem Bereich verweigern, könnte
dies dramatische Folgen für deutsche Exporteure haben.
Diese könnten sich im internationalen Wettbewerb ohne
staatliche Risikoabsicherungen nur schwer behaupten;
denn ihre Wettbewerber in Frankreich, Japan oder den
USA haben die Möglichkeit, staatliche Sicherungen zu
erhalten.
Im Übrigen bliebe die Entscheidung anderer souveräner Staaten, Nuklearanlagen zu errichten, durch einen
Ausschluss von Deckungsmöglichkeiten in Deutschland
gänzlich unberührt.
Selbstverständlich gilt für die Bundesregierung, dass
vor der Entscheidung für eine Deckung eine gründliche
Prüfung durchgeführt wird. Eine solche Prüfung ist gerade auch bei Exporten von Nukleartechnologie neben
der Prüfung des Ausfuhrrechts dringend geboten.
Drittens. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen spricht das Projekt Angra 3 in Brasilien an.
Eine Deckung über circa 1,5 Milliarden Euro für den
Weiterbau des Kernkraftwerks Angra 3 wurde beantragt.
Die Bundesregierung hat den Haushaltsausschuss wegen des großen Deckungsvolumens am Mittwoch dieser
Woche über den Antrag unterrichtet. Die Verträge für
den Bau dieses Kernkraftwerks wurden bereits 1976 geschlossen, ruhten jedoch aufgrund der damaligen
Finanzschwierigkeiten Brasiliens. Die vertraglichen
Vereinbarungen sehen allerdings die Verpflichtung zur
Fertigstellung von Angra 3 vor. Die brasilianische Regierung hat sich für die Fertigstellung entschieden.
Dieses Vorhaben bewegt sich auch im Rahmen der
zwischen Brasilien und Deutschland geschlossenen Verträge. So wurde unter der Regierung von Bundeskanzler
Schmidt 1975 das deutsch-brasilianische Abkommen
über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie geschlossen. Das im
Mai 2008 unterzeichnete deutsch-brasilianische Energieabkommen lässt das Abkommen aus 1975 unberührt.
Die Bundesregierung hält das zugrunde liegende Exportgeschäft für förderungswürdig: Erstens sichert der
Exporteur durch diese Exporte für den Weiterbau von
Angra 3 in erheblichem Maße Arbeitsplätze in Deutschland. Zweitens trägt das Projekt zur Sicherung des deutschen Know-hows in der Nukleartechnologie bei, und
drittens hilft dieses Projekt Brasilien, seinen stetig
wachsenden Energiebedarf zu decken und seinen Energiemix zu diversifizieren.
Lassen Sie mich noch zwei weitere, bereits häufig aufgegriffene Punkte ansprechen: Dies betrifft zum einen
die Umweltauswirkungen und zum anderen die Sicherheitsaspekte. Auch das Projekt Angra 3 wurde selbstverständlich nach den OECD-Umweltleitlinien geprüft. Die
Bundesregierung hat einen externen Gutachter beauftragt. Dieser hat die Umweltverträglichkeit und das
Sicherheitskonzept untersucht und ist zu einem positiven
Ergebnis gekommen. Das Projekt hält internationale
und nationale Standards ein.
Zum anderen liegen uns keine Hinweise vor, dass
Brasilien sein Kernenergieprogramm nicht ausschließlich zivil nutzen will. Brasilien hat den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet, an einer atomwaffenfreien
Zone in Südamerika mitgewirkt und den Verzicht auf
Atomwaffen in die Verfassung aufgenommen.
Viertens. Die Bundesregierung wird die Indeckungnahme von Nukleartechnologieexporten selbstverständlich intensiv prüfen. Vor jeder Deckungsentscheidung
schauen wir uns mögliche Auswirkungen - seien es Umwelt- oder seien es Sicherheitsaspekte - genau an. Auf
der Grundlage einer solchen gründlichen Prüfung sind
wir hier zum Ergebnis gekommen, dass die Deckung
übernommen werden sollte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/540 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel,
Marieluise Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rückschiebungen nach Griechenland sofort
aussetzen
- Drucksache 17/449 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auch hier ist in der Tagesordnung ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll gegeben werden. Dabei geht es
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Helmut Brandt, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke
und Josef Philip Winkler.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Bundesregierung auf, weitere Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland im Rahmen
der Dublin-II-Verordnung sofort auszusetzen und die
Prüfung der Asylanträge durch die Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 der
Dublin-II-Verordnung im nationalen Asylverfahren
durchzuführen. Hintergrund des vorliegenden Antrags
sind Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, das seit
September 2009 durch mehrere einstweilige Anordnungen Überstellungen von Asylbewerbern gemäß der
Dublin-II-Verordnung nach Griechenland ausgesetzt
hat. Eine erste Entscheidung in der Hauptsache wird bis
zum Sommer dieses Jahres erwartet.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begründet ihren Antrag damit, eine Fortsetzung von Überstellungen
nicht besonders Schutzbedürftiger nach Griechenland
sei zum einen eine Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts. Zum anderen sei nach Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen in Griechenland der
Zugang zum Asylverfahren nicht gewährleistet.
Den Antrag lehnen wir aus mehreren Gründen ab.
Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen,
Sie versuchen in Ihrem Antrag den Eindruck zu vermitteln, als seien nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Rücküberstellungen nach Griechenland derzeit
unzulässig. Das ist unseriös. Zumindest die Juristen unter Ihnen wissen doch - jedenfalls gehe ich davon aus,
dass sie es wissen -, dass Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts ausschließlich auf einer Abwägung
zwischen den Folgen, die ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung eintreten, wenn die Hauptsache für den
Antragsteller erfolgreich wäre, und den Folgen für den
umgekehrten Fall beruhen. Das heißt, die einstweiligen
Anordnungen, auf die Sie in Ihrer Begründung abstellen,
enthalten gerade keine Aussagen zur Zulässigkeit der
Überstellungen nach Griechenland. Sie enthalten auch
keine Beurteilung der Situation in Griechenland. Vielmehr lassen sie gerade die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde offen.
In diesem Zusammenhang noch Folgendes: Sie sprechen von einer Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts. Meines Wissens haben Sie jedoch bereits vor den
Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts in Anknüpfung an entsprechende Forderungen von UNHCR und
Pro Asyl unter anderem eine vollständige Aussetzung
von Überstellungen gemäß der Dublin-II-Verordnung
nach Griechenland befürwortet. Es wird Sie deshalb sicherlich nicht überraschen, dass ich Ihnen Ihre Besorgnis um das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts
nicht abnehme.
Ihrer Forderung wurde bzw. wird aus folgenden
Gründen nicht entsprochen: Für sogenannte DublinRückkehrer besteht in Griechenland grundsätzlich Zugang zu Asylverfahren. Die griechische Regierung hat
im Jahr 2008 erklärt, dass es aufgrund des unverhältnismäßig hohen Zustroms von Asylbewerbern und Migranten erhebliche Probleme bei der Aufnahme und der
Durchführung von Verfahren gegeben habe, die Lage
sich aber deutlich verbessert habe. Auch der UNHCR
stellt in seinen Studien aus den Jahren 2007 und 2008
fest, dass Dublin-Rückkehrer grundsätzlich die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen.
Griechenland hatte bereits 2007 gegenüber den Dubliner Büros der Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass die sogenannte Abbruchpraxis nicht mehr vollzogen wird. Im
Sommer 2009 hat die griechische Regierung das Asylantragsverfahren dezentralisiert. Es ist aber noch zu früh,
um Aussagen über die Auswirkungen des neuen Verfahrens zu treffen. Die Bewertung der Vereinbarkeit von Regelungen des griechischen Asylrechts mit EG-Recht obliegt im Übrigen der Europäischen Kommission.
Gegen den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
spricht auch, dass bislang Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien und andere
europäische Staaten grundsätzlich Überstellungen gemäß der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland
durchführen. Auch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dieser Mitgliedstaaten sind Rücküberstellungen nach Griechenland möglich. Nach einer Entscheidung des niederländischen Raad van State vom
31. August 2009 kann nach Griechenland überstellt
werden. Der österreichische Asylgerichtshof entschied
am 16. Januar 2009, dass eine Überstellung
nach Griechenland keinesfalls eine Verletzung des
Art. 3 EMRK und somit auch keinen Anlass zur
zwingenden Ausübung des Selbsteintrittsrechtes
Österreichs
darstelle. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Entscheidung vom 2. Dezember 2008 eine
Überstellung nach Griechenland für zulässig erklärt.
Die Bundesregierung geht daher zu Recht nach wie vor
davon aus, dass die griechische Regierung die erforderlichen Maßnahmen ergreift bzw. bereits ergriffen hat, um
die mit dem hohen Zustrom von Migranten und Asylbewerbern verbundenen Schwierigkeiten zu bewältigen.
Zwar erscheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass
gegenwärtig und in Zukunft im Einzelfall noch Schwierigkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren, wie
Einsatz von Dolmetschern, Bereitstellung von Unterkünften, möglich sind. Dies mag auch bei einzelnen
Asylbewerbern zu persönlichen Härten und Schwierigkeiten führen können. Aber der Bundesregierung und
unserer Fraktion liegen keine Hinweise auf gravierende
Verstöße gegen fundamentale Gewährleistungen des
Asylrechts oder Kerngewährleistungen des Flüchtlingsrechts oder der Menschenrechte in Griechenland vor.
Griechenland selbst weist zudem auf eine bevorzugte
Behandlung sogenannter Dublin-Rückkehrer hin.
Ich möchte darüber hinaus auf folgendes Problem
aufmerksam machen: Nur bei einer gerichtlichen Entscheidung zur vorübergehenden Aussetzung verlängern
sich Fristen zur Überstellung. Würde ohne eine gerichtliche Entscheidung von Überstellungen nach Griechenland abgesehen, entstünde wegen Ablaufs der Überstellungsfrist eine deutsche Zuständigkeit zur Durchführung
der Asylverfahren. Das wollen wir nicht.
Außerdem würde der sogenannte Pull-Faktor nach
Deutschland noch weiter verstärkt, wenn durch die zuständigen Behörden generell Dublin-Überstellungen
nach Griechenland ausgesetzt würden. Schon 2009 war
ein sprunghafter Anstieg unerlaubter Einreisen an deutschen Flughäfen bei Flügen aus Griechenland zu verzeichnen. Nach den vorliegenden Feststellungen haben
sich die unerlaubten Einreisen gegenüber 2008 mehr als
vervierfacht. Auch das wollen wir verhindern.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt
der Situation in Griechenland Rechnung, indem es bei
besonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel für
Zu Protokoll gegebene Reden
Minderjährige, für Flüchtlinge hohen Alters oder bei
denen Schwangerschaft, ernsthafte Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder eine besondere Hilfebedürftigkeit
vorliegen, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3
Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung sehr großzügig Gebrauch macht und von einer Überstellung nach Griechenland absieht. So machte das Bundesamt 2009 in
circa 700 Fällen Gebrauch von seinem Selbsteintrittsrecht. Dem standen circa 200 Überstellungen gegenüber. Im Jahr 2008 war das Größenverhältnis noch umgekehrt: 222 Überstellungen standen 130 Selbsteintritten gegenüber. Ich finde, das beweist einen sehr
verantwortungsvollen Umgang des Bundesamtes mit der
tatsächlichen Situation. Ferner wird der Überstellungszeitraum grundsätzlich ausgeschöpft, um so durch eine
zeitliche Streckung der Überstellungen eine Entlastung
Griechenlands zu erreichen.
Es existieren mehrere bilaterale Hilfsangebote:
Deutschland hat Griechenland mehrfach bilaterale Unterstützung bei der Durchführung von Asylverfahren angeboten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
hat schriftlich seine Unterstützung angeboten, zum Beispiel beim Einsatz von Dolmetschern im Asylverfahren,
dem Zugriff auf sein Informationssystem zu Herkunftsländern und bei Recherchen zu länderkundlichen
Themen sowie bei der Zurverfügungstellung von Schulungspersonal und Formblättern. Außerdem wurde
Griechenland die Entsendung eines BAMF-Verbindungsbeamten an die griechische Asylbehörde angeboten. Der Einsatz des Verbindungsbeamten könnte neben
der Unterstützung im Dublin-II-Verfahren auch den
Austausch von Herkunftsländerinformationen oder von
Informationen über Strukturen und Abläufe im Asylverfahren umfassen.
Außerdem möchte ich noch darauf aufmerksam machen, dass Griechenland finanzielle Hilfe der EU, zum
Beispiel aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds, und
voraussichtlich künftig neben der finanziellen Hilfe
auch organisatorische und personelle Unterstützung
vom EU-Asylunterstützungsbüro erhält bzw. erhalten
wird.
Abschließend stelle ich klar, dass kein Zweifel daran
besteht, dass die Bundesregierung bzw. die dafür zuständigen Behörden die Ausübung des in der Dublin-II-Verordnung vorgesehenen Selbsteintrittsrechts gegenüber
Griechenland im Lichte der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts auch weiterhin in jedem Einzelfall
sorgfältig prüfen werden. Der Aussetzungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist damit zurückzuweisen.
Seit Beginn des Jahres 2008 wurden wir verstärkt
durch viele NGOs auf die schwierige Lage von Flüchtlingen in Griechenland und insbesondere bei Rücküberstellungen gemäß der Dublin-II-Verordnung hingewiesen. Es erfolgten Berichte seitens des Innenministeriums
an den Innenausschuss über die Prüfung des Selbsteintrittsrechts bei Dublin-II-Verfahren gegenüber Griechenland. Schließlich hatte ich die Gelegenheit, mir
anlässlich einer Reise einer Delegation des Innenausschusses des Deutschen Bundestages nach Griechenland vom 8. bis 12. Juni 2009 selbst ein Bild über die
Situation der Flüchtlinge und die Durchführung des
Asylverfahrens vor Ort zu machen.
In Griechenland werden jährlich rund 150 000 illegale Flüchtlinge registriert; die Dunkelziffer dürfte aber
viel höher sein. Demgegenüber ist die Ziffer der
jährlichen Erstbearbeitungen von Asylanträgen mit
20 000 auffallend gering. Nicht besser sieht es bei der
Bearbeitung der Einspruchsbescheide in 2. Instanz aus:
Nach einem Bericht des Auswärtigen Ausschuss vom
13. März 2009 werden im Jahr etwa rund 3 000 Einspruchsbescheide bei 30 000 offenen Entscheidungsfällen und jährlich mindestens 10 000 Neuzugängen erteilt.
Allein das Verhältnis dieser Zahlen verdeutlicht gut, was
wir im Rahmen der Delegation als Fazit mit nach Hause
genommen haben: Griechenland hat weder materiell
noch personell die Mittel, um des Flüchtlingsstroms
Herr zu werden.
So werden Flüchtlinge, die erst gar kein Schutzersuchen vortragen, zwar dazu aufgefordert, das Land zu
verlassen; eine Ausreiseüberwachung oder sonstige Betreuung findet aber nicht statt. Zudem sind Rückführungen von Griechenland in andere Länder meistens problematisch. Insbesondere Rückführungen in die Türkei,
dem Land also, aus dem fast alle asiatischen und afrikanischen Flüchtlinge nach Griechenland einreisen, können kaum durchgeführt werden. Die Flüchtlinge werden
schlicht sich selbst überlassen.
Nicht viel besser sieht die Situation der Asylantragsteller aus. Diese werden zwar im besten Fall als Asylsuchende registriert und erhalten ein „rosa Dokument“
mit einer Gültigkeitsdauer von sechs Monaten. Mit dieser Bescheinigung halten sie sich legal in Griechenland
auf und sind berechtigt, zu arbeiten. Theoretisch haben
sie einen Anspruch auf Unterkunft, Gesundheitsversorgung und ein Recht auf Zugang zu Bildung. In der Praxis
können diese Rechte aufgrund von Kapazitätsmängeln
- es soll zum Beispiel nur rund 700 Wohnplätze für Asylbewerber geben - selten gewährleistet werden. Das Problem beginnt allerdings schon damit, dass längst nicht
alle Flüchtlinge die tatsächliche Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen und sich registrieren zu lassen.
Die große Mehrheit der Asylanträge wird bei der
Ausländerbehörde in der „Petrou Ralli-Straße“ in Athen
bearbeitet. Diese hat eine Kapazität zur Bearbeitung
von maximal 80 Fällen am Tag, also maximal 400 Anträgen in der Woche und im besten Fall 20 000 im Jahr.
Aus eigener Anschauung weiß ich, dass es vielen Flüchtlingen erst gar nicht gelingt, zu einem Schalter in der
Ausländerbehörde vorzudringen. Wir haben bei unserer
Delegationsreise gesehen, dass Flüchtlinge unter freiem
Himmel zu Hunderten vor der Ausländerbehörde anstehen, um überhaupt erst einen Termin zur Vorsprache zu
erhalten. In der Praxis werden auch sie zumeist sich
selbst überlassen. Uns wurde zwar gesagt, dass die Ausländerbehörde in Athen Dublin-II-Fälle bevorzugt behandelt; doch angesichts der geschilderten Eindrücke
habe ich erhebliche Zweifel an der Durchführbarkeit
dieser Aussage.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das in dem Antrag angesprochene Beobachtungsergebnis internationaler Menschenrechtsorganisationen, dass die Situation für Asylsuchende in Griechenland seit langem gegen internationale und europäische
Standards für Verfahren zur Überprüfung der Flüchtlingseigenschaft verstößt und dass vor allem der Zugang
zum Asylverfahren nicht gewährleistet ist, deckt sich
mithin mit den Erfahrungen der Teilnehmer der Delegationsreise des Innenausschusses nach Griechenland.
Von den gravierenden humanitären und sozialen Problemen bis hin zu sozialer Verelendung, die aus dem Fehlen
fast jeglicher staatlicher Fürsorge für Flüchtlinge resultieren, konnten wir uns vor Ort leider selbst überzeugen.
Entscheidend ist aber schließlich, dass sich das Bundesverfassungsgericht in sechs Beschlüssen dafür ausgesprochen hat, im Eilverfahren die Überstellung nach
Griechenland in Dublin-II-Fällen zu stoppen. Das
oberste deutsche Gericht hielt in diesen sechs Beschlüssen die Verletzung elementarer Rechte für die Zurückzuführenden für möglich. Im Beschluss 2 BvQ 56/09 führt
das Bundesverfassungsgericht aus, dass „bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die
Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt“ sei, „sollte ihm, wie von ihm, gestützt auf ernstzunehmende Quellen, befürchtet, in Griechenland eine
Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Obdachlosigkeit drohen“. Und die Gefahr der Obdachlosigkeit realisiert sich für Flüchtlinge täglich hundertfach in Griechenland.
Wenn selbst das Bundesverfassungsgericht die Gefahr sieht, dass die Rechte von Flüchtlingen bei einer
Rückführung nach Griechenland verletzt werden, so
darf sich die Bundesregierung dem nicht verschließen.
Es kann nicht sein, dass sie die Rechte von Flüchtlingen
weiter sehenden Auges gefährdet. Rückführungen nach
Griechenland im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens sind
zumindest bis zur Entscheidung in der Hauptsache des
Bundesverfassungsgerichts auszusetzen und die Prüfung
des Asylantrages im Wege des Selbsteintrittsrechts
durchzuführen.
Ich möchte hier kurz erwähnen, dass es uns immerhin
schon unter der Großen Koalition gelungen ist, zusammen mit dem Bundesministerium des Innern und dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine flexible
Rückführungspraxis einzuführen, die besonders schutzbedürftige Personen von der Rückführung nach Griechenland ausgenommen hat. An dieser Stelle muss jedoch deutlich gesagt werden, dass wir uns in Zukunft als
Europäer konkrete Gedanken über die Entwicklung eines echten Lastenteilungssystems in der EU machen
müssen, das die Dublin-II-Verordnung als reinen Zuständigkeitsmechanismus sinnvoll ergänzt.
Die Vermeidung der konstanten einseitigen Überlastung einzelner Staaten wie zum Beispiel Malta oder eben
Griechenland ist erstens Voraussetzung für einen effektiven Flüchtlingsschutz und zweitens ein Gebot europäischer Solidarität. In diesem Sinne hat sich während unserer Delegationsreise nach Griechenland unsere Sorge
bezüglich einiger hundert Zurückgeführter im Rahmen
von Dublin II hin zu dem Massenphänomen der totalen
Verelendung von Flüchtlingen in den vollkommen überlasteten Staaten der EU-Außengrenzen gewendet. Für
heute empfehle ich jedoch aus den genannten Gründen
die Zustimmung zu dem Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen.
Ziel der Dublin-Verordnung ist es, den EU-Mitgliedstaat festzulegen, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen gestellten Asylantrages zuständig ist. Dadurch soll verhindert werden, dass eine Person in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen
Union einen Asylantrag stellt. Zuständig ist meist der
Mitgliedstaat, den der Antragsteller als Erstes in der EU
betreten hat. Eine wichtige praktische Folge aus dieser
Verordnung ist, dass ein unzuständiger Mitgliedstaat die
entsprechenden Drittstaatsangehörigen an den als zuständig festgestellten Mitgliedsstaat abschiebt. Dort soll
dann ein entsprechendes Asylverfahren durchgeführt
werden.
Die Abschiebungen nach Griechenland stehen bereits
seit längerer Zeit unter massiver Kritik von den bekannten Organisationen Pro Asyl, Amnesty International und
UNHCR. Hauptprobleme sind dabei: Griechenland hat
eine besonders geringe Anerkennungsquote für Asylsuchende. Asylsuchende werden bereits für die Durchführung von Asylverfahren in Haftanlagen untergebracht.
Oft können sie gar keinen Asylantrag stellen. Anwaltliche Vertretung wird ihnen nicht gewährt. In die Überlegungen muss andererseits sicherlich mit einbezogen
werden, dass Griechenland aufgrund seiner geografischen Lage eine besonders hohe Anzahl an Flüchtlingen
aufzunehmen hat. Auch wird von allen Seiten, einschließlich des UNHCR und der EU, darauf hingewiesen, dass Griechenland in den letzten Jahren erhebliche
Anstrengungen unternommen habe, um die Bedingungen
bei den Asylverfahren zu verbessern, jedoch besteht
nachweislich noch deutlicher Nachholbedarf.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesrepublik Deutschland auf dem letzten Rat der Justiz- und Innenminister
ihre Hilfe gegenüber Griechenland in praktischer Art
angeboten hat. Staatssekretär Peter Altmaier führte im
Innenausschuss vom 18. Juni 2008 aus, dass sich das
Angebot der Bundesregierung auf die Entsendung von
Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge bezog. Diese sollten bei der Bewältigung
der praktischen Probleme Hilfe leisten. Das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge ist besonders angewiesen, jeden Einzelfall der Rücküberstellung nach Griechenland sorgfältig zu überprüfen. Nach Angabe von
Pro Asyl werde auch generell bei besonders schutzwürdigen Gruppen, wie Minderjährigen und Kranken beispielsweise, in Einzelfällen jeweils von der Abschiebung
abgesehen. Es erscheint jedoch angesichts der prekären
Lage der Asylantragsteller in Griechenland sinnvoll,
momentan auf Rücküberstellungen dorthin zu verzichten. Die Bundesregierung sollte daher generell von ihrem Selbsteinstrittsrecht Gebrauch machen. Ein generelles Selbsteintrittsrecht nimmt momentan innerhalb
Europas ausschließlich Norwegen wahr. Die diesbezügliche Forderung der Grünen läuft letztlich auf eine deutZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
sche Sonderolle hinaus. Dies ist auf Dauer nicht vernünftig. Griechenland sollte nicht von seiner unabweisbaren
Verpflichtung der Einhaltung der Menschenrechtsstandards bzw. der Vorgaben der EU bei den Asylverfahren
entbunden werden.
Allerdings ist mittelfristig eine gerechtere Verteilung
der Lasten anzustreben. Da gerade die Bundesrepublik
Deutschland in den 90er-Jahren die Hauptlast der Balkan-Flüchtlinge getragen hat, liegt die Verantwortung
nun eigentlich bei anderen Staaten der EU. Es wäre
wünschenswert, wenn auch die Grünen ihre an sich berechtigte Kritik vor allem an die Regierung Griechenlands, aber auch anderer EU-Staaten richteten, und
nicht die Missstände in Griechenland zulasten Deutschlands entschuldigen. Wenn Europa flüchtlingsfreundlicher werden soll, darf kein Staat aus seiner Verantwortung für ein korrektes Verfahren entlassen werden. Der
Antrag der Grünen ist aber ein Aufruf, die Situation in
Griechenland zu lassen, wie sie ist, und die Probleme
einfach nach Deutschland zu verlagern. Das ist inakzeptabel.
Das Bundesverfassungsgericht hat in den vergangenen Monaten in mehreren Fällen entschieden, dass über
Griechenland eingereiste Asylbewerber nicht zurückgeschoben werden dürfen. Nach der geltenden Rechtslage
müssen Flüchtlinge in dem Staat ihr Asylverfahren betreiben, über den sie in die EU eingereist sind. In sechs
Fällen hat das höchste deutsche Gericht die Rückschiebungen per einstweiliger Anordnung ausgesetzt.
Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung keine
Veranlassung sieht, von Rücküberstellungen nach Griechenland generell Abstand zu nehmen und das Asylverfahren in Deutschland zu betreiben. Wie eine Kleine Anfrage unserer Fraktion ergeben hat, gibt es ja nicht nur
die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
Auch zahlreiche Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte haben in die gleiche Richtung entschieden. Sogar
das bayerische Staatsministerium des Innern hat angewiesen, von Rücküberstellungen nach Griechenland zunächst abzusehen. Nur die Bundesregierung stellt sich
wieder einmal stur und schiebt Asylbewerber ins Elend
ab. Denn genau das droht ihnen in Griechenland, weil
die Versorgung von Flüchtlingen dort weiterhin die EUStandards verletzt. Das wird sich angesichts der schweren Haushalts- und Finanzkrise in Griechenland auch
erst einmal nicht ändern.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinen Entscheidungen auf diese Zustände im griechischen Asylsystem berufen. Das Gericht hat vor diesem Hintergrund
aber auch allgemein Zweifel an der sogenannten Sichere-Drittstaaten-Regelung geäußert. Nach dieser Regelung gilt ein Asylantrag in Deutschland als unerheblich, wenn der Antragsteller über einen sicheren
Drittstaat eingereist ist. Ob dieser Drittstaat im konkreten Fall wirklich sicher ist, wird im Asylverfahren nicht
mehr geprüft. Auf dieser Grundlage funktioniert auch
das Asylsystem der EU. In diesem Sinne will das Bundesverfassungsgericht seine eigene Rechtsprechung
noch einmal grundsätzlich überdenken.
Daran anknüpfend, fordert die Fraktion der Grünen
nun, dass keine Asylbewerber mehr nach Griechenland
überstellt werden sollen. Bis das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entschieden hat, solle die Bundesrepublik das Asylverfahren durchführen. Diese Forderung ist in der aktuellen Situation nahe liegend und
richtig. Aber sie geht am Kern des Problems vorbei. Der
liegt ganz woanders: Selbst die EU-Kommission musste
inzwischen einräumen, dass die EU weit davon entfernt
ist, ein harmonisches Asylsystem geschaffen zu haben,
das wirklich allen Flüchtlingen in jedem Land gleiche
Chancen bietet, erfolgreich ein Asylverfahren zu durchlaufen.
Die Zahlen sind ja bekannt: Während beispielsweise
Tschetschenen in einigen EU-Staaten keine Chance auf
Asyl haben, werden sie in anderen Ländern als Flüchtlinge anerkannt. Auch bei irakischen Flüchtlingen gibt
es EU-weit ganz unterschiedliche Anerkennungsquoten.
Davon abgesehen gibt es für jeden Flüchtling auch andere gute Motive, sich ein bestimmtes Land als Aufnahmeland auszusuchen.
Die Linke hat aus all diesen Gründen bereits in der
letzten Legislaturperiode gefordert, dass Asylsuchende
ihr Aufnahmeland eigenständig aussuchen können. Damit soll auch dem Problem begegnet werden, dass Staaten an den Außengrenzen der EU, die sich mit der Zahl
der Asylsuchenden in ihrem Land überfordert sehen,
nicht zu einer äußerst restriktiven Anerkennungs- und
Aufnahmepraxis greifen, um weitere Flüchtlinge abzuschrecken.
Die Bundesregierung, sowohl die letzte als auch die
amtierende, betätigt sich auf europäischer Ebene als
Bremserin des Ausbaus eines harmonisierten europäischen Asylsystems. Beispielsweise hat sich Wolfgang
Schäuble in die Phalanx derer eingereiht, die aus dem
Europäischen Asylbüro einen zahnlosen Papiertiger gemacht haben. Die Äußerungen seines Nachfolgers lassen vermuten, dass die Misere des europäischen Asylsystems weitergehen wird.
Der Antrag der Fraktion der Grünen ist uns in diesem
Sinne nicht weitgehend genug. Jenen Schutzsuchenden,
denen die Rückschiebung nach Griechenland droht,
muss selbstverständlich geholfen werden. Das kann aber
die Weiterentwicklung des Flüchtlingsschutzes in der
Europäischen Union nicht ersetzen.
Das Bundesverfassungsgericht hat unterdessen die
Aussetzung der Abschiebung von Asylsuchenden nach
Griechenland im Rahmen des EU-Verteilungssystems,
der Dublin-II-Verordnung, in acht Einzelfällen angeordnet. Das Gericht stützt sich dabei auf „ernst zu nehmende Quellen“, wonach eine ordnungsgemäße Registrierung als Asylsuchender in Griechenland unmöglich
sein könnte. Trotz der mittlerweile ergangenen acht
einstweiligen Anordnungen des BundesverfassungsgeZu Protokoll gegebene Reden
richts betreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weiterhin die Rückschiebung von Asylsuchenden
nach Griechenland. Dies wollen wir mit dem vorliegenden Antrag verhindern.
Denn das Asylverfahren in Griechenland ist weiterhin eine Frage des Zufallsprinzips. Nicht nur Pro Asyl
und Human Rights Watch, sondern auch der UNHCR
berichten, dass das Asylverfahren in Griechenland in
vielerlei Hinsicht an erheblichen Mängeln leidet. Von einem fairen Verfahren, wie es nach dem internationalen
Flüchtlingsrecht und den EU-Richtlinien über die Aufnahme von Flüchtlingen, die Durchführung des Asylverfahrens und die Kriterien für die Anerkennung als
Flüchtling vorgesehen ist, kann man nicht sprechen. So
kommen Inhaftierungen ohne Haftgrund vor, Dolmetscher bei der Befragung über die Fluchtgründe sind
nicht garantiert, es gibt keine Unterbringung während
des Asylverfahrens, der Zugang zur zentralen Asylbehörde in Athen ist nur an einem einzigen Tag möglich.
Dies alles räumt das BMI auch in zahlreichen Stellungnahmen an den Petitionsausschuss des Bundestages ein,
will die Menschen aber dennoch weiter zurückschicken.
Das ist aus grüner Sicht untragbar, denn Deutschland
trägt angesichts dieser dem Bundesinnenministerium
schon länger bekannten Situation in Griechenland gerade auch für rücküberstellte Personen aus Deutschland
eine Mitverantwortung. Aus unserer Sicht sollte
Deutschland die Asylverfahren hier in Deutschland
durchführen.
Auch bei hohen Zugangszahlen von Asylantragstellern muss ein faires Verfahren unter Einhaltung der Mindeststandards aus der EU-Flüchtlingsaufnahme-Richtlinie, der EU-Asylverfahrens-Richtlinie und der EUQualifikations-Richtlinie erfolgen.
Die südlichen Außengrenzländer der EU haben mit
einer großen Zahl schutzsuchender Menschen zu tun:
Griechenland vor allem mit Flüchtlingen aus dem Irak,
Afghanistan, Iran. Viele dieser Menschen haben
schwerste Menschenrechtsverletzungen durchlitten und
suchen nach einem sicheren Platz. Deutschland sollte
sich intensiv für eine Neuregelung der Verteilungsregelung innerhalb der EU einsetzen. Bis zu einer Neuregelung darf aber das Prinzip der „Verknappung von
Zugangsmöglichkeiten zum Asylverfahren“ in Griechenland nicht weiterpraktiziert werden. Denn es trifft Opfer
von Menschenrechtsverletzungen. Dies ist nicht hinzunehmen.
Bestätigt in dieser Haltung fühlen wir uns auch durch
das Bundesverfassungsgericht: Dieses hat erneut mit
Beschluss vom 8. Dezember 2009 ({0}) die
Aussetzung der Abschiebung eines Asylsuchenden nach
Griechenland im Rahmen des EU-Verteilungssystems
({1}) angeordnet. Dafür
war wie in dem der einstweiligen Anordnung vom
8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 - zugrunde liegenden
Fall ausschlaggebend, dass möglicherweise bereits mit
der Abschiebung oder in ihrer Folge eintretende Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden könnten.
Zwar wird die Rückschiebung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge nach Griechenland in der Regel
nicht vollzogen, die Argumentation des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge, dass man von Asylbewerbern, die nicht besonders schutzbedürftig sind, erwarten
könne, dass sie auch unter gegebenenfalls erschwerten
Bedingungen das Asylverfahren in Griechenland durchführten - Drucksache 16/14149 ({2}) -, ist aber menschenrechtlich höchst bedenklich.
Die Antragsteller der bisherigen positiven Eilverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gehörten gerade
nicht dem Kreis besonders schutzbedürftiger Personen
an, bei denen die Bundesrepublik Deutschland vom
Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin-IIVerordnung Gebrauch macht.
Wenn aber das Bundesverfassungsgericht die Verletzung elementarer Rechte in Griechenland für möglich
hält und deswegen nach einer Abwägung die Rückführung unterbindet, darf sich die Bundesregierung dem
nicht verschließen. Dennoch Rückführungen vorzunehmen, ist nicht nur eine Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts, sondern heißt auch, die Menschenwürde
der Asylsuchenden sehenden Auges zu gefährden.
Daher fordern wir, Rückschiebungen nach Griechenland im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens sofort bis zur
Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszusetzen und die Prüfung der Asylanträge im
Rahmen des Selbsteintritts im nationalen Asylverfahren
durchzuführen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/449 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 29. Januar 2010, 9 Uhr,
ein.
Ich schließe die Sitzung, wünsche Ihnen allen noch
einen schönen Abend und den Freunden aus der FDP
eine schöne Geburtstagsfeier.