Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/28/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie herzlich. Der Kollege Günter Gloser hat gestern seinen 60. Geburtstag gefeiert. Dazu möchte ich ihm im Namen des Hauses herzlich alle guten Wünsche übermitteln. ({0}) Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten kön- nen, müssen wir noch eine Reihe von Nachwahlen zu Gremien durchführen. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, anstelle der Kollegin Beatrix Philipp den Kollegen Johannes Röring zum stellvertretenden Mit- glied der Parlamentarischen Versammlung des Euro- parates und der Versammlung der WEU zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist der Kollege Röring damit gewählt. Die CDU/CSU-Fraktion schlägt ferner vor, als Nach- folgerin des Kollegen Hartmut Koschyk die Kollegin Dorothee Bär zum stellvertretenden Mitglied des Stif- tungsrats der Kulturstiftung des Bundes zu wählen. Darf ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist augenscheinlich der Fall. Dann ist auch die Kollegin Bär damit gewählt. Die nächste Nachbesetzung betrifft den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenver- kehr. Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll die Kollegin Lucia Puttrich Nachfolgerin der Kollegin Julia Klöckner werden. - Auch hierzu kann ich keine ernsthaften Einwände erkennen und stelle damit wie- derum das Einvernehmen zur Wahl der Kollegin Puttrich fest. Schließlich hat die Kollegin Sibylle Laurischk bedau- erlicherweise ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. - Ich bin durch den offenkundigen Eindruck, dass Sie meine Enttäuschung teilen, mindestens ein wenig getrös- tet. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kol- legen Torsten Staffeldt vor. - Auch dazu gibt es offen- sichtlich Einvernehmen. Dann ist damit der Kollege Torsten Staffeldt zum Schriftführer bestellt. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesregierung - Drucksache 17/500 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2009/10 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 17/44 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ({3}), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Für eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft Nachhaltiges Wachstum und mehr Beschäftigung schaffen - Drucksache 17/521 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zukunftsprogramm für 2 Millionen Arbeitsplätze - Drucksache 17/470 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Finanzausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle. ({6})

Rainer Brüderle (Minister:in)

Politiker ID: 11003059

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern habe ich den Jahreswirtschaftsbericht vorgestellt. Er trägt die Überschrift „Mit neuer Kraft die Zukunft gestalten“. Deutschland kann gestärkt aus der Krise hervorgehen. Deutschland hat die Kraft, und die christlich-liberale Koalition hat die Kraft, dies umzusetzen. ({0}) Die Prognosen sind längst nicht mehr so düster wie im Herbst: 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum und 3,7 Millionen Arbeitslose. Das hätte Rot-Grün mit Sicherheit als grandiosen Boom verkauft. Wir sind da vorsichtiger. Auch wenn es Chancen gibt, dass es besser läuft und die Prognosen höher liegen, kann es Rückschläge geben; das wissen wir alle. Wir fahren noch immer auf Sicht. Aber die liberal-christliche Koalition hat einen Kompass. Unser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft. ({1}) Deutschland muss jetzt das Potenzial für dauerhaftes, selbsttragendes Wachstum wieder aufbauen. Wir brauchen einen höheren Wachstumspfad. Das Wachstumspotenzial wird durch technischen Fortschritt, flexible Arbeitsmärkte, Wettbewerb auf den Gütermärkten, eine niedrige Steuerbelastung und solide Staatsfinanzen gestärkt. Technischer Fortschritt und Wachstumspotenzial: Forschung und Bildung sind die Schlüssel zu technischem Fortschritt, zu künftigem Wohlstand. Die Koalition wird die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2013 um 12 Milliarden Euro erhöhen. ({2}) Das Geld ist das eine, meine Damen und Herren, die Einstellung zu neuen Technologien das andere. Die Koalition setzt hier auf eine Ermöglichungskultur. Wir wollen keine Verhinderungs- oder gar Verteufelungskultur. Wir betonen Chancen neuer Technologien. Wir betonen bei CCS, dass dies vielleicht eine Möglichkeit ist, CO2-arm Kohlestrom zu erzeugen. ({3}) Wir betonen bei der Elektromobilität, dass sie vielleicht eine Möglichkeit ist, das Auto des 21. Jahrhunderts zu erfinden. Wir betonen bei der Grünen und Roten Gentechnik, dass sie vielleicht die Möglichkeiten zur Bekämpfung von Hungerkatastrophen und zur Heilung von Krankheiten bieten wird. ({4}) Es gibt ethische Komponenten des Fortschritts, ich kenne ebenso die ethischen Gegenargumente und respektiere sie, aber Fortschritt per se zu verteufeln, halte ich für falsch, auch ethisch für falsch. ({5}) Flexible Arbeitsmärkte und Wachstumspotenzial: Der robuste Arbeitsmarkt ist das Verdienst von Strukturveränderungen in Deutschland. ({6}) Früher hatten wir die Debatte über „Jobless Growth“, Wachstum ohne Beschäftigungseffekte. Mit Blick auf die Wirtschaftskrise ist man fast versucht zu sagen: Wir haben „Growthless Jobs“, Beschäftigungsstabilität trotz des Wachstumseinbruchs, den wir zu verzeichnen haben. Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen. Die Tarifpartner haben flexible Lohn- und Arbeitszeitstrukturen geschaffen. Das hat sich in der Krise ausgezahlt. Die Gewerkschaften haben diese Vereinbarungen nicht „betriebliche Bündnisse“ genannt; sonst wären sie bei Teilen der Opposition vielleicht in den Verdacht des Neoliberalismus geraten. Die Tarifpartner haben pragmatische, verantwortungsvolle Lohnpolitik betrieben. Ich kann sie in diesem vernünftigen Kurs nur bestärken. Auch der Staat hat seinen Beitrag zur flexiblen Krisenbewältigung am Arbeitsmarkt geleistet. Die Kurzarbeiterregelung hilft den Unternehmen, ihre Belegschaften zu halten. Ich sage aber auch deutlich: Kurzarbeit ist ein für den Staat wie für die Unternehmen teures Instrument. Eine Dauersubventionierung darf es nicht geben. Wettbewerb und Wachstumspotenzial: Wir brauchen mehr Wettbewerb, um aus der Krise zu kommen. Wettbewerb belebt die Wirtschaft. Für manche ist das unangenehm, manchmal auch in der Politik. Aber Wettbewerb ist das beste Entdeckungsverfahren, ein Garant für Dynamik. Marktbeherrschende Unternehmen können wie Mehltau auf unserer vitalen Wirtschaft liegen. Deshalb wollen wir die Möglichkeit der Entflechtung marktbeherrschender Unternehmen schaffen. Das amerikanische Recht kennt dieses Instrument schon seit mehr als 100 Jahren. Es kam zwar nur in wenigen Fällen zur Anwendung, aber allein das Drohpotenzial veranlasst manche Unternehmen zu wettbewerbskonformem Verhalten. Selbst wenn man nicht in die Schlacht zieht, kann es gut sein, ein scharfes Schwert zu haben. Das Bundeskartellamt soll dieses Schwert haben; dort ist es in guten Händen. Es wird nicht so sein, dass die Politik willkürlich etwas gestalten oder zerschlagen kann. Nein, es wird ein rechtsstaatliches Verfahren werden, ohne politische Willkür. Geringe Belastung bei Steuern und Wachstumspotenzial: Dauerhaftes Wachstum erreichen wir nur mit niedrigen Steuern. Den ersten Schritt haben wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht; er ist auch bitter nötig. Der private Konsum bleibt in diesem Jahr schwach. Die Vorzieheffekte aufgrund der Abwrackprämie sorgen für eine spürbare Delle. Ein zweiter Schritt wird folgen. Wir werden das Steuersystem mit einem Stufentarif einfacher und gerechter machen, wir werden die Belastung spürbar senken. Dazu bekennt sich die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht erneut. ({7}) Genauso bekennt sie sich zu einem ehrgeizigen Konsolidierungspfad ab dem Jahr 2011. Beides gehört zusammen. ({8}) Deutschlands Schuldenbremse ist ehrgeiziger als der europäische Stabilitätspakt, und das ist richtig. Deutschland muss Stabilitätsanker in Europa bleiben. Wir sind die größte Wirtschaftsnation der EU. An uns hängt viel, auf uns wird besonders geachtet, wir haben eine Vorbildfunktion für die wirtschaftliche Stabilität in Europa, und wir werden ihr gerecht werden. Einige Eurostaaten zeigen gefährliche Schwächen. Das kann fatale Auswirkungen auf alle Staaten der Eurozone haben. Es gibt keine flexiblen Wechselkurse im Euroraum mehr. Zu starke Ungleichgewichte zwischen den Staaten können zu erheblichen volkswirtschaftlichen Spannungen führen. Ein Bail-out, eine Gemeinschaftslösung für nationale Schieflagen, sollte es nicht geben. Jedes Land muss zunächst selbst seine Hausaufgaben machen. Die Mitgliedstaaten stehen jeder für sich in der Verantwortung. Die kann ihnen niemand abnehmen. ({9}) Bei den Schieflagen in einigen Euroländern ist es wichtig, dass angesichts der Krise die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa besser koordiniert werden müssen. Die EU braucht eine enge Exit-Strategie aus den Notmaßnahmen, die ergriffen worden sind. Daraus darf aber nicht der Nukleus einer europäischen Wirtschaftsregierung werden. Wir sollten darauf achten, dass der Subsidiaritätsgedanke auch in der EU-Strategie 2020 angemessene Beachtung findet. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten hat im großen Ganzen adäquat auf die Wirtschaftskrise reagiert. Auch die EZB hat Beachtliches geleistet. Eine Deflation konnte glücklicherweise verhindert werden. Dazu waren unorthodoxe Maßnahmen notwendig. Dabei musste das Risiko der Inflation in Kauf genommen werden. Ich bin optimistisch, dass die EZB auch den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus den unorthodoxen Maßnahmen finden wird. Dann ist die Gefahr eines rapide steigenden Preisniveaus ebenfalls gebannt. Gewöhnungseffekte an zu niedrige Zinsen dürfen nicht eintreten. Es gibt manche Beobachter, die angesichts der niedrigen Zinsen vor der nächsten Blase warnen. Die internationale Staatengemeinschaft muss ein kräftiges Signal an die Finanzmärkte aussenden. Die Staaten sind mehr als ein großer Bankensicherungsverein. Sie müssen die Leitplanken für die Märkte neu gestalten. Es geht um die Rückkehr zu Maß und Mitte. Deutschland tritt seit längerem für strengere Regeln ein. Auf dem Gipfel in Pittsburgh wurden erste Schritte beschlossen. Jetzt geht es um die Konkretisierung. Durch die aktuellen Äußerungen von Präsident Obama hat die Diskussion über die internationale Finanzarchitektur eine zusätzliche Dynamik bekommen. Ich will sie im Detail nicht bewerten, aber das Signal ist wichtig. In Amerika hat man erkannt, dass wir strengere Regeln brauchen. Für Deutschland ist klar: Die G 20 sind für die Regulierungsfragen der richtige Rahmen. Im Kern müssen alle Maßnahmen auf eine Reduzierung des Moral Hazard, wie die Ökonomen es nennen, hinauslaufen. Wenn jemand im Finanzsektor weiß, dass der Staat eingreift, wenn etwas schiefläuft, dann wird er sich selten ordentlich verhalten. ({10}) Wir brauchen spürbare Maßnahmen, die jedem am Finanzmarkt klarmachen: Der Staat kann auch anders. Der Finanzsektor muss sich angemessen an den Kosten der Krisenbewältigung beteiligen. Die Einschätzung meines Kollegen Schäuble hierzu teile ich uneingeschränkt. Auch seine Überlegung zur Managervergütung geht in die richtige Richtung. Wir brauchen eine neue Verantwortungskultur in der Finanzbranche. Man kann bessere Eigenkapitalregeln einführen. Man kann Zweckgesellschaften stärker regulieren. Man kann die Aufsicht verbessern. Das tun wir auch. All das sind richtige Maßnahmen. Kern aber bleiben die Marktteilnehmer selbst. Ihnen muss bewusst gemacht werden: Ihr haftet am Ende für euer Risiko und nicht der Steuerzahler. ({11}) Meine Damen und Herren, das Ziel dieser Bundesregierung ist es, die soziale Marktwirtschaft wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Die Zusammenhänge von Risiko und Haftung, von Eigenverantwortung und Leistung müssen wieder deutlich werden. Der Staat muss den Bürgern und den Unternehmen wieder mehr Freiräume geben. Freiräume bedeuten Chancen; aber sie bedeuten auch Verantwortung. Das Verhältnis von Staat zu Privat, die Balance zwischen privaten und staatlichen Entscheidungsmöglichkeiten müssen mit dem Abklingen der Krise neu ausbalanciert werden. Daran werden wir arbeiten. Der Jahreswirtschaftsbericht gibt die Richtung für die marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands vor. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Hubertus Heil ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft beinhaltet der Jahreswirtschaftsbericht drei Punkte: Es geht darum, deutlich zu machen, welche wirtschafts- und finanzpolitischen Ziele eine Regierung hat. Es geht um die geplanten Maßnahmen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Nicht zuletzt ist der Wirtschaftsminister, also Sie, Herr Brüderle, aufgerufen, mit dem Jahreswirtschaftsbericht eine Stellungnahme zum Jahresgutachten des Sachverständigenrates abzugeben. Wer Ihre Rede gerade gehört hat, hat festgestellt: Sie haben kein Wort zu dem gesagt, was die Sachverständigen Schwarz-Gelb ins Stammbuch geschrieben haben. Das ist kein Wunder; denn das, was Sie da veranstalten, ist aus Sicht der Sachverständigen ziemlich peinlich. ({0}) Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten eine Überschrift gewählt, die erstaunlich ist. An Ihre Adresse gewandt, formuliert er die Warnung, die Zukunft nicht zu verspielen. Wir können es auch konkreter machen. Der Sachverständigenrat sagt: Wenn in diesem Jahr nicht die richtigen Entscheidungen getroffen werden, dann droht Deutschland dauerhaft eine Wachstumsschwäche zulasten von Wohlstand und Beschäftigung. Der Sachverständigenrat sagt auch, dass das, was Schwarz-Gelb mit dem Koalitionsvertrag und dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das nichts anderes als ein Klientelbedienungsgesetz ist - ich komme gleich dazu -, in die Wege leitet, nicht angetan ist, Wachstum wirklich zu generieren. Auch das von Ihnen angestrebte Betreuungsgeld wird vom Sachverständigenrat als wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch kontraproduktiv angesehen. Nicht zuletzt warnen alle Mitglieder des Sachverständigenrates vor dem, was Sie in der Steuerpolitik vorhaben, nämlich Steuersenkungen auf Pump und ohne Gegenfinanzierung. Das ist ein Armutszeugnis. Das, was Sie heute in diesem Zusammenhang verschwiegen haben, ist ein wirtschaftspolitischer Offenbarungseid der schwarz-gelben Bundesregierung. ({1}) Herr Brüderle, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Diese Bundesregierung und auch Sie scheinen in dieser Phase den Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Sie haben keine Konzepte und keine Ideen. Wenn Sie doch einmal Ideen haben, dann gehen sie in die falsche Richtung. Wollen wir das einmal miteinander durchgehen. Es ist richtig, dass wir im letzten Jahr durch die Weltfinanzund Weltwirtschaftskrise den tiefsten wirtschaftlichen Einbruch hatten; er lag bei minus 5 Prozent. Dass Deutschland am Arbeitsmarkt und in der Binnennachfrage bis dato robuster als andere durch diese Krise gekommen ist, das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat etwas damit zu tun, dass die damalige Bundesregierung, namentlich die Minister Steinbrück, Steinmeier und Scholz, in der Krise das Richtige vorgeschlagen und durchgesetzt hat, bei der Bankenrettung, bei den Konjunkturpaketen und bei der verlängerten Kurzarbeit. ({2}) - Es ist richtig: Diese Regierung ist abgewählt worden. Aber ihre Maßnahmen wirken noch. Allerdings verlassen Sie diesen Wachstumspfad. Herr Brüderle, Sie kritisieren etwas, was wir mit Frau Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam beschlossen haben, nämlich die Umweltprämie. Dazu will ich Ihnen sagen: Natürlich ist es ein unkonventionelles Instrument gewesen; aber es hat schnell gewirkt. Es hat die Binnennachfrage stabilisiert, einen Einbruch verhindert, und es hat Tausende von Arbeitsplätzen bei Automobilzulieferern und ähnlichen Unternehmen, auch in meiner Heimatregion, gesichert. ({3}) Das jetzt madig zu machen, ist ziemlich billig. Sie profitieren doch von diesen Maßnahmen. ({4}) In der jetzigen Situation werden die Wachstumszahlen durch eine leicht anspringende Exportkonjunktur erfreulicherweise zwar etwas besser. Aber, Herr Brüderle, ob Sie 1,4 oder 1,5 Prozent oder, wie einige Institute prognostizieren, 2 Prozent erzielen, ({5}) all das reicht nicht aus, um den Einbruch, der durch die Nichtauslastung der Kapazitäten unserer Wirtschaft droht, tatsächlich auszugleichen. Deshalb wird die Arbeitslosigkeit dieses Jahr steigen. Deshalb wäre es geboten, dass diese Bundesregierung sagt, was dagegen zu Hubertus Heil ({6}) tun ist. Stattdessen tun Sie nichts, um zum Beispiel die Binnennachfrage zu stärken. Im Gegenteil, Sie verunsichern die Menschen, ({7}) indem Sie verschweigen, an welchen Stellen Sie nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kürzen wollen. Das führt zu Kaufzurückhaltung. Die Menschen wissen doch: Das dicke Ende kommt noch. Legen Sie Ihre Pläne, Herr Schäuble, wo Sie zuschlagen wollen, auf den Tisch. Wollen Sie angesichts der steigenden Zahl von Arbeitslosen den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erhöhen? Wollen Sie im Bereich der Familienleistungen kürzen, wie Frau Homburger es schon vorgeschlagen hat? ({8}) Wollen Sie bei den Infrastrukturinvestitionen kürzen? Sie sagen nicht, wo Sie sparen wollen. Das ist unehrlich und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv, weil es die Menschen in diesem Land verunsichert. ({9}) Die Zahlen verbessern sich leicht; darüber kann man sich freuen. Aber es reicht halt noch nicht aus. Wir haben keinen selbsttragenden Aufschwung. Deshalb ist Politik gefragt, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen und die richtigen Initiativen zu ergreifen. Wo ist denn Ihr Konzept - Herr zu Guttenberg, kurzzeitig Bundeswirtschaftsminister, hat es angekündigt, aber es ist bis heute von Ihnen, Herr Brüderle, nicht erarbeitet worden - für eine moderne und ökologische Industriepolitik? Wo sind Ihre Ansätze für eine moderne Dienstleistungspolitik von Menschen für Menschen, mit Arbeitsangeboten, von denen Menschen auch leben können? Wo ist Ihr Konzept für eine wirkliche Stärkung des Mittelstandes? Sie reden viel über Mittelstandspolitik, tun aber nichts für die kleinen und mittleren Unternehmen. Es gibt zum Beispiel keine Ansätze und Anregungen, was in dieser Krise zu tun ist, damit die Maschinenbauindustrie in BadenWürttemberg, die im Moment notleidend ist, die richtigen Impulse bekommt. Warum werden keine Vorstellungen entwickelt, wie das produzierende Gewerbe etwa durch verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten oder eine Innovationsprämie dabei unterstützt werden kann, in dieser Phase beispielsweise seinen Maschinenpark zu modernisieren? ({10}) - Ja, aber Sie können in diesem Bereich mehr tun. Sie reden - ({11}) - Brüllen Sie nicht, Frau Homburger. Das steht Ihnen nicht. ({12}) Steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung, wie es in Ihrem Koalitionsvertrag steht, ist ein schönes Schlagwort. Aber wo ist Ihr Konzept? Sie könnten doch mit Tax Credits dafür sorgen, dass kleine und mittlere Unternehmen tatsächlich mehr in Forschung und Entwicklung investieren. ({13}) Hinzu kommt eines: Die Steuergeschenke, die Sie für wenige machen - Stichwort: Mövenpick -, und das, was Sie darüber hinaus noch planen, wird Löcher in die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen reißen und die Investitionskraft der öffentlichen Hand beschädigen; dabei brauchen wir sie 2011 nach wie vor. Frau Roth, die Oberbürgermeisterin von Frankfurt, CDU-Mitglied, weist Sie darauf hin, dass Sie den Ruin der Kommunen vorbereiten, nichts anderes. Das hat auch wirtschaftliche Folgen. Sie reden davon, dass mehr in Bildung investiert werden sollte. Wie sollen denn Bund, Länder und Kommunen mehr in Bildung investieren, wenn Sie solche Löcher reißen? ({14}) Und dann redet Ihr Herr Lindner davon - er wird ja gleich auch noch reden -, der Staat sei ein teurer Schwächling. ({15}) Dazu kann ich an dieser Stelle nur sagen: Wer unseren demokratischen und sozialen Rechtsstaat, der gebraucht wird, um den Rahmen für die soziale Marktwirtschaft zu setzen und durch eine aktive Wirtschaftspolitik einen Beitrag für Wachstum zu leisten, der jetzt gefragt ist, mehr in Bildung zu investieren, um einen nachhaltigen Wachstumspfad einzuschlagen, erst krankenhausreif redet bzw. krankenhausreif durch eine entsprechende Steuerpolitik macht und sich dann als Sanitäter anbietet, der amputiert, der verfolgt ein Konzept, das vorne und hinten nicht stimmt. Sie werden scheitern, wenn Sie so weitermachen. Kehren Sie um! Herzlichen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer ist nun der nächste Redner für die CDU/CSU. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tat, Deutschland ist bisher besser durch die Krise gekommen als befürchtet: Das Wirtschaftswachstum ist, wenn auch so stark wie noch nie, statt um 6 Prozent nur um 5 Prozent zurückgegangen. ({0}) Die Verschuldung ist im letzten Jahr um 3 Prozent angestiegen. Wenn wir uns allerdings mit anderen Ländern wie Großbritannien, Frankreich und USA vergleichen, in denen die Neuverschuldung um 10 bis 15 Prozent gestiegen ist, dann können wir festhalten, dass wir noch ganz ordentlich dastehen. Auch die Arbeitslosigkeit ist nicht auf die erwarteten 5 Millionen gestiegen, sondern bei 3,4 Millionen im Jahresdurchschnitt geblieben. Das ist auch und vor allem Ergebnis einer klugen Politik in der Krise, die von großen Teilen dieses Hauses getragen wurde, auch von der SPD - Gott sei Dank - und ebenso von der FDP, die damals in der Opposition war. Stabilisieren in einer nie dagewesenen Krise des Wirtschaftsund Finanzsystems und Vertrauen schaffen, das war die Aufgabe in den Jahren 2008 und 2009. Die Zahlen der Sachverständigen und der Jahreswirtschaftsbericht zeigen, dass es in die richtige Richtung geht, nämlich nach oben. Aber es gibt in der Tat keinen Anlass zu Friede, Freude, Eierkuchen im Jahr 2010, denn wir sind noch nicht über den Berg. In diesem Jahr wird die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung abnehmen, voraussichtlich in einer Größenordnung von 700 000. Das heißt, 700 000 Personen weniger zahlen in die Sozialversicherungssysteme ein. Andererseits wird die Arbeitslosigkeit trotz Wachstums in diesem Jahr zunehmen. Wenn sie, wie vorausgesagt, um die Hälfte, ungefähr 350 000, zunimmt - demografiebedingt scheiden mehr aus dem Arbeitsmarkt aus, als nachkommen -, dann bedeutet das mehr Ausgaben in dem Bereich. Das schlägt sich natürlich in den Haushalten nieder. Auch das vorausgesagte Wachstum ist zum Teil durch einen statistischen Effekt bedingt, nämlich dadurch, dass das vierte Quartal weniger schlecht lief als befürchtet und dass vor allem in diesem Jahr die Maßnahmen greifen, die diese Bundesregierung und die Vorgängerregierung mit dem Bürgerentlastungsgesetz, dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz und den Konjunkturpaketen in Kraft gesetzt haben. Das reicht aber nicht aus, um ein dauerhaftes Wachstum zu organisieren. Dies wird die Herausforderung des Jahres 2010 und der folgenden Jahre sein. Nur mit einem dauerhaften Wachstum schaffen wir es, aus der Krise zu kommen und den notwendigen Konsolidierungsbeitrag zu leisten. Jedes Prozent mehr Wachstum bringt 5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen und damit auch mehr Einnahmen zum Beispiel in der Sozialversicherung. Deshalb werden wir mit einem klugen Mix von Maßnahmen - Herr Brüderle hat es angesprochen - und mit einem ordnungspolitisch klaren Kompass in allen Sektoren und auf allen Märkten agieren. Im Finanzmarkt werden wir zunächst dafür sorgen, dass die Realwirtschaft auch im Aufschwung genügend Kredite zur Verfügung hat und die Finanzierung dort nicht scheitert. Wir haben bereits viele Instrumente über die KfW neu justiert. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass insbesondere der Mittelstand ausreichend mit Krediten versorgt wird. Deshalb plädiere ich klar für die Idee der portfolio-orientierten Kreditversorgung: Ein Portfoliomix soll durch zweckgebundene Globaldarlehen refinanziert werden, damit die dadurch freiwerdenden Mittel zusätzlich in den Kreditmarkt fließen können und so die Kreditversorgung gesichert werden kann. So wird der Wirtschaft intelligent auf die Sprünge geholfen, Herr Heil. Es wird auch in diesem Jahr richtig und notwendig sein, das verloren gegangene Vertrauen auf den Finanzmärkten wiederherzustellen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Dinge nicht wiederholen. Dazu gehört, dass die Rahmenbedingungen international richtig gesetzt werden. Die Bundesregierung unter Führung der Bundeskanzlerin arbeitet intensiv daran, dass das gelingt. Wir müssen in Deutschland eine Allfinanzaufsicht schaffen, die eine solche Krise zukünftig schlagkräftig verhindern kann. Ich plädiere auch dafür, einen Krisenpräventionsfonds zu schaffen, der durch den Finanzsektor gefüllt wird, der die letzte Krise mit ausgelöst hat, und nicht durch Steuereinnahmen. Auch das trägt dazu bei, zukünftig besser vorbereitet zu sein. ({1}) Wir werden auch im Bereich der Gründer- und Wachstumsfinanzierung neue Anreize setzen. Wir wollen, dass diejenigen, die Unternehmen gründen, Arbeitsplätze schaffen und neue Dienstleistungen in den Markt bringen, eine gute Ausstattung erhalten und es dadurch leichter haben. Nicht nur auf den Finanzmärkten, sondern auch auf den Gütermärkten müssen wir alles tun, was wir tun können. Wir werden im Rahmen einer Ausstiegsstrategie, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, Beteiligungen der öffentlichen Hand dahin gehend überprüfen, ob eine Privatisierung zur Mobilisierung von Wachstumspotenzialen beitragen kann. Wir werden den Wettbewerb auf allen Gütermärkten verbessern. Beispielsweise im Bereich der Post wollen wir im Rahmen des Postgesetzes mehr Wettbewerb bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer leistungsfähigen Grundversorgung in der Fläche erzielen. ({2}) Auch im Bereich der Telekommunikation werden wir das deutsche Recht transformieren. Bei der Breitbandstrategie haben wir schon aufgeholt; hier werden wir uns an die Spitze der Bewegung setzen. ({3}) Auch dies schafft Wachstum. Wir brauchen eine Reform des Insolvenzrechts, um den neuen Herausforderungen zu genügen. Restrukturierung und Fortführung sanierungsfähiger Unternehmen müssen erleichtert werden. Auch damit wollen wir den Erhalt von Arbeitsplätzen verbessern. Bürokratieabbau ist ein weiteres Stichwort. ({4}) Auch hier sind Milliardenbeträge einzusparen. Wir wollen die Statistikpflichten reduzieren und die Bürokratie insgesamt um 25 Prozent abbauen. Mit den eingesparten Milliardenbeträgen kann man, geht man intelligent vor, einen Wachstumsbeitrag leisten. ({5}) Wir werden im Rahmen eines klugen Energiekonzeptes einerseits ermöglichen, dass der Hauptanteil der Energieversorgung durch erneuerbare Energien sichergestellt wird; dies stärkt die Wachstumsdynamik bei den erneuerbaren Energien. Andererseits werden wir die vorhandenen Potenziale entsprechend nutzen, beispielsweise durch eine Rücknahme der willkürlich verkürzten Laufzeiten der Kernkraftwerke. Die Fakten sollten auch Sie zur Kenntnis nehmen: Wenn wir international übliche Fristen von 60 Jahren einhalten würden, dann wäre dort ein volkswirtschaftliches Potenzial von 250 Milliarden Euro zu heben. ({6}) Das Wirtschaftswachstum wäre dauerhaft mehr als 0,3 Prozent höher; das sagen uns alle Experten. Für einen privaten Haushalt mit einem Stromverbrauch von 3 500 Kilowattstunden pro Jahr bedeutete das, dass er eine um 16 Prozent geringere Stromrechnung zu zahlen hätte und 150 Euro im Jahr sparen würde. Zudem ist dies der intelligenteste und preiswerteste Klimaschutz, den wir nutzen können. Dies alles sind Dinge, die in der Summe Sinn machen. Auch auf dem Arbeitsmarkt werden wir Wachstum organisieren. Ein Hauptziel muss insbesondere sein, dass es gelingt, die Sozialversicherungsbeiträge, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, dauerhaft unter 40 Prozent zu halten, damit Arbeit bezahlbar bleibt und Wachstum ausgelöst werden kann. ({7}) Wir müssen dort, wo es notwendig ist - ich nenne beispielsweise die Hinzuverdienstregelungen; sie haben sich nicht bewährt; sie fördern die Teilzeitbeschäftigung und das Verharren im Leistungsbezug; dies halte ich für nicht richtig -, Anreize schaffen. Das schafft mehr Wachstum. Arbeit muss sich lohnen. ({8}) Derjenige, der morgens aufsteht, sich die Mühe macht, zur Arbeit zu gehen, und abends müde nach Hause kommt, muss mehr in der Tasche haben als derjenige, der morgens im Bett liegen bleibt. ({9}) Wir werden auch im Bereich der Bildung und Forschung neue Akzente setzen, und zwar mit 12 Milliarden Euro. ({10}) - Jetzt kommt es wieder zu einer Redezeitverlängerung; nicht dass nachher wieder Kritik geübt wird.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Noch nicht. Aber offenkundig gibt es ein informelles Einvernehmen, das auf diese Weise herbeizuführen. Bitte schön, Herr Heil, Sie haben die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Pfeiffer mit drei f ({0}) - wir kennen und schätzen uns durchaus -, ich möchte Sie fragen - denn Sie haben den schönen Satz: „Arbeit muss sich lohnen“, den ich aus Herzen unterschreiben kann, zitiert -: Was sagen Sie eigentlich Menschen, die Vollzeit arbeiten, 2 oder 3 Euro pro Stunde bekommen und die von dieser Arbeit nicht leben können, die sich nach Ihren Plänen demnächst Almosen - ergänzende Sozialhilfe oder eine Arbeitslosengeld-II-Aufstockung holen müssen und denen Sie den Mindestlohn verwehren? Was hat das mit „Arbeit muss sich lohnen“ zu tun? Ich stelle eine weitere konkrete Frage, Herr Pfeiffer, wenn Sie gestatten: Sind Sie eigentlich dafür, dass Frau von der Leyen beispielsweise in der Pflegebranche, wenn es dort am Freitag eine Einigung gibt, einen tariflichen Mindestlohn durchsetzt, oder sind Sie wie Herr Brüderle der Meinung, dass man das lieber nicht tun sollte?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Heil. - In der Tat kennen und schätzen wir uns. Deshalb haben Sie es eigentlich nicht nötig, marktschreierisch zu agieren. Wir sollten uns lieber sachlich auseinandersetzen; denn Ihre Marktschreierei hat mich eben sehr an den Kollegen Tauss erinnert, der früher mit ähnlicher Lautstärke unterwegs war. ({0}) Deshalb ist es gut: Wir bleiben bei der Sache und unterhalten uns über Inhalte. Wir müssen die Arbeit so organisieren, dass es sich zu arbeiten lohnt. Im Niedriglohnsektor muss es so attraktiv sein, dass wir die Leute in Arbeit bringen. Dies haben wir gemeinsam geschafft. In der Zeit der Großen Koalition ist es gelungen, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erstmalig zugenommen hat. Wir hatten die Höchstzahl an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit über 40 Millionen im Jahr 2008 erreicht. ({1}) Dies ist nur gelungen, weil wir gerade auch im Niedriglohnsektor entsprechende Anreize gesetzt haben, zum Beispiel über Leiharbeit, die eine Brücke in die Beschäftigung war und ist. ({2}) Daher plädieren wir auch nicht dafür, die Leiharbeit einzuschränken oder zurückzunehmen; vielmehr müssen wir sie intelligent machen. ({3}) Auch zeigt sich, dass der Mindestlohn nicht die richtige Lösung ist. Nehmen wir einmal eine Familie mit zwei Kindern. Heute hat sie dank der Transferleistungen und der Unterstützung, die es gibt, netto fast 2 000 Euro zur Verfügung. Wenn Sie das einmal auf jemanden beziehen, der im Handwerk oder im Dienstleistungsbereich beschäftigt ist, dann werden Sie feststellen, dass er niemals mit einem Mindestlohn - weder von 6,50 Euro noch von 7,50 Euro ({4}) noch von 10 Euro noch von 12 Euro - auf diese 2 000 Euro kommen wird. Deshalb wird es immer notwendig sein, hier die Leute in Beschäftigung zu bringen und mit intelligenter staatlicher Ergänzung Brücken zu bauen. ({5}) Dabei geht es nicht nur um finanzielle Fragen. Vielmehr ist Arbeit auch ein Wert an sich, und es geht darum, dass die Menschen einen Beitrag leisten können. Offensichtlich hält Herr Heil seine Frage für hinreichend beantwortet; er hat sich hingesetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich übrigens auch, Herr Kollege, sodass ich Ihnen keine Hoffnung auf weitere Verlängerung Ihrer Redezeit machen kann. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Abschließend komme ich zum Thema Forschung und Bildung. Neben den 12 Milliarden Euro, die wir zusätzlich zur Verfügung stellen und die Herr Brüderle vorhin bereits angesprochen hat, werden wir das Ziel nicht aus dem Auge verlieren, bis zum Jahre 2015 10 Prozent des Bruttosozialproduktes für Bildung und Forschung auszugeben. Wir werden prüfen, ob wir das ZIM-Programm, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, das ein großer Erfolg war - durch die Ausweitung auf die alten Bundesländer haben sich dort die Anfragen verdoppelt; dies wirkt für 2009 und 2010 absolut proaktiv und schafft einen Wachstumsbeitrag -, über 2010 dauerhaft verlängern. Außerdem werden wir eine steuerliche Forschungsförderung einführen, eine Absetzbarkeit von Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die sich mehr als lohnt. Sie bringt das Dreifache dessen, was sie kostet. Zum Beispiel bringt ein 10-prozentiger Tax Credit zunächst für den Staat einen Steuerverlust von 4 Milliarden Euro mit sich, mittelfristig aber über 12,4 Milliarden Euro Mehreinnahmen und eine entsprechende Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes. Durch diese steuerliche Forschungsförderung lässt sich also dauerhaft eine Wachstumserhöhung um 0,5 Prozent erzielen, wenn man es intelligent macht. Sie sehen, mit klarem ordnungspolitischen Kompass sind wir in der Lage, aus der Stabilisierungsphase in diesem Jahr in eine dauerhafte selbsttragende Wachstumsund Aufschwungsphase zu kommen. ({0}) Das ist der beste Beitrag zu Wirtschaftswachstum, weil er die Voraussetzung für eine intelligente Konsolidierung schafft. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Sahra Wagenknecht, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Sahra Wagenknecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004183, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Tricksen, täuschen, verschleppen und betrügen - das scheint die wirtschaftspolitische Strategie dieser Bundesregierung zu sein. ({0}) - Da brauchen Sie gar nicht zu lachen. Sie brauchen sich nur das anzuschauen, was Herr Brüderle hier vorgestellt hat. Ich denke, solange Sie diese Politik fortsetzen, so lange wird die Hoffnung auf einen selbsttragenden, auf einen wirklichen Wirtschaftsaufschwung nichts als ein frommer Wunsch bleiben. ({1}) Das Grundproblem ist, dass Sie wirklich glauben, dass es irgendwann einfach so weitergeht wie vor 2008. Ich kann Ihnen nur sagen: Vergessen Sie es! Es wird kein Zurück zu einem Modell geben, bei dem die deutsche Wirtschaft jedes Jahr Exportüberschüsse in irrwitziger Größenordnung aufhäuft und gleichzeitig der Binnenmarkt durch Sozialraub und Lohndumping immer mehr ruiniert wird, wo alles Wachstum nur am Export hängt. Ein Zurück zu diesem Modell ist weder wünschenswert noch denkbar. ({2}) Es ist nicht wünschenswert, weil das ein Wachstum erzeugt, das an der großen Mehrheit der Menschen vorbeigeht. Das haben wir beim letzten Wirtschaftsaufschwung gesehen. Es ist auch nicht denkbar, wenn Sie sich die weltwirtschaftliche Situation ansehen. Was war denn die Grundlage dieser Exporterfolge? Das war nicht zuletzt die wachsende Verschuldung der amerikanischen Konsumenten. Aber diese Konsumenten sind heute kaum weniger überschuldet als zu Beginn der Krise. Auch der US-Staat ist inzwischen weitgehend an der Grenze seiner Defizitmöglichkeiten angelangt. Oder schauen Sie in andere Regionen der Welt, schauen Sie auf Osteuropa. Die Krise hat in Osteuropa eine Schneise der Verwüstung geschlagen. Das bedeutet, dass dort Wachstum und Nachfrage auf Dauer am Boden liegen werden. ({3}) Südostasien - darauf setzen Sie so gern Ihre Hoffnung exportiert mehr als es importiert. Das heißt: Die Weltwirtschaft wird uns nicht retten. Wer immer nur darauf setzt, dass das Heil von außen kommen muss, der benimmt sich wie jemand, der in einer kalten Wohnung sitzt und auf den Winter schimpft, aber nicht auf die Idee kommt, dass man vielleicht die Heizung anstellen könnte. So ist Ihre Strategie. ({4}) Wer eine wirtschaftliche Erholung will, die diesen Namen verdient, der muss aufhören, auf warmes Wetter draußen zu warten, sondern der muss etwas gegen die soziale Eiseskälte in der Bundesrepublik Deutschland tun. ({5}) Inzwischen hat es sich selbst bis zu Herrn Brüderle herumgesprochen, dass wir ein akutes Nachfrageproblem haben. Dieses Nachfrageproblem haben wir nicht, weil den Menschen die Lust, zu konsumieren, abhanden gekommen ist, sondern weil Millionen Menschen in diesem Land einfach nicht mehr das Geld in der Tasche haben, um sich die Dinge zu kaufen, die sie dringend brauchen. Das ist das Ergebnis jahrelanger Lohnsenkungen. Das ist ein Ergebnis von Rentensenkungen; auch jetzt haben wir wieder zwei Nullrunden vor uns. Das ist ein Ergebnis von Sozialabbau. Ich traue dieser Regierung wirklich viel zu. Aber dass sie tatsächlich glauben kann, dass sie die Nachfrage im Land dadurch fördert, dass sie reiche Erben, Besserverdiener und spendierwillige Unternehmen mit Steuergeschenken bedenkt, dass sie wirklich annehmen kann, dadurch die Nachfrage zu stärken, dazu kann ich nur sagen: So viel wirtschaftspolitischen Unverstand würde ich selbst dieser Koalition nicht zutrauen wollen. ({6}) Die Große Koalition hat Ihnen ein giftiges Erbe hinterlassen, nämlich in Form von 13 Milliarden Euro an Steuergeschenken, die in diesem Jahr wirksam geworden sind. Das sind Einnahmeausfälle von 13 Milliarden. Aber statt sich darüber zu beschweren und sie zu stoppen, setzen Sie mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz noch einen obendrauf. Ich muss schon sagen: Die wilde Entschlossenheit, mit der diese Bundesregierung die öffentlichen Haushalte ganz offensichtlich in den Ruin hineintreibt, wohl wissend, dass die Haushaltspolitik ab dem nächsten Jahr im selbstgeschaffenen Korsett der Schuldenbremse stecken wird, lässt den Verdacht aufkommen, dass es gar nicht so ungewollt ist, dass man härtesten Spar- und Konsolidierungszwängen unterliegen wird, weil man sich vielleicht so einen guten Vorwand schafft, sich der letzten Reste des Sozialstaates zu entledigen, also all dem, was Rot-Grün und die Große Koalition noch übrig gelassen haben. Man hört schon einiges darüber, was Sie noch vorhaben, auch wenn Sie das offiziell nicht zugeben: Bei der Bundesanstalt für Arbeit sollen Milliarden eingespart werden. Sie erzählen uns, das sei vielleicht durch Reorganisation und Bürokratieabbau zu machen. Machen Sie doch den Menschen nicht so viel vor! Wenn Sie dort Milliarden sparen wollen, dann werden Sie die Leistungen kürzen. Das heißt, Sie werden in zynischer Kontinuität das machen, was Ihre Vorgängerregierungen auch schon gemacht haben: Sie werden das Geld am Ende bei denen holen, denen es schon heute dreckig geht, die schon heute nicht mehr menschenwürdig leben können. Das werden Sie machen. Das sage ich Ihnen voraus. Man hört, dass die steuerfreien Nacht- und Feiertagszuschläge zur Disposition stehen. Man hört und liest im Jahreswirtschaftsbericht düstere Andeutungen zur Zukunft der Krankenversicherung, die sich stark nach Kopfpauschale, das heißt nach rapider Verteuerung und Leistungsverschlechterung gerade für Geringverdiener anhören. Sie sollten endlich aufhören, den Leuten vorzulügen, Sie wollten die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen entlasten. In Wahrheit wird Ihre Politik am Ende darauf hinauslaufen, dass Schichtarbeiter, Arbeitslose, Rentner und Kranke die Rettung der Zockerbanken und die Steuersenkungen für reiche Unternehmen, für reiche Spitzenverdiener, für reiche Erben zu bezahlen haben. Das ist Ihre Politik. Ich muss sagen: Wer so eine Politik macht, der muss sich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen an der Demokratie verzweifeln; der macht die Demokratie nämlich kaputt, indem er ganz wenige hemmungslos bereichert und der Mehrheit seiner Wähler ins Gesicht schlägt. ({7}) Wie Sie davon träumen können, unter solchen Bedingungen einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen, bleibt wirklich Ihr Geheimnis. Wir werden in dieser Debatte weiterhin immer wieder darauf beharren: Natürlich gibt es zu dieser Art von Politik Alternativen. Diese Alternativen liegen eigentlich auf der Hand: Wenn die jahrelange Umverteilung der Einkommen von unten nach oben den Binnenmarkt zerstört hat, liegt es dann wirklich so fern, vielleicht einmal die entgegengesetzte Richtung zu versuchen, das heißt darauf zu setzen, dass jetzt diejenigen für die Krise zahlen, die von den Entwicklungen vorher profitiert haben, und nicht wieder den Facharbeiter, die Lidl-Verkäuferin oder sogar den Hartz-IV-Empfänger zur Kasse zu bitten? Warum verweigern Sie sich einer Millionärsteuer? Warum verweigern Sie sich einer Finanzkrisenverantwortungsgebühr, wie Obama sie vorgeschlagen hat, und lassen stattdessen die Banken schon wieder auf den internationalen Märkten herumzocken, als hätte es überhaupt keine Finanzkrise gegeben? Wenn die ständige Schrumpfung des öffentlichen Dienstes und der öffentlichen Investitionen die Arbeitslosigkeit erhöht hat, liegt es dann so völlig fern, vielleicht auch einmal auf das gegenteilige Konzept zu setzen, nicht auf weitere Privatisierung, sondern auf den Ausbau des öffentlichen Dienstes und die Erhöhung der öffentlichen Investitionen? Die Bundesrepublik befindet sich in all diesen Bereichen inzwischen in einer peinlichen Schlusslichtposition in Gesamteuropa. Wenn die jahrelange Enteignung der Beschäftigten Kaufkraft und Konsum nach unten gedrückt hat, ist es dann wirklich eine so fernliegende Idee, all die barbarischen Gesetze zurückzunehmen, die genau diesen Lohnraub ermöglicht haben, ganz vorn die Liberalisierung der Leiharbeit und natürlich auch den mit Hartz IV verbundenen Zwang zur Annahme auch noch der letzten Hungerlohnjobs? Die FDP möchte immer so gern Subventionen abbauen. Ich sage Ihnen: Eine Subvention können Sie wirklich abbauen, das ist die Subventionierung der Billigjobs in diesem Land. Das kostet den Steuerzahler inzwischen fast 10 Milliarden Euro im Jahr. ({8}) Ich sage Ihnen: Schaffen Sie einen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde, und Sie werden den größten Teil dieser 10 Milliarden Euro einsparen können! Das ist ein konstruktiver Sparvorschlag. ({9}) Aber wahrscheinlich wird das bei Ihnen wieder auf taube Ohren stoßen. Der wirtschaftspolitische Kurs, den diese Bundesregierung fährt, ist ein Crashkurs - man kann das nicht anders nennen -, der früher oder später in die nächste große Krise hineinführen wird. Ich kann Ihnen ankündigen: Die Linke wird diesem Kurs weiterhin schärfsten Widerstand entgegensetzen. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schauen Sie sich einmal die Gestaltung des Titelblatts des Jahreswirtschaftsberichts an. ({0}) Das ist eine Botschaft für sich: Am Start sind nur Gelbe und Blaue, Rote sowieso nicht. Einen Weißen sehe ich noch. Schwarze, die solche Läufe immer gewinnen, sehe ich auch nicht. Man hat auf eines Wert gelegt - das ist entscheidend und durchzieht den ganzen Text -: Man will deutlich machen, dass das kein Fehlstart ist. Die Kameraden kommen recht gleichmäßig aus den Startblöcken heraus. Die Botschaft des Jahreswirtschaftsberichts lautet also: ({1}) Es war kein Fehlstart, sondern ein organisierter und in einer gut harmonierenden Koalition gelungener Auftakt für vier Jahre. ({2}) - So einfach bekommt man Beifall von Schwarz-Gelb. ({3}) Wenn Sie den Text lesen und die Ziele kennen, die ein Jahreswirtschaftsbericht normalerweise aufweisen muss - er muss sie aufgrund gesetzlicher Grundlage haben; Herr Heil hat darauf hingewiesen -, dann sehen Sie, dass dieser Bericht das nicht leistet. Er soll einen Überblick über Ihre Vorhaben in der Wirtschafts- und Steuerpolitik geben, er soll widerspruchsfrei sein, und er soll klären, wie Sie die verschiedenen Ziele, zum Beispiel Wirtschaftswachstum und Haushaltskonsolidierung, gleichzeitig erreichen wollen. ({4}) Ich sage Ihnen nach aufmerksamer Lektüre dieses Berichtes: Er klärt keine der Fragen, die schon letzte Woche bei den Haushaltsberatungen offengeblieben sind. Vielmehr wirft er zusätzliche Widersprüche und Fragen auf. Es ist nicht geklärt, wie Sie die Ziele Wachstum und Konsolidierung im Jahr 2011 erreichen wollen. Wenn Sie schon keine mittelfristige Finanzplanung zustande bringen, dann hätte ich zumindest jetzt erwartet, dass, damit Vertrauen auf den Märkten entsteht, im Jahreswirtschaftsbericht steht, wie dies gehen soll. Aber, Herr Brüderle, das haben Sie vermieden. Wir haben von Ihnen allgemeine Lyrik über Konsolidierung gehört, aber Sie haben nicht die Frage beantwortet, wie die einzelnen Posten, die im nächsten Jahr fehlen werden, zu finanzieren sind: 11 Milliarden Euro brauchen wir wahrscheinlich für die Bundesagentur für Arbeit. 10 Milliarden Euro müssen Sie wegen der Schuldenbremse einsparen. Um 19 Milliarden Euro wollen die gelben Helden die Steuern zusätzlich senken. Insgesamt 10 bis 35 Milliarden Euro kann die Gesundheitsprämie aus dem Hause Rösler kosten. ({5}) Das sind rund 60 Milliarden Euro, zu denen in diesem Jahreswirtschaftsbericht nichts anderes steht als Wachstum, Wachstum, Wachstum. Das ist die einzige Botschaft dieser Koalition, die hier in diesem Haus und in der Öffentlichkeit bisher gehört wurde. Ich kann nur sagen: Diese Koalition benutzt den Begriff Wachstum wie eine Droge. Sie verfolgen in voller Dröhnung dieses Programm und verlieren den Blick für die Wirklichkeit. Denn 1 Prozent Wachstum bringt 5 bis 6 Milliarden Euro mehr Staatseinnahmen, aber nicht 60 Milliarden. Dazu bräuchten Sie 10 Prozent Wachstum; die haben Sie nicht. ({6}) Weil es sich oft so verhält, dass Sie das, was wir sagen, nach einem halben Jahr oder einem Jahr auch sagen, will ich Ihnen einmal ernsthaft erklären, warum wir auf dieser Wachstumsfrage insistieren; es gibt einen einfachen Grund dafür, dass wir von Wachstumsfetischismus bei Ihnen reden. Auch wir Grüne wissen, dass es mit Wachstum einfacher ist, einen Staatshaushalt aufzustellen; das ist klar. Aber wir wissen auch, dass man sich die Frage stellen muss, was eigentlich wächst, ob es ein Wachstum ist, das uns reicher macht, oder ein Wachstum, das uns ärmer macht. Ich will zwei Beispiele nennen. Wenn wir 20 neue große Kohlekraftwerke bauen - sie sind ja im Bau oder in Planung -, dann wird unser Land ärmer, weil wir durch den CO2-Ausstoß und durch die Beschränkung, die das für die erneuerbaren Energien praktisch bedeutet, eine ökologische Verschuldung eingehen. Also wird unser Land dadurch nicht wirklich reicher, sondern ärmer. Es bringt zwar Wachstum in Ihrem Sinne, aber vermehrt unsere Wohlfahrt nicht, sondern schwächt sie sogar. ({7}) Zweites Beispiel. Wenn wir in jedes Kinderzimmer einen Fernseher stellen würden, dann würde das Wachstum bringen. Dennoch würde mit diesem Wachstum eine soziale Verschuldung verbunden sein, weil klar ist, dass die sozialen Folgekosten, die wir mit so etwas anrichten, bewältigt werden müssen. Es gibt also Wachstum, das die Wohlfahrt der Gesellschaft überhaupt nicht mehrt, obwohl es in einem quantitativen Sinne die Staatseinnahmen und das Bruttosozialprodukt vergrößert. Der Punkt, auf dem wir insistieren, lautet ganz einfach: Es kommt darauf an, in welchen Bereichen der Staat zusätzliche Wachstumsanreize setzt, ob das Bereiche sind, die unser Land wirklich stärker und auch nachhaltig reicher machen, oder ob das nicht der Fall ist. ({8}) Darüber müssen wir diskutieren. Sie werden sehen, dass eine der Folgen der Finanzmarktkrise eine weltweite intensive Diskussion über diese Frage sein wird: Was tut unseren Gesellschaften und unserer Welt und unserer Natur und unserem Klima eigentlich gut, und was zerstört sie? Der blinde Wachstumsbegriff, den Sie, Herr Brüderle, im Jahreswirtschaftsbericht zugrunde legen, beantwortet diese Frage nicht. Wenn Sie dieser Frage nachgehen würden, müssten Sie sich entscheiden: Wo wollen wir zusätzliche Investitionen? Wo wollen wir auf die Bremse treten? Wollen wir - wie die Grünen es vorschlagen die Schwerpunkte der Politik bei sozialer Gerechtigkeit, bei Bildung und bei Klimaschutz setzen? Dagegen sagen Sie: Ich bin hier der Wirtschaftsminister; ich will, dass alles wächst, ganz egal, ob es nützt oder schädlich ist. Das ist der Unterschied zwischen uns, über den wir in dieser Legislaturperiode viel zu streiten haben. ({9}) Sie tun zu wenig für den Binnenmarkt. Die Wachstumshoffnungen, die Sie in diesem Jahreswirtschaftsbericht mühsam aufbauen, beziehen sich ausschließlich auf den Export. Sie tun systematisch zu wenig für den Binnenmarkt, weil Sie sich der Frage, wie man die Massenkaufkraft, die Kaufkraft der kleinen Leute, stärken kann, systematisch verweigern. ({10}) Sie haben - das kann man nicht anders sagen - eine ideologische Scheuklappe beim Mindestlohn, und da, wo Sie entlasten, entlasten Sie in sozialer Schieflage. Das sehen wir beim Kindergeld: Die Kinder in Familien, die von Arbeitslosengeld II leben - mindestens 1 Million Kinder in Deutschland -, bekommen nichts. Jetzt ist für zwei Monate dennoch etwas überwiesen worden. Das ist oberpeinlich! Der, der am Computer den Knopf gedrückt hat, konnte sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass in Deutschland jemand auf die Idee kommt, den Reichen viel, den Mittleren mittel und den Armen gar nichts zu geben. Und jetzt kommt Frau von der Leyen und sagt: Wir leben in einem Rechtsstaat. Das muss zurückgezahlt werden. - Man muss einmal die Bürokratiekosten dieser Rückholaktion mit dem vergleichen, was sie bringt. Vielleicht wäre es eine kluge Entscheidung, das Geld diesen Familien zu lassen. ({11}) Übrigens: Wie die Bundesregierung bzw. Herr Brüderle die Entwicklung des Binnenmarktes einschätzt, kann man anhand der Zahlen schon nachlesen: Preisbereinigt wird der private Konsum in diesem Jahr um 0,5 Prozent sinken - so seine Prognose -, und die Sparquote wird um 0,2 Prozent steigen. Das ist das, was wir immer vorausgesagt haben: Eine Belebung des Binnenmarktes bringt die Nummer, die die FDP mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz durchgezogen hat - Senkung der Mehrwertsteuer für die Hotels -, nicht. Selbst der Wirtschaftsminister ist an dieser Stelle skeptisch. Ich rate, nicht nur skeptisch zu sein, sondern diese Politik einmal zu überprüfen. ({12}) Der wichtigste Punkt, wo wir eine offenere Sprache pflegen müssen, Herr Wirtschaftsminister, ist die Frage Bankenfinanzierung/Kreditklemme. Die Bankenkrise ist in Deutschland nicht gemeistert; da lügen Sie sich etwas in die Tasche. Die Experten sagen, dass in den Bilanzen der Banken - auch der Landesbanken - noch bis zu 100 Milliarden Euro an faulen Papieren, an Risiken liegen. Deswegen können wir nicht sagen: Eine Kreditklemme ist nicht in Sicht, und das, was bei der Vergabe von Krediten an Schwierigkeiten bleibt, wird der Kreditmediator schon richten. Wir haben an der Art und Weise, wie Sie die Banken gerettet haben, Verschiedenes kritisiert. Die Kernlinie unserer Kritik war, dass Sie die Banken viel zu sehr nach dem Freiwilligkeitsprinzip haben agieren lassen. Das betrifft das Bad-Bank-Gesetz, aber auch, dass Sie keinen verbindlichen Stresstest für alle Banken angesetzt haben. Das hat dazu geführt, dass nicht aufgedeckt wird, was an Risiken noch in den Büchern schlummert, dass das alles nicht so geht, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir warnen Sie vor der Vorstellung, man könne durchatmen, die Bankenkrise sei ausgestanden; denn wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt. Deswegen kann ich der Tendenz des Jahreswirtschaftsberichts an dieser Stelle nicht zustimmen. Die Gemeinden - ich komme nicht darum herum, diesen Punkt anzusprechen; eine systematische Darstellung dessen fehlt im Jahreswirtschaftsbericht - waren gerade in einer Krise und einer aufkeimenden Konjunktur immer Konjunkturmotoren. Es ist einer der größten wirtschaftspolitischen Fehler, dass Sie den Gemeinden in dem Moment, wo sie investieren sollten, durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz und durch das, was Sie sonst noch vorhaben, die finanziellen Mittel entziehen. ({13}) Das ist wirtschaftspolitisch völlig verkehrt. Wir werden nicht müde, dies deutlich und klar darzustellen. Sie drücken sich an einer Frage völlig vorbei, die die Bevölkerung immer noch sehr umtreibt: Wer bezahlt eigentlich die Kosten der Finanzmarktkrise? Ihre Antwort „Steuersenkung“ ist keine Antwort auf die Frage: Wer bezahlt die Kosten der Krise? Ich höre von Frau Merkel, von der Bundesregierung immer nur internationale Vorschläge, die dann auf der G-20-Ebene wieder verläppert werden, aber nichts Konkretes zu der Frage, was Sie in Deutschland vorhaben. Ich höre keinen Vorschlag, diejenigen, die riskant spekuliert haben, zur Kasse zu bitten. Wir sagen Ihnen: Ohne Veränderungen auf der Einnahmeseite unserer Haushalte, ohne eine neue Diskussion über den Spitzensteuersatz und über die Frage, ob wir eine Vermögensabgabe nach dem Lastenausgleichsprinzip brauchen - die Lasten können jetzt nicht mehr von allen getragen werden -, werden wir die vielen schwierigen Finanzfragen, die vor uns liegen, nicht bewältigen können. Sie diskutieren über Irrealo-Konzepte. Die einheitliche Gesundheitsprämie ist doch nichts anderes als ein Irrealo-Konzept, das Sie unter den bestehenden Finanzbedingungen niemals durchbekommen können. ({14}) Da kann ich nur sagen: Verblendung der größten Art. Herr Minister, im Bericht steht etwas von „Ideologiefreiheit“ der Energiepolitik. Ich bin wirklich sehr dafür; aber mir konnte bisher keiner begründen, wieso Sie mit der Maßgabe, das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu beschreiten, die Atomkraftwerke und die Kohlekraftwerke als „Brückentechnologie“ hochleben lassen. Das ist ein einmaliger Vorgang in der Innovationsgeschichte der Industriegesellschaften - Sie sollten den Schumpeter vielleicht noch einmal gründlicher lesen, als Sie es getan haben -: Die Brücke ins Neue wird durch die Revitalisierung des Alten beschritten. Großartige Botschaft! ({15}) Ich finde, dass wir einmal ideologiefrei über diesen Punkt reden sollten. Herr Minister, Sie schreiben sehr allgemein von einem Entflechtungsgesetz als scharfes Instrument gegen marktbeherrschende Konzentration, das Sie im Rahmen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf den Weg bringen wollen. Ich will Ihnen sagen: Da haben Sie uns, Bündnis 90/Die Grünen, auf Ihrer Seite. Es ist die originäre Aufgabe einer vernünftigen Wirtschaftspolitik, bei ihrer Rahmensetzung darauf zu achten, dass Konzentrations- und Monopolprozesse unterbunden werden, weil die ganze Ideologie und Praxis der freien Marktwirtschaft sonst nicht funktionieren können. Da sind wir auf Ihrer Seite; aber Sie müssen wissen, dass wir Sie mit Fragen konfrontieren werden. Wir machen daraus keine gemütliche Postdiskussion. Wir werden die Frage stellen, ob Sie im Energiesektor einen Wettbewerb ohne Konzentration für gewährleistet halten oder nicht. ({16}) Wir sagen: Er ist nicht gewährleistet; vier große Energieversorger beherrschen 80 Prozent des Marktes. Sie müssen mit einem solchen Gesetz darauf reagieren. Wir werden fragen: Gilt das auch für Banken? Was ist mit der Deutschen Bank? Hat sie schon solch eine Stellung, dass Sie sagen: Es muss mit der weiteren Konzentration Schluss sein, weil sonst die berühmte Gleichung „too big to fail“ virulent wird? Herr Minister, hier haben Sie unsere Unterstützung; aber freuen Sie sich nicht zu früh: Hier darf nicht nur gegackert werden, hier müssen Sie legen, und zwar sichtbar und überprüfbar. Wir werden Sie dabei begleiten. ({17}) Ich komme zum Schluss. Wir setzen uns fundamental von dieser einen Zielsetzung des quantitativen Wachstums ab, die Sie hier verfolgen. Wir wollen, dass die Politik ökologische und soziale Verschuldung als Maßstäbe mit berücksichtigt, mit dem Ziel, diese zu vermeiden, weil uns das, auch was Technologien angeht, stärker macht. Wir müssen nicht nur schauen, was wir wachsen lassen, sondern wir müssen heute auch schauen, wie wir systematisch Folgekosten reduzieren können. Das ist das Beste für unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand und unsere Arbeitsplätze. Ich danke Ihnen. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Christian Lindner erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Jahreswirtschaftsbericht ist keine Maßnahmensammlung, er ist keine volkswirtschaftliche Zahlensammlung, sondern er ist ein Orientierungspunkt der neuen Wirtschaftspolitik. Er beschreibt die Wiederaufnahme ordnungspolitischer Traditionen in Deutschland. ({0}) Ich will das deutlich machen, indem ich zwei Dimensionen beschreibe: Erstens. Wir stärken den Staat als Ordnungskraft des Wirtschaftsgeschehens, indem wir beispielsweise auf punktuelle Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, wie etwa die Abwrackprämie, verzichten. ({1}) Wir stärken den Staat als Ordnungskraft des Wirtschaftsgeschehens auch durch das neue Entflechtungsinstrument. Wer dagegen ist, der macht sich zum Anwalt dominanter privater Konzerne, die Macht über Verbraucher und Wettbewerber ausüben wollen. ({2}) Wir stärken den Staat als Ordnungskraft des Wirtschaftsgeschehens schließlich auch dadurch, dass wir wieder eine starke Finanzmarktaufsicht schaffen. ({3}) Es war nicht die FDP in Deutschland, die die Bankenaufsicht zersplittert hat, sondern das waren Sozialdemokraten und Grüne unter dem Bundesfinanzminister Hans Eichel. ({4}) Es war nicht die FDP in Deutschland, die sich gegen eine internationale Finanzmarktregulierung gewandt hat, ({5}) sondern es war der Sozialdemokrat Tony Blair, der sich Hand in Hand mit dem neokonservativen George Bush gegen die notwendige Regulierung gewandt hat. Hier werden wir als Koalition einen neuen Ansatz wagen. ({6}) - Sie können sich ja melden, Herr Heil, aber rufen Sie jetzt nicht unqualifiziert dazwischen! ({7}) Die zweite Dimension, die ich beschreiben will, betrifft die neue Balance zwischen dem Staat einerseits und dem privaten Sektor andererseits. Herr Heil, Sie haben eben gesagt, wir hätten Steuergeschenke im Sinn. ({8}) Allein das Vokabular entlarvt Ihre Denke. Es ist nämlich nicht so, dass der Staat die Bürger finanziert, sondern die Bürger finanzieren bitte schön den Staat. ({9}) Sie haben sich mit der Kritik an unserem Wachstumsbeschleunigungsgesetz - das betrifft die Grünen und die Linke genauso - von den Alltagssorgen der Menschen abgekoppelt. ({10}) Durch die kalte Progression und durch die Inflation haben die Beschäftigten in Deutschland in den letzten zehn Jahren reale Einkommensverluste hinnehmen müssen. ({11}) Was tun wir? Wir sorgen für eine Entlastung der Familien in Deutschland im Umfang von 4,6 Milliarden Euro. Das stärkt die Binnennachfrage und ist im Übrigen auch ein Gebot der Gerechtigkeit. ({12}) Diese Entlastungspolitik ist aber nicht nur fair, sie ist darüber hinaus auch Ausdruck unseres ordnungspolitischen Verständnisses. Hier unterscheiden wir uns von Ihnen. Wir gehen davon aus, dass das Wissen über die Zukunft dieser Gesellschaft in ihr selbst verstreut und nicht im Büro von Herrn Heil zentral vorhanden ist. ({13}) Die Mittelständler, die Unternehmen, die Bürgerinnen und Bürger haben sehr viel stärker ein Gefühl dafür, was zukunftsfähig ist und was nicht. Deshalb sorgen wir mit unserer Entlastungspolitik dafür - im Übrigen in Verbindung mit einer steuerlichen Förderung von Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen -, dass das Kapital, die finanziellen Möglichkeiten, die „fiskalische Feuerkraft“, wie es der Philosoph Peter Sloterdijk genannt hat, auch dezentral bei den Menschen zur Verfügung stehen. So schafft man Innovationen, nicht durch Ihre zentralistisch-planwirtschaftliche Politik. ({14}) - Sie sagen jetzt „Ah!“ und stöhnen herum. Sie haben hier und heute nichts von Ihren eigenen Vorstellungen dargelegt; aber wir kennen sie ja durch Ihren „Deutschland-Plan“. Was war das denn? Das war ein Sammelsurium. ({15}) Herr Steinmeier hat mit seinen Beamten am grünen Tisch überlegt, was vielleicht eine Zukunftsbranche sein könnte, die dann bitte schön mit Subventionen beatmet werden sollte. ({16}) So macht man keine Politik, und das ist Ihnen vom Sachverständigenrat damals zu Recht auseinandergenommen worden. ({17}) Jetzt will ich noch einen Satz zu den Grünen sagen, und zwar zu Herrn Kuhn, weil ich es als eine Anmaßung empfunden habe, wie Sie hier gesprochen haben, Herr Kuhn. ({18}) - Herr Kuhn, ich spreche mit Ihnen, aber offensichtlich haben Sie intern andere Gespräche zu führen. ({19}) Sie haben hier von einem Wachstumsfetischismus gesprochen. Das finde ich interessant. Dies ist eine uralte Debatte, die der Club of Rome schon in den 70er-Jahren eröffnet hat. Wir wissen heute: Die Grenzen des Wachstums, von denen Sie ja auch auf Ihrer Vorstandsklausur gesprochen haben, hat der menschliche Geist durch Spitzentechnologien und Spitzendienstleistungen immer überwunden. ({20}) Aber was ist das für eine Gesellschaft, über die Sie sprechen? Der Status quo, den Sie verteidigen, ist die kärglichste Zukunftsvision, die man haben kann. ({21}) Wir wollen Wachstum. ({22}) Ich erkläre Ihnen auch, warum. Wir wollen Wachstum, weil in einer prosperierenden Gesellschaft die Menschen, die sich einen sozialen Aufstieg erarbeiten wollen, sehr viel leichter zu dem Ziel kommen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. ({23}) Die statische Gesellschaft, auf die Sie hinauswollen, kann sozialen Aufstieg nur in einem harten Verdrängungs- und Verteilungswettbewerb organisieren. Das wollen wir ausdrücklich nicht. ({24}) Unsere Politik, die auf Wachstum und Arbeit setzt, ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Zu ihr gibt es keine Alternative. Ich danke Ihnen. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Lindner, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gebe zu, dass ich nicht darauf gekommen wäre, wenn man mir das nicht ausdrücklich mitgeteilt hätte. Meine besondere Gratulation und alles Gute für die weitere parlamentarische Arbeit! ({0}) Ich setze das Einverständnis der FDP-Fraktion voraus, dass wir die Debatte bei möglichst wenig störender Fortsetzung der Gratulationscour fortsetzen können. Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Wir diskutieren den Jahreswirtschaftsbericht 2010 auf dem Hochpunkt einer Krise und können dennoch feststellen, dass im Jahr 2009 die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Durchschnitt niedriger war, als es vor vier Jahren ohne Krise in diesem Land der Fall war. Selbst wenn der Anstieg, der im Jahreswirtschaftsbericht prognostiziert wird, stattfindet, werden wir in einer besseren Lage sein als 2005, als noch keine Krise in Sicht war. Ich denke, das ist darauf zurückzuführen, dass in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahren die Weichen richtig gestellt worden sind. Das war Politik für die Menschen in Deutschland. Diese kluge und zielführende Politik wollen wir auch weiterführen. ({0}) Wir haben in der Finanzmarktkrise gesehen, dass die Staaten in der Weltgemeinschaft die letzten Vertrauensgeber waren, um fehlendes Vertrauen in den Märkten zu ersetzen. ({1}) - Ich freue mich über den Beifall, Herr Heil. ({2}) Ich gebe allerdings zu bedenken, dass wir vor zwei Aufgaben stehen. Wenn die nächste Krise kommt, ({3}) werden wir darauf achten müssen, dass die Staaten noch in der Lage sind, als Vertrauensgeber Krisenhilfe zu leisten. ({4}) Ich will zwei Dinge anmahnen. Zunächst einmal müssen wir darauf achten, dass wir unsere eigene Handlungsfähigkeit bewahren. Das bedeutet Haushaltskonsolidierung, die Hebung von Innovationspotenzialen und Strukturveränderungen. Das müssen wir auch bei anderen Staaten anmahnen, weil wir Krisenprävention nicht alleine betreiben können. Wir werden des Weiteren dafür sorgen müssen, dass die Initiative von Präsident Obama genutzt wird, um international zu Absprachen für eine bessere Regulierung der Finanzmärkte zu kommen. ({5}) - Ich glaube, dass in der Koalition eine große Einigkeit darüber besteht, dass Regulierung notwendig ist, dass sie besser ausgestaltet werden muss als in der Vergangenheit und dass wir den Willen haben, das auch international zu vereinbaren und umzusetzen. Ich hoffe und wünsche, dass auch andere Länder nicht nur diskutieren, sondern die Absprachen jeweils in nationales Recht umsetzen. Basel II war ein Negativbeispiel. Damals gab es Absprachen, die nicht umgesetzt wurden. Das darf nicht wieder geschehen. ({6}) Die Wachstumsprognose für 2010 ist einerseits erfreulich, weil sie von einem Plus von 1,4 Prozent ausgeht. Andererseits muss man sehen, dass es einen statistischen Überhang aus 2009 gibt. Wir haben nach wie vor positive Wirkungen aus den staatlichen Konjunkturprogrammen und durch die Auswirkungen der internationalen Konjunkturmaßnahmen zu verzeichnen. Das heißt, der Aufschwung ist nach wie vor nicht selbsttragend. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir alles tun müssen, um Insolvenzen zu vermeiden und dadurch Beschäftigung zu sichern. Dazu hat diese Koalition bereits etwas geleistet. Wir haben die Sanierungsklausel im Steuerrecht entschärft. Wir haben die Zinsschranke für den Mittelstand im Steuerrecht entschärft, und wir haben dafür gesorgt, dass Unternehmen nicht durch ertragsunabhängige Steuerbestandteile belastet werden. All diese Maßnahmen stehen im Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Damit sollen Insolvenzen vermieden und Arbeitsplätze in Deutschland erhalten werden. Das war leider Gottes mit den Sozialdemokraten nicht möglich. Sie haben aus rein ideologischen Gründen Arbeitsplätze und Unternehmen aufs Spiel gesetzt. Diese Politik haben wir beendet. Ich glaube daher, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind. ({7}) Herr Heil, Sie haben hier einen vollkommen falschen Widerspruch aufgebaut. Sie haben nämlich versucht, die Bürger gegen den Staat zu stellen. ({8}) Für uns gibt es keinen Widerspruch zwischen Bürgern und Staat. Wir sind der Meinung, dass der Bürger in diesem Land handlungsfähig sein muss, ({9}) indem wir ihm Freiheit durch Bürokratieabbau und auch finanzielle Handlungsfreiheit gewähren und ihm Chancen eröffnen, dass er in diesem Land Arbeit hat. Deshalb haben wir das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet ({10}) und andere Entlastungsmaßnahmen mit einem Gesamtvolumen in Höhe von 24 Milliarden Euro beschlossen, die den Bürgern in diesem Land an erweiterter finanzieller Handlungsmöglichkeit für 2010 zur Verfügung stehen. Das ist die richtige Politik für die Menschen in diesem Land. ({11}) Das ist keine Politik gegen die Kommunen. Ich will erwähnen, der Bundesfinanzminister hat in der Schlussrunde der Haushaltsdebatte sehr wohl darauf hingewiesen, dass wir die Not der Gemeinden erkannt haben ({12}) und dass wir zeitnah beginnen werden, an dieser Stelle den Kommunen Handlungsfähigkeit zurückzugeben. Das heißt, wir spielen hier die Interessen der Beteiligten nicht gegeneinander aus, ({13}) sondern wir versuchen in kluger Weise, Bürger und staatliche Verwaltungsebenen für die Zukunft handlungsfähig zu machen. ({14}) Ich komme zu dem Kollegen Kuhn, der das Thema Wachstum angesprochen hat. Wachstum ist wahrlich nicht alles. Aber ohne Wachstum werden wir aus dieser Krise nicht herauskommen. ({15}) Ihre Aussage ist richtig. Wir dürfen uns nicht nur auf Wachstum konzentrieren. Wir dürfen aber auch keine Reden gegen Wachstum halten, und wir dürfen keine Politik gegen Wachstum machen, sondern wir müssen Wachstum in ein Gesamtkonzept stellen. ({16}) Ich greife Ihr Beispiel von den Kohlekraftwerken gerne auf. Der Neubau von Kohlekraftwerken mit geringeren Emissionen in Deutschland ist, wenn sie als Ersatz an die Stelle von alten Kraftwerken treten, sowohl hinsichtlich der Innovation als auch hinsichtlich der Ökologie eine Dividende für unser Land. Deshalb sollten wir nicht wie die Grünen den Neubau verhindern, sondern ihn fördern, was unseren Bürgern in Form niedrigerer Energiepreise und dem Klimaschutz und unserer Umwelt zugutekommt. ({17}) Wir machen keine ideologiebetriebene Politik. Wir schließen einzelne Technologien nicht aus, sondern wir sagen klar und deutlich: Wir wollen verträgliche Preise, wir wollen unsere Ziele ökologisch erreichen - ich nenne in diesem Zusammenhang den Ausbau der erneuerbaren Energien und die CO2-Reduzierung -, und wir wollen eine sichere Versorgung. An diesen Parametern orientieren wir uns und nicht an ideologischen Vorprägungen. ({18}) Der Staat musste in der Krise sowohl im Finanzsektor wie auch in der Realwirtschaft an der einen oder anderen Stelle eingreifen und Hilfestellung gewähren. Das war leider notwendig, weil die Marktteilnehmer an der einen oder anderen Stelle ihre Verantwortung nicht wahrgenommen haben. Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, es war eine Maßnahme in der Not, und sie ist nicht auf Dauer angelegt. Deshalb wird es jetzt darauf ankommen, dass wir eine Exit-Strategie formulieren: Wie steigt der Staat aus seinem Engagement so aus, dass wir keine Verwerfungen in der Wirtschaft und keine Verwerfungen am Arbeitsmarkt bekommen? Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wie ziehen wir in geeigneter Weise die nach wie vor vorhandene Überliquidität weltweit aus den Märkten heraus, und zwar so, dass wir nicht in eine neue Krise hineinkommen? ({19}) Da setze ich darauf, dass wir, was die nationale Finanzpolitik und die Abstimmung der internationalen Finanzpolitik angeht, und auch die Notenbanken eine kluge Strategie an dieser Stelle fahren, um das Ziel, Überliquidität abzubauen, zu erreichen. Wenn wir das nicht schaffen, bilden sich neue Blasen und neue Gefahren, was zu neuem Schaden führen kann. Ich will noch das Thema Kreditversorgung für die Unternehmen ansprechen. In der Diskussion tauchen zwei Positionen auf, die manchmal widersprüchlich erscheinen. Wer die Berichte der Bundesbank liest, der kommt zu dem Schluss, dass es in Deutschland makroökonomisch keine Kreditkrise gibt. Wer aber als Abgeordneter gelegentlich die mittelständischen Unternehmen in seinem Wahlkreis besucht, ({20}) der hört dort sehr wohl, dass es gesunde Unternehmen mit vernünftigen Konzepten gibt, die riesige Probleme haben, eine Finanzierung sowohl für Investitionen als auch für Betriebsmittel zu bekommen. ({21}) Das mag zunächst einmal widersprüchlich erscheinen. Aber ich glaube, dass diese beiden Positionen keinen Widerspruch darstellen. Man muss sich anschauen, wer Kredite bekommt und an welcher Stelle es möglicherweise Lücken gibt. Wir müssen uns unser Bankensystem einmal genau ansehen. Das deutsche Bankensystem hat die größten Hebel in Bezug auf das Verhältnis von Eigenkapital zu Kreditausgaben eingesetzt. Wenn wir wirklich zu einer Neuregulierung der internationalen Finanzmärkte kommen, dann wird dieser große Hebel in Deutschland nicht mehr möglich sein. Das bedeutet, dass die Banken mehr Eigenkapital brauchen und dass die Kreditvolumina, wenn das Eigenkapital nicht schnell genug aufgebaut wird, geringer werden. Deshalb plädiere ich an dieser Stelle dafür, dass wir in Deutschland ein Verbriefungsgesetz schaffen, nach dem hochwertige Mittelstandskredite verbrieft werden können und das die Banken in die Lage versetzt, Kredite zu vergeben. Es ist wichtig, nicht Ramsch zu verbriefen, wohl aber hochwertige Mittelstandskredite nach klaren Kriterien in die Verbriefung zu bringen. Das wird uns an dieser Stelle wirklich einen Schritt voranbringen. Hier können wir national handeln. ({22}) Wir müssen des Weiteren darüber nachdenken - damit komme ich zur Größe der Banken -, wo wir überhaupt Begrenzungen setzen können. Ich glaube, auch hier müssen wir das Eigenkapital berücksichtigen. Wenn die Größe wächst, sollte auch das Eigenkapital steigen. Das Eigenkapital muss meiner Meinung nach aber auch steigen, wenn das Risiko wächst. Wenn wir beides gesetzlich regeln, wird es - da Eigenkapital Geld kostet eine natürliche Grenze für Risikoaversion und Größenwachstum geben. In diese Richtung sollten wir die Diskussion führen, um einerseits marktwirtschaftliche Prinzipien aufrechtzuerhalten und andererseits das Spiel „Am Ende wird uns der Staat schon aus der Not helfen“ zu beenden. Dafür müssen wir - marktwirtschaftlich geordnet - klare Grenzen setzen. ({23}) Ich freue mich, dass wir jetzt im Einzelfall versuchen, den Widerspruch zwischen Makro- und Mikroökonomie, den ich in Bezug auf die Kreditversorgung der mittelständischen Unternehmen angesprochen habe, durch Hilfestellung des Kreditmediators aufzulösen. Wir haben mit dem Wirtschaftsfonds „Deutschland“ ein wichtiges Instrument. Nun geht es aber um die spannende Frage: Wie können gesunde Unternehmen tatsächlich an Mittel aus diesem Fonds kommen? Wir wollen nicht den kranken Unternehmen helfen, wohl aber den gesunden; diesen müssen wir das Geld zugutekommen lassen. Im Einzelfall gibt es oft kleine Haken und Ösen, die beseitigt werden müssen. Ich hoffe, dass der Kreditmediator die Dinge ein Stück weit voranbringt. Der Geschäftsklimaindex in Deutschland ist jetzt zehnmal in Folge angestiegen. Trotz Wirtschafts- und Finanzkrise herrscht Optimismus unter den Menschen. Wir als Politik sollten dies als Chance begreifen, die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise gemeinsam zu beDr. Michael Meister wältigen. Die Bundesregierung ist auf einem guten Weg. Wir sollten als Deutscher Bundestag unseren Beitrag dazu leisten. Vielen Dank. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält der Kollege Duin für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kuhn, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede den Jahreswirtschaftsbericht hochgehalten und ein paar Bildbeschreibungen abgegeben. Dabei haben Sie aber vergessen, dass das Bild ausgesprochen unscharf ist. Das Bild ist damit zu Recht auf der Titelseite des Jahreswirtschaftsberichts; denn die vorgelegte Konzeption ist unscharf, besteht aus vagen Ankündigungen und bleibt hinter dem, was man in einer solch schweren Krise in Deutschland zu erwarten hat, deutlich zurück. ({0}) Herr Brüderle sagt immer - ich weiß nicht, was er im Moment sagt und mit wem er gerade telefoniert; auf jeden Fall einen schönen Gruß -, Wirtschaft sei zu 50 Prozent Psychologie. ({1}) - Richtig, er ist nicht der Urheber dieses Satzes. - Das mag sein. Aber das Problem ist, dass Herr Brüderle uns im Unklaren darüber lässt, was die anderen 50 Prozent für die Bundesrepublik Deutschland eigentlich sein sollen, mit denen wir das Ganze voranbringen sowie Stabilität und Wachstum erreichen wollen. ({2}) Die Menschen in Deutschland, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und nicht zuletzt die Unternehmen haben - so will ich es formulieren - großes Glück gehabt, dass im Jahr 2008 und im Wesentlichen im Jahr 2009 andere regiert haben als Sie, dass Peer Steinbrück, Olaf Scholz und andere Sozialdemokraten im Kabinett dafür gesorgt haben, dass es einen klaren Plan gab, aus dem hervorging, wie mit dieser Krise umzugehen ist, dass man Weitsicht bewiesen hat und dass die richtigen Instrumente in der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden sind. Sie machen nun zweierlei: Erstens. Sie werfen gezielt Geld aus dem Fenster, und zwar für Einzelne und Wenige, auch noch Geld, das Sie eigentlich gar nicht haben. ({3}) Zweitens kündigen Sie nur an, dass man eine strenge Haushaltskonsolidierung brauche. Sie lassen vermissen - ich bin sicher, dies wird sich nach der NordrheinWestfalen-Wahl ändern -, den Leuten reinen Wein einzuschenken und ihnen mitzuteilen, wo Sie denn dann kürzen wollen, damit das Geld, das Sie zum Fenster hinausgeworfen haben, wieder in den Haushalt eingestellt wird. Das ist unverantwortlich. ({4}) Dadurch entsteht auch kein Wachstum. Das, was Kollege Lindner hier geäußert und wobei er laut die ideologische Pauke geschlagen hat, war im Wesentlichen ohne Substanz. Dass jemand wie er nur solche ideologischen Phrasen dreschen kann, das leuchtet mir ein. Denn wenn man seit dem 20. Lebensjahr nur in Parlamenten an einem Pult wie diesem gestanden hat, ist wenig anderes zu erwarten; deswegen ist das nicht verwunderlich. ({5}) Aber entscheidend ist etwas anderes: Kein Institut in Deutschland würde auch nur ansatzweise Ihre Ideologie bestätigen, weder in Bezug auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz noch auf das, was im Koalitionsvertrag steht. Ich darf Ihnen, Herr Brüderle - Herr Heil hat vorhin schon darauf hingewiesen -, noch einmal wörtlich zitieren, was auf Seite 3 des Gutachtens des Sachverständigenrates steht: Insgesamt gesehen, vermag der Koalitionsvertrag in einer Reihe von wichtigen Punkten nicht zu überzeugen. Nicht nur mangelt es an konkreten Schritten zur Rückführung der staatlichen Neuverschuldung, stattdessen werden Steuererleichterungen und zusätzliche Ausgaben in Aussicht gestellt. Das Zitat geht weiter; das ist der entscheidende Satz: Wenn sie schon glaubt, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu haben, dann sollten diese besser für Zukunftsinvestitionen eingesetzt werden, anstatt sie beispielsweise in Form von Betreuungsgeld und Steuernachlässen für Hotelbetriebe zu verwenden. Hier ist nicht Oppositionspolitik zitiert worden, sondern dies steht im Sachverständigengutachten. ({6}) Darauf haben Sie keine entsprechende Antwort gegeben. ({7}) Ich bin ganz sicher, dass wir ein paar Elemente in die Diskussion einbringen müssen; einige davon sind hier schon genannt worden, im Übrigen gerade von Herrn Meister, der das Thema Verbriefungsgesetz angesprochen hat. Ich bin mir sicher, dass wir in sehr konstruktive Gespräche darüber einsteigen können, weil dies ein Thema ist, das in der Tat dringend einer vernünftigen Lösung zugeführt werden muss. Aber wir brauchen zunächst den Grundsatz - das betrifft nicht nur das Ressort von Herrn Brüderle, sondern in gleicher Weise das von Herrn Schäuble und auch von Frau Aigner, wenn man es genau sieht -, dass kein Markt, kein Produkt und kein Akteur auf diesem Markt in Zukunft unreguliert und unbeaufsichtigt bleiben darf. Wir brauchen dort verschärfte Regeln. Von Ihnen, Herr Brüderle, Herr Schäuble, aber auch Frau Bundeskanzlerin, erwarte ich mehr Energie, um das umzusetzen, was in Pittsburgh beim G-20-Gipfel verabredet und als Ziel beschrieben worden ist. Wir benötigen eine internationale Finanztransaktionssteuer. ({8}) Für die Erreichung dieses Ziels muss von Ihrer Seite mehr Kraft aufgewendet werden, und auch wenn diese Steuer international zunächst nicht durchzusetzen ist, so muss doch dieses Ziel bestehen bleiben. Dann muss man auf der europäischen Ebene anstreben, etwas zustande zu bringen. Ich füge ausdrücklich hinzu: Wenn auch dies in den nächsten Monaten nicht zu erreichen ist, dann muss es eine nationale Börsenumsatzsteuer geben. ({9}) Dies jedenfalls raten wir Ihnen eindeutig, und unsere Bereitschaft, das umzusetzen, ist vorhanden. Im Übrigen, Herr Brüderle, brauchen wir eine viel stärkere europäische Koordinierung. Es reicht nicht aus, nur auf die Geldpolitik auf der europäischen Ebene zu blicken und auf die dortige Rolle der EZB und des ECOFIN zu verweisen. Vielmehr brauchen wir eine engere Abstimmung und eine engere Koordinierung auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das heißt zum Beispiel, dass man den Vorschlag des Ratspräsidenten, von Herrn Zapatero, ernst nimmt und noch einmal darüber nachdenkt, ob es nicht richtig ist, 1 Prozent zu investieren und noch einmal öffentliche Investitionen auszulösen, damit Menschen gut durch diese Krise kommen und in Arbeit bleiben oder Arbeit finden können. ({10}) Ich kann aus Zeitgründen nicht mehr auf das eingehen, was wir im Bereich der Bildung benötigten. Das, was Sie vorschlagen, ist viel zu wenig. Wir bräuchten eine viel größere Anstrengung. Ich nenne einmal die Zahl von rund 10 Milliarden Euro, die allein der Bund jährlich investieren müsste, um im Bereich der Bildung voranzukommen. Abschließend will ich jedoch auf einen Punkt aus Ihrer Rede zu sprechen kommen. Sie haben über die Kurzarbeit gesprochen und zu Recht beschrieben, dass dies ein wirksames Instrument war, um Menschen in Arbeit zu halten. Sie haben aber darüber hinaus einfach nur davon gesprochen, dass es ein teures Instrument und eine Subvention sei. Dieser Sprachgebrauch entlarvt Sie; denn ich habe nicht den Eindruck, dass diejenigen, die in den großen Betrieben, um die es dabei in erster Linie geht, als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezwungen sind, kurz zu arbeiten, sich als Subventionsempfänger empfinden. Sie wissen genau, mit welcher psychologischen Wirkung das Wort Subvention in Deutschland gebraucht wird. Das ist aus meiner Sicht im Zusammenhang mit der Kurzarbeit vollkommen unzulässig. ({11}) Hier geht es doch darum, die Menschen in Arbeit zu halten. Natürlich wissen die Betriebe, dass das ein teures Instrument ist, aber es geht doch darum, die Fachkräfte in den Betrieben zu halten. Sie können nicht einerseits den Fachkräftemangel, der auf uns zukommt, beklagen und andererseits eine Beschränkung auf nur 18 Monate einführen. ({12}) Wir brauchen eine längere Perspektive für die Menschen in den Betrieben, damit sie in Arbeit bleiben und damit sie mit dem Einkommen, das sie zur Verfügung haben, den Konsum ankurbeln. Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion Die Linke. ({0})

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Lindner, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Umverteilung mittels Steuersenkung zugunsten von Vermögenden und Konzernen sei etwas Neues, dann ist das verlogen; es ist auch verlogen, zu sagen, damit werde die Binnennachfrage gestärkt. Wir wissen, dass diese Politik in den letzten Jahrzehnten die Armut verschärft hat, die Binnennachfrage ruiniert hat, zu Spekulationen auf den Finanzmärkten geführt hat und damit die Krise mit verursacht hat. Sonst gar nichts. ({0}) Lassen Sie mich zu dem Punkt „privat versus Staat“ kommen. Herr Brüderle, Sie schreiben in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht, eine der Herausforderungen sei die Stabilisierung der Konjunktur. Umso erstaunlicher finde ich allerdings, dass Sie im gleichen Atemzug ankündigen, dass Sie die staatlichen Konjunkturprogramme kürzen bzw. nicht mehr weiterführen wollen. Im Jahr 2009 wurden Ausgaben in Höhe von 33 Milliarden Euro geplant und fast vollständig realisiert. Das war uns zu wenig; es hat aber trotzdem Beschäftigung gesichert, und zwar die von Handwerkern, die von kommunalen Aufträgen abhängig sind, und die von Bauarbeitern. Besonders erfolgreich war das Gebäudesanierungsprogramm, das dann aufgestockt wurde. Diese Mittel waren nicht nur konjunkturell wichtig; seit langem liegt Deutschland im europäischen Vergleich bei öffentlichen Investitionen zurück. 40 Milliarden Euro mehr müssten alleine Bund, Länder und Kommunen jährlich investieren, um nur im europäischen Durchschnitt zu liegen, geschweige denn um Spitzenwerte erzielen zu können. Die Bürgerinnen und Bürger merken Ihr Verständnis von Staat in dieser Hinsicht überall: fehlende oder marode Schulen und Kindergärten, Verkehrssysteme, die die Luft verpesten, ungedämmte Gebäude, die viele CO2-Schäden verursachen, und vieles andere mehr. Jetzt kürzen Sie die Mittel bereits auf 28 Milliarden Euro und nehmen mit Ihrem Steuersenkungsprogramm den Kommunen die notwendigen Mittel für die Investitionen weg. Das ist unserer Auffassung nach ein Skandal, Herr Brüderle. ({1}) Wir fordern die Aufstockung, nicht die Kürzung. Wir wollen ein Zukunftsprogramm von 50 Milliarden Euro für öffentliche Investitionen von Bund, Ländern und Kommunen. Wir brauchen sie, um die Daseinsvorsorge zu erhalten, wir brauchen sie, um den ökologischen Umbau, zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr, einzuleiten, und wir brauchen sie für den Ausbau regenerativer Energien. Wir brauchen sie darüber hinaus zur Stabilisierung der Konjunktur, um Arbeitsplätze zu sichern. Der Chef des Internationalen Währungsfonds, Strauss-Kahn, hat kürzlich gewarnt, dass eine zweite Rezession drohe, wenn die Industrieländer ihre Konjunkturprogramme zu früh beendeten. Lassen Sie sich das doch endlich eine Warnung sein, und folgen Sie unseren Ratschlägen! ({2}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch auf das öffentliche Personal zu sprechen kommen. Auch da ist Deutschland Schlusslicht, auch da haben Sie keine Kraft, Zukunft zu gestalten, wie es so schön verheißt. Soziale Dienstleistungen sind Gradmesser für Beschäftigung und Wohlstand. Sie entscheiden über Lebensqualität. Allein 400 000 zusätzliche Beschäftigte fehlen in der Ganztagsbetreuung, sagt das DIW. Studien zur Altenpflege besagen, dass dort demnächst 500 000 Arbeitsplätze benötigt werden. Deshalb ist die Schaffung von 1 Million Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst ein weiterer Schwerpunkt unseres Programms. ({3}) Dritter Schwerpunkt. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem in den exportabhängigen Industrieregionen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg, gestiegen, und Kurzarbeit - das sagen auch Sie schützt nicht ewig vor Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig leistet sich der Exportweltmeister Deutschland eine völlig überaltete Industrie. Unter dem Druck kurzfristiger Renditeorientierung sind langfristige Ziele wie ökologische Erneuerung und Innovation der Industrie auf den Hund gekommen. Aus einem Gutachten für das Umweltministerium der letzten Regierung geht hervor, dass der Investitionsanteil der Industrie von 25 Prozent im Jahr 1970 auf 18 Prozent gefallen ist und sich somit ebenfalls unter dem OECD-Durchschnitt befindet. Dringend erforderlich ist, die Sicherung von Arbeitsplätzen mit dem notwendigen ökologischen Umbau der Industrie zu verbinden. ({4}) Sie haben hier viel von Anreizen, Steuernachlässen und anderen Maßnahmen gesprochen, mit denen Sie Wachstum und Innovationen fördern wollen. Nach der Verfassung sollen wir die Industrie aber nicht reizen; vielmehr heißt es dort: Eigentum verpflichtet. Verpflichtet ist somit die Politik, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass auch die Industrie dem Gemeinwohl dient und nicht nur den Profiten einiger weniger. ({5}) Wir fordern eine aktive Industriepolitik, die den notwendigen ökologischen Umbau mit sozialen Fragen wie Beschäftigungssicherung verbindet. Wir wollen, dass aus dem Deutschlandfonds dafür 25 Milliarden Euro in die Hand genommen werden. Bevor Herr Lindner wieder „SED“ und „Planwirtschaft“ schreit: In Frankreich wird so vorgegangen. In Brasilien wird erfolgreich Industriepolitik betrieben, indem Mittel als staatliche Beteiligung vergeben werden, verbunden mit Auflagen für ökologischen Umbau und mit demokratischer Kontrolle. Ihr Deutschlandfonds schafft weder Rahmenbedingungen für den ökologischen Umbau, noch ist er demokratisch kontrolliert. Es ist ein Schattenhaushalt, über den allein Staatssekretäre und Minister verfügen. Wir wollen Alternativen zu Ihrer Exportorientierung, die am Ende ist. Wir bieten Ihnen eine Alternative, die Wirtschaftsdemokratisierung mit ökologischer Erneuerung, sozialen Dienstleistungen und öffentlicher Daseinsvorsorge verbindet. Das schüfe Kraft für Neues, nicht aber Ihre Fortschreibung der Umverteilungspolitik. Danke. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dr. Georg Nüßlein ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es ist selbstverständlich, dass eine so wichtige Landtagswahl wie die in NRW ihre Schatten vorauswirft; man hat es insbesondere bei den Reden der Opposition gespürt. Ich bin der Auffassung, dass dieser Jahreswirtschaftsbericht die besondere Chance geboten hat, in dieser Debatte herauszukehren, dass es eine historische Gemeinschaftsleistung der Politik und insbesondere der Bundespolitik war, das zu erreichen, was wir hier geschafft haben. Es wäre gut gewesen, wenn Sie das einmal angesprochen hätten. ({0}) Wahlkampfgetöse gehört zwar dazu - ich mache das auch gerne -; dennoch wäre es besser gewesen, wenn Sie hier ein bisschen leiser getreten hätten. Es geht hier darum, den Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen zu vermitteln. Das ist uns bisher sowohl auf den Finanz- als auch auf den Arbeitsmärkten gelungen; das muss man einmal betonen. Ich nehme zur Kenntnis, dass wir jetzt einen spürbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit bekommen; so lauten die aktuellen Meldungen. Jetzt geht es darum, zu verhindern, dass das gewonnene Vertrauen verloren geht. Dazu muss die Politik ihren Beitrag leisten. Dazu leisten in diesem Land insbesondere die vielen mittelständischen Unternehmer einen ganz entscheidenden Beitrag. Deshalb möchte ich an der Stelle wieder einmal eine Lanze für den Mittelstand brechen. Ich meine nämlich, dass der Mittelstand in dieser schwierigen Situation in der Lage ist, Deutschland zu stabilisieren. ({1}) In diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle der Banken angesprochen. Es ist natürlich völlig richtig, Herr Kuhn: Freiwilligkeit macht nur Sinn, wenn Verantwortung auch wahrgenommen wird. ({2}) Die Politik muss somit einerseits dafür Sorge tragen, dass die Banken die notwendigen Spielräume haben, andererseits aber auch, wenn sie zur Kenntnis nimmt, dass die Banken diese nicht so nutzen, wie wir uns das vorstellen, ({3}) sich über weitere Maßnahmen Gedanken machen. Da pflichte ich Ihnen völlig bei. ({4}) Angesichts der Meldungen, dass noch Eigenkapitalausfälle in Höhe von 90 Milliarden Euro drohen und deshalb die Spielräume, Kredite zu gewähren, permanent enger werden, sind Vorschläge wie der des Kollegen Meister, ein Verbriefungsgesetz zu erlassen, ganz zentral. Das sind Dinge, die man dann auch entsprechend schnell umsetzen muss. ({5}) Wenn wir sagen, wir haben den Mittelstand im Blick, müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob wir das auch im Tagesgeschäft tun. Bei all den wünschenswerten Dingen, die wir in den Bereichen des Verbraucherschutzes und des Datenschutzes sowie in anderen Bereichen noch gestalten wollen, müssen wir uns immer die Frage stellen, welche Auswirkungen das letztendlich auf kleinere und mittlere Unternehmen hat. Normalerweise wird in einer solchen Debatte - indirekt ist das heute auch passiert - regelmäßig auf Erhard rekurriert: ({6}) Wohlstand für alle heißt aber auch Teilhabe für alle. Jetzt ordne ich das, was der Bundeswirtschaftsminister derzeit im Bereich des Kartellrechts vorschlägt, einmal in diesen Kontext ein. Ich gehe davon aus, dass es so gemeint ist. Er hat sein Vorhaben heute leider nur mit der Sentenz begründet: Si vis pacem para bellum! Also: Rüste dich für den Krieg, wenn du Frieden willst! - Wenn Sie uns, Herr Minister, sagen würden, wen Sie damit meinen und bei welchen Fällen ein solches Zerschlagungsgesetz Wirkung zeigen kann, dann sind wir als CSU eng an Ihrer Seite. Die Vorschläge, die ich bisher gehört habe, haben mich nicht überzeugt. Mich würde überzeugen, wenn Sie sagen würden, dass es im Handel eine Konzentration der Macht gibt, die den Mittelstand massiv bedroht, ({7}) dass diese Marktmacht, auch wenn sie vielleicht auf der Verbraucherseite noch nicht zum Tragen kommt, insbesondere auf den Beschaffungsmärkten den Mittelstand gefährdet, dass also die Gefahr besteht, dass von der Landwirtschaft über die mittelständischen Zulieferer bis hin zum mittelständischen Einzelhandel ein Totalschaden entsteht. In dieser Republik haben wir ja die Situation, dass derzeit sechs Große im Lebensmittelbereich darüber entscheiden, was 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger auf den Tisch bekommen. Hier haben wir ein Oligopol mit ganz außerordentlicher Marktmacht. Ich behaupte, dass diese Marktmacht auch eingesetzt wird, zwar nicht auf der Verbraucherseite, jedoch auf der Beschaffungsseite. Wenn das Instrument, das Sie vorschlagen, dabei helfen würde, das eine oder andere wieder zurechtzurücken, sodass der Mittelstand auch in diesen Bereichen gemäß dem Motto „Teilhabe für alle“ wieder mehr atmen und stärker zum Zuge kommen kann, dann würde uns das durchaus gefallen; das hätte einen gewissen Charme. Wenn es sich nur um ein allgemeines Instrument handelt, das man an die Hand bekommen möchte, weil es andere wie zum Beispiel die USA auch haben, dann tue ich mich, ehrlich gesagt, auch mit Blick auf Art. 14 des Grundgesetzes ausgesprochen schwer, dem zu folgen. ({8}) Ansonsten wird im Zusammenhang mit dem Mittelstand immer das Thema Bürokratieabbau angesprochen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man hier mit Prozentzahlen hantieren sollte. Wenn man nämlich von einem Abbau von 25 Prozent spricht, dann taucht immer die Frage auf, von welcher 100-Prozent-Basis man ausgeht. Ich bin mir allerdings sicher, dass in diesem Bereich noch sehr viel mehr drin ist und hier insbesondere das deutsche Steuerrecht immenses Potenzial bietet. ({9}) Wir müssen daher im Rahmen der Steuerreform zwei Dinge tun: Auf der einen Seite müssen wir den Mittelstandsbauch abbauen. Auf der anderen Seite müssen wir im Interesse unseres Mittelstands für Steuervereinfachungen sorgen. ({10}) Nun hat die Kollegin von der Linken vorhin den ökologischen Umbau der Wirtschaft mit Blick auf die Arbeitsplätze angesprochen. Zunächst einmal muss es uns doch darum gehen, Arbeitsplätze zu sichern. Wenn das gleichzeitig mit einem ökologischen Umbau, wie Sie es taufen, geschieht, dann muss Ihnen doch klar sein, dass dafür ein längerer Zeitraum nötig ist. ({11}) Über diesen längeren Zeitraum diskutieren wir hier. Das tun wir zu Recht, insbesondere in der Energiepolitik. ({12}) Da geht es um die Frage: Wie können wir die erneuerbaren Energien so weit ausbauen, dass sie die Hauptrolle im Energiemix spielen? Wie können wir das erreichen, ohne energieintensive Bereiche aus dem Land zu treiben oder die Strompreise unsozial zu verteuern? Wir sind für einen dynamischen Energiemix, wobei die erneuerbaren Energien sukzessive aufwachsen und dann die klassischen Energieformen ersetzen sollen. Wir müssen aber mit Blick auf die Preise dafür sorgen, dass die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert werden, bis wir diese ökonomische Erwägung realisieren können. ({13}) Nun sagen Sie, das sei widersprüchlich. Ich bestreite das massiv. Wir haben einen Einspeisevorrang im EEG, an dem niemand rütteln wird. Das heißt, die erneuerbaren Energien sind in keiner Weise gefährdet. Im Gegenteil: Derjenige, der heute in ein Kohlekraftwerk investiert, muss sich die Frage stellen, wie lange er am Markt damit reüssieren kann. Denn nach der Merit-Order kommen zuerst die erneuerbaren Energien und dann die Kernenergie; die Energieformen, die teuer sind und CO2 produzieren, werden sukzessive verschwinden. Das ist eine klare Linie. Meine Damen und Herren, ich erwarte keinen Konsens, aber ich erwarte zumindest, dass keine falschen Dinge behauptet werden. Die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke hat nichts, aber auch gar nichts mit den erneuerbaren Energien zu tun. Vielen herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Der Jahreswirtschaftsbericht trägt eine Überschrift, die sehr markige Worte beinhaltet. Da wird von „neu“, von „Kraft“, von „Zukunft“ und von „gestalten“ gesprochen. ({0}) Wenn man den Bericht liest, kann man nichts erkennen, was neu oder kraftvoll ist, was nach Gestaltung schreit oder einen zukünftigen Weg beschreibt. Im Deutschen gibt es ein schönes Bild. Der Volksmund sagt: Es gibt Menschen, die mit dem Hintern einreißen, was andere mit den Händen aufgebaut haben. - Es besteht die Gefahr, dass das, Herr Nüßlein, was die Große Koalition und davor die rot-grüne Koalition aufgebaut haben und was sich an guter Substanz im Jahreswirtschaftsbericht und auch im Haushalt 2010 findet, durch diese Bundesregierung und speziell durch einen Wirtschaftsminister eingerissen wird, der nicht auf dem richtigen Pfad, sondern auf einem falschen Pfad ist. ({1}) Ich bedaure es sehr, dass Herr Lindner nicht da ist. Ich fände es gut, wenn diejenigen, die eine Rede halten, auch später noch anwesend sind, damit man sie ansprechen kann. - Auf der Besuchertribüne sitzen junge Gäste. Ich finde es gut, dass sie da sind. Sie sprechen, Herr Brüderle, oft sehr vage und nebulös. Eines ist aber immer sehr klar: Sie sprechen von einem bestimmten Staatsverständnis. Dieses Staatsverständnis fließt auch in die einzelnen Maßnahmen ein, auf die ich noch konkret zu sprechen kommen will. Zu Beginn meiner Rede möchte ich Herrn Lindner und Herrn Nüßlein ganz klar sagen: Das Staatsverständnis, das Sie haben, teilen wir nicht. Es macht uns Angst; es ist gefährlich. ({2}) Warum, liebe junge Leute? Hier wird kein Gegensatz zwischen Bürger und Staat aufgebaut, sondern hier wird künstlich ein Gegensatz zwischen Wirtschaft und Staat aufgebaut, als ob die Wirtschaft um ihrer selbst willen das Primat hätte. Das ist nicht so. Herr Brüderle, verlassen Sie diesen Pfad! ({3}) Wer baut die Straßen - nicht nach Theben, aber zu den Unternehmen? Wer sorgt für die Qualifikation der Facharbeiterinnen und Facharbeiter? Wer gewährleistet die Sicherheit? Wer bietet Lebensqualität in den Städten, damit die Menschen, die arbeiten sollen, sich wohlfühlen? Doch wohl der Staat. Deshalb: Desavouieren Sie den Staat nicht, sondern stützen Sie ihn in seiner Leistungsfähigkeit! ({4}) Ich will durchexerzieren, was sich im Jahreswirtschaftsbericht und in Ihren Vorhaben findet. Der erste Punkt ist, dass Sie die Steuern senken und gleichzeitig den Haushalt konsolidieren wollen. Sie werden im vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht der Forderung nicht gerecht, diese Quadratur des Kreises aufzulösen ({5}) und zu beweisen, was Sie dem Sachverständigengutachten entgegenzusetzen haben. Von einem neutralen Gutachten kann man, da es um eine der größten Volkswirtschaften der Welt geht, erwarten, dass man, Herr Brüderle, nicht nur sagt: „Wir wollen eine Schippe drauflegen“ oder: „Wir haben den richtigen Kompass“; vielleicht schauen Sie auch mal auf den Kompass. Es geht vielmehr auch darum, dass man deutlich macht, warum durch Steuersenkungen und weitere Verschuldung Wachstum entstehen soll. Diese Begründung sind Sie uns schuldig geblieben. ({6}) Daraus folgt, dass Sie die Kommunen arm machen. Ich hatte zwischen Weihnachten und Silvester 2008 das große Vergnügen, ein Konjunkturprogramm zur Gebäudesanierung und ein Konjunkturprogramm im Verkehrsbereich auszuarbeiten. Wenn Sie den Kommunen das Geld wegnehmen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass nicht weiter investiert wird. ({7}) Das ist der völlig falsche Weg. Aus diesem Grund sage ich: Verlassen Sie diesen Pfad! Zur Arbeitsmarktpolitik. Hier schlagen Sie einen Irrweg ein. Auf der einen Seite, Herr Nüßlein, wird ab und zu gelobt, dass die Geltungsdauer der Regelung zum Kurzarbeitarbeitergeld verlängert worden ist. In der Regel wird dann von „man“ gesprochen; man nennt nicht Ross und Reiter, nicht diejenigen, die das geschafft haben. ({8}) Aber es geht nicht nur um das Kurzarbeitergeld, sondern, Herr Brüderle, auch um den Kommunalkombi, der zum Beispiel im Osten unserer Republik viel bewirkt hat. Tausende Langzeitarbeitslose sind in Arbeit gekommen. Warum beenden Sie dieses Programm? Herr Vaatz, warum beenden es der Ministerpräsident, der Finanzund der Wirtschaftsminister im Freistaat Sachsen? Menschen, die in Arbeit sind, werden herausgedrängt. Das ist der falsche Pfad. Verlassen Sie ihn! ({9}) Das Gleiche gilt für die Mindestlöhne. Es ist mehrfach angesprochen worden: Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn, aber nicht aus ideologischen Gründen, Herr Brüderle, sondern aus dem einfachen Grund - Herr Lindner, ich freue mich, dass Sie wieder da sind -, dass zu einer menschenwürdigen Arbeit ein menschenwürdiger Lohn und damit ein menschenwürdiges Leben gehören. ({10}) Wenn Sie das nicht gewährleisten, dann wird es nicht nur weniger Kaufkraft geben und der Staat wesentlich mehr Steuergelder aufbringen müssen - dies ist übrigens, wenn Sie so wollen, eine Subvention -, sondern dann brauchen Sie sich nicht zu wundern - auch dies ist wieder ein ostspezifisches Problem -, dass die Menschen von Ost nach West gehen und die Facharbeiter dort fehlen, wo wir sie dringend brauchen, um die Industrie aufzubauen. ({11}) Jetzt stehen marktgerecht ausgestaltete Vermittlungsgutscheine auf der Tagesordnung. Auch soll Bürgerarbeit ausprobiert werden. Wenn Sie schon den Pfad der Großen Koalition und letztlich den der rot-grünen Regierung fortsetzen - man liest es im Jahreswirtschaftsbericht und im Haushaltsentwurf 2010 -, dann doch bitte auch in diesem Bereich. Warum muss Bürgerarbeit ausprobiert werden? Warum wollen wir den Menschen zum Beispiel im Osten, aber auch in anderen strukturschwachen Gebieten sagen: „Wir experimentieren erst noch ein bisschen; das, was funktioniert, werfen wir weg“? Verlassen Sie diesen Pfad! Er ist falsch. ({12}) Summa summarum: Herr Brüderle, Herr Lindner, überdenken Sie Ihr Grundverständnis von Staat und Wirtschaft; denn Sie verlassen einen guten Pfad und gehen in die Irre. Lassen Sie uns in der Zukunft darüber diskutieren. Es ist keine theoretische Debatte. Das Wohl und Wehe von Tausenden Menschen einer der stärksten Industrienationen Europas und damit eine globale Entwicklung hängen an der Frage, ob Sie diesen Irrweg verlassen. Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Tiefensee, Sie haben uns aufgefordert, über das Verhältnis von Wirtschaft und Staat nachzudenken. Herr Tiefensee, wir glauben nicht, dass der Staat die Aufgabe hat, Chancen für Zukünfte vorherzubestimmen. Vielmehr glauben wir, dass die Wirtschaft aus eigener Verantwortung Zukunft schaffen muss, dass der Staat dabei helfen und unterstützen kann, dass wir auf die Initiative des Einzelnen vertrauen, dass wir die Freiräume schaffen müssen, dass der Einzelne vorangehen und aufbauen kann, nicht aber, dass der Staat eng gestrickte Programme auflegt, bei denen gesagt wird, was der Einzelne tun soll. ({0}) Wir haben vom Sachverständigenrat und anschließend auch im Jahreswirtschaftsbericht drei zentrale Herausforderungen benannt bekommen: erstens, die Wirtschaft zu stabilisieren. Hier greift der Staat in Krisen ein, und er hilft. Aber - so haben es Herr Brüderle und Michael Meister gesagt - der Staat muss auch schauen, wie schnell er sich zurückziehen kann, damit es nicht kontraproduktiv wird; denn er weist nicht die Zukunft. Die Zukunft kann der Staat nicht erfinden. Er muss Freiraum schaffen, damit Zukunft von denen geschaffen werden kann, die in Wissenschaft und Wirtschaft die Arbeit zu tun haben. ({1}) Zweitens, Haushalte zu konsolidieren. Darüber haben wir mit Wolfgang Schäuble in der vergangenen Woche diskutiert. ({2}) Drittens, Wachstumsspielräume zu erweitern. Dies wird hier definiert. Es wird gesagt, wo dies erfolgen soll: in Bildung, in Forschung und in Innovation. Die Kollegin Nadine Müller wird nachher über Bildung sprechen, einen der zentralen strategischen Bereiche. ({3}) Forschung und Innovation sind die Felder, auf denen Zukunft entsteht. Die Frage, ob Kreativität möglich ist, ist zuerst eine Frage an die Wissenschaftler und an die Unternehmer. Wir fahren Bürokratie nicht nur zurück, um Kosten zu senken, sondern auch, um Freiheiten zu schaffen, um die Möglichkeit zu Neuem zu eröffnen. ({4}) In einer schwierigen Zeit werden wir dabei durchaus helfen. Bei der Forschung für den Mittelstand haben wir mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand in der Krise gewaltige Summen draufgelegt; in diesem Jahr sind es 450 Millionen Euro zusätzlich zu den bisherigen 313 Millionen Euro. Was ist der Sinn? Dass auch unter dem Druck der Krise die mittelständischen Unternehmen, die Quelle für viele Innovationen sind, imstande sind, ihre Forschung durchzuhalten und Zukunft zu schaffen. Damit sie sich nicht nur mit Krisenmanagement befassen, legen wir so viel Geld drauf. Eine der interessanten Herausforderungen, lieber Herr Brüderle, wird sein, wie wir in der nächsten Runde die Voraussetzungen dafür schaffen, dass hier nichts abbricht und dass die Förderung auf hohem Niveau fortgesetzt wird, damit wir einen Übergang bekommen, der in eine gute Zukunft hineinträgt. Bei diesem Zentralen Innovationsprogramm wird der Übergang wichtig sein, und es wird wichtig sein, dass das Signal an den Mittelstand von den Unternehmen verstanden wird: Macht die Forschung nicht kleiner! Stellt auch in der Krise junge Wissenschaftler ein! - Wir haben es 1994 und vorher schon 1979 erlebt, dass, wenn die Wirtschaft in der Krise nicht einstellt, anschließend die Zahlen junger Studenten zurückgehen, die Ingenieure, Chemiker oder Physiker werden wollen. Das aufzuholen, braucht dann Jahre. Deshalb halte ich es für prima, dass Herr Hambrecht für die chemische Industrie erklärt hat: Wir werden durchhalten. Wir werden auch in der Krise einstellen. - Das brauchen wir: Staat und Wirtschaft als Partner. Das ist die Stärke. Das ist die Voraussetzung für eine vernünftige Strategie. ({5}) Zur Hightech-Strategie: Herr Kuhn verlangt ein Wachstum mit menschlichem Gesicht. Jawohl! Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es, dass sich die Förderung der Schlüsseltechnologien der Hightech-Strategie zunehmend an gesellschaftlichen Zielen wie Gesundheit, Sicherheit, Alter, Kommunikation und Mobilität orientieren wird. Es ist genau diese Strategie aus einem Guss, die dem Einzelnen Freiheit und die Chance gibt, seine Rolle zu finden und erfolgreich zu sein, für sich selbst und für uns alle. Es gibt einige Bereiche, in denen wir noch viel tun müssen. Manches ist in dem vorzüglichen Bericht mit eleganter Beiläufigkeit erwähnt. Wenn es in einer einzigen Zeile unter Punkt 69 des Anhangs heißt, dass wir die klinische Forschung stärken wollen, ({6}) dann ist das hochinteressant. Dahinter steht die Tatsache, dass zwar in den Haushalten der Länder 3 Milliarden Euro für klinische Forschung und die Unterstützung der Universitätskliniken zur Verfügung stehen, aber der Wissenschaftsrat mahnt seit Jahren an, dass davon vielerorts weniger als 10 Prozent in die Forschung eingehen. Dieses Problem zu beheben, wird eine faszinierende Aufgabe für die Bundesregierung im Zusammenspiel mit vielen sein. Es ist wichtig, dass wir bei der steuerlichen Forschungsförderung weiterkommen. Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es - er baut auf dem Gutachten des Sachverständigenrats auf -: Die Bundesregierung strebt an, mit einer steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung zusätzliche Forschungsimpulse insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen auszulösen. ({7}) Das ist eine prachtvolle Bundesregierung. ({8}) Wenn sie etwas anstrebt, dann wird sie es auch erreichen. Wir werden alle helfen, dass dies gelingen kann. Ich weiß, dass das unter dem Druck der Situation der Haushalte und der Finanzen nicht einfach ist. Aber die Zukunft liegt darin, dass wir eine unbürokratische Forschungsförderung von kleinen und mittleren Unternehmen vorantreiben, die für Technik offen ist und Zukunft nicht vorschattiert, dass wir das tun, was zwei Drittel der OECD-Staaten tun, was Großbritannien überprüft, novelliert und neu aufgestellt hat. Die Elemente sind vorhanden. Die Ministerien haben in der vergangenen Legislaturperiode darüber nachgedacht. Der BDI unterstützt es inzwischen. Lange genug hat es gedauert, aber wir freuen uns drüber. Hier besteht eine Chance für Neues. Sie besteht im Aufbruch der Einzelnen mit Zuversicht in eine Zukunft. Rainer Brüderle hat Deutschland als Gründerland bezeichnet. Dabei zu helfen, ist nicht eine Sache der Gründerfonds und -programme allein. Wir haben prachtvolle Programme: EXIST, High-Tech-Gründerfonds, ERPStartfonds, EIF/ERP-Dachfonds. Niemand hat so viele Fonds staatlich mitfinanziert wie wir. Aber in steuerlicher Hinsicht sind wir noch nicht so weit, wie es sein soll. In der letzten Legislaturperiode kamen wir nicht so weit. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen gegeben sind, dass die Gründerzahlen steigen können, dass der Wagniskapitalmarkt wieder funktioniert. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Riesenhuber, Sie müssen zum Ende kommen.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Daraus entsteht Zukunft. Daran arbeiten wir. - Wenn Sie meinen, ich soll aufhören, dann tue ich dies gerne, obwohl über die Zukunft Deutschlands, für die wir gewählt sind, noch Grundsätzliches in fröhlicher Gemeinsamkeit zu sagen ist. ({0}) Lassen Sie uns daran arbeiten. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Riesenhuber, wir sehen uns ja häufig im Ausschuss. Ich genieße Ihre Redebeiträge immer. Sie können ja nicht viel falsch machen. Denn bei Ihrer Flughöhe kommt man selten ins Detail, aber genau da sind wir im politischen Alltag gefordert, und genau da erwarten die Menschen Antworten von uns. ({0}) Der Jahreswirtschaftsbericht sagt auch etwas zum Thema Energie. Das muss er natürlich tun. Die Energie ist nun einmal die wichtigste Ressource in einem Nochindustrieland wie der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen ist es notwendig, dass etwas dazu gesagt wird, wie es in diesem Bereich weitergehen soll. Wenn es um die Zukunft geht, ist der Bericht allerdings diffus - da ist der Wirtschaftsbericht an diesem Punkt nicht anders als an allen anderen -: Da wird auf die Zukunft verwiesen, insbesondere auf den Herbst des Jahres und das dann vorzulegende Energiekonzept. Wenn auf die Vergangenheit Bezug genommen wurde, wurde ein Häkchen gemacht. Da hat die Große Koalition offenbar ganz gut gearbeitet. 15 Häkchen und 8 Verweise auf die Zukunft, das ist das, was in diesem Bericht zum Thema Energie gesagt wird. Auch wenn grundsätzlich auf die Zukunft verwiesen wird, darauf, dass ein Energiekonzept vorgelegt werden soll, gibt es in einem Punkt ganz offensichtlich eine Setzung: Das ist die Laufzeitverlängerung für die deutschen Kernkraftwerke. Was bedeutet das eigentlich? Ich glaube, Herr Nüßlein hat eben behauptet, dass der Bereich der erneuerbaren Energien von einer Verlängerung der Laufzeiten nicht betroffen ist, nicht darunter leidet. Der Bundesverband Erneuerbare Energie hat den Köder, der ihm angeboten wurde, abgelehnt. Man wollte ihm von dem Aufkommen, das im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung erwirtschaftet wird - 50 Prozent sollen ja dem Staat zufallen -, ein bisschen abgeben. Der Vorsitzende des Bundesverbandes Erneuerbare Energie sagt: Nein, wir brauchen das nicht, wenn es eine vernünftige Energiepolitik gibt, wie es sie in den letzten elf Jahren gab. Das Traumpaar Atom und Wind ist kein Traumpaar. ({1}) Wenn jetzt behauptet wird, dass man die Atomenergie wunderbar rauf- und runterregeln kann, ist man offensichtlich einer Verwechselung unterlegen. Das ist richtig für Gaskraftwerke, trifft in dieser Form auf Kernkraftwerke aber nicht zu. Die Fachleute wissen, dass man dort nur sehr begrenzt regeln kann. Das gilt vor allen Dingen für die benötigte Minutenreserve. Das ist die Energie, die schnell zur Verfügung stehen muss. Außerdem hat das den Preis, dass man mehr Brennstäbe braucht, weil sie schneller verbraucht sind. Das heißt, dass das Ganze auch unter Entsorgungsgesichtspunkten eine Milchmädchenrechnung ist. ({2}) Der Bundesverband stellt absolut zutreffend fest: Die Bundesregierung baut ihr Energiekonzept um die Atomkraft herum. Was bedeutet das eigentlich? Das bedeutet zum Beispiel - dazu gibt es Gutachten, die auch von Stadtwerken vorgelegt worden sind -, dass man nachteilige Wirkungen für den Wettbewerb in Kauf nimmt: Die Neuen haben mehr Schwierigkeiten, auf den Markt zu kommen, und die Marktmacht der Alten, die 80 Prozent der Erzeugung in Händen haben, wird zementiert. Dann kommt der Wirtschaftsminister und sagt: Ich habe eine Antwort darauf; mir schwebt ein EntflechtungsRolf Hempelmann oder Zerschlagungsgesetz vor. Ich will gar nicht sagen, dass man grundsätzlich nicht auch über so etwas reden kann. Aber wir haben gerade festgestellt, dass das Rezept zur Kompensation dieser nachteiligen Wirkung der Laufzeitverlängerung in der Koalition noch strittig ist. Die CSU hat Bedenken angemeldet. Wenn man eine Struktur schafft, für die man anschließend Korrekturen finden muss, man diese Korrekturen aber noch strittig stellt, dann ist das eine Politik, die wir öffentlich nicht unkritisiert lassen können. ({3}) Fast noch wichtiger ist der Hinweis in diesem Gutachten auf die negativen Auswirkungen auf die Investitionen in den Kraftwerkspark. Dabei geht es zum Beispiel auch um Investitionen in Kraft-Wärme-Koppelung, aber - da lasse ich Sie nicht raus - auch um Investitionen in die erneuerbaren Energien. Wir haben gegen Ende der letzten Legislaturperiode versucht, eine Regelung zu finden, die es den Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien leichter macht, es für sie attraktiver macht, in die Direktvermarktung zu gehen, sich also vom Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Stückchen zu lösen. Das wird aber überhaupt nicht funktionieren, wenn sie mit dann weiter perpetuierten, eigentlich abgeschriebenen Kernkraftwerken in Konkurrenz treten müssen. Da ist der Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien. Diesen lösen Sie nicht auf. Sie wollen die Direktvermarktung, Sie wollen die Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energien, und gleichzeitig bauen Sie das größte Hindernis dazu auf, das man sich vorstellen kann. ({4}) Vernachlässigt werden alle anderen wichtigen Zukunftsthemen, zum Beispiel das Thema Effizienz. Wir hätten schon in der letzten Legislaturperiode gerne einen ambitionierten Gesetzentwurf dazu verabschiedet. Dazu ist es leider nicht gekommen. Konkretes dazu findet sich auch nicht im Jahreswirtschaftsbericht. Gerade jetzt ist ein Thema aktuell, das die Effizienz im Gebäudebereich betrifft: die energetische Effizienz. Da hätten Sie die Gelegenheit gehabt, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm aufzustocken, so wie wir es im letzten Jahr gemacht haben. Sie tun das nicht, obwohl es ein Programm ist, das sich über Steuerrückflüsse selbst finanziert und das - Herr Nüßlein hat den Mittelstand hochgehalten - insbesondere Beschäftigung im Mittelstand generiert. ({5}) Das geben Sie auf bzw. fahren es deutlich herunter. Etwas, was bewährt ist, wird sozusagen aufgegeben - das wurde hier schon an anderer Stelle kritisiert -, und etwas Neues ist noch nicht in Sicht. Diese Politik führt nicht in die Zukunft. Im SPD-Antrag finden sich Vorschläge für eine ökologische Industriepolitik. Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen über das Zukunftskonzept Energie. Was Sie bisher liefern, ist jedenfalls für uns keine Konkurrenz. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nadine Müller für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung ist wie eine sehr empfindliche Pflanze. Sie kann schnell eingehen; denn sie ist anfällig und abhängig von äußeren Einflüssen. Sie kann aber durchaus auch groß und stark werden. Wir befinden uns in einer Phase der konjunkturellen Erholung. Allerdings ist diese noch fragil und muss stabilisiert werden. ({0}) Vor diesem Hintergrund macht der Jahreswirtschaftsbericht drei Herausforderungen aus, vor denen wir heute stehen. Kollege Riesenhuber hat sie bereits aufgezählt. Da ist zum Ersten die wirtschaftliche Lage, die kurzfristig stabilisiert werden muss. Dazu ist im Laufe der Debatte, denke ich, das Wesentliche gesagt worden. Zum Zweiten müssen wir die öffentlichen Haushalte langfristig konsolidieren. Das liegt mir gerade als Vertreterin der jungen Generation ganz besonders am Herzen. Die Schuldenbremse gibt uns da einen schwierigen, aber konsequenten und konkreten Weg vor. Dazu gibt es keine Alternative. ({1}) Um eine Konsolidierung überhaupt zu ermöglichen - damit bin ich beim dritten Punkt -, wird es mittelfristig darauf ankommen, Wachstumsspielräume zu schaffen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir in Zukunftstechnologien investieren müssen. Kollege Riesenhuber ist darauf sehr detailliert eingegangen. Wir investieren in Forschung, in Innovationen und in den Technologietransfer. So sorgen wir dafür, dass Deutschland weiterhin das Land der hochwertigen Produkte und der Zukunftstechnologien bleibt. ({2}) Allerdings bringt uns die beste Innovationsförderung nichts, wenn wir nicht genügend Fachkräfte haben: Fachkräfte, die forschen und entwickeln und dadurch die Innovationen hervorbringen, und Fachkräfte, die Innovationen in Produkte umsetzen. Deshalb ist eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte aus meiner Sicht der erhöhte Fachkräftebedarf. Dem zu begegnen, haben wir uns auf die Fahne geschrieben. Unsere Antwort darauf ist eine ganz klare Schwerpunktsetzung auf Investitionen in die Bildung. 12 Milliarden Euro wird die Bundesregierung in Bildung und Forschung investieren. ({3}) Nadine Müller ({4}) Nun hat Herr Duin - er ist, glaube ich, gerade nicht im Saal - bereits gesagt, das sei zu wenig. Auch Herr Kuhn hat das gestern im Ausschuss angesprochen. Mir ist aufgefallen, Herr Kuhn, dass Sie das heute in der Debatte nicht mehr erwähnt haben. Vielleicht haben Sie die alten Unterlagen herausgeholt und sich daran erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit auch Sie in Regierungsverantwortung waren. Wenn man das, was Sie in Ihrer Zeit in die Forschung investiert haben, mit dem, was in den letzten Jahren investiert wurde, vergleicht, kann man deutliche Unterschiede feststellen. ({5}) Unter Rot-Grün sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung innerhalb von sieben Jahren um 0,7 Milliarden gestiegen. In den vier Jahren, die die CDU/CSU regiert hat, sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung um 3,1 Milliarden gestiegen. ({6}) In einem Schaubild des Statistischen Bundesamtes, das im Jahreswirtschaftsbericht 2009 abgedruckt ist, wird das grafisch dargestellt: Die Kurve, die die Ausgaben für Forschung und Entwicklung zeigt, verläuft bis 2005 relativ gerade, danach folgt ein steiler Aufstieg. Schöner kann man das mit Worten eigentlich nicht beschreiben. ({7}) Deshalb, lieber Kollege Kuhn, ist es unglaubwürdig, wenn die Grünen heute mangelnde Investitionen in Bildung und Forschung beklagen. Klar ist: Die Politik kann den Fachkräftemangel nicht allein bewältigen. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft müssen Hand in Hand arbeiten. Ein Bereich, in dem das sehr gut funktioniert, ist der Ausbildungspakt. Durch den Ausbildungspakt wurde die Ausbildungssituation für junge Menschen deutlich verbessert. Im vergangenen Jahr hatten wir trotz der Wirtschaftskrise mehr unbesetzte Stellen als unversorgte Bewerber. Für die gemeinsame Kraftanstrengung aller Partner des Ausbildungspaktes möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. ({8}) Schade ist allerdings - das möchte ich an dieser Stelle erwähnen -, dass sich die Gewerkschaften dem Ausbildungspakt nach wie vor nicht angeschlossen haben. Ich appelliere an die Gewerkschaften: Geben Sie sich einen Ruck und machen Sie beim neuen Ausbildungspakt im Herbst dieses Jahres mit! Es geht um die Zukunft unserer jungen Menschen, es geht um die Zukunft unserer Betriebe und nicht zuletzt um die Arbeitsplätze in unserem Land. ({9}) Nicht miesmachen, sondern mitmachen! In diesem Fall lohnt es sich wirklich. ({10}) Gemeinsame Kraftanstrengungen braucht es aber auch in anderen Bereichen: bei der Weiterbildung, bei den Hochschulen, bei der Berufsorientierung. Im Jahreswirtschaftsbericht 2009, aber auch im Jahresgutachten 2009/10 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - über dieses Jahresgutachten debattieren wir heute ja auch - wird das teilweise sehr detailliert angesprochen. Zwei andere, entscheidende Themen bleiben im Jahresgutachten des Sachverständigenrates allerdings leider nahezu unerwähnt: Gleichstellung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier ist Kritik angebracht; denn beide Themen sind maßgeblich für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, gerade im wirtschaftlichen Bereich. Deshalb sollte sich auch das Jahresgutachten des Sachverständigenrates mit diesen Themen beschäftigen. Gleichstellung in der Wirtschaft ist - im Gegensatz zu Gleichstellung in anderen Bereichen - in erster Linie ein Frauenthema. Betrachten wir die Zusammensetzung der Führungsetagen und Aufsichtsräte der Unternehmen in Deutschland, finden wir überwiegend Männer. In vielen Branchen, gerade in den Zukunftstechnologien, fehlen Frauen. Wir können auf die Frauen in Zukunft aber nicht verzichten. ({11}) Frauenförderung ist nicht nur unter Gleichstellungsgesichtspunkten ein wichtiges Thema, sondern liegt auch im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse. ({12}) Daher begrüße ich die „Bundesinitiative zur Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft“, mit der die Bundesregierung dieses Thema konkret angeht. ({13}) Die Bundesregierung kümmert sich auch um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist wichtig; denn wir können weder auf Kinder verzichten noch auf ihre gut ausgebildeten Väter und Mütter. Damit junge Familien Familie und Beruf vereinbaren können, müssen wir junge Familien viel mehr unterstützen als bisher. Damit haben wir in der letzten Legislaturperiode begonnen. Liebe Kollegen, als die CDU/CSU in der vergangenen Legislatur die Betreuungsmöglichkeiten ausgebaut und das Elterngeld eingeführt hat, ({14}) war gerade in meinem Bekannten- und Freundeskreis das Aufatmen vieler junger Familien regelrecht zu hören. ({15}) Mit dem Teilzeitelterngeld macht Ministerin Kristina Köhler weitere wichtige Schritte zu mehr Flexibilität. Das alles sind überfällige Maßnahmen. Wenn wir jetzt nicht tätig werden, verliert entweder der Arbeitsmarkt die jungen Paare, oder die jungen Paare verlieren die Nadine Müller ({16}) Lust am Kinderkriegen. Beides können wir uns auf Dauer nicht leisten - im Interesse der jungen Paare, aber auch in unserem eigenen Interesse. ({17}) Die christlich-liberale Koalition tut alles, um hier zu helfen. Es wäre schön, wenn sich auch der Sachverständigenrat in seinem nächsten Gutachten mit dieser Thematik eingehend befassen würde. Insgesamt gilt: Wir sind in vielen Bereichen auf einem guten Weg. Vieles wurde begonnen, Probleme wurden erkannt. Für die Vermeidung des Fachkräftemangels trägt nicht nur die Politik Verantwortung. Auch die Wirtschaft muss hier einen deutlichen Beitrag leisten. Schließlich geht es um ihren Fachkräftebedarf und ihr Potenzial an gut ausgebildeten Mitarbeitern. Bund, Länder, Wirtschaft und Gesellschaft müssen gemeinsam die wichtigen Zukunftsaufgaben angehen. Die CDU/CSU-Fraktion will das gerne tun. Packen wir es deshalb gemeinsam an! Danke schön. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Müller, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation und viele gute Wünsche für die weitere Arbeit! ({0}) Ich schließe die Aussprache zu diesem Thema. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/500, 17/44, 17/521 und 17/470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lohndumping verhindern - Leiharbeit strikt begrenzen - Drucksache 17/426 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zeitarbeitsbranche regulieren - Missbrauch bekämpfen - Drucksache 17/551 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke das Wort. ({3})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wieder einmal debattieren wir im Deutschen Bundestag über die Leiharbeit. Anlass ist dieses Mal die Firma Schlecker. ({0}) Warum? Bei der Firma Schlecker wird den Verkäuferinnen gekündigt; dann wird ihnen angeboten, bei den neuen XL-Märkten als Leiharbeiterinnen wieder anzufangen. Etwa 4 300 Leute sind betroffen. Ihnen wird gesagt, sie könnten dort für die Hälfte des Lohnes arbeiten, ohne Weihnachts- und Urlaubsgeld, bei weniger Urlaubstagen. Bereits 1 000 der kleinen Filialen der Firma Schlecker wurden geschlossen. Das Problem dabei ist: All das, was die Firma Schlecker hier macht, ist vollkommen legal. ({1}) Für die betroffenen Schlecker-Beschäftigten heißt das: Inzwischen werden Stundenlöhne von nur 6,50 Euro bezahlt. Der Tariflohn wäre 12,70 Euro. Die Leiharbeitsfirma Meniar, für die die Arbeitnehmer letztendlich arbeiten müssen, hat einen Tarifvertrag mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit, CGZP, abgeschlossen. Was sind die Folgen für die Beschäftigten? Inzwischen dürfte es sich herumgesprochen haben; der Stern hat in seiner Ausgabe vom letzten Donnerstag in einer sehr deutlichen Sprache vom „Geschäftsmodell Ausbeutung“ gesprochen. Die Menschen leben in Angst vor Kündigung, werden gezwungen, unbezahlte Überstunden zu machen, schuften bis zu 60 Stunden in der Woche für einen Hungerlohn usw. Hier liegt die Situation vor, dass die Menschen bei der Leiharbeitsfirma dieselbe Arbeit machen wie Festangestellte, aber nur die Hälfte des Lohns verdienen. Das ist ein absolut unakzeptabler Zustand. ({2}) Er hat mit modernen Arbeitsbedingungen nichts zu tun. Nachdem Sie von den Grünen und der SPD bei diesem Thema inzwischen eine andere Position einnehmen, würde ich mich im Übrigen freuen, wenn Sie darüber nachdenken könnten, was Sie damals eigentlich ange1606 stellt haben, als Sie die Leiharbeitsregelungen gelockert haben. Der Punkt ist: Immer mehr Arbeitnehmer in Leiharbeitsfirmen sind Aufstocker, so auch bei der Firma Schlecker. Sie werden zum Teil aus Steuergeldern bezahlt, während Herr Schlecker, der Eigentümer dieses Unternehmens mit einem geschätzten Vermögen von 2,4 Milliarden Euro, weniger Lohnausgaben hat. Wir finanzieren mit Steuergeldern die billigen Löhne und den Reichtum von Anton Schlecker. Das ist zurzeit der Zustand. ({3}) Was macht die Bundesregierung? Noch im November hat sie auf Anfrage von Sabine Zimmermann erklärt: Die Bundesregierung ist kein Forschungsinstitut, dessen Aufgabe es wäre, solchen Einzelfällen nachzugehen. Keine zwei Monate später sehen wir jetzt, dass Frau von der Leyen - leider ist sie nicht da - inzwischen dieses sehr wichtige Thema aufgreift. In der Sendung Anne Will hat sie am 10. Januar 2010 gesagt - ich zitiere wörtlich -: Bei Schlecker gucken wir sehr genau hin, ob da Missbrauch betrieben wird oder ob Gesetze umgangen werden. Wenn das der Fall ist, werden wir diese Schlupflöcher schließen. Man solle die Leiharbeit insgesamt doch bitteschön nicht verteufeln, das wäre ja offensichtlich sozusagen nur ein Ausreißer. Ich kann nur sagen: Schlecker ist kein Einzelfall. Wenn man so tut, als wäre dies ein Einzelfall, dann will man die Leiharbeit offensichtlich generell nicht regeln, sondern dann will man das nur auf einen Einzelfall schieben. Das werden wir nicht zulassen. ({4}) Ich möchte einige Beispiele aus der Realität der Bundesrepublik Deutschland aufzeigen: Bei dem Unternehmen BMW in Leipzig arbeiten rund 30 Prozent der Beschäftigten als Leiharbeitnehmer. Das hat im Übrigen überhaupt nichts mehr mit Auftragsspitzen zu tun, wie oft argumentiert wird. Es müsste sich ja schon um eine Hochebene handeln, wenn 30 Prozent der Arbeitnehmer Leiharbeiter sind. Auftragsspitzen in Höhe von 30 Prozent sind keine Spitzen mehr. Bei dem Siemens-Schaltwerk in Berlin waren von 2 200 Beschäftigten 600 Leiharbeitnehmer. Die Braunschweiger Zeitung beschäftigt Leiharbeitnehmer, wobei diese Angestellte der eigens dafür gegründeten Druck- und Verlags-Service GmbH sind. Deren einziger Kunde ist die Braunschweiger Zeitung. Der Lohnunterschied zu den Festangestellten beträgt 1 000 bis 1 500 Euro im Monat. Die Leute dort haben weniger Urlaubstage, sie erhalten weniger Zuschläge, sie haben keine Freischicht usw. Bei der Schmitz Cargobull AG in Altenberge kamen auf 440 Beschäftigte mit einer Festanstellung in der Spitze bis zu 600 Leiharbeitskräfte. Nach Protesten der IG Metall und der Belegschaft ist die Quote nun auf etwa 30 Prozent abgesenkt worden. Ich könnte diese Liste beliebig lange fortsetzen. Wer bei dieser Situation und bei dieser Realität noch sagt, es handele sich bei der Leiharbeit um ein Einzelproblem, der verkennt die Realität und der will das Problem verschleiern. Das ist die Realität. ({5}) Der Sinn der Leiharbeit ist inzwischen nicht mehr, Auftragsspitzen abzudecken, der Sinn ist auch nicht mehr, wegen Krankheit oder aus anderen Gründen kurzfristig Personal auszugleichen, sondern der Sinn der Leiharbeit ist ganz einfach erstens eine Lohnsenkung für die Beschäftigten und zweitens eine Disziplinierung der Arbeitnehmer, die nicht in Leiharbeit beschäftigt, sondern im selben Unternehmen wie die Leiharbeiter fest angestellt sind. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, aber was glauben Sie eigentlich, wie es wirkt, wenn zwei Leute nebeneinander dieselben Tätigkeiten ausüben, wobei der eine 30 oder 40 Prozent weniger Lohn erhält? Das ist offensichtlich das, was der eine oder andere hier unter Motivation versteht. Glauben Sie denn wirklich, dass unter solchen Bedingungen tatsächlich eine Belegschaft vorhanden ist, die sich bemüht und richtig motiviert den Betrieb voranbringt? Ich denke, das glauben Sie selber nicht. Wir haben das Problem - das ist ein anderer Gesichtspunkt bei der Leiharbeit -, dass dadurch auch das Beschäftigungsrisiko weg von den eigentlichen Arbeitgebern hin zu den Beschäftigten verlagert wird. Der Gewinn wird oft auch als Risikozuschlag bezeichnet. Ich sage Ihnen: Wenn nicht mehr der Arbeitgeber, sondern letztendlich die Beschäftigten das Risiko tragen, weil sie sofort entlassen werden, wenn irgendetwas kracht, dann ist letztlich auch der Gewinn des Unternehmens infrage gestellt. Wenn der Gewinn der Risikozuschlag ist, das Risiko aber die Arbeitnehmer tragen, dann müssten sie letztendlich auch den Gewinn erhalten. So einfach ist die Lage. ({6}) Meine Damen und Herren, ich brauche Ihnen die Daten nicht weiter aufzuzählen und nenne nur einige Punkte: Zwischen 1997 und 2007 betrug die Zunahme bei der Leiharbeit 235 Prozent, zwischen 2003 und 2009 kam über eine halbe Million Beschäftigte in der Zeitarbeitsbranche neu hinzu usw. Ich glaube, wenn man hier noch von Einzelproblemen redet, dann verkennt man die Realität wirklich. Wie konnte es dazu eigentlich kommen? Warum haben wir das Problem? Unter Rot-Grün wurde die Leiharbeit 2002 im Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in einer Weise dereguliert und hoffähig gemacht, dass man sich heute nicht wundern muss, dass diese Leiharbeit auch in der Form praktiziert wird, wie sie praktiziert wird. Was ist passiert? Das Befristungsverbot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Das Synchronisationsverbot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Danach darf ein Leiharbeiter nur genau so lange eingestellt werden, wie er verliehen wird. Das Wiedereinstellungsverbot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Die Beschränkung der Überlassungsdauer auf zwei Jahre ist aufgehoben worden. Es gab ursprünglich eine Begrenzung der Überlassungshöchstdauer bei Leiharbeit auf drei Monate, die inzwischen aufgehoben worden ist. Dafür hat man im Gesetz den Gleichstellungsgrundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, Equal Pay, verankert, der aber durch Tarifverträge ausgehebelt werden kann. Im Ergebnis haben wir die Billigtarifverträge der Christlichen Gewerkschaften. Diejenigen, die dieses Gesetz damals gemacht haben, hätten wissen müssen, dass dies passieren wird. ({7}) Erstens haben die Gewerkschaften damals davor gewarnt, das Gesetz so zu verabschieden. ({8}) Auch Rot-Grün ist gewarnt worden. ({9}) - Ich kann Ihnen gerne vorlesen, Herr Kuhn, auch das, was Sie bzw. Ihre Fraktion damals gesagt hat. Zweitens wollten Sie mit diesem Gesetz bewusst dazu beitragen, dass die Löhne gesenkt werden. Aus den Protokollen geht hervor, dass durchaus zur Debatte stand, Tarifverträge abzuschließen, die unter dem Niveau des Equal-Pay-Grundsatzes lagen. Das war die damalige Situation. Heute sagt die SPD, sie wolle alles anders machen. Ich will aber festhalten, dass auch Klaus Brandner, Hubertus Heil, Elke Ferner, Olaf Scholz und Anette Kramme damals dieser Liberalisierung der Leiharbeit zugestimmt haben. Ich halte das für eine Sauerei. ({10}) Klaus Brandner hat am 15. November 2002 im Bundestag gesagt: Mit den neuen Bestimmungen holen wir die Leiharbeit insgesamt aus der Schmuddelecke. Auf dem SPD-Parteitag am 13. November 2009 hingegen hat Herr Gabriel gesagt - ich zitiere -: Was wir aber falsch gemacht haben, ist Folgendes: Wir haben das Scheunentor für Scheintarifverträge mit Scheingewerkschaften so aufgemacht, dass für viele Leih- und Zeitarbeit der Regelfall geworden ist und dass sie mit Armutslöhnen zu leben haben, liebe Genossinnen und Genossen. Mich wundert, dass euch das immer erst in der Opposition einfällt statt dann, wenn ihr regiert und es ändert könntet, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen. ({11}) Deshalb fordern wir Linken - Sie können beweisen, dass Sie es mit der Regelung der Leiharbeit ernst meinen; denn wir haben einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht -: Erstens darf der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht unterlaufen werden, auch nicht durch Tarifverträge. Es war Ihr großer Fehler, dass Sie das ins Gesetz aufgenommen haben. Zweitens müssen Leiharbeitnehmer wie in Frankreich besser gestellt werden als die normalen Arbeitnehmer, weil sie besonders flexibel sein müssen. ({12}) Deshalb fordern wir eine Zulage in Höhe von 10 Prozent des Bruttolohns für Leiharbeitnehmer in den Betrieben. ({13}) Die Überlassungshöchstdauer muss wieder auf drei Monate begrenzt werden, und vor allen Dingen brauchen wir wieder mehr Mitbestimmungsrechte für die Betriebsräte. ({14}) Wer weiß besser, ob reguläre Arbeitsverhältnisse zugunsten von Leiharbeit beendet werden sollen, als die Betriebsräte? Sie können beurteilen, ob Leiharbeitnehmer dazu benutzt werden, die Zahl der Stammbeschäftigten abzubauen. Sie haben Gelegenheit, unserem Antrag zuzustimmen. Dann werden wir die Ernsthaftigkeit Ihrer gegenwärtigen Debatte überprüfen können. Danke für die Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es macht nach meiner Auffassung Sinn, dass wir uns an dieser Stelle mit einigen Fakten der Zeitarbeit auseinandersetzen, um kein Zerrbild entstehen zu lassen. Zu den Fakten gehört: Die Zeitarbeit baut Brücken für den Einstieg oder die Rückkehr in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, gerade auch für Menschen, die sonst nur geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Fakt ist weiter: Die Zeitarbeit sorgt für die Flexibilität, die die Unternehmen heute dringend brauchen, um marktge1608 recht auf Nachfragespitzen oder Auftragsflauten reagieren zu können. Das sichert übrigens gerade auch die Arbeitsplätze in der Stammbelegschaft. Das sind im Kern die Botschaften des Elften Berichts der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die das Kabinett beschlossen hat und über die wir in der nächsten Zeit noch diskutieren werden. Der Bericht macht unter anderem deutlich, dass über 60 Prozent - die neuesten Zahlen liegen bei 62,2 Prozent - der Menschen, die in Zeitarbeitsunternehmen eingestellt werden, vorher nicht beschäftigt waren. 11,4 Prozent waren überhaupt noch nie beschäftigt. Zeitarbeit ist in der Regel kein Traumjob, und sie braucht einen vernünftigen rechtlichen Rahmen. Aber sie ist eine Chance für Menschen, aus der Langzeitarbeitslosigkeit wieder in Beschäftigung zu kommen. Diese Chance müssen wir im Interesse der arbeitsuchenden Menschen nutzen. ({0}) Wir haben in Deutschland mehrere Hunderttausend Menschen, die noch nie gearbeitet haben. Die Zeitarbeitsbranche prägt weiß Gott nicht das Geschehen auf den Arbeitsmärkten. Aber sie bietet vielen Menschen eine große Chance, wieder in Beschäftigung zu kommen. Ich will noch ein paar Fakten hinsichtlich der Bedeutung der Zeitarbeit hinzufügen. Die Anzahl der Arbeitsplätze in der Zeitarbeit ist in der Krise zurückgegangen. Das ist zu befürchten gewesen. Die Zeitarbeit ist ein Stück weit ein Frühindikator. Wir können jetzt aber feststellen: In der Zeitarbeit gibt es wieder einen ersten Aufwuchs von Beschäftigung. ({1}) Wir haben heute die neuen Zahlen vom Arbeitsmarkt vorliegen. In einem Jahr ist die Zahl der Arbeitslosen bei 5 Prozent Wirtschaftsschrumpfung um gut 100 000 gestiegen. Natürlich ist das eine traurige Entwicklung. Aber dass es angesichts von 5 Prozent Wirtschaftsschrumpfung gelungen ist, auf dem Arbeitsmarkt Schlimmeres zu verhindern, ist ein Erfolg, der auf den Rahmenbedingungen beruht, die wir gesetzt haben. Das hat auch etwas mit der Zeitarbeit als Chance zu tun, die seit dem Mai letzten Jahres von zunehmend mehr Menschen ergriffen wird. Auch das ist wichtig und sollte in diesem Zusammenhang erwähnt werden. ({2}) Um die Dimension deutlich zu machen, über die wir reden: Nach den Zahlen von heute haben wir in Deutschland insgesamt über 40 Millionen Erwerbstätige. Fast 28 Millionen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Hinzu kommen geringfügig Beschäftigte, Beamte und Selbstständige. Im Juni 2009 gab es in der Zeitarbeit rund 600 000 Beschäftigte. Das sind etwa 1,5 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland. In der Zeitarbeit gibt es 50 840 Personen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und darüber hinaus noch Arbeitslosengeld II bekommen. Darunter sind diejenigen, die Teilzeit in der Zeitarbeit arbeiten oder die in der Zeitarbeit geringfügig beschäftigt und anderswo sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Gut 50 000 Menschen bezogen auf 40 Millionen Erwerbstätige in Deutschland ergeben einen Anteil von 1,25 Promille. Ich sage dies nur, um einmal die Dimension deutlich zu machen. 1,25 Promille kann je nach Lebenslage eine Menge sein. Aber hinsichtlich der Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist es eine kleine Zahl. Man entwirft ein völliges Zerrbild, wenn man so tut, als würde diese kleine Gruppe der Beschäftigten den Arbeitsmarkt in Deutschland prägen. So kann man die Diskussion nicht führen. ({3}) Wir haben bei der Zeitarbeit wieder einen leichten Anstieg der Beschäftigung. Das hat etwas mit den Auftragsspitzen zu tun. Damit komme ich auf das zurück, was eben gesagt worden ist. Es ist ja richtig, dass im Zuge der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt der Zeitarbeitssektor neu geregelt worden ist. Aber für über die Hälfte aller Zeitarbeitnehmer endet das Beschäftigungsverhältnis nach maximal 89 Tagen, also nach weniger als drei Monaten. Das heißt, die Abdeckung von Auftragsspitzen mit kurzfristiger Beschäftigung - unabhängig davon, ob man das gut findet oder nicht - ist der Regelfall. Über 60 Prozent sind weniger als drei Monate beschäftigt. Das zeigt, Zeitarbeit hat etwas mit der notwendigen Flexibilität in der Wirtschaft zu tun. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir zur Kenntnis nehmen: Das Dauerarbeitsverhältnis in der Zeitarbeit ist nicht der Regelfall. Wir wünschen uns natürlich, dass Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit über die Zeitarbeit wieder eine Perspektive auf eine andere Beschäftigung bekommen. ({4}) Wir stellen fest, dass dies in vielen Fällen auch gelingt. Rund zwei Drittel der Beschäftigten sind auch zwei Jahre nach der Beschäftigung in einem Zeitarbeitsunternehmen weiterhin sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie werden nicht alle von dem Unternehmen, in dem sie gearbeitet haben, übernommen. Sie gehen zum Teil in andere Unternehmen, oder sie nehmen einen anderen Arbeitsplatz im Rahmen der Zeitarbeit ein. Aber es handelt sich immer noch um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, für die der Kündigungsschutz und diejenigen Regelungen im Wesentlichen gelten, die auch für die anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten. ({5}) Solche Wirkungen haben manche anderen arbeitsmarktpolitischen Instrumente leider nicht. Wenn es also gelingt, einen bedeutenden Teil der Menschen in Beschäftigung zu bringen oder zu halten, dann zeigt das: Dies ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das sehr wohl seine Berechtigung hat. ({6}) Es macht sicherlich Sinn, über Korrekturen zu reden, wo sie notwendig sind. Aber man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Vielmehr muss man sehen, dass wir hier einen grundsätzlich sinnvollen Rahmen haben. Ich war überrascht, von meinem Vorredner zu hören, er wisse schon, dass bei Schlecker alles vollkommen legal gewesen sein soll. Es verwundert mich dann aber, dass Sie mir immer so viele Fragen stellen, Herr Kollege Ernst. Sie wollen doch immer ganz genau wissen, wie die Bundesregierung das sieht. Ich kann das dem Hohen Hause sagen: Wir prüfen selbstverständlich - bei uns ist die Prüfung allerdings nicht so schnell abgeschlossen wie bei der Linken; wir prüfen eben gewissenhaft; es handelt sich natürlich nicht um einen Regelfall; denn man würde über Schlecker nicht ständig reden, wenn das überall landauf, landab passierte -, ob in diesem Fall die bestehende Gesetzeslage eingehalten worden ist. ({7}) Selbstverständlich werden wir uns Gedanken darüber machen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Für uns ist völlig klar: Die Bundesregierung und die christlich-liberale Koalition werden Missbrauch in der Zeitarbeit nicht dulden. Das ist mit uns nicht zu machen. ({8}) Abgesehen davon, dass es sich unbestreitbar nicht um den Regelfall handelt, wollen wir in der Tat nicht, dass Menschen für einen deutlich niedrigeren Lohn an ihren alten Arbeitsplatz gestellt werden und die gleiche Arbeit leisten müssen. Das ist nicht Sinn und Zweck der Zeitarbeit. ({9}) Dafür sind die Regelungen nicht gemacht worden. Wir werden sehr wohl prüfen, wo das passiert und was man dagegen tun kann. ({10}) Ich bin dankbar, dass die deutlichen Worte, die unsere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen dazu in der Öffentlichkeit gefunden hat, dazu geführt haben, dass schon vor Abschluss einer rechtlichen Prüfung die Firma Schlecker eingelenkt und klar erklärt hat, dass diese Praxis nicht fortgesetzt wird. Es ist wichtig, dass wir diese Initiative ergriffen haben und dass dieser Teilerfolg erzielt worden ist. ({11}) Das hat unsere Ministerin im Gegensatz zu dem, was Sie verkündet haben, erreicht. ({12}) Wir werden also den Missbrauch bekämpfen, wo er stattfindet. ({13}) Aber wir werden das Instrument der Zeitarbeit als eines von vielen Instrumenten in der Arbeitsmarktpolitik in einem vernünftigen Rahmen fortführen; denn es bietet vielen Menschen Chancen. Ich will noch etwas zu den Tarifen sagen. Gesetzlich ist klar geregelt, dass Equal Pay dort gilt, wo es keine abweichenden Tarifverträge gibt. Mein Eindruck ist, dass manches bei den Tarifvertragsparteien, auch bei den Gewerkschaften und insbesondere bei den Christlichen Gewerkschaften, in Bewegung gekommen ist und dass es in Zukunft eine Perspektive für bessere Abschlüsse gibt. Wir sagen als Staat allerdings ganz klar: Wir legen nicht die Löhne fest. Der Staat ist nicht der bessere Lohnsetzer in der Zeitarbeitsbranche, genauso wenig wie in anderen Branchen. ({14}) Wir haben es hier mit einem Rahmen zu tun, den die rot-grüne Regierung geschaffen hat. Wir werden prüfen, wo die Regelungen so missbrauchsanfällig sind, dass man sie korrigieren muss.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Gern, Herr Kollege.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Brauksiepe, da Sie sich immer freuen, wenn man Ihnen Fragen stellt, möchte ich Ihnen ein, zwei stellen. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass das Ergebnis Ihrer Prüfung und die Folgen, die Sie daraus ableiten, nur sein können, dass gleiche Arbeit auch gleich bezahlt werden muss, und dass deshalb die Ausnahmeregelungen im geltenden Gesetz, die zur Folge haben, dass von dem Grundsatz Equal Pay permanent nach unten abgewichen wird, und zwar nicht nur bei Schlecker, sondern auch bei vielen anderen Unternehmen, so geändert werden müssen, dass gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit gewährleistet ist? Sind Sie mit mir der Auffassung, dass Leiharbeitnehmer, die in ihrem Job ganz besonders flexibel sind und permanent bei unterschiedlichen Arbeitgebern eingesetzt werden, besonders entlohnt werden müssen, weil sich Leistung lohnen muss, und dass deshalb ein Aufschlag in Höhe von 10 Prozent durchaus ein sinnvoller Weg ist? ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Herr Kollege Ernst, ich habe eben schon gesagt, dass ich es nicht als meine Aufgabe und auch nicht als die Aufgabe des Parlaments ansehe, Löhne festzusetzen und von daher auch über einen angemessenen Lohn zu entscheiden. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, einen vernünftigen Rahmen für die Regelungen in der Zeitarbeit zu setzen, und diesen Rahmen haben wir nach meiner Überzeugung. Über Einzelheiten wird man dann sprechen können. Ich bin auch nicht ganz so sicher wie Sie, ob man einem Facharbeiter einer Stammbelegschaft gerecht wird, wenn man sagt, jemand, der seit Jahrzehnten in einen Betrieb eingearbeitet ist, bringe wirklich exakt die gleiche Arbeit wie jemand, der aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommt und erst einmal wieder neu anfangen muss. Ich bin nicht ganz sicher, ob jeder, der jahrelang arbeitslos war, gleich so gute Arbeit verrichten kann wie jemand, der seit Jahrzehnten zuverlässig an seinem Arbeitsplatz seine Arbeit verrichtet. ({0}) Von daher traue ich mir die Äußerung gar nicht zu, dass jeder Zeitarbeitnehmer immer vom ersten Tag an eine gleich gute Arbeit leistet wie jemand aus der Stammbelegschaft. Meine Erachtens können das die Tarifvertragsparteien viel besser entscheiden als wir. ({1}) Deswegen sollen sie es entscheiden, und deswegen haben sie es entschieden, und deswegen sage ich nicht: Der Ralf Brauksiepe, die Bundesregierung oder die christlich-liberale Koalition wissen es besser. ({2}) Sie wissen es allerdings nach meiner festen Überzeugung auch nicht besser, worin der richtige Lohn besteht. ({3}) Deswegen überlassen wir es den Tarifvertragsparteien. Meine Damen und Herren, Missbrauch zu bekämpfen und die Chancen zu nutzen, die die Zeitarbeit für Menschen bietet, die lange arbeitslos sind, das sind wichtige Voraussetzungen dafür, um am Arbeitsmarkt Erfolge zu erzielen, um insbesondere in dieser Krise Menschen in Beschäftigung zu halten bzw. wieder in Beschäftigung zu bringen. Lassen Sie es mich abschließend noch einmal sagen, weil es da in der Tat durchaus Wahrnehmungsunterschiede gibt: 1,25 Promille der Erwerbstätigen sind in der Zeitarbeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt und bekommen zusätzlich Arbeitslosengeld II. Das ist kein Phänomen, das diese Wirtschaft prägt. Auch Folgendes sage ich ganz deutlich: Wenn es uns gelingt, in dieser Zeit Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen, dann ist das ein Erfolg. Ich weiß, dass die Arbeitsplätze in der Zeitarbeit für die Allermeisten keine Traumjobs sind. Für mich war ein ganz typisches Beispiel, als in meinem Wahlkreis jemand zu mir sagte: Ich habe eine Arbeit in der Zeitarbeit. Ich bin da nicht glücklich; ich würde gern woanders hingehen. Aber ich war vorher arbeitslos, und bevor ich wieder arbeitslos werde, bleibe ich lieber in der Zeitarbeit. - Auch das gehört zur Realität in Deutschland. ({4}) Von daher müssen wir alle Kräfte darauf konzentrieren, wieder mehr Wachstum zu haben. Dann werden wir wieder mehr Beschäftigung und in der Folge auch mehr gut bezahlte Beschäftigung bekommen. Das ist es, wofür wir den Rahmen setzen. ({5}) Auch im Zusammenhang mit dem Thema Niedriglöhne sage ich Ihnen noch einmal: Die Bundesregierung hat nicht entschieden, dass es einen Niedriglohnsektor geben soll. Wir setzen die Rahmenbedingungen für möglichst viel Arbeit. ({6}) Aber ich sage Ihnen noch etwas: Nach den gängigen statistischen Definitionen beginnt der Niedriglohnsektor bei zwei Drittel unter dem Durchschnittslohn. Das sind in Deutschland unter 9,62 Euro. Wenn jemand drei Jahre arbeitslos war und er eine Beschäftigung für 9,60 Euro findet, und sei es in der Zeitarbeit, ({7}) dann kann man durchaus sagen, statistisch haben wir einen Niedriglöhner mehr. Aber wir haben vor allem einen Langzeitarbeitslosen weniger. Sie können schreien, solange Sie wollen: Für die Menschen, die dann wieder für einen ordentlichen Lohn in Arbeit kommen, weit über allen Mindestlohnforderungen, und für ihre Familien ist das ein großer gesellschaftlicher Fortschritt, und an diesem gesellschaftlichen Fortschritt arbeiten wir weiter, auch gegen Widerstände. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich die Drogeriekette Schlecker in Bezug auf ihre ArbeitGabriele Hiller-Ohm nehmerinnen und Arbeitnehmer geleistet hat, ist schlichtweg eine Sauerei, und zwar XXL. ({0}) Hier hat ein Unternehmer mit sehr viel Raffinesse ein unzureichendes Gesetz zulasten seiner Beschäftigten schamlos ausgenutzt. Es ist gut, dass sich die Menschen darüber öffentlich empören und sich mit solchen miesen Machenschaften nicht länger abfinden. ({1}) An uns liegt es jetzt, die Weichen richtig zu stellen, Missbrauch zu verhindern und die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu stärken. Ich hoffe sehr, dass uns dies hier gemeinsam gelingen wird. Ich halte es für gut, dass auch die CDU/CSU und an der Spitze die neue Arbeitsministerin von der Leyen Handlungsbedarf sieht und Änderungen angekündigt hat. Diese Einsicht von CDU/CSU hätte ich mir allerdings schon während der gemeinsamen rot-schwarzen Regierungszeit gewünscht. ({2}) Vieles wäre uns und vor allem den betroffenen Menschen erspart geblieben. Herr Brauksiepe, prüfen alleine wird hier nicht weiterhelfen. Taten müssen folgen. ({3}) Meine Damen und Herren, die Fraktionen der Linken und der Grünen haben mit ihren Anträgen einen guten Aufschlag gemacht. Wir werden im Februar ebenfalls unsere Forderungen zur Arbeitnehmerüberlassung vorlegen. Es ist bedauerlich, dass es uns mit den bisherigen Reformen nicht gelungen ist, die Leiharbeit endgültig aus der Schmuddelecke herauszuholen. 2003 waren wir gemeinsam mit den Grünen und mit den Gewerkschaften auf einem guten Weg. Herr Ernst, wir haben die Reformen gemeinsam in engem Schulterschluss mit den Gewerkschaften durchgeführt. Darauf möchte ich ausdrücklich an dieser Stelle hinweisen. ({4}) Die rot-grüne Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass für die Leiharbeitsbranche endlich Regeln geschaffen wurden. Bis zum Beginn der weltweiten Wirtschaftsund Finanzmarktkrise hat die Leiharbeit in Deutschland mit dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit zu senken. Viele Leiharbeiter stehen aber heute in der Krise als Erste wieder auf der Straße. Über 250 000 Leiharbeiter wurden in sehr kurzer Zeit entlassen. Leider ist es den Tarifparteien nicht gelungen, das hohe Arbeitsplatzrisiko durch gute und faire Löhne auszugleichen oder überhaupt Lohngerechtigkeit in der Branche herzustellen. Das ist ärgerlich; denn die rot-grüne Bundesregierung hat 2003 ausdrücklich eine grundsätzliche Gleichstellung von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern mit den Festangestellten in den Betrieben im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festgeschrieben. ({5}) Allerdings - das ist die große Schwachstelle - kann durch eine anderslautende Tarifvereinbarung von diesem guten Grundsatz abgewichen werden. Diese Ausnahmeregelung wird rigoros genutzt, um Lohndumping in der Leiharbeitsbranche durchzudrücken - und das leider nicht nur bei Schlecker. So betrug der durchschnittliche Verdienst eines Leiharbeiters im zweiten Quartal 2009 1 775 Euro. Das durchschnittliche Arbeitnehmereinkommen lag dagegen bei 3 128 Euro. ({6}) Wir sprechen also über eine Lohndifferenz von rund 1 400 Euro. 2006 erhielten 20 Prozent der in regulären Beschäftigungsverhältnissen Beschäftigten einen Niedriglohn. Bei den Leiharbeitern waren es schon damals 67 Prozent. Wie konnte es dazu kommen? Durch Schaffung dubioser Gewerkschaften wie der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen wurde die Arbeitnehmerseite systematisch geschwächt. Diese Scheingewerkschaften haben arbeitgeberfreundliche Tariflöhne zulasten der Beschäftigten ausgehandelt. Es ist ein gutes Zeichen, dass das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften jetzt die Tariffähigkeit abgesprochen hat. ({7}) Gut wäre es, wenn derartige Arbeitnehmernichtvertretungen grundsätzlich verschwinden würden. Wir können hier im Bundestag unseren Beitrag dazu leisten, und zwar durch einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. ({8}) Gerade in der Leiharbeit ließe sich so Lohndumping wirksam bekämpfen. In ihrem Antrag bekennen sich die Grünen zum Tarifvertrag, den der DGB abgeschlossen hat: 7,31 Euro für den Westen und 6,36 Euro für den Osten. Ich bin überrascht, dass die zentrale Forderung eines Mindestlohns in dem Antrag der Linksfraktion hingegen überhaupt nicht auftaucht. ({9}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro. Meine Damen und Herren von den Mindestlohnverweigererfraktionen CDU/CSU und FDP, die heutige Antragsberatung wäre völlig überflüssig, wenn Sie sich unserer Position zum Mindestlohn angeschlossen hätten. ({10}) Fakt ist: Sehr viele Zeitarbeiter können trotz einer Vollzeitarbeit nicht von ihrem Lohn oder Gehalt leben und sind auf aufstockende Sozialleistungen angewiesen. Über 0,5 Milliarden Euro musste der Staat für zu niedrige Leiharbeiterlöhne zuschießen. Das ist für diese Beschäftigten zutiefst demütigend und auch volkswirtschaftlich der falsche Weg. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus dem schönen Schleswig-Holstein. ({12}) Hier haben die SPD-Bundestagsabgeordneten schon im Frühjahr 2008 gemeinsam mit der IG-Metall ein umfassendes Positionspapier zur Leiharbeit verabschiedet. Leider fehlte uns bisher der richtige Partner, um die nötigen Gesetzeskorrekturen umzusetzen. Wichtige Forderungen sind: Stopp von Lohndumping durch einen gesetzlichen Mindestlohn; gleicher Lohn für gleiche Arbeit, weg mit dem Tarifvorbehalt; gleiche Rechte für Leiharbeiter und Stammpersonal, übrigens auch bei der Weiterbildung; Synchronisationsverbot und Höchstquote für Leiharbeiter in den Belegschaften; Begrenzung der Verleihzeiten; Verbot von konzerninternen Verleihungen; Stärkung der Betriebsräte. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass der öffentliche Druck jetzt auch die CDU/CSU zum Handeln veranlassen wird und dass es uns im weiteren Beratungsverfahren gelingt, gemeinsam eine gute Lösung für die Probleme der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in Deutschland zu finden. Danke schön. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte gibt Anlass, über die aktuelle Situation der Zeitarbeit in Deutschland einmal grundlegend nachzudenken. Ich will zunächst einmal festhalten: Die Reform der Leiharbeit mit dem Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist eine Erfolgsgeschichte, mit der deren Väter und Mütter, so auch Mutter Hiller-Ohm heute, nichts mehr zu tun haben wollen. Das steht auf einem anderen Blatt. Das geht weiter bei den Grünen. Die Überschrift ihres Antrags „Zeitarbeitsbranche regulieren - Missbrauch bekämpfen“ ist ein Indiz dafür, dass auch sie die Rolle rückwärts üben wollen. Weiter geht es auch bei den Linken. „Lohndumping verhindern - Leiharbeit strikt begrenzen“, so die Überschrift ihres Antrages. Aber von Ihnen, Herr Ernst, haben wir sowieso nichts anderes erwartet. Man muss feststellen - ich habe von einer Erfolgsgeschichte gesprochen -: Die Zeitarbeit ist ein wichtiges Instrument auf dem Arbeitsmarkt. Zeitarbeit schafft in einem herausragenden Maße neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, und zwar mehr als jedes andere arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Instrument. Ich frage mich, Herr Ernst, wie man auf die Idee kommt, diese erfolgreiche Maßnahme, dieses erfolgreiche Instrument strikt eingrenzen zu wollen. Nach den Reformen von 2003 hat sich die Anzahl der Zeitarbeitsplätze in den folgenden Jahren mehr als verdoppelt - ich sehe das als Erfolg -: In der Spitze haben mehr als 800 000 Menschen eine Beschäftigung über die Zeitarbeit gefunden. Besonders wichtig: 60 Prozent, zeitweise 70 Prozent der Zeitarbeiter waren zuvor nicht regulär beschäftigt. Das zeigt die Stärke der Zeitarbeitsunternehmen quasi als Scout; sie sind bahnbrechend für arbeitslose Berufsrückkehrer, Berufseinsteiger, Personen aus der stillen Arbeitsmarktreserve. Das alles steht im elften AÜG-Bericht. Durch die Zeitarbeitsunternehmen wird eine Integrationsleistung erreicht, von der die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg nur träumen kann. ({0}) Herr Kollege Ernst, ja, es gibt in Einzelfällen den Versuch, das Instrument der Zeitarbeit zu missbrauchen. Das beobachten wir sehr genau. Wir werden diesen Missbrauch ohne Wenn und Aber erfolgreich bekämpfen. ({1}) Da sind wir uns mit unserem Koalitionspartner absolut einig. Davon auszugehen, Zeitarbeit an sich sei Missbrauch, wie Sie und auch die Grünen es in ihrem Antrag tun, halten wir aber für vollkommen verfehlt. Die große Zahl der Zeitarbeitsverhältnisse läuft vollkommen korrekt und in geordneten Bahnen ab. Für jeden, der das wissen will, ist das alles mit der Darstellung im elften AÜG-Bericht sehr transparent. Frauen sind eben nicht überproportional betroffen; vielmehr wird nur etwa ein Viertel der Arbeitsplätze in der Zeitarbeit von Frauen besetzt. Ausländer werden eben nicht ausgebeutet; vielmehr sind nur gerade einmal 13 Prozent der Zeitarbeiter Ausländer. Die Zeitarbeitsquoten liegen mit 2,5 Prozent - zugegeben, das ist eine Verdoppelung gegenüber 2004; aber das hat Rot-Grün mit seiner Reform damals wohl so angestrebt - in einem Rahmen, der absolut akzeptabel ist. Das kann man doch bei einer Gesamtabwägung wohl kaum anders sagen. Deswegen rate ich uns, hier nicht in Aktionismus auszubrechen. ({2}) Nun zum Fall Schlecker: Das Ministerium prüft hier auf Anregung der Koalitionsfraktionen den Sachverhalt, und es schaut auch, ob es noch andere Fälle von Missbrauch gibt und was man dagegen tun kann. Ohne dem Ergebnis dieser Prüfung jetzt vorzugreifen, kann man schon einmal - Herr Ernst, Sie wollen es ja immer genau wissen - zwei Dinge festhalten: Es gibt keine flächendeckende Flucht in die konzerninterne Zeitarbeit. Das lässt sich auch aus dem AÜG-Bericht herauslesen. Wenn es sie doch gäbe, so wäre es für die Tarifpartner, die daran ja ein nachhaltiges Interesse haben müssten, ein Leichtes, durch einen entsprechenden Zuschnitt des Anwendungsbereiches des Tarifvertrages Konzernbereiche von Zeitarbeit auszuschließen und damit die Abweichung vom Grundsatz des Equal Pay bzw. des Equal Treatment unmöglich zu machen. Wenn es die Tarifpartner nicht hinbekommen, kann der Gesetzgeber das gegebenenfalls tun. Damit wäre das Problem der konzerninternen Leiharbeit gelöst. Ich sage auch sehr deutlich - das ist ein zweiter Fall von Missbrauch, den ich zu erkennen glaube -: Da, wo über die Nachwirkung ausgelaufener Tarifverträge ein Problem entsteht, insbesondere von Haustarifverträgen, lässt sich durch eine gesetzliche Klarstellung leicht Missbrauch abstellen. Wie gesagt, wir werden sehen, was die Analyse des Ministeriums am Ende ergibt, und werden unsere Politik daran entsprechend ausrichten. ({3}) Ich möchte noch auf einen dritten Punkt eingehen, aber zuvor möchte der Kollege eine Zwischenfrage stellen, Herr Präsident.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Also, Herr Kolb hat Ihnen quasi schon das Wort erteilt. - Bitte schön.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke für die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage, Herr Dr. Kolb. ({0}) - Mache ich gerne. Sie wissen ja, ich höre Ihnen gerne zu. Sie sagen, überwiegend laufe im Bereich der Zeitarbeit alles korrekt. Jetzt wissen wir aber aus der Praxis, dass die Löhne tatsächlich unterschiedlich sind, obwohl Leute die gleiche Tätigkeit machen. Auch bei Facharbeitern ist es nicht so, dass sie automatisch alle das Gleiche verdienen. Wenn einer neu im Betrieb ist, bringt er in der Regel noch nicht die volle Leistung und verdient sowieso weniger. Das wäre aber richtig, weil er nicht - wie ein Leiharbeiter - die gleiche Leistung erbringt. Nun meine konkrete Frage: Halten Sie es wirklich für korrekt und für motivierend für die Belegschaften, wenn akzeptiert wird, dass für gleiche Arbeit unterschiedliche Löhne gezahlt werden? Dann haben Sie auf die Tarifverträge hingewiesen. Ich weiß, Sie kennen die Realität; Sie selbst haben ja ein Unternehmen. In der Realität ist es aber doch so, dass das Zustandekommen von Tarifverträgen davon abhängt, ob eine Organisationsmacht vorhanden ist und sich die Arbeitnehmer überhaupt gewerkschaftlich organisieren können. Sie wissen doch ganz genau, dass das in einer Leiharbeitsfirma nicht klappt. Das klappt bei den christlichen Gewerkschaften nicht, und auch bei den DGBGewerkschaften - das gebe ich selbstkritisch zu - ist die Verhandlungsmacht nicht sehr groß. Deshalb meine zweite Frage: Wie wollen Sie das ausgleichen, wenn es tarifautonomisch überhaupt nicht funktioniert? ({1})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön. - Ich habe mich natürlich wie Sie auch, Herr Kollege Ernst, gefragt, was Rot-Grün damals bei dem Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt überhaupt bewogen hat, zum einen von Equal Treatment zu sprechen, zugleich aber zu erlauben, dass von tarifvertraglichen Vereinbarungen abgewichen werden kann. ({0}) Ich glaube, dass ich die Intention der Kollegen von RotGrün richtig interpretiere, wenn ich es so darstelle, dass es insbesondere bei kurzfristiger Zeitarbeit und bei häufig wechselnden Einsätzen für das Entleihunternehmen schwer und mit sehr viel Bürokratie verbunden ist, nachzuhalten, welche Tarifbedingungen am jeweiligen Einsatzort tatsächlich zu beachten sind. ({1}) - Nein, das ist keine Verrenkung. Ich interpretiere das so und meine mich zu erinnern, dass das damals in der Debatte hier in diesem Hause sogar so vorgetragen worden ist, Herr Kollege Ernst. Wenn das so ist - ich glaube, man muss das so sehen -, dann gibt es auch gute Gründe, bei kurzfristigen Einsätzen so vorzugehen. Ergänzend zu dem, was der Staatssekretär vorhin gesagt hat, möchte ich auch noch auf Folgendes hinweisen: Neben diesem kurzfristigen Geschäft - häufig wechselnde Einsatzorte - gibt es auch ein langfristig angelegtes Projektgeschäft der Zeitarbeitsunternehmen. Man kann und muss auch feststellen dürfen, dass bei diesen Projektgeschäften in der Regel auch sehr ordentlich bezahlt wird. Da werden nämlich hochqualifizierte Arbeitnehmer, Ingenieure und andere Spezialisten im Bereich der Technik, an entsprechende Einsatzorte vermittelt. Hier gibt es das von Ihnen angesprochene Problem schon einmal nicht. Mit anderen Worten: Bei einer Gesamtabwägung der Umstände halte ich es für verantwortbar, so zu handeln, wie es die Kollegen von Rot-Grün damals getan haben, nämlich zu sagen, es dürfe eine Abweichung vom Grundsatz des Equal Treatment auf der Basis eines Tarifvertrages geben. Ihre zweite Frage war die nach der Tarifmächtigkeit. Wir haben das auch im Ausschuss schon diskutiert. Ich rate dringend dazu, die entsprechende Entscheidung abzuwarten. Zwei Entscheidungen befinden sich zwar schon auf dem Rechtsweg, aber eine letztinstanzliche Entscheidung steht noch aus. Man kann sie erahnen; aber in einem Rechtsstaat gehört es sich, abzuwarten, bis das Verfahren beendet ist, um dann zu beurteilen, ob zum Beispiel Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen haben, die sie nicht hätten abschließen dürfen. Aber eine Verhandlungsmacht ergibt sich aus dem erstgenannten Aspekt für die Gewerkschaften sehr wohl. Die Arbeitgeber haben ein großes Interesse daran, Tarifverträge abzuschließen, weil sie ansonsten das Equal Treatment praktizieren müssten. Das ist auch der Grund, warum es in der Vergangenheit - der BZA hat erst vorgestern einen neuen Tarifvertrag abgeschlossen - immer wieder gelungen ist, Tarifverträge abzuschließen, von denen man nicht gehört hat, dass diese von ihrem Regelungsinhalt her Gegenstand besonderer Kritik gewesen wären. ({2}) Damit habe ich die Frage beantwortet. Sie dürfen sich bis zur nächsten Frage gerne setzen, Herr Kollege Ernst. ({3}) Ich will eine dritte Anmerkung machen, was die Frage eines Mindestlohns in der Zeitarbeit anbelangt. Zunächst einmal möchte ich - zu der Frage möglicher Konsequenzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit komme ich später - sagen, dass es aus meiner Sicht keinen Grund gibt, aktuell einen Mindestlohn in der Zeitarbeit einzuführen, weil - ich habe es eben gesagt - nur durch Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden kann. Das hat dazu geführt, dass wir eine nahezu 100-prozentige Tarifbindung haben. Selbst in dem Fall, dass die CGZP für nicht tariffähig erklärt würde, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir innerhalb kürzester Zeit wieder eine 100-prozentige Tarifbindung hätten, ({4}) und zwar aus den Gründen, die ich schon dargestellt habe: weil die Arbeitgeber dann sofort in einen anderen Verband eintreten oder versuchen würden, mit den Gewerkschaften einen Haustarifvertrag zu schließen. Welchen Sinn also soll ein Mindestlohn vor diesem Hintergrund einer 100-prozentigen Tarifbindung aktuell überhaupt haben? Das war ja auch die Frage, die sich die Große Koalition wohl gestellt hat, Frau Hiller-Ohm, und wegen der sie sich bewusst entschieden hat, die Zeitarbeit im Gegensatz zu anderen Branchen nicht in das Mindestarbeitsbedingungengesetz aufzunehmen. Bleibt als vierter und letzter Punkt die Frage: Führt die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa notwendig zu einem Mindestlohn bei der Zeitarbeit? Auch darüber sollten wir sine ira et studio, ohne Zorn und Eifer, in aller Ruhe nachdenken. Zunächst einmal glaube ich, dass die Vorstellung, Deutschland würde mit Herstellung der Freizügigkeit von ausländischen Zeitarbeitern überrannt, überzogen ist; denn auch nach der Herstellung der Freizügigkeit brauchen die Verleiher eine Zulassung in Deutschland, wenn sie tätig werden wollen. Zum anderen stellt sich die Frage, wie viele Menschen zu welchen Löhnen tatsächlich in Deutschland als Zeitarbeiter tätig werden wollen. Zurzeit gibt es neun polnische Leiharbeitsunternehmen in Deutschland. Wir wissen aus dem Saisonarbeitergeschäft, dass die Polen längst an Deutschland vorbei Richtung England ziehen und dort zu attraktiveren Bedingungen tätig werden. ({5}) Man kann insgesamt sagen, dass der Einfluss ausländischer Entleiher auf das Gesamtgeschehen der Zeitarbeit in Deutschland bisher jedenfalls vernachlässigbar ist. Auch wenn sich das künftig in einem bestimmten Maße ändern sollte, bleibt doch die Frage, ob es zu echten Marktverwerfungen kommen wird. Ich glaube, es gibt - in dem Rahmen, den die bürgerlich-liberale Koalition für die Zeitarbeit mit dem Koalitionsvertrag geschaffen hat, und auch mit der ergänzenden Verabredung zwischen den Fraktionsvorsitzenden - gute Möglichkeiten, auf eventuelle Verwerfungen im Markt der Zeitarbeit zu reagieren. In diesem Zusammenhang will ich abschließend darauf hinweisen - das ist der letzte Satz, Herr Präsident -, dass in den Branchen, die bereits heute in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz einbezogen sind, auch nach der Herstellung der Freizügigkeit bei Entsendung in diese Branchen nach § 8 Arbeitnehmer-Entsendegesetz der jeweils für diese Branche allgemeinverbindlich erklärte Mindestlohn ohnehin zu zahlen ist. Wenn also ein polnischer Leiharbeiter in das Bewachungsgewerbe entsendet und dort eingesetzt würde, wäre schon nach heute geltendem Recht für diesen Leiharbeiter der für das Bewachungsgewerbe allgemeinverbindlich erklärte Mindestlohn anzuwenden. Ob sich das in den anderen Bereichen, wo wir bisher die Notwendigkeit des Mindestlohns nicht gesehen haben, anders darstellen wird, sollten wir zu gegebener Zeit prüfen. Das wollen wir im Gespräch mit unserem Koalitionspartner, lieber Karl Schiewerling, gerne tun. Jedenfalls besteht heute nach unserer Auffassung

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie haben schon weit überzogen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- danke, Herr Präsident - kein Anlass für ein vorschnelles, überzogenes Handeln nach dem Muster der Anträge von Grünen und Linken. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anfang 2009 bekam ich einen Prospekt von einer Zeitarbeitsfirma in die Hand gedrückt. Die Überschrift lautete: „Alle müssen raus!“ Hoppla, dachte ich, wieso macht eine Zeitarbeitsfirma SchlussBeate Müller-Gemmeke verkauf? Dabei ging es aber nicht um Kühlschränke oder Waschmaschinen, sondern um Menschen, die zu Dumpinglöhnen vermittelt werden sollten. Im Text stand: Kalkulieren Sie mit spitzem Bleistift, dank unserer Wirtschaftskrisen-Rabatt-Aktion … Exklusiv für Sie - Sichern Sie sich 15 Prozent Rabatt auf alle Hilfs- und Fachkräfte. So etwas nenne ich menschenverachtend. ({0}) Natürlich ist dies ein Einzelfall, und nicht alle Unternehmen missbrauchen die Zeitarbeit und betreiben modernen Menschenhandel. Dies möchte ich hier explizit sagen, um die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen gleich am Anfang zu besänftigen. Aber ebenso schockierend ist der Fall Schlecker. Dort findet derzeit eine beispiellose Umstrukturierung statt. Mit dem Instrument Zeitarbeit sollen die Personalkosten deutlich gesenkt werden. Das Skandalöse daran ist, dass Schlecker bestehende Gesetzeslücken ausnutzt. Bisherige Schlecker-Filialen werden geschlossen. Den Beschäftigten wird gekündigt, und anschließend werden sie über eine eigens gegründete Zeitarbeitsfirma wieder eingestellt, und zwar zu deutlich geringeren Löhnen und Urlaubsansprüchen sowie ohne Anspruch auf Urlaubsund Weihnachtsgeld. So werden Tariflöhne unterlaufen. Der Kündigungsschutz wird umgangen und den Beschäftigten der Bestandsschutz genommen. Hier sind Korrekturen überfällig. ({1}) Schlimm ist, dass Schleckers Vorgehen legal ist. Schlecker ist kein Einzelfall. Laut der Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation ist dies gängige Praxis in 7 Prozent der Unternehmen mit betrieblicher Interessenvertretung. Deswegen muss die Politik sofort aktiv werden und diesem Missbrauch einen Riegel vorschieben. Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung gesetzlich verhindert wird. ({2}) Das reicht aber nicht. Die Zeitarbeit wurde in den letzten Jahren vor allem auch zum Abbau von Stammpersonal missbraucht. Eine von Arbeitsminister Laumann in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass ein Viertel der Unternehmen die Zeitarbeit zur Substitution von Stammbelegschaften nutzt. Nicht nur das: Viele Unternehmen benutzen die Zeitarbeit auch als strategisches Instrument, um Stammbelegschaften unter Druck zu setzen. Ihnen werden Zeitarbeitskräfte zur Seite gestellt, die zu deutlich geringeren Konditionen arbeiten müssen. Die Festangestellten haben damit natürlich permanent das Gefühl, dass sie ihre relativ sicheren Jobs gegen die Zeitarbeitskräfte verteidigen müssen. Diese hingegen wollen natürlich ein Jobangebot haben. Ein Beispiel aus einem Zweischichtbetrieb: Eine Schicht bestand nur aus Zeitarbeitskräften, die andere Schicht aus Stammpersonal. Zuerst haben die Zeitarbeitskräfte 10 Prozent über Soll gearbeitet. Dann zog die Stammbelegschaft nach. Das ging so lange, bis der Betrieb bei 170 Prozent der früheren Leistung angekommen war. Ich hoffe nicht, dass die FDP jetzt denkt, das ist ja super für das Unternehmen. Denn solch ein System bewirkt, dass die Menschen mit der Zeit völlig ausgebrannt sind. Die Zahl der Arbeitsunfälle und psychischen Erkrankungen nimmt massiv zu. Das kann für Unternehmen nicht gut sein. Echtes Engagement entsteht nicht in einem Klima der Angst. ({3}) Von den Linken werden wir immer wieder lautstark, Herr Ernst, daran erinnert, dass wir Grüne der damaligen Reform zugestimmt haben. Sie haben recht. Allerdings war unsere Intention eine völlig andere. ({4}) Wir wollten faire Bedingungen und mit dem Instrument der Zeitarbeit Erwerbslose in Beschäftigung bringen. Das hat aber nicht funktioniert. Keiner konnte wissen, dass der Tarifvorbehalt die sogenannten christlichen Gewerkschaften mit ihren Gefälligkeitstarifverträgen auf den Plan ruft. Es war auch nicht absehbar, dass so viele Unternehmen im Rahmen der Zeitarbeit das eigene Personal in die Wüste schicken. Wir sehen die Fehlentwicklung. Für mich ist es entscheidend, dass wir den Mut und die Ehrlichkeit besitzen, dies einzugestehen. Deswegen haben wir schon im Jahr 2009 einen Antrag gestellt, um den Missbrauch der Zeitarbeit zu verhindern, und zwar lange, bevor die Diskussion um Schlecker losging. ({5}) Wir haben erkannt, dass in der Zeitarbeit ein enormer Regelungsbedarf besteht. Von der CDU/CSU und der FDP habe ich bisher wenig zu diesem Thema gehört. Im Gegenteil, das Ministerium von Frau von der Leyen hält immer noch daran fest, dass sich die Zeitarbeit erfolgreich entwickelt hat und als arbeitsmarktpolitisches Instrument unverzichtbar ist. Dies wurde heute ja nochmals gesagt. Die Bundesregierung hat aber mit dem 11. Bericht über die Erfahrungen und Anwendungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes das Gegenteil belegt. Die Wahrscheinlichkeit, nach einem Einsatz in der Zeitarbeit vom Entleihbetrieb übernommen zu werden, ist gering; sie liegt gerade bei 7 Prozent. Von daher kann überhaupt nicht von einem funktionierenden Klebeeffekt gesprochen werden. Auch die Laumann-Studie, die Ihnen bekannt sein müsste, bestätigt: Wer vor dem Einsatz in der Zeitarbeit arbeitslos war, ist es hinterher mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder. Deswegen sage ich der Ministerin, auch wenn sie heute nicht anwesend ist: Der Klebeeffekt ist ein Mythos. Bitte nehmen Sie dies endlich zur Kenntnis. ({6}) Die Zeitarbeit ist also kein arbeitsmarktpolitischer Segen. Im Gegenteil, sie führt dazu, dass der Aufbau regulärer Beschäftigungsverhältnisse ins Stocken gerät. Dies hat der letzte Aufschwung gezeigt. ({7}) Sie ist aber der Preis für die Flexibilität, die für die Unternehmen geschaffen wird. Ich denke, alle politischen Parteien, sogar die Gewerkschaften, sind bereit, diesen Preis für eine ökonomische Flexibilität zu zahlen. Jedenfalls habe ich weder von der Fraktion Die Linke noch von den Gewerkschaften die Forderung gehört, dass die Zeitarbeit gänzlich abgeschafft werden soll. Was wir in unserem Antrag fordern, ist eine sinnvolle Regulierung, damit die Zeitarbeit nicht zum Beispiel für niedrige Löhne missbraucht wird; die Zeitarbeitsbeschäftigten müssen Lohneinbußen zwischen 35 und 45 Prozent hinnehmen. Dazu müssen sie nur einmal in die LaumannStudie hineinschauen. Deshalb fordern wir, dass der Tarifvorbehalt gestrichen wird. Der Gleichbehandlungsgrundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ muss ohne Wenn und Aber gelten. ({8}) Als Ausgleich für die hohen Flexibilitätsanforderungen fordern wir die Einführung einer Prämie in Höhe von 10 Prozent des Bruttolohns. ({9}) - Seit neuestem möchte Die Linke dies auch. Diese Prämie gibt es bereits in Frankreich. Dort hat sie sich nicht als Hinderungsgrund für den Einsatz von Zeitarbeit erwiesen. Die Prämie passt auch gut zum Slogan der FDP, dass sich Leistung wieder lohnen müsse. Der Unterschied zu den Konzepten der FDP ist nur, dass die Prämie die Steuerzahler kein Geld kostet. Im Gegenteil, sie führt sogar zu höheren Einnahmen in der Sozialversicherung. Wichtig ist uns auch die Wiedereinführung des Synchronisationsverbots. Es soll dazu führen, dass die Zeitarbeitskräfte länger bei den Verleihern beschäftigt werden und vor allem in verleihfreien Zeiten eine Qualifizierung erhalten können. In diesem Punkt geht unser Antrag weit über die Forderungen der Fraktion Die Linke hinaus. An dieser Stelle fordern wir auch einen angemessenen branchenspezifischen Mindestlohn, der in verleihfreien Zeiten gilt. Nur so kann dafür gesorgt werden, dass Zeitarbeitskräfte auch in verleihfreien Zeiten von ihrem Lohn leben können. Ich komme zum Schluss. Wir wollen, dass die Zeitarbeit wieder zu einem verträglichen Instrument für die Wirtschaft und die Beschäftigten wird, wir wollen, dass die Menschen angemessen bezahlt und würdig behandelt werden, und wir wollen, dass mit dem nächsten Konjunkturaufschwung nicht mehr die Zeitarbeit, sondern reguläre Beschäftigungsverhältnisse die höchsten Wachstumszahlen aufweisen. Die Substitution von Stammbelegschaften muss endlich ein Ende haben. Zeitarbeit muss wieder zu dem werden, was sie ursprünglich war: ein Instrument zum Abfedern von Auftragsspitzen, nicht mehr und nicht weniger. Wir fordern die Regierungsfraktionen auf, die Zeitarbeit so schnell wie möglich zu regulieren. Gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass aus dem sogenannten Klebeeffekt ein Schleudersitz in die Arbeitslosigkeit wurde. ({10}) Nach der Krise wird die Zeitarbeit einen neuen Aufschwung erleben - anstelle von regulären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. ({11}) Ich frage Sie von den Regierungsfraktionen: Wollen Sie das wirklich? Wenn nein, dann müssen Sie handeln. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fall Schlecker ist Anlass der heutigen Debatte: Völlig zu Recht! Denn das Gebaren dieses Konzerns empört wohl jeden in diesem Haus. ({0}) Schlecker kündigte Mitarbeitern - ich habe übrigens meine Zweifel, Herr Kollege Ernst, ob diese Kündigungen legal waren; die Überprüfung wird es zeigen -, aber sie sind eben nicht angegriffen worden. Vielmehr kehrten die Mitarbeiter in das Unternehmen zurück, eingestellt als Zeitarbeitnehmer von einem früheren Schlecker-Manager. Sie machen dieselbe Arbeit zu einem schlechteren Lohn. Dazu gibt es aus meiner Sicht nur eines zu sagen: Das ist unanständig. ({1}) Tausende Schlecker-Mitarbeiter sind Opfer kalten Gewinnstrebens. Das ist ein Skandal. Leider hat Schlecker prominente Genossen, zum Beispiel die AWO Westliches Westfalen. Sie gründete eine eigene Zeitarbeitstochter, um Küchenkräfte zu verschieben. Die Frankfurter Rundschau ist ein weiteres Beispiel. Die Beilagen werden nach Informationen des Deutschen Journalisten-Verbandes von der Tochterfirma Pressedienst GmbH geliefert. Redakteure dieser Firma sind ehemalige Pauschalisten der Frankfurter Rundschau. Meine Damen und Herren von der SPD, das ist Ihr Verlag; denn Sie sind immerhin mit 40 Prozent beteiligt. ({2}) Frau Hiller-Ohm, Sie sagen, Sie wollten etwas tun. Dann fangen Sie bei Ihren eigenen Betrieben an. ({3}) Zum Beispiel Verdi. Wenn es nach dem Willen dieser Gewerkschaft geht, werden die Beschäftigten ihrer Bildungsstätten laut einem Artikel im Spiegel schon bald in eine neue Gesellschaft ausgelagert und zu schlechteren Konditionen weiterbeschäftigt. Auch das ist ein Skandal. ({4}) Schlecker und seine Genossen spielen ein perfides Bäumchen-wechsel-dich-Spiel. Das ist eines gewiss nicht: klassische Zeitarbeit. Denn das typische Dreiecksverhältnis von Arbeitnehmer, Entleiher und Verleiher besteht nur auf dem Papier. Das ist eine reine Umgehung der Vorschriften. Das ist für mich Scheinzeitarbeit statt Zeitarbeit. ({5}) Die Fakten belegen: Scheinzeitarbeit ist zum Glück die Ausnahme. Der aktuelle Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - übrigens noch unter der Regentschaft von Olaf Scholz vorbereitet - zeigt: Nur 2 Prozent der Betriebe, die Zeitarbeit nutzen, haben Beschäftigung abgebaut und gleichzeitig Zeitarbeit aufgebaut. Die Methode Schlecker ist die absolute Ausnahme. ({6}) Der Fall Schlecker darf nicht dazu missbraucht werden, die gesamte Zeitarbeitsbranche in Misskredit zu bringen. ({7}) Dies tun die vorliegenden Anträge. Die Linken und Bündnis 90/Die Grünen benutzen den Fall Schlecker und fordern einmal mehr die Regulierung der Zeitarbeit. Doch das ist der falsche Weg. ({8}) Denn in Wirklichkeit war die Zeitarbeit im Aufschwung ein Turbo für den Arbeitsmarkt. Die Unternehmen haben neue Flexibilität genutzt, die Einstellungsbereitschaft ist gestiegen. Die Zeitarbeit war gerade für die Schwächsten eine Brücke in die Beschäftigung. ({9}) Um die Fakten zu nennen: 52 Prozent der Zeitarbeiter waren zuvor arbeitslos. 9 Prozent waren ohne Berufserfahrung. Unter normalen Verhältnissen hätten sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt gehabt. Viele von ihnen haben erst über die Zeitarbeit den Sprung in die Festanstellung geschafft. ({10}) Frau Kollegin Müller-Gemmeke, es gibt den Klebeeffekt. ({11}) Er ist kein Mythos. Schauen Sie sich bitte die Zahlen des IAB an, das die entsprechenden Statistiken führt. 15 Prozent der Zeitarbeiter schaffen den Sprung in die Festanstellung bei den Entleihunternehmen. Wenn Sie die Zeitarbeit zu Tode regulieren wollen, dann nehmen Sie diesen Menschen die Chance auf einen Einstieg in den Arbeitsmarkt. Das ist mit uns nicht zu machen. ({12}) Ich sage aber auch: Die Branche muss jetzt die Gelegenheit nutzen, ihre schwarzen Schafe auszusortieren. Der Missbrauch der Zeitarbeit kann durch einen Tarifvertrag gestoppt werden. Wir begrüßen deshalb die Erklärung von DGB und BZA, die die Methode Schlecker verurteilen. Diese Erklärung reicht aber nicht. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften müssen sich tarifvertraglich darauf verständigen, dass in Fällen wie Schlecker und bei anderen potemkinschen Zeitarbeitsfirmen der Zeitarbeitstarifvertrag nicht zur Anwendung kommt, sondern die Konditionen des Mutterkonzerns gelten. Die Methode Schlecker wäre auf einen Schlag reizlos. Nur wenn die Tarifvertragsparteien eine solche Regelung nicht zustande bringen, sind wir als Gesetzgeber gefordert; denn wir sehen uns der Tarifautonomie verpflichtet.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von der Linksfraktion?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Erst einmal vielen Dank, Frau Connemann. Wenn ich das Stichwort „Flexibilität“ höre, gehen bei mir immer alle Warnlichter an. Ich erlebe immer wieder, dass im Grunde jede Belegschaft in jedem Betrieb absolut flexibel ist. Es gibt Arbeitszeitkonten, es gibt Kurzarbeit und alles mögliche andere. Für was brauchen Betriebe noch Leiharbeit? Im Grunde langt es doch, wenn man die Befristungen anwendet. Es gibt die Möglichkeit, Menschen befristet in Betrieben einzustellen. Es ist nicht notwendig, dass Betriebe von außen Leiharbeitnehmer einstellen. Im Grunde geht es doch nur darum - das bleibt am Ende nur übrig -, die Löhne und die Entgelte zu reduzieren, indem man billigere Kräfte einstellt, indem man ihnen nicht das gleiche Lohnniveau bietet nach dem Motto: Gleiches Geld für gleiche Arbeit. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie reihen hier ein Klischee an das andere. Aber das macht es nicht richtiger. ({0}) Zum einen ist der Einsatz von Leiharbeitern für ein Entleihunternehmen nicht günstiger als der Einsatz von Festbeschäftigten; denn ein Entleihunternehmen muss zu dem entsprechenden Lohn für den Beschäftigten immer noch eine entsprechende Pauschale an das Zeitarbeitsunternehmen zahlen. Das ist Punkt eins. ({1}) Punkt zwei: Die von Ihnen angesprochene Flexibilität betrifft nur die Flexibilität in dem Arbeitsverhältnis. Da ist über Zeitarbeitskonten usw. tatsächlich viel geschehen. Darum geht es aber nicht. Wir brauchen ein Mittel, damit Betriebe zum Beispiel auf Arbeitsspitzen ebenso flexibel reagieren können wie zum Beispiel auf den Wegfall von Aufträgen. ({2}) Dazu ist die Befristung kein gutes Instrument; ({3}) denn die Befristung - so, wie die befristeten Arbeitsverträge in der Regel ausgestaltet sind - sieht vor, dass eine Kündigung vor dem Ende der Befristung nicht möglich ist. Das heißt, man ist an die Befristungsdauer gebunden. Das geschieht aus gutem Grund, übrigens auch zum Schutz des Beschäftigten, verhindert aber den flexiblen Einsatz. ({4}) Das Dritte ist: Eine Befristung ist möglich. Eine befristete Weiterbeschäftigung sieht das derzeitige Arbeitsrecht allerdings nicht vor. ({5}) Deshalb wollen wir als christlich-liberale Koalition das Ersteinstellungsgebot aufheben. Das ist gut für den Arbeitsmarkt. Das ist ein weiterer Punkt auf unserer Agenda. ({6}) Ebenso steht eine Regelung zur Verhinderung des Missbrauchs auf unserer Agenda. Das hat übrigens nicht nur die Bundesregierung angekündigt. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Die christlich-liberale Koalition hat durch ihre Sprecher sofort reagiert. Ich sehe Karl Schiewerling und Dr. Heinrich Kolb. Sie haben sehr deutlich für uns alle gesagt: Wir werden den Missbrauch stoppen. Dazu stehen wir als Koalition, ({7}) aber nicht so, wie die Linken oder Bündnis 90/Die Grünen sich das wünschen. Meine Damen und Herren von der Opposition, die Erfüllung Ihrer Forderungen würde das Ende der Zeitarbeit in Deutschland bedeuten. Sie fordern eine Flexibilitätsprämie wie in Frankreich. Haben Sie sich die dortigen Verhältnisse einmal angesehen? Französische Zeitarbeitsunternehmen sind eben keine Arbeitgeber, sondern reine Vermittlungsagenturen. Ein Arbeitnehmer ist dort nur für die Dauer des Einsatzes beim Kunden beschäftigt, im Übrigen sehr kurzzeitig, im Schnitt 9,5 Tage. Danach ist er arbeitslos und muss sich selbst wieder um einen neuen Einsatz bemühen. Diese Flexibilitätsprämie in Frankreich ist also eine reine Kompensation für das Fehlen eines Dauerarbeitsverhältnisses. Das wünschen Sie sich für Deutschland? Da sage ich im Namen unserer Fraktion sehr klar: niemals. ({8}) In Deutschland sind Leiharbeitnehmer bei den Zeitarbeitsunternehmen sozialversicherungspflichtig angestellt. Sie werden auch in verleihfreien Zeiten bezahlt. Sie haben alle Arbeitnehmerrechte wie zum Beispiel Ansprüche auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf bezahlten Urlaub, Kündigungsschutz etc. ({9}) Nur der Arbeitsort wechselt häufiger. Bei uns herrschen keine französischen Verhältnisse, und das ist gut so. ({10}) Denn wir brauchen die Zeitarbeit als vollwertigen Arbeitgeber und als unverzichtbaren Beschäftigungsmotor, auch in der Krise. ({11}) Betriebe können kurzfristig auf die gesunkene Auftragslage reagieren und bei einer Konjunkturerholung die Produktion schnell anpassen. Damit stärkt die Zeitarbeit auch in der Krise die Wettbewerbsfähigkeit. So werden übrigens auch Stammarbeitsplätze im Einsatzbetrieb gesichert. ({12}) Meine Damen und Herren von der Linken und den Grünen, ich weiß, das wollen Sie nicht hören. Denn Sie begründen Ihre Anträge mit der gegenteiligen Behauptung, Stammbeschäftigte würden durch Leiharbeit verdrängt. Das ist ein gängiges Argument. Doch Sie bleiben den Nachweis schuldig. ({13}) Sie können diesen Nachweis auch nicht führen; denn die Statistik zeigt vollkommen andere Zahlen. ({14}) Demnach liegt die Zeitarbeitsquote in Deutschland bei - ich betone das - nur 2,6 Prozent. ({15}) Bei diesen 2,6 Prozent ist die Verweildauer nur kurz. Sie liegt unter drei Monaten. ({16}) Nur jeder zehnte Leiharbeitnehmer hat eine Verweildauer von einem Jahr oder mehr, so zeigt es der aktuelle Bericht der Bundesregierung ({17}) und bestätigt damit übrigens auch die Feststellung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Ich zitiere: Für die häufig formulierte Begründung, dass Entleiher systematisch reguläre Arbeitskräfte durch Leiharbeiter ersetzen, liefern die Auswertungen keine empirische Evidenz. … Langfristige Einsätze - und nur sie sind geeignet, reguläres Personal zu ersetzen - gibt es nur selten. ({18}) Ihnen fehlen die Argumente für Ihre Anträge. Sie wollen eine Branche regulieren, die übrigens mittelständisch geprägt ist. Dem bürokratischen Aufwand, der übrigens mit der Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes verbunden wäre, die Sie einfordern, sind diese mittelständischen Unternehmen nicht gewachsen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für jeden Mitarbeiter müsste vor jedem Einsatz im Einzelnen geklärt werden, welche Bedingungen gelten. Das hätte eine Marktbereinigung zulasten des Arbeitsmarktes, zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zugunsten von Arbeitslosigkeit zur Folge. Deswegen werden wir Ihre Anträge ablehnen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist schon ziemlich heftig, was von der christlich-liberalen - ich dachte immer, es sei eine christdemokratisch-liberale - Koalition gesagt wird. Ich fühle mich als Christ ausgegrenzt, wenn Sie hier von einer christlich-liberalen Koalition reden. Frau Connemann, das geht ein bisschen weit. ({0}) Wie dem auch sei, zunächst einmal möchte ich ein paar Bemerkungen zu dem machen, was der Vertreter der Bundesregierung, Herr Brauksiepe, hier gesagt hat. Sie haben zum einen gesagt, Sie seien im Prüfvorgang, Sie würden prüfen, ob es bei Schlecker mit rechten Dingen zugeht oder ob Rechtsverstöße zu beobachten sind. Diese Prüfung haben die zuständigen Fachleute bei der Bundesagentur für Arbeit längst abgeschlossen. ({1}) Ich zitiere hier aus dem Handelsblatt vom 11. Januar 2010. Dort heißt es folgendermaßen: Schlecker hat offenbar Stammbelegschaft entlassen, um sie dann in einer eigens gegründeten Zeitarbeitsfirma zu niedrigeren Löhnen wieder einzustellen. Was ist denn das anderes, Frau Connemann, als der Austausch von relativ ordentlich bezahlten Stammbelegschaften durch Billigstlöhner? ({2}) Das ist doch exakt das, was wir Ihnen hier vorhalten, worüber zu diskutieren ist. ({3}) Weiter heißt es im Handelsblatt vom 11. Januar von der Sprecherin der Nürnberger Behörde: Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verbietet so etwas nicht. Hier sind politische Entscheidungen nötig. Das ist exakt die Position der Bundesagentur für Arbeit. ({4}) Die Bundesregierung kann sich auch zu Tode prüfen, bis das Ergebnis so ist, wie sie es haben will. ({5}) - Ich sage auch etwas zur Frankfurter Rundschau und, wenn Sie wollen, auch zu den anderen Vorgängen. Wer auch immer diese Form von Lohndumping betreibt, ist zu kritisieren - ob das die Frankfurter Rundschau ist, ob das Schlecker ist oder wer auch immer das sein mag. ({6}) Herr Brauksiepe, Sie haben zum Zweiten das Beispiel gebracht, ein Langzeitarbeitsloser, der drei Jahre arbeitslos gewesen ist, freue sich, wenn ihm ein Bruttostundenlohn von 9,60 Euro gezahlt wird. 9,60 Euro ist der Grenzwert in Richtung Niedriglohnsektor. Das ist ein außerordentlich beschönigendes Beispiel. Es hat mit den Realitäten des deutschen Arbeitsmarktes leider überhaupt nichts zu tun. ({7}) Ich nenne Ihnen ein paar andere Zahlen: Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeit und Qualifikation hat Deutschland mit einem Anteil von 23 Prozent an der Gesamtbeschäftigung inzwischen nach den Vereinigten Staaten von Amerika den zweitgrößten Niedriglohnsektor aller vergleichbaren Industrieländer. Die Amerikaner liegen bei 25 Prozent, die Franzosen bei 11 Prozent, die Dänen bei 7 Prozent. Wir haben nicht den geringsten Grund, stolz darauf zu sein, dass wir inzwischen Vizeweltmeister in Sachen Niedriglöhne sind, lieber Kollege Brauksiepe. Das Gegenteil ist der Fall. ({8}) Wie bereits gesagt, sind die 9,60 Euro exakt die Obergrenze des Niedriglohnsektors. Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern befinden sich trotz Vollzeitarbeit im Armutslohnsektor, verdienen also weniger als 7,50 Euro brutto. Noch nicht eingerechnet sind dabei die vielen anderen, die im Bereich der 400-EuroJobs, der zeitlichen Befristung usw. usf. ähnlich niedrige Stundenlöhne haben. Insoweit müsste das Blickfeld der Bundesregierung in dieser Frage deutlich erweitert werden. Des Weiteren haben Sie auf die Brückenwirkung, den Klebeeffekt der Leiharbeit hingewiesen. Frau Connemann hat eben das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zitiert mit der Schätzung, dass etwa 15 Prozent der Leiharbeiter übernommen werden. Das heißt im Umkehrschluss: 85 Prozent der Leiharbeiter werden nicht übernommen. Was ist das für ein äußerst bescheidener Klebeeffekt, für den man Arbeitsformen in Kauf nimmt, die inzwischen flächendeckend mit Lohndumping zu tun haben! ({9}) - Wir werden in Kürze einen Antrag einbringen, der klar zum Ausdruck bringen wird, dass wir auf dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ beharren werden, liebe Frau Kollegin. ({10}) Sie sind doch Christdemokratin. Dann müssten Sie mir einmal erklären, was christlich sein soll an einer Politik, die tatenlos hinnimmt, dass Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in ihrer Würde tief verletzt werden, weil sie mit Hungerlöhnen nach Hause geschickt werden, von denen sie nicht leben können. Was ist daran christdemokratisch? Das müssen Sie mir einmal erklären. ({11}) - Die Liberalen sind ein hoffnungsloser Fall, Herr Kolb; die wollen wir jetzt nicht weiter in die Diskussion einbeziehen. Ich will Ihnen ein paar Zahlen zur Leiharbeit vortragen. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass Leiharbeitnehmer gegenüber Stammarbeitnehmern, die die gleiche Tätigkeit ausführen, im Durchschnitt 30 Prozent weniger verdienen. Wir wissen aus Untersuchungen der jüngsten Zeit, dass jeder achte Leiharbeitnehmer trotz Vollzeitarbeit Aufstocker ist, also von zusätzlichen Leistungen nach Hartz IV abhängig ist. ({12}) - Herr Kolb, Sie haben im Moment Sendepause. ({13}) Wir wissen aus Untersuchungen, dass im Jahr 2008 der Bund, das heißt, der Steuerzahler, die Löhne der Leiharbeitsfirmen mit rund 500 Millionen Euro bezuschussen musste, damit überhaupt ein Einkommen in Höhe von Hartz IV herausgekommen ist. Das ist doch ein Skandal ohne Ende! Es kann doch nicht sein, dass Betriebe unterstützt werden, deren Geschäftsidee darauf beruht, dass der Steuerzahler für sie die Löhne zahlt. ({14}) Mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts mehr zu tun, Herr Kollege Kolb. ({15}) - Das sieht nach einer Zwischenfrage aus, Herr Präsident.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ja. Ich genehmige sie. Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schreiner, was Sie vorgetragen haben, war ein bisschen zu viel. Ich habe ein paar Fragen an Sie: Erstens. Seit wann gehören Sie dem Deutschen Bundestag an? Zweitens. Würden Sie bestätigen, dass die Notwendigkeit, einen Niedriglohnsektor einzuführen, zu Zeiten der rot-grünen Koalition hier im Deutschen Bundestag erkannt und umgesetzt wurde? ({0}) Drittens. Würden Sie bestätigen, dass auch die Möglichkeit zur Aufstockung Gegenstand und Ergebnis rotgrüner Politik ist? Ich weiß: Sie hatten mit alledem nichts zu tun; Sie waren einer dieser Exoten. Ich lasse es trotzdem nicht zu, dass Sie heute hier in den Ganges steigen und sich sozusagen von aller Schuld freiwaschen wollen. Sie sagen: Ich weiß, ich weiß. Ich sage Ihnen: Es genügt nicht, zu wissen; man muss auch tun. Ich frage Sie viertens. Was werden Sie konkret tun, damit sich die beschriebenen Verhältnisse bei der Frankfurter Rundschau in Zukunft ändern? ({1})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, wie ernst man diese Zwischenfrage nehmen sollte. ({0}) Nochmals: Ich werde versuchen, der Sache mit der Frankfurter Rundschau auf den Grund zu gehen. ({1}) - Ja gut, das mag sein. - Ich habe einleitend gesagt: „Wer auch immer diese Form von Lohndumping betreibt, ist zu kritisieren“. Das muss abgestellt werden. ({2}) Die Aussage ist völlig klar. Was mehr wollen Sie hören? Im Übrigen ist der Niedriglohnsektor nicht von RotGrün erfunden worden; in Deutschland gab es auch vor 1998 einen Niedriglohnsektor. ({3}) Richtig ist aber der Hinweis, dass durch gesetzliche Maßnahmen nach 1998, insbesondere nach 2002, der Niedriglohnsektor in Deutschland zusätzlich an Fahrt gewonnen hat. ({4}) - Was soll das heißen? Entschuldigung! Mir ist derjenige lieber, der Fehlentwicklungen einräumt und sie abzustellen versucht, als jemand, der blind mit dem Kopf durch die Wand will; das wäre blinder Dogmatismus, den Sie offenkundig auch nicht wollen. ({5}) Seien Sie doch froh, dass diese Entwicklungen erkannt werden, die - ich vermute, ohne Absicht - jetzt eingetreten sind. Niemand konnte übrigens voraussagen, dass die sich christlich nennenden Gewerkschaften in diesem Ausmaß Lohndumping betreiben und damit die Abwärtsspirale in Gang setzen würden. ({6}) Sie müssen mir als Experten noch erklären, was an diesen Gewerkschaften christlich ist. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie haben eine Zwischenfrage, nicht Zwischenrufe zu beantworten.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg sagt: Das sind überhaupt keine Gewerkschaften, weil es ihnen an Tarifmacht fehlt. Es ist anzunehmen, dass das Bun1622 desarbeitsgericht den Vorgang möglicherweise in ähnlicher Form bewertet. Dann bricht der ganze Laden an dieser Ecke zusammen; dieser Art von Gefälligkeitsvereinbarungen und Scheintarifverträgen wäre zunächst einmal die Grundlage entzogen. Das wäre in der Tat eine außerordentlich wünschenswerte Lösung. Wenn Sie schon über die Gründe diskutieren, müssen Sie diese Entwicklungslinien mit einbeziehen, um den Sachverhalt, über den wir reden, zu verstehen. Der entscheidende Punkt ist nicht: Wer hat wo was verursacht? Der entscheidende Punkt ist, ob die Mehrheit dieses Hauses bereit ist, dafür zu sorgen, dass wir in Deutschland Verhältnisse haben, wie sie in anderen europäischen Ländern gang und gäbe sind. ({0}) - Herr Kolb, bleiben Sie ruhig stehen! Dann habe ich ein bisschen mehr Redezeit. ({1}) - Herr Präsident, der Herr will noch stehen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kolb hat eine Zwischenfrage gestellt; aber jetzt sind Sie ständig mit Zwischenrufen beschäftigt. Darauf wollte ich nur hinweisen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, wenn Sie eine Zwischenfrage auf der Seele haben, kann man Sie entlasten. Das ist nicht das Problem. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, ich bitte Sie, in Ihrer Rede fortzufahren.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolb, um die Frage abschließend zu beantworten: ({0}) Wir wissen, dass Deutschland nach Untersuchungen der OECD, die die Zustände übrigens sehr hart kritisiert, das einzige Land ist, wo der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht gilt. ({1}) Entweder machen alle anderen alles falsch und wir machen alles richtig oder umgekehrt. Frau Kollegin Connemann, niemand will, wie Sie es unterstellt haben, „die Zeitarbeit zu Tode regulieren“. Das hat kein Mensch behauptet; das findet sich in keinem der Anträge. ({2}) Man kann doch nicht im Ernst von „zu Tode regulieren“ sprechen, wenn wir europäische Standards auch in Deutschland anwenden wollen. In anderen europäischen Ländern funktioniert die Leiharbeit, auch aus Sicht der Beschäftigten, wesentlich besser, als es in Deutschland der Fall ist. ({3}) Ich möchte zum Schluss sagen - der Präsident ist sehr streng hinsichtlich der Einhaltung der Redezeit -, dass sich inzwischen über die Hälfte der Beschäftigten unter 30 in prekären Arbeitsverhältnissen befindet: Leiharbeit, zeitlich befristete Verträge, missbräuchlicher Einsatz von Praktikanten. Weniger als die Hälfte der unter 30-Jährigen ist in regulärer, dauerhafter Beschäftigung. Das ist eine Entwicklung, die nicht mehr hingenommen werden kann. Wenn sich ein 30-jähriger junger Mann oder eine 28-jährige junge Frau in einem zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnis befindet, dann kann sich dieser Mann oder diese Frau eben nicht verantwortlich für ein Kind entscheiden, weil er oder sie nicht weiß, ob das Kind in zwei Jahren noch anständig gekleidet und ernährt werden kann. Das heißt, wir haben es in der Breite mit einer eindeutigen Überflexibilisierung zulasten der Sicherheit der Beschäftigten in Deutschland zu tun. ({4}) Dieses Maß an Überflexibilisierung muss abgebaut werden, um wieder eine vernünftige Balance zwischen Flexibilisierung und Sicherheit zu erreichen. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie täten gut daran, wenn Sie damit bei der Leiharbeit beginnen und sie in eine Form bringen würden, wodurch dieses Instrument nicht mehr als hemmungsloses Lohndumpinginstrument zulasten der Menschen in Deutschland benutzt werden kann. Schönen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Jetzt folgen zwei Kurzinterventionen. - Zunächst spricht Kollegin Connemann.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Schreiner, Sie hatten mich in unterschiedlichen Bemerkungen persönlich angesprochen. Ich habe in Ihren Ausführungen allerdings eine Stellungnahme zu den Vorgängen vermisst, die in Ihren eigenen Betrieben stattfinden. Beispiel Frankfurter Rundschau. ({0}) Sie haben gesagt, das prüfen zu wollen, weil es Ihnen nicht bekannt sei. ({1}) Es wundert mich sehr, dass Sie sich mit vielen Erkenntnisquellen nicht auseinandersetzen, obwohl Sie sonst alles zu wissen scheinen. ({2}) Ich würde Ihnen sehr empfehlen, hierzu beim Deutschen Journalisten-Verband, einer Gewerkschaft, nachzufassen. Dieser Deutsche Journalisten-Verband hält übrigens fest, dass es eine SPD-Beteiligung nicht nur bei der Frankfurter Rundschau, sondern auch bei den folgenden Zeitungen gibt, die Redakteure in Form von Leiharbeitnehmern einsetzen: Die SPD ist über den Madsack-Konzern zum Beispiel an der Leipziger Volkszeitung beteiligt. Das Blatt beschäftigt elf Leihredakteure. Die SPD ist an der Neuen Westfälischen in Bielefeld beteiligt. ({3}) - Auch wenn sie nur daran beteiligt ist. Die Pauschalisten sollen dort Arbeitnehmer werden - allerdings in einer Leiharbeitsfirma. Die SPD ist an der Oberhessischen Presse in Marburg beteiligt. Dieses Blatt beschäftigt drei Redakteure über die Leiharbeitsfirma Browa. ({4}) Die SPD ist an der Sächsischen Zeitung beteiligt. Dieses Blatt beschäftigt Leiharbeiter über die SZ Sachsen GmbH. ({5}) Davon wissen Sie tatsächlich nichts? ({6}) Das wollen Sie mir erzählen? Wie wollen Sie darauf reagieren? Meinen Sie nicht, mehr Sein als Schein wäre gut? Nur: Sie haben das heute nicht unter Beweis gestellt. Im Übrigen möchte ich einem beliebten Argument in Ihrer Rede ebenfalls entgegentreten. Sie sind auf das Thema Aufstockung eingegangen. Die Aufstockung in Deutschland ist aber kein Problem aufgrund der Lohnhöhe, sondern aufgrund der Arbeitszeit. ({7}) Wenn Sie sich die Daten ansehen, dann werden Sie feststellen, dass nur 28 000 in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer aufstocken. Alle anderen Aufstocker befinden sich in Teilzeitarbeitsverhältnissen. Ich möchte Sie bitten, auch das zur Kenntnis zu nehmen. Zeichnen Sie hier keine Zerrbilder von etwas, was nicht der Wirklichkeit entspricht. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollegin Ute Kumpf das Wort. Danach antwortet Kollege Schreiner. ({0})

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Kollegin Connemann, Sie waren ja in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. ({0}) - Doch. Ich möchte für die SPD ganz gerne eine Klarstellung treffen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich darf eine Zwischenbemerkung machen. Die Reihenfolge der Kurzinterventionen ist nicht festgelegt. Wenn es zwei Kurzinterventionen auf eine Rede gibt, dann können sie doch wohl hintereinander erfolgen, sodass der Redner auf beide antworten kann.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau. - Sie erhalten dann auch noch eine Antwort von dem Kollegen Ottmar Schreiner. Ich möchte Sie gerne hinsichtlich des Vorgangs bei der Frankfurter Rundschau aufklären. Auch Ihnen müsste die Situation in der Medienlandschaft bekannt sein: Das sind ziemliche Haifischbecken. ({0}) - Hören Sie bitte erst einmal zu. - Bei der Frankfurter Rundschau - daran sind wir beteiligt - besteht folgender Sachverhalt: Es gab die Pauschalisten, die nur ein Zeilengeld erhalten haben. Diese Pauschalisten haben von sich aus das Interesse bekundet, durch eine Zeitarbeitsfirma übernommen zu werden, weil sie - vielleicht kennen Sie solche Verläufe - aus ihren sehr prekären Arbeitsverhältnissen in eine einigermaßen geordnete Form des Zeitarbeitsverhältnisses überführt werden wollten. ({1}) So ist der Sachverhalt. Genauso bekannt ist unsere Position, dass Zeitarbeit nicht verwerflich ist. Das haben wir auch nie bestritten. ({2}) - Moment, klatschen Sie nicht vorher! - Ich kenne sehr wohl die Situation in meinem eigenen Wahlkreis, dass man für Auftragsspitzen und besondere Situationen auf Zeitarbeit zurückgreift, und weiß, dass dies auch manche Gewerkschaften und Betriebsräte wollen, damit die Stammbelegschaft geschützt wird. Zeitarbeit kann aber nicht als generelle Lösung dienen und muss tariflichen Regelungen unterworfen werden. Das hat mein Kollege Ottmar Schreiner zur Genüge ausgeführt. Ich will noch etwas zu dem Beispiel Frankfurter Rundschau sagen, weil Sie immer wieder darauf gepocht haben. Sachverhalt ist der, dass die Abwicklung auf eigenen Wunsch der Pauschalisten erfolgt ist. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schreiner, bitte.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch ich möchte kurz zur Aufklärung der Frau Kollegin Connemann beitragen, weil sie meine Aussage eben hinterfragt hat. Jeder achte Vollzeitbeschäftigte in der Leiharbeit bezieht ergänzende staatliche Leistungen, weil das Einkommen so niedrig ist, dass es unterhalb der Hartz-IV-Grenze liegt. Das haben Sie infrage gestellt und mit völlig anderen Zahlen operiert. Ich frage mich, welcher Quelle Sie Ihre Zahlen entnehmen. Ich offenbare Ihnen jetzt die Quelle meiner Zahl und zitiere kurz aus dem Bericht „Leiharbeit in Deutschland. Fünf Jahre nach der Deregulierung“ des DGB-Bundesvorstands. Darin heißt es: Das niedrige Lohnniveau in Verbindung mit weiteren missbräuchlichen Praktiken hat dazu geführt, dass inzwischen jeder achte Beschäftigte in der Leiharbeit ({0}) trotz Vollzeittätigkeit ({1}) auf ergänzende staatliche Transferleistungen angewiesen ist. Damit sind Beschäftigte in der Leiharbeit fünfmal so häufig auf ergänzende Unterstützung angewiesen wie Beschäftigte anderer Branchen. Allein für die Unterstützung der Leiharbeiter müssen staatliche Stellen rund 500 Millionen Euro pro Jahr aus Steuermitteln aufwenden. Ich hoffe, der notwendigen Aufklärung Genüge getan zu haben. Wir können die Zahlen im Rahmen der Fachdiskussion im Ausschuss abgleichen. Es kann kein Problem sein, sich der Wahrheit zu nähern, wenn der gute Wille da ist. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion. ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir als neues Mitglied dieses Hohen Hauses einige Worte zu dieser Debatte. Ich bin recht erstaunt darüber, welchen Berg uns Vertreter der Vorgängerregierung hinterlassen haben. Wir wollen uns dessen annehmen. Wir haben auch gesagt, dass wir die missbräuchliche Praxis in der Leiharbeit angehen wollen. ({0}) Im Dezember 2009 wurden 3,3 Millionen Arbeitslose gezählt. Heute Morgen sind die aktuellen Zahlen der Bundesagentur veröffentlicht worden. Danach sind 3,6 Millionen Menschen ohne Arbeit. Wenn wir diese Menschen fragen, ob es ihnen lieber ist, bei einer Zeitarbeitsfirma tätig zu sein, als keine Arbeit zu haben, liegt die Antwort doch klar auf der Hand: Zeitarbeit ist besser als null Arbeit. ({1}) Die FDP hat schon immer die Position vertreten, dass Zeitarbeit eine wichtige Rolle am Arbeitsmarkt spielt. Ich habe der Debatte eben entnommen, dass diese Praxis offensichtlich auch bei den SPD-nahen Zeitungen geübt wird. Reguläre Zeitarbeit heißt im Normalfall, dass Arbeitnehmer Verträge mit Zeitarbeitsfirmen abschließen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer von den Grünen?

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Molitor, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass keiner der hier vorliegenden Anträge zum Ziel hat, die Zeitarbeit abzuschaffen, sondern zum Ziel hat, die Zeitarbeit ({0}) zu regulieren, damit sie nicht dazu genutzt wird, reguläre Arbeitsplätze zu ersetzen? Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in angrenzenden, vergleichbaren europäischen Ländern das Volumen der Zeitarbeit deutlich höher ist als in Deutschland und die Regelungen für die Zeitarbeit dort ungefähr dem entsprechen, was im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen niedergelegt ist? ({1}) Verbesserte Regelungen für die Zeitarbeit sind mithin kein Instrument, um Zeitarbeit zu reduzieren, sondern ein Instrument, um die Zeitarbeit vernünftig zu regulieBrigitte Pothmer ren und sie auch auszuweiten, weil sie dann aus der Schmuddelecke herauskommt, Frau Molitor. ({2})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst einmal will ich deutlich sagen: Zeitarbeit steht für mich nicht in der Schmuddelecke. ({0}) Es gibt sehr wohl Zeitarbeitsunternehmen, die reguläre Beschäftigung anbieten. In dem, was Sie in Ihren Anträgen fordern, sehe ich schlicht und ergreifend die Gefahr, dass durch vorschnelle Regulierung auf lange Sicht Zeitarbeitsplätze abgeschafft werden. ({1}) Dem treten wir entgegen. ({2}) - Frau Kollegin, da sind die Dinge anders geregelt. Das Beispiel Frankreich ist eben schon angeführt worden. Dort ist die Zeitarbeit auftragsbezogen geregelt. Die Mitarbeiter werden von einer Agentur vermittelt und werden nach Beendigung des Auftrags entlassen. Die Beschäftigung endet zu diesem Zeitpunkt. ({3}) - Die Zeitarbeitnehmer in Deutschland bekommen aber dann, wenn die Beschäftigung endet, weiter ihren Lohn, weil sie weiterhin bei der Zeitarbeitsfirma beschäftigt sind. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({4}) Ich bin der festen Überzeugung, dass sich das Instrument der Zeitarbeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewährt hat. Wir merken jetzt: Besonders zu Beginn eines wirtschaftlichen Aufschwungs und nach einer Krise, wie wir sie auch in Deutschland hatten, hat die Zeitarbeit positiven Einfluss auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Wenn zurzeit Arbeitsplätze entstehen, dann vorrangig in der Zeitarbeit. ({5}) Das zarte Pflänzchen der Erholung am Arbeitsmarkt dürfen wir nicht durch übereilte Regelungen erdrücken. ({6}) Natürlich hat der Fall Schlecker die Kritiker von Zeitarbeit auf den Plan gerufen. Wegen eines schwarzen Schafes dürfen wir jedoch nicht die gesamte Branche in Misskredit bringen. ({7}) Das Problem ist die missbräuchliche Nutzung des Instruments Zeitarbeit. Diesen Missbrauch - das haben wir gesagt - gilt es zu verhindern. Das wollen wir angehen. Was nutzt uns denn ein ausgefeiltes Arbeitsrecht, wenn es in letzter Konsequenz Arbeitsplätze vernichtet? ({8}) Mit Interesse habe ich gelesen, dass die SPD nach ihrer Klausurtagung verkündet hat, die Interessen von Arbeitnehmern stärker zu vertreten. Wir, die FDP, wollen nicht nur die Interessen von Arbeitnehmern, sondern auch die Interessen von arbeitslosen Menschen vertreten. ({9}) Denn wir wissen, dass etwa 60 Prozent der Zeitarbeiter vorher keine Beschäftigung hatten. ({10}) Lassen Sie mich ganz klar sagen: Wir müssen zwei Themen voneinander trennen, die in der Diskussion immer wieder gerne in einen Topf geworfen werden, nämlich Missbrauch der Zeitarbeit und Mindestlöhne. Auch in Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen, ist diese Vermischung vorgenommen worden. Das wird der Sache nicht gerecht. ({11}) Lassen Sie uns die Diskussion über Mindestlöhne führen, wenn sie spruchreif ist. Alles zu seiner Zeit. Das haben wir im Koalitionsvertrag auch so festgehalten. ({12}) Gerade in wirtschaftlich turbulenten Zeiten ermöglicht die Zeitarbeit den Unternehmen, sich an die jeweilige Auftragslage flexibel anzupassen. Mir ist lieber, ein Unternehmen bleibt bestehen und kann weiterhin Arbeit anbieten, als dass es in die Insolvenz geht. ({13}) Zusätzlicher Personalbedarf kann schnell gedeckt werden. Mittlerweile sind 760 000 Zeitarbeitnehmer vor allem in mittleren und größeren Betrieben eingesetzt. Wir sprechen hier von Menschen, die wieder eine Arbeit aufgenommen haben. Das ist allemal besser, als arbeitslos zu sein. Wir Liberale machen eine Politik für Arbeitslose und Beschäftigte. Die Leih- oder Zeitarbeit darf nicht geschwächt werden. Weil die Zeitarbeit nach unserer Auffassung auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird, treten wir Missbräuchen entschieden entgegen. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Juratovic für die SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag im Jahr 2005 habe ich 22 Jahre im Werk eines deutschen Automobilherstellers gearbeitet. Ich habe in diesen Jahren und auch nach meiner Wahl in den Deutschen Bundestag mitverfolgt, wie die Leiharbeit Einzug in das Werk hielt. In den vergangenen Jahren musste ich leider feststellen, dass vielerorts reguläre Beschäftigungsverhältnisse durch Leiharbeit ersetzt wurden. Das war nicht beabsichtigt, als die rot-grüne Bundesregierung das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz änderte. Geplant war vielmehr, mit dem Instrument der Leiharbeit den Bedarf an Arbeitskräften in Spitzenzeiten abzudecken. In der damaligen Zeit dachten viele Unternehmen über eine Auslagerung der Produktion in das osteuropäische Ausland nach. Wie viele andere Arbeiter hatten auch wir davor Angst. Für uns bedeutete die Reform des Arbeitsnehmerüberlassungsgesetzes unter Rot-Grün, dass unsere Arbeitsplätze an den deutschen Standorten gesichert werden und Langzeitarbeitslose einen leichteren Zugang zum ersten Arbeitsmarkt bekommen. Ich bin mir sicher, dass mit der Leiharbeit einige Arbeitgeber davon abgehalten wurden, ihre Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern. ({0}) Deswegen wurden damals Änderungen bei der Leiharbeit von allen Beteiligten unterstützt: von der Politik, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften. ({1}) Wir mussten jedoch in den vergangenen Jahren feststellen, dass die Leiharbeit von Unternehmen für andere Zwecke missbraucht wurde. Schlecker nutzte die Leiharbeit, um Lohndumping zu betreiben; das ist kein Einzelfall. In vielen Unternehmen wird die Leiharbeit dafür missbraucht, die Lohnstückkosten zu senken. Ein Unternehmen, das dabei nicht mitmacht, verliert oft den Anschluss an die Konkurrenz. Die Praxis wird von Pseudogewerkschaften unterstützt, die sich heuchlerisch auch noch als christlich bezeichnen. Wir reden immer wieder über Ethik in der Wirtschaft. So wie Leiharbeit aktuell stattfindet, entspricht das jedoch keinen ethischen Maßstäben. Es ist unethisch, wenn Unternehmen ihre Mitarbeiter in zwei Kasten einteilen: in die Stammbelegschaft und die Leiharbeiter. Es ist unethisch, wenn Leiharbeiter in manchen Fällen nur 50 Prozent des Lohnes erhalten, den ihre Kollegen der Stammbelegschaft für dieselbe Tätigkeit bekommen. Es läuft etwas komplett schief, wenn jeder achte Leiharbeitnehmer trotz Vollzeittätigkeit auf eine ergänzende staatliche Unterstützung angewiesen ist. Für einen Leiharbeiter ist es unmöglich, einen Kredit oder eine Wohnung zu erhalten, weil er keine stabile Beschäftigung vorweisen kann. In der Krise konnten durch die Kurzarbeit zwar viele Beschäftigte vor einer Kündigung bewahrt werden. Die Leiharbeiter haben jedoch - weitgehend unbemerkt - ihre Arbeit verloren. Die OECD spricht im Zusammenhang mit der Leiharbeit von einer Zweiklassengesellschaft auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Leiharbeit ist bei uns eine Form prekärer Beschäftigung. Die Leiharbeit sorgt dafür, dass in Deutschland zahlreiche Kinder in Armut aufwachsen. Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, es ist nicht gerade glaubwürdig, dass sich die ehemalige Familienministerin und jetzige Arbeitsministerin ernsthaft Sorgen um Kinderarmut macht und eine der Hauptursachen der Kinderarmut ignoriert. Wir Sozialdemokraten haben in der Großen Koalition vehement Änderungen bei der Leiharbeit angemahnt. Die Union hat aber den offensichtlichen Handlungsbedarf bestritten und bestreitet ihn noch immer. Es geht uns nicht darum, die Leiharbeit komplett abzuschaffen. Wir wollen weiterhin die positiven Effekte der Leiharbeit nutzen, denn mit der Leiharbeit können kurzfristige Auftragsspitzen in Unternehmen bewältigt werden, und sie kann als Übergang in eine reguläre Beschäftigung dienen. Aber wir müssen Tarifflucht und Lohndumping in der Leiharbeit einen Riegel vorschieben. ({2}) Es muss klar sein: Wer dieselbe Arbeit verrichtet und unter denselben Bedingungen arbeitet, der bekommt auch denselben Lohn. Ich begrüße die Anträge von Linken und Grünen, denn sie zeigen, dass beide Parteien Handlungsbedarf bei der Leiharbeit sehen. Leider bieten die Anträge aber zum Teil widersprüchliche und nicht vollständig durchdachte Lösungen an, so zum Beispiel in Bezug auf die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Das wollen zwar beide; auch wir wollen dies. Doch eine Forderung von 10 Prozent Flexiprämie nur für Leiharbeiter ist eigentlich ein Widerspruch zur Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Flexibilisierung ist in allen Betrieben bei der Gesamtbelegschaft gerade jetzt in Krisenzeiten hoch im Kurs. Viel wichtiger wäre es, dass die Leiharbeit schnellstmöglich in den Geltungsbereich des Arbeitnehmerentsendegesetzes aufgenommen wird, damit der Mindestlohn für diese Branche gewährleistet wird. Des Weiteren fordert die Linke, dass die Betriebsräte in einem Entleihbetrieb im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes ein zwingendes Mitspracherecht hinsichtlich des Einsatzes der Leiharbeiter bekommen. Meines Erachtens ist dies bereits jetzt über die Anwendung verschiedener Paragrafen des Betriebsverfassungsgesetzes weitgehend möglich. Viel wichtiger wäre für mich eine Ausweitung des § 14 des ArbeitnehmerüberlassungsgeJosip Juratovic setzes, damit der Entleihbetrieb Übersicht über die Bedingungen der Arbeitnehmer in dem Verleihunternehmen bekommt, ohne dass sich Arbeitnehmervertreter wegen Verletzung des Betriebsgeheimnisses strafbar machen. Dies kann man über § 80 Abs. 1 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes abdecken, weil danach der Betriebsrat über die Einhaltung gesetzlicher Regelungen wacht. Der Forderung der Grünen, die Anzahl aller Mitarbeiter in einem Betrieb innerhalb eines bestimmten Zeitraums für die Anzahl der Betriebsräte zugrunde zu legen, stimme ich zu. Aber ich bezweifle, dass bei Betriebsratswahlen das Wahlrecht eines Leiharbeiters ab dem ersten Tag gerecht gegenüber den Kandidaten und der Stammbelegschaft ist. Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen bei der Leiharbeit Änderungen mit Augenmaß. Deswegen werden wir Sozialdemokraten im Februar einen Antrag einbringen, der die positiven Effekte der Leiharbeit weiterhin gewährleistet und den Missbrauch beseitigt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unionsfraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich empfinde es als sehr erstaunlich, wie die Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion und aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier zum Thema Zeitarbeit aufgetreten sind. Vielleicht muss man zum Schluss der Debatte Folgendes noch einmal für alle festhalten, bevor es in Vergessenheit gerät: Die rechtlichen Grundlagen für die Leiharbeit, die wir heute in Deutschland haben, und die Tatsache, dass Leiharbeit in den letzten Jahren in Deutschland salonfähig geworden ist, entspringen rot-grüner Gesetzgebung. ({0}) Mit dem Job-Aktiv-Gesetz und den sogenannten Hartz-Gesetzen wurde der Startschuss zu einer weiteren Deregulierung der Leiharbeit gegeben. ({1}) Alle Verwerfungen, über die wir diskutieren, sind Probleme, die auf der Grundlage dieser gesetzlichen Regelungen von Rot-Grün entstanden sind. Das muss man festhalten. ({2}) Nun hat Kollege Schreiner gefragt: Was ist christlich? Um dies zu beantworten, müsste ich jetzt einen theologischen Vortrag halten; das will ich nicht tun. Aber ich kann eines sagen: Unchristlich ist mit Sicherheit, mit dem Finger auf eine christlich-liberale Regierung zu zeigen, die seit wenigen Wochen im Amt ist, und sie dafür verantwortlich zu machen, dass all die Probleme, die in diesem Land aufgrund rot-grüner Gesetzgebung bestehen, noch nicht beseitigt sind. ({3}) Nun zur eigentlichen Problemstellung. Gerade die Rede des Kollegen Juratovic, für deren ersten Teil ich mich vor allem bedanken möchte, hat sehr sachlich und nüchtern gezeigt, was die Absicht der Gesetzgebung war. Die Absicht war, einerseits Leiharbeit vereinfacht zur Anwendung zu bringen und andererseits für eine bessere soziale Absicherung der Beschäftigten zu sorgen. Gleichzeitig sollte die Leiharbeit eine arbeitsmarktpolitische Funktion übernehmen, indem vor allem Arbeitslose über Leiharbeit in dauerhafte Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden sollten. Das war die Absicht der Gesetzgebung. Jetzt, über fünf Jahre später, kann man positiv feststellen: Zeitarbeit ist ein wichtiges integratives arbeitsmarktpolitisches Instrument. Sie ermöglicht vielen Menschen, deren formale Qualifikationen nicht ausreichend sind und die sonst kaum einen Zugang zum Arbeitsmarkt hätten, Arbeit zu finden. Zwei von drei Zeitarbeitern waren zuvor arbeitslos, und jeder Zehnte hatte zuvor überhaupt noch nie einen Arbeitsplatz. Nun kann man über die Frage, was diese Zahlen bedeuten und was es mit dem sogenannten Klebeeffekt, also dem Umstand, dass jemand aus der Leiharbeit in eine unbefristete Beschäftigung übernommen wird, auf sich hat, trefflich diskutieren. Ich finde - ob man die Zahlen hin- oder herschiebt -, wir sollten über jeden glücklich sein, der die Chance hat, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen, um wieder mit eigener Hände Arbeit Geld zu verdienen. ({4}) - Und das ist christlich, Herr Kollege Schiewerling. In der Tat. ({5}) Aber genauso gilt, dass die Fehlentwicklungen bei der Inanspruchnahme von Zeitarbeit einer Korrektur bedürfen. Das prominente Beispiel Schlecker ist schon mehrmals erwähnt worden. Es sind einige mehr oder minder wenig rühmliche Genossinnen und Genossen von Schlecker benannt worden. Dass man die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sämtlich entlässt und sie postwendend über eine Zeitarbeitsfirma zu einem geringeren Lohn wieder einstellt, ist in der Tat unanständig, und das ist ein Missbrauch von Zeitarbeit. ({6}) Peter Weiß ({7}) Das hat auch nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun. ({8}) Offensichtlich haben einige Unternehmen nicht verstanden, was Zeitarbeit ist, sondern sie missbrauchen die Zeitarbeit als ein Geschäftsmodell, auf dem die Existenz eines Betriebes zu 100 Prozent beruhen soll. Ein solches Verhalten bringt inzwischen die eigentlich in Deutschland anerkannte Branche Zeitarbeit in der Tat in Verruf. ({9}) Meines Erachtens schneiden sich solche Unternehmen ins eigene Fleisch. Deshalb bin ich unserer neuen Bundesarbeitsministerin Dr. Ursula von der Leyen dankbar, dass sie wenige Tage nach ihrem Amtsantritt unmissverständlich erklärt hat, dass sie künftig genau hinschauen wird, wo Missbrauch geschieht, ({10}) und dass sie willens ist, diese Schlupflöcher, die einen Missbrauch von Zeitarbeit ermöglichen, zu schließen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass diese Koalition das Notwendige tun wird, um wieder Ordnung auf dem Zeitarbeitsmarkt herzustellen. ({11}) Die Oppositionsfraktionen, die hier Anträge gestellt haben, brauchen sich nicht zu belobigen. Es ist doch offenkundig: Auf die klare Ansage von Ursula von der Leyen haben sich die Oppositionsfraktionen bemüht, schnell einen Antrag zu pinseln. ({12}) Ich darf einen höflichen Hinweis geben: Die Opposition müsste eigentlich die Regierung antreiben, aber sie sollte nicht der Regierung hinterherlaufen. ({13}) - Entschuldigung, kaum hatte sich Frau von der Leyen geäußert, habt ihr von den Linken und den Grünen angefangen, Anträge zu schreiben. Das kann jeder machen. Nach der Vorlage von Frau von der Leyen einen Antrag zu schreiben, ist keine Oppositionsarbeit. ({14}) Ich will ein weiteres Wort sagen. Leiharbeit sollte den Unternehmen mehr Flexibilität ermöglichen, aber sie sollte kein Instrument zu Lohndumping und unfairem Wettbewerb sein. ({15}) Die Zeitarbeitsbranche ist aus bekannten Gründen die einzige Branche, die zu 100 Prozent tarifgebunden ist; das gibt es sonst nirgendwo. Aber anstatt dass durch die vereinbarten Tarifverträge ein Wettbewerb um besonders gute Vergütungen erfolgt, wird in einigen Teilbereichen leider ein Wettbewerb nach unten ausgetragen. Das kann ebenfalls nicht im Sinne qualifizierter Zeitarbeit sein. Die Zeitarbeitsbranche nimmt damit nämlich letztlich in Kauf, dass sie in Verruf gerät und dass Zeitarbeit mit Billigarbeit gleichgesetzt wird. Meine sehr geehrten Damen und Herren, um es klar und deutlich zu sagen: Wir wollen gute Zeitarbeit. Wir wollen Missbrauch und Fehlentwicklungen verhindern. Dafür benötigen wir offensichtlich zusätzliche Regelungen. Ich vertraue darauf, dass uns unsere Bundesarbeitsministerin - ich verweise auf die klare Ansage, die sie gemacht hat - demnächst einen praktikablen Vorschlag vorlegt, wie wir dafür sorgen können, dass Zeitarbeit in Deutschland eine Zukunft hat und dass Missbrauch und Fehlentwicklungen unterbunden werden. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die Unionsfraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Letzte kann natürlich immer noch etwas dazu sagen. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Causa Schlecker hat ein mediales Trommelfeuer gegen die Zeitarbeitsbranche hervorgerufen, wie ich meine, zu Recht. Das sage ich als Christsozialer, damit sich alle eingebunden fühlen, Herr Schreiner. Mit uns, der christlich-liberalen Koalition, wird es ein „Geschäftsmodell Ausbeutung“, wie der Stern vergangene Woche schrieb, nicht geben. ({0}) Was ist bei Schlecker passiert? Schlecker hat faktisch unternehmensintern verliehen. Das klassische Dreieck der Zeitarbeit „Zeitarbeitnehmer, Zeitarbeitgeber und Zeitarbeitskunde“ ist nicht beachtet worden. Das ist keine Zeitarbeit in dem Sinne, wie wir echte Zeitarbeit verstanden wissen wollen. ({1}) Meine Damen und Herren der Fraktionen der Grünen und der SPD, immer wieder hat man in dieser Debatte gedacht: Wir können es langsam nicht mehr hören. Leider müssen Sie sich noch einmal anhören, wie ich darauf hinweise: Die schrankenlose Zulassung von Leih- und Zeitarbeit ist in Ihrer und nicht in unserer Regierungszeit beschlossen worden. ({2}) Herr Kollege Schreiner, Sie können hier noch so laut reden - auch ich versuche es gerade -, Sie sitzen mit dem, was Sie hier machen, in der Populismusfalle. ({3}) Wenn Sie jetzt die Zeitarbeit anprangern, müssen Sie sich vorhalten lassen, dass diese zeitarbeitsrechtlichen Regelungen von Ihrer Koalition stammen. Ihre Koalition hat auch die Möglichkeit geschaffen, das Equal Pay auszuhöhlen. Diese Möglichkeit haben doch nicht wir geschaffen. ({4}) Urheber dieses neuen Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes war nicht die heutige Koalition. Es ist aber bezeichnend, dass es einer christlich-liberalen Koalition bedarf, um jetzt gegen Schlupflöcher vorzugehen. ({5}) Dass der Stern jetzt das Ende der Ära der Liberalisierung im Arbeitsrecht fordert, ist eine Tragik für die Sozialdemokratie. Das müssen Sie sich angesichts dessen, was in den letzten Jahren mit Ihrer Politik passiert ist, doch ganz besonders zu Herzen nehmen. ({6}) Meine Damen und Herren von den Grünen, man kann sich irren; aber Motivirrtum ist unbeachtlich. Sie müssen sich vorher überlegen, was Sie tun, und nicht erst in der Opposition. ({7}) Der Bericht der Bundesregierung über die Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zeigt, dass Zeitarbeit Brücken zur Arbeit baut für Menschen, die sonst schlechte Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten; wir haben die Zahlen vorhin schon mehrfach gehört. Zeitarbeit schafft Perspektiven; ({8}) das zeigt der Bericht ganz deutlich. Wir sind fest entschlossen, Missbrauch in der Zeitarbeitsbranche zu bekämpfen. Wir reichen nicht die Hand für systematische Tarifflucht, die zu sozialer Schieflage führt. Aber ich sage es mit gleicher Deutlichkeit: Wir sind nicht für eine Änderung des Betriebsverfassungsrechtes, wie von Linken und Grünen jetzt gefordert wird. ({9}) Diese Maßnahme würde eine Hürde für die Entstehung von Arbeitsplätzen darstellen. Sie führte letztlich dazu, dass Zeitarbeit in den Betrieben gar nicht mehr möglich wäre. Das wollen wir nicht. ({10}) Es muss auch weiterhin möglich bleiben, flexibel einzustellen, ohne Einigungsstellen anzurufen. Einigungsstellen kosten Zeit und Geld. Sie tragen zu dem, was wir mit Zeitarbeit erreichen wollen, nichts bei. Ich appelliere aber auch an die Zeitarbeitsbranche: Schwarze Schafe haben sie in Verruf gebracht. Unsere Vorstellung von Zeitarbeit ist es nicht, dass Stammbelegschaft ersetzt wird. Das will ich hier auch in aller Deutlichkeit sagen. ({11}) Ich bin froh - wir alle begrüßen es -, dass unsere neue Bundesarbeitsministerin angekündigt hat, dass, wenn es zu keiner tariflichen Lösung kommt, dem Missbrauch von Zeitarbeit mit einem konkreten Gesetzentwurf entgegengetreten wird. Wir müssen jetzt die Schlupflöcher stopfen, die Sie während der rot-grünen Koalition eröffnet haben. Das ist doch die Tatsache. ({12}) - Na ja, da waren Sie doch auch dabei. ({13}) Wir können doch an dem im Koalitionsvertrag enthaltenen Rechtsgedanken der „Zuvor-Arbeitsverhältnisse“, wie wir sie im Teilzeit- und Befristungsgesetz vorfinden, anknüpfen. Da machen wir das doch. Setzen und vertrauen wir auf die Stärke der Tarifparteien! Das möchten doch auch Sie. Stärken Sie Ihre Gewerkschaften! Halten wir aber zugleich an Tariföffnungsklauseln fest! Fördern wir die Tarifautonomie! Sie ist die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Mindestlöhne sind kein Allheilmittel und bieten erst recht keine Arbeitsplatzgarantie. ({15}) Der in unseren Augen bessere Weg ist die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Schreiben wir die differenzierte Rechtsprechung zum Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich fest, um Lohndumping zu verhindern und soziale Verwerfungen zu vermeiden. ({16}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, machen wir uns die Mühe zur differenzierten Betrachtung. Geben wir guter und seriöser Zeitarbeit den erforderlichen gesetzlichen Rahmen in einem gesicherten Tarifgefüge. ({17}) Dies führt zu motivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dies bietet einer Vielzahl von Arbeitslosen eine Perspektive und ein Sprungbrett in eine Dauerbeschäftigung. Den schwarzen Schafen und Schlupflöchersuchern, die die Senkung von Personalkosten und den flexiblen Einsatz von Arbeitskräften falsch verstehen, die kein Gefühl für Verantwortung, Betriebstreue, Zuverlässigkeit und hohen persönlichen Einsatz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben, sagen wir aber genauso klar: Wir stellen uns vor die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Missbrauch jedoch werden wir nicht akzeptieren, Missbrauch werden wir nicht dulden. Wir werden handeln. Herzlichen Dank. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lange, das war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Wir gratulieren Ihnen dazu recht herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/426 und 17/551 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches Anlegerschutzniveau überwinden - Drucksache 17/284 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Es handelt sich um eine Überweisung im verein- fachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 17/284 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 l auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 23 a: a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 8 zu Petitionen - Drucksache 17/473 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 8 ist einstimmig ange- nommen. Tagesordnungspunkt 23 b: b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 9 zu Petitionen - Drucksache 17/474 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 9 ist ebenfalls einstim- mig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 c: c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 10 zu Petitionen - Drucksache 17/475 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 10 ist mit den Stim- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. Tagesordnungspunkt 23 d: d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 11 zu Petitionen - Drucksache 17/476 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 11 ist einstimmig an- genommen. Tagesordnungspunkt 23 e: e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 12 zu Petitionen - Drucksache 17/477 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 12 ist mit den Stim- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP- Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 23 f: f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 13 zu Petitionen - Drucksache 17/478 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 13 ist mit den Stim- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP- Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 14 zu Petitionen - Drucksache 17/479 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 14 ist mit den Stim- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. Tagesordnungspunkt 23 h: h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 15 zu Petitionen - Drucksache 17/480 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 15 ist mit den Stim- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange- nommen. Tagesordnungspunkt 23 i: i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 16 zu Petitionen - Drucksache 17/481 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 16 ist mit den Stim- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 23 j: j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 17 zu Petitionen - Drucksache 17/482 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 17 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 23 k: k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 18 zu Petitionen - Drucksache 17/483 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 18 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 23 l: l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 19 zu Petitionen - Drucksache 17/484 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 19 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 l auf. Wir kommen zu zwölf Gremienwahlen, die wir mittels Handzeichen durchführen werden. Tagesordnungspunkt 6 a: Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ - Drucksache 17/528 Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller Fraktionen auf Drucksache 17/528 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 b: Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ - Drucksache 17/529 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/529 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 c: Stiftungsrat der „Stiftung Caesar“ ({6}) - Drucksache 17/530 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 17/530 ab. Wer ist für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 d: Stiftungsrat der „Deutschen Stiftung Friedensforschung ({7})“ - Drucksache 17/531 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 17/531 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Senat des Vereins „Hermann von HelmholtzGemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.“ - Drucksache 17/532 Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD auf Drucksache 17/532 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 f: Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht - Drucksache 17/533 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/533 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 g: Parlamentarischer Beirat der „Stiftung für das sorbische Volk“ - Drucksache 17/534 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 17/534 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 h: Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ - Drucksache 17/535 Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/535 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 i: Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek gemäß § 6 Absatz 1 Nummer 1 des Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek - Drucksache 17/536 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 17/536 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 j: Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ - Drucksache 17/537 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/537 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 k: Kuratorium der Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ - Drucksache 17/538 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 17/538 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 l: Stiftungsrat der „Stiftung Berliner Schloss Humboldtforum“ - Drucksache 17/539 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/539 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Anhaltender Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung von Stasi-Verstrickungen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster für die Unionsfraktion. ({0})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 15. Januar 1990 erstürmten die Menschen die StasiZentrale in der Normannenstraße, und im Dezember 1991 beschloss der Deutsche Bundestag das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Die Bundestagskolleginnen und -kollegen von damals, die Bürgerinnen und Bürger und vor allem die Opfer der menschenverachtenden Stasi-Machenschaften konnten mit Sicherheit nicht ahnen, dass 15 Jahre, geschweige denn 20 Jahre nach dem Fall der Mauer das Thema der Stasi-Verstrickungen auch in unseren Parlamenten noch so aktuell ist: in Brandenburg, im Deutschen Bundestag und hier auch noch in der heutigen Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses. Damals konnte sich wohl kaum jemand vorstellen, dass 20 Jahre nach dem Fall der Mauer im Brandenburger Landtag ehemalige Stasi-Zuträger gleich in Fraktionsstärke vertreten sind. ({0}) Genauso wenig war sicherlich vorstellbar, dass noch in dieser Wahlperiode ein Abgeordneter der Linksfraktion auf der Internetseite des Deutschen Bundestages lakonisch „ließ mich 1983 als IM des MfS verpflichten“ vermerkt und auf seiner eigenen Homepage die Tätigkeit für die Stasi in einer chronologischen Harmlosigkeit darstellt, als wäre es die Mitgliedschaft bei den Pfadfindern. ({1}) Dies kann so nicht sein, dies muss uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen, aufrütteln. Es muss noch einmal klar ausgesprochen werden, was es denn heißt, sich freiwillig bei der DDR-Geheimpolizei verpflichten zu lassen. Was war denn das, eine Tätigkeit beim MfS? Es geht hier um Verbrechen an jungen Menschen. Es waren die Bespitzelung von und der Verrat an Nachbarn, Freunden, Arbeitskollegen. Was eine IM-Tätigkeit bedeutet, kann man in den mit Zweidrittelmehrheit beschlossenen Bundestagsdrucksachen zu den Überprüfungsverfahren zu Heinrich Fink oder Christa Luft oder Roland Claus oder Gregor Gysi nachlesen. Hier wurden junge Menschen, Jugendliche mit existenzvernichtenden Folgen ans Messer geliefert. Berufliche und persönliche Perspektiven wurden völlig zerstört. Das Widerlichste daran ist: Es wurde Vertrauen missbraucht, Vertrauen von Menschen in ihren angeblichen Freund oder Nachbarn, Vertrauen von Jugendlichen in ihren Jugendklubleiter, Vertrauen in seelsorgerische Gespräche oder Vertrauen von Mandanten in ihren Anwalt. Vertrauen in unsere parlamentarische Demokratie, in die Vertrauenswürdigkeit der Abgeordneten zu schaffen, war auch ein Motiv für das Stasi-Unterlagen-Gesetz und die Überprüfungsverfahren nach dem Abgeordnetengesetz. ({2}) Bei den Abstimmungen über das Stasi-UnterlagenGesetz im Jahre 1991 oder bei der Verlängerung der Fristen im Jahre 2006 war sich dieses Parlament mit Ausnahme der SED-Nachfolger PDS und Linke darin einig, dass diese Gesetze und Verfahren einen Beitrag zur Selbstreinigung des Parlamentes leisten müssen. ({3}) Es kann nicht sein, dass Menschen, die das eigene Volk auf hinterhältigste Weise bespitzelt und verraten haben, heute Abgeordnete sind. ({4}) Das Bundesverfassungsgericht hat es auf den Punkt gebracht. Zu diesen Überprüfungsverfahren sagt das Bundesverfassungsgericht: Das Überprüfungsverfahren beruht auf der Prämisse, dass die frühere Tätigkeit eines Abgeordneten für den Staatssicherheitsdienst diesem die Legitimität nehme, Abgeordneter des Deutschen Bundestages zu sein. Das muss auch für die Zukunft gelten. ({5}) Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass nach wie vor dringender Handlungsbedarf besteht. Wir alle haben die größte Bewunderung und den größten Respekt vor allem vor dem Mut der Menschen, die diesen unmenschlichen Machtapparat vor 20 Jahren zerstört und die friedliche Revolution herbeigeführt haben. ({6}) Mein tiefer Respekt gilt auch den Opfern, die drangsaliert, eingesperrt und ihrer persönlichen und beruflichen Perspektive beraubt worden sind - mit Wirkungen bis heute. ({7}) Es wäre fatal, wenn auch nur der Eindruck entstehen könnte, dass mit einer auslaufenden Frist ein Schlussstrich gezogen würde. ({8}) Die aktuellen Ereignisse zeigen: Heute, im Jahre 2010, darf es nicht um Befristungen und Abschluss gehen, sondern es muss um Entfristung und Öffnung gehen. Wir müssen das schlimmste Kapitel des SED-Unrechtsregimes weiter aufklären. Jeglicher Verharmlosung müssen wir entschieden entgegentreten. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offensichtlich ist auch die DDR-Vergangenheit eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Seit 20 Jahren beschäftigen wir uns mit diesem belastenden Erbe. Ich weiß nicht, die wievielte Debatte das zu diesem Thema ist, an der ich mich beteilige, die wievielte Überprüfung ich beantragt habe. Ich gehörte zu denen, die vor knapp 20 Jahren in der Volkskammer für die Öffnung der Akten eingetreten sind, die für die Einrichtung einer Stasi-Unterlagen-Behörde gesorgt haben. Das Thema ist nicht erledigt. Das überraschend anhaltende Interesse Betroffener an der Einsicht in die Akten - damit konnte man nicht rechnen, dass auch nach 20 Jahren so viel Interesse an den Akten besteht - erinnert uns daran. Es gibt immer neue Enthüllungen, zuletzt auch in Brandenburg. Das ist eigentlich wenig überraschend, wenn man die menschliche Natur kennt. Wer gibt schon freiwillig Schuld zu? Der Brandenburger Weg - von dem immer wieder die Rede war - wurde zunächst von einer Ampel-Koalition und dann von einer Großen Koalition gegangen. Ich erinnere daran, weil ich glaube, dass eine parteipolitische Instrumentalisierung der Vergangenheit nicht sehr viel hilft, sondern dem Anliegen eher schadet. ({0}) Bei allem verständlichen Eifer und der Emotionalität, die ich teile, sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass die Demokratie - das ist einer ihrer großen Vorzüge - Menschen immer wieder die Chance gibt, sich in ihr zu verändern. ({1}) Das heißt: Wir sollten der Versuchung widerstehen, anderen ein Kainsmal aufzudrücken, sie dauerhaft in das Gefängnis ihrer Vergangenheit einzusperren. Ich hoffe, darin sind wir uns einig. Vor diesem Hintergrund gibt es für mich, für uns, ein Kriterium, eine Bewertungsregel, die aus zwei Punkten besteht. Erstens. Wer einmal Macht über Menschen missbraucht hat, soll nie wieder Macht über Menschen bekommen. ({2}) Zweitens. Es muss die Frage gestellt werden: Wie ist einer mit der Stasi-Vergangenheit, der SED-Vergangenheit, der Blockparteivergangenheit in den vergangenen 20 Jahren umgegangen? Hat er, hat sie geschwiegen oder gar gelogen, oder war er, war sie ehrlich und hat sich in der gemeinsamen Demokratie bewährt? Auch das sollte in die Bewertung einfließen. Das geht nie ohne die Prüfung des einzelnen Falls und ohne genaue, sehr differenzierte Bewertung. Genau dafür bleibt der Zugang zu den Akten notwendig. Deswegen sind wir für eine Verlängerung der Überprüfungsmöglichkeiten nach den §§ 21 und 22 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes über 2011 hinaus. Bei Menschen in herausgehobenen Positionen in Politik, Verwaltung, Justiz, Bundeswehr und Sport sollen die Bürger sicher sein können, dass sie nicht früher Macht missbraucht haben. Deswegen empfiehlt die SPD-Fraktion ihren Mitgliedern, sich auf eine Stasi-Mitarbeit überprüfen zu lassen. Ich tue das auch. Ich glaube, bei mir ist es das sechste oder siebte Mal. Deswegen soll nach unserer Auffassung die Stasi-Unterlagen-Behörde selbstverständlich über das Ende der Amtszeit von Marianne Birthler hinaus weiterbestehen und weiterarbeiten können. Ich sage das, weil es in der vergangenen Legislaturperiode in den Reihen der CDU ganz andere Positionen gab, die das Ende dieser Behörde wollten. ({3}) - Ich rede doch präzise: das Ende der Behörde, Kollege Vaatz. Ich weiß doch, wer das mit anderen zusammen damals gefordert hat. ({4}) Wir haben in der Gedenkstättenkonzeption vereinbart, dass der Bundestag eine Expertenkommission einberuft, die Vorschläge entwickelt, wie die unterschiedlichen Aufgaben der Behörde in der Zukunft - in welcher institutionellen Form und durch wen - zu verwirklichen sind. Der Zugang zu den besonderen Akten verlangt nach besonderen Zugangsregeln. Schließlich sind diese Akten nicht auf rechtsstaatliche Weise zustande gekommen. Diese Akten sind das Erbe eines Unrechtsstaats. Forschung und politische Bildung sind andere Aufgaben dieser Behörde. Wir sollten sehr genau und sehr sachlich darüber debattieren, in welcher Form diese Aufgaben in der nächsten Legislaturperiode weitergeführt werden sollen. Es muss auch weiterhin einen eindeutig rechtsstaatlich geregelten Umgang mit den Hinterlassenschaften eines Unrechtsstaats geben. Ich denke, es muss uns auch um ein gemeinsames Eintreten gegen billige parteipolitische Instrumentalisierung von Vergangenheit gehen. Dann will ich noch daran erinnern - auch darum muss es uns gehen -: Die Stasi war Auftragnehmer und nicht Auftraggeber. ({5}) Es muss uns immer auch um das politische System gehen, innerhalb dessen die Stasi gehandelt hat. ({6}) - Und die Partei, die SED. ({7}) Um die Gewichte richtig zu setzen, sage ich zum Schluss: Die DDR war mehr als ein SED- und StasiStaat. Also sollten wir die Anstrengungen vermehren, uns Alltag, Widerstand, Opposition und die Freiheitsgeschichte, die da begonnen hat, zu vergegenwärtigen. Das Berliner Abgeordnetenhaus hat erfreulicherweise diesbezüglich einen Vorschlag gemacht. Ich habe sehr dafür gekämpft, dass in die Gedenkstättenkonzeption genau dieser Punkt Eingang findet. Der Bund steht auch hier in der Verpflichtung. Wir sollten die falsche Faszination durch die Krake Stasi überwinden, ohne die Erinnerung zu verdrängen und die Aufarbeitung dieses Kapitels zu beenden. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Deutsche Demokratische Republik trug zwar das Wort „demokratisch“ im Namen, aber sie war keine Demokratie. Sie war auch kein Rechtsstaat und schon gar nicht ein Hort der Freiheit. Sie bekämpfte Andersdenkende. Sie bekämpfte diejenigen, die sich Freiheit und Demokratie wünschten. Sie bekämpfte die Menschen, die Sozialismus und Kommunismus nicht als die einzig richtige Lehre akzeptierten. Kurzum: Sie war eine typische Diktatur. ({0}) Das Ministerium für Staatssicherheit, kurz: MfS, war das wichtigste Unterdrückungsorgan in den Händen der herrschenden SED. Sie war das sogenannte Schild und Schwert der Partei. Rechtsstaatliche und moralische Werte wurden durch die Stasi außer Kraft gesetzt, und das Leben der Opfer wurde buchstäblich aus den Angeln gehoben. Die Stasi manipulierte, ruinierte und zerstörte zahlreiche Existenzen. Zehntausende unschuldige Menschen erlitten als Opfer der Stasi in den Gefängnissen körperliche und seelische Gewalt. Sie sind noch heute von den Narben des Stasi-Treibens gezeichnet. Solche Narben auf der Seele heilen eben schwer. Wer davon einen emotionalen Eindruck erhalten möchte, sollte sich das von Opfern aufgeführte Theaterstück Staats-Sicherheiten des Hans-Otto-Theaters ansehen. ({1}) Mutige Demonstranten haben die Akten der Stasi für die Nachwelt gesichert, so wie am 15. Januar 1990 in der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße, sicherten Bürgerinnen und Bürger der DDR überall die Aktenbestände vor weiterer Zerstörung. Nur wegen dieses beherzten Eingreifens sind wir heute überhaupt in der Lage, das Wirken der Stasi mithilfe der Birthler-Behörde aufzuklären. Für ihren Mut können wir den damaligen Akteuren nicht dankbar genug sein. ({2}) Es ist unerträglich, wenn wir in regelmäßigen Abständen damit konfrontiert werden, dass Mandatsträger die Öffentlichkeit über ihre Zusammenarbeit mit der Stasi täuschen. Im Potsdamer Landtag führen Linke und leider auch die SPD seit Monaten ein Stasi-Schmierenstück erster Güte auf. ({3}) Erst gestern berichtete die Presse über einen Pädagogen und SPD-Lokalpolitiker aus Brandenburg, der als IM „Wolfgang“ mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Genau dieser IM hat sich mit Lehrmaterialien über die Geschichte der Stasi für Brandenburger Schulen befasst. Das ist ein für mich unfassbarer Vorgang. ({4}) Der Gesetzgeber hat mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Regelung geschaffen, mit der ehemalige StasiMitarbeiter aus öffentlichen Ämtern ferngehalten werden sollen. Die sogenannte Regelüberprüfung auf StasiTätigkeit ist in den §§ 20 und 21 des Stasi-UnterlagenGesetzes geregelt. § 20 erfasst einen klar definierten Personenkreis von Richtern über Soldaten bis zu Beamten. Es ist den Opfern der Stasi nicht zu vermitteln, wenn die Täter von einst in Amt und Würden leben dürfen, während die Geschädigten selbst oft in Gefängnissen wertvolle Jahre ihres Lebens verloren haben oder auf andere Weise in ihrem Leben beschränkt wurden. Deswegen und gerade auch wegen der aktuellen Ereignisse in Brandenburg ist sich die Koalition einig, dass die Überprüfung auf Stasi-Mitarbeit auch 20 Jahre nach dem Mauerfall über 2011 hinaus möglich sein muss. ({5}) Ein Schlussstrich kommt für uns nicht infrage. Schon in der 16. Wahlperiode hat die FDP-Bundestagsfraktion die Stärkung der Aufarbeitung des StasiUnrechts gefordert. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik und Westberlins haben mindestens 3 000 inoffizielle Mitarbeiter der Stasi gewirkt. Sinnbildlich für dieses Problem steht der Fall der IM „Helene“ im Bundeswirtschaftsministerium. Hier handelt es sich laut Stasi-Akten um eine noch heute aktive, allerdings nicht leitende Beamtin, die vor dem Fall der Mauer für das MfS spioniert hat. Bei der letzten Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes 2006 wurde die Überprüfung von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes auf die Leitungsebene beschränkt. Demzufolge kann das BMWi als Dienstherr laut Stasi-Unterlagen-Gesetz keinen Einblick in die Stasi-Akte der Beamtin nehmen, um dienstrechtliche Maßnahmen einzuleiten. Deswegen werden wir Liberale uns nicht nur dafür einsetzen, dass die Regelüberprüfung über 2011 verlängert wird, sondern auch dafür, dass bei begründetem Verdacht einer willentlichen und wissentlichen StasiMitarbeit diese Überprüfung auch für Beamte und Angestellte unterhalb der Leitungsebene möglich sein soll. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kaster, Sie haben hier wörtlich gesagt, Gregor Gysi habe junge Menschen ans Messer geliefert. ({0}) Ich fordere Sie auf, diesen ungeheuren Vorwurf zurückzunehmen. ({1}) Das ist nicht die Art und Weise, wie wir in einem Parlament miteinander umgehen sollten. Das ist ungeheuerlich. Das können Sie nicht beweisen. Das nehmen Sie bitte im Namen der politischen Kultur zurück. ({2}) Zuerst habe ich heute gedacht, ich lese nicht richtig. Wann läuft die Regelung des im Jahre 2006 novellierten Stasi-Unterlagen-Gesetzes aus, führende Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst, kommunale Wahlbeamte, ehrenamtliche Richter, Sportfunktionäre, Intendanten usw. usw. auf eine eventuelle Stasi-Vergangenheit zu überprüfen? Ende Januar 2010? In einem halben Jahr? Ende 2010? Weit gefehlt. Sie läuft 2011 aus, also in 23 Monaten. Deswegen müssen wir uns heute in einer Aktuellen Stunde mit diesem Thema befassen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das nenne ich eine Phantomdebatte, eine Gespensterdebatte. ({3}) In Wirklichkeit geht es Ihnen doch gar nicht um eine Gesetzesnovellierung; denn Sie haben ja keinen Antrag oder sonst etwas eingebracht; Sie hantieren nur mit ein paar Zeitungsmitteilungen. Es geht Ihnen um etwas ganz anderes: Es geht Ihnen um eine Debatte über Brandenburg, wo die SPD mit der Linken regiert, was Ihnen nicht gefällt, und es geht Ihnen um uns, Die Linke, insgesamt. ({4}) Dann sagen Sie das doch endlich! Dann führen wir eine Debatte über die Linke und über Brandenburg, aber nicht eine Debatte über die Änderung eines Gesetzes, die erst in 23 Monaten auf der Tagesordnung steht. Das ist kein Thema für eine Aktuelle Stunde. ({5}) Wir können gern über die Brandenburger Fälle von Stasi-Verstrickungen reden. Diese Fälle haben uns Linke schwer getroffen. Kennen Sie den Beschluss unserer Partei aus dem Jahre 1991? Wer für ein Amt kandidiert, muss offenlegen, ob es Stasi-Zusammenarbeit gab und welcher Art sie war. Thomas Nord zum Beispiel hat dies seit Jahren so gehalten: Er führt die Tatsache in seinem Flyer auf, den er in einer Auflage von 30 000 Exemplaren hat drucken lassen. Jeder, der ihn gewählt hat, wusste Bescheid. Thomas Nord wurde übrigens direkt gewählt; aber das nur nebenbei. ({6}) Im Fall von Gerd-Rüdiger Hoffmann wussten die Wähler nicht Bescheid und die Partei Die Linke und die Fraktion im Landtag auch nicht. Gerd-Rüdiger Hoffmann wurde aus der Fraktion ausgeschlossen. Wenn die Wahrheit jahrelang verschwiegen wird, hat das meiner Meinung nach nichts mit Überprüfungsregelungen zu tun, sondern mit Ängsten und mit der Verbreitung von Ängsten. Wenn wir Offenheit wollen - und die wollen wir -, müssen wir uns mit der Vergangenheit differenziert auseinandersetzen. ({7}) Das ist aber etwas ganz anderes als die Diskussion, die Sie führen, und Ihr Vorstoß heute. Was wird heute hier gefordert? Die Überprüfung von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst bis 2016 fortzusetzen, ({8}) mit der Option auf eine weitere Verlängerung. Das wären dann 25 Jahre Überprüfung oder noch länger. Ich frage Sie: Soll es nie eine Verjährung für StasiVerstrickungen geben? ({9}) Zum Rechtsstaat gehört der Rechtsgedanke der Verjährung, im Strafrecht wie im Zivilrecht. ({10}) Die Zeit spielt bei Fragen der Schuld eine entscheidende Rolle. Selbst die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung oder der schweren Freiheitsberaubung verjähren nach zehn Jahren. Bei schwerer Vergewaltigung ist die Tat ebenfalls nach zehn Jahren verjährt, und das darf bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst nicht einmal geprüft oder ermittelt werden. Auch dort gibt es immer Betroffene, die diese Verjährung nicht verstehen. Der Rechtsstaat hat sie dennoch beschlossen. Wissen Sie von der FDP eigentlich, was Burkhard Hirsch 1991 gesagt hat, nachdem beschlossen worden war, dass 15 Jahre lang überprüft werden soll? Ich zitiere: Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer Rechtstradition widerspricht, einem Täter über einen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzuhalten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbarmungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sagen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuchtung der Vergangenheit endet … Das war vor 19 Jahren, und das war die Stimme eines hochangesehenen FDP-Abgeordneten. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({11}) Jetzt kommt unser Credo als Linke, das wir - das wird ja immer gefordert - wie ein Mantra vor uns her tragen sollen: Ja, wir sind für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, und zwar je vertiefter und differenzierter, desto besser; aber wir sagen Nein zu weiteren Überprüfungsfristen für den öffentlichen Dienst. Wir haben schon die Verlängerung der Überprüfungsfristen über 2006 hinaus abgelehnt, weil wir dadurch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verletzt sehen. Für eine Verlängerung bis 2016 oder über 2016 hinaus gilt das erst recht. Ich danke Ihnen. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jochimsen, die Gysi-Debatte hatten wir hier vor einem halben Jahr. Es bleibt unvergessen, wie er hier einzog. Deswegen will ich gar nicht darauf eingehen. Aber zum Stichwort „ans Messer liefern“: Vor kurzem hat Herr Gysi vor laufender Fernsehkamera Ihren Bundesgeschäftsführer ans Messer geliefert. ({0}) Selbst Ihr Parteivorsitzender Bisky fühlte sich an stalinistische Zeiten erinnert. Ich rede gerne zu Brandenburg. Ich habe diese Aktuelle Stunde - wir haben sie nicht beantragt - so verstanden, dass wir auch zu aktuellen Dingen reden. ({1}) Matthias Platzeck hat - das hätte er lieber nicht tun sollen - die Bildung der rot-roten Regierung als eine Geste der Versöhnung überhöht und behauptete damit werde „ein ungesunder Riss“ geheilt, der sich „auch nach 20 Jahren … wieder zunehmend“ durch die ostdeutsche Gesellschaft ziehe. Dann kam der Nazivergleich; auch den erspare ich Ihnen nicht. Platzeck wörtlich: Die gelungene Demokratisierung, die Westdeutschland nach 1945 sehr zügig zu einem anerkannten Staat unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur unter der Voraussetzung gelingen, dass ehemalige Mitläufer und, wo verantwortbar, selbst Täter des Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt blieben, sondern einbezogen wurden. Dass ich das noch erleben durfte! Eine Rehabilitierung der Globkes und Oberländers nach dem Vorbild der „Bonner Ultras“ - so hieß es früher immer bei Ihnen ist nun auf einmal beispielhaft. Das kommt nicht von uns, nicht von Hubertus Knabe, sondern von Ihrem Koalitionspartner; aber Sie haben danach nicht halb so laut aufgeschrien, wie Sie eben aufgeschrien haben. Das ist wirklich unglaublich. ({2}) Aufgestöhnt haben andere, zum Beispiel Richard Schröder. Er fragte verstört: „Versöhnung mit wem?“ Zitat: Dass ein Riss durch die ostdeutsche Gesellschaft gehe, halte ich für eine überdramatisierende Beschreibung. Nach einer Revolution gibt es unvermeidlich Verlierer, nämlich die Privilegierten der Diktatur. Die Position, die sie nur in einer Diktatur haben konnten, konnten sie eben deshalb danach nicht mehr haben: SED-Bezirkschef, Politbüromitglied. Solche „Verlierer“ gibt es besonders viele in der Ost-Linken. … Und natürlich stilisieren sie alle sich als Opfer. Aber auf mein Mitleid warten sie vergeblich. Sie werden auch gar nicht darauf rechnen. Richard Schröder lag so richtig wie fast immer. An einer Stelle muss man ihn korrigieren: Nicht alle SED-Bezirkschefs fielen tief; manche fielen gar nicht. Heinz Vietze blieb gleich auf seinem alten Arbeitsplatz im Kreml sitzen und war bis zur Wahl die graue Eminenz in Brandenburg; jetzt leitet er als Vorstandsvorsitzender Ihre Rosa-Luxemburg-Stiftung. Selbst wenn ich wollte - das muss ich Ihnen sagen -, fiele mir gar kein Nazivergleich ein. ({3}) Jetzt sagen Sie hier stolz: Alle haben doch vorher offengelegt; Herr Nord, die Fraktionsvorsitzende Kaiser, der Innenpolitiker Scharfenberg usw. haben gesagt, dass sie bei der Stasi waren. Das ist es doch: Sehenden Auges hat man dieses Bündnis geschlossen. Der Fehler von Platzeck war - das muss man so hart sagen -, dass er den Schlussstrich vor der Aufarbeitung ziehen wollte. Das klappt nie, das klappt nirgendwo, das ist krachend schiefgegangen. ({4}) Wir freuen uns, dass Brandenburg mit Ulrike Poppe nunmehr endlich eine Stasi-Landesbeauftragte hat. Wir freuen uns, dass nun eine Enquete-Kommission diese Merkwürdigkeiten vom Anfang der 90er-Jahre enthüllen will. Ich komme noch einmal auf Heinz Vietze zurück. Er hat den schönen Satz gesagt: Ich habe keine Berichte für die Stasi geschrieben. Sie wurden für mich geschrieben. Da hat er etwas Wahres gesagt: Die Stasi war Ihr Auftragnehmer, Schild und Schwert Ihrer Partei. Das müssen Sie endlich klären. Stattdessen geht Ihre designierte Parteivorsitzende Gesine Lötzsch zur Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR. Das tut sie nicht etwa, um denen die Meinung zu sagen, ({5}) um gegen deren Geschichtsrevisionismus vorzugehen, sondern um sich dort als Heilige Johanna der Alttschekisten abfeiern zu lassen. Das ist ein Skandal; dazu müssen Sie Stellung nehmen. ({6}) Sie wollen auch noch Sahra Wagenknecht zur stellvertretenden Parteivorsitzenden machen. Für sie war die DDR „das friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen, das sich die Deutschen im Gesamt ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“; Erich Honecker gebühre deshalb „unser bleibender Respekt“. Die Mauer ist für sie eine Maßnahme „zur Grenzbefestigung …, die dem lästigen Einwirken des feindlichen Nachbarn ein … Ende setzte“. An der Mauer wurden selbst Kinder in Ihrem Auftrag erschossen. Wie menschenfreundlich das Gesicht der DDR war, können Sie am besten im Stasi-Knast in Hohenschönhausen sehen, einem Ort völliger Entrechtung und Demütigung. Sie glauben doch nicht, dass Sie mit dieser personellen Aufstellung auch nur als Diskurspartner, geschweige denn als Bündnispartner infrage kommen. Das ist eine Schande. ({7}) Abschließend: Wir haben eine Aufarbeitungsinstanz, das ist die Birthler-Behörde. Wir müssen sie besser ausstatten und dürfen die Aufarbeitung nicht ins Bundesarchiv abschieben. Die geschredderten Akten müssen endlich zusammengesetzt werden. Hierdurch sind neue Erkenntnisse zu erwarten. ({8}) Es muss für die Zukunft dieser Behörde geplant werden. Ich schließe mit einem Zitat von Marianne Birthler: Das Ziel der Aufarbeitung ist zunächst, dass die Opfer mit ihrem Schicksal klarkommen und die Täter zu ihrer Verantwortung stehen. Versöhnung ist etwas Zusätzliches, sie kann sich aus der Auseinandersetzung zwischen Opfern und Tätern ereignen. Sie braucht die Wahrheit und oft auch Zeit, und sie lebt von der Einsicht der Täter. Diese Einsicht - das ist die bittere Wahrheit - haben Sie von der Linkspartei bis heute vermissen lassen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Andrea Voßhoff das Wort.

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Als ich gefragt wurde, ob ich in dieser Aktuellen Stunde heute reden wolle, habe ich einen Moment gezögert. Wenn man wie ich das Glück hatte, frei von Zwängen einer Diktatur und ohne Stasi aufwachsen, studieren und arbeiten zu dürfen, dann sollte man beim Umgang mit diesem Thema vielleicht etwas zurückhaltend sein. Dass ich dennoch rede, hat zwei Gründe: Zum einen ist es meine feste Überzeugung, dass wir nach wie vor eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung und Verantwortung haben, die Folgen der DDR-Diktatur aufzuarbeiten - auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer. ({0}) Darin werde ich auch durch viele Gespräche mit SEDOpfern bestätigt, deren Lebens- und Leidensweg uns allen dauerhaft Verpflichtung sein muss. Liebe Frau Jochimsen, ich weiß nicht, wie oft Sie Gelegenheit hatten, mit diesen Opfern zu reden. Tun Sie es! Sie müssten dann einen Teil Ihrer heutigen Aussagen mehr als korrigieren. ({1}) Zum anderen können die politischen Ereignisse in Brandenburg natürlich nicht unkommentiert bleiben. Dass die Brandenburger SPD aus machttaktischen Gründen eine rot-rote Koalition eingegangen ist, ist ein demokratischer Vorgang, auch wenn mir dies politisch nicht gefällt. Bitter und von einer fatalen Symbolik sind aber die Tatsachen, dass der Koalitionsvertrag für die Partei Die Linke von früheren Stasi-Spitzeln unterzeichnet wurde und dass in der Folgezeit weitere führende linke Landtagsabgeordnete als IM enttarnt wurden. Wochenlang haben Schlagzeilen die Medienlandschaft beherrscht, wonach die Stasi in Brandenburg mit am Regierungstisch sitzt und das Land im Stasi-Sumpf versinkt. Offenbar mit der Absicht, aus diesen Negativschlagzeilen herauszukommen, hat Ministerpräsident Platzeck diese Koalition sodann kurzerhand als Versöhnungsprojekt mit einem fragwürdigen historischen Vergleich ausgerufen. Verehrter Herr Ministerpräsident, das ist ein untauglicher Versuch. Versöhnung kann man nicht per Koalitionsbeschluss anordnen. Sie setzt - das ist heute gesagt worden - Aufarbeitung voraus. Versöhnung und Vergebung sind zudem keine politischen Kategorien. Sie können nur in Anspruch genommen werden, wenn die Opfer konsequent darin eingebunden werden. ({2}) Was gehörte zu einer der ersten Amtshandlungen dieser neuen Landesregierung? Anfang Januar kam heraus, dass der neue brandenburgische Finanzminister von den Linken eine langjährige Verwaltungspraxis des Landes aufgehoben hat, die beinhaltete, etwaige systemnahe Dienstzeiten der Landesbeamten für Dienstjubiläumszuwendungen nicht anzuerkennen. Sollte den ehemaligen Mitarbeitern des MfS durch diese Anrechnung auch der systemnahen Jahre bei Jubiläen im öffentlichen Dienst so kurz vor Weihnachten noch ein schönes Geschenk auf den Gabentisch gelegt werden? Das ist ein Hohn gegenüber den Opfern. ({3}) Es scheint aber wohl so zu sein, dass man dadurch, dass es öffentlich geworden ist, jetzt auf dem Rückzug ist und dies verhindern will. Und das ist auch gut so. Wenn dann in den Medien aktuell auch noch berichtet wird - das ist heute schon genannt worden -, dass ein früherer Stasi-Spitzel Lehrpläne für die Behandlung der Stasi im Unterricht an Brandenburger Schulen schreiben konnte, dann zeigt dies, wie dringend dieses Thema auf die politische Tagesordnung und auch in dieses Haus gehört. ({4}) Die Ereignisse in Brandenburg machen zweierlei deutlich: Zum einen hat die Linke in der Aufarbeitung der Stasi-Verstrickungen komplett versagt. Das ist auch heute wieder deutlich geworden. ({5}) Sie haben sich zur Rechtsnachfolge der SED bekannt. Dies hat Ihr Bundesschatzmeister vor noch nicht einmal einem Jahr an Eides statt versichert. Die daraus möglicherweise resultierende besondere Verantwortung haben Sie schlicht nicht wahrgenommen. Nur darauf hinzuweisen, dass sich die Betreffenden selbst outen sollen, reicht nicht, meine Damen und Herren von den Linken. ({6}) Sie stehen jetzt durch die Ereignisse in Brandenburg vor dem Scherbenhaufen Ihrer immer wieder behaupteten Aufarbeitungsbemühungen. Meine Damen und Herren von der SPD, werben Sie bei Ihren Genossen in Brandenburg für das, was seit einigen Wochen immer wieder eindrucksvoll von vielen Bürgern auf einer Montagsdemo in Potsdam gefordert wird, nämlich die SPD-Stasi-Koalition in Brandenburg zu beenden! ({7}) Zum anderen müssen wir uns in diesem Hause fragen, ob im Lichte der Brandenburger Ereignisse bundespolitischer Handlungsbedarf besteht. Das ist heute schon erwähnt worden. Ich kann mich dem nur anschließen. Auch ich stimme den Überlegungen zu, die im Jahr 2011 auslaufende Frist zur Regelanfrage nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz zu verlängern. Die Verlängerung ist notwendig. Denn einen Schlussstrich darf es erst recht nach den aktuellen Entwicklungen in Brandenburg nicht geben, auch nicht im Jahr 20 nach dem Fall der Mauer. Das sind wir vor allem den Opfern schuldig. ({8}) Sich zu ihnen immer wieder zu bekennen, ist das eine. Immer wieder zu hinterfragen und Schlussfolgerungen zu ziehen, ob wir ihrem Schicksal ausreichend Rechnung tragen, ist das andere. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die christlich-liberale Koalition im Koalitionsvertrag eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Opfer, aber auch zur weiteren Aufarbeitung der SED-Unrechtsdiktatur vereinbart hat. Ich denke, das ist mehr als notwendig. Manche fragen, ob das alles im Jahr 20 noch erforderlich ist. Dafür darf es keine zeitliche Begrenzung geben. ({9}) Ich glaube - das hat auch Herr Thierse heute gesagt -, die Aufarbeitung der Geschichte ist eine Daueraufgabe. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Brigitte Zypries das Wort. ({0})

Brigitte Zypries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003870, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die friedliche Revolution von 1989 war für Deutschland und die Welt ein großartiges Ereignis. Wie bei jeder Revolution stellt sich auch hier die Frage nach der Verantwortung der Täter des alten Regimes. Einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung hat unsere Justiz geleistet: Sie hat die Schreibtischtäter des Politbüros zur Verantwortung gezogen, und sie hat jene angeklagt, die als Mauerschützen an der Grenze geschossen haben. Bei diesen einfachen Grenzsoldaten stand sicherlich nicht die Vergeltung im Vordergrund. Die Strafen fielen auch zumeist sehr milde aus. Es ging um etwas, was auch bei den Stasi-Verstrickungen wichtig ist: um Aufklärung, Transparenz und um Offenlegung der historischen Wahrheit. Das ist - das haben einige meiner Vorredner schon betont - vor allem für die Opfer der Diktatur bis heute sehr wichtig. Mit der Gründung der Gauck-Behörde wurden die institutionellen Voraussetzungen für die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit geschaffen. Mehr als 2,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben seither Einsicht in ihre Akten beantragt. Das zeigt, wie sehr die Menschen in Ost und in West mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit beschäftigt sind. Es ist seit Jahren kein Rückgang zu verzeichnen. Im letzten Jahr gab es über 100 000 Anfragen zur persönlichen Akteneinsicht. Dabei geht es im Wesentlichen um persönliches Fehlverhalten, um moralische Schuld. Gerade diejenigen, die im wiedervereinigten Deutschland in demokratisch gewählten Organen Verantwortung übernehmen wollen, müssen sich meines Erachtens dieser Frage nach ihrer Vergangenheit stellen. Denn die Menschen, die bei der Wahl über die künftigen Abgeordneten entscheiden, haben ein Recht darauf, über die moralische Integrität der künftigen Volksvertreter vollständig informiert zu sein. Es ist gewiss nicht einfach, sich selbstkritisch mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Es geht auch keineswegs nur um die Stasi. Eine Stütze der Diktatur waren auch die vielen Funktionäre der Blockparteien. Politische Überheblichkeit ist deshalb völlig fehl am Platz. ({0}) Sich der eigenen Vergangenheit kritisch zu stellen, ist eine große persönliche Herausforderung für jeden, der davon betroffen ist. Aber gerade von den Menschen, die im demokratischen Deutschland mitgestalten wollen, kann man dieses Maß an Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie erwarten. Die Bürger verstehen das auch, und sie respektieren es. Denn wie anders ist es zu erklären, dass Abgeordnete gewählt werden, obwohl sie ihre Stasi-Vergangenheit offengelegt haben? Das zeigt, dass ein offener Umgang mit der eigenen Vergangenheit durchaus auch positiv wahrgenommen wird. Ich denke etwa an die ehemalige DDR-Sprinterin Gesine Tettenborn. Sie hat sich gerade in dieser Woche große Hochachtung erworben, weil sie ihren Weltrekord von 1984 aus der Bestenliste hat streichen lassen. Sie hatte diesen Rekord damals mit Doping erzielt. Sie sagt heute dazu: Ich will nicht lügen. Unter diese Maxime sollten auch alle Abgeordneten in den Parlamenten des Bundes und der Länder ihre Arbeit stellen. Deshalb fordere ich alle Kolleginnen und Kollegen auf: Scheuen Sie sich nicht, der Wahrheit ins Auge zu sehen! Sorgen Sie selber für Klarheit, und setzen Sie sich mit den Fehlern der Vergangenheit ehrlich auseinander! Mir ist noch etwas anderes wichtig. Das betrifft vor allem die Kolleginnen und Kollegen, die wie ich aus Westdeutschland stammen. Ich meine, für Überheblichkeit bei uns ist kein Platz. Wir sollten stattdessen anerkennen, dass sich Menschen ändern können, dass man aus seinen Fehlern lernen kann und dass jeder das Recht auf eine bessere Einsicht hat. Das ist im Übrigen auch eine Erfahrung der alten Bundesrepublik. Dort waren Kurt Georg Kiesinger, Walter Scheel oder Karl Carstens gute Demokraten, obwohl sie früher Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Aber die Lehre aus der westdeutschen Geschichte ist auch, dass dort die Schatten der Vergangenheit zu lange verdrängt worden sind. Das ist heute anders, und das muss auch so bleiben. Jeder muss sich auch künftig umfassend über seine Stasi-Vergangenheit informieren können. Deshalb wird die SPD dafür eintreten, dass die Gültigkeitsdauer des Gesetzes über die Stasi-Unterlagen verlängert wird und dass die Birthler-Behörde bestehen bleibt. Es wäre schön, wenn wir auch die Robert-HavemannGesellschaft künftig mit einer institutionellen Förderung bedenken und von der Projektförderung wegkommen könnten, um diesen Anteil der Erinnerung an die DDR und der Aufarbeitung dieser Zeit auch noch bewältigen zu können. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Kurth das Wort. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Zypries, das, was bisher vorgetragen wurde, war doch sehr abstrakt. Aber wir alle wissen: Das Leben ist konkret, und das Wirken der Stasi war konkret. Auch die Wirkung der Stasi bis heute bleibt konkret: Renate Adolph, Die Linke, Landtag Brandenburg, enttarnt Ende 2009; Gerlinde Stobrawa, Die Linke, IM „Marisa“, enttarnt Ende 2009; Gerd-Rüdiger Hoffmann, Die Linke, Landtag Brandenburg, IM „Schwalbe“, enttarnt Ende 2009. Brandenburg ist das eine. Sind neue Daten aufgetaucht? - Nein. Ende 2008: Volker Külow, Die Linke, Sächsischer Landtag, IM „Ostap“. Mitte 2006: Ina Leukefeld, thüringischer Landtag, IM „Sonja“ für die politische Kriminalpolizei. Frank Kuschel - ein besonders schwerer Fall -, IM „Fritz Kaiser“, sitzt bis heute im thüringischen Landtag. Das sind nur einige wenige konkrete Fälle, von denen wir sicher wissen. Es gibt aber zum jetzigen Zeitpunkt noch mehr Fälle, von denen wir noch gar nichts wissen. Es gibt leider auch Fälle, von denen wir wissen, über die wir aber nichts sagen dürfen - leider. ({0}) - Sie haben es doch vorhin bewiesen. Wir haben ja eben von IM „Notar“ und von ähnlichen Dingen gehört. Patrick Kurth ({1}) ({2}) Das Perfide an diesem System ist doch: Es sind alles Beispiele dafür, wie ehemalige Stasi-Spitzel oder -Mitarbeiter über all die Jahre seit der Wende ihre Tätigkeit bewusst verschwiegen haben. Sie haben sich dem einen Staatsapparat angedient und haben dann, wenn man so möchte, im nächsten Staatsapparat nahtlos weiter Karriere machen wollen. Das ist der eigentliche Skandal: weiterhin Karriere machen. Das ist ein Schlag in das Gesicht der Opfer. ({3}) Wer glaubte, einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des DDR-Unrechts ziehen zu können, sieht sich gerade durch die Vorfälle in Brandenburg getäuscht. Es ist nicht möglich. Großer Dank an die Birthler-Behörde, die hier - manchmal mit Gegenwind - engagiert arbeitet, und Dank auch an diejenigen, die sich immer wieder politisch für die Aufarbeitung einsetzen. Bei uns war es Herr Lanfermann, der immer wieder forderte: Wir brauchen einen Stasi-Unterlagenbeauftragten in Brandenburg. - Er wurde dafür auch zurechtgewiesen. Es hieß, man brauche so etwas nicht mehr. Erst als Herr Platzeck gar keine andere Wahl mehr hatte, hat er sich zu einem solchen Schritt entschließen können. Das war viel zu spät, wie wir nun wissen; denn sonst wären manche Koalitionen erst gar nicht zustande gekommen. ({4}) Der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck spricht davon, dass Zeit für eine Versöhnung sei. Was heißt denn Versöhnung? Das heißt, zwei gehen aufeinander zu. Kann man denn von Versöhnung sprechen, wenn einer die ganze Zeit verheimlicht, was er gemacht hat, und erst durch einen Dritten enttarnt wird? Kann man denn dann von Versöhnung in dem Sinne sprechen, dass zwei aufeinander zugehen? Ich glaube, für eine Versöhnung muss zuallererst das ganze Ausmaß des Unrechts aufgedeckt und aufgearbeitet werden. Vor allem muss die Wahrheit ans Licht gebracht werden. ({5}) Solange sich die Täter des Stasi-Unrechtssystems dem nicht stellen und sich nicht ehrlich damit auseinandersetzen, sondern heimlich weiterhin in hohen - zum Teil staatlichen - Ämtern fungieren, ist eine Versöhnung sehr schwierig. Zum Teil ist sogar das Gegenteil von Versöhnung der Fall. Es ist Hohn und Spott für die Opfer und unsere demokratische Gesellschaft, wenn sich ehemalige Stasi-Offiziere regelmäßig unter die Teilnehmer von Veranstaltungen mischen und die Wortergreifungsstrategien extremistischer Parteien nutzen. Solange das passiert, brauchen wir eine Aufarbeitung. Wir brauchen Aufarbeitungsbemühungen aus folgenden Gründen, über die zumindest unter den Demokraten hier im Parlament Konsens herrschen muss: Erstens. Die politische Hygiene ist immer Grundlage des demokratischen Zusammenlebens und der demokratischen Zusammenarbeit. Wer einst seine engsten Bekannten ausspioniert hat und dies auch 20 Jahre nach der Wende verheimlicht, gehört der in die öffentliche Verwaltung oder in die Parlamente? Zweitens. Wir dürfen mit den Aufarbeitungsbemühungen nicht nachlassen, weil wir erst jetzt die technischen Möglichkeiten haben ({6}) - Ihre Wortergreifungsstrategien hatte ich schon angesprochen -, die vielen Aktenschnipsel zusammenzusetzen. Bisher gibt es Puzzler, die jeden Tag versuchen, die Akten wiederherzustellen, ohne zu wissen, welches Bild am Ende herauskommen soll. Nun wird durch das Fraunhofer-Institut ein System entwickelt, das die Aktenschnipsel automatisch zusammensetzt. Sie wissen sicherlich oder haben sogar eine bessere Ahnung als ich, wessen Akten in den letzten Stunden der DDR bzw. der Wende zuerst vernichtet wurden. Drittens. Wir dürfen mit den Aufarbeitungsbemühungen nicht nachlassen, weil wir es insbesondere den Opfern schuldig sind. Mir geht es dabei um folgende Opfer: Die Stasi hat eine perfide Methode angewendet. Sie hat irgendwann die Betreffenden nicht mehr in den Knast gesteckt, sondern durch ganz andere Maßnahmen mundtot gemacht. Wer denkt denn an diejenigen, die kein Abitur machen durften? ({7}) Wer denkt denn an diejenigen, die nicht studieren durften? Wer denkt denn an diejenigen, die einfache Tätigkeiten bzw. Berufe ausüben mussten und nach der Wende arbeitslos wurden? Das ist das Verschulden derjenigen, die gespitzelt haben. ({8}) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Viertens. Wir brauchen eine weitere Aufarbeitung, um urteilsfähig zu bleiben; das ist das Wichtigste. Aufarbeitung betreiben wir auch wegen der Erinnerung und der Sühne. Aber wir müssen urteilsfähig bleiben. Urteilsfähigkeit heißt, aus der Geschichte zu lernen. Urteilsfähigkeit heißt, die Erkenntnisse für die Zukunft zu gebrauchen. Urteilsfähigkeit heißt, nichts zu vertuschen. Urteilsfähigkeit heißt, dass auch die nachwachsenden Generationen aus diesem Unrecht lernen und richtige Entscheidungen treffen können, auch in Abwesenheit von Zeitzeugen. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, ein Hinweis: Es gab offensichtlich das eine oder andere Missverständnis in der Auslegung der Geschäftsordnung. Aus mehreren Fraktionen wurde das Bedürfnis nach Fragen bzw. Stellungnahmen signalisiert. Wir sind aber in der Aktuellen Stunde und haben uns selbst die Vizepräsidentin Petra Pau Regel gegeben, dass das in einer Aktuellen Stunde nicht möglich ist. Auch wenn das den einen oder anderen bis zum Ende dieser Debatte beschweren wird, wird man diese Auseinandersetzung woanders führen müssen. Ich sage aber auch ausdrücklich: Zurufe und Beifallsbekundungen sind nach unserer Geschäftsordnung natürlich vorgesehen. Auch darüber existierte offensichtlich ein Missverständnis. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe junge Gäste! In der Aktuellen Stunde zum anhaltenden Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung von Stasi-Verstrickungen haben Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben Koalition, vernommen, ({0}) dass wir als SPD sowohl für eine Fristverlängerung als auch für den Fortbestand der Birthler-Behörde stehen. ({1}) Jetzt könnte man sich fragen, warum eigentlich diese Aktuelle Stunde stattfindet. ({2}) Mich beschleicht das Gefühl, dass mit dieser Aktuellen Stunde und mit deren Überschrift eine Subbotschaft vermittelt werden soll, nämlich die, dass die christlich-liberale Koalition aus Damen und Herren bestehe, die sich dieses Themas mit dem erhobenen Zeigefinger, sozusagen mit der weißen Weste, annehmen und es okkupieren könnten, während auf der anderen Seite diejenigen stünden, die Belehrung benötigten. ({3}) Ich will ganz deutlich sagen: Die SPD-Fraktion braucht in der Tradition von Schwante vom 7. Oktober 1989 keine Belehrung, wie wir mit Stasi und Unrecht in der DDR umgehen. ({4}) Jetzt stellt sich die Frage: Spielt nicht etwa Brandenburg die Hauptrolle? Wenn es so ist, dann hätte man das ja anders vermerken können. Hierzu als Erstes: Lieber, verehrter Kollege Kurth, Sie haben auf die Fakten und auf das Konkrete hinweisen wollen. Wieso unterläuft Ihnen der Fehler, hier nicht deutlich zu sagen, dass Ministerpräsident Platzeck das Stasi-Unterlagen-Gesetz und die Einrichtung der Beauftragten nicht etwa im Zusammenhang mit der Koalitionsbildung in Angriff genommen hat, sondern bereits weit zuvor, dass es sein Vorschlag ist, der einstimmig angenommen wurde, die von mir sehr verehrte Ulrike Poppe einzusetzen? Warum tun Sie so, als habe es erst der Koalitionsverhandlungen oder irgendwelcher Machtoptionen bedurft, um diesen Schritt zu gehen? Das ist falsch, das ist nicht redlich, und es stellt den Ministerpräsidenten in ein falsches Licht. Das weise ich zurück. ({5}) Das Zweite. Wenn wir auf Brandenburg schauen, ist Folgendes Tatsache: Wir hatten es - das klang bei Wolfgang Thierse bereits an - zunächst mit einer Ampelkoalition und schließlich mit einer Großen Koalition zu tun, die diese Schritte einvernehmlich gegangen ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Thema eignet sich nicht, um mit Schaum vor dem Mund so zu tun, als hätte man eine weiße Weste. Mir persönlich hat man in meinem Leben vor 1989 viele Steine in den Weg gelegt; aber ich werde sie, um einen biblischen Vergleich aufzugreifen, nun nicht als Erster werfen und so tun, als hätte ich keine Schuld. Wichtig ist, meine sehr verehrten Damen und Herren von der schwarz-gelben Koalition: Lassen Sie ab davon, so zu tun, als wären Sie die einzigen Gralshüter in dieser Angelegenheit! Auch wir stehen dazu, dass wir in dieser Richtung Aufarbeitung brauchen. ({6}) Worum geht es jetzt? Es geht letztlich darum, dass wir die Geschichte aufarbeiten, weil es nicht zuletzt für die jungen Leute wichtig ist, zu erkennen, dass die Diktatur eine Diktatur des Alltags gewesen ist, eine Diktatur, die sowohl aus Stasi und Partei als auch aus den vielen bestanden hat, die mitgelaufen sind. Ich will in Richtung der Linken, wenn ich Ihnen diesen Ratschlag geben darf, nachdrücklich sagen: Nutzen Sie jede Gelegenheit, um deutlich zu machen, dass diese DDR nicht nur ein Unrechtsstaat gewesen ist, sondern dass Mauer, Schießbefehl und Stasi die Geschäftsgrundlage der DDR gewesen sind, nicht aber eine irgendwie nebensächliche Fehlentwicklung! Tun Sie alles dafür, dass nicht verniedlicht und verharmlost wird! ({7}) Tun wir auf der anderen Seite alles dafür, um differenziert zu sagen: Die DDR bestand aus Menschen, die ihr Leben gelebt haben und die durch die Stasi nicht desavouiert wurden. Es geht also um eine differenzierte Aufarbeitung. Angesichts der Tatsache, dass der ehemalige, bis zum Jahre 2008 stellvertretende Ministerpräsident von Brandenburg, Herr Junghanns, noch im Juli 1989 sagte: „Was die Mauer betrifft, so lassen wir uns deren Schutzfunktion nicht ausreden“, und dass die Biografie des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen stückweise ans Tageslicht kommt, sie gedeutet und umgedeutet wird, ({8}) sollten wir alles dafür tun, sehr differenziert mit dieser Angelegenheit, vor allen Dingen aber mit den Menschen umzugehen, die in einem Rechtsstaat das Recht haben, dass die Diktatur nach rechtsstaatlichen und nach menschlichen Gesichtspunkten aufgearbeitet wird. Das ist die Bundesrepublik Deutschland, die wir gewollt haben. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die Unionsfraktion.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Vorfälle in Brandenburg in den letzten Wochen und Monaten, aber auch die heutige Debatte - das sage ich ganz offen - zeigen, dass es weiteren Aufklärungs- und Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung von Stasi-Verstrickungen gibt. ({0}) Herr Kollege Tiefensee, ich möchte dem Eindruck, den Sie zu erwecken versuchen, entgegentreten, nämlich dass die christlich-liberale Koalition das SchwarzerPeter-Spiel betreibt und wir hier mit dem erhobenen Zeigefinger stehen. Ich möchte dies in aller Deutlichkeit von uns weisen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es nach wie vor in den nächsten Jahren und in den nächsten Jahrzehnten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein wird, alles dafür zu tun, dass dieses krasse und menschenunwürdige Unrechtsregime, das 40 Jahre in der DDR geherrscht hat, aufgearbeitet wird. Man darf keinen Schlussstrich ziehen. ({1}) Ich möchte durchaus zugestehen, dass es ehrenwerte SPD-Politiker gab, die sich dieser Bemühungen in den letzten 20 Jahren angenommen haben. Ich möchte aber genauso in aller Deutlichkeit hier zum Ausdruck bringen, dass ich den Versuch des brandenburgischen Ministerpräsidenten Platzeck, jetzt von einer großen Versöhnungskampagne zu sprechen, für reichlich naiv und kurzsichtig halte. ({2}) Versöhnung kann nur individuell erfolgen. Ich halte es für sehr bemerkenswert und bedenklich, dass es selbst 20 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch Montagsdemonstrationen bedarf, in denen „Stasi raus!“-Rufe skandiert werden, um deutlich zu machen, dass hier noch vieles aufgeklärt werden muss. Um eines klarzumachen: Versöhnung kann und wird immer nur individuell sein, Versöhnung kann aber auch nur auf Wahrhaftigkeit beruhen. Versöhnung kann nur auf Aufklärung aufbauen. ({3}) Deswegen ist es notwendig, dass weiterhin alles dafür getan wird, dass die perfiden Verbrechen, die von der Stasi begangen wurden, weiter aufgearbeitet werden. ({4}) Es gibt nun einmal im Bundesland Brandenburg große Unzulänglichkeiten. Es gab seit 1991 keine Überprüfung eines Landtagsabgeordneten auf eine informelle Mitarbeit bei der Stasi. Das Land Brandenburg hat als erstes Bundesland der neuen Länder schon 1995 die Regelüberprüfung im öffentlichen Dienst eingestellt. Erst jetzt, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist auf den starken Druck der CDU im Brandenburgischen Landtag hin ({5}) eine Stasi-Unterlagenbeauftragte berufen worden. Das ist eine himmelschreiende Unzulänglichkeit, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei. ({6}) An Zynismus und Sarkasmus nicht mehr zu übertreffen ist es meines Erachtens, dass Finanzminister Markov, der der Linkspartei angehört, angeordnet hat, dass die Mitgliedsjahre bei der Stasi bei der Berechnung von Dienstjubiläen angerechnet werden. Das ist eine Verhöhnung der Zigtausend Stasi-Opfer, die verleumdet wurden, die gefoltert wurden und von denen viele ums Leben kamen. ({7}) Deswegen ist es richtig, dass der Spiegel von dieser Woche „Das organisierte Vergessen“ titelt und Frau Birthler vom „Kartell des Schweigens“ spricht. Die Stasi kann auch in diesem Zusammenhang nicht isoliert betrachtet werden. Die Stasi wurde in der ehemaligen DDR als das „Schild und Schwert der Partei“ bezeichnet. Die Stasi hat nun einmal das totalitäre und diktatorische Herrschaftssystem der DDR gestützt und gesichert. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Ich halte es für außerordentlich bedenklich, dass es in stärkerem Maße Versuche gibt, dieses Unrechtsregime zu beschönigen und zu verharmlosen. ({8}) Die DDR war ein unterwandertes Land. In den 40 Jahren, in denen es die DDR gab, arbeiteten insgesamt über 600 000 DDR-Bürger informell für die Stasi. Selbst im Dezember 1988 waren nach offiziellen Statistiken noch 174 000 Bürgerinnen und Bürger der DDR Informelle Mitarbeiter der Stasi. ({9}) Stephan Mayer ({10}) Ich kann allen nur das jüngste Werk von Jürgen Schreiber mit dem Titel Die Stasi lebt empfehlen. Ich glaube, das bringt es auf den Punkt. Die Stasi lebt, weil diejenigen, die in der Stasi aktiv waren, die Informelle Mitarbeiter waren, nach wie vor in verantwortungsvoller Position in unserem Land und insbesondere in Brandenburg tätig sind. ({11}) Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Es ist wirklich außerordentlich zynisch und perfide, dass die Stasi im brandenburgischen Landtag immer noch über Fraktionsstärke verfügt. ({12}) Das Interesse an der Stasi ist ungebrochen. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns weiterhin mit ihr beschäftigen. Jährlich steigt die Anzahl der Anträge von Personen, die sich über die Stasi informieren wollen, die Einblick in ihre Stasi-Akten oder in andere Akten, die über sie geführt wurden, nehmen wollen. Deswegen ist es richtig, dass es über das Jahr 2011 hinaus die Möglichkeit gibt, nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz Überprüfungen derjenigen vorzunehmen, die exponierte Positionen und Ämter in unserem Staat einnehmen wollen. Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, die Gedenkstätte in Hohenschönhausen zu stärken. Es ist für Gesamtdeutschland peinlich, dass die Gedenkstätte in Hohenschönhausen im letzten Jahr kurz vor der Insolvenz stand. Ich kann nur jeder Bürgerin und jedem Bürger, insbesondere den jungen Leuten in Deutschland empfehlen, diese Gedenkstätte zu besuchen. Dann wird einem nämlich schnell bewusst, dass die Ostalgie, die teilweise um sich greift, vollkommen deplatziert ist. Wir, der Bundestag, müssen alles dafür tun, dass die Gedenkstätte in Hohenschönhausen unter der hervorragenden Leitung von Dr. Knabe weiterhin so erfolgreich und so konstruktiv wirken kann. Herzlichen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die Unionsfraktion.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir Anfang der 90er-Jahre begannen, die Aufarbeitungsdebatte über die DDR-Geschichte, die Rolle der SED und ihres „Schildes und Schwertes“, der Staatssicherheit, zu strukturieren - wie Sie wissen, hat der Deutsche Bundestag zu diesem Zweck eine EnqueteKommission eingesetzt -, gab es immer wieder Stimmen, die meinten, man solle den Aufbau und Einheitsprozess nicht durch das ewige Bohren in der Vergangenheit belasten und stören; denn das könnte sich wie eine Krake lähmend auf das vereinte Deutschland legen, und man komme nicht so voran, wie man sich es wünsche. Gott sei Dank war das nicht die Meinung der Mehrheit in unserem Land. ({0}) Andere glaubten, dass bald „Gras über die Aufarbeitungsdebatte zur Stasiverstrickung wachsen“ werde, und hofften, sich unbehelligt eine neue persönliche Karriere aufbauen zu können. Auch sie tippten falsch. Schon der Volksmund weiß, dass irgendwann ein „Esel“ daherkommt, der das Gras frisst, und dann alles wieder zum Vorschein kommt. Brandenburg ist ein beredtes Beispiel. ({1}) Ich weiß nicht mehr, wie oft wir hier im Hohen Haus die Notwendigkeit der Aufarbeitung von SED-Herrschaft und Stasi-Verstrickungen debattiert haben. Aber ich weiß, dass es richtig ist - das hat auch die Aktuelle Stunde gezeigt -, neben den vielen aktuellen politischen Zukunftsaufgaben in der Befassung mit unserer jüngsten Geschichte nicht nachzulassen; denn Zukunft hat Herkunft. Wenn die Fragen nach Verstrickung und Verantwortung verstummen, die Verdrängung System bekommt und ein kollektives Schweigen normal wird, dann ist unsere Demokratie in Gefahr. ({2}) Doch die Instrumente, die wir uns gegeben haben, von der Aktenaufbewahrung und -aufarbeitung in der StasiUnterlagen-Behörde über das Stasi-Unterlagen-Gesetz bis hin zu unseren Landesbeauftragten, von denen Brandenburg nun Gott sei Dank auch einen bekommt, sichern, dass die damals Herrschenden heute nicht sagen können: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. - Das meiste von dem, was die Verantwortungsträger damals durch Bespitzelung und Repression veranlasst haben zu dokumentieren, richtet sich heute zum Teil auf sie selbst. Sowohl die Befehls- als auch die Umsetzungsstrukturen der SED und ihrer Helfershelfer sind uns bekannt. Trotzdem gibt es noch eine Menge zu erforschen. Wir sollten nicht nachlassen. Schritt für Schritt kommen wir der Wahrheit näher. Der menschenverachtende Charakter, der hinter diesem System stand, mahnt uns, nach wie vor darauf zu achten, dass sich die damaligen Machtinhaber nicht aus der Verantwortung herauswinden können. Nächste Woche wird es 20 Jahre her sein, dass sich die SED von ihrem Parteikürzel trennte und sich PDS nannte. Egal, wie sich die vereinte Linke heute oder in Zukunft nennt, sie steht - wir haben es heute gesehen - in der Tradition der SED; denn diese Partei hat sich nie aufgelöst. ({3}) Wir wissen heute, dass viele Menschen unter Druck gesetzt wurden oder auch aus Karrieregründen Fünfe gerade sein ließen, aber später aus Gewissensgründen oder durch Einsicht einen Schlussstrich gezogen haben. Wir brauchen - das sage ich ausdrücklich auch an Herrn Tiefensee - sie alle für die vielen Aufgaben in unserem Land. Das gehört zur Demokratie. Wir reichen ihnen die Hand. Das entspricht unserem christlichen Menschenbild; denn dazu gehört auch die Vergebung. Was wir aber nicht brauchen und was wir auch nicht zulassen werden, ist, dass die Stasi-Verstrickung bei der Berufung in hohe öffentliche Ämter keine Rolle mehr spielen soll. Das wäre verantwortungslos gegenüber der Zukunft. ({4}) Stasi-Verstrickung und ein hohes öffentliches Amt in einer Demokratie, das ist wie Feuer und Wasser; das passt nicht zusammen. Deshalb handelt es sich hierbei auch um eine Frage der Eignung für das hohe Amt, das angestrebt wird. Wie schwierig es ist, im konkreten Fall nach Vorlage von Unterlagen aus der Behörde der BStU in den Vertrauensgremien eine objektive Bewertung und eine Empfehlung für die jeweils betroffene Person auszusprechen, das haben wir auf allen Entscheidungsebenen erlebt. Trotzdem dürfen und werden wir uns vor dieser Aufgabe auch in Zukunft nicht scheuen. Wir haben mit dieser Aktuellen Stunde erreicht, dass bis auf die Fraktion der Linken alle Fraktionen in diesem Hohen Hause erklärt haben, bei einer Veränderung der Frist für die Regelüberprüfung bei der Übernahme hoher politischer Ämter oder Mandate mitzuwirken. Darauf freuen wir uns. Das ist doch ein gutes und schönes Ergebnis dieser Aktuellen Stunde. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften - Drucksache 17/506 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich all diejenigen, die an ebendieser teilnehmen wollen, Platz zu nehmen, und diejenigen, die anderen Verpflichtungen nachgehen müssen, uns zu ermöglichen, dass wir dieser Aussprache entsprechend folgen können. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk. ({1})

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem jetzt in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf werden erforderliche Anpassungen des deutschen Steuerrechts an europäische Vorgaben vorgenommen. Zum einen ist der nationale Gesetzgeber aufgerufen, das Umsatzsteuerrecht an sekundäres Gemeinschaftsrecht anzupassen. Zum anderen bedürfen vom Europäischen Gerichtshof in jüngster Zeit getroffene Entscheidungen der Umsetzung in nationales Recht. Auch werden in diesem Gesetzentwurf zwei wichtige steuerpolitische Maßnahmen, die Gegenstand des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und FDP sind, aufgegriffen. Dies betrifft zum einen die Einschränkung der Umsatzsteuerbefreiung auf Post-Universaldienstleistungen, mit denen eine flächendeckende Grundversorgung der Bevölkerung mit postalischen Dienstleistungen sichergestellt wird. Zum anderen geht es um die steuerliche Förderung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen. Die Liberalisierung auf dem Postmarkt macht eine Anpassung der geltenden Umsatzbesteuerung von Postdienstleistungen erforderlich. Dass eine derartige Anpassung nicht einfach ist, können wir alle daran sehen, dass es in der letzten Legislaturperiode nicht gelungen ist, sich auf eine einvernehmliche Lösung zu einigen. Denjenigen, die daran denken, alle Postdienstleistungen umsatzsteuerpflichtig zu machen, ist entgegenzuhalten, dass die EU-Mitgliedstaaten auch nach dem Wegfall des Postmonopols für die Postdienstleistungen öffentlicher Posteinrichtungen, die dem Gemeinwohl dienen, eine Befreiung von der Umsatzsteuer vorsehen müssen. Die Mehrwertsteuerbefreiung bleibt für flächendeckende Universaldienste in der Postbranche erhalten. Unter die Begünstigung fallen somit Leistungen, die eine Versorgung der Gesamtbevölkerung zuverlässig gewährleisten. Die Unternehmen müssen sich verpflichten, tatsächlich flächendeckend und bundesweit alle Post-Universaldienstleistungen oder einen Teilbereich in einer bestimmten Qualität und zu einem angemessenen Preis anzubieten. So kann sichergestellt werden, dass Postdienstleistungen auch weiterhin für die breite Bevölkerung, das heißt für jede Bürgerin und jeden Bürger, erschwinglich bleiben. ({0}) Mit einer solchen Regelung, die allen Unternehmen ermöglicht, Postdienstleistungen an Letztverbraucher bei Erfüllung bestimmter Kriterien steuerbefreit anbieten zu können, erreichen wir eine Gleichbehandlung gleicher Umsätze. Neue Wettbewerbsnachteile entstehen nicht; sie werden vielmehr beseitigt. ({1}) Auf der anderen Seite bedeutet dies aber auch: Werden die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt, kann keine Umsatzsteuerbefreiung mehr gewährt werden. Dies be1646 trifft beispielsweise Geschäftskundenprodukte, für die individuelle Absprachen getroffen worden sind. Die zweite Maßnahme aus der Koalitionsvereinbarung betrifft die steuerliche Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligungen. Bisher ist bei der Steuerbefreiung der Mitarbeiterkapitalbeteiligungen, die 2009 durch das Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz eingeführt wurde, die Entgeltumwandlung, das heißt die Umwandlung von regulärem Arbeitslohn in Mitarbeiterkapitalbeteiligungen, ausgeschlossen. Dies wird in der Praxis vielfach als hemmend angesehen. Mit der Neufassung der steuerlichen Norm nehmen wir uns jetzt dieser Problematik an. Insgesamt versprechen wir uns von der Verbesserung der Rahmenbedingungen zur steuerlichen Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung die weitere Verbreitung von Arbeitnehmerbeteiligungen und eine stärkere Teilhabe der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg ihrer Unternehmen. ({2}) Die Bundesregierung sieht dabei übrigens keinen Zielkonflikt zwischen Mitarbeiterkapitalbeteiligung und betrieblicher Altersversorgung. Der steuerliche Förderrahmen für die Altersversorgung beträgt bis zu 4 440 Euro im Jahr und liegt damit deutlich höher als die steuerliche Förderung von Vermögensbeteiligungen in Höhe von maximal 360 Euro. Auch ist der Anteilserwerb durch Arbeitnehmer kein Beitrag zur Altersvorsorge, da die Anteile jederzeit veräußert werden können. Im Ergebnis muss jeder Arbeitnehmer für sich entscheiden, welche Form der staatlichen Förderung er in Anspruch nimmt. Lassen Sie mich kurz die anderen Maßnahmen des Gesetzespaketes vorstellen. Es geht um eine Neufassung der entsprechenden Normen des Umsatzsteuergesetzes. Dies dient dazu, die Richtlinie zur Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen von Dezember 2008 umzusetzen. Mit der Neuregelung schaffen wir nun auch in Deutschland die Voraussetzungen für einen noch schnelleren Austausch von Informationen über Umsätze zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten. Schließlich erweitern wir im Einklang mit den europäischen Vorgaben den Kreis der Unternehmer, die eine UmsatzsteuerIdentifikationsnummer erhalten können. Zudem geht es um die Umsetzung von zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. So ist jetzt vorgesehen, die Zulageberechtigung bei der Inanspruchnahme der sogenannten Riester-Förderung an das Bestehen einer Pflichtversicherung in der inländischen gesetzlichen Rentenversicherung bzw. an den Bezug einer inländischen Besoldung zu koppeln. Außerdem sollen die Regelungen für die steuerlich geförderte zusätzliche private Altersvorsorge künftig auch für die Anschaffung bzw. Herstellung einer selbstgenutzten Wohnimmobilie im EU- oder EWR-Ausland gelten. Wir sehen auch eine Änderung der degressiven Abschreibung von bestimmten Gebäuden vor. Sie soll künftig auch bei solchen Gebäuden möglich sein, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums gelegen sind. Schließlich geht es um die Umsetzung einer weiteren Entscheidung des EuGH. In Zukunft sind auch Spenden an gemeinnützige Einrichtungen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in Staaten des europäischen Wirtschaftsraums steuerlich abziehbar. Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass die Koalitionsfraktionen im Zusammenhang mit diesem Gesetzespaket auch bei anderen wichtigen Fragen Änderungen vornehmen. Ich darf in diesem Zusammenhang folgende Stichworte nennen: Funktionsverlagerung, Erleichterungen für Leasingunternehmen und die Einbeziehung des CO2-Emissionszertifikatehandels in Maßnahmen zur Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug bei Karussellgeschäften. Sie sehen, noch nicht einmal 100 Tage nach Bildung dieser Regierung legen wir ein weiteres wichtiges Maßnahmenpaket vor, ({3}) das auf der einen Seite wichtige EU-Maßnahmen umsetzt und auf der anderen Seite Impulse für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland setzt. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute ein Sammelsurium ganz unterschiedlicher Regelungen, die die Regierung als Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben bezeichnet. Ich möchte zunächst mit dem Kernpunkt des Gesetzentwurfes, mit der Umsatzsteuerbefreiung für Post-Universaldienstleistungen, beginnen. Das Urteil des EuGH bildet dabei die Basis für diese Debatte. Einen Aspekt möchte ich etwas näher beleuchten, nämlich die Frage, ob auch Leistungen, die in AGBs geregelt sind, umsatzsteuerbefreit sind. Im Gesetzentwurf wird dies verneint. Die SPD-Bundestagsfraktion ist jedoch der Auffassung, dass sie sehr wohl umsatzsteuerbefreit sein sollten. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wen will das europäische Recht durch die Umsatzsteuerbefreiung, die es für Universaldienstleistungen gewähren will, begünstigen? Soll nur der private Endverbraucher, der seinen einzelnen Brief beim Postamt oder bei der Verkaufsstelle des Mitbewerbers einliefert, steuerlich entlastet werden, oder soll auch der gemeinnützige, nicht vorsteuerabzugsberechtigte Verein, der per Mailing zu einer Spendenaktion für Erdbebenopfer aufruft, gemeint sein? Ich habe die Gelegenheit genutzt, bei einem Wohlfahrtsverband in meinem Wahlkreis nachzufragen. Die jährlichen Ausgaben für Porto belaufen sich dort auf über 25 000 Euro. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf würden knapp 5 000 Euro Mehrkosten entstehen. ({0}) Ich frage Sie: Ist dies für einen solchen Träger überhaupt zumutbar? Wie viel ist dies hochgerechnet auf alle betroffenen Träger ehrenamtlicher Leistungen? ({1}) Wer zahlt für diese Mehrkosten letztendlich die Zeche? ({2}) Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes trifft zu der Frage, ob dies von der Umsatzsteuer befreit werden soll, nach meiner Auffassung keine eindeutige Feststellung. Ich meine allerdings, dass es dem Gedanken der Europäischen Union eher entspricht, wenn man auch diese Leistung in die Umsatzsteuerbefreiung einbezieht. Diese Auffassung bestätigt im Übrigen auch eine große Wirtschaftskanzlei, die sicherlich nicht im Ruf steht, wettbewerbsfeindlich zu sein. ({3}) Die Anhörung wird mit Sicherheit nichts anderes ergeben; denn schließlich will die EU eine Grundversorgung aller Bürgerinnen und Bürger mit Postzustellung und Postabsendung fördern. Die ehrenamtliche Tätigkeit gehört sicherlich zu dieser Grundversorgung. Wir halten die Regelung im Gesetzentwurf für falsch, die die Leistungen aus Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht von der Umsatzsteuer befreit; denn sie stehen grundsätzlich allen Bürgern zu gleichen Bedingungen zur Verfügung und unterscheiden sich damit ganz wesentlich von den individuell ausgehandelten Leistungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich aber noch kurz auf Ihre Änderungsanträge eingehen. Grundsätzlich begrüßen wir es, dass dem Umsatzsteuerbetrug im Emissionshandel durch die Anwendung von Reverse Charge begegnet werden soll. ({4}) Zeitlich ist dies gerade noch rechtzeitig, um einen entsprechenden Beschluss des Bundesrates vorwegzunehmen. Aber ein bisschen verwundert hat mich dies schon; denn die Bundesregierung hat mir auf meine schriftliche Frage am 28. Dezember 2009 noch geantwortet, dass sie keine Daten über das Umsatzsteueraufkommen und die damit zusammenhängenden Betrugsfälle durch die entgeltliche Übertragung von CO2-Zertifikaten hat. Jetzt, vier Wochen später, stellen Sie auf einmal die Eilbedürftigkeit fest, die ein normales Gesetzgebungsverfahren unmöglich macht. ({5}) Das ging ganz schön schnell; aber wir freuen uns, dass Sie jetzt unsere Erkenntnisse teilen. Ein kleiner Wertungswiderspruch, Kolleginnen und Kollegen von der Union, entsteht allerdings, wenn der Handel mit Schrott und Altmetall sowie die Gebäudereinigung nicht gleichzeitig in dieses eilbedürftige Verfahren, das Reverse-Charge-Verfahren, aufgenommen werden, obwohl dort schon in der letzten Legislaturperiode Einigkeit über die Handlungsnotwendigkeit bestand. Hier wollen Sie - so Ihre Ankündigung - stattdessen ein reguläres Gesetzgebungsverfahren abwarten, obwohl die Länder auf eine Regelung drängen. Damit nicht genug; Sie schieben uns noch zwei weitere Änderungen unter, die einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen den Volksparteien zeigen. ({6}) Was Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Union, mit uns in der Regierung nicht machen konnten, setzen Sie jetzt durch. ({7}) Während die SPD bei der Unternehmensteuerreform das Interesse an Steuereinnahmen mit dem Interesse der Unternehmen abgewogen hat, zählt für Sie offensichtlich nur das, was Ihre Geldgeber sich von Ihnen wünschen. ({8}) Die Wunscherfüllung erfolgt erstaunlich schnell, nämlich umgehend. Oder wie erklären Sie sich, dass Sie auf ein Schreiben eines Lobbyisten hin ({9}) plötzlich Leasingunternehmen begünstigen? ({10}) Könnte dies eventuell, gegebenenfalls damit zusammenhängen, dass die Capital Lease Transportmittel GmbH der CDU in den letzten sechs Jahren 230 800 Euro gespendet hat? ({11}) Wie dem auch sei; umso wichtiger ist es deshalb, dass wir die Vielzahl an Regelungen zum Thema einer Anhörung machen, um uns auch hier intensiv beraten zu lassen. ({12}) Schließen möchte ich mit einem Ceterum censeo für diese Legislaturperiode. Ceterum censeo: habitudinem favoris clientium esse abolendam. Wer eine Übersetzung wünscht, ist herzlich eingeladen, der späteren Debatte über die Aufhebung der Umsatzsteuerermäßigung bei Hotels zu folgen. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Frau Kollegin Bätzing, es ist schon sonderbar, wie Sie hier irgendwelche Konstruktionen darlegen. Wenn wir uns die veröffentlichten Spenden der SPD genauer anschauen und daraus konstruieren, was Sie jeweils in Gesetzesform umgewandelt haben, kämen auch wir auf eine sehr lange Liste. ({0}) Aber diese schäbige Art der Auseinandersetzung machen wir bestimmt nicht mit. ({1}) Wir haben heute das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben zu beraten, ein Gesetz, das das deutsche Steuerrecht EU-freundlicher machen wird. Das werden auch die Bürgerinnen und Bürger spüren. Als Beispiel sei die Vereinfachung der Altersvorsorge genannt; denn wir werden die Gewährung der Altersvorsorgezulage unabhängig vom Wohnsitz der jeweiligen Person garantieren. Mit dem Gesetz werden wir auch einen drohenden Umsatzsteuerbetrug beim CO2-Emissionshandel bekämpfen. Scheingeschäfte mit Klimazertifikaten haben in mehreren europäischen Ländern Steuerverluste von knapp 5 Milliarden Euro verursacht. Allein in Bayern untersucht die Münchner Steuerfahndung dubiose Transaktionen in dreistelliger Millionenhöhe. Bislang waren vor allem Großbritannien, Frankreich, Dänemark, die Niederlande und Spanien betroffen. Vielleicht ist das auch die Erklärung dafür, Frau Bätzing, dass Sie am 28. Dezember die von Ihnen zitierte Auskunft bekommen haben; denn es droht jetzt nach Deutschland zu wandern. ({2}) Der Handel mit CO2-Verschmutzungsrechten gilt als effizientes Mittel im Kampf gegen den Klimawandel. Doch wie die europäische Polizeibehörde Europol mitteilte, könnten in einigen Staaten bis zu 90 Prozent des Handelsvolumens auf Betrug zurückgehen. Durch das Grundkonzept für den Steuerbetrug durch sogenannte Karussellgeschäfte wird die spezifische Regelung des innergemeinschaftlichen Erwerbs genutzt. Deshalb reagieren wir jetzt mit konkreten Änderungen im Steuersystem; denn diese milliardenschweren kriminellen Betrügereien gefährden die Glaubwürdigkeit des gesamten EU-Emissionshandels. Großbritannien und Frankreich wählten den ersten möglichen Weg. Die Niederlande und Spanien wählten einen anderen Weg. Auch wir halten das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren für die Emissionsrechte als Sofortmaßnahme für den besseren Weg, den wir nun auch gehen werden. Damit schieben wir nicht nur den befürchteten Einnahmeausfällen bei den Finanzämtern einen Riegel vor, sondern bannen auch die Gefahr des Reputations- und Vertrauensverlustes im gesamten CO2Markt. ({3}) Langfristig sollten wir aber auch hier die Umstellung von der Soll- auf die Ist-Besteuerung prüfen; denn die Ist-Besteuerung würde dem Umsatzbetrug die Grundlage komplett entziehen. Ein weiteres großes Thema ist die Neuregelung der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung von Finanzierungsaufwendungen für Finanzdienstleistungsunternehmen, also zum Beispiel Leasingunternehmen. Neben den Kreditinstituten leisten nämlich auch die Leasingunternehmen einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Finanzierungssituation in Deutschland, insbesondere der des Mittelstandes. Diese Leasingunternehmen wurden bisher gegenüber anderen Finanzunternehmen steuerlich benachteiligt, und ich sage: bewusst benachteiligt. ({4}) Diese Benachteiligung beenden wir. ({5}) Wir entschärfen damit in der Krise eine Ungleichheit gerade in der Mittelstandsfinanzierung und lösen gleichzeitig eine Investitionsbremse, was den vielen mittelständischen Unternehmen in Deutschland helfen wird. ({6}) Durch eine verstärkte Investitionstätigkeit vor Ort werden gerade auch die Kommunen profitieren. ({7}) Lassen Sie mich klar sagen: Mit dem Ende dieser Benachteiligung ergibt sich eine Gleichstellung, keine Privilegierung. ({8}) Diese Zuspitzung aus der linken Hälfte dieses Hauses ist ein unverhältnismäßiger Angriff auf die vielen Leasingunternehmen in unserem Land, die auch in schwierigen Zeiten einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierungssicherheit in Deutschland geleistet haben. ({9}) Wir erleichtern mit unserer Politik die Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand; denn bei der FDP hat der Mittelstand nicht nur in Sonntagsreden seinen Platz. ({10}) Im Zentrum unserer Politik stehen die vielen kleinen mittelständischen Unternehmen in unserem Land. Deshalb machen wir eine mittelstandsfreundliche Politik. ({11}) Wir haben für die vielen mittelständischen Unternehmen, die keine großen Steuerbüros haben, eine weitere Erleichterung geschaffen. Wir beseitigen die negativen Auswirkungen der Regelung der Funktionsverlagerung auf den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland. Wir haben bewusst keine Pflicht für den Unternehmer vorgeschrieben, sondern wir lassen jedem einzelnen Unternehmen ein Wahlrecht, sodass jeder Unternehmer selbst entscheiden kann, welche Bewertung für ihn am unbürokratischsten und sinnvollsten ist. Damit erreichen wir, dass die Besteuerung von sogenannten Funktionsverlagerungen den internationalen Standards entspricht und nicht zulasten deutscher Arbeitsplätze geht. Im Zukunftsbereich Forschung und Entwicklung erleichtern wir damit zusätzliche Investitionen in Deutschland und schaffen günstigere Rahmenbedingungen für die Entstehung neuer, zukunftssicherer Arbeitsplätze in unserem Land. ({12}) Eine weitere Frage, über die wir heute zu diskutieren haben, ist die Umsatzsteuerregelung im Postsektor. ({13}) Der Markt für Postdienstleistungen hat in den letzten Jahren seine Rolle als Wachstumsmotor bestätigt. Für die Verbraucher hat der dynamische Wettbewerb zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen mit stabilen Preisen geführt. Gleichwohl wird der Wettbewerb zwischen der Deutschen Post AG und anderen Postdienstleistern nach wie vor durch eine unterschiedliche umsatzsteuerliche Behandlung beeinträchtigt. ({14}) Zu Beginn des Jahres 2008 konnte im Postsektor ein vielseits erwarteter Meilenstein erreicht werden: Nach fast 500-jähriger Bestandskraft wurde das staatliche Monopol für die Beförderung von Briefen zugunsten einer zeitgemäßen Wettbewerbslösung aufgegeben und der Markt vollständig geöffnet. Der Weg zu neuen Geschäftsmodellen, zu mehr Wachstum und Innovation ist seitdem frei. Das ist nicht von mir, ({15}) sondern das schreibt die Bundesnetzagentur in ihrem aktuellen Tätigkeitsbericht. Frau Bätzing, ich glaube, dass Sie einem großen Missverständnis erliegen: Eine Umsatzsteuerverpflichtung heißt nicht automatisch, dass die Preise um 19 Prozent steigen. ({16}) Im Wettbewerb sinken die Preise nämlich. Das ist der entscheidende Punkt. ({17}) Hören Sie auf, ein Klima der Angst zu schüren, indem Sie sagen, dass wir uns Briefe in Zukunft nicht mehr leisten können. Wir sind hier in einem Bereich, in dem von der Regulierungsbehörde genehmigte Entgelte festgesetzt werden, und die gelten. ({18}) Festzuhalten bleibt: Wir marktwirtschaftlichen Ordnungspolitiker sind zurück in der Regierungsverantwortung. Wir schieben dem Steuerbetrug einen Riegel vor. Wir beenden steuerliche Ungleichheiten und sorgen so für mehr Wachstumsimpulse. Wir schaffen mehr Wettbewerb, von dem die Verbraucher insgesamt profitieren, sowohl durch niedrigere Preise als auch durch ein vielfältigeres Angebot an Dienstleistungen. Ich danke. ({19})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwarz-Gelb macht im neuen Jahr genau da weiter, wo sie im alten Jahr aufgehört haben: Sie verteilen weiter Steuergeschenke für große Konzerne, und das Ganze unter falscher Flagge. ({0}) Man muss allerdings sagen, dass das Einfallstor für diese rasante und einfache Umsetzung des Vorhabens die SPD für Sie geöffnet hat. Gemeinsam setzten Sie - leider - die Unternehmensteuerreform 2008 durch. Das hat mindestens 10 Milliarden Euro Mindereinnahmen verursacht. Damit ist das ein Geschenk an die Konzerne. ({1}) Als Feigenblatt bauten Sie damals wenigstens einige Gegenfinanzierungsmaßnahmen ein. ({2}) Die braucht Schwarz-Gelb jetzt nur noch - eine nach der anderen - einzukassieren, um auf diese Art und Weise weitere große Entlastungen für die Konzerne bereitzustellen. Das haben Sie im Dezember mit Ihrem Klientelbedienungsgesetz getan. ({3}) Weitere 3 Milliarden Euro werden uns dadurch mindestens verloren gehen, die Sie den großen Konzernen schenken. ({4}) Diesmal täuschen Sie vor, dass Sie nur EU-Vorgaben umsetzen wollen. Aber Sie mogeln wieder einfach Steuergeschenke an die Konzerne in dieses Gesetz. ({5}) Ich mache Ihnen das an drei Beispielen deutlich: Erstens. Die Rücknahme einer Gegenfinanzierungsmaßnahme ist die eben von Ihnen erwähnte grenzüberschreitende Verlagerung von betrieblichen Funktionen. Wir haben hier gemeinsam und einvernehmlich versucht, das zu begrenzen, weil es nicht der kleine Betrieb ist, der Funktionsverlagerungen ins Ausland vornimmt. Da müssen wir doch einmal ein bisschen in der wirtschaftlichen Realität bleiben. ({6}) Wer so etwas vornimmt, hat natürlich ein Steuerbüro. Dieses wurde genutzt, um Gewinne im Ausland und Verluste im Inland zu verrechnen. Das wollen Sie jetzt wieder ermöglichen. Zweitens: Ausweitung von Steuerprivilegien. Sie sagen, dass Sie jetzt hier die Ungleichbehandlung beseitigen. Am 20. Januar 2010 bekamen wir einen Brief vom Deutschen Factoring-Verband, und am 26. Januar, sechs Tage später, haben wir dann einen Umdruck der Koalition auf dem Tisch, ({7}) in dem das Anliegen dieses Verbandes eins zu eins übernommen wird. Es gehört schon einiges dazu, diese Klientelbedienungspolitik so dreist umzusetzen. ({8}) Ich frage Sie: Warum muss der Bäckermeister an der Ecke Gewerbesteuer zahlen, Finanzdienstleister aber nicht? ({9}) Das habe ich Sie hier schon vor zwei Jahren gefragt. Wir brauchen eine Ausweitung der Gewerbesteuerpflicht, um die Finanzkraft der Kommunen zu stärken. Wir sollten sie nicht weiter schwächen und dann noch erzählen, das schaffe Arbeitsplätze. ({10}) Drittens. Sie machen hier eine steuersubventionierte Lohnsenkung. Unternehmen sollen in Zukunft abgabenund steuerfrei einen Teil des Lohns in Vermögensbeteiligungen umwandeln können. Die Unternehmen haben also eine doppelte Dividende: Löhne senken, Steuern runter. Besser kann man sich das wirklich nicht vorstellen. Der Gipfel der Dreistigkeit ist: Sie weisen auf zwei Umdrucken einfach einmal aus, dass das uns als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler überhaupt nichts kosten würde, die Belastung würde 0 Euro betragen. Für wie dumm halten Sie uns hier im Parlament und auch die Bevölkerung? Das geht wirklich zu weit. ({11}) Sie setzen hier ein Projekt um, an dem sich Peer Steinbrück in der letzten Legislaturperiode schon einmal versucht hatte. Sie wollen das bewährte System der flächendeckenden und universalen Bereitstellung von Postdienstleistungen aushöhlen und die Deutsche Post als deren einzige Anbieterin zerschlagen. Das ist Ihr Ziel. Das Ganze verkaufen Sie hier, indem Sie sagen, dass Sie EUVorgaben umsetzen. Aber weder das angeführte Urteil des Europäischen Gerichtshofs noch die Postdiensterichtlinie noch die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie - alles EU-Ebene - verpflichtet Sie, das zu tun. Wenn von Ihnen die Frage gestellt wird, ob es nicht sinnvoll sei, dass mehrere Briefkästen aufgestellt werden, frage ich: Ist es sinnvoll, dass an meinem Briefkasten pro Tag drei Briefträgerinnen vorbeikommen, von denen eine von der Deutschen Post noch tariflich bezahlt wird und die anderen, um im Wettbewerb großartig Marktanteile erwerben zu können, zu Niedriglöhnen laufen müssen? ({12}) Das ist das Ziel Ihrer Politik. Dabei nehmen Sie in Kauf, dass ein funktionierendes wichtiges Instrument im Bereich Infrastruktur hier einfach zur Disposition gestellt wird. In der Art und Weise, wie Sie das hier vorstellen, lehnen wir es ab. ({13}) Wir sind auf die Beratung gespannt. Die Punkte, die ich hier kritisiert habe, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich freue mich, dass es in einigen Punkten eine Übereinstimmung in der Opposition gibt, sodass Sie da einen starken Widerstand erhalten werden. Danke. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften“ - hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich eine Menge wichtiger Änderungen. ({0}) Manche sind notwendige Korrekturen - da gebe ich Ihnen recht -, aber manche der Korrekturen sind substanzielle Änderungen in der Steuergesetzgebung mit erheblichen Auswirkungen. Ich finde es ganz schön erstaunlich, was da sozusagen im Nebensatz mit durchgewinkt werden soll. ({1}) - Zur Anhörung. Wir wollen einmal sehen, wie wir da herauskommen. ({2}) Zunächst zur vorgeschlagenen Änderung der Umsatzsteuerregelung bei Postdienstleistungen. Schön, dass jetzt auch die FDP die EU-Vorgaben zur Kenntnis nimmt ({3}) und das tut, was wir Grünen schon vor einem Jahr gefordert haben. Allerdings hat die FDP bereits angekündigt, die jetzige Regelung kippen zu wollen. Das habe ich sehr deutlich bei Ihnen herausgehört. ({4}) Plädiert die FDP bei den 7 Prozent für die Hoteliers aus Wettbewerbsgründen für gleiche Mehrwertsteuersätze in Europa, ist ihr das bei den Postdienstleistungen offensichtlich egal. ({5}) In den meisten Ländern der EU sind die Universalpostdienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit. ({6}) Aber zwischen den Zeilen sagen Sie, dass Sie zu etwas anderem wollen, nämlich zu den 19 Prozent. Wenn man die Spendentätigkeit der Deutschen Post mit der der Hotellerie vergleicht, kann man nur sagen: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! ({7}) Der Wettbewerb, den wir uns wünschen - mit einer vernünftigen Grenzziehung für die sogenannten Universalpostdienstleistungen -, wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf ermöglicht. ({8}) Über einzelne Grenzziehungen, zum Beispiel betreffend die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, müssen wir im Detail sicherlich noch reden. ({9}) Eine funktionierende Marktwirtschaft braucht klare Marktregeln. Wir wollen mit diesen Regeln die Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen sicherstellen. ({10}) Die FDP aber - das ist mein Eindruck - will diese Verantwortung eigentlich nicht für alle Bürgerinnen und Bürger übernehmen, sondern nur für eine bestimmte Gruppe. Das ist Klientelwirtschaft, und das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({11}) So viel zu den Postdienstleistungen. In diesem Gesetzentwurf stehen noch zwei Änderungen, zu denen ich kritisch etwas anmerken möchte. Die eine ist die steuerliche Förderung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen. Die Einführung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen hat schon die Große Koalition beschlossen gegen unseren Willen. Sehenden Auges wollen Sie das Gebot der Risikostreuung missachten und Angestellte noch mehr den Risiken von Fehlentscheidungen des Managements aussetzen. ({12}) Es geht zwar auch um Chancen. Fakt bleibt aber, dass Angestellte - und das auch noch staatlich gefördert - in eine doppelte Abhängigkeit von ihrem Unternehmen gebracht werden: Geht es der Firma oder der Branche schlecht, besteht die Gefahr, dass neben dem Arbeitsplatz auch noch die Altersrücklagen verloren gehen. Durch die vorgeschlagene Regelung, einen Teil des Loh1652 nes für Unternehmensbeteiligungen einzusetzen, würde das noch verstärkt. ({13}) Eine Regelung, den Vorstand nicht nur am Gewinn, sondern auch an Verlusten des Unternehmens zu beteiligen, bringen Sie hier nicht ein. Die Mitarbeiter wollen Sie diesen Risiken jedoch aussetzen. Das ist schlicht unverantwortlich und kann so nicht funktionieren. ({14}) Am Dienstagabend haben Sie en passant schnell noch eine Änderung des Außensteuergesetzes eingebracht, die Funktionsverlagerungen in Drittländer betrifft. Worum geht es? Es soll verhindert werden, dass Konzerne die Entwicklung hier in Deutschland als Aufwand steuermindernd geltend machen, die Gewinne aber ins Ausland verlagern können. In der Regel wird das befeuert dadurch, dass ausländische Standorte mit geringer oder gar keiner Steuerlast locken. Zum Beispiel gewährt Singapur acht bis neun Jahre Steuerfreiheit durch den sogenannten Pioneer-Status. Viele deutsche Unternehmen haben das ausgenutzt. Das sollte dadurch verhindert werden, dass vor allem die immateriellen Werte eines Geschäftes bei einer Funktionsverlagerung ins Ausland durch die Bildung eines sogenannten Transferpaketes abgebildet werden. Natürlich wirft die Bewertung dieses Transferpaketes Probleme auf; d’accord. ({15}) Aber statt an einer Lösung des Problems zu arbeiten und dabei die Ziele nicht aus dem Auge zu verlieren, wollen Sie durch eine Rückkehr zu Einzelverrechnungspreisen faktisch den alten Zustand wiederherstellen. So einfach dürfen Sie es sich nicht machen, meine Damen und Herren. ({16}) Mit dieser Änderung bei Funktionsverlagerungen verzichten Sie auf Steuereinnahmen in Höhe von 1,8 Milliarden Euro, die als Gegenfinanzierung für die Unternehmensteuerreform 2008 eingeplant sind. ({17}) Angesichts der Haushaltslage ist das ungeheuerlich. Wieder werden vor allen Dingen die Kommunen darunter zu leiden haben. ({18}) Sie geben eine wichtige Zielsetzung auf: War es nicht Konsens in diesem Hause, dass wir verhindern müssen, dass in Deutschland die Entwicklung gemacht wird, die entsprechenden Gewinne aber im Ausland anfallen, ohne dass zumindest ein Teil dieser Gewinne nach Deutschland zurückfließt? Hier soll - die Lobby lässt grüßen - mit heißer Nadel gestrickt werden. Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, an dieses Thema müssen Sie mit mehr Tiefgang gehen. So können wir Ihnen das nicht durchgehen lassen. Vielen Dank. ({19})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute eingebrachte Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften enthält eine Vielzahl von gesetzlichen Vorschriften, die Sie, Herr Staatssekretär, vorgestellt haben. Zentrale Änderung im Bereich der Umsatzsteuer ist die Neufassung des § 4 Nr. 11 b UStG, die einerseits den Umfang der bisherigen Umsatzsteuerbefreiung bei PostUniversaldienstleistungen einschränkt, andererseits die jetzt enger gefasste Umsatzsteuerbefreiung nicht nur der Deutschen Post AG, sondern auch den privaten Mitbewerbern einräumt. Dies ist ein Gebot der Gerechtigkeit und der Wettbewerbsgleichheit. Deshalb unterstützt meine Fraktion diese Änderung. ({0}) Frau Kressl, der jetzige Gesetzentwurf ist insoweit wortgleich mit dem am 29. Januar 2009 - morgen vor einem Jahr - von der Großen Koalition eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Deshalb gehen wir bei diesem Gesetzentwurf von der vollen Unterstützung durch die SPD-Fraktion aus. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl?

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kolbe, ist Ihnen bewusst, dass es nach diesem Zeitpunkt vor einem Jahr eine EuGH-Entscheidung gegeben hat, die, wie Frau Kollegin Bätzing ausgeführt hat, inzwischen von Wirtschaftskanzleien, zum Beispiel von Freshfields, ausgelegt worden ist? Diese Auslegungen besagen deutlich: Nach der EuGHEntscheidung muss der AGB-Bereich von der Umsatzsteuer befreit werden. Müssten wir uns eigentlich nicht einig sein, dass wir diese neuen Auslegungen, die nach dem alten Gesetzentwurf entstanden sind, im neuen Gesetzentwurf berücksichtigen müssen? ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kressl, die EuGH-Entscheidung ist ergangen. Ihre Kollegin Bätzing hat, wenn ich es noch richtig im Ohr habe, gesagt, dass in der EuGH-Entscheidung gerade hierzu keine klare Aussage getroffen wurde. Somit hat sich die Situation nicht grundlegend verändert. Vor einem Jahr wurde über die Frage diskutiert; darüber wird auch jetzt in der Anhörung zu diskutieren sein. ({0}) Ich komme zu einer anderen Vorrednerin, Frau Höll, die von Steuergeschenken an Unternehmen und von der Zerschlagung der Post gesprochen hat. Das ist wirklich abartig. Das will keiner. Gerade diejenigen, die wie ich einen Flächenwahlkreis vertreten, wissen die Leistungen der Deutschen Post zu schätzen. Auch das will ich hier sagen. ({1}) Ich habe aber keine Probleme, wenn die Post zweimal am Tag kommt. Ich habe auch keine Probleme damit, dass es heute mehrere Zeitungen, nicht nur eine Zeitung gibt, obwohl das mehr Journalisten kostet, ({2}) und dass es heute mehrere Gaststätten gibt, nicht nur die HO, wo man immer nur schwer einen Platz bekam. ({3}) Das ist eine grundlegende Frage, in der wir uns unterscheiden. Die Deutschen haben in den letzten 20 Jahren klar zum Ausdruck gebracht, was sie wollen. ({4}) Ich komme jetzt wieder zur Umsatzsteuerbefreiung. Nach dem geltenden § 4 Nr. 11 b UStG sind die unmittelbar dem Postwesen dienenden Umsätze der Deutschen Post AG von der Umsatzsteuer befreit. Dies galt also bisher allein für die Deutsche Post AG. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die Steuerbefreiung entsprechend dem Art. 132 Abs. 1 a der MehrwertsteuerSystemrichtlinie unter Berücksichtigung, Frau Kressl, der Auslegung des EuGH-Urteils vom 23. April 2009 ausgestalten. Nunmehr sollen nur noch Post-Universaldienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit sein, mit denen durch einen oder mehrere öffentliche oder private Unternehmer eine Grundversorgung der Bevölkerung sichergestellt wird. Den Nutzern muss ein Universaldienst zur Verfügung stehen, der ständig allen Nutzern flächendeckend postalische Dienstleistungen in einer bestimmten Qualität zum tragbaren Preis bietet. Damit wird die längst fällige Wettbewerbsgleichheit hergestellt. Künftig sind noch folgende Post-Universaldienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit: die Beförderung von Briefsendungen einschließlich der Versendung von adressierten Büchern, Katalogen usw. bis 2 000 Gramm, die Beförderung von adressierten Paketen bis 10 Kilogramm sowie Einschreibe- und Wertsendungen. Künftig sind nicht mehr von der Umsatzsteuer befreit: Paketsendungen mit einem Gewicht von 10 bis 20 Kilogramm, adressierte Bücher, Kataloge, Zeitungen und Zeitschriften mit einem Gewicht von mehr als 2 Kilogramm, Expresszustellungen und Nicht-Nachnahmesendungen. ({5}) - Ja, das ist interessant. Nicht unter die Befreiung fallen nach dem Gesetzentwurf auch Leistungen, deren Bedingungen zwischen den Vertragsparteien individuell vereinbart werden - insoweit besteht Übereinstimmung - und die aufgrund von allgemeinen Geschäftsbedingungen zu abweichenden Qualitätsbedingungen oder günstigeren Preisen erbracht werden. Das ist der eigentlich strittige Punkt in diesem Gesetzgebungsverfahren. Durch den Regierungsentwurf wurde hier eine Vorgabe gesetzt. In der Anhörung werden wir auch andere Meinungen hören. Dazu dient ja auch die Anhörung am 9. Februar 2010. ({6}) Die Anhörung wird an diesem Punkt sicherlich interessant werden. Danach werden wir eine fundierte Entscheidung fällen. ({7}) Insgesamt hält meine Fraktion den Gesetzentwurf, den die Bundesregierung hier vorgelegt hat, für vernünftig. Beide Seiten sind nicht ganz zufrieden und haben noch den einen oder anderen Wunsch. Dies spricht für einen guten Kompromiss und einen guten Einstieg in die Beratungen. Danke. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus Barthel das Wort. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich muss auch noch einmal auf die Post eingehen, weil sich das geradezu anbietet, um noch einmal deutlich zu machen, was diese Koalition unter der Überschrift „Gleicher Wettbewerb und Liberalisierung“ meint und wie sie versucht, die Wettbewerbsregeln so umzudeuten, dass die Lasten auf jeden Fall die Verbraucher und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tragen müssen. Der EuGH hat deutlich gemacht, dass die Mehrwertsteuerbefreiung für alle Unternehmen, die öffentliche Postdienste erbringen, nicht nur rechtmäßig, sondern zwingend ist. Insofern gibt es hier nur einen relativ geringen Spielraum zur Auslegung. Das Kriterium für die Steuerbefreiung ist die Erbringung eines Universaldienstes. FDP und Teile der Union behaupten immer, dass dann gleicher Wettbewerb herrscht, wenn man die Mehrwertsteuerpflicht im Bereich der Post für alle einführt oder abschafft. Das ist Humbug, und das ist auch die Auffassung des EuGH und der EU-Kommission; denn man kann nur Gleiches gleich behandeln, und man muss Ungleiches ungleich behandeln. ({0}) Ein Unternehmen, das im Auftrag der Politik gemäß der Verfassung Leistungen erbringt, also im öffentlichen Auftrag - man sollte vielleicht ab und zu einmal in die Verfassung hineinschauen; ich empfehle die Lektüre von Art. 87 f Grundgesetz, in dem es um das flächendeckende Angebot von Postdienstleistungen geht -, ist doch anders zu behandeln als jemand, der sich die Rosinen heraussucht, womit sich möglichst viel Geld verdienen lässt, während ihm alles andere egal ist, weil man dafür ja die Deutsche Post AG hat, die das dann erledigt. ({1}) In Zukunft soll natürlich jeder, der für sich die Verpflichtung übernimmt, Universaldienstleistungen zu erbringen, auch dieses Privileg - in Anführungszeichen der Steuerbefreiung in Anspruch nehmen können, während dies für alle anderen nicht gilt. Daran lässt sich auch überhaupt nicht deuteln. Selbst die Kommission, die uns deswegen ja verklagt hatte, sagt inzwischen - ich darf zitieren -: Wie aus dem entsprechenden Abschnitt hervorgeht, erfolgt nach Auffassung der Kommission aus dem Urteil in der Rechtssache TNT, dass der Anbieter von Universaldienstleistungen wegen der besonderen rechtlichen Grundlage, aus der sich die besonderen Verpflichtungen für einen solchen Anbieter ergeben, zur Mehrwertsteuerbefreiung berechtigt ist. - Klarer kann man das doch nicht sagen. Hier gibt es keinen Millimeter Auslegungsspielraum. ({2}) Was ein Universaldienst ist, ist bei uns im Postgesetz und in der Post-Universaldienstleistungsverordnung festgelegt. Ich kann mir überhaupt nicht erklären, warum es hier plötzlich die von Herrn Kolbe so eindrucksvoll aufgelisteten Universaldienstleistungen wie Nachnahmesendungen und Pakete mit einem Gewicht von 10 bis 20 Kilogramm und Eilsendungen geben soll, die bei uns per Gesetz als Universaldienstleistung definiert sind, aber nicht von der Mehrwertsteuer befreit sein sollen, während es andere Universaldienstleistungen gibt, die von der Mehrwertsteuer befreit sein sollen. Abgesehen von dem bürokratischen Humbug - es muss sich noch zeigen, wie Sie steuerrechtlich unterscheiden wollen, ob in einem Postauto Universaldienstleistungen wie Pakete transportiert werden oder Kataloge, die schwerer als 2 Kilo sind ({3}) ist es überhaupt Unfug, eine solche Unterscheidung zu treffen. Die europäische Postdienste-Richtlinie besagt eindeutig, dass es Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten ist, den Universaldienst zu definieren. ({4}) Sie rechnen bei Ihrem Vorhaben mit Mehreinnahmen von 350 Millionen bis 500 Millionen Euro. Die spannende Frage ist, wer diese 500 Millionen Euro bezahlt. Es ist völlig klar: Das ist eine Verbrauchsteuer, und als solche ist sie von den Verbrauchern zu zahlen. Wer sind in diesem Fall die Verbraucher? Das sind all diejenigen, die Postdienstleistungen in Anspruch nehmen müssen, die nicht vorsteuerabzugsberechtigt sind. Das sind neben Banken und Versicherungen, die andere Wege finden, die Kosten auf ihre Kunden abzuwälzen - das können wir auf unseren Kontoauszügen sehen, wenn wir sie uns noch zuschicken lassen -, im Wesentlichen die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Deutsche Rentenversicherung, die Krankenkassen, die Kommunen und die öffentlichen Verwaltungen. Sie bezahlen die 350 Millionen bis 500 Millionen Euro, und sie werden sich sehr dafür bedanken, dass wir jetzt auch noch über die Umsatzsteuer eine sozial ungerechte Umverteilung vornehmen, indem wir die Umsatzsteuerentlastung von den Kirchen und Sozialverbänden zu den Hotels verlagern. Das ist Umverteilung à la Schwarz-Gelb; das muss man ganz deutlich sagen. ({5}) Wer dann sagt, das werde der Wettbewerb regeln, das könne gar nicht ganz auf die Kunden abgewälzt werden, der muss wissen, dass im Postwesen 80 Prozent der Kosten Personalkosten sind. Insofern gibt es so gut wie keine Abwälzungsmöglichkeiten. Das heißt, wenn es nicht die Verbraucher bezahlen, dann bezahlen es die Beschäftigten. Wie wir heute gehört haben, ist der Postmindestlohn leider nicht rechtskräftig. Das bedeutet also ganz klar, was die Unternehmen schon angekündigt haben: Wenn die bestehende Mehrwertsteuerregelung entfällt, dann tragen die Beschäftigten die Kosten in Form von Arbeitsplatzverlust oder von niedrigeren Einkommen. Auch das ist offensichtlich schwarz-gelbe Politik. So etwas kann man nicht machen, und schon gar nicht mit der Begründung, das habe etwas mit fairem Wettbewerb oder mit europäischen Regelungen zu tun. Ich empfehle, die entsprechenden Texte zu lesen. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. - Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte mich eigentlich auf das Thema Mitarbeiterbeteiligung konzentrieren wollen. Aber nach der vorangegangenen Debatte möchte ich mir noch einige andere Bemerkungen erlauben. Eine Vorbemerkung betrifft die Post-Universaldienstleistungen. Hier sind zwei wichtige Stichworte genannt worden. Das war zum einen der Hinweis auf das Stichwort „Grundversorgung“. ({0}) Dazu haben Sie, Frau Bätzing, ausgeführt, dafür könne unter Umständen maßgeblich sein, was in den AGBs der Unternehmen dazu festgelegt würde. Das kann meiner Einschätzung nach nicht maßgeblich sein. Denn die Allgemeinen Geschäftsbedingungen werden von den Unternehmen selbst festgelegt, sodass man im Grunde alles Mögliche hineinschreiben kann. Das kann also nie ein sachlich vernünftiges Abgrenzungskriterium zur Bestimmung des objektiven Begriffs „Grundversorgung“ sein. ({1}) Im Übrigen wäre ich auch zurückhaltend in der Einschätzung der genannten Rechtsanwaltskanzlei. Ich habe vielfältig mit ihr zu tun gehabt. Sie hat in meinem beruflichen Vorleben auch die Unternehmung Porsche bei der versuchten Übernahme von VW beraten. ({2}) Die Beratung ist nicht besonders glücklich verlaufen. Das Vorhaben ist auch mehrfach gerichtlich gescheitert. Ich würde mich also nicht unbedingt allein auf solche anwaltlichen Urteile stützen wollen. ({3}) - Dazu warten wir die Anhörung ab. ({4}) Der Kollege Volk hat ebenfalls einen sehr wichtigen Hinweis gegeben: Selbst wenn wir bestimmte Leistungen, die jetzt im Postbereich angeboten werden, aus der Mehrwertsteuerbefreiung herausnehmen, führt das nicht notgedrungen dazu, dass in diesen Fällen die Preise steigen. In dem Bereich kommt es vielmehr zu vermehrter Konkurrenz. Wir werden dann das Gleiche wie beim Telekommunikationsmarkt erleben. Dazu ein Hinweis: Die Liberalisierung im Telekommunikationsmarkt hat dazu geführt, dass wir 1998 für ein zweiminütiges Ferngespräch noch 1,45 DM - das wären gut 73 Cent - bezahlen mussten und heute dasselbe Gespräch zum Preis von 3 Cent führen können. Das ist ein erheblicher Vorteil für alle Verbraucher in diesem Land. ({5}) Das belegt, dass das Herausnehmen von Leistungen aus der Mehrwertsteuerbefreiung nicht zu Preissteigerungen führen muss. Das Thema Mitarbeiterbeteiligung halte ich für besonders wichtig. Was Ihre Kritik angeht, Herr Gambke: Ich finde es durchaus berechtigt, die Einbeziehung der Entgeltumwandlung in die steuerliche Begünstigung zum Aufbau einer Mitarbeiterkapitalbeteiligung zu hinterfragen. Ich glaube aber, dass dies ein notwendiger Schritt ist, um die Maßnahme Mitarbeiterkapitalbeteiligung attraktiv zu gestalten und um voranzukommen. Es ist eine enorm wichtige Maßnahme, die auch die Große Koalition mit in die Wege geleitet hat. Ich zitiere an dieser Stelle sehr gern Ihren früheren Arbeitsminister Olaf Scholz, der gesagt hat, das sei ein Startschuss für eine Neuentwicklung in Deutschland und ein neues Kapitel, das mehr Gerechtigkeit schaffe und die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft stärke. ({6}) Diese Einschätzung halte ich für absolut richtig. Deswegen sollten wir alles dafür tun, dass wir mit dem Projekt Mitarbeiterkapitalbeteiligung Erfolg haben. Auch wenn noch weitere sinnvolle Vorschläge dazu gemacht werden - ({7}) - Ja, aber zum Thema Entgeltumwandlung. Deswegen war es mir wichtig, darauf einzugehen. Es ist schön, dass Sie an dieser Stelle deutlich signalisieren, diesen Weg mit uns zu gehen. ({8}) - Um Gottes Willen! Das war keine, Herr Poß. Sie hätten sorgfältig zuhören müssen. ({9}) Im Übrigen hat Herr Staatssekretär Koschyk treffend darauf hingewiesen, dass es sich bei der Mitarbeiterkapitalbeteiligung zunächst um einen relativ geringen För1656 derrahmen handelt und die Konkurrenz zur betrieblichen Altersvorsorge eher überschaubar ist. Man sollte im Blick behalten, dass die Mitarbeiterkapitalbeteiligung in der Tat etwas anderes als die Altersvorsorge oder eine normale Vermögensbildung ist. ({10}) Es bedeutet nämlich - das ist die Philosophie -, die Arbeitnehmer am Produktivkapital ihres Unternehmens und eventuell weiterer Unternehmen zu beteiligen. Ich halte das für eine enorm wichtige und grundlegende Maßnahme. Sie ist, wenn man bedenkt, dass die Kapitalintensität der Produktion in Deutschland immer bedeutender wird, ein schon fast zwingender Schritt, den wir machen müssen. ({11}) Ich möchte zwei abschließende Bemerkungen zum Thema Gleichstellung in der Besteuerung der Leasingunternehmen machen. ({12}) Ich sage ganz bewusst „Gleichstellung“. Frau Höll, so lustig das Beispiel mit dem Bäcker auch war, so unzutreffend ist es. ({13}) Denn der Bäcker ist tatsächlich, wie wir jetzt neumodern sagen, in der Realwirtschaft unterwegs. Die Leasingunternehmen sind Finanziers. Sie machen ein Finanzgeschäft und sind damit fast gleichermaßen unterwegs wie die Banken. ({14}) Bisher war es so geregelt, dass sie ausschließlich im Bereich der Finanzierung tätig sein durften. Wenn diese Unternehmen nur einen zusätzlichen Service anboten, waren sie im Grunde genommen von den gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen ausgeschlossen. Das war eindeutig nicht sachgerecht. ({15}) Das haben wir jetzt korrigiert. Ich bin überzeugt, dass wir das Richtige gemacht haben. Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Ich komme schnell zum Ende. Ich bin das hier noch nicht gewohnt. Ich bitte um Entschuldigung. Es ist deshalb so wichtig, dass wir etwas für die Leasingunternehmen tun, da sie Finanzgeschäfte für die Wirtschaft, besonders für den Mittelstand, in Deutschland machen. ({16}) Viele Mittelständler wickeln ihre Finanzierung über Leasing von Produktionsmitteln, von Fahrzeugen und anderem ab. Es macht keinen Sinn, sich über eine Kreditklemme im Mittelstand und in der Wirtschaft zu unterhalten, wenn man sich nicht auf der anderen Seite entschieden für gute Bedingungen hinsichtlich der Finanzierung gerade des Mittelstandes in Deutschland einsetzt. Ich danke Ihnen. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Dr. Middelberg, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu und wünsche Ihnen in Ihrer weiteren Arbeit viel Freude und Erfolg. ({0}) Nun schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({1}), Petra Crone, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz optimieren - Förderung und frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken - Drucksache 17/498 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPDFraktion. ({3})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen Antrag der SPD-Fraktion zum Kinderschutz. „Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz optimieren - Förderung und frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken“ lautet der Titel. Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Bundestag über den Schutz von Kindern debattieren. Zuletzt war das 2009 der Fall. Oft gaben schreckliche Fälle Anlass zur Debatte. Wir glaubten dann, ganz schnell reagieren zu müssen. Die letzte Regierung, die Regierung der Großen Koalition, hatte noch einen Gesetzentwurf zum Kinderschutz vorgelegt. Dieser wurde aber nach einigen Verhandlungen und trotz Verbesserungen nicht nur von uns, der SPD, sondern auch von der Fachwelt bzw. den Fachverbänden abgeMarlene Rupprecht ({0}) lehnt, und das aus gutem Grund; denn Kinderschutz braucht Besonnenheit, Fachwissen, Fachkenntnisse und Sachverstand und keine Schnellschüsse. ({1}) Obwohl wir versucht haben, noch etwas zu ändern, und viel Arbeit hineingesteckt haben - ich war daran beteiligt -, finde ich unsere Ablehnung gut; denn wir dürfen nicht unter tagesaktuellem Druck handeln. Das wird weder den Kindern noch unserer Arbeit gerecht. Wir müssen zudem die Fachwelt, die sich täglich mit dem Thema befasst, einbeziehen. Wir dürfen nicht von oben nach unten verordnen. Vielmehr muss der Weg von unten nach oben gehen. Das ist die richtige Vorgehensweise. Ich möchte deutlich herausstellen, dass ein Grund, warum wir das Ganze abgelehnt haben, war, dass die Balance zwischen Prävention und Intervention im Gesetzentwurf - im Gegensatz zu unserem jetzigen Antrag nicht gegeben war. Es gab kein ausgewogenes Verhältnis. Nun stellt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Prävention und Intervention die Grundlage unseres Antrags dar. ({2}) Ich möchte grundsätzlich betonen: Der größte Teil der Eltern erzieht seine Kinder gut ({3}) und gibt sich redlich Mühe. Fehler darf man machen. Schließlich sind wir alle Menschen. Manchmal brauchen Eltern Hilfen, obwohl sie alles gut machen. Die Eltern wollen Hilfen ohne Diskriminierung annehmen können. Insbesondere Eltern mit hoher Gefährdung - dazu gehören zum Beispiel Eltern mit Suchtproblematik - muss Hilfe gewährt werden. Aber im Notfall müssen auch Maßnahmen der Intervention greifen. Deshalb enthält unser Antrag ein Bündel an Maßnahmen, die ergriffen werden sollen. Bereits 2005, mit der letzten Reform, dem Kinderund Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz, haben wir den § 8 a SGB VIII, den sogenannten Kinderschutzparagrafen, verändert. Wir haben eingeführt, dass schnellere Meldungen erfolgen: Dazu braucht es aber auch Fachkräfte, die tatsächlich mit einem solchen Fall umgehen können. Auswirkungen dessen sind bisher nicht analysiert worden; zumindest liegt dem Parlament nicht vor, dass eine Auswertung stattgefunden hat. Es ist keine Schwachstellenanalyse vorgenommen worden, und nach wie vor besteht beim Kinderschutz ein Mangel an Zahlen und Statistik. Wir wollen die Umsetzung des § 8 a überprüfen und feststellen, inwieweit Handlungsbedarf gegeben ist. Das Nächste ist: Wir haben 2000, als wir die gewaltfreie Erziehung ins BGB eingeführt haben, festgestellt, dass Eltern Hilfe brauchen, also der § 16 SGB VIII die Förderung der Elternkompetenz und der Erziehungsfähigkeit beinhalten muss. Wenn man jetzt nachforscht, bemerkt man, dass das Ganze nicht wie gewollt umgesetzt wird. Auch diesen Paragrafen wollen wir genau anschauen, damit er zielgerichteter Hilfen zur Förderung der Erziehungskompetenz in den Mittelpunkt stellt. Wir haben eine weitere Schwachstelle entdeckt. Sie besteht darin, dass gefährdete Eltern und deren Kinder häufig Ortswechsel vornehmen und umziehen. Damit es besser klappt und die Hilfe wirklich nahtlos und ohne Lücke übergeht, müssen wir Wert darauf legen, dass die Zuständigkeitswechsel reibungslos funktionieren. Wir werden nicht fordern, dass man ein entsprechendes Verfahren genau festschreibt. Meines Erachtens werden die Fachleute wissen, wie es auszugestalten ist. Wir müssen jedoch darauf achten, dass diese Schwachstelle ausgemerzt wird. ({4}) Wichtig ist - das ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz seit 1991 in Westdeutschland festgeschrieben; ich werde nicht müde, es zu sagen -, dass alle am Wohlergehen des Kindes Beteiligten zusammenarbeiten. Diese Kooperation ist gesetzlich verankert. Wir wollen, dass alle Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, die ihre Berufsgruppe betreffende Gesetzgebung noch einmal daraufhin überprüfen, an welchen Stellen die Kooperation so wie im Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichtend festgeschrieben werden kann. Das ist im Sinne einer guten Kooperation und schnellen Hilfe wichtig, damit sich keine Berufsgruppe und niemand sonst davonstehlen und sagen kann, das interessiere ihn nicht. Dazu gibt es gute Beispiele über das Nationale Zentrum Frühe Hilfen, das festgestellt hat, wo es klappt, zum Beispiel in RheinlandPfalz mit dem Projekt „Guter Start ins Kinderleben“, in dessen Rahmen man die Kooperation beispielhaft umsetzt. ({5}) - Ja, auch in Bayern. Das wollte ich gerade sagen; ich komme ja aus Bayern. Dort gibt es die KoKis, die Koordinierenden Kinderschutzstellen. Ich nenne nur einige gute Beispiele; es gibt im Bundesgebiet viele davon. Ganz wesentlich ist Folgendes: Kinderschutz ist natürlich Aufgabe aller am Leben von Kindern Beteiligten, aller mit Kindern Lebenden, zuallererst Aufgabe der Eltern; an sie gerichtet habe ich schon Dank gesagt. Aber auch Erzieherinnen und Erziehern, Lehrern und Lehrerinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendämter danke ich hier noch einmal ausdrücklich; denn sie stehen immer vor der Alternative, zu schnell oder zu spät zu intervenieren, und laufen somit ständig Gefahr, von diesen Mühlsteinen zerrieben zu werden. Diesbezüglich richtige Entscheidungen erfordern eine hohe Qualifikation; auch darauf müssen wir achten. ({6}) Kinderschutz ist aber nicht nur für diese Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern wichtig, sondern für alle, weil es eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und Aufgabe ist. Deswegen müssen die Rechte der Kinder auf Schutz, Förderung, Beteiligung und kindgerechte Lebensverhältnisse in dem Gesetz niedergelegt werden, in dem all das niedergeschrieben ist, was die Gesell1658 Marlene Rupprecht ({7}) schaft als wichtig für das Zusammenleben befindet, nämlich im Grundgesetz. Packen wir das Ganze deshalb gemeinsam an. Unsere Kinder haben es verdient, dass wir uns mit großer Ernsthaftigkeit und gegenseitigem Respekt ihrem Aufwachsen in Wohlbefinden widmen und uns darum kümmern. Ich bin bereit. Positive Signale habe ich von der gestrigen Anhörung aus dem Ministerium bekommen. Wenn dies der Startschuss für ein gemeinsames Finden von Lösungen für unsere Kinder ist, dann bin ich guten Mutes, dass wir es hinbekommen. Danke schön. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Rupprecht, ich glaube, dass wir in vielen Punkten übereinstimmen. Wir konnten eben in unseren Reihen eine Verständigung darüber herstellen, was Sie inhaltlich gesagt haben. Wir hoffen, dass wir, was den Kinderschutz betrifft, zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Ich bedauere, dass der Entwurf eines Kinderschutzgesetzes, der lange vorbereitet worden ist und nicht erst gegen Ende der letzten Legislaturperiode gerade noch auf den Tisch gelegt worden ist, sondern der am 17. März letzten Jahres von der Bundesregierung verabschiedet und dem Parlament zugeleitet worden ist, nicht Gesetz geworden ist. Ich finde aber auch, dass die Diskussion, die jetzt neu - auch durch Ihren Antrag entstanden ist, nützlich sein kann, und glaube, dass wir zu einem guten gemeinsamen Ergebnis über die Parteigrenzen hinweg kommen können. ({0}) Es gibt natürlich schon Unterschiede und Versuche, diese klarzumachen. Es geht in dem Kinderschutzgesetz um die Organisierung des Kinderschutzes. Es geht nicht um neue Straftatbestände, deren Einführung hin und wieder verlangt wird. Wir haben in der zurückliegenden Zeit alle möglichen Lücken, die sich aufgetan haben, nach unserer Auffassung geschlossen. Wir haben das Sexualstrafrecht verschärft, und wir haben die Sicherungsverwahrung eingeführt, über die wir allerdings aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember des letzten Jahres neu nachdenken müssen. Die Sicherungsverwahrung ist eine echte Maßnahme der Prävention. Es kann nicht sein, dass potenzielle Straftäter frei herumlaufen und unsere Kinder diesen Straftätern ausgesetzt sind. Der Staat muss die Kinder schützen. Deswegen brauchen wir die Sicherungsverwahrung. Ich meine, dass die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu sehr von dem Gedanken des Strafrechts ausgegangen sind. Für uns ist das eine Maßnahme der Prävention, und die wollen wir beibehalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Weiteres: Sie wollen die Kinderschutzrechte oder die Kinderrechte - das ist nicht so ganz deutlich geworden - in die Verfassung aufnehmen und berufen sich dabei in Ihrem Antrag auf die Kinderrechtskonvention der UNO aus dem Jahr 1989. In der Tat steht dort, dass die Kinder genau dieselben Rechte haben wie auch die Erwachsenen. Es gibt keinen Unterschied zwischen Mensch und Mensch. Die Rechte der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger, sind durch das Grundgesetz hinreichend gesichert. Deswegen ist es nicht notwendig, dass wir Kinderrechte eigens ins Grundgesetz schreiben, zumal wir immer dann, wenn wir spezielle Rechte in das Grundgesetz aufnehmen, verengen und nicht ausweiten. Jedenfalls besteht die Gefahr dazu. Deswegen bin ich der Auffassung, wir sollten die Verfassung in dieser Frage nicht bemühen, sondern wir sollten unser Augenmerk insbesondere auf dieses Kinderschutzgesetz richten und in dieses alles hineinbringen, was möglich und notwendig ist, um zu einem guten Ergebnis zu kommen. ({1}) Frau Rupprecht, Sie haben mit Recht angesprochen, dass die meisten Familien die Kinder richtig erziehen und dass der Schutz der Kinder in den Familien am besten gewährleistet ist. Das geht auch aus dem Übereinkommen der UNO hervor. Die Familie gilt es zu schützen und zu stärken. Dabei wird nicht die sehr wolkige Definition zugrunde gelegt, dass Familie dort ist, wo füreinander Verantwortung entsteht, sondern Familie im engeren Sinn ist dort, wo Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind. Diese Sorge der Eltern für ihre Kinder ist das elementare Recht der Eltern. Das sollten wir nicht verniedlichen oder verwässern. Es geht um den Schutz auch des Elternrechts in dieser Frage. Dieser ist insbesondere dann zu wahren, wenn das Jugendamt eine Eingriffsmaßnahme treffen will. Wir wollen in diesem Gesetz die Prävention und die staatliche Intervention vorsehen. Dort, wo eine Intervention vonnöten ist, weil die Gefährdung des Kindes nur durch einen Eingriff verhindert werden kann, muss immer wieder mit dem Recht der Eltern auf Sorge für das Kind, auf Kontakt mit dem Kind abgewogen werden. Es darf nicht so weit führen, dass man glaubt, ein Kind nur auf irgendeinen Hinweis hin aus einer Familie herausholen zu dürfen. Hier muss mit sehr viel Sensibilität gearbeitet werden. Sie ist in den meisten Fällen vorhanden. Wir müssen bei einem solchen Kinderschutzgesetz berücksichtigen, dass die Ärzte und auch die Hebammen - sie haben zu Neugeborenen und vor allen Dingen zu den Müttern der Neugeborenen einen engen Kontakt verpflichtet werden, sich aus ihrer Tätigkeit ergebende Hinweise an das Jugendamt weiterzugeben. Wir sollten auch eine Regelung treffen - Sie haben sie angesprochen -, dass die Jugendämter untereinander Kontakt aufnehmen, wenn eine Familie in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendamtes zieht. Dann muss eine Verpflichtung bestehen, dass die entsprechenden Unterlagen so schnell als möglich dem zuständigen Jugendamt zukommen. Notwendig ist auch, dass die Jugendämter ein Recht zur Einsichtnahme in das Bundeszentralregister haben, wenn ein schwerwiegender Verdacht gegeben ist. Wir müssen eine Regelung finden - in Bayern und auch in Rheinland-Pfalz gibt es sie bereits -, dass von den Ärzten Früherkennungsuntersuchungen vorgenommen werden. Wie ich bereits angesprochen habe, müssen wir den Hebammen, die zu den jungen Familien, insbesondere zu den jungen Müttern, einen engen Kontakt haben, die Möglichkeit verschaffen, über eine längere Zeit, etwa über sechs Monate, tätig zu sein und einen entsprechenden Ausgleich zu erhalten. Wie ich eingangs gesagt habe, hoffe ich, dass wir zusammen zu einem guten Ergebnis kommen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Dittrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Woran denken die Bürger im Lande, wenn sie das Wort „Kinderschutz“ hören? An vernachlässigte Kinder und an das Jugendamt. Das Jugendamt wird hauptsächlich als Eingreifbehörde gesehen, und die Kindeswohlgefährdung wird viel zu häufig als individuelles Versagen der Eltern dargestellt. Dies blendet aber aus, dass die Eltern in die Lage versetzt werden müssen und Bedingungen vorfinden müssen, um die Bedürfnisse ihrer Kinder nach körperlichem und seelischem Wohlergehen, Anregung und Spiel, Schutz und Geborgenheit befriedigen zu können. Die Situation vieler Familien ist aber gerade durch Unsicherheit und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. Wer heute noch beschäftigt ist, kann morgen schon entlassen sein. Die berüchtigten Hartz-Gesetze und die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse haben dazu geführt, dass eine Familienplanung erschwert wird. In Hannover wird zum Beispiel bei Continental die LkwReifenherstellung komplett wegfallen. Bei VW wurden zuerst die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter von Entlassung bedroht, und selbst bei der Stadtverwaltung, also im öffentlichen Dienst, werden Auszubildende erstmals nicht übernommen. Die Drangsalierung bei den Jobcentern macht den Menschen Angst und beschädigt ihre Würde; denn sie können nichts dafür, dass ihr Arbeitsplatz wegfällt. Meine Damen und Herren, glauben Sie denn, dass diese soziale Verunsicherung an den Eltern und an den Kindern spurlos vorübergeht? Kinder reagieren sensibel auf die Ängste ihrer Eltern. Psychische Erkrankungen und Suizide bei Kindern nehmen zu. Dies ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung in unserer Gesellschaft. Die Jugendhilfe mit ihren pädagogischen und präventiven Angeboten kann Kinder und Eltern ermutigen; sie kann sie zum Jobcenter begleiten. Aber Arbeitsplätze kann die Jugendhilfe nicht hervorzaubern, auch keine kleineren Klassen, nicht mehr Erzieherinnen oder Lehrpersonal an Schulen. Die Jugendhilfe kann als Teilbereich der Sozialpolitik die gesamtgesellschaftliche Lage nicht ausgleichen. Ich meine, dass der Ansatz für einen wirksamen Schutz der Kinder vor allem in der Verbesserung der Lebenslagen der Familien liegt. ({0}) Wir leben im Zeitalter der Patchworkfamilien; deshalb muss auch das Steuerrecht auf diese Familienform, auf Alleinerziehende und Unterhalt zahlende Väter ausgerichtet sein. ({1}) Die Kinder profitieren dann von einem höheren Einkommen. Seit Jahren, und nicht erst mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, werden im öffentlichen Bereich Steuergelder sozial ungerecht umverteilt, umverteilt von unten nach oben. Steuerliche Entlastungen für Unternehmen und die Rettung der Großbanken werden mit Kürzungen im sozialen Bereich bezahlt. Von diesen Einsparungen werden auch die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Jugendämtern nicht verschont. Durch die Kürzungen in den Jugendämtern ging der präventive Charakter der Jugendarbeit verloren. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz stellt aber gerade die Prävention in den Vordergrund. Es ist bekannt, dass bei Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge der Anteil der ratsuchenden Familien und die Fallzahlen ansteigen. Durch stetigen Personalabbau entstand eine Überlastung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Allgemeinen Sozialen Diensten. ({2}) Nicht einmal die Fälle von Kindesmisshandlung mit Todesfolge, die sich bundesweit häufen, führen zu einer flächendeckenden Aufstockung in den Allgemeinen Sozialen Diensten. Ja, es gibt bis heute keine an die Einwohnerzahl angelehnten Mindeststandards für die notwendige bezirkliche Sozialarbeit. Auf Überlastungsanzeigen von Kolleginnen und Kollegen in den Jugendämtern wurde unzureichend reagiert. Es kam damit zum Organisationsversagen im Jugendamt Bremen. Den Tod des misshandelten zweijährigen Kevin, festgestellt am 10. Oktober 2006, werden wir wohl nicht vergessen. ({3}) Mit dem großen Kitastreik im Sommer letzten Jahres forderten die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen bessere Arbeitsbedingungen für sich und damit eine qualitativ bessere pädagogische Betreuung. Die frühen Hilfen können nur dann als Prävention verstanden werden, wenn sie allen Eltern zugutekommen und nicht nur für Risikofamilien gelten. Sie beseitigen aber nicht den Personalmangel in den Jugendämtern. Nicht nur Eltern müssen in die Lage versetzt werden, geduldig mit ihren Kindern umzugehen, auch die pädagogischen Kräfte im öffentlichen Dienst benötigen mehr Zeit, damit sie sich beständig den Familien zuwenden können und nicht erst kommen, wenn es brennt. ({4}) Hierzu sind erforderlich - das waren die Forderungen aus dem Streik -: eine Verdopplung des Personals in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter, Zeit für die soziale Arbeit im Stadtteil und Zeit für die Beratung der Kinder und Eltern. ({5}) Diese Forderungen sind der Familienministerin wohlbekannt. Der beste Kinderschutz ist daher nach unserer Meinung eine solidarische Sozialpolitik ohne Ausgrenzung. ({6}) Wir sind uns wohl alle einig, dass Kinder die Zukunft der Gesellschaft sind. Daher müssen wir uns fragen lassen: Wie sieht eigentlich eine sichere Zukunft aus? Welche Welt wollen wir unseren Kindern vererben? - Auf jeden Fall eine Welt ohne Krieg in Afghanistan; eine Welt mit Löhnen, die zum Leben reichen, und sozialer Absicherung; eine Welt ohne Atomkraftwerke und ohne Klimakatastrophe. Diese Welt für unsere Kinder zu schaffen, das ist unsere Aufgabe. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Dittrich, wenn ich es richtig sehe, war das Ihre erste Rede hier. Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit. ({0}) Nun hat das Wort die Kollegin Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. ({1})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kinderschutz, also Kinder vor Vernachlässigung und Misshandlung zu schützen, ist uns nach wie vor ein sehr zentrales Anliegen. In der Tat gab es in der letzten Legislaturperiode dazu eine entsprechende Initiative, und es wurde uns ein Gesetz vorgelegt. Aber ich finde es richtig und wichtig und gut, dass wir jetzt noch einmal darüber reden und damit auch die Chance haben, Verbesserungen in diesem Gesetz vorzunehmen. Ich freue mich sehr - das war insbesondere uns von der FDP ein großes Anliegen -, dass dieses Gesetz jetzt zwei Schwerpunkte beinhalten soll, nämlich Prävention und Intervention. ({0}) Zum Thema Prävention. Uns muss eines immer bewusst sein: Ein Kind, das in seinem Leben einmal missbraucht oder misshandelt worden ist, wird das nie mehr los. Das begleitet einen Menschen ein Leben lang. Auch als Erwachsener hat man unter den Folgen von Misshandlung und Missbrauch, die man als Kind erlebt hat, zu leiden. Deswegen ist es so wichtig, dass wir präventiv tätig werden: damit es erst gar nicht dazu kommt, damit ein Mensch nicht sein Leben lang leiden muss. Dazu gibt es viele Vorschläge, auch von der SPD, die wir ausdrücklich begrüßen. Neben diesen Vorschlägen möchte ich ein weiteres Thema ansprechen, das meines Erachtens häufig zu kurz beleuchtet wird. Oftmals werden Erwachsene zu Tätern, die selbst Misshandlung oder Missbrauch erfahren haben. ({1}) Von daher ist es ganz wichtig, die Erwachsenen in den Blick zu nehmen und diese, wie wir es im Koalitionsvertrag formuliert haben, stark zu machen. Dazu zählen zum Beispiel Verbesserungen bei der psychischen Aufarbeitung von selbst erlebter Misshandlung oder erlebtem Missbrauch. Dazu zählt aber auch, zu lernen, wie man mit Kindern gewaltfrei umgeht, wenn man selbst Gewalt erfahren hat. Deswegen sind bei der präventiven Aufgabe die Elternbildung und das Starkmachen der Eltern meines Erachtens ein sehr wichtiger Punkt. ({2}) Frau Rupprecht und Herr Geis haben bereits einige Punkte genannt. Familienhebammen können in der Eltern-Kind-Beziehung bzw. für die werdenden Eltern eine wichtige Rolle spielen, weil sie an den Familien nahe dran sind, weil sie niedrigschwellig in den Familien tätig werden. Es können vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden, die eine Stigmatisierung vermeiden. Denn jeder von uns hat manchmal eine Frage; jeder erlebt vielleicht einmal eine Überforderungssituation. In einer solchen Situation möchte man nicht als jemand stigmatisiert werden, der mit dem Kind nicht umgehen kann. Deshalb ist eine Familienhebamme, zu der man schon früh Vertrauen aufbauen kann, eine wichtige Ansprechpartnerin. Auch die Grünen haben in der vergangenen Legislaturperiode hierzu schon Anträge gestellt. ({3}) Eine weitere wichtige präventive Maßnahme ist die Verbesserung der Zusammenarbeit aller am Aufwachsen der Kinder Beteiligten. Wir hören von den Jugendämtern immer wieder, dass viele Angst haben, die Probleme, die sie mit manchen Fällen haben, mit anderen zu besprechen. Diese Angst müssen wir ihnen nehmen, indem wir ihnen sagen, dass wir hinter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendämter stehen. Und nicht nur das: Unsere Aufgabe ist es vielmehr auch, in den Ländern dafür zu sorgen, dass die Jugendämter personell und finanziell besser ausgestattet werden. Denn sie wollen ihre Aufgaben erfüllen; aber sie geraten an ihre Grenzen. Deswegen müssen wir sie unterstützen. Dazu rufe ich Sie alle auf, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir dürfen die Jugendämter nicht im Stich lassen; denn sie sind diejenigen, die diese Arbeit hervorragend leisten. ({4}) Verschiedene Projekte sind schon angesprochen worden. In Augsburg beispielsweise war immer wieder „Hallo Baby“ ein Thema. Da werden Begrüßungsbriefe geschrieben, was wir nur anerkennen können. Fast wäre das aus datenschutzrechtlichen Gründen gescheitert. Aber auch in Bayern ist jetzt festgestellt worden, dass dieser Weg durchaus möglich und gangbar ist. Die Politik - das will ich betonen - steht hinter dieser Möglichkeit. Zum Thema Intervention. Auch das ist ein wichtiges Stichwort; denn wenn es zu spät ist für die Prävention, muss man einschreiten. Dafür brauchen wir den Staat, einen starken, handlungsfähigen Staat - hinter dem auch wir als FDP stehen -, der sich schützend vor die Kinder stellt. ({5}) Natürlich zählt aber nicht nur der Staat; vielmehr zählen wir alle. Das Stichwort lautet: Hinsehen, nicht wegsehen! Das ist ein Anliegen, das durch die Berichterstattung der letzten Jahre in unser aller Köpfe gebrannt wurde: dass wir alle Zivilcourage zeigen, hinschauen, aufmerksam sind, beobachten und dann entsprechend einschreiten und möglicherweise Fälle melden. Aber beim Einschreiten sind natürlich auch die Ärzte gefragt. Uns als FDP ist es ganz wichtig, dass einerseits die Ärzte in einer rechtssicheren Situation sind und andererseits das Verhältnis von Patienten, also Eltern mit Kindern, zum Arzt nicht durch die Angst belastet wird, beim Arzt kein Vertrauensverhältnis vorzufinden. Von daher begrüße ich es, dass die Ministerin gestern mit vielen Verbänden gesprochen hat. Der Koalition wird es ein Anliegen sein, entsprechende Regelungen zu finden, die beides im Blick haben; dies ist meines Erachtens wichtig. ({6}) Uns war aber auch wichtig: Wir brauchen Qualitätsstandards in der Kinder- und Jugendhilfe. Wir brauchen in regelmäßigen Abständen eine Evaluation in der Kinder- und Jugendhilfe, und wir müssen, last, but not least, die Forschung ausbauen. Es gibt noch viel zu tun. Wir haben dies nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrieben, sondern bereits erste Schritte gemacht. Ich würde mich freuen, wenn wir in großem Konsens ein neues Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen würden. Ich finde nicht nur den Namen wunderschön, sondern auch den Inhalt immer besser. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr gut, dass wir in dieser Legislatur schon sehr frühzeitig anfangen, dieses Thema zu bearbeiten; denn wir alle wissen, es besteht großer Handlungsbedarf. Wir haben in diesem Bereich sehr viel zu regeln. Leider ist die Vorlage des Entwurfs eines Bundeskinderschutzgesetzes in der letzten Wahlperiode schiefgegangen, weil das Ministerium nicht in der Lage war, die Bedenken der Fachleute mit aufzunehmen. Es ist sehr viel Porzellan zerschlagen worden. ({0}) Wir müssen nun das Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. ({1}) Dazu gehört, dass wir unser Handeln sehr breit anlegen. Ich möchte jenseits dessen, was wir grundsätzlich brauchen, auf das Bundeskinderschutzgesetz eingehen. Wir müssen einen soliden Vorschlag machen. Solide heißt, dass wir den Mut haben sollten, bereits vorhandene Instrumente zu evaluieren. Ich spreche da ganz besonders § 8 a SGB VIII an. Er stellt eine richtige Verbesserung im Bereich der Kinderschutzstrukturen dar. Wir müssen uns die Ergebnisse aber erst einmal anschauen, bevor wir vorschnell daran herumwerkeln. ({2}) Denn wir müssen den Menschen Handlungssicherheit in diesem Bereich geben. Zur Prävention. All das, Frau Gruß, was Sie dazu gesagt haben, wissen wir im Grundsatz bereits. Wir brauchen aber auch einmal eine Vorlage zur konkreten Umsetzung und sollten nicht nur darüber reden. Im Moment liegt dazu leider nicht sehr viel vor. Ich weiß nicht, ob uns die heutige Debatte weiterbringt. Der Antrag, den die SPD vorgelegt hat, beinhaltet zwar sehr viele und richtige Punkte, ein paar wesentliche Dinge fehlen aber. Diese muss man aufnehmen. Sie beziehen sich zum Beispiel auf den 13. Kinder- und Jugendbericht. Über diesen Bericht hätten wir eigentlich schon in der letzten Wahlperiode diskutieren können. Dies haben wir nicht gemacht. Man könnte wahlkampftechnische Gründe dahinter vermuten; aber ich will natürlich nichts Böses unterstellen. Jetzt ist es aber an der Zeit, diesen Bericht vorzulegen, über ihn öffentlich zu diskutieren und die kritischen Punkte in den Mittelpunkt zu rücken. Man sollte dies alles nicht noch mehr in die Zukunft verschieben. Denn wenn es solche Berichte gibt, dann sollten wir den Anstand haben, uns mit den Ergebnissen auch dann zu befassen, wenn sie der Regierung oder uns nicht passen. ({3}) Ein weiterer Punkt ist: Sie geben in diesem Antrag zwar den Sachstand der Fachdiskussion wieder; das ist gut. Aber entscheidende Fragen bleiben nach wie vor unbeantwortet. Gerade da besteht Handlungsbedarf. Ein Beispiel ist die Problematik im Hinblick auf die Schnittstellen der verschiedenen Leistungsebenen. Das zu benennen, ist einfach. Aber in welchem Gesetz könnten wir dies bearbeiten und welche detaillierten Lösungen formulieren? Es gibt ein paar Modelle; aber die reichen bei weitem nicht aus. Die Regierung ist uns letztendlich einen Gesetzentwurf schuldig. Hier müssen wir dringend handeln; die Problematik nur zu erkennen, reicht nicht. Zur Familienbildung. Sie sprechen von verbindlichen Leistungen. Jetzt müssen wir aber definieren, was verbindliche Leistungen sind. Sollen diese immer noch freiwillig gewährt werden, oder wollen wir einen Rechtsanspruch vorsehen, zum Beispiel in § 16 SGB VIII. Das wäre eine gute Sache; Rechtsansprüche kosten aber Geld. Auch das muss man einbeziehen. Man muss klar Farbe bekennen und darf sich nicht hinter Allgemeinplätzen verstecken. Sehr gut ist es, dass die Jugendhilfe angesprochen wird. Sie benötigt natürlich Ressourcen. Sie braucht Leute. Es wird mehr Zeit für die Kinder, die Familien und die Eltern benötigt. Der Ausbau der Kapazitäten ist notwendig. Das wird natürlich immer schwieriger, wenn wir den Kommunen den letzten Atem nehmen, über den sie noch verfügen, um in diesem Bereich überhaupt handeln zu können. Wir wissen doch, dass gerade die freiwilligen Aufgaben, um die es auch bei der Jugendhilfe geht, in Haushaltssicherungsplänen als Erste gekürzt werden müssen. ({4}) Wenn Sie den Kommunen wirklich alle Handlungsspielräume nehmen, dann können wir im Bereich der Jugendhilfe nicht immer mehr verlangen. Deshalb bin ich an diesem Punkt ganz stark dafür, dass wir in diesem Bereich den Kommunen den Rücken stärken. ({5}) Was den Kitabereich angeht, reicht es nicht aus, nur über quantitative Aspekte zu reden - das ist wichtig -; aber wir müssen auf der Bundesebene endlich einmal anfangen, auch über Qualität, besonders die Strukturqualität, sowie darüber zu reden, was wir vielleicht im Kinder- und Jugendhilfegesetz dazu unternehmen können. Qualität ist das A und O, wenn es um die frühe Förderung und um besseren Schutz und Stärkung der Kinder geht. Zu den Hebammen: Die Grünen haben schon 2006 hierzu einen sehr guten Antrag eingebracht. Wenn Sie ihn gut finden, dann übernehmen Sie es. Wunderbar, ich freue mich. Hauptsache, es passiert in diesem Bereich etwas, und dies ist notwendiger denn je. Natürlich gibt es auch Gesetzeslücken. So müssen etwa bei der Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Gesundheitssystem und Behindertenhilfe die gesetzlichen Regelungen nachjustiert und geschärft werden. Ich halte es auch immer noch für wichtig, dass wir umdenken. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel und müssen die Kinder in den Mittelpunkt stellen. Dies heißt für mich nach wie vor, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen und eigenständige Rechte für sie zu sichern, damit wir im Bereich des Kinderschutzes selbstbewusst handeln können und uns nicht nur auf unsicherem Terrain bewegen. Dies halte ich für sehr notwendig. ({6}) Noch eines zur Regierung: Sie haben bis jetzt noch nicht viel Erhellendes gemacht. Sie machen es immer hinter den verschlossenen Türen und sozusagen geheim. Bringen Sie doch ein bisschen Licht! Warum verstecken Sie sich? Sie haben vielleicht etwas Gutes; dann zeigen Sie es uns. Was Sie aber an Pressemitteilungen herausgegeben haben, ist bisher nicht gut. Sie wiederholen die Fehler, die Frau von der Leyen gemacht hat: die Informationsweitergabe von Berufsgeheimnisträgern zu thematisieren und eine anständige Evaluation zu § 8 a SGB VIII überhaupt nicht anzusprechen. Das ist ein Fehler. Frau von der Leyen ist genau an diesen Punkten gescheitert. ({7}) Wenn Sie nicht scheitern wollen, dann distanzieren Sie sich von Ihrer eigenen Presseerklärung. Das ist der falsche Weg. Ich teile hier die Einschätzung der Praktiker und der Fachleute. Diese Ideen sind nutzlos und kontraproduktiv. Bitte vermeiden Sie dies! ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Katharina Landgraf für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD ruft in mir widersprüchliche Gefühle hervor. Es geht um ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Aber er macht mich wütend und traurig zugleich. Warum? Wir wollen alle mehr Schutz für die Kinder: mehr Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung. Dieses Ziel hätten wir im vorigen Jahr schon fast erreicht. Aber auf der Zielgerade haben Sie, meine Damen und Herren von der SPD, uns alle ausgebremst. ({0}) Diese Verschleppung zulasten der Kinder war und ist unverantwortlich. Das müssen Sie sich zu Recht vorwerfen lassen. Dass Sie hier und heute diesen Antrag stellen, der viele Regelungen des von Ihnen boykottierten Kinderschutzgesetzes von damals enthält, ist der Gipfel. Dies könnte man auch als Scheinheiligkeit pur bezeichnen. Aus meinem christlichen Verständnis vermute ich aber, zumal ich Sie sehr schätze, Frau Rupprecht, dass es sich um späte Reue und Einsicht handelt. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rupprecht?

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte, Frau Rupprecht.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Landgraf, in der gestrigen Anhörung des Ministeriums ist deutlich geworden, dass alle aufgeatmet haben, dass wir keinen Schnellschuss gemacht hatten, weil in dem Entwurf zum Kinderschutzgesetz im Sommer Intervention und Repression die wesentlichen Elemente waren. Mittels eines Antrags haben wir versucht, noch andere Elemente nachzuschieben; dies ist aber gescheitert. Es gebietet der Respekt voreinander, dies zu erkennen. Wir waren der Auffassung, dass es besser ist, etwas nicht zu machen, bevor man es falsch macht. Für mich ist wirklich die Frage, ob Sie den Gesetzentwurf gut gekannt haben, der im Sommer vorlag. Wenn man ihn und alle Bemühungen, an denen ich auch beteiligt war, gut gekannt hat, kann man ihn so nicht als - ({0}) - Ich habe gefragt, ob sie ihn gekannt hat. ({1}) - Ich weiß, ich kann eine Erklärung abgeben; das weiß ich alles. Trotzdem wäre es mir wichtig, wenn das noch einmal deutlich wird. Gestern wurde in der Anhörung des Ministeriums deutlich klar: Es ist gut. Heute hat mir jemand gesagt: Sie haben darauf angestoßen, dass es nicht durchgejagt wurde. Der neue Staatssekretär, Herr Hecken, hat in der Anhörung gesagt, es ist gut, dass wir jetzt neu starten können und dass wir all das, was nicht gemacht wurde, einarbeiten können. Ich glaube, das sollten wir alle zur Kenntnis nehmen.

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Rupprecht, Sie wissen, dass ich Sie schätze. Wir verstehen uns gut. In einigen Fragen bin ich aber anderer Meinung. Ich hätte es besser gefunden, wenn wir es gleich verabschiedet hätten; denn die Zeit eilt, und wir müssen uns zum Schutz vor weiterer Vernachlässigung endlich auf eine Linie einigen und Gesetze verabschieden. Die Themen, die gestern besprochen wurden, kann man nachbessern. Es war von § 8 a SGB VIII die Rede gewesen, der sowieso evaluiert wird. ({0}) - Genau. Das kommt jetzt dazu. Ich sehe ein, dass das gut so ist. ({1}) Aber dass wir es nicht geschafft haben, ärgert mich wirklich. Ich denke, jetzt müssen wir wirklich ran. ({2}) Das will ich in meinen Ausführungen gleich darlegen. In diversen Details bestätigen Sie unseren alten Gesetzentwurf für einen wirksameren Kinderschutz. Zum Beispiel fordern Sie uns auf, die Regelung des § 86 c SGB VIII - hierbei geht es um das sogenannte Jugendamt-Hopping bei Wohnortwechsel - zu überarbeiten. Darüber hat schon der Herr Kollege Geis gesprochen. Die Forderung nach Kinderrechten im Grundgesetz ist meiner Meinung nach nicht schädlich, aber auch nicht wirklich hilfreich. Es ist eine symbolträchtige Verankerung der Rechte, die den Kindern ohnehin schon nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zustehen. Das stellen Sie in Ihrem Antrag übrigens auch fest. Welchem Kind hilft es, wenn im Grundgesetz seine Rechte verankert sind, aber die Eltern nicht danach handeln? Was wirklich hilft, sind klare bundesgesetzliche Regelungen, wie wir sie mit einem neuen Kinderschutzgesetz schaffen werden. In erster Linie helfen starke und mündige Eltern. Vieles in Ihrem Antrag ist richtig, was sicher daran liegt, dass es schon in unserem Entwurf eines Kinderschutzgesetzes aus der letzten Wahlperiode stammt. Doch es ist auch die reinste Polemik darin zu finden: Dass Sie beispielsweise das Wachstumsbeschleunigungsgesetz als Initiative bezeichnen, welche den wirksamen Kinderschutz konterkariert, entbehrt jeglicher Logik. Die Forderung der Bundesregierung, gemeinsam mit den Ländern den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige voranzubringen, kann getrost als obsolet bezeichnet werden. Genau dies ist bereits in vollem Gange. Alles, was darüber hinausgeht, ist Ländersache. Die Hauptsache ist, dass wir unser Ziel, bis 2013 für 35 Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, erreichen. Nach der Anhörung zum Kinderschutzgesetz vom Mai 2009 hatten wir einige Regelungen im Gesetzentwurf im Sinne der Experten verändert, Frau Rupprecht. Selbst mit diesen Änderungen konnte die SPD nicht leben. Wir stehen nach wie vor dazu. Darum erläutere ich jetzt, was in Ihrem Antrag alles fehlt und was wir im Kinderschutzgesetz beschließen werden. Es besteht nun aus zwei Säulen: Prävention und Intervention. Ich werde zwei Punkte aus dem Bereich der Prävention hervorheben, die ich für besonders wichtig erachte. In Zukunft soll für alle Personen, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen, die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses erforderlich sein. Dieses listet - anders als das einfache Führungszeugnis - auch einschlägige Straftaten im Bagatellbereich auf. Außerdem werden wir die Rechtsgrundlagen für Hebammen und Familienhebammen verbessern. Damit schaffen wir niedrigschwellige und frühe Hilfen für Familien. Dazu gehört natürlich auch der Hausbesuch, bei dem vor allem das Kind selbst, aber auch seine persönliche Umgebung in Augenschein genommen werden. ({3}) Im Bereich der Intervention muss vor allem Rechtssicherheit für Ärzte und andere Berufsgeheimnisträger hinsichtlich der Weitergabe von Informationen geschaffen werden. Dies haben uns auch die Experten bei der damaligen Anhörung zum Kinderschutzgesetz bestätigt. Die Lösung ist eine bundeseinheitliche Norm. Eine solche ist für die wirksame Vernetzung unerlässlich. Das sehen sowohl Ärzte als auch Kriminalbeamte so. Daher kam es vor einigen Jahren in Duisburg zur Gründung der Datenbank „Riskid“, der „RisikokinderInformationsdatei“. Das ist ein Portal, auf das nur Ärzte zugreifen können, um Informationen über Verdachtsfälle von Kindesmisshandlung auszutauschen. Durch Eingabe der Personalien kann ein Arzt erfahren, ob ein Kind schon einmal bei Kollegen vorstellig geworden ist oder ob Vorsorgeuntersuchungen eingehalten wurden. So kann man das sogenannte Doktor-Hopping stoppen und Leben retten. Allerdings ist „Riskid“ mit derzeit geltendem Recht nicht vereinbar. Gerade las ich einen sehr treffenden Satz in der Zeitschrift Der Kriminalist vom Bund Deutscher Kriminalbeamter: Ärzte dürfen sich zwar bei einem Verdacht auf Schweinegrippe austauschen, bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung gilt das aber nicht. Das müssen wir unbedingt ändern. Zusätzlich müssen die Ärzte beispielsweise durch Fortbildungen noch stärker für Anzeichen von Misshandlungen sensibilisiert werden. Erst gestern fand im Ministerium ein breit angelegtes Fachgespräch - wir sprachen schon davon - mit gut 50 Kinderschutzexperten aus Ländern, Kommunen und von Fachorganisationen zum Kinderschutzgesetz statt. Das Konzept, das von uns und dem Ministerium vorgelegt wurde, fand eine breite Unterstützung. Die Fachwelt wurde also wirklich einbezogen. Es wurde auch über Schnittstellen der einzelnen Ebenen gesprochen. Wir werden jetzt dafür sorgen, dass es bald, ohne weitere Verzögerungen zum Abschluss dieses längst überfälligen Gesetzes kommt. Das sind wir unseren Kindern schuldig. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegen Petra Crone für die SPD-Fraktion. ({0})

Petra Crone (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Kinderschutz wirksam verbessern“, das klingt nicht nur wie eine Selbstverständlichkeit. Alle Redner und Rednerinnen hier und heute haben versichert: Kinderschutz ist ihnen wichtig, wichtig, wichtig. Doch auf dem Weg zu einem optimalen Kinderschutz zeigen sich die Unterschiede; Herr Geis, auch Sie haben die festgestellt. Für die SPD heißt Kinderschutz vorrangig Prävention. ({0}) Prävention sollte so früh wie möglich beginnen; denn Prävention bedeutet Erziehung zur Eigenverantwortung. In Kindern stecken vielfältige Begabungen und Potenziale. Die können sie aber nur entfalten, wenn sie früh und individuell gefördert werden; denn Entwicklung ist umweltabhängig. Eltern wollen das Beste für ihre Kinder geben. Aber die Anforderungen an sie steigen ständig. Gleichzeitig haben sich die Familienstrukturen verändert. Sie bieten in vielen Fällen kein Hilfsnetz mehr nach dem Motto: Die Oma für den guten Rat zur richtigen Zeit. Alle Eltern - das ist unabhängig vom Verdienst - können in eine Situation rutschen, die ihnen ausweglos erscheint. Aber gerade Eltern, die in besonders riskanten Verhältnissen leben, sind auf Hilfe angewiesen. Schon seit dem 30. April 2009 liegt dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der 13. Kinder- und Jugendbericht vor. Leider wurde er im Plenum immer noch nicht behandelt. Weder Frau von der Leyen noch Frau Köhler haben ihn bisher offen debattieren lassen. Warum nicht? Etwa weil darin der Prävention ein höherer Stellenwert zukommt, als es CDU und CSU gern hätten? ({1}) Oder weil es Geld kostet, eine vernünftige und wirksame Infrastruktur aufzubauen? Die Experten fordern in diesem Bericht eine bessere Verzahnung von Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe, ohne die gesamte Verantwortung für die Jugendförderung an diese abzugeben. ({2}) Die SPD stützt diese Forderung. Wir gehen sogar darüber hinaus: Wir fordern ein spezielles Präventionsgesetz. ({3}) Wir brauchen eine Netzwerkbildung, eine Präventionskette „frühe Kindheit“, die schon mit dem Einsatz von Hebammen beginnt. Sie können sich bereits frühzeitig um die Gesundheit des Kindes im Mutterleib kümmern und auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von Mutter und Kind Einfluss nehmen - und dies flächendeckend. Damit wird ein Vertrauensverhältnis zu jungen Eltern aufgebaut, um die Schwelle bei der Suche nach Hilfe und Unterstützung so niedrig wie möglich zu halten. Darum haben wir - genauso wie Experten und Verbände den gesetzlich verpflichtenden Hausbesuch abgelehnt, Frau Landgraf, ({4}) den Frau von der Leyen vorgeschlagen hat. Wir lehnen ihn auch heute noch ab, weil er Vertrauen zerstören kann und damit kontraproduktiv ist. ({5}) In einigen Städten und Gemeinden gibt es schon jetzt vorbildliche Strukturen; das ist eben angesprochen worden. Ich aus Nordrhein-Westfalen kenne zum Beispiel das Dormagener Modell. Dort wurde ein sinnvolles Präventionsnetzwerk geschaffen; denn zu schützen sind alle Kinder vom Baby bis zum Jugendlichen. Meine lieben Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, ich habe schon eine Idee, wie das finanziert werden kann. Werfen Sie den Plan für das Betreuungsgeld auf den Müllhaufen der Geschichte; da gehört er hin, denn er ist rückwärtsgewandt. ({6}) Nehmen Sie die Milliarden in die Hand und stecken Sie sie in Kinderschutz und Kindertagesstätten. Ich habe noch eine zweite Idee: Machen Sie das Schuldenbeschleunigungsgesetz rückgängig, das die Kommunen finanziell ausblutet. ({7}) Dann bleiben sie in der Lage, ein Netzwerk von Gesundheitshilfe, Bildungswesen und Jugendhilfe aufzubauen. Die Investition in den Kinderschutz rechnet sich spätestens dann, wenn weniger Kinder in Heimen untergebracht werden müssen, wenn weniger Geld für die reaktive Gesundheitspflege ausgegeben werden muss. Um es deutlich zu sagen: Es geht nicht um freiwillige Leistungen, sondern um den ganz elementaren Schutz vor Gewalt und Vernachlässigung sowie um das jedem Kind zustehende Recht auf die Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit. Darum muss das Kinderrecht ins Grundgesetz. Denn im Grundgesetz steht das, was uns in der Gesellschaft wichtig ist. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Crone, auch für Sie war dies die erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere auch Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen für die weitere Arbeit alles Gute. ({0}) Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zukunft von Kindern ist unsere Verantwortung. Ihr Wohlergehen ist unsere Pflicht. Kinder benötigen unseren Schutz, da sie sich als schwächste Glieder unserer Gesellschaft nicht selbst schützen können: Schutz vor Vernachlässigung und vor jeglicher Form körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt. Den Kinderschutz in Deutschland haben wir in den letzten Jahren bereits deutlich verbessert, zum Beispiel durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe im Jahre 2005. Die SPD hat jedoch zum Ende der vergangenen Legislaturperiode - sicherlich auch aus wahltaktischen Gründen - ein dringend benötigtes Kinderschutzgesetz blockiert, auf das sich sogar die Ministerpräsidenten der Bundesländer parteiübergreifend geeinigt hatten und über das auf Grundlage eines Entwurfes des Familienministeriums verhandelt worden war. Dies geschah nach dem Motto: Gönnen wir der damaligen Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen nicht noch einen weiteren Erfolg in Sachen Familien- und Kinderpolitik, nachdem sie dieses Feld aus dem Schattendasein geholt hat, das es bei Rot-Grün fristete. ({0}) Nun will die SPD mit ihrem Antrag zur Verbesserung des Kinderschutzes Versäumtes wiedergutmachen. Diese Einsicht ist durchaus lobenswert, Frau Rupprecht, kommt aber reichlich spät, da die Blockade uns wichtige Monate zulasten betroffener Kinder gekostet hat. ({1}) Die Ansätze in dem Antrag der SPD sind wenig zielführend: Da wird auf einer grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten bestanden, die unnötig ist. Wir von der Union sind der Meinung, dass die im Grundgesetz bereits verankerten Kinderrechte ausreichend sind. Sie müssen nur mit Leben erfüllt werden, sprich: Es muss endlich ein Gesetz zum Schutz von Kindern verabschiedet werden. ({2}) Dies ist im Übrigen auch die Auffassung vieler Experten. Ich möchte aus Art. 6 des Grundgesetzes zitieren - in diesem Artikel geht es um Familien und Kinder -: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Jetzt kommt das Wichtigste: Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Durch eine Änderung des Grundgesetzes würden falsche Hoffnungen geweckt. Durch eine Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes lässt sich der Kinderschutz nicht verbessern. Notwendig ist vielmehr ein umfassendes Kinderschutzgesetz, das auf zwei Säulen beruht. Diese beiden Säulen sind - Frau Landgraf hat das schon gesagt - Prävention und Intervention. ({3}) Prävention heißt: Vorbeugung und Früherkennung. Ein funktionierendes soziales Frühwarnsystem von Risikofrüherkennung bis hin zu wirksamen Hilfen ist Voraussetzung für die Prävention von Kindervernachlässigung und Kindesmisshandlung. Der Kinderschutz kann sicherlich nicht allein durch ein Gesetz oder durch Einführung einer zusätzlichen Früherkennungsuntersuchung verbessert werden. Vielmehr braucht es ein ganzes Netz von Hilfen, die frühzeitig ansetzen müssen. ({4}) Vor der Geburt des Kindes, aber auch danach müssen wir den Eltern Hilfestellung geben: durch Entwicklungsbegleitung, durch Beratung über Pflege und Erziehung von Kindern und durch Frühförderung. Nur so können wir den Schutz- und Entwicklungsbedürfnissen des Kindes gerecht werden und die vorrangige elterliche Erziehungsverantwortung und -kompetenz stärken. ({5}) Der präventive Ansatz umfasst aber auch die gezielte Unterstützung von Eltern in belastenden Lebenssituationen, die spezifische Risiken für Kinder bergen können. Welches sind die wirksamsten Zugangswege zu risikobelasteten Eltern? Und sind die Hilfen, die angeboten werden, die richtigen? In unterschiedlichen Modellprojekten im Rahmen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ beschäftigen sich die Kommunen derzeit mit diesen Fragen, die insbesondere die Phasen der Schwangerschaft, der Geburt und des frühen Säuglingsalters betreffen. Erforderlich ist ebenfalls eine enge, verlässliche Vernetzung und Zusammenarbeit von Behörden, Diensten und Einrichtungen wie Kinderärzten, Hebammen, Geburtskliniken, Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Schwangerschaftsberatung, Frauenhäuser, Polizei und Gerichte. Dies ist eine zentrale Voraussetzung, um Entscheidungen qualifiziert treffen zu können. Auch hier sind noch Fragen offen: Welche Rahmenbedingungen brauchen wir, damit diese Netzwerke funktionieren? Was ist förderlich bzw. hinderlich bei der Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem, und wo gibt es Lücken in der Hilfestruktur? Im Bereich der Intervention werden wir uns zur Erhöhung der Rechtssicherheit und zum Schutze unserer Kinder für klare bundeseinheitliche Regelungen einsetzen und für die Weitergabe von Informationen an das Jugendamt im Falle von Gefährdungen des Kindeswohls. Ich freue mich daher ganz besonders, dass unsere Familienministerin, Frau Dr. Kristina Köhler, das Kinderschutzgesetz ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Meine Damen und Herren, im Interesse eines aktiven und wirksamen Kinderschutzes wünsche ich mir, dass wir trotz aller unterschiedlichen Ansichten, die hier geäußert wurden, gute, konstruktive und zielführende Arbeit leisten, damit dieses so wichtige Thema nicht in die Mühlen von Halbherzigkeiten gerät. ({6}) Zum Wohle unserer Kinder fordere ich Sie alle zur praktischen Mitarbeit auf. Ich hoffe, dass wir dieses wichtige Vorhaben bald erfolgreich zum Abschluss bringen werden. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Pols, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede sehr herzlich. Ich wünsche Ihnen in Ihrer weiteren Arbeit viel Freude und Erfolg. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/498 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Bärbel Höhn, Dr. Hermann Ott, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Regierungs- und Parlamentshandeln konse- quent am 40-Prozent-Klimaziel ausrichten - Drucksache 17/446 - Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klimaschutzgesetz vorlegen - Klimaziele verbindlich festschreiben - Drucksache 17/132 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen - Drucksache 17/522 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, dass Sie auch damit einverstanden sind. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Klimakonferenz von Kopenhagen ist gescheitert. Nun kommt es auf uns an. Die Welt braucht jetzt Vorreiter im Klimaschutz. Und Deutschland braucht die Wirtschaftskraft und die Arbeitsplätze, die eine solche Vorreiterrolle mit sich bringt. ({0}) Das heißt, die Konsequenz aus dem Scheitern von Kopenhagen kann nicht die Abschwächung der deutschen Klimaziele sein; denn das würde letzten Endes den Klimaschutz untergraben und der Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft schaden. Wir haben es im Automobilbereich gesehen: Wenn man die Trends verschläft, gefährdet man die Arbeitsplätze. Das soll uns beim Klimaschutz nicht passieren. ({1}) Deshalb habe ich mit großer Sorge gehört, wie die Bundeskanzlerin letzte Woche in ihrer Regierungserklärung das deutsche Klimaziel für 2020 infrage gestellt hat. Das Ziel ist, die deutschen Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Dazu hat die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung von diesem Pult aus gesagt: Was ich nicht zulassen werde …, ist, dass wir von 30 auf 40 Prozent gehen, andere ihre Position nicht verändern und wir anschließend etwas versprechen sollen, was wir zum Schluss realistischerweise nicht halten können. Das klingt für mich wie eine Relativierung des 40-Prozent-Ziels. Wenn es nicht so gemeint ist, liebe CDU/ CSU, können Sie heute mit einer Zustimmung zu unserem Antrag deutlich machen, dass Sie das Ziel der Reduktion um 40 Prozent weiterhin verfolgen wollen. ({2}) Wir dürfen beim Klimaschutz nicht zurückweichen, sondern müssen vorangehen. Deshalb schlagen wir im zweiten Antrag, den wir jetzt zur Abstimmung stellen, ein Klimaschutzgesetz vor. Wir wollen ein Klimaschutzgesetz, weil wir damit Klimaziele verbindlich festschreiben und präzisieren sowie ihre Erreichung regelmäßig überprüfen können. Andere Länder haben es vorgemacht: Zum Beispiel hat Großbritannien 2008 ein solches Gesetz eingeführt. Brasilien hat nach der Konferenz in Kopenhagen gesagt: Wir zeigen es der Welt; wir sind zuverlässig und setzen ein Klimaschutzziel fest. Anfang dieses Jahres ist ein entsprechendes Gesetz in Brasilien in Kraft getreten. Es wäre ein tolles Signal, wenn wir im Bundestag sagen würden: Das machen wir auch. ({3}) Ich spreche die Kollegen Göppel und Jung an, mit denen wir viele gute Sachen auf den Weg gebracht haben: Es wäre eine gute Sache, das fraktionsübergreifend hinzubekommen. Wir bieten Ihnen hier die Zusammenarbeit an. Ein Klimaschutzgesetz kann viel leisten. Bislang ist es so: Es gibt Klimaschutzziele; aber sie sind nicht mehr als politische Versprechungen. Wir wollen eine größere Verbindlichkeit der Klimaschutzziele erreichen: eine konkrete Klimaschutzstrategie, Zwischenziele, Sektorziele - etwa in den Bereichen Verkehr und Landwirtschaft - sowie mehr Transparenz und Kontrolle. Jedes Jahr muss geklärt werden: Sind wir auf einem guten Weg? Wir können nicht heute hier Versprechungen machen, von denen wir wissen, dass sie bis 2020 gar nicht eingehalten werden. ({4}) Eines kann ein Klimaschutzziel nicht: Es kann wirksame Klimaschutzmaßnahmen nicht ersetzen. Da herrscht bei der Regierung leider völlige Fehlanzeige. Herr Mi1668 nister Röttgen redet viel und schön über den Klimaschutz; aber er tut das Gegenteil bzw. gar nichts: ({5}) kein Effizienzgesetz, keine Energiesparfonds, kein Tempolimit. Stattdessen unterstützt der Minister neue, klimaschädliche Kohlekraftwerke und den Ausbau von Flughäfen. Das ist das Gegenteil von Klimaschutz. ({6}) Minister Röttgen möchte den erneuerbaren Energien die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken als Bremsklotz entgegenstellen. Das ist keine Brücke, das ist ein Bremsklotz, eine Mauer, gegen die Sie die erneuerbaren Energien fahren. ({7}) Mit der überzogenen Kürzung der Solarförderung droht Minister Röttgen ganze Branchen zu ruinieren, wie das die letzte Koalition zum Beispiel mit den Biokraftstoffen ja auch schon gemacht hat. Wir brauchen mehr Klimaschutz, und wir brauchen in diesem Bereich mehr Arbeitsplätze in Deutschland. ({8}) Wenn man weiter so wie die jetzige Bundesregierung vorgeht, dann ist Deutschland nicht Vorreiter im Klimaschutz; denn als Vorreiter im Klimaschutz brauchen wir beides: ehrgeizige Ziele und konsequentes Handeln. Das wollen wir erreichen - auch mit diesem Antrag. Wir bitten Sie um gute Beratungen im Ausschuss nach der Überweisung und darum, dass wir gemeinsam ein solches Klimaschutzgesetz auf den Weg bringen. Vielen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere mich an die Debatte vor dieser Konferenz von Kopenhagen. ({0}) Bei dieser Debatte haben wir einvernehmlich gesagt: Dieser Gipfel von Kopenhagen darf nicht scheitern. Heute stellen wir ebenfalls gemeinsam fest: Es ist zwar ein kleiner Schritt erreicht worden, aber das, was wir uns erhofft und wofür wir, die Bundesregierung und auch die Europäische Union gekämpft haben, ist nicht erreicht worden. Davon sind wir weit entfernt. Ich glaube, deshalb ist es normal, dass sich bei denen, die dabei waren, und bei denen, die diesen Prozess beobachtet haben, Ernüchterung und Enttäuschung breitmachen. ({1}) Wenn man die Konsequenzen zu ziehen hat, dann muss man aber auch die Frage beantworten, woran dieser Gipfel gescheitert ist. ({2}) Zunächst ist hier die USA zu nennen. Auch wir alle gemeinsam hatten große Hoffnungen in Präsident Obama und in die von ihm angekündigte neue Politik gesetzt, die er bei diesem Gipfel zumindestens noch nicht erfüllen konnte. Die Angebote, die die USA vorgelegt haben, kamen spät und waren unzureichend. Es ist die Volksrepublik China zu nennen, die sich gegen die Vereinbarung verbindlicher und nachprüfbarer Klimaschutzziele gewehrt hat. Nach unserem Eindruck hat sie sich sogar mehr als bei vergangenen Gipfeln dagegen gewehrt. Sie hat gesagt: Wir, China, und die anderen armen Länder müssen außen vor bleiben. Wir armen Länder dürfen nicht belastet werden. ({3}) Das alles hat dazu geführt, dass die Verhandlungen auf diesem Gipfel nicht nur schwierig waren, sondern dass die entscheidenden Ziele am Ende nicht erreicht wurden. Es ist auch eine chaotische Organisation zu nennen, durch die vieles erschwert wurde. Zu nennen ist sicherlich auch eine undiplomatische Moderation der dänischen Präsidentschaft, durch die vieles noch mehr erschwert wurde. Schließlich ist auch die eine oder andere Blockade zu nennen. Für die Motivation, solche Blockaden zu errichten, kann man zumindest teilweise Verständnis haben, im Ergebnis haben sie aber dazu geführt, dass wertvolle Zeit verloren wurde. ({4}) Ich will gar nicht bestreiten, dass ein solcher Gipfel auch Anlass sein kann, die eigene Strategie zu überdenken, aber zunächst einmal will ich festhalten: Gescheitert ist dieser Gipfel an anderen, gescheitert ist er nicht an der EU und nicht an der Bundesrepublik, die mit der Bundeskanzlerin und mit dem Bundesumweltminister glänzend verhandelt hat. ({5}) Andreas Jung ({6}) Der Umweltminister hat in der Haushaltsdebatte als Konsequenz aus diesem Gipfel gesagt, dass die Parole jetzt heißen muss: Jetzt erst recht! Was heißt dieses „Jetzt erst recht“? Für mich heißt das zum einen, dass wir feststellen müssen, dass zwar ein Klimagipfel, aber eben nicht der Klimaschutzprozess gescheitert ist und dass es deshalb nach wie vor keine Alternative zu dem Klimaschutzprozess unter dem Dach der Vereinten Nationen gibt. ({7}) Zum anderen: Wenn man dann fragt, was mit der eigenen Strategie ist und ob wir genauso weitermachen wollen wie zuvor, dann muss die Botschaft „Jetzt erst recht“ heißen, dass wir als Bundesrepublik und als Europäische Union unsere Vorreiterrolle ausbauen. Wir als Bundesrepublik bekennen uns dazu. Minister Röttgen hat ganz eindeutig klargestellt, dass es keine Relativierung des unkonditionierten 40-Prozent-Ziels der Bundesrepublik Deutschland gibt. Ich persönlich bin der Meinung, dass unsere Botschaft an die EU sein sollte, dass auch sie ihr 30-Prozent-Ziel unkonditioniert erklärt und damit das nachvollzieht, was wir in Deutschland schon gemacht haben. Damit könnten wir gemeinsam deutlich machen, dass es jetzt darauf ankommt, dass diejenigen, die den Erfolg wollen, schneller vorangehen und zeigen, dass Klimaschutz und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehören und dass unkonditionierte Ziele deshalb keine Bedrohung, sondern gerade auch für Arbeitsplätze und Wirtschaft eine Chance sind. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie immer sehr gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. Es beruht ja auch auf Gegenseitigkeit, Zwischenfragen zuzulassen. Ich habe mich sehr über die von Ihnen geäußerte persönliche Meinung zum unkonditionierten 30-ProzentZiel gefreut. Teilen Sie auch meine Einschätzung, die die internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen in Kopenhagen vorgetragen haben, dass es die letzte Chance der Europäischen Union gewesen ist, im weiteren Prozess aus der konditionierten Klimaschutzzusage - die Bedingung ist, dass andere mitmachen - eine unkonditionierte Klimaschutzzusage zu machen? Wissen Sie, dass es die Bundeskanzlerin war, die anders als der französische Staatspräsident, der britische Premierminister und die Vertreter der skandinavischen Staaten in Kopenhagen dagegen gestimmt hat? Wissen Sie, dass in dieser Woche auch der deutsche Vertreter in Brüssel erneut gegen ein unkonditioniertes Klimaschutzziel gestimmt hat? Würden Sie uns darin unterstützen, das zu ändern?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kelber, erstens glaube ich, dass ich eindeutig meine Auffassung klargemacht habe, die wohl auch geteilt wird, dass dieser Gipfel nicht an der Bundesrepublik Deutschland oder der EU und auch nicht daran gescheitert ist, ob die EU konditionierte oder unkonditionierte Angebote gemacht hat. Ich glaube, da gibt es kein Vertun. Zweitens teile ich ausdrücklich nicht die Auffassung, dass Kopenhagen oder bestimmte Angebote in Kopenhagen die letzte Chance gewesen sind. Das würde nämlich in der Konsequenz bedeuten, dass wir jetzt keine Chance mehr haben und die Flinte ins Korn werfen könnten. Das ist ausdrücklich nicht meine Auffassung. Ich glaube, dass wir jetzt erst recht die Chance ergreifen und uns daranmachen müssen, in Deutschland und in der Europäischen Union mit klaren Zielen und Maßnahmen voranzugehen. ({0}) - Frau Merkel hat eindeutig klargemacht, dass auch sie weiterhin zu der Vorreiterrolle der Bundesrepublik und der Europäischen Union steht, und zwar sowohl bei den Verhandlungen auf internationaler Ebene als auch bei den Maßnahmen, die in Deutschland zu treffen sind. ({1}) Ich kann in der knappen Zeit nicht auf jeden einzelnen Einwand von Frau Kollegin Höhn eingehen. Ich will nur die Kritik, die sehr pauschal vorgetragen wurde, ebenfalls pauschal zurückweisen. ({2}) Denn die Bundesregierung geht konsequent den Weg des Klimaschutzes weiter. Das gilt auch für die Bereiche, in denen es um Energieeffizienz und Energiesparen geht. Deshalb sind wir gemeinsam froh, dass die Mittel für die Gebäudesanierung fließen. Übrigens sind dafür im letzten Jahr so viele Mittel geflossen wie wohl noch nie. Deshalb stehen wir auch dafür, verlässliche Grundlagen für erneuerbare Energien zu schaffen, und zwar sowohl beim Erneuerbare-Energien-Gesetz als auch beim Marktanreizprogramm, und deshalb waren wir auch dankbar dafür, dass unser Haushälter Bernhard SchulteDrüggelte eindeutig klargemacht hat, dass der Sperrvermerk beim Marktanreizprogramm verschwinden sollte. Denn es sollte für den Umwelthaushalt kein Risiko Andreas Jung ({3}) bedeuten, ob mit Zertifikaten mehr oder weniger Geld erzielt werden kann. Frau Kollegin Höhn, Sie haben die Automobilindustrie angesprochen. Die Bundesregierung hat klargemacht, dass sie im Verkehrsbereich einen klaren Schwerpunkt auf das Thema Elektromobilität setzen möchte, um zu erreichen, dass wir im Verkehr, der in Deutschland zu einem erheblichen Anteil zu den CO2-Emissionen beiträgt, umweltfreundlicher und effizienter unterwegs sind. Ich glaube, das alles sind Maßnahmen, durch die unterstrichen wird, dass die Bundesregierung einerseits die Ziele ernst nimmt und andererseits konkrete Maßnahmen angeht, um diese Ziele zu verwirklichen. Ich freue mich auf die Debatte über diese Maßnahmen wie auch über Ihren Antrag und andere Vorschläge im Plenum und im Ausschuss.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Kollege Jung. - Wir stimmen darin überein, dass wir mehr Energieeffizienz brauchen. Darin sind wir uns auch im Umweltausschuss sehr einig. Meine Frage ist: Wann legt die Koalition das Energieeffizienzgesetz vor? Sie wissen, dass es in der letzten Legislaturperiode nicht verabschiedet wurde, weil sich der Wirtschaftsminister und der Umweltminister uneinig waren. Nun ist die Situation folgende: Die EU wartet. Wenn wir das nicht umsetzen, muss die Bundesrepublik Strafe zahlen. Das wollen wir alle nicht. Im Sinne der Energieeffizienz frage ich deshalb: Wann können wir dieses Gesetz im Umweltausschuss verhandeln?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich Ihnen kein genaues Datum nennen kann. Wie auch ich wissen Sie, dass wir nicht nur einen neuen Wirtschaftsminister, sondern auch einen neuen Umweltminister haben. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass wir sehr bald über dieses Gesetz beraten und darüber sprechen werden, wie wir die Verbesserung der Energieeffizienz über die Maßnahmen hinaus, die wir bereits ergriffen haben, voranbringen können. Ich denke, dass die neue Koalition gerade an dieser Stelle Schwerpunkte setzen wird. Denn wir wissen: Die Energieeffizienz, ein Bereich, in dem wir einsparen können - ich habe den Gebäudebereich genannt -, ist einer der Bereiche, in dem wir den Klimaschutz besonders effizient vorantreiben können. Wir können uns also gemeinsam darauf freuen, dass wir schon bald entsprechende Gesetze beraten können. ({0}) Ich komme damit zum Ende meiner Rede. Ich möchte festhalten, dass wir uns national auf einem guten Weg befinden. Wir geben das an Europa weiter und sollten gemeinsam dafür arbeiten, dass Kopenhagen nicht der Endpunkt war. Wir sollten Anlauf für einen neuen Versuch nehmen, um am Ende zu erreichen, was wir alle für notwendig halten, nämlich ein internationales, ein verbindliches und ein ehrgeiziges Klimaschutzabkommen unter Einbeziehung der Industriestaaten, aber auch unter Berücksichtigung und Mitwirkung der Schwellen- und Entwicklungsländer. Dazu gibt es nach wie vor keine Alternative. Herzlichen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kanzlerin Angela Merkel hat Ende Dezember vor einem Schlechtreden der Ergebnisse des Klimagipfels in Kopenhagen gewarnt. Ich sage klipp und klar: Wenn man die Ergebnisse an den Zielen misst, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Die Konferenz in Kopenhagen ist gescheitert. Warum ist sie gescheitert? Sie ist sicherlich an China, an den USA und anderen gescheitert. Aber auch Europa hat nicht alles getan, was es in Kopenhagen und vor Kopenhagen hätte tun können. Kollege Jung hat gerade gesagt, dass die Regierung glänzend war. Ich sage: Die Regierung ist glänzend gescheitert, und zwar mit ihrer Strategie und ihrer falschen Einschätzung der politischen Lage vor Kopenhagen und in Kopenhagen. ({0}) Es war falsch, zu glauben, dass es eine Schlussrunde geben würde und Europa in dieser Schlussrunde das unkonditionierte 30-Prozent-Ziel auf den Tisch legen könnte. Zu dieser Schlussrunde kam es gar nicht. Europa hat sich aus dieser Schlussrunde herausmanövriert und keine Dynamik erzeugt. Deutschland war maßgeblich daran beteiligt. Was mich in der Tat interessiert, ist etwas, das gerade nicht deutlich geworden ist - gleich spricht aber noch ein Redner von der Koalition -: Was ist denn nun eigentlich die Position der Bundesregierung zum unkonditionierten 30-Prozent-Ziel? Wenn ich den Herrn Kollegen Jung richtig verstanden habe, hat er Bundesminister Röttgen so interpretiert, dass dieser für ein unkonditioniertes 30-Prozent-Ziel eintritt. Wie aber verträgt sich das mit den Ausführungen der Kanzlerin in der Haushaltsdebatte der letzten Woche? Da hat sie sich nämlich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, als Europäische Union mit einem unkonditionierten Ziel voranzugehen. An dieser Stelle hätte ich gerne Klarheit. Was wir in Kopenhagen sicherlich erlebt haben, ist eine Neuaufstellung der Welt, eine neue Situation für Europa. Man muss darüber reden, wie Europa und die europäischen Institutionen gestärkt werden können und wie man auf solchen Konferenzen auftritt. Dazu werden wir an anderer Stelle noch Gelegenheit haben. Heute werden wir das nicht umfassend erläutern können. Was wir aber erläutern können, ist die deutsche Rolle in Kopenhagen. Es war eine unsägliche Debatte, die die Bundesrepublik Deutschland vor Kopenhagen zur Frage der Verrechnung der Posten für die Entwicklungszusammenarbeit mit den Aufwendungen für den Klimaschutz begonnen hat. ({1}) Man muss sich vergegenwärtigen, mit wem man auf internationaler Ebene eigentlich redet. Es gibt ein Zitat des Vertreters von Tuvalu in Kopenhagen, der gesagt hat: Es ist nicht leicht für einen Mann, das zuzugeben, aber heute morgen erwachte ich weinend. Es geht um die Existenz von Staaten, dramatische Veränderungen in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens sowie kaum vorstellbare Probleme. Trotzdem wollen Sie von der Koalition, angeführt von Herrn Niebel, diese Staaten gewinnen, indem Sie die Mittel für den Umgang mit dem Klimawandel, Deichbau, Waldschutz und andere Maßnahmen mit den Mitteln für die Armutsbekämpfung und die Malariaprophylaxe verrechnen. Das ist nicht nur zynisch. Vielmehr scheitern Sie mit solchen Plänen auf der internationalen Bühne. Deswegen fordere ich Sie auf: Korrigieren Sie Ihre Position - Sie haben heute oder demnächst im Deutschen Bundestag Gelegenheit dazu -, damit Deutschland wieder eine führende Rolle in Europa einnehmen kann und damit Europa letztendlich weltweit führend sein kann! ({2}) Es geht nicht nur um eine führende Rolle in der internationalen Politik, sondern auch um Glaubwürdigkeit in der nationalen Politik. Es geht jetzt um die Frage, ob Klimaschutz Hemmschuh oder Fortschrittsmotor ist. Wir begrüßen in der Tat das unkonditionierte 40-Prozent-Ziel. Wir begrüßen auch, dass auch Sie sich mittlerweile unkonditioniert dazu bekennen. Aber es reicht eben nicht, schöne Reden zu halten, wie es Herr Röttgen und andere gelegentlich tun. Sie betreiben ein Versteckspiel in der Energiepolitik. Sie wollen erst im Oktober ein Energiekonzept auf den Tisch legen, Hauptsache, nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Klar ist aber schon jetzt: Sie wollen die Atompolitik fortsetzen. Sie wollen die Sonnenenergieförderung herunterfahren. Sie sind außerdem beim Thema Energieeffizienz unambitioniert. Feld eins, die Atompolitik. Man muss Ihnen von der Regierung und in der Koalition bei diesem Thema jeden Wurm aus der Nase ziehen. Sie wollen tricksen und Altreaktoren wie Neckarwestheim und Biblis A am Netz lassen. Sie leiten die Energieversorgungsunternehmen geradezu zum Vertragsbruch an. Das führt zu nichts anderem, als dass den Energieversorgern die Taschen gefüllt werden. Sie bremsen Investitionen. Das Ganze ist - so will ich das nennen - mit einer Schamprämie verbunden, die vielleicht gut gemeint ist, aber im Endeffekt für die Förderung der erneuerbaren Energien nichts bringt, weil sie viel zu spät kommt. ({3}) Damit komme ich zu Feld zwei. Wenn Sie die erneuerbaren Energien fördern wollen, dann dürfen Sie nicht zur Abbruchbirne greifen und massive Einschnitte im Erneuerbare-Energien-Gesetz vornehmen. Das ist bislang das einzig Konkrete, was Sie bislang auf den Tisch gelegt haben. Warme Worte reichen nicht aus. Es gibt massive Auseinandersetzungen in der Koalition. Ich möchte den Kollegen Michael Fuchs, Vorsitzender des Parlamentskreises „Mittelstand“ der Union, aus dem heutigen Handelsblatt zitieren: Ziel müsse es sein, zusätzliche Milliardenbelastungen für die Verbraucher und unsere Wirtschaft zu vermeiden. „Strom muss in Deutschland bezahlbar bleiben. Nur so bleiben wir wettbewerbsfähig“ … Er fordert eine Kappung der Subventionen für Sonnenenergie um 25 bis 30 Prozent. Das hört sich an wie Vorschläge aus der Steinzeit oder wie die Debatten von vor 20 Jahren. Ich bin gespannt, wie die Debatte ausgeht. Denn gleichzeitig war heute in der Frankfurter Rundschau zu lesen: Der CDU-Bundestagsabgeordnete Ulrich Petzold kündigte in der Mitteldeutschen Zeitung Widerstand seiner Fraktion an. Wichtig wäre, dass es für diese Branche schnell Klarheit gibt, damit Investitionssicherheit gewährleistet ist. ({4}) Feld drei ist gerade genannt worden. Es handelt sich um das Thema Energieeffizienz. Es ist schon für die Große Koalition unrühmlich gewesen, dass wir nicht zu einem Energieeffizienzgesetz gekommen sind. Sie wollen nun eine Eins-zu-eins-Umsetzung im Rahmen der Europäischen Union. Sie wollen von dem Effizienzziel, um 3 Prozent pro Jahr zu steigern, abrücken. Sie sind nicht mehr in der Lage, die EU-Vorgaben zu erfüllen, und sehen sich nun mit Klageverfahren der Europäischen Union konfrontiert. Wenn man die in der Großen Koalition gemeinsam gefassten Klimabeschlüsse von Meseberg im Jahr 2007 zugrunde legt und nachrechnet, dann kommt man zu einem Reduktionsziel von 35 bis 36 Prozent. Wenn man berücksichtigt, dass Sie die Vorgaben nicht einhalten und dass schon zuvor Dinge verwässert wurden, dann kommt man vielleicht auf knapp 30 Prozent. Das reicht nicht aus. Sich viele Ziele zu setzen, ist das eine. Etwas anderes ist aber, Ziele entsprechend zu unterlegen. Deswegen fordern wir genauso wie die Fraktion der Grünen ein Klimaschutzgesetz in Deutschland, das sich am Climate Change Act orientiert, den es in Großbritannien schon seit 2008 gibt. Das bringt zweierlei: zum einen ein langfristiges Klimaschutzziel von 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr 2050 und zum anderen eine jährliche Überprüfung der Maßnahmen der Regierung durch ein unabhängiges Gremium, zu dessen Vorschlägen sich die Regierung entsprechend verhalten muss. Das fordern wir. Sie haben ja bis zum Oktober Zeit, ein entsprechendes Gesetz vorzulegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in jedem Scheitern liegt aber auch eine Chance, hier die Chance, den internationalen Wettbewerb um das beste Klimaschutzgesetz zu beginnen, zu begreifen, dass Klimaschutz im nationalen Interesse liegt, unabhängig davon, was international geschieht. Um diese Chance zu wahren, dürfen Sie in der Regierung aber die Energiewende nicht blockieren, denn damit würden Sie ökonomische Chancen und Vertrauen in der Welt verspielen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von der FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Klimaschutz ist eine Frage von Generationengerechtigkeit; Klimaschutz ist aber auch eine Aufgabe für eine Innovationsstrategie in diesem Land. Wenn wir Vorreiter im Klimaschutz sind und davon ausgehen, dass dies der weltweite Trend ist, dann ist es eben auch eine kluge Technologiepolitik, Vorreiter beim Klimaschutz zu sein. Deshalb - das sage ich sehr eindeutig - steht diese Koalition für 40 Prozent CO2-Verringerung bis zum Jahr 2020, ohne Wenn und Aber. ({0}) Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir weiterhin das Einsparziel von 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr 2050 in die Verhandlungen in dem UN-Prozess aufnehmen und daran auch unsere Szenarien ausrichten, beispielsweise für das Energiekonzept, an dem diese Regierung arbeitet. Der Deutsche Bundestag hat eine CO2-Reduzierung um 40 Prozent bis 2020 bereits beschlossen - da waren Sie alle hier -, nämlich am 3. Dezember 2009, ein so ambitioniertes Ziel, wie es der Deutsche Bundestag vorher nicht beschlossen hat: 40 Prozent bis 2020 unkonditioniert, 80 bis 95 Prozent bis 2050. Deshalb haben wir überhaupt keinen Nachholbedarf. Es ist nicht nötig, dass die Opposition jetzt hier einen Schaufensterantrag stellt. Wir springen nicht über jedes Stöckchen, das Sie uns hinhalten. 40 Prozent galt vor Kopenhagen, 40 Prozent gilt nach Kopenhagen, und das wird diese Koalition so verwirklichen, unabhängig von Ihrem Antrag. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Höhn.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauch, ich habe eben die Bundeskanzlerin zitiert. Aus dem Zitat wird sehr deutlich, dass sie keineswegs mehr zu diesem 40-Prozent-Ziel steht, sondern dass sie es infrage stellt. Sie haben jetzt sehr deutlich gesagt, Sie stehen trotzdem zu diesem 40-ProzentZiel. Wir stellen heute einen Antrag zur Abstimmung, der die Frage zu beantworten trachtet, ob diese Koalition weiterhin zum 40-Prozent-Ziel steht. Stimmen Sie unserem Antrag zu, ja oder nein? Das wüsste ich gern.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Höhn, als wir in der Opposition waren, haben wir diese Spielchen auch gemacht; das gehört ja irgendwie zum Geschäft. ({0}) Aber wenn der Umweltminister hier erklärt - die Kanzlerin hat das überhaupt nicht infrage gestellt -, dass das Ziel von 40 Prozent unkonditioniert gilt, wenn der Koalitionspartner, die FDP, erklärt, dieses Ziel gelte unkonditioniert, wenn dies der Außenminister und der Entwicklungshilfeminister sagen, dann, liebe Frau Höhn, können Sie davon ausgehen, dass diese Zusage auch stimmt. ({1}) Meine Damen und Herren, wir werden deshalb das tun, was in der Koalitionsvereinbarung steht. Wir werden im Jahr 2010 das Integrierte Klima- und Energieprogramm daraufhin überprüfen, ob die Ziele der Bundesregierung erreicht werden. Zu diesen Zielen gehört die Reduzierung der CO2-Emissionen unkonditioniert um 40 Prozent bis 2020. Ebenso wissen wir, dass wir mit dem, was die früheren Regierungen hierzu geliefert haben - auch die rot-grüne -, diese 40 Prozent nicht erreichen. Deshalb müssen wir herausfinden, wie wir unser Ziel erreichen können. Wir haben einen Emissionshandelssektor, auf dem europarechtlich bis 2020 alles geregelt ist. Das heißt, wenn wir zusätzliche Maßnahmen ergreifen wollen und müssen, dann muss dies in den Nichtemissionshandelssektoren passieren, also konkret im Wärmesektor und im Verkehr. Da wir wissen, dass der Wärmesektor bei der CO2Einsparung tendenziell billiger ist, wird das der Schlüssel sein, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Ob wir in diesen Sektoren dann eine gesetzliche Fixierung von Zielgrößen brauchen, werden wir bei der Überprüfung des Integrierten Klima- und Energieprogramms diskutieren. Ich sage aber auch ganz klar: Die gesetzliche Fixierung von Zielgrößen spart noch keine Tonne CO2 ein. Da muss man schon konkrete Maßnahmen benennen, die dann auch umgesetzt werden: bei den Bürgern, bei den Unternehmen. Mit vielen kleinen Einzelmaßnahmen - nicht mit großen Überschriften - werden wir das 40-Prozent-Ziel erreichen. ({2}) Die FDP wirbt weiterhin dafür, dass wir - anders als es beispielsweise die Grünen wollen - den Emissionshandel ausweiten, nämlich auf die Bereiche von Wärme und Verkehr; denn das würde bedeuten, dass eine gesetzliche Obergrenze festgelegt wird, die dann auch für jeden Bürger und jedes Unternehmen verbindlich ist - anders als das im Klimaschutzgesetz vorgesehen ist, das Sie vorschlagen. Wir halten das weiterhin für den richtigen Weg und werben auch bei unserem Koalitionspartner dafür, noch einmal in diese Richtung zu denken.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schwabe von der SPD?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kauch, habe ich Ihre Ausführungen zur Frage der gesetzlichen Fixierung und zur Frage der einzelnen Maßnahmen richtig verstanden in dem Sinne, dass Sie ein Klimaschutzgesetz für überflüssig halten?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Schwabe, es gilt das, was ich gesagt habe: Wir werden beim Integrierten Klima- und Energieprogramm überprüfen, welche Maßnahmen notwendig sind. Wir werden auch prüfen, ob ein solcher Weg sinnvoll ist. Ich sage aber deutlich: Der beste Weg wäre die Ausweitung des Emissionshandels auf die Bereiche Wärme und Verkehr. Über zweitbeste Lösungen werden wir sprechen, wenn es so weit ist, lieber Kollege. ({0}) Nun zur internationalen Verhandlungsposition. Wie schaffen wir es, die Ziele, die wir uns gesetzt haben, auch tatsächlich zu erreichen? Wenn wir vorangehen wollen, wenn wir das auch unkonditioniert wollen, werden nationale Alleingänge für sich genommen - das ist doch klar - nicht reichen. Deshalb steht die FDP weiterhin zum Prozess in den Vereinten Nationen. Ein Abdriften in bilaterale Abkommen wäre auch aus übergeordneten Gründen der Außenpolitik der falsche Weg. Wir glauben: Weltinnenpolitik muss bei den Vereinten Nationen gemacht werden. ({1}) Wir stehen also zum UN-Prozess, aber auch wir sagen: Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Bisher ist es nämlich wie folgt: Man verhandelt auf Beamtenebene ein Jahr lang. Dann gibt es eine große Konferenz. Die Staats- und Regierungschefs reisen an den letzten beiden Tagen an, und dann wundert man sich darüber, dass die Zeit nicht reicht, um eine Einigung herbeizuführen. Es ist wichtig, dass man vor den UN-Verhandlungen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs - im Rahmen der G 8 plus 5 oder der Gruppe der 20, wenn man noch mehr Schwellenländer einbinden will - zu substanziellen Vorergebnissen kommt. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Es darf nicht einfach business as usual mit den Beamten geben, sondern wir brauchen politische Führung, politische Führung von Europa, politische Führung von den USA. Notwendig ist aber auch eine Verantwortung der Schwellenländer, allen voran China. Wir sind bereit, voranzugehen, aber wir erwarten von den anderen, dass sie ihre Beiträge international überprüfen lassen. Das ist die Mindestvoraussetzung, die wir an die Schwellenländer richten müssen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche jetzt nicht über Spielchen, wie vorhin gesagt wurde, sondern über den Klimagipfel. Der Klimagipfel war aus Sicht der Linken ein Desaster - das muss man immer wieder sagen -: kein verbindliches ambitioniertes Klimaschutzabkommen, sondern nur ein unverbindliches, völlig unzureichendes Abschlussdokument, das lediglich zur Kenntnis genommen werden konnte. Mehr war da nicht. Das ist das Ergebnis des größten UN-Klimagipfels aller Zeiten nach zweijähriger Vorbereitungszeit. Da kann ich nur sagen: Bravo! Dass das Abschlussdokument nicht verabschiedet wurde, empfinde ich persönlich nicht als einen Beinbruch; denn es steht überhaupt nichts darin. Also braucht man auch nichts zu verabschieden. In diesem Dokument ist das Ziel formuliert, die Erderwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen. Diese Formulierung bleibt folgenlos und ist nichtssagend. Die notwendigen Minderungsziele werden eben nicht benannt. Dafür befindet sich in diesem Dokument eine leere Tabelle mit dem Aufruf an die Industrieländer, bis Ende Januar an das UN-Klimasekretariat freiwillig, also nach Klingelbeutelmethode, Minderungsziele für 2020 zu melden. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Wahrscheinlich kommt das Gleiche wie in Kopenhagen heraus. Wenn ich mir anschaue, was da angeboten wurde, dann stelle ich fest: Die Summe dieser Angebote würde zu einer Erderwärmung von durchschnittlich 3,5 Grad Celsius führen. Der Chef des PIK, des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Herr Schellnhuber, spricht allerdings davon, dass dann über Land eine Erderwärmung von 5 Grad Celsius befürchtet werden müsse. Man muss den Menschen in diesem Land sagen, worum es überhaupt geht: Es geht um eine zu befürchtende Klimaerwärmung von 5 Grad und nicht von 2 Grad oder 1,5 Grad. Hier müssen wir handeln, im Interesse der Menschen, die demnächst wahrscheinlich absaufen werden. ({0}) Die Industrieländer haben zu wenig vorgelegt - wir haben es gehört -: Die USA haben ein Minus von 4 Prozent angeboten. Der CO2-Ausstoß der USA ist von 1990 bis jetzt um 17 Prozent gestiegen. Das ist natürlich zu viel. Die USA müssen sich bewegen. An diesem Punkt liegt die Hauptursache für die Blockade des Gipfels und nicht bei den angeblichen Desperado-Staaten wie Venezuela oder Bolivien. ({1}) - Meine Freunde. - In Bezug auf Hugo Chávez und Evo Morales ist von einigen eine Gespensterdebatte angestoßen worden. Ich muss Ihnen sagen: Mir haben die beiden gut gefallen. Endlich wurde auf der Klimakonferenz einmal über Kapitalismus, über Arm und Reich und über Verantwortung gesprochen. Ich finde, es ist an der Zeit, dass das in viel größerem Ausmaß geschieht. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Bulling-Schröter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauch?

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, klar.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kauch.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin, können Sie als Vertreterin der neuen Kommunistischen Internationalen - wie immer man die Achse mit Venezuela und Bolivien nennen mag - mir erklären, was die von Ihnen offensichtlich befürwortete Linie zu Venezuela und Bolivien in Verbindung mit einem Land wie Saudi-Arabien bringt? Venezuela und Saudi-Arabien hatten eine gemeinsame Verhandlungsposition: Wir blockieren diese Konferenz; wir blockieren die Verhandlungen. Das bedeutet ganz klar, dass Sie als Linke es hier offensichtlich begrüßen, dass ein feudales und in seinem wirtschaftlichen Gehabe eher kapitalistisches Regime, das vom Ölverkauf lebt, durch Ihre sozialistischen Freunde unterstützt wurde. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich höre gerade: „Die Frage ist sehr berechtigt!“ Mir geht es um die Reden. Dabei ging es um Arm und Reich und um Verantwortung. Dass die Ölstaaten eine Verantwortung haben, das wissen Sie so gut wie ich; Sie kennen mich. ({0}) Man muss Lösungen finden. Wir sind der Meinung: Fossile Energien müssen eingespart werden. Auch wir als Industriestaat müssen eventuell dafür bezahlen, dass diese Länder kein Öl mehr fördern. Das müssen wir diskutieren; da sind wir uns einig. ({1}) - Bei Saudi-Arabien nicht. Es geht um andere Länder. Es ist kein Wunder, dass sich die Supermacht China bei den mickrigen Angeboten der Industriestaaten weigert, verbindliche Zielstellungen zu übernehmen. Es ist auch nicht überraschend, dass Tuvalu wenig Lust hat, seinen Untergang zu beschließen, oder Nicaragua seine Versteppung. Es wurden wenige finanzielle Beschlüsse gefasst, und es wurde viel diskutiert. Es ist nicht klar, wer die versprochenen 100 Milliarden Dollar zahlt. Die EU und Deutschland haben keine Vorreiterrolle eingenommen. Notwendig ist, dass sich die EU und Deutschland zum informell längst beschlossenen Ziel bekennen, den CO2-Ausstoß um 30 Prozent zu senken. Zu der versprochenen Summe von 100 Milliarden Dollar kann ich nur fragen: Wie soll das aufgeteilt werden? Ein Drittel sollen die Entwicklungsländer selbst bezahlen. Ein weiteres Drittel soll über Carbon-Markets, das heißt über CDM usw., aufgebracht werden. Wir haben viel darüber gesprochen. Dabei handelt es sich zum großen Teil um faule Zertifikate. Einen solchen Weg kann man den Entwicklungsländern nicht zumuten. Außerdem soll das Ganze auf die Entwicklungshilfe angerechnet werden. Ich kann dazu nur sagen: Die Bilanz von Kopenhagen ist verheerend, sowohl in klimapolitischen als auch in bürgerrechtlichen Fragen. ({2}) Es gab Übergriffe gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten, Pfefferspray-Angriffe und Schlagstockhiebe. Medienvertreter wurden verprügelt. Das ist für mich keine Demokratie. Wir wollen eine offene Demokratie. ({3}) Wir wollen den offenen Diskurs über diese Fragen. Das sind übrigens Überlebensfragen. Das trifft uns, wenn auch etwas später, nämlich genauso wie viele andere. Es wird endlich Zeit, dass gehandelt wird. Ein Klimaschutzgesetz ist wichtig. Es ist ein erster Schritt, genügt aber noch lange nicht. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Kauch.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Bulling-Schröter, wie Ihre Vorredner von der SPD haben Sie hier eine Falschbehauptung in den Raum gestellt. Es ist, denke ich, an der Zeit, Ihren Unterstellungen entgegenzutreten und einmal die Sachlage klarzustellen. Sie reden immer davon, wir würden die Mittel für den internationalen Klimaschutz, die an die Entwicklungsländer fließen, mit der Entwicklungshilfe verrechnen. Das, meine Damen und Herren, tun wir nicht. Wir stellen frisches Geld bereit. Das, was wir tun, ist, dass wir diese Gelder auf die Entwicklungshilfequote anrechnen. Genau das haben die alte Regierung und selbst die rotgrüne Regierung getan. ({0}) Das hat sich nicht geändert, meine Damen und Herren. Ich sage auch ganz klar ({1}) - jetzt kommt wieder eine Wortmeldung von der SPD -: Obwohl die SPD elf Jahre die Entwicklungshilfeministerin stellte, hat sie es nicht geschafft, die 0,7-ProzentQuote zu erreichen. Es ist ganz klar: Sie laufen hier der Fata Morgana, dass die Verhandlungen angeblich an der Haltung von Herrn Niebel gescheitert seien, hinterher. Es ist absoluter Nonsens, wenn Sie das Herrn Niebel in die Schuhe schieben wollen. Diese Regierung macht eine hervorragende Klimapolitik im Umwelt- und im Entwicklungsministerium. ({2}) Kopenhagen hat gezeigt: Bei den Finanztransfers für den Waldschutz, beim Technologietransfer und bei den Anpassungsmaßnahmen für die armen Staaten haben wir eine Grundsatzeinigung hinbekommen. ({3}) Deshalb können Ihre Argumente eigentlich nur falsch sein, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich habe jetzt mehrere Wortmeldungen zu Kurzinterventionen. Wenn ich die zuließe, würde das aber die Debatte verfälschen. Ich schlage vor, dass ich jetzt Frau Bulling-Schröter die Gelegenheit gebe, zu antworten, und dass wir dann in der Debatte weiter fortfahren. ({0}) - Sind Sie persönlich angesprochen worden? - Gut, dann schlage ich vor, dass wir die Wortmeldung von Frau Wieczorek-Zeul vorziehen. ({1}) - Entschuldigung, die Kurzintervention erfolgte auf den Redebeitrag von Frau Bulling-Schröter. Sie hat das Recht zu antworten. Wir können nicht eine Kurzintervention auf Kurzinterventionen mit erneuter Antwortmöglichkeit zulassen. Das entspräche nicht der Geschäftsordnung. ({2}) Wenn Sie Ihre Kurzintervention abgeben wollen, Frau Wieczorek-Zeul, dann ziehen wir sie jetzt vor. Dann hat Frau Bulling-Schröter die Chance, zu antworten.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt zu dem klimapolitischen Teil nichts weiter sagen, als dass es wirklich eine falsche Behauptung ist, dass wir keine Fortschritte - das habe ich hier schon mehrfach geschildert - bei der Official Development Assistance erreicht hätten. Wir haben im Jahr 2001 zusammen mit der Europäischen Union einen Stufenplan zur Steigerung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, die Official Development Assistance, erstellt. Dieser sah vor, bis zum Jahr 2005 eine ODA-Quote von 0,33 Prozent zu erreichen. Das haben wir geschafft. Im Jahr 2005 haben wir dann im Rahmen der Europäischen Union einen weiteren Stufenplan erstellt, der für das Jahr 2010 eine ODA-Quote von 0,51 Prozent und für das Jahr 2015 von 0,7 Prozent vorsieht. Sie werden es in den Haushaltsberatungen erleben, dass wir das 0,51-Prozent-Ziel entsprechend unterfüttern werden. Im Hinblick darauf ist zum Beispiel die Einführung einer internationalen Finanztransaktionsteuer ein ganz wichtiger Punkt; hierdurch könnte nämlich der Finanzsektor herangezogen werden, um mitzuhelfen, die Zeche für den Schaden zu zahlen, den er angerichtet hat. Vergessen zu erwähnen haben Sie, dass im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für das Erreichen der 0,7-Prozent-Quote kein festes Jahr genannt wird und man sich auch nicht auf ein Zwischenziel festgelegt hat. Gehen Sie deshalb einmal mit sich selbst kritisch zurate, statt andere anzugreifen. Dass die FDP jetzt das Entwicklungsministerium hat, muss andere Ursachen haben. Versuchen Sie nicht andauernd, das zu begründen, indem Sie die vorherige Regierung und ihre Arbeit schlechtmachen. Das ist völlig unakzeptabel. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat die Kollegin Bulling-Schröter das Wort.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kauch, ich weiß nicht, warum Sie sich so aufgeregt haben; ich verstehe es nicht. Feststellen kann man, dass die vorherigen Regierungen das 0,7-Prozent-Ziel alle nicht erreicht haben. Aus entwicklungspolitischer Sicht wäre es allerdings dringend notwendig. Die Linke hat das immer kritisiert, egal wer an der Regierung war. Jetzt aber zu Ihrer Anrechnung. Sie sagen ja, das wird nicht angerechnet. ({0}) Dazu zitiere ich aus dem Antrag der Koalition zu den Klimaverhandlungen - es ist nur ein Satz -: … sicherzustellen, dass die Beiträge für die Finanzierung des internationalen Klimaschutzes und der Anpassungsmaßnahmen auf das Ziel angerechnet werden, (Frank Schwabe [SPD]: Aha! - Michael Kauch [FDP]: Angerechnet! Nicht verrechnet! 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit … zur Verfügung zu stellen … ({1}) Was heißt „anrechnen“? Da müsste man vielleicht einmal ein paar Kollegen fragen. ({2}) Es heißt natürlich „verrechnen“. ({3}) Das ist so auch in den Medien diskutiert und in den Debatten besprochen worden. Wenn das nicht so ist, können Sie das ja hier noch richtigstellen. Wir würden es begrüßen, wenn es nicht angerechnet wird. Wir beschließen das mit; die Opposition steht dahinter. Denn so kann man mit Entwicklungsländern nicht umgehen. Auch wenn Sie das vielleicht nicht glauben: Wir haben in den Entwicklungsländern viele Gespräche geführt, die ergeben haben, dass sie sich vorgeführt fühlen. Nur mit Glasperlen kommt man im 21. Jahrhundert nicht weit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Josef Göppel von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Mein Thema ist: Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen. So lautet ja auch der hier vorliegende Antrag. Natürlich gab es durch den Verlauf der Konferenz in Kopenhagen eine Debatte darüber, ob es überhaupt Sinn macht, diesen Weg weiterzugehen, bei dem man aufgrund des Prinzips der Freiwilligkeit immer auf den Letzten warten und den kleinsten gemeinsamen Nenner finden muss und mehr eigentlich nicht herauskommt. Ich war sowohl bei dieser internationalen Klimakonferenz als auch bei den Klimakonferenzen in den fünf Jahren davor. Meine persönliche Erfahrung ist: Man muss trotz aller Schwächen den Weg des internationalen Übereinkommens gehen. Aber ebenso ist meine Erfahrung, dass wir die Entwicklung mit Brückenköpfen und ganz konkreten Projekten sehr viel schneller voranbringen und damit auch das wirtschaftliche Interesse am Klimaschutz stärker befördern können. Ich möchte zwei Beispiele nennen, die die Brücke zur Entwicklungspolitik schlagen: Vor den Konferenzräumen in Kopenhagen hatten Nichtregierungsorganisationen ihre Ideen ausgestellt. Darunter war ein Vorschlag von sechs Ländern in Afrika, vom Senegal quer über den Kontinent bis Äthiopien eine Anpflanzung zu machen, auf einer Länge von etwa 6 000 Kilometern am Südrand der Sahara und 25 Kilometer tief, um den Sand aufzuhalten. Das ist ein Projekt, das die Afrikaner sich selber ausgedacht haben. Ihr Wille ist auch, dass die Einheimischen diese Pflanzungen durchführen. Sie brauchen natürlich Hilfe, weil die positiven Wirkungen solcher Pflanzungen nicht sofort monetär zu Buche schlagen. Sie haben uns auch gesagt, dass besonders die Frauen eingesetzt werden sollen, weil sie die entscheidenden Meinungsträgerinnen sind. Sie haben sogar davon gesprochen, Großmütter einzusetzen. Denn die Großmutter kann durchaus bestimmen, dass die Ziegenherde nicht mehr dahin getrieben werden darf, wo eine Anpflanzung ist, damit diese wirklich hoch wächst. Ich bin der Meinung: Solche konkreten Projekte sollten wir auch von Deutschland aus aufgreifen und unterstützen. Ein anderes Beispiel: Wir haben Leute aus Burundi getroffen und sie gefragt: Was wäre eurer Meinung nach die wirksamste Maßnahme für euer Land? Sie haben klar gesagt: Dies wäre eine Produktionsstätte für Solarkocher, damit unsere Leute nicht jeden Tag kleine Büsche abhacken müssen, die sie als Feuerholz zum Kochen verwenden. Es gibt im technologischen Bereich natürlich weitere Projekte. Wichtig ist aber, dass wir diese Dinge, die banal zu sein scheinen, nicht geringschätzen, sondern dass wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf solche Projektvorschläge eingehen. Das ist ein Parallelprogramm zum Vorantreiben von internationalen Konferenzen. Ich möchte zum Verlauf der Debatte hier eines sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktionen, zum 31. Januar 2010 ist die Meldung fällig, welches Klimaziel Deutschland hat. Gehen Sie davon aus, dass es das 40-Prozent-Ziel sein wird. Daran ist nichts zu deuteln. ({0}) - Frau Kollegin Höhn, wir brauchen nicht alle vier Wochen dasselbe zu beschließen. Ich möchte Ihnen allerdings sagen: Ich habe eine gewisse Sympathie dafür, dass unsere Klimaschutzanstrengungen, die sich schon konkret beziffern lassen, in ein Gesetz Eingang finden. Wenn die Vereinigten Staaten, wie wir alle heute früh gehört haben, noch in diesem Jahr ein Klimaschutzgesetz verabschieden werden, dann wird die Diskussion bei uns an Geschwindigkeit zunehmen, und es wird ihr noch mehr Nachdruck verliehen. Entscheidend ist, dass wir konkret handeln. Die Minderung der CO2-Emissionen um 22 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990, die Deutschland bisher erreicht hat, ist ein Fakt. Das, was Präsident Obama angeboten hat, sind 4 Prozent, bezogen auf 1990 - und dies mit drei großen Fragezeichen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Göppel, erlauben Sie, dass die Frau Höhn eine Zwischenfrage stellt?

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höhn.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Kollege Göppel. - Ich schätze Sie ja sehr. Aber können Sie nicht bestätigen, dass - anders, als Sie es eben gesagt haben - nicht Deutschland den internationalen Gremien das 40-Prozent-Ziel melden muss, sondern dass es darum geht, was die EU meldet? Die EU hat gerade beschlossen, dass sie eine Reduktion um 30 Prozent nicht ohne Wenn und Aber meldet, sondern nur konditioniert. Das ist etwas anderes als das, was Sie eben gesagt haben.

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Höhn, Sie wissen doch genau, dass sich das 30-Prozent-Ziel der EU aus nationalen Minderungsanstrengungen zusammensetzt. ({0}) Angesichts des Potenzials, das Deutschland hat, ist entscheidend, was wir anbieten. Aufgrund unseres klar erklärten Ziels besteht die realistische Chance, die anderen in Europa zur Anerkennung des 30-Prozent-Ziels zu bringen. ({1}) Genau das hat Frau Merkel von diesem Pult aus erklärt. Dabei bleibt es. ({2}) Die Uhr zeigt, dass ich keine Redezeit mehr habe. Ich bedanke mich. Schönen Abend. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/446 mit dem Titel „Regierungs- und Parlamentshandeln kon- sequent am 40-Prozent-Klimaziel ausrichten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Dann ist der Antrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/132 und 17/522 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen Konditionen für Kurzarbeit verbessern - Drucksache 17/523 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Jutta Krellmann, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung des Progressionsvorbehalts für Kurzarbeitergeld - Drucksache 17/255 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass ich zu dem Antrag der SPD sprechen darf, der die wichtige Botschaft selbstverständlich in seinem Titel führt. Es geht darum, Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit zu schützen und die Konditionen für Kurzarbeit zu verbessern. Dies ist dringend nötig. Wir hätten gar nicht tätig werden müssen, hätte die schwarz-gelbe Regierung die guten Konditionen gelassen, die wir in der Großen Koalition aus gutem Grund so formuliert hatten und die wirklich vielen Menschen in Deutschland ermöglicht haben, ihre Arbeit zu behalten. Weltweit - aus den USA und aus europäischen Ländern - sind wir dafür gelobt worden. Wir sind mit diesem Instrument zum Vorbild geworden. Sicherlich ist die Kurzarbeit nicht das einzige Instrument oder der einzige Grund dafür, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland über einen in der Krise bemerkenswert stabilen Arbeitsmarkt verfügen. Auch Unternehmen und Beschäftigte und ihre Vertretungen haben viel dazu beigetragen. Deshalb gilt auch ihnen mein Dank, dass sie in den letzten Monaten konstruktiv dafür gesorgt haben, dass Arbeit erhalten blieb und Unternehmen so auf Dauer gute Perspektiven haben. Was aber hat stattgefunden? Kaum war der Regierungswechsel vollzogen, hat man sich darangemacht, die Bedingungen für Kurzarbeit auf einen Stand zurückzuführen, von dem wir sagen: Er mag vor der Krise akzeptabel gewesen sein, ist es jetzt aber keinesfalls. Zurzeit haben wir zwar einen relativ stabilen Arbeitsmarkt; aber die Frage, ob schon alles vorbei ist, wir uns zurücklehnen können und Ruhe einkehren wird, werden viele wohl mit Nein beantworten müssen. Konjunkturelles Kurzarbeitergeld ist ein Hauptelement aktiver Arbeitsmarktpolitik. Sie haben die Bedingungen verschlechtert. Deshalb sagen wir: Wir wollen den alten Zustand wiederherstellen. ({0}) Damit verfolgen wir zwei Ziele: Wir wollen Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen und - dies ist uns genauso wichtig - den im Kern gesunden Unternehmen ermöglichen, ihre gut ausgebildeten Beschäftigten zu halten. Damit legen wir eine stabile Basis für einen Aufschwung, den wir wohl alle wollen. ({1}) Wir wissen: 2009 war ein schwieriges Jahr; 2010 wird nicht einfacher werden. Wir können auch nicht sagen: 2011 werden wir alle Probleme gelöst haben. Deshalb kämpfen wir für die Verlängerung der Brücke „konjunkturelle Kurzarbeit zu optimalen Bedingungen“. Wir haben viele auf unserer Seite. Mich hat es besonders gefreut, dass sich auch Herr Kannegiesser so geäußert hat. Dies sollte eine Überlegung auf Ihrer Seite wert sein. ({2}) - Eben, genau deshalb könnten Sie ihm ja vielleicht eher als uns folgen. Das verstehe ich ja. ({3}) Wir alle sehen: Der Arbeitsmarkt ist angespannt, und auf ihm sind regionale und zeitliche Disparitäten zu erkennen. Wir haben dazu eine Information der Bundesagentur für Arbeit bekommen, in der deutlich wird, dass die Kurzarbeit wie schlechtes Wetter auf einer Wetterkarte durch das ganze Land zieht. Dieses schlechte Wetter ist noch nicht vorbei. Deshalb müssen wir darauf achten, dass die Bedingungen gut bleiben und dass die Unternehmen, die Mut haben, eine langfristige Perspektive erhalten. Welche Branchen nutzen die Kurzarbeit bisher eigentlich? Wir wissen: Am stärksten ist Kurzarbeit im Maschinenbau vertreten; die Quote beträgt dort 22,7 Prozent. In der Metallindustrie, in der Automobilbranche, bei der Herstellung elektronischer und optischer Erzeugnisse gibt es viel Kurzarbeit. Das sind aber Branchen, die eine sehr langfristige Planungssicherheit brauchen. Insofern ist das Signal, das Sie gesetzt haben, falsch. Ich zitiere aus einer heute veröffentlichten Pressemitteilung von Frau von der Leyen. Sie schreibt: „Der Arbeitsmarkt braucht weiter die volle Aufmerksamkeit.“ Das unterschreibe ich sofort. Ich zitiere weiter: Wir müssen genau beobachten, ob das Bemühen der Unternehmen, Beschäftigte im Betrieb zu halten, weiter trägt - damit wir flexibel und kurzfristig reagieren können. Das hat sich in der ganzen Krisenzeit bewährt. Recht hat sie. Sie schreibt allerdings auch: „Noch ist unklar, welche Entwicklung die nächsten Monate dominieren wird.“ Wenn das so ist, frage ich mich, warum man dann vorschnell so restriktive Entscheidungen getroffen hat. ({4}) Deshalb sagen wir: Weg mit der Begrenzung auf 18 Monate! Wir wollen, dass weiterhin Sozialbeiträge durch die BA übernommen werden, auch über 2011 hinaus. Ich darf aus dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates zitieren: Entscheidend für die weitere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird sein, wie die Unternehmen in den kommenden Monaten die Kosten der Weiterbeschäftigung relativ zu den Entlassungs- und späteren Such-, Einstellungs- und Einarbeitungskosten einschätzen werden. Dass die Kostenabwägung bisher zugunsten des Haltens der Arbeitskräfte ausgefallen ist, liegt nicht zuletzt an der Kostenerleichterung durch die Veränderung bei der Kurzarbeiterregelung. Wo der Sachverständigenrat recht hat, hat er eben recht. ({5}) Wir müssen dafür sorgen, dass es einen erleichterten Zugang zur Kurzarbeit gibt. Wir wollen auch für Zeitarbeitsfirmen die Option auf Kurzarbeit erhalten. Die Sonderregelung für Qualifizierungsmaßnahmen muss bis Ende 2011 verlängert werden. Deshalb heißt es auch: Standhaft bleiben bei Qualifizierung! Wir haben gelernt, dass da die Unternehmenskultur in Deutschland deutlich besser werden kann. Wir haben einen zaghaften Einstieg über die konjunkturelle Kurzarbeit. Das wollen wir ausbauen. Dabei müssen wir bleiben. Wir sehen, wie gut das der Metallbereich beispielsweise in Baden-Württemberg macht. Das heißt aber noch lange nicht, dass es in ganz Deutschland optimal läuft. Wir wollen dieses gute Instrument behalten. Wir müssen aber auch den Missbrauch im Blick behalten. Den lassen wir nicht durchgehen. Wir wissen, dass es zu Jahresanfang 800 Verdachtsfälle gab, davon sind fast 200 Verfahren eingestellt worden. 130 Verfahren sind noch im Gange. Es ist richtig, dass die Staatsanwaltschaft tätig wird. Denn eins ist klar: Wir haben ein gutes Instrument. Wir wollen es behalten. Wir wollen zurück zur alten Regelung. Das ist der feste Wille der SPD. Meine große Bitte an die neue Koalition ist, zu überlegen, ob sie nicht etwas vorschnell war. Ihre Ministerin zeigt schon millimeterweise Einsicht. Wir wollen wieder dahin, dass ein gutes Instrument gut angewendet wird; denn wir alle haben ein Interesse daran, dass für die Unternehmen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland aus der Krise eine Chance wird. Das ist unser Ziel. Deshalb wäre es gut, wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, insbesondere Sie, geschätzte Frau Kollegin Lösekrug-Möller, mit dem heutigen Antrag fordern Sie verbesserte Konditionen für Kurzarbeit. Wie Sie wissen, sind wir für konstruktive Vorschläge, auch und gerade von unseren Freunden von der geschätzten Opposition, jederzeit dankbar. ({0}) - Da haben Sie völlig recht, Herr Kolb. Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass die unionsgeführte Bundesregierung der vergangenen und der laufenden Legislaturperiode bereits umfassende und kostenintensive Verbesserungen der Kurzarbeit auf den Weg gebracht hat, welche sich in der derzeitigen Wirtschaftskrise sehr gut bewährt haben. Ich will auch nicht verhehlen, dass der frühere Arbeitsminister Olaf Scholz einen nicht unerheblichen Anteil daran hat. Arbeitsplätze von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland konnten dadurch gesichert werden. Kurzarbeit hilft, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Sie ist ein flexibles Instrument, das besonders den unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Branchen und Regionen Rechnung trägt. Außerdem können Unternehmen und Betriebe durch das Instrument der Kurzarbeit bei verbesserter Auftragslage die Produktion mit ihren bewährten und eingearbeiteten Mitarbeitern wieder hochfahren. Wie Sie sich sicherlich noch erinnern können, haben wir dazu in der letzten Wahlperiode gemeinsam mit Ihnen von der SPD im Rahmen des Maßnahmenpakets „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“, dem sogenannten Konjunkturpaket I, dem Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland, Konjunkturpaket II, und dem 3. SGB-IV-Änderungsgesetz diverse Regelungen umgesetzt, welche vor nicht allzu langer Zeit von den Kolleginnen und Kollegen der SPD noch für erforderlich, aber auch für ausreichend befunden wurden. ({1}) Obwohl sie Ihnen noch geläufig sein dürften, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, werde ich die mit Ihnen gemeinsam beschlossenen Regelungen gerne noch einmal kurz nennen: Wir haben die Bezugsfrist des Kurzarbeitergeldes auf 18 Monate verlängert und die Antragstellung für Arbeitgeber vereinfacht. Die Agenturen für Arbeit erstatten ab dem siebten Monat der Kurzarbeit die vollen Beiträge zur Sozialversicherung, die auf Kurzarbeit entfallen. In den ersten sechs Monaten werden die Beiträge zur Sozialversicherung zur Hälfte von den Agenturen für Arbeit übernommen. Für jene Mitarbeiter, die während der Kurzarbeit an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, können in dieser Zeit die Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Prozent übernommen werden. Auch die Weiterbildungsmaßnahmen selbst werden von den Agenturen für Arbeit umfangreich gefördert. Die Bedingung, dass mindestens ein Drittel der Belegschaft von einem Entgeltausfall betroffen sein muss, wird ausgesetzt: Um für einen oder mehrere Beschäftigte Kurzarbeitergeld beantragen zu können, reicht der Nachweis eines Entgeltausfalls von mehr als 10 Prozent. Der Arbeitgeber kann bei der Antragstellung wählen, ob er davon Gebrauch machen möchte. Arbeitszeitkonten müssen vor Bezug des Kurzarbeitergeldes nicht ins Minus gebracht werden. Ab dem 1. Januar 2008 durchgeführte vorübergehende Änderungen der Arbeitszeit aufgrund von Beschäftigungssicherungsvereinbarungen wirken sich nicht negativ auf die Höhe des Kurzarbeitergeldes aus. Kurzarbeitergeld kann auch uneingeschränkt für Leiharbeitnehmer sowie für befristet Beschäftigte beantragt werden. Unter dem ehemaligen Bundesarbeitsminister Dr. Jung wurde durch die Zweite Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Bezugsfrist für das Kurzarbeitergeld die Bezugsfrist für das Kurzarbeitergeld verlängert, ({2}) und das ist gut so. Für Kurzarbeit, die ab dem Jahr 2010 beginnt, kann bis zu 18 Monate lang Kurzarbeitergeld gezahlt werden. Ohne den Erlass der Verordnung hätte die Bezugsfrist für Kurzarbeitergeld, wenn die Kurzarbeit 2010 begonnen wird, entsprechend der gesetzlichen Regelung nur 6 Monate betragen. Mit der Verordnung wurde die Bezugsfrist auf 18 Monate verlängert. Das heißt, vieles von dem, was Sie sich für die Zukunft wünschen, haben wir für die laufende Bezugszeit bereits ein Stück weit berücksichtigt, und zwar auch nach Ende der Großen Koalition. Die Verlängerung gilt nur für jene Betriebe, die mit der Kurzarbeit 2010 beginnen. Den Arbeitgebern, die im Vertrauen auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation keine Entlassungen vornehmen, wird somit Planungssicherheit gegeben. Gegebenenfalls ist im Sommer auch für die Zeit nach dem 1. Januar 2011 eine Verlängerung zu prüfen - Sie haben auf entsprechende Äußerungen unserer Bundesarbeitsministerin, Frau von der Leyen, hingewiesen -, sofern die wirtschaftlichen Rahmendaten dies dann notwendig machen. Zum jetzigen Zeitpunkt ein Signal zu senden, dass wir auch im Jahr 2011 in erheblichem Ausmaß mit Kurzarbeit rechnen, halte ich schlichtweg für den falschen Weg. Frau Kollegin Lösekrug-Möller, Sie haben selbst ausgeführt, dass wir zurzeit einen relativ stabilen Arbeitsmarkt haben. ({3}) Was in einem halben oder Dreivierteljahr sein wird, können weder Sie noch ich verlässlich voraussagen. Sie haben auch ausgeführt, Frau Lösekrug-Möller - ich darf Sie zitieren -: „Das schlechte Wetter ist noch nicht vorbei.“ - Sie kommen mir vor wie jemand, der bei Sonnenschein bzw. heranziehenden Wolken bereits den Regenschirm aufspannt, noch bevor die ersten Regentropfen fallen. ({4}) Wie auch unserem Koalitionsvertrag zu entnehmen ist, ergreifen wir effektive Maßnahmen, um die in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Finanz- und Wirtschaftskrise rasch zu überwinden und gestärkt aus ihr hervorzugehen. Die von uns getroffenen Maßnahmen haben zur Robustheit des Arbeitsmarktes in der Krise entscheidend beigetragen und bedürfen keiner weiteren Ergänzung. Wir geben damit sowohl den Arbeitnehmern und ihren Familien als auch den Unternehmen und Betrieben in der derzeit schwierigen Wirtschaftssituation Sicherheit und Stabilität. ({5}) - Danke schön. - Deshalb müssen wir heute die weitergehenden Anträge leider ablehnen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurzarbeit war schon in der Vergangenheit im Bundestag immer wieder ein Thema. Die Bundesregierung klopft sich auf die Schulter, um sich dafür zu loben, wie sie dafür gesorgt hat, mit dem Instrument der Kurzarbeit Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Regelmäßig gibt es dann einen Zwischenruf von der SPD: Olaf Scholz ist es aber gewesen. - Betriebsräte, Vertrauensleute und Gewerkschaften kommen als Akteure so gut wie gar nicht vor. Ich möchte an dieser Stelle all meinen Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben ganz große Anerkennung dafür aussprechen, dass ihnen das gelungen ist. ({0}) Ich kenne nicht wenige Betriebe, in denen Betriebsräte und Betriebsrätinnen gegen den anfänglichen Willen ihrer Geschäftsleitungen Kurzarbeit auf den Weg gebracht haben. Geschäftsleitungen und Personalabteilungen einiger Maschinenbaubetriebe hatten noch nicht realisiert, dass sie in einer Krise waren. Aber die Beschäftigten, Betriebsräte und Betriebsrätinnen hatten sehr schnell gemerkt, dass die Arbeit im Grunde wegbricht. Kurzarbeit auf zwei Jahre zu verlängern, war richtig. Kurzarbeit auf 18 Monate zu verkürzen, ist falsch. ({1}) Die Krise ist nicht vorbei. Im Schiff- und im Anlagenbau kommt die Krise aufgrund langer Auftragsvorläufe und Lieferzeiten gerade erst an. Auch in Teilen der Automobilindustrie beginnen erst jetzt mit dem Ende der Abwrackprämie die Beschäftigungsprobleme. Die Linke hat bereits in ihrem 10-Punkte-Sofortprogramm direkt nach der Bundestagswahl die Verlängerung der Kurzarbeit auf drei Jahre gefordert. Wir freuen uns, dass die SPD unser Anliegen aufnimmt. ({2}) Betriebsräte und Betriebsrätinnen, Gewerkschaften und Geschäftsleitungen brauchen Planungssicherheit und Instrumente zum Handeln. Kurzarbeit inklusive der Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen - ich habe gehört, was Herr Lehrieder eben gesagt hat; ich hätte gerne einmal schriftlich von Ihnen, wo das steht; denn nach meinen Informationen ist es nicht so ({3}) muss erhalten bleiben, genauso wie die Qualifizierungsmöglichkeiten während der Kurzarbeit. Außerdem ist es ein Fehler, gerade jetzt geförderte Altersteilzeit abzuschaffen. ({4}) Auch sie ist ein Instrument, das dabei helfen kann, Menschen in Arbeit zu halten und die Einstellung und Übernahme von Beschäftigten und Auszubildenden zu unterstützen. Diejenigen, die schon jetzt in Kurzarbeit sind, waren vom ersten Tag an Betroffene der Krise, ganz im Gegensatz zu den Banken, für die man große Rettungsschirme aufgespannt hat. Kurzarbeit ist für Beschäftigte nicht kostenlos. Die Bundesagentur für Arbeit ersetzt nur 60 bzw. 67 Prozent des Entgeltverlustes. Das sind teilweise erhebliche Einschnitte für die Betroffenen; denn die monatlichen Belastungen durch Miete, Lebensunterhalt und weitere laufende Kosten bestehen zu 100 Prozent weiter. Jetzt bekommen diese Beschäftigten möglicherweise noch eine Rückzahlungsforderung durch das Finanzamt. Das darf nicht sein. ({5}) Eigentlich ist Kurzarbeitergeld steuerfrei; so glaubt man. Allerdings muss man in den Einkommensteuererklärungen das komplette Jahreseinkommen versteuern. Dann ist Kurzarbeitergeld plötzlich zu versteuerndes Einkommen. So will es der Progressionsvorbehalt. Damit können plötzlich erhebliche Nachzahlungsforderungen entstehen, mit denen die Betroffenen nicht gerechnet haben und für die sie keine Rücklagen gebildet haben. Aus diesem Grund fordert die Linke den Verzicht auf den sogenannten Progressionsvorbehalt bei Kurzarbeitergeld zugunsten von Beschäftigten und deren Familien und zur Stärkung bzw. zum Erhalt der Binnennachfrage. ({6}) Das Kurzarbeitergeld ist schon ausgegeben; die Betroffenen haben keinen finanziellen Spielraum für Rückzahlungen. Wir hatten in der vergangenen Legislaturperiode bereits einen Antrag auf Abschaffung des Progressionsvorbehaltes eingebracht; jetzt tun wir es erneut. Denn das Problem für Tausende von Beschäftigten ist immer noch nicht aus der Welt. Hier muss dringend eine Lösung gefunden werden. Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen Instrumentenkasten für Betriebsräte und Betriebsrätinnen, Gewerkschaften und Personalabteilungen in Form von Verlängerung des Zeitraums für Kurzarbeit auf 36 Monate, ({7}) Erhalt der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge durch die Bundesagentur für Arbeit, Qualifizierungsmaßnahmen während der Kurzarbeit, ({8}) Förderung von Altersteilzeit, Verzicht auf den Progressionsvorbehalt und, wo Sie das sagen, Herr Kollege, Reichtum für alle. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Krellmann, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat der Kollege Sebastian Blumenthal von der FDP-Fraktion. ({1})

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie allgemein bekannt, haben wir in den vergangenen anderthalb Jahren die heftigste Wirtschafts- und Finanzkrise unserer Zeit erlebt. Um den wirtschaftlichen Einbruch abzufedern und überbrückend Arbeitsplätze zu sichern, sind die aktuellen Regelungen für Kurzarbeit sehr hilfreich gewesen. Auf die Details der Erfolge der Regelungen für Kurzarbeit ist bereits mehrfach eingegangen worden; deswegen möchte ich das nicht wiederholen. Ich komme zu dem, was die SPD fordert. Das Instrument der Kurzarbeit wirkt nur kurzzeitig und begrenzt. So war es von Anfang an geplant; denn wenn sich bei den betreffenden Unternehmen mittelfristig kein Wachstum einstellt, werden die Nachteile der Regelungen für Kurzarbeit die Vorteile überwiegen. ({0}) Daher möchten wir der Forderung, den Zeitraum für Kurzarbeit zu verlängern, nicht folgen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Kurzarbeit eine Subvention aus öffentlichen Mitteln ist, Frau Kollegin. Die SPD fordert in dem vorliegenden Antrag eine weitere Verlängerung des Zeitraums für Kurzarbeit. Wir sollten uns die Konsequenzen einmal anschauen. Wenn wir den Zeitraum für Kurzarbeit einfach verlängern, führen wir eine Dauersubventionierung ein. ({1}) - Hören Sie bitte zu! Sie müssen sich auch mit den Konsequenzen auseinandersetzen, die die Regelung, die Sie fordern, zur Folge hätte. - Diese Regelung würde weitere hohe Kosten verursachen, sie würde den Staatshaushalt nachhaltig belasten, vor allem aber würde sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belasten, die das Kurzarbeitergeld über ihre Versicherungsbeiträge mitfinanzieren müssen. ({2}) Wir würden eine weitere Subvention schaffen, die, wie wir das in der Vergangenheit bereits mehrfach erlebt haben, zu Mitnahme- und Gewöhnungseffekten führen würde: Es gab zum Beispiel Fälle, dass bei Automobilherstellern trotz steigender Nachfrage infolge der Abwrackprämie und trotz monatelanger Wartezeiten bei Pkw-Bestellungen Zehntausende Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt wurden, gleichzeitig aber Boni ausgeschüttet wurden. Es besteht also die realistische Gefahr von Mitnahmeeffekten. Darüber sollten wir uns Gedanken machen. Letztendlich würden solche Mitnahmeeffekte den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schaden; denn sie finanzieren all das indirekt mit. Zum anderen würden Steuermittel und Versicherungsbeiträge verwendet, um Unternehmen künstlich am Leben zu erhalten. So ist es zum Beispiel bei einem großen Versandhändler geschehen. Wenn das Unternehmen, weil es keine wirtschaftliche Basis mehr gibt, dann in die Pleite entlassen werden muss, verlieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer doch ihren Arbeitsplatz. Das ist eine Konsequenz, die man sich immer wieder vor Augen führen muss, die Sie bei Ihrem Antrag aber völlig aus den Augen verloren haben. Kurzarbeit in solchen Unternehmen hat dazu beigetragen, dass wertvolle Zeit verloren gegangen ist, die die betreffenden Arbeitnehmer hätten nutzen können, um sich auf dem Arbeitsmarkt neu zu orientieren. Das ist ja auch eine Chance, die man einmal erwähnen sollte. Anstelle von dauersubventionierter Kurzarbeit ({3}) brauchen wir klare und verbindliche Wachstumsstrategien. Genau das ist das Kernthema der FDP und der Bundesregierung. Dafür haben wir das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Der erste Beitrag ist also bereits geleistet. Nach aktuellen Prognosen und Modellrechnungen wird die Schwarzarbeit in Deutschland in diesem Jahr ein rekordverdächtiges Volumen von bis zu 260 Milliarden Euro annehmen. Das entspricht knapp 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ist also jeder siebte Euro, der erwirtschaftet wird. Auch das ist ein interessanter Punkt, den Sie einmal berücksichtigen sollten. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, die Menschen wieder in legale Beschäftigungsverhältnisse zu überführen. Das ist der Ansatz, den wir weiter verfolgen. ({4}) Eine wichtige, für uns unverzichtbare Maßnahme dazu ist eine grundlegende Reform der Einkommensteuer. Dafür tritt die FDP in der Regierungskoalition an. Wir brauchen spürbare steuerliche Entlastungen, damit sich legale Arbeit wieder lohnt. ({5}) - Das glaube ich auf jeden Fall. Darum haben wir dieses Ziel beschlossen. ({6}) Jetzt komme ich zu den Linken, die hier die zweite Vorlage zu diesem Thema eingebracht haben. Man muss eine interessante Veränderung Ihrer Einstellung betrachten. Vor kurzem gab es eine Pressemitteilung der Fraktion der Linken, in der der Einsatz von Konjunkturmaßnahmen gefordert wird. ({7}) Genau das ist Bestandteil des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Sie müssen einmal erkennen, dass genau das, was Sie fordern, bereits von der Regierung umgesetzt wurde; das müssen Sie zur Kenntnis nehmen und anerkennen. Zwei Wochen zuvor wurde eine andere Pressemitteilung von Ihnen herausgegeben, in der Sie sagen, es gebe überhaupt keinen Spielraum für Steuersenkungen. Das ist ein Widerspruch: Innerhalb von zwei Wochen behaupten Sie zunächst, dass Steuersenkungen nicht möglich sind, und wenig später fordern Sie Konjunkturmaßnahmen. ({8}) - Herr Kollege, da sind Sie grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Zu diesem Erkenntnisgewinn möchte ich Ihnen gratulieren und Sie ermuntern, auf dieser Ebene weiter mitzuarbeiten. Dann können Sie unsere Arbeit konstruktiv begleiten. ({9}) Damit eine Steuerreform langfristig und nachhaltig wirkt, müssen drei Kriterien erfüllt werden: Die Steuern müssen niedrig, fair und einfach ausgestaltet sein. Hier hat der Entwurf der Linken konkrete Defizite, auf die ich jetzt im Einzelnen eingehe. Die Linken fordern nämlich, dass der Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld abgeschafft wird. Es gibt allerdings eine Vielzahl von Leistungen, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen. Dazu gehören zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das Krankengeld und das Übergangsgeld. Es gibt ein Dutzend weiterer Leistungen; ich habe diese drei exemplarisch herausgegriffen. Wir stellen uns schon die Frage, wie hier die soziale Ausgewogenheit, die Sie sonst immer betonen, gewährleistet wird. Ihre Initiative lässt diese Frage völlig unbeantwortet und ist daher unzureichend. ({10}) Hier stellt sich einfach die Frage: Warum soll eine Bäckereifachverkäuferin, die kein Kurzarbeitergeld bezieht, mehr Steuern zahlen als ein Facharbeiter, der Kurzarbeitergeld bekommt und ein höheres Einkommen als die Verkäuferin hat? Das ist ein Widerspruch, den Sie nicht auflösen können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Blumenthal, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte den Gedanken zu Ende führen; ich verzichte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, keine Zwischenfrage.

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie verletzen hier den Grundsatz, dass gleich hohe Einkommen gleich besteuert werden müssen. Wo bleibt hier die soziale Ausgewogenheit? Es ist schon bemerkenswert, wenn ich als Mitglied der Freien Demokraten Sie an diesen Aspekt erinnern muss. Vielleicht gehen Sie noch einmal in sich und kommen zu einer vernünftigen Schlussfolgerung. Abschließend möchte ich sagen: Wenn wir hier eine Verbesserung der Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreichen wollen, dann brauchen wir im Zuge der Einkommensteuerreform drei konkrete Maßnahmen, nämlich einen flachen und abgestuften Tarifverlauf, hohe Freibeträge und niedrige Steuersätze. Das nützt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Familien am meisten. Dafür stehen die FDP und die Regierungskoalition. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns wirklich fraktionsübergreifend darüber einig, dass die Kurzarbeit ein geeignetes und gutes Instrument ist, um in der Krise Arbeitslosigkeit abzufedern. Ich glaube, da brauchen wir uns jetzt nicht gegenseitig katholisch zu machen. Ich will darauf hinweisen: Kurzarbeit ist eine große Leistung der Solidargemeinschaft - also nicht nur der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über Lohnverzicht ihren Beitrag leisten, oder der Arbeitgeber, die einen erheblichen Teil der Festkosten weiter tragen müssen -, die dieses Kurzarbeitergeld mit 5 Milliarden Euro finanziert. ({0}) Frau Lösekrug-Möller, da ist es eigentlich nur richtig und fair, dass wir uns intensiv Gedanken darüber machen, an welcher Stelle das Kurzarbeitergeld dringend und sinnvoll eingesetzt werden muss. Es gibt, glaube ich, gar keinen Zweifel, dass das Instrument der Kurzarbeit in der Krise weiter genutzt werden soll. Frau Lösekrug-Möller, auch nach Ihrem Beitrag ist mir aber nicht klar geworden, warum wir heute, zum jetzigen Zeitpunkt, die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate verlängern sollten. Im Moment ist nicht abzusehen, ob diese Form der Laufzeitverlängerung nötig ist; wir sind gegen die eine, vielleicht auch gegen die andere Form der Laufzeitverlängerung. In der jetzigen Situation, in der keiner genau abschätzen kann, wie sich die Krise weiterentwickeln wird, ist es falsch, eine Entscheidung zu treffen, die auf drei Jahre ausgelegt ist. ({1}) Frau Lösekrug-Möller, ich möchte Sie noch auf etwas anderes hinweisen. Sie haben in Ihrem Antrag darauf hingewiesen, dass die OECD empfohlen hat, das Kurzarbeitergeld auf andere Länder zu übertragen, weil es ein geeignetes Kriseninterventionsinstrument sei. Sie haben aber nur die halbe Wahrheit gesagt. Die OECD gibt Deutschland auch auf, jetzt damit anzufangen, darüber nachzudenken, wie wir diese Subventionierung wieder beenden können. ({2}) Subventionierungen sind manchmal notwendig, aber man muss den Zeitpunkt sehr genau abpassen, ab wann man diese vielleicht auch wieder beendet. ({3}) In die gleiche Richtung geht auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in einem Gutachten. Es wird gesagt: Durch das Kurzarbeitergeld kann nicht über einen langen Zeitraum dafür gesorgt werden, Arbeitsplätze tatsächlich zu erhalten. - Bei der Idee des Kurzarbeitergeldes geht man quasi von einer „Untertunnelung“ der Krise aus. Es gibt ein Problem, das „untertunnelt“ wird, sodass die Situation nach der Krise genauso wie vor der Krise ist. Ich habe erhebliche Zweifel daran. In dieser Krise geht es auch um erhebliche strukturelle Probleme. Wenn wir die strukturellen Probleme nicht angehen, dann schmeißen wir viel Geld aus dem Fenster heraus. Die Beschäftigten werden gehalten, aber sobald die Zahlung des Kurzarbeitergeldes eingestellt wird, zahlen wir für die Arbeitslosigkeit. Ich finde, das ist einfach zu wenig. Das können wir so nicht machen. ({4}) Ich finde übrigens, dass wir im Ausschuss intensiv darüber reden sollten, und ich finde auch, wir sollten darüber nachdenken, ob wir dazu nicht eine Anhörung durchführen. Das würde sich wirklich einmal lohnen. Ich will aber noch auf etwas anderes hinweisen: Ich bin sehr unzufrieden damit, wie die Kurzarbeit mit der Qualifizierung verknüpft worden ist. 1 Million Menschen befinden sich im Durchschnitt in Kurzarbeit. In dieser Zeit haben insgesamt nur 100 000 Menschen parallel dazu an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen. ({5}) Das sind nur 10 Prozent, liebe Leute. Das ist einfach viel zu wenig. ({6}) Wir alle wissen, dass wir in Deutschland ein Qualifizierungsdefizit größter Ordnung haben. Das wäre die Chance gewesen, die Krise tatsächlich zu nutzen, dieses Qualifizierungsdefizit zu verringern. ({7}) Deswegen lohnt es sich, im Ausschuss auch darüber noch einmal nachzudenken. Ich glaube, es wird im Ausschuss eine sehr solidarische Diskussion auf einem guten fachlichen Niveau geben. Insofern freue ich mich auf die Beratungen. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen den Menschen in dieser Krise Antworten darauf geben, wie wir unser Land aus dem Tal herausführen. Hierfür war die Ausweitung und die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes ganz unbestritten eine richtige Maßnahme. ({0}) Was wir nicht brauchen, sind solche Anträge wie der vorliegende von der Linkspartei, ({1}) mit denen populistische Ziele verfolgt werden. Das wird auch dadurch nicht besser, dass Sie diesen Antrag nun schon zum zweiten Mal stellen. Die Linke will die Abschaffung des Progressionsvorbehaltes für Kurzarbeitergeld. Damit will sie anerkannte steuerrechtliche Grundsätze aushebeln; ({2}) denn durch den Progressionsvorbehalt wird ja die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sichergestellt. Hier verstehe ich Sie nun wirklich nicht. Ich dachte immer, die Linken seien gerade diesem Prinzip verbunden. Wer mehr verdient und mehr erhält, der muss höhere Steuern zahlen als derjenige, der weniger hat. ({3}) Vor diesem Hintergrund ist die Forderung, die Sie hier stellen, schon etwas verwunderlich. Tatsache ist doch, dass Lohnersatzleistungen und damit auch das Kurzarbeitergeld steuerfrei sind. Sie werden lediglich zur Berechnung des individuellen Steuersatzes herangezogen. Wenn wir nun bestimmte steuerfreie Einkünfte beim progressiven Verlauf des Einkommensteuertarifs außer Ansatz lassen würden, dann würde dies nicht nur bedeuten, dass für diese Einkünfte ein Steuerausfall zu verzeichnen ist, sondern auch, dass ein niedrigerer Steuersatz für die übrigen Einkünfte angewendet wird. Ich hatte Sie eigentlich immer so verstanden, dass die Linken keine Steuersenkungen wollen. Sie wettern ja auch immer gegen unsere Pläne, gerade die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen zu entlasten. Wenn ich die Worte Ihres Parteivorsitzenden richtig in Erinnerung habe, dann hat er sinngemäß gesagt: Diese Steuersenkungen der christlich-liberalen Koalition dürfen nicht sein; denn dadurch werden die Kommunen in die Pleite getrieben. Aber nichts anderes als eine Steuersenkung mit einer gewissen Unwucht propagieren Sie jetzt, und zwar völlig inkonsequent. ({4}) Warum sollte der Progressionsvorbehalt nur für das Kurzarbeitergeld aufgehoben werden? Diese Frage wurde bereits gestellt. Was ist mit den anderen zahlreichen Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld und Insolvenzgeld? ({5}) Ein kompliziertes Einkommensteuersystem mit einer Vielzahl von Ausnahmen und wiederum Ausnahmen von diesen Ausnahmen haben wir schon. Wir brauchten konstruktive Vorschläge zu einer Reform der Einkommensteuer anstelle solcher Anträge. Uns in der Union geht es in allererster Linie um ein einfacheres und schon deswegen gerechteres Steuersystem. ({6}) Ihr Antrag, den wir heute debattieren, ist aber in keiner Weise für eine Vereinfachung geeignet. ({7}) Grundsätzlich muss gelten, dass sich die Einkommensteuer nach der individuellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerzahlers richtet. Dazu gehört in diesem System zwingend der Progressionsvorbehalt. Wir wollen eine Reform der Einkommensteuer, durch die neben der Vereinfachung gerade die Steuerzahler mit mittleren und niedrigen Einkommen entlastet werden. ({8}) Das sind doch all die Menschen, die morgens aufstehen, zur Arbeit gehen und hart für ihre Brötchen arbeiten. Sie zu entlasten, das sind wir ihnen schuldig. ({9}) Wenn wir mehr Wachstum wollen, dann müssen wir unser Steuerrecht leistungsgerechter gestalten und dürfen gerade nicht, wie in Ihrem Antrag geschehen, die Leistungsfähigkeit ausblenden. Erste Schritte in die richOlav Gutting tige Richtung haben wir in dieser Koalition schon gemacht. Das Bürgerentlastungsgesetz, die Absenkung des Eingangssteuersatzes, die Anhebung des Grundfreibetrages, die Rechtsverschiebung des Tarifs und das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zusammen entlasten die Menschen in diesem Land seit dem 1. Januar um knapp 22 Milliarden Euro. ({10}) Abschließend will ich als Fazit festhalten: Unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist im Einkommensteuerrecht der Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld nur folgerichtig und deswegen beizubehalten. Ergo werden wir Ihren Antrag ablehnen. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/523 und 17/255 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes - Drucksache 17/520 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zurücknehmen - Drucksache 17/447 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sabine Bätzing von der SPDFraktion das Wort. ({2})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ich beabsichtige, wie vorhin angekündigt, meine Rede mit einem lateinischen Zitat zu beenden, werde ich sie auch so beginnen: Quousque tandem, cancellaria? Wie lange noch wollen Sie diese unsolide Haushaltspolitik fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union? ({0}) Diese Frage mag vielleicht verfrüht erscheinen, ist doch die schwarz-gelbe Regierung noch gar nicht so lange im Amt. Aber seien Sie versichert: Aufgrund der Ankündigungen und vor allen Dingen der Nichtankündigungen Ihrer Regierung insbesondere in der Finanzpolitik werden wir diese Frage immer wieder und bei jeder Gelegenheit stellen. Einen ersten Anlass dazu hat uns bereits Ihr erstes Gesetz gegeben, mit dem Sie unter anderem den Umsatzsteuersatz für Übernachtungen von 19 auf 7 Prozent gesenkt haben. Das war eine offensichtliche Fehlentscheidung. Dies sehen nicht nur wir alleine so. ({1}) Mit unserem heutigen Gesetzentwurf wollen wir Ihnen die Gelegenheit geben, diesen Fehler wieder gutzumachen Wenn Sie diese Gelegenheit nicht nutzen und nicht zustimmen, dann werden Sie sich unseren Fragen auch weiterhin stellen müssen. Wir werden Sie wieder und wieder fragen, was Sie denn zu tun gedenken, um Ihre Steuergeschenke zu finanzieren. Wir werden Sie wieder und wieder fragen, wem Sie das Geld wegnehmen, mit dem Sie Ihre Steuergeschenke finanzieren. ({2}) Ohne jetzt näher auf die Details des Spendenrechts einzugehen: Der Wähler wird sich schon seinen eigenen Reim darauf machen, wenn eine Partei Geld geschenkt bekommt und dieses mit Steuergeldern zurückzahlt. ({3}) Er wird auch erkennen, dass dies bei FDP und Union mit größerer Häufigkeit vorkommt und es sich um höhere Summen handelt als bei den anderen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu Ihrer heutigen Chance und unserem Gesetzentwurf. Die Experten in der Anhörung, vor allem die aus der Wirtschaft - ich nenne beispielhaft den BDI und den DIHK; sie sind wahrlich nicht SPD-nah -, waren sich beim Wachstumsbeschleunigungsgesetz einig: Die Umsatzsteuerermäßigung für Übernachtungen ist - ich will es vorsichtig formulieren und zitiere aus der Anhörung Professor Dr. Homburg - ökonomischer Irrsinn. Denn sie führt ausschließlich zu mehr Bürokratie. ({4}) Sie führt nicht zu mehr Wachstum, und sie führt schon gar nicht zur Senkung der Übernachtungskosten. ({5}) Einen Monat nach Inkrafttreten haben sich diese Aussagen in der Praxis bestätigt. Tatsächlich haben 7 Prozent der Hotels die Preise gesenkt, 14 Prozent aber haben sie erhöht. Sie argumentieren immer wieder, dass vorrangig investiert wird ({6}) und dass nur dort, wo nicht investiert wird, die Preise gesenkt werden. Das ist eine clevere Argumentation und eine geschickte Strategie. Fakt ist leider: Es passiert nichts. Die Hotels stecken sich ihr schwarz-gelbes Steuergeschenk in die Tasche, und das war es. ({7}) Dies ist auch der Grund, warum sich praktisch jeder Betroffene in der Republik - Reiseveranstalter, Finanzämter, Steuerberater und Steuerzahler - über diese Regelung beschwert. Selbst die begünstigten Hotels sind nicht glücklich, weil sie mit den Details der Regelung - zum Beispiel in Bezug auf die Umsatzsteuerausweisung des Frühstücks - nicht zurechtkommen. ({8}) Auch Sie, meine Damen und Herren von der CDU, haben das in weiten Teilen so gesehen. Prominente Mitglieder Ihrer Fraktion wie der Bundesfinanzminister haben das durchblicken lassen, und andere, zum Beispiel Herr Professor Dr. Lammert, der Präsident dieses Hauses, haben es offen gesagt. Das ist durchaus positiv anzurechnen. Leider haben Sie nicht danach gehandelt. ({9}) Es stellt sich mir daher die Frage: Wenn Sie den Fehler erkannt haben, warum haben Sie dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz in dieser Fassung dennoch zugestimmt? Streit in der Koalition zu vermeiden, kann nicht Ihr Argument gewesen sein; denn Sie streiten sich andauernd. Was - das ist die Frage - hat Ihnen die FDP im Gegenzug zugesagt? Oder entscheidet die FDP bei Ihnen in der Steuerpolitik allein? ({10}) Oder - was noch viel schlimmer wäre - wird die Steuerpolitik in Zukunft auch in anderen Bereichen durch gezielte Spenden bestimmt werden? Beim Ausschließlichkeitskriterium lässt sich der Verdacht nicht völlig ausräumen, wie wir vorhin erfahren haben. Bedeutet das vielleicht, dass wir uns gegen eine entsprechende Spende unseren Mindestlohn hätten kaufen können? ({11}) Wie dem auch sei: Wir überlegen, was die Gründe dafür waren, dass Sie zugestimmt haben. Das kann man mit Koalitionsräson begründen. ({12}) Aber Koalitionsräson gilt doch nur für das größere Ganze. Auch wir haben in unserer Regierungszeit - ich will nichts beschönigen - die eine oder andere bittere Pille schlucken müssen. ({13}) Wir wussten aber genau, was wir jeweils im Gegenzug bekommen und dass es den Kompromiss und die Absprache wert war. Bei uns gab es kein „Wünsch dir was“ nach dem Motto: Geld her! Dann bekommt ihr euren Wunsch erfüllt. ({14}) Entsprechende Überlegungen bei Ihnen vermissen nicht nur wir, sondern die ganze Republik. Im Gegenteil: Um das Steuergeschenk durchzusetzen, haben Sie auch noch die widerstrebenden Länder gekauft. Womit, haben Sie uns allerdings bis heute nicht gesagt. Wir fragen uns: Werden Sie, die CDU, auch an anderer Stelle Steuerpläne der FDP mittragen, die selbst von Experten massiv kritisiert werden, ohne dagegenzuhalten? Wir geben Ihnen mit unserem Gesetzentwurf die Gelegenheit, Ihre falsche Entscheidung zu korrigieren und für Übernachtungen wieder den angemessenen Umsatzsteuersatz zu erheben. Wir fordern von Ihnen - genauso wie die Kanzlerin in ihrer Antrittsrede von der Opposition -, an der Verbesserung Deutschlands mitzuwirken. Wir fordern Sie auf, individuelle Größe zu zeigen. Wir richten diese Forderung nicht an FDP und CSU, weil wir wissen, dass das wahrscheinlich vergebens ist. Aber wir richten sie an die CDU, in der viele Abgeordnete in dieser Sache richtig entscheiden würden, wenn sie sich trauten. Wenn Sie es nicht für uns tun, dann trauen Sie sich wenigstens für Ihre Kommunen, Ihre Länder und den Bund, für den Sie Verantwortung tragen, und ersparen Sie den Gebietskörperschaften Mindereinnahmen in Höhe von 1 Milliarde Euro. ({15}) Wir werden die Nachricht über Ihr Abstimmungsverhalten den Bürgern sicherlich nicht vorenthalten. Wir werden das jedes Mal tun, wenn Sie von der Allgemeinheit Opfer verlangen, obwohl keine Notwendigkeit dafür besteht und es sich um reine Klientelpolitik handelt. ({16}) Wir werden jedes Mal den Wähler fragen, ob er es richtig findet, dass rund 45 000 Hotels mehr Geld bekommen, während er höhere Abgaben und Steuern zahlen muss. ({17}) Wir werden ihn fragen, ob er von der Umsatzsteuerermäßigung für Hotels profitiert hat. Wir werden dieses Thema immer wieder bei der Regierung in Zahlen nachfragen. Alles das können Sie sich mit einer mutigen Entscheidung bei der späteren Abstimmung ersparen. ({18}) Ansonsten werden Sie von mir noch öfter hören: „Ceterum censeo: Habitudinem favoris clientium esse abolendam.“ Im Übrigen bin ich der Meinung: Ihre Klientelpolitik gehört abgeschafft. Danke schön. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, meine Überraschung darüber auszudrücken, dass heute die erste Beratung über Ihren Gesetzentwurf auf der Tagesordnung steht, Frau Kollegin Bätzing. Vielleicht schaffen wir es, dass Sie heute - das haben Sie von uns gefordert - die Chance zu einer besseren Erkenntnis nutzen. Entscheidungen, die dieses Hohe Haus mehrheitlich getroffen hat, zu akzeptieren, gehört zu einer guten Zusammenarbeit. ({0}) In Ihrem Gesetzentwurf, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, bezeichnen Sie die Ermäßigung des Umsatzsteuersatzes für Beherbergungsleistungen durch die christlich-liberale Koalition als eklatante Fehlentscheidung. ({1}) - Danke schön. Ich hoffe, dass Sie auch gleich noch klatschen. - Die SPD beantragte im Bayerischen Landtag bereits im Jahr 2006 - das sollte man bitte nicht vergessen; ich zitiere wörtlich -: Die Staatsregierung wird aufgefordert, ihren Einfluss - man spricht bei der SPD von Einfluss dahin gehend geltend zu machen, dass der Bund für die Hotellerie den reduzierten Mehrwertsteuersatz in Höhe von 7 % einführt. ({2}) Wie kommt der plötzliche Meinungsumschwung zustande? Jetzt, da das Anliegen der SPD erfüllt ist, kommentiert der bayerische SPD-Landesvorsitzende Pronold die Maßnahme wie folgt: Die CSU hat Subventionen ohne sachliche Begründung durchgesetzt, ({3}) und zwar zugunsten ihrer Klientel. Da drängt sich doch die Frage auf: Gehört die Bayern-SPD mittlerweile zur Klientel der CSU? Meines Erachtens sollte sich die SPD in Bayern vergegenwärtigen, dass sie, nur weil wir das getan haben, was die SPD gefordert hat, noch nicht zur Klientel der CSU gehört. ({4}) Die angeblich fehlende sachliche Begründung liefert die SPD in Bayern im vorgenannten Antrag selbst: Die Bundesregierung wird aufgefordert, die deutsche Hotellerie wettbewerbsfähiger zu machen, indem sie die Umsatzsteuer für die Hotellerie senkt. Wie recht Sie doch haben, liebe Kolleginnen und Kollegen der bayerischen SPD. ({5}) An dieser Stelle kann ich nur dem wirtschaftspolitischen Sprecher der Grünen im Bayerischen Landtag, Herrn Dr. Martin Runge, recht geben, der die Debatte um die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes als sehr seicht empfindet. Er sieht es genauso wie die CSU. ({6}) - Seicht ist Ihr Vorgehen, nicht unseres. ({7}) Er hat recht, weil es Ihnen nicht um die Sache geht, meine sehr geehrten Damen und Herren, sondern weil versucht wird, etwas zu konstruieren. Käuflichkeit, Klientelpolitik und vieles mehr führen Sie ins Feld. Ihnen geht es gar nicht um Inhalte. Doch was macht die SPD bei dieser Debatte? Sie weiß heute nicht mehr, was sie gestern gesagt hat. ({8}) Die christlich-liberale Koalition hat eine klare Linie, einen klaren Kurs. Wir haben das, was wir in unseren Wahlprogrammen versprochen haben, gehalten und müssen nicht die in der Vergangenheit gutgeheißenen Forderungen nun bekämpfen. Wir stehen zu unserer Vereinbarung im Koalitionsvertrag. ({9}) Im Folgenden führe ich einige inhaltliche Aspekte an, wenn Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, diese überhaupt sehen und zur Kenntnis nehmen wollen. Durch die Ermäßigung der Umsatzsteuer bei Beherbergungsleistungen stärken wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Hotel- und Gastronomiegewerbes. Der überwiegende Teil der europäischen Mitbewerber in dieser Branche profitiert bereits von ermäßigten Umsatzsteuersätzen, Herr Poß. ({10}) Wenn Sie zu Ende gesammelt haben, nehmen wir die Box gern mit. Wir finden bestimmt eine gute Gelegenheit, den Inhalt zu verwenden. ({11}) Ich vertraue weiterhin auf die Prognosen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes und das zielgerichtete Handeln jedes einzelnen Hoteliers und Unternehmers. Der Großteil dieser Unternehmer ist im mittelständischen Gewerbe tätig. ({12}) Bereits jetzt werden Investitionsmaßnahmen umgesetzt, die konkrete Impulse in unserer wirtschaftlich schwierigen Zeit geben. Unsere tourismuspolitische Sprecherin Marlene Mortler hat mir von einem Gespräch erzählt, bei dem deutlich wurde, dass gerade diejenigen, die Urlaub auf dem Bauernhof anbieten, im Durchschnitt 5 000 Euro im Jahr investieren und diese Mittel zielgerichtet für Investitionen zur Steigerung der Qualität verwenden. Der dadurch ausgelöste Impuls ist meines Erachtens ein wichtiger Beitrag gewesen. ({13}) Mit Ihrem Verhalten schüren Sie nicht nur die Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger, meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition; Sie verletzten auch das Vertrauen in die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Politik. Leisten Sie wirkungsvolle und konstruktive Oppositionsarbeit! Das bisher Dargebotene erscheint eher spärlich. Die christlich-liberale Koalition hat einen ersten Teil ihrer Wahlversprechen ({14}) mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz umgesetzt, Herr Poß, und damit Wort gehalten. ({15}) Mit Ihrer Politik der Willkür werden Sie sicherlich nicht das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Das hat auch die letzte Wahl deutlich gezeigt. Ich empfehle Ihnen, die Menschen und auch Ihre Wählerinnen und Wähler mit Blick auf die in diesem Haus getroffenen Entscheidungen ernst zu nehmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Aumer, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Jetzt hat das Wort der Kollege Richard Pitterle von der Fraktion Die Linke. ({1})

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Einen Monat ist die Regelung zur Steuerermäßigung für die Übernachtung in Hotels alt, und schon hat sie für viel Aufregung und die heutige Debatte im Bundestag gesorgt. Nun fragen sich die Bürgerinnen und Bürger: Wissen die im Bundestag eigentlich, was sie da tun? ({0}) Wie sieht die Regelung in der Praxis aus? Durch die Umsatzsteuersenkung sind weder die Hotelpreise gesunken - nach Angaben vom Focus dieser Woche sind sie teilweise sogar gestiegen -, noch haben die Hotelbeschäftigten mehr Geld bekommen. Hingegen haben Sie für mehr Bürokratie gesorgt. Jetzt werden die Übernachtung mit 7 Prozent, das Frühstück und andere Zusatzleistungen des Hotels aber mit 19 Prozent besteuert. Diese Zusatzleistungen müssen auf der Rechnung extra ausgewiesen werden. Die Hotels müssen sich neue Software zulegen. Das ist für die großen Hotelketten kein Problem, für Besitzer kleinerer Hotels jedoch eine zusätzliche finanzielle und arbeitsmäßige Belastung. Aber auch die Hotelgäste haben das Nachsehen. Bisher bekam zum Beispiel eine Betriebsrätin oder ein Betriebsrat nach einer Schulung eine Rechnung des Hotels, die beim Arbeitgeber zur Auszahlung eingereicht werden konnte. In dieser Rechnung war die Übernachtung mit Frühstück in einem Gesamtbetrag ausgewiesen. Da ich vor meiner Wahl in den Bundestag als Rechtsanwalt tätig war, rufen mich heute die Mandanten an und fragen, ob es sein könne, dass der Arbeitgeber für das mit 12 Euro ausgewiesene Frühstück nur noch den steuerlichen Pauschbetrag von 4,80 Euro bezahlen müsse. Sie sind ziemlich aufgebracht. Genauso geht es vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Außendienst sowie anderen Dienstreisenden. Auch sie finden auf der Hotelrechnung Positionen, die vom Arbeitgeber nicht mehr in voller Höhe erstattet werden; wenn doch, werden sie als vermögenswerte Vorteile versteuert ({1}) und auch der Sozialversicherungspflicht unterworfen. Das zum Thema „Arbeitgeberbeiträge senken!“. Kein Wunder, dass der Spiegel in dieser Woche über die Klagen der Hotelbesitzer berichtet, wonach viele ihrer Gäste es vorziehen, statt in ihrem Hotel bei McDonald’s nebenan zu frühstücken. Verstehen Sie das unter „Beschleunigung des Wachstums“? ({2}) Wenn die Anzahl der Frühstücksgäste bei McDonald’s weiter wächst, sollte man anfangen, die Konten der FDP zu beobachten. ({3}) Warum haben Sie die Folgen Ihres Handelns nicht bedacht? Fast alle Expertinnen und Experten bei der Anhörung im Finanzausschuss waren sich doch darin einig, dass dieses schwarz-gelbe Geschenk von circa 1 MilRichard Pitterle liarde Euro an das Hotelgewerbe nicht die Ergebnisse zeitigen würde, die Sie uns versprochen haben. ({4}) Erzählen Sie mir bitte nicht wieder, auch andere Parteien hätten diese Forderung in ihrem Forderungskatalog gehabt; denn das ist keine Entschuldigung dafür, wie Sie die Forderung konkret umgesetzt haben. ({5}) Ja, es ist wahr: Auch die Linke hatte die Forderung in ihrem Wahlprogramm, ({6}) aber sie war in einen Katalog von Maßnahmen eingebettet. Vorrangig haben wir einen ermäßigten Steuersatz auf Kinderkleidung, Medikamente und arbeitsintensive Handwerkerleistungen gefordert - das ist der Punkt -, und davon steht in Ihrem Gesetz kein Wort. ({7}) Meine Damen und Herren der Koalition, wenn Sie schon nicht auf die Meinung der Expertinnen und Experten ({8}) gehört haben, dann sollten Sie sich anschauen, was für einen Schlamassel Sie in der Realität angerichtet haben. Bekanntlich geht Erfahrung vor Belehrung. Ich sage Ihnen: Fehler zu machen, ist menschlich, auch für eine Regierung; aber einen Fehler zu machen, ihn nicht einzugestehen und nicht zu korrigieren, ist politische Dummheit. ({9}) Haben Sie den Mut, Ihren Fehler zu korrigieren! Nehmen Sie die Regelung zurück! Mit unserer Unterstützung können Sie in diesem Fall ausnahmsweise rechnen. Danke. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pitterle, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. ({0}) Jetzt hat der Kollege Dr. Martin Lindner von der FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Eine Bemerkung vorweg: Nehmen Sie grundsätzlich ernst, was in unseren Wahlprogrammen steht. ({0}) Das mag bei Ihnen anders sein. In Ihren Wahlprogrammen steht irgendetwas, und man hält sich daran oder nicht. Wir aber meinen es so, wie es in unseren Programmen geschrieben steht. In der Hotellerie in Deutschland arbeiten 1 Million Menschen - 100 000 davon sind Auszubildende - in 240 000 vorwiegend kleinen und mittelständischen Unternehmen. 22 von 27 Staaten in der Europäischen Union, alle unsere Nachbarstaaten mit Ausnahme Dänemarks, kennen einen reduzierten Mehrwertsteuersatz. Damit wäre dieser Debattenbeitrag eigentlich schon zu Ende gebracht. Was wir gemacht haben, ist lediglich eine Frontbegradigung, ist lediglich die Herstellung gleicher Wettbewerbsverhältnisse für unsere Wirtschaft, für die Hotellerie in Deutschland. ({1}) Es schadet nicht, Vergleiche zu ziehen. In diesem Gewerbe hatten wir letztes Jahr einen realen Umsatzrückgang von 6,3 Prozent. Was wir mit dieser Ermäßigung der Umsatzsteuer erreicht haben, ist lediglich, dass in dieser Branche wieder investiert werden kann. Es ging doch nicht darum, die in Deutschland eh schon relativ geringen Hotelpreise abzusenken, sondern darum, dass die Menschen anständig entlohnt werden können. ({2}) Sie sitzen doch immer nur hier, fordern die Einführung von Mindestlöhnen und quatschen irgendetwas von Lohndumping. Wenn es aber einmal darum geht, einen so arbeitsintensiven Bereich zu stärken, damit die Menschen anständiges Geld für ihre Arbeit bekommen, dann sind Sie dagegen. Sie sind eine Klientelpartei. Außer Hartz IV können Sie nichts bieten. Wir sorgen für anständige Löhne, und das ist auch gut so. ({3}) Sie machen nichts als Sprüche. Hier eine Konnexität mit einer Spende herzustellen, das ist schon abenteuerlich. Bereits das Tourismuskonzept der FDP-Bundestagsfraktion aus dem Jahre 2000 hat die Forderung nach einer Absenkung der Umsatzsteuer für die Hotellerie enthalten. 2005 wurde diese Forderung wiederholt, 2007 noch einmal. Sie werden doch nicht ernsthaft auf die Idee kommen, dass ein Unternehmer, der noch halbwegs bei Trost ist, 1 Million Euro spendet, um eine Forderung, die schon seit zehn Jahren von einer Partei erhoben wird, quasi zu untermauern. Dieser Unternehmer ist doch nicht geisteskrank. ({4}) Dr. Martin Lindner ({5}) Das Schlimme ist: Sie wissen das ganz genau. Hier geht es um nichts anderes als darum, Dreck zu spritzen. ({6}) Lassen Sie mich gerade in die Richtung der Grünen etwas zum Begriff der Klientelpolitik sagen. Wenn Sie diesen Ausdruck in den Mund nehmen, dann fällt mir mein alter Lehrer ein, der immer sagte: Wenn man mit dem Finger auf jemanden deutet, sollte man bedenken, dass drei auf einen selbst zurückzeigen. Bei Ihnen kommen zehn Finger zurück. Es gibt doch keine klientelistischere Partei als Bündnis 90/Die Grünen. ({7}) Ich erläutere Ihnen das einmal an einem klassischen Beispiel. Wie wir gerade lernen, erhält die Solarwirtschaft in Deutschland durch Subventionen Margen, von denen andere nur träumen können. Wer kümmert sich darum, dass es der Solarwirtschaft weiterhin traumhaft geht? Bündnis 90/Die Grünen! Sie sind sich nicht zu schade, Ihre ganzen Vorfeldorganisationen wie die Deutsche Umwelthilfe - deren Geschäftsführer ist zufällig Ihr ehemaliger Staatssekretär Baake - in Marsch zu setzen, damit sie ihre dicken Subventionen behalten können. Diese Organisationen haben keine Umsatzrückgänge von 6 Prozent. Sie sind die Klientelpartei. Wenn ich genauso niveaulos wäre wie Sie, dann würde ich Ihnen jetzt Ihre ganzen Spenden aus der Solarwirtschaft aufzählen, wie es der Kollege Altmaier gemacht hat. ({8}) Das erspare ich Ihnen aber und uns genauso. Besonders lächerlich wird es dann, wenn Ihr Geschäftsführer Beck daherkommt und, um uns Klientelismus nachzuweisen, uns eine Beitragsreduzierung von 5 Prozent durch die DKV vorhält. Ich habe schon Angst bekommen: Gestern haben wir die Einladung eines Deli Lama, einer Art Salatservice, bekommen. In dieser Einladung stand: Mitarbeiter und Abgeordnete der FDPFraktion erhalten einen Rabatt von 15 Prozent. - Da habe ich gesagt: Um Gottes willen, werft das Ding weg! Holt euch bloß nicht einen Salat mit einem Preisrabatt von 15 Prozent. Sonst kommt der Kollege Beck wieder und haut uns das Ganze um die Ohren. - Kollege Beck würde natürlich nie auf die Idee kommen, seiner eigenen Fraktionsvorsitzenden vorzuhalten, dass sie im Wahlkampf forderte, einen Toyota Prius zu kaufen, wo doch gleichzeitig Herr Al-Wazir im Wahlkampf für einen sehr günstigen Preis einen Toyota Prius gefahren ist. Das würde er nie tun. ({9}) Uns aber einen Rabatt vorzuhalten, der jedem Kegelklub gewährt wird, dazu sind Sie sich nicht zu blöd. Am Schlimmsten ist die SPD. Ihnen kann man als Einzigen keine Klientelpolitik vorwerfen. Sie haben keine Klientel mehr. Sie haben einen Rest von Wählern, die aus Sentimentalität oder Tradition SPD wählen, aber Klientel haben Sie keine mehr. ({10}) - Haben Sie einmal Ihre gesehen? Sie ziehen hier eine populistische Nummer ab, aber trotzdem sind Sie in der Wählergunst noch nicht gestiegen. Sie haben den Parteivorsitzenden gewechselt, Sie sind trotzdem noch im Tal. Was wollen Sie eigentlich noch machen, um in der Wählergunst zu steigen? Sie bleiben bei 20 Prozent. Da können Sie machen, was Sie wollen. ({11}) Das wundert mich natürlich auch nicht. Ihr stellvertretender Parteivorsitzender Wowereit, den ich nun ein paar Jahre kenne, kritisiert diese Spende und sagt, das sei ein Riesenskandal. Das ist derselbe Wowereit, der sich von der Berlinwasser Holding ein Spenden-Dinner ausrichten ließ, nachdem er sie vorher teilprivatisiert hatte. Ein Spenden-Dinner eines teilprivatisierten Unternehmens, dessen Einnahmen sich ausschließlich aus Zwangsgebühren der Bürger rekrutieren! Dieser Wowereit macht nun die Backen dick über Parteispenden. ({12}) Ich lache mich tot. Oder nehmen Sie Herrn Gabriel: Er fordert uns jetzt auf, diesen Vorgang juristisch überprüfen zu lassen. Liebe Freunde, juristisch ist an dem Ding alles einwandfrei. ({13}) Wir haben alles deklariert, alles ist geklärt. ({14}) Hat er denn schon die 150 000 Euro, die die SPD einen Monat vor Einführung der Abwrackprämie von der Automobilindustrie bekommen hat, nach Haiti gespendet? Wenn er es gemacht hat, dann legen Sie doch den Überweisungsträger auf den Tisch. ({15}) Ihre albernen Anträge werden wir ablehnen; das ist klar. ({16}) Was wir allerdings ernst nehmen werden, ist das Thema Parteienfinanzierung. Darauf können Sie sich verlassen. Wir werden sehr genau schauen, wie sich Parteien in Deutschland finanzieren, insbesondere wenn sich Parteien aus Beteiligungen an Verlagsgesellschaften finanzieren, ({17}) indem sie von der parteieigenen Gesellschaft zweistellige Millionenbeträge pro Jahr abkassieren Dr. Martin Lindner ({18}) ({19}) und den Menschen, denen sie diese Medien zumuten, überhaupt nicht sagen, dass hinter dieser Zeitung, hinter diesem Medium eine Partei steckt, wenn auch nur mit einer Minderheitsbeteiligung. Ich lese Ihnen mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, Herr Lindner, es ist zwar Ihre erste Rede, aber Sie überziehen jetzt schon die zweite Minute.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann erspare ich Ihnen das Zitat von Inge WettigDanielmeier. Ich sage Ihnen aber eines: Wir werden dafür sorgen, dass in diesem Bereich genauso viel Transparenz herrschen wird und jeder Bürger erfahren wird, ({0}) dass nicht die Genialität von Herrn Gabriel oder von Herrn Steinmeier Redakteure dazu verführt hat, ein solches Loblied auf sie zu singen, sondern dass das der Beteiligung der SPD an dem entsprechenden Verlag zu verdanken ist. Verlassen Sie sich darauf: Transparenz bei der Parteienfinanzierung wird ganz oben auf der Agenda dieser Regierung stehen! ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lindner, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Man hat aber gemerkt, dass Sie im Landesparlament von Berlin schon ausreichend Zeit zum Üben hatten. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Gambke von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lindner, Sie nehmen zwar jetzt die Gratulationen für Ihre erste Rede entgegen, ich möchte Sie aber doch bitten, Ihre Aufmerksamkeit kurz auf das zu richten, was ich zu sagen habe. Ich habe den Eindruck, Herr Lindner, dass Sie hier mit sehr viel heißer Luft versucht haben, einen Vorgang schönzureden. Ich habe keinerlei Fakten gehört. ({0}) Doch die Fakten sollten Sie sich einmal anhören: Die Steuerermäßigung für Hotels kommt beim Kunden nicht an; ({1}) die ersten Umfragen haben das klar ergeben. Im Gegenteil, die Preise gehen sogar leicht nach oben. Geschäftsreisen - auch das ist Fakt - verteuern sich, weil weniger abgesetzt werden kann. Das Steuersystem wird durch weitere Ausnahmetatbestände nicht einfacher, sondern komplizierter. Lassen Sie mich noch eines sagen: Der CSU-Mann Guttenberg wurde heute Morgen als der große Ordnungspolitiker bezeichnet, und es wurde viel über Ordnungspolitik geredet. Als Neuling in diesem Parlament hatte ich wirklich die Hoffnung, da auch einmal Taten zu erleben. Aber wenn Sie diese Regelung, die dem, was Sie bei einer Umsatzsteuerreform brauchen und wollen, diametral gegenübersteht und um 180 Grad entgegensteht, als eine Maßnahme verkaufen wollen, die in die richtige Richtung geht, dann müssen Sie wirklich mit anderen reden. Hier im Parlament nimmt Ihnen das niemand ab. Das ist einfach unglaubwürdig. ({2}) Wir haben im Finanzausschuss nach dem Normenkontrollrat gefragt. Ein Redner hat hier von Tricksen, Täuschen, Tarnen gesprochen; genau das haben Sie gemacht. Sie haben abgelehnt, dieses Gesetz durch den Normenkontrollrat prüfen zu lassen. Jetzt sagt die Bundesregierung, dass alle Gesetze geprüft werden sollen. Sie sind gerade noch durch die Lücke gehuscht, weil Sie nicht wollten, dass unabhängige Experten Ihnen vorrechnen, was das an zusätzlichen Bürokratiekosten bedeutet. Das haben Sie vermieden, weil Sie schlicht und einfach Angst vor der Wahrheit hatten. ({3}) Der Kollege Hinsken - Herr Aumer kommt aus Regensburg, habe ich gerade gesehen - hat hier als Niederbayer die geringe Entfernung zu Schärding erwähnt. ({4}) Ich komme aus Niederbayern und war, als ich den Inn entlanggeradelt bin, auch in Schärding, weil es das schönste Barockstädtchen Österreichs ist. Die Mehrwertsteuer war jedenfalls nicht der Grund, warum ich dort war. Dann bin ich nach Breitenberg im Bayerischen Wald, 5 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, gefahren, um von dort auf den Dreisessel zu marschieren. Auch hier spielte die Mehrwertsteuer keine Rolle. Die Niederbayern sollten da mal hinhören. Den Campingplatz in Rostock vergleichen Sie mit einem Hotel in Nizza. Es ist doch absoluter Blödsinn, anzunehmen, dass da Wettbewerb eine Rolle spielt. Das können Sie doch niemandem erzählen. ({5}) - Nein. Ich wollte nur die Begründung erwähnen. Die IHK Passau, Herr Lindner, hat mich im Mai letzten Jahres gebeten und aufgefordert: Arbeitet bitte gegen die 7 Prozent! - Sie haben uns dazu mit Informationen versorgt, die ich Ihnen gleich vorlesen werde. Damals haben, wie wir wussten, die Franzosen die Mehrwertsteuer in der Gastronomie abgesenkt. Jetzt liegen die ersten Ergebnisse vor. Die Franzosen haben sogar Freiwilligkeit vereinbart. Ziel war die Schaffung von 40 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Nur 6 000 sind es, wohlwollend gerechnet, geworden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gambke, ich muss Sie unterbrechen. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Kollege Gambke, ich habe mich gemeldet, weil Sie mich namentlich genannt, aber nicht gesehen haben. ({0})

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

So ist es; tut mir leid.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin ein niederbayerischer Landsmann, aber ich stelle fest: Sie verstehen vielleicht viel vom Radfahren und vom Wandern, aber von der Hotellerie relativ wenig. Sie haben bei Ihrer Wanderung durch Niederbayern und nach Schärding vielleicht alles Mögliche gemacht, aber nicht mit den Hoteliers gesprochen; sonst hätten Sie mitbekommen, dass diese sehr große Schwierigkeiten haben, überhaupt über die Runden zu kommen. Jetzt meine Frage: Was sagen Sie zu der Aussage Ihres wirtschaftspolitischen Sprechers im Bayerischen Landtag, Herrn Dr. Runge, dass diese Mehrwertsteuersenkung dringend erforderlich ist, dass sie geboten ist und dass sie unter allen Umständen schnellstmöglich durchgesetzt werden muss? Wollen Sie dem widersprechen, ({0}) oder welche Meinung vertreten Sie hier? Diese Aussage hat er im April letzten Jahres getroffen, also wenige Monate vor den Bundestagswahlen. Bei den Grünen weiß anscheinend die Rechte nicht mehr, was die Linke tut. Das ist das große Problem. Darum wäre es gut, wenn Sie sich erst einmal informieren würden, bevor Sie hier das Wort ergreifen. ({1})

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege Hinsken, für diese Frage. Natürlich rede ich mit Herrn Dr. Runge, und natürlich kenne ich seine Meinung dazu. Ich kann Ihnen auch sagen, wie sie begründet ist. ({0}) Es gibt viele, die sich über die Umsatzsteuerreform Gedanken gemacht haben und die ordnungspolitische Grundsätze einführen wollten, im Gegensatz zu dem, was Sie gemacht haben. Man hat sich gefragt, was diese ordnungspolitischen Grundsätze sein könnten. Herr Dr. Runge hat gesagt: „Arbeitsintensive Dienstleistungen“ könnten ein Bereich sein, in dem ein verminderter Mehrwertsteuersatz angewendet werden könnte. Genau darauf bezog sich die Aussage der bayerischen Grünen zu diesem Thema. ({1}) Es ging darum, ordnungspolitische Grundsätze einzuführen. Die Hotellerie gehört zu den arbeitsintensiven Dienstleistungen. Schauen Sie sich die Erklärungen der bayerischen Grünen von letzter Woche an; da werden Sie das sehen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gambke, erlauben Sie eine Nachfrage des Kollegen Hinsken?

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte mich kurzfassen, Herr Gambke. Ich möchte Ihnen empfehlen, einmal nachzulesen, was Herr Dr. Runge genau gesagt hat. Da finden Sie das Gegenteil von dem, was Sie hier ausgeführt haben. Er lag richtig, und Sie liegen falsch. Wenn Sie auf den Pfad der Tugend zurückkehren und sich von ihm etwas sagen lassen, dann liegen auch Sie in Zukunft richtig. ({0})

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Hinsken, Sie können nicht einfach ignorieren, was mir in schriftlicher Form vorliegt. Es tut mir leid, Sie haben nicht zu Ende gelesen. Sie sollten nicht das herauslesen, was Sie lesen oder hören wollen, sondern das, was wirklich geschrieben und gesagt wurde. ({0}) Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Was Sie hier zum Besten gegeben haben, erinnert mich an den CheflobDr. Thomas Gambke byisten der Tourismus- bzw. Hotelleriebranche, aber nicht an jemanden, der ernsthaft will, dass wir mit der Umsatzsteuerreform weiterkommen, der sich ernsthaft ({1}) mit dem Thema beschäftigt, wie man zum Beispiel das Wachstum beschleunigt, und der keine Klientelbeglückungspolitik machen will. ({2}) Damit müssen Sie sich auseinandersetzen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Gambke.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gerne. Wer hier glaubwürdig über Ordnungspolitik reden und bei den Wählern Verständnis dafür erzeugen will, dass die Beiträge zu den Sozialversicherungssystemen steigen, sollte nicht für die eigene Klientel, die Hotelbesitzer und Steuerberater, noch etwas aus der Kasse nehmen. ({0}) Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie mit den Grünen ({1}) für die Abschaffung der Umsatzsteuerermäßigung. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, vielen Dank. - Ich will Ihren Redebeitrag zum Anlass nehmen, auf ein eklatantes Missverständnis hinzuweisen, dem Sie und im Übrigen auch die antragstellende Fraktion unterliegen. Hier wird nämlich fortwährend davon gesprochen, dass die Hauptintention der Reduzierung des Umsatzsteuersatzes für die Hotellerie gewesen sei, Preissenkungen für Hotelgäste zu erreichen. Das ist ein Irrtum. Diese Maßnahme ist deshalb in das Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeordnet worden, weil wir uns davon einen Konjunkturimpuls erhoffen. Tatsächlich zeigen aktuelle Berichte, dass dieses Gesetz diesen Zweck erfüllt. So hätten Sie heute Nachmittag bei der dpa lesen können - ich darf zitieren -, dass „vor allem kleinere Betriebe“ diese Reduzierung „für die Modernisierung ihrer Bäder, Fenster, Heizungs- und Lüftungsanlagen oder die Fortbildung ihrer Mitarbeiter nutzen“ wollen. Anders, als Sie glauben machen wollen, wenn Sie in diesem Zusammenhang von Hoteliers bzw. von Fünfsternehäusern sprechen, heißt es im Übrigen weiter - das hätten Sie vor Ihrer Rede wissen können -: Die Branche sei in Deutschland im Vergleich zum Ausland sehr mittelständisch geprägt. Der Anteil der großen Ketten mache gerade einmal gut 3 Prozent der fast 38 000 Betriebe aus. Damit ist diese Maßnahme auch unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten viel treffsicherer als all das, was die SPD mit ihrem Bundesfinanzminister Steinbrück beschlossen hat. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gambke, Sie haben die Möglichkeit, zu erwidern.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Ich habe sehr häufig auch andere Stimmen aus Ihrer Partei gehört. Da ging es um Preise für Übernachtungen. Das können Sie jetzt nicht einfach wegdrücken. ({0}) Ich habe auch etwas von Wettbewerb gehört. ({1}) Sie sollten sich einmal dahin gehend sortieren, was Sie wirklich wollen. Warum haben Sie nicht zumindest Vereinbarungen getroffen, in denen Sie nachweislich festlegen, wie hoch die Investitionen sein sollen? Ich sage noch einmal: In Frankreich wurde dies gemacht und nicht eingehalten. Wir wissen ja, was man von freiwilligen Vereinbarungen zu halten hat. Aber Sie haben sich ja noch nicht einmal bemüht, so etwas zu vereinbaren. ({2}) Jetzt wollen Sie uns aber verkaufen, dass da etwas passiert. Es tut mir leid, aber das ist nicht sehr glaubwürdig. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt kommen wir zum letzten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Es handelt sich um Ingbert Liebing von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Oppositionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen beantragen mit gleicher Zielsetzung die Rücknahme eines Gesetzes, das der Deutsche Bundestag am 4. Dezember beschlossen hatte und das erst seit vier Wochen in Kraft ist. Ich finde es schon erstaunlich, welche Schlüsse Sie nach vier Wochen ziehen können, wenn es um die Frage geht, ob ein Gesetz funktioniert oder nicht. ({0}) Der Branche sollte man etwas mehr Zeit geben, zu zeigen, was möglich ist und was nicht. Diese Anträge sind in der Form und in der Sache - dies haben wir heute erlebt - Klamauk und kein Beitrag zur Lösung der Probleme unseres Landes. ({1}) Dabei ist es überhaupt kein Geheimnis, Herr Gambke, dass es auch in unserer Fraktion unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema gegeben hat. ({2}) Es gibt nicht wenige, denen eine Diskussion über dieses Thema im Zusammenhang mit der gesamten Umsatzsteuerproblematik lieber gewesen wäre. Aber für den Budenzauber, den Sie hier veranstalten, hat bei uns niemand Verständnis. ({3}) Die Anträge sind in der Form daneben; denn es ist schon ein merkwürdiger Stil, Debatten und Entscheidungen, die gerade erst geführt und getroffen wurden, wenige Wochen später wieder aufzuwärmen. Wenn es die Strategie der Opposition sein soll, in dieser Wahlperiode immer die Schlachten von gestern zu führen, dann ist das ein Armutszeugnis für die Opposition. ({4}) Wenn Sie ankündigen, Frau Kollegin Bätzing, dass sie das regelmäßig machen wollen, dann erst recht. Offensichtlich haben Sie keine besseren Argumente und Themen, als dass Sie uns mit längst ausdiskutierten und entschiedenen Sachfragen kommen. ({5}) Für mich ist es schon bezeichnend - das ist schon gesagt worden -, dass es auch in Ihren Reihen nicht wenige gegeben hat und gibt, die dieser Umsatzsteuersenkung für das Beherbergungsgewerbe sehr wohl etwas Positives abgewinnen können. ({6}) Die Tourismuspolitiker Ihrer Fraktion im Tourismusausschuss vertreten dies; aber sie sind heute nicht einmal hier. Wo sind sie denn? Wahrscheinlich ist es ihnen peinlich, was Sie hier an Anträgen vorgelegt haben. ({7}) Diese Anträge sind auch in der Sache daneben; denn Sie schüren Neidkomplexe, indem Sie das Beherbergungsgewerbe darstellen, als bestehe es nur aus wenigen Hotelketten oder einigen reichen Hoteliers, die sich die Taschen vollstopfen. Davon ist doch die Rede. Welches Bild haben Sie eigentlich von der touristischen Branche in unserem Land? Diese Branche steht in einem harten Wettbewerb, der nicht zuletzt deswegen in Europa härter geworden ist, weil inzwischen 21 Länder um uns herum den abgesenkten Mehrwertsteuersatz eingeführt haben nicht zuletzt deshalb, weil der damalige SPD-Finanzminister Steinbrück einer entsprechenden EU-Regelung ausdrücklich zugestimmt hat. ({8}) Nun argumentieren Sie, es müssten auch die Preise sinken, wenn es um den Wettbewerb mit den Nachbarländern geht. Ich halte es schon für bedauerlich, dass man Ihnen erst erklären muss, dass Wettbewerb nicht nur über den Preis, sondern auch über die Qualität geführt wird. Entscheidend ist das Preis-Leistungs-Verhältnis und nicht nur ein Preiskampf. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Liebing, der Kollege Gambke würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Wenn Sie von Wettbewerb sprechen, wie kommentieren Sie dann die Meldung, dass Deutschland nach dem Sparkassen-Tourismusbarometer Spanien und Italien in Bezug auf Übernachtungen als Marktführer in der EU abgelöst hat?

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gebe Ihnen dazu gern eine passende Antwort, weil wir, die Tourismuspolitiker unserer Fraktion, gerade gestern mit Professor Feige, der dieses Tourismusbarometer erstellt hat, und dem Sparkassen- und Giroverband zusammengesessen haben. Sie haben aus ihrer Gesamtbetrachtung ein Fazit gezogen, weil wir gefragt haben, was man jetzt tun müsse, um der Branche zu helfen. Sie haben uns Folgendes gesagt: Entscheidend sind Innovationen, Investitionen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in Europa. Das ist das Fazit aus dem Tourismusbarometer. Genau deswegen senken wir den Umsatzsteuersatz: für Innovation, für Investition und für eine bessere Wettbewerbsfähigkeit in Europa. ({0}) Ein Beispiel: Ein Betrieb in der Schweiz hatte im vergangenen Jahr bei einem Umsatz von 1 Million Euro einen um 125 000 Euro höheren Ertrag als sein deutscher Kollege. Über diesen Ertrag kann er verfügen, um ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis zu erzielen, egal ob durch Preissenkungen oder für Investitionen in bessere Qualität. Bei der Qualität haben wir in Deutschland Nachholbedarf. An der Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Wir kennen doch Betriebe im Charme der 70er- und 80er-Jahre. Aber es gibt auch Betriebe, die top sind, weil sie in den letzten Jahren investiert haben. Aber wer top ist, muss auch viel tun, um top zu bleiben. Für diese Investitionen leisten wir einen Beitrag. ({1}) Das Bild von einigen wenigen reichen Hoteliers, das Sie von der Branche zeichnen, geht an der Wirklichkeit völlig vorbei. Wir haben es mit einer stark mittelständisch geprägten Branche zu tun. Es gibt insgesamt 45 000 Betriebe. Dreiviertel aller Hotels verzeichnen einen Jahresumsatz von weniger als 500 000 Euro. Dazu gehören kleine Landpensionen und Bauernhöfe mit wenigen Ferienwohnungen, hinzu kommen Campingplätze und zahlreiche private Kleinvermieter mit ein oder zwei Appartements. Zur Branche gehören auch über 350 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Zehntausende Auszubildende. Sie alle profitieren davon, wenn es ihrem Betrieb besser geht, wenn er wettbewerbsfähiger ist. Die Sicherung von Arbeitsplätzen in der Branche ist ein wichtiger Grund, warum wir dieses Gesetz genau so gestaltet haben. ({2}) Die Senkung des Umsatzsteuersatzes ist ein Bestandteil des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Das Gesetz trägt diesen Namen nicht ohne Grund. Es geht um neues Wachstum. Ich bin überzeugt: Hiermit schaffen wir neues Wachstum; denn wir geben den Betrieben Luft für Investitionen. Ich habe 300 Hotels, Pensionen und Campingplätze in meinem Wahlkreis angeschrieben und nachgefragt, wie die neuen finanziellen Spielräume genutzt werden. Mir wurden viele Beispiele genannt, wie investiert wird. Ein renommiertes Hotel wollte 900 000 Euro investieren. Die Bank hat das nicht finanziert. Die Branche ist derzeit schlecht geratet. Nach dieser Gesetzesänderung ist die Wirtschaftlichkeit des Betriebes besser. Der Betrieb bekommt den Kredit. Es wird investiert. Das sind 900 000 Euro, die auch dem Handwerk zugutekommen. Wir fordern Bürokratieabbau. Sie sagen: Das Gesetz bedeutet mehr Bürokratie. ({3}) Ich will Ihnen zwei Antworten vorlegen, die mir Hoteliers gegeben haben. So groß ist der zusätzliche bürokratische Aufwand, der die Beschränkung auf die Beherbergungsleistung erfordert, nämlich gar nicht. ({4}) Mit entsprechender EDV-Software ausgerüstet sind die marginalen Änderungen der Stammdaten leicht zu bewältigen - so ein Hotelier. Ein anderer sagt: Da wir das Frühstück aus grundsätzlichen Erwägungen stets getrennt aufführen, gibt es keinen bürokratischen Aufwand. - Das sind Antworten auf die Panikmache, die Sie betreiben. ({5}) Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nur auffordern: Beenden Sie endlich Ihre unsägliche Kampagne! Sie schaden dem Ansehen einer Branche. Sie hat es nicht verdient, dass Sie Ihre parteipolitischen Spielchen auf ihrem Rücken austragen. ({6}) Beteiligen Sie sich lieber an der Lösung der tatsächlichen Probleme unseres Landes. Davon gibt es genug. Herzlichen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/520 und 17/447 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbesserung der Rentenanwartschaften von Langzeiterwerbslosen - Drucksache 17/256 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Matthias Birkwald für die Fraktion Die Linke. ({1})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mitte der 90er-Jahre wurden für Langzeiterwerbslose noch weit über 200 Euro im Monat in die Rentenkasse eingezahlt. Unter Rot-Grün war es vor zehn Jahren noch knapp die Hälfte. Mit der Einführung des unsäglichen Hartz-IV-Gesetzes vor fünf Jahren sank der Rentenbeitrag für Langzeiterwerbslose auf monatlich 78 Euro. Im gleichen Maße sinken natürlich die Rentenansprüche der Betroffenen. Doch damit nicht genug: Um weitere 2 Milliarden Euro auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen einzusparen, hat die Große Koalition ohne Gegenstimmen der FDP den Beitrag zur Rentenversicherung nochmals fast halbiert, von 78 Euro auf nur noch 40 Euro pro Monat. Das sind sage und schreibe 80 Prozent weniger als vor 15 Jahren. Das bedeutet: Für ein Jahr Hartz-IV-Bezug erhalten die Betroffenen etwas mehr als 2 Euro Rente. 2 Euro! Damit brauchten Langzeiterwerbslose mehr als 300 Jahre für eine Rente auf Hartz-IV-Niveau. Das ist Altersarmut per Gesetz. Das ist Sozialraub. Das ist völlig inakzeptabel, und das muss ganz dringend wieder geändert werden. ({0}) Die Altersarmut von morgen wird auch das Ergebnis dieses langjährigen Sozialabbaus durch SPD und Grüne sowie Union und FDP sein. ({1}) Jedes Jahr mit Hartz-IV-Bezug ist ein verlorenes Jahr für die Alterssicherung langzeiterwerbsloser Menschen. Mit dieser Politik haben Sie die Alterssicherung der Langzeitarbeitslosen ruiniert. ({2}) Diese Politik schadet den Betroffenen; denn ihre Altersarmut ist damit vorprogrammiert. Für die künftigen Rentnerinnen und Rentner gilt Art. 1 des Grundgesetzes genauso wie für alle anderen in Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gilt auch für die Würde von Erwerbslosen, die das Rentenalter erreicht haben. Darum sollten wir alles daransetzen, Armut zu verhindern und Altersarmut gar nicht erst entstehen zu lassen. ({3}) Die Rentenkürzungen münden - so sieht es auch der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband - für viele Langzeitarbeitslose zwangsläufig in die Grundsicherung im Alter, also im SGB XII. Damit schieben Sie einen Teil der Kosten der Langzeiterwerbslosigkeit auf die Kommunen ab. Erwerbslosigkeit und ihre Spätfolgen sind aber ein gesamtgesellschaftliches Problem und keines, das den Kommunen übergeholfen werden darf. ({4}) Die Minibeiträge reißen Löcher in die Rentenkassen. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger hat schon vor Jahren gewarnt, die Minibeiträge könnten die Kosten, die aus den Ansprüchen aus Rehamaßnahmen und Erwerbsminderungsrenten entstünden, nicht ansatzweise decken. Ein Grund mehr, umgehend angemessene Beiträge für Langzeiterwerbslose in die Rentenversicherung einzuzahlen. ({5}) Der tiefere Sinn der bisherigen Politik scheint mir anders gelagert zu sein. Die fünf Wirtschaftsweisen des Sachverständigenrates nehmen da kein Blatt vor dem Mund. Sie sagen - ich zitiere -: Der Zweck dieser aus Steuermitteln finanzierten Rentenversicherungsbeiträge liegt … nicht darin, den Begünstigten einen relevanten Rentenanspruch aufzubauen, sondern ihnen einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente oder die Riester-Förderung zu eröffnen und zudem eine Unterbrechung rentenrechtlicher Zeiten zu verhindern. Auf Deutsch heißt das: Die Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose sind gar nicht für ihre Alterssicherung gedacht. Das ist doch zynisch. ({6}) Herbert Rische, der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, sagte zu dem Thema im Deutschlandradio Kultur, wir sollten uns - ich zitiere - darüber „Gedanken machen, ob man auch hier - so wie beim Arbeitslosengeld I - einen Bezugspunkt hinsichtlich des vorherigen Einkommens nimmt …, zum Beispiel etwas weniger als 80“ Prozent, „aber doch ein bisschen mehr als heute.“ Sie sehen: Wir Linken stehen mit unseren Forderungen nach besseren Rentenanwartschaften von Erwerbslosen nicht allein. Darum fordere ich Sie auf: Folgen Sie mit uns den Appellen, Forderungen und Vorschlägen des DGB, der IG Metall, des Sozialverbandes Deutschland, der Volkssolidarität, des Sozialverbandes VdK und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Bekämpfen Sie Altersarmut, bevor sie entsteht! Herzlichen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die neue Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP hat in ihrer Koalitionsvereinbarung eine, wie ich finde, bemerkenswerte und sehr wichtige Festlegung getroffen, die ich deswegen wörtlich zitiere: Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch veränderte wirtschaftliche und demographische Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut besteht. Deshalb wollen wir, dass Peter Weiß ({0}) sich die private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung - um in der alten Sprache zu sprechen: oberhalb des Sozialhilfeniveaus erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist. Hierzu wird eine Regierungskommission einen Vorschlag für eine faire Anpassungsregel entwickeln. Während sich die Linke - das ist typisch - einzelne Rosinen herauspickt, wollen wir als Koalition eine grundlegende Regel für alle schaffen, die Rentenversicherungsbeiträge gezahlt haben, durch die ihnen garantiert wird, dass sie nach einer langen Phase der Erwerbstätigkeit oder auch der Nichterwerbstätigkeit, in der auf jeden Fall Rentenversicherungsbeiträge gezahlt worden sind, ein Einkommen im Alter haben, das über der Grundsicherung liegt. Mit diesem grundlegenden Ansatz führen wir eine zusätzliche Schutzklausel in das deutsche Rentenrecht ein; das geht weit über das hinaus, was die Linke vorschlägt. ({1}) Wir wissen, dass gerade die Linke, aber auch andere, Parlamentsdebatten gern für Märchenstunden nutzen. ({2}) Als das Sozialgesetzbuch II, das gemeinhin immer noch als Hartz IV betitelt wird - diesen Titel würde ich lieber weglassen -, eingeführt wurde, hat man zwei unterschiedliche Systeme, die steuerfinanziert waren, nämlich die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe, zusammengeführt. Das war und ist bis zum heutigen Tag ein sozialpolitischer Meilenstein. ({3}) Sozialhilfeempfänger haben in der Vergangenheit null Entgeltpunkte für Rentenansprüche erwerben können. ({4}) Mit dem Sozialgesetzbuch II haben wir Hunderttausende Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger in Deutschland in die Lage versetzt, zum ersten Mal überhaupt einen Rentenanspruch erwerben zu können. ({5}) Deshalb war und ist es richtig, dass wir bei Menschen, die im Prinzip erwerbsfähig sind, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten können, nicht zwischen denen unterscheiden, die einen Rentenanspruch bekommen, und denen, die keinen Rentenanspruch bekommen, sondern dass wir allen einen Rentenanspruch zusprechen. Wenn die Linke hier immer wieder fordert, Hartz IV müsse weg, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der ehemaligen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Rentenanspruch begründen können. ({6}) Das Interessante ist übrigens, dass der Antrag, der uns heute vorliegt, mehr als substanzlos ist. Er besteht aus acht Sätzen, und anschließend werden zwei Aufsätze zitiert. ({7}) Das kann man machen. Der Punkt ist nur der: Man sollte solche Aufsätze bis zum Ende durchlesen. Dann passiert es einem nicht, dass man einige ganz wichtige Passagen übersieht. Zum Beispiel hält der Beitrag von Christina Wübbeke im IAB-Kurzbericht Einmal arm, immer arm? fest, dass man eben nicht sagen kann, dass der Arbeitslosengeld-II-Bezug automatisch ein erhöhtes Risiko von Altersarmut bedeutet, sondern dass es auch auf verschiedene andere Faktoren ankommt und dass vor allen Dingen die älteren Bezieher von Arbeitslosengeld II schon heute aus unterschiedlichen Vorphasen, auch der Berufstätigkeit, einen Rentenanspruch erworben haben, der deutlich über dem Grundsicherungsniveau liegt. Deswegen weise ich die These, ALG II bedeute automatisch Altersarmut, entschieden zurück. Die Linke hat einen zweiten Punkt einfach vergessen. Ich möchte vor allen Dingen die Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion Die Linke herzlich einladen, morgen, Freitagvormittag, 9 Uhr, an der Debatte teilzunehmen; denn morgen früh beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der einen wichtigen Beitrag zur Verhinderung von Altersarmut enthält. Wir werden das Schonvermögen - heute 250 Euro pro Lebensjahr - verdreifachen. ({8}) Das ist ein entscheidender Punkt. Die Riester-Rente ist ohnehin geschützt. Aber auch wer rechtzeitig für das Alter vorgesorgt hat, nach einem langen Berufsleben aber leider noch arbeitslos wird, aus dem Arbeitslosengeld-IBezug herausfällt und Arbeitslosengeld II beziehen muss, braucht jetzt nicht zuerst sein Vermögen einzusetzen, bevor er staatliche Hilfe bekommt. Das Vermögen, das er fleißig angespart hat, schonen wir in einem wesentlich höheren Maße, als dies je der Fall war, damit es ihm im Alter zur Verfügung steht. Das Motto „Leistung muss sich lohnen“ muss auch im Hinblick auf die Vorsorge für das Alter gelten. Die christlich-liberale Koalition setzt dieses Motto in die Tat um. Das beste Mittel gegen Altersarmut ist, wenn das, was angespart ist, im Alter zur Verfügung steht. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe das Signal schon gesehen, Frau Präsidentin. Peter Weiß ({0}) Durch die Rosinenpickeranträge der Linken wird sozialpolitisch überhaupt nichts bewegt. Wir verfolgen einen generellen Ansatz. Wir verfolgen vor allen Dingen den Ansatz: Wer für das Alter vorsorgt, fährt mit der christlich-liberalen Koalition besser, als er je in der Vergangenheit gefahren ist. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Anton Schaaf. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu dem Antrag der Linken komme, möchte auf einen Punkt eingehen, der mir in der vorherigen Debatte aufgefallen ist: Der Herr Kollege Blumenthal hat zum Thema Kurzarbeit etwas gesagt, was ich hinterfragen möchte. Er hat das, was der ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz gemacht hat, nämlich die Förderung der Kurzarbeit, als Subvention bezeichnet. Die Tatsache, dass wir viel Geld in die Hand nehmen, um die wirtschaftliche Substanz in den Betrieben und Arbeitsplätze zu erhalten, damit Deutschland nach dieser Krise zukunftsfähig ist, als Subvention zu bezeichnen, finde ich ziemlich abenteuerlich. ({0}) Wenn das tatsächlich Ihre Auffassung ist, Herr Blumenthal - das kann durchaus sein; das kennzeichnet ein Stück weit Ihr Verständnis vom Sozialstaat -, dann müssen Sie mir einmal erklären, wie Sie zustimmen konnten, als in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart wurde, die Zuverdienstgrenzen anzuheben. Das ist eine unmittelbare Subvention der Löhne, die die Arbeitgeber zahlen. Auch das müssten Sie dann als Subvention bezeichnen. ({1}) Welches Staatsverständnis die FDP hat, ist mir in den letzten Tagen wieder aufgefallen. Herr Lindner hat eben für die Büttenrede im Kölner Karneval geübt. Gesagt wird aber immer das Gleiche: Wir brauchen eine neue Balance zwischen Privat und Staat; das Bürgergeld soll kommen; die Zuverdienstgrenze soll angehoben werden. Sie haben schon ein merkwürdiges Verhältnis zum Sozialstaat; das haben Sie, Herr Kollege Blumenthal, eben noch einmal deutlich dokumentiert. Übrigens: Die Entlastung der Hoteliers bei der Umsatzsteuer ist eine echte Subvention, die Sie beschlossen haben, nicht wir. ({2}) Sie jammern über 6 Prozent Umsatzrückgang in der Hotellerie. Vielleicht sollten Sie im Zusammenhang mit dieser Debatte einmal darüber nachdenken, wie man den Menschen ein ordentliches Einkommen sichert; dann können sie vielleicht wieder in Urlaub fahren. ({3}) Herr Birkwald, ich habe Sympathie für Ihren Ansatz, zu sagen: Wir müssen eine Menge unternehmen, um Altersarmut zu vermeiden. In der Tat - das ist nicht wegzudiskutieren - zeichnet sich ein Zunehmen der Altersarmut ab. Das hat mit der Einkommenssituation zu tun, das hat sicherlich mit Erwerbslosigkeit zu tun, das hat aber auch etwas mit Lohndrückerei und damit zu tun, dass sich die Regierungskoalition beharrlich weigert, Mindestlöhne einzuführen. ({4}) Ihr Vorschlag reicht aber bei weitem nicht aus, um Altersarmut zu verhindern. Das ist nur ein kleiner Einschnitt. In der Begründung Ihres Antrags haben Sie die Mindestlöhne erwähnt. Da bin ich sofort wieder bei Ihnen. Allerdings hat Kollege Weiß an dieser Stelle recht. Wenn wir uns dieses Instrument anschauen, dann sehen wir, dass es im Hinblick auf das Alter nicht armutsvermeidend wirkt. So ist das Instrument aber auch nicht angelegt. ({5}) Wir haben 1 Million Menschen aus der Sozialhilfe herausgeholt. Damit sind rechtliche Ansprüche etwa in den Bereichen Reha und Erwerbsminderungsrente verbunden, die vorher nicht bestanden haben. Wohin würde es führen, wenn wir auch im Bereich des SGB II armutsfeste Rentenbeiträge zahlen würden? Wie steht es hier um das Abstandsgebot? Man müsste den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Steuern und Sozialbeiträge zahlen, erklären, wie das wirkt und was das bedeutet. Ich glaube außerdem, dass andere Maßnahmen viel wirksamer sein könnten. Beispielsweise kann man sich Gedanken darüber machen, eine nachgelagerte Betrachtung durchzuführen und Zeiten der Arbeitslosigkeit höher zu bewerten, sodass jemand, der langjährig versichert war, einschließlich der Zeiten der Arbeitslosigkeit beispielsweise auf 30 Entgeltpunkte kommt. Man könnte die Arbeitslosigkeit also nachgelagert höher bewerten, anstatt eine vorgelagerte Bewertung durchzuführen. Ich bin auch bei Ihnen, wenn Sie - auch das steht nur in der Begründung Ihres Antrags - eine Weiterentwicklung der Rente nach Mindesteinkommen fordern. In der Krise sollte man zumindest darüber nachdenken, dieses Instrument zu verlängern. Dieses eine, isolierte Instrument, das Sie in Ihrem Antrag fordern, ist nicht zur Bekämpfung der Altersarmut geeignet. Herr Kollege Weiß, Sie haben bei der Frage, wie man die Armutsvermeidung am besten in den Griff bekommt, im Koalitionsvertrag insbesondere die Frage der privaten und betrieblichen Altersvorsorge für Geringverdiener in den Fokus genommen. Mir wäre es lieb gewesen, wenn die alten Kollegen der Union aus den Sozialausschüssen dafür gesorgt hätten, dass im Koalitionsvertrag gestanAnton Schaaf den hätte: Die gesetzliche Rentenversicherung soll verbreitert und substanziell verbessert werden, und zwar für alle Menschen. Das haben Sie aber nicht im Koalitionsvertrag durchgesetzt. Ich komme zur realen Politik der Koalition und zur Frage des Zuverdienstes. Das ist eine ganz spannende Frage. Anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschen ordentliche Ansprüche aus Arbeit erwerben können, wollen Sie die Zuverdienstgrenzen anheben, und dann wird eben draufgezahlt. Wir haben schon jetzt eine Aufstockerproblematik. Menschen, die sich in solchen Arbeitsverhältnissen befinden, werden niemals ordentliche Ansprüche für das Alter erwerben können. Das ist doch Fakt. ({6}) Es ist der falsche Weg, die private Altersvorsorge zu stärken. Die gesetzliche Altersvorsorge muss gestärkt werden; wir müssen mehr Menschen einbeziehen. Hier reden wir zum Beispiel über die drohende Gefahr im Zusammenhang mit der Solo-Selbstständigkeit, wo es ein Riesenproblem gibt. Da kann die Antwort doch nicht sein - Sie haben sie gebracht -: Wir öffnen die RiesterFörderung auch für Selbstständige. - Das ist doch der falsche Weg. Wir haben die Riester-Förderung vor dem Hintergrund der Absenkung des Rentenniveaus als Nachteilsausgleich für die betroffenen gesetzlich Versicherten installiert. Diejenigen, die nicht gesetzlich versichert sind, werden durch die Absenkung des Rentenniveaus nicht benachteiligt; aber Sie wollen ihnen die Vorteile der Riester-Förderung einräumen. Ich halte den Weg, den Sie da gehen, für völlig falsch. Ich bin der festen Überzeugung - das habe ich immer gesagt -: Man kann die Menschen am besten vor Altersarmut schützen, wenn man ihnen Arbeit verschafft, die aber auch vernünftig bezahlt wird, also sozialversicherungspflichtige Arbeit. Ihr Weg ist völlig falsch. ({7}) Ich sage noch etwas zum Mindestlohn, weil einem in diesem Zusammenhang immer wieder Vorwürfe gemacht werden. Herr Kollege Weiß, Sie wissen, dass wir in der letzten Legislaturperiode über branchenspezifische Mindestlöhne geredet und sie zum Teil vereinbart haben. Ich finde, wir haben das teilweise sehr ordentlich geregelt; immerhin sind einige Branchen hinzugekommen. ({8}) Ich weiß noch nicht, wie es jetzt mit der Lex FDP aussieht: Die FDP kann eventuell Mindestlöhne, die wir vereinbart haben, im Kabinett anhalten. Das ist schon ein starkes Stück. Das müssen Sie mit denen ausmachen. In der Großen Koalition stand auch die Frage des Mindestlohns im Bereich der Zeit- und Leiharbeit auf der Tagesordnung. Hier lagen Anträge vor, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam unterstützt wurden. Die Union hat den Mindestlohn in der Zeit- und Leiharbeitsbranche verhindert, und zwar aus ideologischen Gründen. Da gibt es Dumpinglöhne, die von Christlichen Gewerkschaften ausgehandelt wurden. Dann sagt die Union, es gebe konkurrierende Tarifverträge und deshalb werde kein Mindestlohn eingeführt. Wir waren, wenn es darum geht, Menschen vor Altersarmut zu schützen, schon einen Schritt weiter: Zumindest haben wir branchenspezifische Mindestlöhne vereinbart. Ich sage aber noch einmal: Ziel ist ein vernünftiges Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Wer Vollzeit arbeitet, muss ein anständiges Einkommen und einen anständigen Rentenanspruch haben, sodass er seine Familie ernähren kann. Man muss von seiner Arbeit leben und sich durch sie ordentliche Ansprüche erwerben können. Das, was Sie hinsichtlich des Einkommens betreiben, ist ganz genau das Gegenteil. Alle rentenpolitischen Maßnahmen werden Ihnen nicht helfen - und Heilsversprechungen auch nicht. Sorgen Sie dafür, dass die Menschen ordentliche Mindestlöhne und Einkommen haben! Beenden Sie die Schmuddelgeschichten bei der Zeit- und Leiharbeit! Dann sind wir schon ein Stück weiter. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere der Linkspartei! Wir als christlich-liberale Regierungskoalition freuen uns natürlich über jeden, der sich darüber Gedanken macht, wie eine drohende Altersarmut zu verhindern sein wird. Insofern finden wir das gut. Vielleicht sind Sie auch dadurch auf den Gedanken gekommen, dass Sie unseren Koalitionsvertrag gelesen haben. ({0}) Dort ist nämlich klar ausgeführt, dass wir uns diesem Thema stellen wollen. Altersarmut könnte in der Tat zu einem größeren Problem werden, wenn wir es jetzt nicht beherzt anpacken. Im Koalitionsvertrag haben wir bereits einen wesentlichen Teil der Lösungen dafür vereinbart. Morgen werden wir eine erste Säule zur Beratung hier in den Bundestag einbringen. Herr Weiß hat es schon erwähnt: Wir werden den Freibetrag beim Schonvermögen für HartzIV-Empfänger, der der verbindlichen Altersvorsorge dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifachen. Das ist das eine. ({1}) Zum anderen haben wir im Koalitionsvertrag auch schon festgelegt, dass wir selbst genutzte Immobilien umfassend schützen werden. Auch das ist vereinbart; auch das wird kommen. Mit diesen beiden Maßnahmen erreichen wir freilich noch nicht jeden; auch das wissen wir. Da es aber von Tag zu Tag glücklicherweise immer mehr Menschen gibt, die privat für ihr Alter vorsorgen - im Übrigen auch aus Verantwortung der Solidargemeinschaft gegenüber -, erreichen wir mit dieser Maßnahme zukünftig immer mehr Menschen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist sehr freundlich, Herr Kollege. - Können Sie mir hinsichtlich des Schonvermögens beantworten, wie viele Betroffene nach den aktuellen Zahlen von dieser Anhebung des Schonvermögens tatsächlich profitieren? Mir liegen Zahlen vor, wonach es um 0,5 Prozent sind. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schaaf, ich sehe es Ihnen nach, dass Sie aufgrund der Vorbereitung auf Ihre Zwischenfrage die letzten Sätze nicht gehört haben. Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass dadurch, dass immer mehr Menschen privat vorsorgen werden, was wir alle miteinander wollen, in Zukunft auch immer mehr Menschen davon betroffen sein werden. Ich füge aber hinzu, Herr Schaaf: Es muss natürlich unser aller Bemühen sein, dass möglichst wenige Menschen in die Situation kommen, Hartz IV beziehen zu müssen. ({0}) Hier strengen wir uns an; das kann ich Ihnen versichern. ({1}) Ich bin mir sicher, dass durch die Verdreifachung des Schonvermögens - mit Blick auf die Zukunft gedacht, und über die Zukunft reden wir - einige soziale Härten in unserer Gesellschaft verhindert werden. Lieber Herr Schaaf, auch deshalb ist die Kritik, die jetzt gerade aus den Reihen der SPD zu diesem Thema kommt, wonach das nur einen sehr eingeschränkten Personenkreis betreffen würde - Sie haben das gerade gesagt -, schlichtweg falsch. Das zeigt nur, dass Sie nicht weit genug in die Zukunft blicken. ({2}) Erhöhung des Schonvermögens und Schutz der selbst genutzten Immobilie: Das sind schon einmal zwei ganz wesentliche Pfeiler, mit denen wir die gröbsten Ungerechtigkeiten der rot-grünen Hartz-IV-Reformen beseitigen wollen und mit denen wir dem Problem einer zukünftig drohenden und sich möglicherweise ausweitenden Altersarmut begegnen werden. Bei diesen beiden Pfeilern wird es aber nicht bleiben. Herr Weiß hat das schon ausgeführt. Wir haben im Koalitionsvertrag darüber hinaus vereinbart, eine Regierungskommission zum Thema einer drohenden Altersarmut einzusetzen, deren Ergebnisse wir als selbstbewusste Parlamentarier natürlich kritisch prüfen, dann aber auch zur Grundlage unserer künftigen Arbeit und Entscheidung machen werden. ({3}) Klar ist aber auch, dass es bei all unseren Bemühungen, die rot-grünen Hartz-IV-Reformen gerechter zu machen und die gröbsten Härten abzumildern, das vordergründigste Ziel dieser christlich-liberalen Regierung und Regierungskoalition ist, dass sich möglichst viele Menschen in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen befinden, sie damit eigene Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und in der Lage sein werden, zusätzlich privat für ihr Alter vorzusorgen und in den Genuss einer betrieblichen Altervorsorge zu kommen. Dazu ist ohne Frage ein Bündel von sozialpolitischen, arbeitsmarktpolitischen, bildungspolitischen, familienpolitischen, wirtschaftspolitischen, finanzpolitischen und haushaltspolitischen Maßnahmen notwendig, die wir aber allesamt zügig angehen werden und zu einem guten Teil auch schon angegangen sind. Es gibt aber auch noch ein anderes wichtiges Ziel dieser Regierungskoalition, nämlich die Haushaltskonsolidierung. ({4}) Dazu stehe ich auch als Sozialpolitiker, der ohne Zweifel finanzielle Mittel für seinen Bereich und vor allen Dingen für die Menschen, für die wir Politik machen, braucht. ({5}) Aber als Sozialpolitiker dieser christlich-liberalen Regierungskoalition stellen wir uns auch der Herausforderung, dass wir in Zukunft noch besser begründen müssen, wofür wir Geld einsetzen werden. Wir werden nachweisen, was es für die Betroffenen wirklich bewirkt, und wir werden vor allen Dingen sagen, wie viel es ist. Dazu findet sich in Ihrem Antrag leider nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei. Darin heißt es lapidar: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf, die Rentenanwartschaften von Langzeiterwerbslosen umgehend deutlich zu verbessern. Wie viel es sein wird, was es kosten wird, und wie man es macht, schreiben Sie nicht. ({6}) Das liegt vielleicht daran, dass Sie das, was Sie politisch wollen, selbst für nicht finanzierbar halten, oder dass Sie das, was Sie finanzieren wollen, gegenüber Ihrer eigenen Anhängerschaft politisch nicht vertreten wollen. Wir wollen Politik anders machen. Wir denken etwas länger nach, beraten uns intensiv, berechnen und geben an, ob es etwas kostet und gegebenenfalls wie viel, und werden damit, ganz im Sinne der betroffenen Menschen, erfolgreich sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht. Art. 22 der Menschenrechtserklärung sollte für uns alle der Maßstab sein, wie man mit den Schwächsten der Gesellschaft, den Langzeitarbeitslosen, umgeht. Wie zum Beispiel Herr Koch, mein Ministerpräsident in Hessen, herumschwadroniert und über die Hartz-IVEmpfänger herzieht, ist nicht der Umgang mit den Langzeitarbeitslosen, den wir uns wünschen. Das, was die Ministerin dazu gesagt hat, war nur ein bisschen abgeschwächt. ({0}) Mit demselben Ansatz gehen wir auch an die Rente und die Rentenansprüche von Langzeitarbeitslosen heran. Es ist völlig richtig, dass der Betrag von 2,19 Euro lächerlich ist. ({1}) - Nein. ({2}) - Er ist von der Großen Koalition auf 2,19 Euro halbiert worden. Herr Birkwald hat vorhin das Prozedere beschrieben. Herr Weiß hat darauf hingewiesen, dass es gar nicht darum ging, einen Satz zu finden, der nach 40 Jahren Arbeitslosigkeit eine existenzsichernde Rente ergeben würde. ({3}) Das ist der nächste Punkt. Wir haben einen Kritikpunkt gegenüber der Linken. Denn man muss ehrlich sein: Auch eine Erhöhung würde noch keine existenzsichernde Rente bedeuten, es sei denn, man verzehnfacht oder verfünfzehnfacht den Satz. Dann müsste man allerdings auch sagen, wie das Ganze zu finanzieren wäre. Sie von der Linken nicken zwar, aber in Ihrem Antrag ist nichts dazu enthalten. Im Antrag wird eine deutliche Erhöhung gefordert, aber was heißt das denn? Damit können Sie uns nicht kommen. Es ist viel zu billig, einfach zu sagen, dass die Welt besser werden muss. Dem kann man sich nicht verschließen; das ist völlig richtig. Aber was heißt „deutlich besser“? Meinen Sie das Fünffache, Zehnfache oder Zwanzigfache? Bei einer deutlichen Erhöhung auf ein existenzsicherndes Niveau, zum Beispiel um das Zehnfache, gäbe es das Problem, das Herr Schaaf angesprochen hat. Was wäre dann beispielsweise mit den Geringverdienern? Müsste man das nicht auch auf sie beziehen? Es gibt viele Folgeeffekte. Sie sagen auch nicht, wie Ihre Forderungen finanziert und umgesetzt werden sollen. Es fehlt also noch einiges. Ähnlich verhält es sich mit dem Gesamtproblem der Altersarmut. Auch das ist nur eine Teilgruppe. Man braucht aber ein Gesamtkonzept. Dazu haben Sie in der Begründung zu Ihrem Antrag ein paar Stichpunkte genannt, aber das ist noch ein bisschen wenig. Sie müssen mehr leisten. Für unsere Fraktion kann ich versprechen, dass wir ein Gesamtkonzept gegen Altersarmut vorlegen werden. Die schwarz-gelbe Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, etwas machen zu wollen. Der Satz, der vorgelesen wurde, strotzt allerdings vor Widersprüchen. Es wird eigentlich nicht ganz klar, was dabei herauskommen soll. Es wird nicht deutlich, dass Sie eine existenzsichernde Rente haben wollen. ({4}) Da steht etwas von betrieblicher und privater Alterssicherung, die irgendwie besser auf die Grundsicherung angerechnet werden soll. Es soll weiterhin eine bedürftigkeitsgeprüfte Leistung geben. Diesem Satz zufolge handelt es sich also eher um eine Grundsicherung de luxe als um eine existenzsichernde Rente. Wir dagegen streben ebendiese an. ({5}) Wir werden, wie gesagt, ein Konzept dazu vorlegen. Ich bin auf das Konzept der Regierung und auf das Konzept der Linken gespannt. Vielleicht kommt sogar noch von der SPD ein Gesamtkonzept zum Thema Altersarmut. ({6}) Ich finde allerdings, dass man sich diese Ein-Satz-Anträge, die die Linke manchmal einbringt, eigentlich sparen kann. Ziehen Sie den Antrag am besten einfach zurück. Wenn dann alle Konzepte vorliegen, können wir eine ausführliche Diskussion darüber führen. Herzlichen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Linken haben heute wieder nur zu einem bestimmten Thema einen Antrag eingebracht, in diesem Fall zur Altersarmut. Diesen Antrag haben sie auf die Langzeitarbeitslosigkeit abgestellt. Ich glaube, dass dies der Sache in keiner Weise gerecht wird. Sie müssten nämlich zuerst definieren, was Langzeitarbeitslosigkeit überhaupt bedeutet. Ich kann mich durchaus erinnern, dass man von Langzeitarbeitslosigkeit spricht, wenn ein Jugendlicher länger als ein halbes Jahr arbeitslos ist. Bei Älteren spricht man von Langzeitarbeitslosigkeit, wenn sie über ein Jahr arbeitslos sind. Ich kann mir bei weitem nicht vorstellen, dass bei einem Jugendlichen, der sieben, acht oder selbst zwölf Monate arbeitslos ist, dann wieder eine Arbeit bekommt und der sein Arbeitsleben von 45 Jahren noch vor sich hat, die Altersarmut vorprogrammiert ist. Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Antrag abzulehnen. Er ist weiterhin den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern gegenüber nicht gerecht. Es geht schließlich darum, dass das Äquivalenzprinzip in der Rente eine Grundlage hat. ({0}) Die beste Vorsorge gegen Altersarmut - das haben wir auch im Koalitionsvertrag niedergelegt - sind möglichst viele Arbeitsplätze und damit möglichst sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bei guter Bezahlung. Dafür stehen wir. Daran werden wir arbeiten. Im Hinblick auf die Forderungen der SPD und der Grünen möchte ich Folgendes sagen: Mit gesetzlichen Mindestlöhnen werden Sie die Altersarmut nicht bekämpfen. Denn wenn jemand 45 Jahre lang auf einen Stundenlohn von 7,50 Euro angewiesen ist, wird er hinterher auch auf Grundsicherung angewiesen sein. ({1}) Das kann es nicht sein. Deshalb ist es besser, starke Tarifparteien, starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände zu haben. Wir als christlich-liberale Regierung werden für ein gutes wirtschaftliches Umfeld sorgen, damit in unserem Land viele Arbeitsplätze entstehen. ({2}) Den Menschen wird dadurch ermöglicht, nicht nur Rentenanwartschaften zu begründen, sondern auch Eigentum zu bilden. Dies ist ein entscheidender Gesichtspunkt. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen Eigentum erwerben können und Eigentum gebildet werden kann. Man muss sich ein eigenes Haus leisten können, das im Falle von tatsächlicher Altersarmut geschützt ist. Für eine entsprechende Regelung haben wir bereits gesorgt. Darüber hinaus muss die Möglichkeit, privat vorzusorgen, geschützt werden. Das werden wir morgen in der Parlamentsdebatte ausführlicher diskutieren. Kollege Schaaf hatte vorhin gefragt, wie vielen Menschen das nützt. Ich sage: Es nützt allen Menschen, die möglicherweise von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht sind, aber schon seit langer Zeit arbeiten und Vermögensbildung betrieben haben. Wir garantieren damit den Menschen letztendlich Sicherheit. Das ist doch das Entscheidende für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und nicht die Anzahl derjenigen, die davon einen Nutzen haben. Das Beste ist, wenn niemand diese Regelungen in Anspruch nehmen muss und jeder bis zum Renteneintrittsalter einer Beschäftigung nachgehen kann. ({3}) Sie von der Linken haben besondere Probleme mit der Eigentumsbildung in unserer Gesellschaft. Eigentum ist bei Ihnen verpönt; denn Eigentum muss nach Ihrer Auffassung stark besteuert werden und entsprechend mit Erbschaftsteuer belegt werden. Das zeigt deutlich den eigentumsfeindlichen Charakter Ihres Antrags. Sie wollen gar nicht die Menschen in die Lage versetzen, eine wichtige Grundlage für ihre Altersvorsorge zu legen. Sie rufen nur nach sozialen Leistungen. ({4}) Ihr Antrag enthält etwas versteckt den Ruf nach einer Mindestrente bzw. einem Mindesteinkommen. Das zeigt sehr deutlich, dass es sich hier um keine gute sozialpolitische Agenda handelt. Sie wollen letztendlich vom sogenannten Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung, mit dem wir über Jahrzehnte gut gefahren sind, abweichen. Das ist sozialpolitisch nicht sinnvoll; denn damit werden geringfügig Beschäftigte und Teilzeitbeschäftigte deutlich besser gestellt als Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die Vollzeit gearbeitet haben. Wir werden sicherlich noch Gelegenheit haben, in Anhörungen über diesen Antrag zu diskutieren. Es wäre gut, wenn sich die Linke darauf verständigen könnte, dass unser gesetzliches Rentenversicherungssystem eine großartige Grundlage ist, Altersarmut vorzubeugen, und Menschen, die keine ausreichende Rente haben, einen hervorragenden Schutz durch eine Grundsicherung bei Erwerbsunfähigkeit bzw. im Alter bietet. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({0}), Brigitte Pothmer, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Jugendlichen bessere Ausbildungschancen geben - DualPlus unverzüglich umsetzen - Drucksache 17/541 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen guten Abend! Auch wenn uns noch nicht alle aktuellen Zahlen der Nachvermittlung vorliegen, kann man grundsätzlich ein paar Fakten feststellen, die noch immer für den Ausbildungsbereich gelten. Etwa 50 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber im letzten Jahr haben keinen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Der Verbleib von etwa 100 000 Jugendlichen ist völlig unklar. Man weiß nicht, ob sie in Maßnahmen, zu Hause oder in Beschäftigung sind. Es gibt zudem 300 000 Altbewerber. Wir haben des Weiteren ein völlig ineffektives und circa 3 bis 5 Milliarden Euro teures Übergangssystem. Trotz aller Anstrengungen des Handwerks und der Industrie ist die Zahl der Ausbildungsverträge im letzten Jahr einzig und allein im öffentlichen Dienst gestiegen. Ansonsten haben die Ausbildungsangebote abgenommen. Das heißt im Klartext, wir brauchen ein konjunkturunabhängiges System für die Ausbildung, in dem mehr Ausbildungsbetriebe eingebunden sind: Ausbildungsbetriebe, die nur besondere Sparten ausbilden können, solche, die keine Ausbildungstradition haben, und kleine Ausbildungsbetriebe, die das allein nicht stemmen können. Wir haben ein System entwickelt - darüber haben wir hier schon mehrfach diskutiert -, mit überbetrieblichen Ausbildungsstätten gemeinsam die Betriebe dazu zu bringen, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Das hätte den Effekt, dass wir mehr Quantität hätten, das heißt eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen, aber auch einen qualitativen Sprung, weil in überbetrieblichen Ausbildungsstätten die Betriebe beteiligt sind und dort tatsächlich etwas anderes stattfindet als in den dequalifizierenden Warteschleifen, die wir zurzeit haben. Das System ist anschlussfähig an das, was DIHK und ZDH bislang vorgelegt haben: an das System der Qualifizierungsbausteine, wie es der ZDH vorgelegt hat, und an die Skizze „Dual mit Wahl“, die der DIHK vorgelegt hat. ({0}) Was aber macht die Bundesregierung? Sie kürzt im vorliegenden Haushalt die Mittel für die überbetrieblichen Einrichtungen, anstatt sie massiv auszubauen. ({1}) Auf dem Bildungsgipfel wird zwar viel diskutiert; aber mit den Ländern wird nicht einmal darüber geredet und festgehalten, wie man die berufliche Ausbildung tatsächlich reformiert. All die Versuche, Projekte und Modelle, die immer stückchenweise vom Haushalt mitfinanziert werden, führen nicht dazu, dass man einen besseren Einstieg in die Ausbildung hat und man für Altbewerber tatsächlich gute, qualifizierende Systeme und Einstiegsangebote schafft. Es gibt keine Durchlässigkeit hin zur Weiterbildung, und es gibt keine ausreichende Zahl von Ausbildungsangeboten. ({2}) - Natürlich stimmt das. Diese Fakten können Sie doch nicht leugnen. Die Fakten liegen auf dem Tisch, und es wird nicht besser, wenn Sie immer nur auf den Ausbildungspakt schielen und immer noch Vereinbarungen nur mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag und dem ZDH treffen. Das ist sicherlich ganz schön und wichtig, aber es reicht nicht aus. Wir brauchen eine Reform der Ausbildung, bei der mehr Akteure ins System einbezogen werden, damit wir tatsächlich eine entsprechende Qualität für Nachwuchskräfte und soziale Integration hin zur Beschäftigungsfähigkeit junger Leute erreichen. ({3}) Es geht nicht an, dass wir eine solche Desintegrationsstrategie fahren. Deswegen bitten wir Sie, unseren Antrag im Ausschuss ordentlich zu beraten und ihm anschließend zuzustimmen sowie im Haushalt möglichst die Mittel für die überbetrieblichen Einrichtungen aufzustocken. Danke schön. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Uns liegt ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr Jugendlichen bessere Ausbildungschancen geben - DualPlus unverzüglich umsetzen“ vor. Dabei geht es in erster Linie darum, neben Berufsschule und Betrieb eine staatliche überbetriebliche Ausbildungsform als dritte Säule neben dem dualen System aufzubauen. Das soll nach Meinung der Grünen zu einer Neustrukturierung der gesamten Berufsausbildung führen. Über 300 000 junge Leute, die sich in Warteschleifen befinden, sollen einer Ausbildung zugeführt werden. Dazu merke ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Folgendes an: Erstens. Wir sind auch durch unsere Verbundenheit mit dem ländlichen Raum und durch die damit einhergehenden Kontakte mit bodenständigen Handwerksmeistern der festen Überzeugung, dass unser duales Berufsausbildungssystem überaus erfolgreich ist. ({0}) Zweitens. Wir glauben nicht, dass ein stärkerer staatlicher Einfluss auf die Berufsausbildung die Lage der schwer vermittelbaren Jugendlichen - um solche handelt es sich überwiegend - nachhaltig verbessert. ({1}) Drittens. Wir sind der Überzeugung, dass die Unternehmen und Handwerksbetriebe sich der Problematik des demografischen Wandels und der daraus resultierenden Knappheit an qualifizierten Mitarbeitern bewusst sind. ({2}) Dass dies so ist, kann man schon daran ablesen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der stärkste Einbruch der Konjunktur in Friedenszeiten seit der Weltwirtschaftskrise nicht zu einem entsprechenden Anstieg der Arbeitslosigkeit in 2009 geführt hat. Warum ist das so? Weil die Unternehmen Fachkräfte an Bord halten wollen, dafür die Kurzarbeiterregelung nutzen und auch in Zukunft nutzen können. Ich habe in meinem Wahlkreis die wissenschaftlich fundierte Initiative „Qualifizieren statt Entlassen“ gestartet, die von zwei Professoren der privaten FOM, Hochschule für Oekonomie & Management, entwickelt worden ist. Unternehmer und Handwerker der Region wollen qualifizierte Leute auch über die Durststrecke hinweg im Unternehmen behalten und sind bereit, dafür auch Gewinneinbußen oder sogar Verluste hinzunehmen. Viertens. Wenn ich mir vor diesem Hintergrund überlege, warum es so viele junge Leute in Warteschleifen gibt, komme ich zu dem Schluss, dass dies sicher nicht deshalb so ist, weil unsere Unternehmer und Handwerksmeister ausbildungsfeindliche Egoisten sind, denen womöglich der Staat die Notwendigkeit von Ausbildung und Investitionen in Bildung erklären und dies sogar noch vormachen müsste. Ich kenne genügend Betriebe, die mehr oder überhaupt Jugendliche ausbilden würden, wenn sie entsprechend qualifizierte junge Leute finden würden. ({3}) Fünftens. Ich sage auch ganz klar: Dabei geht es überhaupt nicht um theoretisches Überfliegertum. Ein Dachdeckermeister sucht keinen Schüler, der sich für die Relativitätstheorie von Einstein interessiert; er sucht jemanden, der sich für das Handwerk begeistert, notwendige Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ehrlichkeit mitbringt und ein entsprechendes Sozialverhalten an den Tag legt. ({4}) Wenn er solche Jugendliche nicht findet, wird Ausbildung nicht nur uninteressant, sondern objektiv unmöglich. Sechstens. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks geht davon aus, dass rund jeder vierte Jugendliche nicht ausbildungsfähig sei; jährlich verließen 8 Prozent der Schüler ihre Klassen ohne Abschluss; dazu kämen weitere 15 Prozent, die selbst in den Hauptfächern Mathematik und Deutsch unzureichend ausgebildet seien. Diese Defizite beseitigen Sie mit Ihrem Antrag nicht. Hier muss im Vorfeld, insbesondere bei Familien und Schulen, angesetzt werden. Siebtens. Das bedeutet, dass notwendige Sekundärtugenden und Eigenverantwortung in der Erziehung in Deutschland wieder einen höheren Stellenwert bekommen müssen. ({5}) Dadurch wurde unser Land zu einem der erfolgreichsten Länder der Welt. Durch Fehlentwicklungen wie die antiautoritäre Erziehung und die Spaßgesellschaft haben wir Zukunftsfähigkeit verloren. ({6}) Diese gilt es zurückzugewinnen. Wir müssen die eigentlichen Probleme lösen und dürfen nicht, wie die Grünen beabsichtigen, an den Symptomen herumdoktern. Viel wichtiger ist es, den Kindern wieder Leistungsbereitschaft und Freude an der eigenen Arbeit sowie soziale Verantwortung beizubringen. ({7}) Achtens. Bei der Neujahrsansprache der Kreishandwerkerschaft in meinem Wahlkreis Diepholz-Nienburg I sagte deren Kreishandwerksmeister sinngemäß: Junge Menschen, die sich für eine Ausbildung interessieren, sollen praxisfähig sein und nicht durch die Qualitätshürden der Theorieausbildung an einem Abschluss gehindert werden. Die übertriebene Verschulung in der Ausbildung ist im Handwerk eine Hürde für den Auszubildenden. Der Handwerksmeister muss wieder einen Mehrwert bekommen, der sich aus der PraxisfäAxel Knoerig higkeit der Berufsausbildung ergibt. Die Qualitätshürden der beruflichen Ausbildung dürfen also nicht so hoch sein, dass der gute Praktiker an der Theorie versagt und keinen Abschluss macht. Die Grünen wollen mit ihrem Modell noch mehr Theorie. ({8}) Wir brauchen aber weniger. Auch das ist eindeutig ein Beleg dafür, dass das Vorhaben „DualPlus“ in Wahrheit, wenn man von der erfolgreichen dualen Ausbildung in Deutschland ausgeht, eigentlich ein „DualMinus“ wäre. Wir sagen eindeutig Nein zu „DualPlus“, weil unser bestehendes duales Ausbildungssystem ein wirkliches „DualMultiPlus“ ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Knoerig, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel Freude, Erfolg und alles Gute. ({0}) Nächster Redner ist nun für die SPD-Fraktion der Kollege Willi Brase. ({1})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Als Mitglied zweier Berufsbildungsausschüsse muss ich mich schon ein bisschen darüber wundern, dass man hier sehr schnell mehrere Hunderttausend Jugendliche als nicht ausbildungsfähig abgestempelt hat. Man hat behauptet, sie seien nicht in der Lage, täglich zur Arbeit bzw. zur Ausbildung zu gehen. Ich halte das für schlecht. ({0}) Ich habe selten Handwerksmeister oder Kleinbetriebler erlebt, die sagen: Mit diesen jungen Leuten können wir nichts anfangen. Im Gegenteil, sie sagen schon seit Jahren - auch wir haben hier darüber diskutiert -: Der Übergangsbereich - wir bekommen ihn jedes Jahr im Berufsbildungsbericht zahlenmäßig vor Augen geführt muss endlich einmal vernünftig geordnet werden, nach dem Motto „Weniger ist mehr“. Es blickt nämlich keiner mehr durch, was wir dort an Maßnahmen haben. ({1}) Dazu habe ich wenig bzw. gar nichts gehört. Eine Randbemerkung sei erlaubt: Wenn Sie die ÜBS, bezogen auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, in eine Ecke stellen, aber gleichzeitig im Haushaltsplan die Mittel für die ÜBS auf über 50 Millionen Euro aufstocken, dann müssen Sie mir einmal im Ausschuss erklären, wie das inhaltlich zusammenhängt. Das ist ein schlechtes Vorgehen. ({2}) Ich möchte auf den Bereich Übergangsmanagement eingehen. Dankenswerterweise hat eine Kollegin von uns die Regierung angeschrieben und gefragt, wann wir endlich anfangen, diesen Bereich vernünftig zu organisieren. Die Antwort war sehr erstaunlich: Die Bundesregierung will erst eine Vorstudie und dann eine Evaluation durchführen; danach will sie entscheiden, was sie tut. Meine Güte, bis diese Entscheidung getroffen ist, gehen wieder drei oder vier Jahre ins Land. Das bringt doch den jungen Leuten und auch unseren Unternehmen nichts, weil sie nämlich Fachkräfte suchen. Da müssen wir etwas tun. ({3}) Meine Bitte ist - die FDP spricht häufig vom Eintreten der politisch-geistigen Wende in Deutschland; das kennen wir aus alten Zeiten -: Geben Sie einmal Gas! Laden Sie die Ministerpräsidenten und die Kultusminister ein - Frau Schavan kann das tun -, und beschäftigen Sie sich damit, wie es in diesem Bereich aussieht! Wir wissen, dass dieser Bereich vor allen Dingen regional zu betrachten ist. Ich kann Ihnen Beispiele von Nürnberg bis Hamburg dafür nennen, dass sich die Zuständigen in den Gebietskörperschaften mit den örtlichen IHKs, mit den Gewerkschaften, mit der Agentur für Arbeit, mit den Argen zusammensetzen, um sinnvolle Maßnahmen durchzuführen. All dies wäre zu bündeln. Das setzt allerdings voraus, dass die Kommunen auch zukünftig in der Lage sind, entsprechende Finanzen vorzuhalten. Wenn Sie die in Ihrem Koalitionsvertrag formulierten steuerpolitischen Vorschläge umsetzen, dann kommt auf die Kommunen möglicherweise einiges zu. Sie bekommen dann ein weiteres Problem, weil Sie den Kommunen mit Ihrer Steuerpolitik Geld wegnehmen, das sie unbedingt brauchen. ({4}) Im Antrag der Grünen und auch im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb habe ich gelesen, dass man zur Bewältigung der schwierigen Aufgabe - das will ich durchaus anerkennen - differenzierte und modularisierte Angebote machen will. Das Berufsprinzip will man dabei wahren. ({5}) Was ist denn das Berufsprinzip? Das Berufsprinzip der dualen Ausbildung wird nicht dadurch gewahrt, dass man eine Abschlussprüfung bei der IHK macht. Das ist ein bisschen billig. Die Ausbildung in Arbeits- und Geschäftsprozessen, also dort, wo das reale wirtschaftliche Leben stattfindet, verbunden mit der notwendigen Unterstützung und der wichtigen theoretischen Unterweisung, die Erlangung der Beschäftigungsfähigkeit in einem Zeitraum von drei bis dreieinhalb Jahren, das zusammen ist das Berufsprinzip. Frau Hinz, wir müssen sehr intensiv darüber streiten, ob dieses Prinzip über DualPlus aufrechterhalten werden kann. Wir müssen auch der Frage nachgehen, was die Koalition vorhat, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht auch, dass Sie die Gewerkschaften und die Kommunen gerne einladen wollen, an einem Pakt für Ausbildung teilzunehmen. Das halte ich für eine gute Sache. ({6}) Ich habe von den Gewerkschaften gehört, dass sie bei der Betrachtung dessen, was wir haben, gern eine ehrliche Bilanz hätten. Für eine solche Bilanz brauche ich nur den Berufsbildungsbericht der Bundesregierung zu zitieren: Es fehlen nicht nur Ausbildungsplätze für die noch Unversorgten, sondern auch beinahe 250 000 Plätze für die sogenannten Altbewerber. Wir haben damals das Ausbildungsbonusprogramm auf den Weg gebracht mit mittlerweile 30 000 Geförderten. Meine Frage wäre an dieser Stelle, da die FDP das Programm ja massiv kritisiert hat: ({7}) Wie läuft es bei Ihnen weiter? Wird der Ausbildungsbonus weitergeführt? Können wir damit rechnen, dass er auch durch Kampagnen begleitet wird, damit weiterhin junge Leute gerade auch aus dem Altbewerberbereich in dieses Programm aufgenommen werden und somit eine vernünftige Perspektive erhalten bzw. für sich entwickeln können? Es wäre eine wichtige und gute Sache, wenn Sie das auf den Weg brächten. Wenn wir ehrlich sind - das sage ich nicht nur heute hier, sondern das habe ich auch zu Zeiten der Regierungsbeteiligung meiner Partei gesagt -, müssen wir uns eingestehen, dass wir zwar einen Weg entwickelt haben, um am 30. Juni und am 31. Dezember statistische Zahlen zu erhalten, die wir dann wunderbar bewerten können, es aber auch immer wieder vorkommt, wie wir wissen, dass sich junge Leute gar nicht mehr melden. Diese gelten dann nach unserer Definition als „versorgt“. Wenn man das Problem auch im Hinblick auf die demografische Entwicklung vernünftig in den Griff bekommen will, dann müssen wir dazu übergehen, ehrliche Erhebungen über die Zahlen an unversorgten jungen Leuten durchzuführen und all denen dann auch ein vernünftiges Angebot zu unterbreiten. Wir haben die Berufseinstiegsbegleitung auf den Weg gebracht. Ich höre sehr Gutes über die Arbeit der Berufseinstiegsbegleiter. Dass bestimmte junge Leute an die Hand genommen werden, ist eine wichtige Sache. Dazu steht nicht viel im Koalitionsvertrag. Wir sind deshalb sehr gespannt, was die neue Koalition in den nächsten Wochen und Monaten tun wird, um jungen Leuten ein vernünftiges Mittel, ein vernünftiges Angebot an die Hand zu geben, damit sie auch eine Perspektive haben. Es gibt ein weiteres Problem: die Ausstattung der Berufskollegs. In manchen Regionen sind sie gut ausgestattet, in anderen Regionen weniger gut. Ich will nur darauf verweisen, dass man sich immer vor Augen halten sollte, dass immer zwei Teile dazugehören, wenn das duale System vernünftig laufen soll. Es nutzt den jungen Leuten überhaupt nichts, wenn sie in ihren Unternehmen bzw. Betrieben fantastisch ausgebildet werden, aber im Berufskolleg die Bedingungen schlecht sind, weil die notwendige Zahl an Fachlehrern nicht vorhanden ist. Dieses Problem müssen Sie angehen. Deshalb noch einmal unsere Aufforderung: Rufen Sie die entscheidenden Leute zusammen! Überlegen Sie, wie Sie hier vorankommen und vor allen Dingen endlich einmal das Übergangssystem vernünftig auf den Weg bringen können! Vor Ort gibt es viele gute praktische Beispiele. Darauf kann man sich beziehen. Das ist eine gute Sache. Die Weiterentwicklung der dualen Ausbildung war eigentlich immer eine Angelegenheit des ganzen Parlamentes und kein Thema, mit dem man sich am Rande befasste. Ich darf daran erinnern, dass wir die Reform des Berufsbildungsgesetzes in diesem Parlament ohne Gegenstimme beschlossen haben. Es gab nur Zustimmung und Enthaltungen. Nach fünf Jahren sage ich: Diese Reform hat sich in weiten Teilen schon ausbezahlt. Wir haben damals im Gesetz verankert, dass die Berufsorientierung wieder ein Stück weit stärker in die Hände der Betriebe gelegt wird. Wir haben Möglichkeiten aufgezeigt, wie in schwierigen Zeiten über eine schulische Ausbildung in Vollzeit gegengesteuert werden kann. Hier stelle ich auch die Frage: Wie wollen Sie dieses zeitlich befristete Element gemäß § 43 Abs. 2 positiv nutzen, damit nicht noch mehr junge Leute in Warteschleifen geparkt werden - es handelt sich ja um mehrere Hunderttausende -, sondern eine vernünftige Ausbildung machen können? Nutzen Sie die Instrumente! Damit tun Sie etwas Gutes für das Land, aber vor allen Dingen für die betroffenen jungen Leute. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Heiner Kamp. ({0})

Heiner Kamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004064, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit diesem Antrag verhält es sich wie mit grünem Tee: im Urzustand schon ein ungenießbares Gebräu! ({0}) Leider wird das Gesöff nicht besser, wenn man es immer und immer wieder neu aufgießt. Es ist dann genauso fade wie Ihr x-ter Antrag zum sogenannten DualPlusModell, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen. ({1}) Dieses Modell ist ein Ladenhüter - keiner will es, vor allem nicht die Kammern, denen Sie eine tragende Rolle zubilligen wollen. Fragen Sie doch einmal beim Handwerk nach! Gehen Sie doch einmal zu den Kammern! ({2}) Da wird Ihnen kein Jubel entgegenschlagen - höchstens die Tür. ({3}) Kein Wunder! Sie wollen zwei bewährte Elemente unserer beruflichen Bildung, das duale System der betrieblichen Ausbildung und die überbetrieblichen Ausbildungsstätten, miteinander kreuzen. Eine Maßnahme, die für sich genommen gut ist und sich wie die überbetrieblichen Ausbildungsstätten durchaus bewährt hat, wird durch die zwangsweise Integration in das erfolgreiche und anerkannte duale System nicht besser. ({4}) Die FDP will am Erfolgskonzept der Kooperation von Betrieb und Berufsschule festhalten. ({5}) Sonder-, Übergangs-, Misch- und Scheinlösungen lehnen wir ab. Unser Anliegen ist es, die Berufsausbildung im Gespräch mit den Akteuren - hier sind die ausbildenden Betriebe ein wichtiger Ansprechpartner - krisenund zukunftssicher zu machen. Während die Grünen an Modellen stricken, die sich auf Parteitagen nett verkaufen, vor denen aber in der realen Welt alle Betroffenen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, die Bürokratie aufbauen, Ausbildungsunternehmen belasten und das Dualsystem der betrieblichen Bildung aushöhlen, setzt sich die FDP mit den Betroffenen zusammen und sucht nach echten Wegen zur Weiterentwicklung der Berufsbildung. ({6}) Nicht zuletzt deshalb hat die FDP-Fraktion bereits 2007 mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet. Aus dieser Zusammenarbeit ist ein Positionspapier hervorgegangen, das in zehn Punkten die erforderlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbildungssituation in Deutschland aufzeigt. Die Ausweitung des Einzugsgebiets der überbetrieblichen Ausbildungsstätten auf das herkömmliche Feld der Berufsbildung ist nicht praktikabel. Wir zweifeln keineswegs an der Funktionalität der überbetrieblichen Bildungsstätten - dort, wo sie gebraucht und von den Beteiligten gewünscht werden. Daher hält die FDP die überbetriebliche Ausbildung gerade zum Beispiel im Handwerk zur Vermittlung von Aus- und Fortbildungsinhalten sogar für unverzichtbar. ({7}) Doch unser Orientierungspunkt ist und bleibt dabei die betriebliche Ausbildung. Diese ist das deutsche Erfolgsmodell. Hierauf müssen wir unser Augenmerk richten. Denn nur diese sichert erstaunliche Quoten des Übergangs in den Beruf und bewahrt uns vor einer Jugendarbeitslosigkeit wie in Skandinavien oder Frankreich. Die überbetriebliche Ausbildung kann deswegen nur als Stütze der betrieblichen Ausbildung dienen. Sie wird niemals als eigener Pfeiler in einem „trigonalen Ausbildungssystem“ eine positive Wirkung entfalten können. ({8}) Lassen Sie mich auch kurz auf die in Ihrem Antrag unterschwellig mitklingende Kritik am Ausbildungspakt eingehen. Seit 2003, dem letzten Jahr vor dem Ausbildungspakt, gibt es zum Beispiel im Bereich der Industrie- und Handelskammern trotz Krise ein Plus von 8 Prozent bei den abgeschlossenen Ausbildungsverträgen, und dies bei einem gleichzeitigen Rückgang der Schulabgängerzahlen um 5 Prozent. Reden Sie doch mit den Betroffenen statt über sie! ({9}) Dann wüssten Sie auch, dass es selbst im Jahr der Krise, 2009, keine Lücke auf dem Ausbildungsmarkt, sondern ein Überangebot an Lehrstellen gab. 9 600 unvermittelten Jugendlichen im September 2009 standen 17 300 offene Lehrstellen und 20 000 freie Einstiegsqualifizierungsangebote gegenüber. Statt Anträge mit unseriösen Zahlen zu verbreiten, sollten Sie besser das Gespräch mit den Betroffenen suchen. ({10}) Die duale Berufsausbildung in Deutschland ist eine Errungenschaft, der gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eine große Bedeutung zukommt. Durch ihre enge Verzahnung mit und Verankerung in der beruflichen Praxis gelingt es dem dualen System, Ausbildungsinhalte auf dem neuesten Stand zu halten. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund halte ich es geradezu für aberwitzig, dass die Grünen die Berufsbildung nun für Freilandversuche heranziehen wollen. In Hamburg gehen Schüler und Eltern bereits gegen eine verkorkste grüne Bildungspolitik auf die Straße. ({11}) Hoffen wir, dass es bei der beruflichen Bildung nicht erst so weit kommen muss. ({12}) Die FDP hält nichts von diesen fragwürdigen Experimenten. Wir werden an Bewährtem festhalten und Änderungen dort vornehmen, wo es sinnvoll und erforderlich ist. Dabei wird die FDP den eingeschlagenen Weg fortsetzen und mit den betroffenen Akteuren im Gespräch sachgerechte Lösungen entwickeln. ({13}) Ein besonderes Anliegen ist mir persönlich eine bessere Verzahnung von Aus-, Weiter- und Hochschulbildung. Nach einer dualen Ausbildung zum Industriekaufmann und Betriebswirt ({14}) habe ich an der Universität Münster Betriebswirtschaft studiert und war selbst von den Problemen der mangelnden Anrechnungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Teilen des Bildungssystems betroffen. Hier müssen wir das Bildungssystem effizienter gestalten. Ich fordere Sie alle dazu auf, daran mitzuarbeiten. Vielen Dank. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Kamp, auch für Sie war dies die erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin viel Freude, Erfolg und Spaß an der Arbeit. ({0}) Nun hat das Wort für die Fraktion Die Linke die Kollegin Agnes Alpers. ({1})

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Hohe Jugendarbeitslosigkeit, nur ein Viertel der Betriebe bilden noch aus, Hunderttausende von Jugendlichen sind in Übergangsmaßnahmen, meist ohne Ausbildungsperspektive. Jeder vierte Hauptschüler und jede vierte Hauptschülerin ist vier Jahre nach dem Schulende immer noch ohne Ausbildung. Besonders betroffen sind Jugendliche, die in Armut leben, junge Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung. Das ist das Kielwasser des Flaggschiffes unserer Bildungsministerin. In meiner Heimatstadt Bremen hatte 2008 nur die Hälfte der Schulabgängerinnen und Schulabgänger eine Chance, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Zusätzlich suchten 3 000 Altbewerberinnen und Altbewerber sowie Tausende von Schülerinnen und Schülern aus dem Umland einen Ausbildungsplatz in unserer Stadt. So gingen 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss, die Hälfte aller Hauptschülerinnen und Hauptschüler sowie 25 Prozent der Realschülerinnen und Realschüler in das sogenannte Übergangssystem. Wir Linke sagen: Es ist die Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit endlich jeder Jugendliche eine qualifizierte Ausbildung erhält. ({0}) Es geht um eine Ausbildung für alle. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wollen dieses Ziel erreichen, indem Sie das ganze Ausbildungssystem in Module zerlegen, die wahlweise im Betrieb und/oder in überbetrieblichen Ausbildungsstätten absolviert werden. In der jetzigen Situation sind überbetriebliche Ausbildungen wichtig, weil sie für viele Jugendliche die einzige Chance sind, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Aber mit Ihrem Modell akzeptieren Sie, dass sich die Betriebe weiterhin aus ihrer Verantwortung stehlen. Dabei kann es schnell passieren, dass es bald noch weniger Ausbildungsplätze gibt. ({1}) Sie sagen: Module sind ein Anreiz für die Betriebe, weil sie so nur Bausteine der Ausbildung übernehmen müssen. Die Kammern sollen dafür in den Betrieben werben. Ich habe 16 Jahre in der überbetrieblichen Ausbildung gearbeitet und kann Ihnen nur eines sagen: Die Betriebe werden da nicht mitmachen. Noch viel wichtiger ist: Die Jugendlichen, die keine Ausbildung bekommen und die in diesen überbetrieblichen Ausbildungen untergebracht werden sollen, brauchen kein flexibles ModulHopping, sondern einen verlässlichen Betrieb, in dem sie handlungsorientiert lernen und zusätzlich individuell gefördert werden. ({2}) Ihr Modell bietet das nicht. Wenn wir das Problem der Ausbildungsmisere grundsätzlich in den Griff bekommen wollen, müssen wir endlich alle Betriebe ({3}) verbindlich an der Ausbildung der jungen Menschen beteiligen. Dann nützt es nichts, zu sagen: Die jungen Menschen wollen keine Leistung zeigen. Worin besteht die Leistung von 75 Prozent aller Betriebe, die weder für die Jugendlichen noch für ihre Zukunft sorgen? Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, erstens bis zum Sommer 2010 ein Konzept für die berufliche Bildung vorzulegen, zweitens die Betriebe wieder in die Verantwortung zu nehmen, den Jugendlichen qualitativ hochwertige Ausbildungsplätze anzubieten, und drittens eine Ausbildungsumlage einzuführen, ({4}) damit Ausbildung endlich nicht mehr von wirtschaftlicher Konjunktur abhängt. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Das duale System steht für betriebliche Praxis mit begleitender Theorie. Der Antrag, den die Grünen eingereicht haben, kehrt dieses Prinzip um. Das heißt im Grunde: viel Theorie und wenig Praxis. Sie haben gesagt, geschätzte Kollegin Hinz, dass die Kammern eine Vorlage für diese Ausarbeitung geliefert hätten. Seit Montag habe ich verzweifelt versucht, irgendjemanden bei IHK und ZDH zu finden, der Ihr Konzept unterstützt. Ich habe niemanden gefunden. ({0}) Von daher kann ich nur empfehlen: Reden Sie einmal mit den Kammern und versuchen Sie, ihnen dies näherzubringen. Konsequent ist eben, dass bei uns Ausbildung originär von der Wirtschaft und subsidiär vom Staat organisiert wird, der vorausschauend Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten hat, wenn es einen Mangel gibt. Die betriebliche Praxis führt bei uns auch zu einer schnellen Integration in den Arbeitsmarkt. Dies zeigt die Zahl der Arbeitslosen bis 25 Jahre im europäischen Vergleich. Bei uns sind es 11 Prozent; diese Zahl ist natürlich zu hoch. Aber wenn man die verschulten Berufsausbildungen beispielsweise in Großbritannien sieht, dann stellt man fest, dass dort die Jugendarbeitslosigkeit bei 17,5 Prozent liegt, in Frankreich bei 22,5 Prozent und in Spanien bei 35,7 Prozent. Das heißt, aufgrund der dualen Ausbildung haben wir in Deutschland die besten Daten bei der Integration von jungen Menschen, die qualifiziert worden sind. ({1}) Dieses duale System ist auch in der Krise stabil. Zwei von drei Jugendlichen absolvieren derzeit eine duale Ausbildung. Das sind 1,5 Millionen Azubis in 500 000 Betrieben, und allein die Wirtschaft finanziert in Deutschland die Qualifikation, die Ausbildungsvergütungen und die Ausbildungswerkstätten jährlich mit 30 Milliarden Euro. Andere Volkswirtschaften wären dankbar, wenn sie eine Kultur der Wirtschaft wie in Deutschland hätten. ({2}) Bei Ihrem Modell frage ich mich und fragen sich andere, beispielsweise Vertreter der Kammern, wer bei einem neuen Modell die Ausbildungsvergütung zahlen soll. Der Staat? Wollen Sie die Betriebe, wie es zu Recht angemerkt wurde - was natürlich noch nicht heißt, dass wir Sie von der Linkspartei gut finden -, wirklich aus der Verantwortung für die Ausbildung entlassen, wie es bei Ihnen mitschwingt, indem man sie weitgehend auf die Zuständigkeit für Module und Praktika verweist? Wenn Module permanenten Prüfungsstress schaffen, wie wir das auch im Zusammenhang mit Bologna diskutieren, dann frage ich, ob es nicht sinnvoll wäre, den Jugendlichen, die Sie meinen, beim systematischen Lernen zu helfen. Wir benötigen andere Formen des Lernens und der Prüfungen - wie Stufenausbildungen und gestreckte Abschlussprüfungen -, als Sie vorschlagen. ({3}) Bisher sind Ausbildung und Prüfung nicht in einer Hand. Das heißt, es gilt der Grundsatz, der bei Ihnen nicht mehr eingehalten wird: Wer lehrt, prüft nicht. Wie wollen Sie dies in Ihrem Konzept vernünftig auf den Weg bringen? 2005 haben wir - Willi Brase hat es erwähnt - in Bundestag und Bundesrat einstimmig eine Berufsbildungsreform verabschiedet; es war die erste seit 1977. Ich empfand den Ansatz als richtig, die Elemente dieser Berufsbildungsreform, nämlich Stärkung der Verbundausbildung, Aufwertung von Stufenausbildung und gestreckte Abschlussprüfung, erreichen zu wollen. Gleiches gilt für die Anerkennung ausländischer Bildungszeiten, was die Folge hat, dass heute nicht 2 000 Auszubildende wie im Jahre 2005, sondern über 10 000 Teile ihrer Ausbildung im Ausland absolvieren. Ich denke aber auch an die Zulassung vollzeitschulischer Berufsausbildung zur Kammerprüfung, die befristet ist. Nach fünf Jahren ist es sinnvoll, diese Elemente der Berufsbildungsreform zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Wir werden nicht mehr 25 Jahre warten. Ich denke, dass wir einen gemeinsamen Ansatz haben, das Thema Berufsausbildung frühzeitig ins Zentrum der parlamentarischen Debatte zu stellen. Wir als Koalitionsfraktionen werden eine entsprechende Überprüfung und Fortentwicklung einbringen. ({4}) Wir haben eine Alternative zu dem, was die Grünen in ihrem Antrag vorstellen. ({5}) Sie wollen „neue überbetriebliche Ausbildungsstätten … als Träger der Ausbildung“ aufbauen. Sie wollen, dass Kammern die Betriebe anwerben, die Module und nicht mehr vollständige Berufsbilder anbieten. Die „gesamte Berufsausbildung“ soll „neu strukturiert und in bundesweit anerkannten Modulen organisiert“ werden. Das heißt, Sie wollen ein neues System und keine Reform im System, wie das immer die Mehrheitsmeinung im Parlament gewesen ist. Deshalb werden wir zu einem Miteinander aufrufen. Wir werden Reformen anbieten, die pragmatisch und lösungsorientiert sind. Wir wollen kein Ideal, das sich wunderbar zeichnen lässt, aber in der Praxis elendig scheitert. Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns bei der Überprüfung der Berufsbildungsreform gemeinsame Wege gehen. Vielleicht kann das heute ein Anfang sein. Wir von der christlich-liberalen Koalition werden weitere und bessere Papiere vorlegen. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage, und zwar auf Drucksache 17/541, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Mehr Chancengleichheit für Jugendliche Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkommen anrechnen - Drucksache 17/524 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion. ({1})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag liegt auf dem Tisch. Wir wollen, dass jeder Jugendliche von seinem Ferienjob gleich viel hat; denn für uns ist der Ferienjob vor allen Dingen der Einstieg in den beruflichen Aufstieg, der Einstieg in die praktische Berufsorientierung. Jeder Jugendliche, der in den Ferien arbeitet, zeigt ein Höchstmaß an Eigeninitiative und nutzt seine Ferienzeit sinnvoll, um Praxiserfahrung in einem Betrieb zu sammeln. ({0}) Was will die SPD im Detail? Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Gesetz vorzulegen. Wir machen konkrete Vorschläge; denn wir lassen uns an unserem Grundsatz „fördern und fordern“ messen. Frau von der Leyen muss unseren Antrag nur noch zu einem Gesetz machen. Derzeit ist es so: Jugendliche, die Sozialgeld beziehen, müssen einen Teil des Ferienjobgehalts für den Lebensunterhalt aufwenden. Bei vier Wochen Ferienjob mit einem Gehalt von 1 200 Euro sind das immerhin bis zu 600 Euro. Sie erinnern sich: In meiner letzten Rede zu diesem Thema im November habe ich Ihnen Markus und Julia vorgestellt. Markus, Kind einer alleinerziehenden Mutter aus Pforzheim, konnte kein Jimi Hendrix werden; denn seine E-Gitarre kostete 1 200 Euro, aber er musste 600 Euro seines Gehalts für den Lebensunterhalt aufwenden. Julia, die bei einem Ferienjob ebenfalls 1 200 Euro verdient hat, konnte diese voll in den Führerschein investieren. Ihre Eltern sind Lehrer. Das ist eine Gerechtigkeitslücke, die wir mit unserem Antrag klug schließen. ({1}) Die SPD-Bundestagsfraktion will, dass jede Schülerin und jeder Schüler bis 25 Jahre das angemessene Gehalt des Ferienjobs behalten kann, ({2}) und das unabhängig vom sozialen Status der Eltern. Als Ferienjob gilt in Anlehnung an das Jugendarbeitsschutzgesetz ein Job mit einer maximalen Dauer von vier Wochen für alle Jugendlichen unter 25 Jahren. Nur so bleibt der Anreiz zur Berufsorientierung für alle Jugendlichen gleich. Nur so bauen wir Chancen im Bildungssystem auf. Gut ist, dass die SPD-Bundestagsfraktion mit dem heutigen Antrag eine Lösung für das Herzensanliegen des Unionsfraktionsvorsitzenden Volker Kauder vorlegt. Er hat in der Sendung hart aber fair im August letzten Jahres gesagt - ich zitiere -, es müsse doch möglich sein, für vier Wochen eine Ausnahmeregelung zu machen und die Arbeit von Schülerinnen und Schülern nicht anzurechnen. Auch der Kollege Lehrieder von der CSU hat im November in einer Bundestagsdebatte ({3}) seine ausgestreckte Hand für die Lösung des Problems angeboten. ({4}) Wir von der SPD schlagen ein, geschätzte Regierungskoalition. ({5}) Wir nehmen Sie beim Wort und messen Sie an Taten. ({6}) Sie, Kollege Lehrieder, sagten doch - ich zitiere aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom November -: Auch ich bin der Meinung, dass die Eigeninitiative von Schülern nicht blockiert werden darf. ({7}) Wir, die SPD, machen Ihnen ein Angebot: Wir lösen Ihr Problem. Von der Union liegt seit August bis heute keine Lösung vor. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie dem SPD-Antrag zu. Stimmen Sie für Ihre Ziele. Stimmen Sie für Markus und Julia. Ich weiß, gleich wird von der FDP- und der CDU/ CSU-Fraktion wieder das Argument kommen, man müsse doch nur die Hinzuverdienstgrenzen erhöhen, dann sei das Problem von Markus gelöst. Mitnichten. Heute liegt die Grenze bei 100 Euro. Markus braucht eine Grenze von 1 200 Euro. So weit wollen Sie nicht gehen. Das wissen Sie ganz genau. Sie brauchen eine Regelung. Wir, die SPD, legen heute diese Regelung vor. Stimmen Sie zu. ({8}) Im Übrigen zu Ihren unkonkreten Vorschlägen, die Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld anzuheben: Es ist kein Zufall, dass all jene Parteien, die einen gesetzlichen Mindestlohn ablehnen, die Hinzuverdienstgrenzen anheben wollen. Das führt nämlich nur zu einem, zum Ausbau von Hungerlöhnen per Gesetz. ({9}) Wir legen heute einen konkreten Vorschlag vor, der unserem Sozialstaatsverständnis entspricht: „Fördern und Fordern“ und „Die Gemeinschaft hilft, wenn du dir selbst nicht helfen kannst.“ Das unterscheidet uns auch von den Kolleginnen und Kollegen optisch ganz links von mir. Ihr Antrag vom November war unkonkret und ohne Richtung. Da muss ich Ihnen widersprechen, Kollege Lehrieder. Konstruktive Opposition geht anders, mit konkreten Vorschlägen. Das zeigen wir heute. Unser Vorschlag bedeutet Chancengleichheit für alle Jugendlichen in der Berufsorientierung. Er bedeutet, dass junge Erwachsene durch Eigeninitiative und Leistung ihre Ziele verfolgen können. Ich fordere Sie alle auf: Unterstützen Sie den Antrag, und gehen Sie unseren Weg mit. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, „Menschen stärken, Wege öffnen“, das ist der Anspruch, den die SPDFraktion verfolgt. Wir wollen, dass im nächsten Sommer Markus und Julia beide ihren Ferienjob gerne machen. Wir brauchen diese Lösung. Verbauen Sie nicht den Einstieg in den beruflichen Aufstieg wegen vermeintlicher Koalitionszwänge. Zeigen Sie Feingefühl, und folgen Sie dem Wunsch des Kollegen Kauder: hart aber fair. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Fast das gleiche Thema wie im vergangenen Jahr im November beim Antrag der Linken, fast die gleiche Uhrzeit, auch damals haben wir abends debattiert ({0}) - 21.04 Uhr, also stimmt es fast -, und fast die gleiche Besetzung im Plenum, aber exakt dieselbe Antwort der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Wir sind bei diesem Thema bereits am Ball. ({1}) Die Bundesregierung hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, ({2}) und diese Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit dem SGB II insgesamt und damit auch mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten. Sie wissen ganz genau, dass am 9. Februar dieses Jahres ein ganz wichtiges Urteil aus Karlsruhe über die Regelsatzbemessungen ansteht. ({3}) Sie können die Anrechnung der Leistungen aus Ferienjobs nur im Kontext hiermit sowie den Hinzuverdienstmöglichkeiten sehen. Das ist alles ein Thema. Frau Mast, ich geben Ihnen ja in der Sache recht - nicht dass wir uns da falsch verstehen -, dass Ferienjobs nicht nur einen rein monetären Effekt haben. Wenn junge Menschen im Sommer in einem Betrieb einen Ferienjob haben, lernen sie soziale Kompetenz, persönliche Kompetenz, praktische Kompetenz und Teamfähigkeit. Alles, was Sie gesagt haben, stimmt. Deshalb gehen wir dieses Thema an. ({4}) Die notwendige Ehrlichkeit sollten wir aber schon haben. Ich habe mich sowohl mit Vertretern der Argen in meinem Wahlkreis, in meiner Region sowie mit dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit unterhalten. Wir sollten die Bedeutung dieses Themas jetzt nicht überschätzen. Im Verwaltungsalltag hat es eine nachrangige Relevanz. ({5}) Auch das gehört zur Ehrlichkeit. Damit will ich nicht sagen, dass wir dieses Thema nicht angehen. Wir werden es tun. Wir sollten es im Kontext tun. Es gibt die entsprechende Arbeitsgruppe, und - Herr Lehrieder hat es bereits gesagt - im Sommer wird sie ihre Ergebnisse vorlegen. Das Arbeitsministerium hat die Federführung und arbeitet mit Vertretern aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Gesundheit und Steuern zusammen. Sie sehen: Das Thema wird komplett untersucht. Deshalb sollten wir abwarten. Ich halte Ihren Vorschlag zum jetzigen Zeitpunkt für Flickwerk. Wir brauchen Politik aus einem Guss. ({6}) Wir müssen das im Kontext sehen. Das wurde viel zu lange nicht gemacht. Die CDU/CSU-Fraktion steht für Politik aus einem Guss. Deshalb werden wir Ihrem Antrag heute nicht folgen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege Matthias Birkwald. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ferienjobs nicht auf Hartz IV anzurechnen, ist in erster Linie eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Es ist schon seit langem bekannt, dass Schülerinnen und Schüler nicht allein deshalb jobben, weil ihre Eltern wenig Geld haben. Bei Ferienjobs geht es um die wertvolle Erfahrung, etwas aus eigener Kraft zu schaffen, sich Ziele zu setzen und sie auch zu erreichen. So entsteht Selbstbewusstsein. ({0}) Diese wichtige Lebenserfahrung darf Schülerinnen und Schülern nicht deshalb verleidet werden, weil ihre Eltern Hartz IV beziehen. Das ist und bleibt diskriminierend. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in der vergangenen Wahlperiode, Anfang September 2009, haben Sie unseren Vorschlag, Ferienjobs nicht anzurechnen, schnöde abgelehnt. Klaus Wowereits Versprechen in der Sendung hart aber fair, diese Gerechtigkeitslücke zu schließen, war wohl nicht ganz ernst gemeint. Sie erinnern sich an die Enttäuschung der 15-jährigen Laura, die gejobbt hatte, um sich einen Elektrobass zu kaufen. Hartnäckig wie wir sind, hatten wir Linken im November 2009 erneut einen Antrag eingebracht, in dem gefordert wurde, auf die Anrechnung von Verdiensten aus Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II zu verzichten. Nun legen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, einen Antrag vor, den ich mit Ausnahme eines - allerdings entscheidenden - Wortes teilen kann. Der Gang in die Opposition hat also offensichtlich zu einem Sinneswandel bei Ihnen geführt oder einen Lernprozess ausgelöst. Wie auch immer, herzlich willkommen auf der richtigen Seite. ({2}) Ja, Ihr Antrag weist in die richtige Richtung, ({3}) aber Sie bleiben leider auf halber Strecke stehen. Sie wollen die Ferienjobs zeitlich auf vier Wochen im Jahr begrenzen und berufen sich dabei auf das Jugendarbeitsschutzgesetz. Einverstanden. Warum aber wollen Sie zusätzlich begrenzen, wie gut der Ferienjob bezahlt sein darf? Sie wollen „angemessene Einnahmen“ von Schülerinnen und Schülern freistellen. Doch was heißt „angemessen“? ({4}) Solche unbestimmten Rechtsbegriffe gibt es im SGB II schon viel zu viele. Auch darum gibt es so viele erfolgreiche Klagen gegen Hartz IV. Nein, das würde nur zu Rechtsunsicherheit und neuem Chaos zulasten der Betroffen führen. Das gilt es zu verhindern. ({5}) Es mag sein, dass einige ganz wenige die Freistellung von Einkommen aus Ferienjobs über Gebühr nutzen könnten. Das rechtfertigt aber keinesfalls schikanöse Kontrollen aller Ferienjobberinnen und Ferienjobber, wie es sie gäbe, folgte man dem Antrag der SPD. Nein, neue Kontrollen - die noch dazu über das für alle geltende sozial-, arbeits- und steuerrechtliche Maß hinausgehen - lehnt die Linke entschieden ab. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie versuchen krampfhaft, sich - auf dem Rücken der Betroffenen - von unserem Antrag abzugrenzen. ({7}) Das ist hart, aber nicht fair. ({8}) Es ist doch so: Jobbende Schülerinnen und Schüler können rein gar nichts dafür, wenn ihre Eltern schon lange arbeitslos sind. Deshalb sollten Jugendliche ihr in den Ferien hart verdientes Geld komplett ausgeben dürfen - für eine Gitarre, für Reisen, für ein Mokick oder für was auch immer. In meiner Heimatstadt Köln gibt es ein schönes Sprichwort: Mer muss och jönne künne. Auf Hochdeutsch: Man muss auch gönnen können. Gönnen Sie, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, den Schülerinnen und Schülern ihren ganzen Lohn aus dem Ferienjob und verzichten Sie darauf, den Ferienverdienst von Jugendlichen aus SGB-II-Haushalten einzuschränken! Es muss doch darum gehen - darin sind wir uns doch einig -, die ungerechte und entmutigende Sonderbehandlung von Schülerinnen und Schülern aus armen Familien abzuschaffen. Lassen Sie uns deshalb keine neue Sonderbehandlung einführen! Zum Schluss möchte ich ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP richten ({9}) und sie heute erneut an das Versprechen erinnern, dass der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder, in der Fernsehsendung hart aber fair abgegeben hat. Er hat versprochen, dass es nicht dabei bleiben dürfe, dass, wie es in dieser Sendung eindruckvoll geschildert worMatthias W. Birkwald den ist, eine Schülerin von ihrem gesamten Lohn aus dem Ferienjob nur 100 Euro behalten darf. In dieser Hinsicht habe ich den Redebeitrag von Herrn Dr. Linnemann mit großer Freude vernommen. Ich fordere Sie auf: Legen Sie zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf vor! Das Problem muss in den Osterferien endlich vom Tisch sein. ({10}) Meine Damen und Herren von der FDP, die Leistung von Ferienjobberinnen und Ferienjobbern aus Hartz-IVHaushalten am Fließband, am Schreibtisch, im Lager oder am Computer muss sich genauso lohnen wie die aller anderen jobbenden Schülerinnen und Schüler. Vielen herzlichen Dank. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist heute meine fünfte Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin neu gewählt worden, rede heute aber schon zum zweiten Mal zum gleichen Thema. ({0}) Das ist wirklich etwas Besonderes; das hatte ich so nicht erwartet. Am 26. November 2009 haben wir über einen nahezu identischen Antrag diskutiert. Er ist ein bisschen detailreicher ausgeführt; aber im Grundsatz geht es heute um den gleichen Antrag. ({1}) Deshalb wundert es mich, dass Sie es nicht für nötig befunden haben, einmal nachzulesen, was die Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der FDP, aber auch von den anderen Fraktionen in dieser Debatte gesagt haben. ({2}) Für den Grundgedanken habe ich durchaus Sympathie bekundet. Kollege Birkwald, wir von der FDP glauben wirklich, dass Leistung sich lohnen muss. Das muss natürlich - da haben Sie völlig recht - für jede Leistung gelten, insbesondere für die Leistung von Jugendlichen, die sich die Mühe machen, in einem Ferienjob zu arbeiten. Ich habe an dem Antrag der Linken kritisiert, dass sie nur die materiellen Vorteile für die Jugendlichen - den Verdienst und den Vergleich mit anderen Jugendlichen gesehen hat. Dieser Punkt ist jetzt von der SPD aufgegriffen worden: Man hat sich die Mühe gemacht, auch die Gedanken von den Chancen, die ein Ferienjob für die Orientierung bei der Berufswahl bietet, und von den Chancen, die ein Ferienjob für die Stärkung des Selbstbewusstseins bietet, zu Papier zu bringen. All das finden wir auch. Ich habe damals gesagt, dass uns Liberalen die Erfahrung des Gelingens besonders wichtig ist. Das ist - mein Kollege Carsten Linnemann hat das auch gesagt - wirklich eine gute Sache. ({3}) Ich habe aber auch kritisch angemerkt, dass Missbrauch ausgeschlossen werden muss. Wir müssen irgendwie sicherstellen, dass es wirklich die Jugendlichen sind, die arbeiten, und dass das Geld wirklich den Jugendlichen zur Verfügung steht. Das mag nicht das größte Problem sein; aber auch dieses Problem sollten wir im Auge behalten. ({4}) Ich habe einen weiteren Punkt kritisiert; es wundert mich wirklich, dass Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, sich daran zu erinnern oder, wenn Sie damals nicht zugehört haben, es nachzulesen. Uns von der FDP wundert, dass Sie hier nur an diejenigen denken, die für eine begrenzte Zeit in einem Ferienjob arbeiten. Was ist denn mit den Jugendlichen, die Woche für Woche vielleicht Zeitungen austragen, ({5}) babysitten, den Rasen des Nachbarn mähen etc.? Es gibt ganz andere Arbeitsverhältnisse als nur Ferienjobs. Was ist mit diesen Jugendlichen? Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen sie jedenfalls nicht vergessen. ({6}) Jetzt haben Sie uns vorgeworfen, dass seit August in dieser Frage nichts geschehen ist. Nun möchte ich zumindest klarstellen, dass wir von der FDP am 27. September in die Regierung gewählt wurden ({7}) und der Bundestag erst seit November tagt. Insofern sage ich nur eines: Hätten Sie sich vielleicht mehr Zeit gelassen und mehr darüber nachgedacht, was Sie bei den Hartz-IV-Reformen tun, dann wäre vielleicht manches für die Betroffenen nicht so hart gekommen, wie es sich jetzt darstellt. ({8}) Wir stellen uns im Sinne der betroffenen Menschen unserer Verantwortung. Wir werden jetzt sukzessive, gut durchdacht, die gröbsten Härten und Ungerechtigkeiten, die Rot-Grün in die Gesetze geschrieben hat, ausbessern. ({9}) Wir haben uns auf den Weg gemacht und bereits angekündigt, dass wir im Rahmen der Diskussion über Hinzuverdienstmöglichkeiten auch über dieses Thema beraten und entscheiden werden. Das heißt nicht unbedingt, dass es zu einer Aufrechnung kommen wird. Wir werden prüfen, wie wir das lösen können. Seien Sie einmal gespannt, wie wir ganz in Ihrem Sinne, im Duktus Ihres Antrages, einen gescheiten Antrag vorlegen werden. Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Markus Kurth.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kober, eines vorweg: Ihr Vergleich mit den Schülerinnen und Schülern, die Woche für Woche Zeitungen austragen oder den Rasen des Nachbarn mähen, hinkt schon allein deshalb, weil es einen Freibetrag von monatlich 100 Euro gibt. ({0}) Solche Jobs fallen unter diese Regelung; ein solcher Hinzuverdienst jeden Monat ist abgedeckt. ({1}) Es geht tatsächlich und konkret um die Ferienjobs. Natürlich betonen alle Fraktionen wie schon im November 2009, dass eine Gesetzesänderung notwendig ist, um jugendlichen Schülerinnen und Schülern in Arbeitslosengeld-II-Bedarfsgemeinschaften die deprimierende Erfahrung zu ersparen, dass von ihrem ersten selbstverdienten Geld der größte Teil wieder genommen wird. Herr Lehrieder, Frau Mast hat Sie bereits zitiert, ich darf etwas hinzufügen. Sie sagten am 26. November auch: Deshalb kann niemand wollen, dass die SGB-IIGesetzgebung einen gegenläufigen, die Schüler demotivierenden Effekt entwickelt. ({2}) Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle „Beifall bei der CDU/CSU und der FDP“. ({3}) Herr Kober, in derselben Debatte haben Sie Ihre grundsätzliche Sympathie - das haben Sie jetzt bekräftigt - für den Antrag der Fraktion Die Linke ausgedrückt. ({4}) - Nein, ich habe das im Protokoll nachgelesen: Sie haben von grundsätzlicher Sympathie gesprochen. Sie haben auch gesagt: Immerhin greifen Sie ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen auf, das wir gerne unter dem Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Ausdruck bringen. ({5}) Bei so viel Zustimmung zum Anliegen sollte man meinen, dass eine gesetzliche Regelung bei der nächstbesten Gelegenheit zu erwarten wäre. ({6}) Jetzt wäre die Gelegenheit da: Morgen beraten wir in erster Lesung ein Gesetz zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozialversicherungssysteme. Hier schlägt die Bundesregierung unter anderem vor, das Schonvermögen von Langzeitarbeitslosen für die Altersvorsorge deutlich zu erhöhen. ({7}) Offensichtlich handelt es sich dabei um eine Einzellösung. Es wäre ein Leichtes, in demselben Gesetz eine weitere Einzellösung zu treffen, nämlich die Anrechnung von Ferienjobs zu regeln. ({8}) Herr Lehrieder, im November 2009 war Ihr Kernvorwurf an die Linken, man dürfe „keinen Flickenteppich schaffen“. Ja, wo ist denn jetzt die von Ihnen angekündigte Lösung „im Gesamtzusammenhang“? Haben Sie nicht vor zwei Monaten den Eindruck erweckt, eine Lösung des Problems stünde unmittelbar bevor? Ich zitiere Sie wiederum aus dem an dieser Stelle sehr hilfreichen Plenarprotokoll: Wir - Sie meinten die Regierungskoalition ({9}) haben uns längst an die Arbeit gemacht und das gründlicher und umfassender, als Sie es vorschlagen. So, so: „gründlicher und umfassender“. Halten Sie denn Ihre gründlichen und umfassenden Ergebnisse unter Verschluss, oder, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, mauert der Koalitionspartner, weil vielleicht gerade kein passender Spender in Sicht ist? ({10}) Sie haben noch eine zweite Gelegenheit zur Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten; denn wir werden in den nächsten Monaten das Gesetz zur Neuordnung der Jobcenter beschließen. Auch hier könnten Sie eine sinnvolle Regelung unterbringen. ({11}) Wir, die Oppositionsfraktionen, sollten zusammen einen Änderungsantrag einreichen. ({12}) Es stellt sich die Frage, ob sich, wenn man sich diesen Gesetzentwurf, den Arbeitsentwurf, näher anschaut, auch nur ein Hinweis darauf findet. Nein, ganz im Gegenteil: Sie wollen die Sanktionen verschärfen. Daran zeigt sich, was Sie von Union und FDP wirklich wollen. ({13}) Sie bieten denjenigen jungen Menschen, die in ALG-IIBedarfsgemeinschaften leben und Leistungen erbringen - etwa im Ferienjob -, keine verbesserten Anreize, sondern Sanktionen. Wie wäre es, wenn Sie von der Regierungskoalition sich einmal darum kümmern würden, die Anreize für diejenigen zu verbessern, die arbeiten wollen? Wir vom Bündnis 90/Die Grünen fordern schon seit langem eine verbesserte Förderung von Arbeitslosen, einen höheren Regelsatz - insbesondere für Kinder und Jugendliche - und eine Verbesserung der Arbeitsanreize. Daher werden wir den Antrag der SPD-Fraktion unterstützen. Vielen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag der SPD auf den Schreibtisch bekommen habe, habe auch ich erst einmal überlegt: Da war doch schon einmal etwas, das haben wir doch erst vor wenigen Wochen behandelt. Genau vor acht Wochen haben wir bereits über einen ähnlichen Antrag der Linkspartei diskutiert. Ich habe erst gedacht, das sei ein Fall kollektiver Amnesie aufseiten der SPD. Man hat es über die Feiertage vergessen. Am 26. Januar 2010 erhielten wir den Antrag der SPD, der im Wesentlichen inhaltsgleich mit dem ist, was die Linken gefordert haben, ({0}) und nur marginale Änderungen enthält. Sie wollen uns das nun als neuen Wein in alten Schläuchen verkaufen. ({1}) Meine lieben früheren Koalitionspartner von der SPD, ({2}) Sie müssen das einfach realisieren: Die Linken waren hier schneller. Sie hecheln den Linken hinterher. Nichts mehr bedeutet Ihr heutiger Antrag. ({3}) - Sie haben das völlig zu Recht ausgeführt. Liebe Kollegin Mast, wenn Sie das Protokoll vom 26. November 2009 gelesen haben - ich unterstelle das -, dann wissen Sie, dass nicht nur das darin steht, was Sie zitiert haben. ({4}) Nichts ist schlimmer als Halbwahrheiten. Diese sind oft schlimmer als eine Lüge. Jawohl, auch wir sehen hier einen Handlungsbedarf. Es ist auch völlig richtig, dass unser Fraktionsvorsitzender bereits im August in der Sendung hart aber fair gesagt hat, hier bestehe Handlungsbedarf. In der Debatte am 26. November 2009 haben wir hier zur gleichen Zeit am selben Ort ausgeführt, dass wir bis Mitte des Jahres eine Lösung bei den Hinzuverdienstgrenzen anstreben nicht mehr und nicht weniger. Lieber Herr Kurth, wir arbeiten gründlich und nicht vorschnell. ({5}) - Kollegin Mast, ich lasse grundsätzlich liebend gern eine Zwischenfrage zu, aber wir sind heute arg in Verzug, und ich will meine Redezeit eh nicht komplett ausschöpfen. Wir haben zu dem Thema das Wesentliche gesagt. Sie haben meine Argumente bereits nachgelesen. Ich glaube, das meiste ist bereits in der Debatte über den Antrag der Linken ausgeführt worden. Hartz IV ist ein lernendes System. Kollege Linnemann hat völlig zu Recht darauf hingewiesen: Am 9. Februar 2010 gibt es eine Entscheidung zu den Bedarfssätzen für Kinder. Auch hier müssen wir etwas tun. Im Übrigen haben wir mit unseren früheren Partnern - auch das haben Sie längst vergessen - die Hartz-IVSätze für 6- bis 13-Jährige zum 1. Juli 2009 um 35 Euro erhöht. Wir haben das Schulstarterpaket eingeführt, und wir werden jetzt das Schonvermögen verdreifachen. Dazu werden wir morgen etwas ausführen. Hartz IV ist ein lernendes Problem, Hartz IV ist nicht perfekt, und bei Hartz IV gibt es noch Ungereimtheiten. Eine der Ungereimtheiten bei Hartz IV ist die fehlende Motivation für Schüler, sich zur Integration ins Berufsleben rechtzeitig zu einem Unternehmen aufzumachen, da sie den Hinzuverdienst nicht für sich behalten dürfen. Hier werden wir etwas ändern. Wir, die christlich-liberale Koalition, haben das Thema auf dem Schirm. ({6}) Bevor wir zu schnell handeln und einen Schuss aus der Hüfte abgeben, werden wir das gründlich und ordentlich ausarbeiten. Ich hoffe, dass wir bis zum Sommer die Lösung vorlegen können. Sie wird besser als beide Papiere sein: besser als das Papier der Linken vom 25. November 2009 und besser als das Papier der SPD vom 26. Januar 2010. Deshalb werden wir heute auch den vorliegenden Antrag der SPD ablehnen. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/524 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 15 a und 15 b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Strässer, Dr. Rolf Mützenich, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD Syrien - Abschiebungen beenden, politischen Dialog fortführen - Drucksache 17/525 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abschiebungen nach Syrien stoppen - Abschiebeabkommen aufkündigen - zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({1}), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unverzügliche Aussetzung des DeutschSyrischen Rückübernahmeabkommens - Drucksachen 17/237, 17/68, 17/570 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Hartfrid Wolff ({2}) Josef Philip Winkler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die relativ gute Nachricht zuerst: Der seit seiner Abschiebung aus Deutschland im September 2009 in syrischer Haft befindliche syrische Kurde Khaled Kenjo ist anscheinend aus der Haft geflohen - wir hatten in unserem Antrag die Begleitung seines Prozesses durch die deutsche Botschaft gefordert - und hat in der Türkei Asyl beantragt. Er klagt in einem Interview darüber, in Damaskus zunächst sieben Tage in einer winzigen Einzel-Dunkelzelle festgehalten worden zu sein. Sie sei so klein gewesen, dass er sich zum Schlafen nicht habe ausstrecken können. Er sei vier Tage von der Staatssicherheit verhört worden. Man habe ihm bei allen Verhören die Augen verbunden und die Hände gefesselt. Er sei geohrfeigt und mit Kabeln auf die Füße und andere Körperteile geschlagen worden. Zentral während der Verhöre sei die Frage nach der Teilnahme an einer Demonstration in Berlin gegen das deutsche Rückübernahmeabkommen mit Syrien im Jahr 2008 gewesen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass dieses Rückübernahmeabkommen gekündigt werden muss. Wir orientieren uns dabei an Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Folter und unmenschliche Behandlung verbietet. Dabei nehmen wir durchaus positiv zur Kenntnis, dass sich die Stellung Syriens in der internationalen Politik verbessert hat, unter anderem durch die Aufnahme Angelika Graf ({0}) diplomatischer Beziehungen zum Libanon und die Bereitschaft, mit den USA und Israel zu verhandeln. Wir bedauern es sehr, dass die Zeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU durch Syrien bisher nicht erfolgt ist. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion muss die Bundesregierung den Öffnungsprozess Syriens gegenüber den Nachbarländern in der Region und der internationalen Gemeinschaft weiter unterstützen, auch und gerade in Hinsicht auf den Nahostkonflikt. Das Angebot an Syrien zur Zeichnung des Assoziationsabkommens, und zwar inklusive der Menschenrechtserklärung, muss die Bundesregierung gemeinsam mit der EU aufrechterhalten. Den positiven Signalen in der Außenpolitik stehen leider sehr negative Signale hinsichtlich der Menschenrechtslage in Syrien gegenüber. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich bilateral und auch auf EUEbene für eine Verbesserung der Menschenrechtslage in Syrien sowie für die Freilassung syrischer politischer Gefangener einzusetzen. ({1}) Ein genauer Blick auf die Menschenrechtslage in Syrien zeigt, dass Folter, Misshandlung von Gefangenen und das Verschwindenlassen von Menschen leider keine Ausnahmeerscheinungen sind. Es gibt Korruption, Zensur und keinen verlässlichen Rechtsstaat. Seit 1963 gilt in Syrien der Ausnahmezustand, weswegen die rechtsstaatlichen Elemente der Verfassung weitgehend außer Kraft sind. Das Auswärtige Amt spricht übrigens von einem von Sicherheitsapparaten und vom Militär geprägten autoritären Regime. Es gibt in Syrien etwa 13 Menschenrechtsorganisationen, darunter auch kurdische. Diesen gilt unsere Unterstützung. Ihre Lage ist sehr schwierig. Politisch sensiblen Vereinen wird in der Regel die Registrierung verwehrt. Das hat zur Folge, dass jemand, der sich in nicht genehmigten Vereinen engagiert, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann. Schikane und Verhaftungen sind keine Seltenheit. Es gibt laut dem von Menschenrechtsanwälten betriebenen Syrian Human Rights Information Link fast 1 000 politische Gefangene in Syrien. 2008 gab es 183 Festnahmen und 129 Verurteilungen. Andere Organisationen sprechen von noch höheren Zahlen. Ich verweise auch darauf, dass der Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes an einen syrischen Anwalt gegangen ist, der unter Einsatz seines Lebens Menschen in Syrien verteidigt. Er konnte zur Preisverleihung übrigens nicht erscheinen, weil er in Syrien im Gefängnis saß. Wir wissen also, wie sich die menschenrechtliche Lage in Syrien darstellt. Das betrifft insbesondere die Situation der rund 2 Millionen Kurden im Land. Noch viel stärker aber betrifft es die 250 000 bis 300 000 Kurden in Syrien ohne syrische Staatsangehörigkeit sowie alle politisch engagierten Kurden. Wir wissen auch, wie die erste Bilanz des 2009 in Kraft getretenen Rückführungsabkommens mit Syrien aussieht. Im ersten Halbjahr 2009 wurden 28 Personen abgeschoben, in drei Fällen kam es unmittelbar im Anschluss zu Inhaftierungen. Entsprechende Nachfragen des Auswärtigen Amtes wurden von den syrischen Behörden nicht beantwortet. Wir müssen damit rechnen, dass weitere solche Fälle folgen, wenn nicht die Reißleine gezogen wird. Neben einer Inhaftierung kann Ausgewiesenen zum Beispiel eine Anklage wegen Verbreitung von Lügen und Beschädigung des Ansehens Syriens im Ausland drohen. Dies sind alles Punkte, die man sehr ernst nehmen muss. Mitte Dezember 2009 hat die Bundesregierung die Bundesländer genau deshalb in einem Rundschreiben aufgefordert, Rückführungen illegal aufhältiger Personen nach Syrien mit besonderer Sorgfalt zu prüfen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurde gebeten, vorerst keine Asylanträge als offensichtlich unbegründet abzulehnen und Entscheidungen über Folgeanträge zurückzustellen. Das ist aus unserer Sicht nicht ausreichend. Wir brauchen einen Abschiebestopp und eine Kündigung dieses Rückübernahmeabkommens. ({2}) Bei syrischen Staatsangehörigen und bei für Syrien bestimmten Staatenlosen müssen Abschiebungen so lange ausgesetzt werden, bis sich die Menschenrechtslage in Syrien erkennbar verbessert hat. Die Notwendigkeit dafür können wir nicht nur den dokumentierten Inhaftierungen, sondern auch der Reaktion - vielmehr der mangelnden Reaktion - der syrischen Behörden auf deutsche Nachfragen hinsichtlich des Schicksals der Abgeschobenen entnehmen. Der aktuelle Zustand führt zudem zu einer tiefen Verunsicherung der von Abschiebung bedrohten Syrer, die kein Dauerzustand sein darf. Die taz hat am Montag berichtet, dass die Empfehlungen des Bundes an die Länder bisher wohl nicht gefruchtet haben. So ist von einem Fall die Rede, wo ein Syrer am 5. Januar 2010 um 5 Uhr morgens von der Polizei abgeholt worden ist, um ihn sofort abzuschieben, was durch den Niedersächsischen Flüchtlingsrat und einen von ihm eingeschalteten Anwalt gerade noch verhindert werden konnte. Es reicht deshalb offensichtlich nicht, Empfehlungen auszusprechen und dann zu hoffen, dass schon alles gut gehen wird. Es reicht nicht, darauf zu vertrauen, einen Rechtsstaat zu haben, der schon verhindern wird, dass Abschiebungen in menschenrechtlichen Katastrophen enden. Genau das ist aber passiert. Wir sprechen nicht von irgendwelchen erfundenen Situationen. Wir brauchen also eine klare Rechtslage. Die Bundesregierung ist in der Bringschuld, diese klare Rechtslage zu schaffen. ({3}) Das aber geht nur mit einer Kündigung dieses Rückübernahmeabkommens. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung für unseren Antrag. Was die Anträge der Grünen und Linken betrifft, gibt es Kollegen in unse1718 Angelika Graf ({4}) rer Fraktion, die aus gutem Grund die Meinung vertreten, unser Antrag sei der differenzierteste und der beste, und man müsse deshalb die anderen Anträge, die in die gleiche Richtung gehen, ablehnen. Es gibt auch andere Meinungen; das sage ich hier ganz deutlich. Der Menschenrechtsausschuss hat gestern eine andere Empfehlung ausgesprochen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch eine angenehme Debatte über dieses wichtige Thema. Ich glaube wirklich, dass es wert ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Ich bedaure sehr, dass wir das zu so später Stunde tun. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland leben rund 7 000 ausreisepflichtige Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit, die sich trotz der Ablehnung ihres Asylantrages zum Teil schon deshalb seit vielen Jahren in unserem Land aufhalten, weil es in der Vergangenheit ausgesprochen schwierig war, Passersatzpapiere für sie zu beschaffen. Weil dies den Asylbewerbern bekannt ist, haben sie in nahezu allen Fällen ihre Ausweispapiere vernichtet und über ihre Identität getäuscht. Allein dies macht die große Bedeutung des Rückführungsabkommens mit Syrien deutlich, das zu einem deutlich besseren Kooperationsverhalten der syrischen Behörden geführt hat. Die effektive Durchsetzung bestehender Ausreisepflichten durch die Ausländerbehörden der Länder und Kommunen ist ein wichtiges Element unserer Ausländerpolitik. Um die Integration der rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländer konsequent zu fördern, ist es geboten, den Zuzug insbesondere von solchen ausländischen Personen zu steuern, die entweder illegal in unser Land kommen oder bei denen absehbar ist, dass sie kein Recht haben, auf Dauer in Deutschland zu leben. Die Anerkennungsquote bei Asylbewerbern mit syrischer Staatsangehörigkeit liegt bei rund 2 Prozent. Syrien war seit langem ein Problemstaat im Rückführungsbereich. Ein besonderes Problem für unsere Ausländerbehörden war, dass Syrien bislang keine Rückübernahme von Staatenlosen und Drittstaatsangehörigen zugelassen hat, obwohl eine Vielzahl Ausreisepflichtiger, die aus Syrien kommen, lediglich vorgibt, staatenlos zu sein oder eine andere als die syrische Staatsangehörigkeit zu besitzen. ({0}) Durch das Rückführungsabkommen hat sich die syrische Regierung verpflichtet - das ist die Antwort auf Ihre Frage -, wesentlich zügiger Passersatzpapiere für seine Staatsangehörigen zur Verfügung zu stellen und vor allem die Rückführung von vermeintlich staatenlosen Personen oder Drittstaatsangehörigen zu ermöglichen, wenn diese über einen Aufenthaltstitel oder ein Visum der syrischen Seite verfügen oder unmittelbar aus Syrien rechtswidrig nach Deutschland eingereist sind. Bei den rückgeführten Personen handelt es sich überwiegend um abgelehnte Asylbewerber, die zum Teil - das muss man wissen - erhebliche Straftaten verübt haben. Abschiebungen gehören nicht nur zu einer glaubwürdigen Ausländerpolitik, sondern liegen auch im Interesse der Sicherheit der Menschen in unserem Land. Das darf man bei diesem Thema nicht übersehen. ({1}) Humanitäre und menschenrechtliche Aspekte werden, und zwar völlig unabhängig von diesem Abkommen, ohnehin in jedem Einzelfall sehr sorgfältig geprüft. Dabei wird auch die Menschenrechtslage im jeweiligen Herkunftsland berücksichtigt. In einer ganzen Reihe von Fällen haben dementsprechend syrische Staatsangehörige subsidiären Schutz erhalten. Kollegin Graf hat völlig zu Recht darauf hingewiesen: Das Bundesinnenministerium hat nochmals mit Schreiben vom 16. Dezember 2009 gebeten, bei Abschiebungen nach Syrien mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob im Einzelfall zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse vorliegen könnten. Die Bundesländer haben den Ausländerbehörden vor Ort dementsprechende Weisungen erteilt. Nach dem Rückführungsabkommen ist es vorgeschrieben - Frau Kollegin Graf, das haben Sie nicht erwähnt -, dass sich Syrien an die international üblichen Menschenrechtsstandards hält. Das ist Teil des Abkommens. Darauf achten wir - das werde ich gleich noch deutlich machen bei der Umsetzung des Abkommens. Bei allem Verständnis für Ihre berechtigten Hinweise muss man in dieser Debatte auch erwähnen: Die Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie die Mitarbeiter in den Ausländerbehörden der Länder und Kommunen leisten eine schwierige Arbeit. Sie machen sie verantwortungsbewusst und haben es daher nicht verdient, dass man ständig unterstellt, dass sie rechtswidrig handeln und es an der notwendigen Sorgfalt fehlen lassen, was die Prüfung möglicher Abschiebehindernisse angeht. Man muss nicht nur mit den rückführungspflichtigen Ausländern, sondern auch mit den Mitarbeitern der Ausländerbehörden anständig umgehen. ({2}) Würden wir auf das Rücknahmeabkommen verzichten, wären erhebliche Pulleffekte für zusätzliche illegale Zuwanderung zu befürchten. In der Vergangenheit - Experten wie der Kollege Veit wissen das - sind viele türkische Kurden nach Deutschland gekommen und haben wahrheitswidrig angegeben, sie seien syrische Staatsangehörige oder aus Syrien stammende staatenlose Kurden. ({3}) - Wir wissen das aus den Befragungen und den Erkenntnissen, die sich im Laufe der Verfahren ergeben haben. Jeder, der sich in der Szene auskennt, weiß, dass das in der Tat so gewesen ist. Es macht vor dem Hintergrund der bisherigen Schwierigkeiten, die wir mit der Rückführung in Richtung Syrien hatten, ja auch Sinn; denn sie haben dies im Lichte der größeren Chancen getan, auf Dauer in Deutschland bleiben zu können, weil es eben bis 2008 ausgesprochen schwierig war, Rückführungen nach Syrien durchzuführen. Durch das deutsch-syrische Abkommen ist hier eine gewisse Eindämmung gelungen. Bei einer Aufkündigung des Abkommens - auch das muss man wissen spielten wir wieder Schleuserbanden in die Hände. Dass diese Banden auch kleinste Rechtsänderungen zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren, um ihre verbrecherischen Ziele sofort umzusetzen, konnte man gestern auf Seite 3 der Berliner Zeitung sehr eindrucksvoll anhand eines vietnamesischen Beispiels lesen. Wir sollten die Schlupflöcher für illegale Zuwanderung nicht öffnen, sondern sie schließen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es gibt überhaupt keine Veranlassung für einen generellen Abschiebestopp, und einen solchen hat auch kein Bundesland, sei es von der SPD, von den Grünen oder von der Linkspartei mitregiert, bislang in der Innenministerkonferenz beantragt. Mittlerweile haben sich die ausreisepflichtigen syrischen Staatsangehörigen auf die Situation eingestellt. In nahezu allen Fällen, in denen die Abschiebung angekündigt wird, werden Asylfolgeanträge gestellt. Das war der Hintergrund des Falles in Niedersachsen, nicht aber, dass sich dort humanitäre Organisationen davorgestellt hätten. Der entsprechende abzuschiebende Ausländer hat auf dem Flughafen in Frankfurt einen Asylfolgeantrag gestellt. Bisher sind lediglich in drei Fällen Inhaftierungen von rückgeführten Personen bekannt geworden, wobei in zwei Fällen die Betroffenen nach einer Befragung durch die syrischen Behörden auf freien Fuß gesetzt wurden. Nur in einem Fall - das ist richtig - soll es zu einem längeren Gefängnisaufenthalt gekommen sein. Die näheren Umstände kennen unsere Vertretungen in Syrien nicht; vielmehr beruhen die Unterlagen, aus denen Sie ebenfalls zitiert haben, auf Angaben des entsprechenden Anwalts. Die Forderung nach einer Aufklärung des Sachverhalts durch die deutschen Behörden und einer entsprechenden Berichterstattung an den Bundestag geht schon deshalb ins Leere, weil es sich bei den rückgeführten Personen eben gerade um syrische Staatsangehörige handelt und die Behörden in Damaskus deshalb nicht zur Auskunft gegenüber unseren diplomatischen Vertretungen verpflichtet sind. Natürlich - ich unterstreiche das - ist Folgendes richtig: Die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien ist kritisch; sie ist nicht hinzunehmen. Es gibt Verhaftungen und Folter. Die politische Opposition ist strikter Kontrolle unterworfen. Diese allgemeine Lage reicht aber eben nicht zur Begründung eines Asylantrages oder generellen subsidiären Schutzes aus, ({4}) sondern es müssen Umstände hinzukommen, die eine individuelle Verfolgung begründen. Das ist kein Zynismus, Frau Jelpke, das ist die geltende deutsche Rechtslage, mit der Sie als Linkspartei vielleicht nicht so vertraut sind. Ausweislich des letzten allgemeinen Lageberichts des Auswärtigen Amtes zu Syrien werden rückgeführte Personen bei ihrer Ankunft von syrischen Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund der Abschiebung befragt. Danach wird ihnen, so das Auswärtige Amt, in der Regel die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet. In Einzelfällen werden Personen für die Dauer einer Identitätsüberprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten. ({5}) Die Yeziden unterliegen aufgrund ihrer Religion keinen staatlichen Repressionen. Sie werden vom syrischen Staat als kurdische Muslime behandelt. Dieser Lagebericht - auch das muss man nun einmal sagen - stammt vom 9. Juli 2009. Er ist also unter der Verantwortung des früheren Außenministers, des Kollegen Steinmeier, heute Fraktionsvorsitzender der SPD, erstellt worden. ({6}) Meines Erachtens ist die SPD mit diesem Antrag einmal mehr auf der Flucht vor ihrer eigenen Vergangenheit. Sehr glaubwürdig ist das nicht. ({7}) Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Partnern in der EU mehrfach der syrischen Seite ihre große Besorgnis über die Menschenrechtslage in dem Land deutlich gemacht. Die EU-Zusammenarbeit ist im Fall Syrien besonders intensiv. Es werden Prozesse beobachtet, und es wird intensiver Kontakt mit Bürgerrechtlern und Vertretern verschiedener Minderheiten gepflegt. Gleichzeitig gibt es aber das große Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Rückführung von Personen, die nicht nur unseren Staat über viele Jahre hohe Sozialausgaben gekostet haben, sondern die auch ein Kriminalitätsrisiko darstellen. Sie haben, Frau Graf, von der relativ kleinen Zahl der abgeschobenen Personen gesprochen. In aller Regel handelt es sich dabei um Alleinlebende, nicht um Familien, und es handelt sich auch zum überwiegenden Teil um Personen, die Straftaten begangen haben. Es gibt ein Interesse daran, dass wir - unter Beachtung der humanitären und Menschenrechtsstandards - sie wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurückführen. Deshalb wäre es zum jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich, das Rückübernahmeabkommen mit Syrien auszusetzen oder sogar zu kündigen - ein Abkommen, das von dem SPD-geführten Auswärtigen Amt 2008, unter der Mitverantwortung des Kollegen Erler, verhandelt worden ist. Wir als CDU/CSU halten an diesem Abkommen fest, weil es uns hilft, eine ganz wichtige Glaubwürdigkeits1720 lücke in unserer Ausländerpolitik zu schließen. Deshalb lehnen wir die Anträge der Opposition ab. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Ulla Jelpke das Wort. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf der Tribüne, die Sie Migranten aus Syrien und Kurden sind und dieser Debatte heute folgen! Meine Damen und Herren! Die Linke fordert schon lange, dass Abschiebungen nach Syrien sofort gestoppt werden müssen und das Rückübernahmeabkommen mit Syrien aufgekündigt werden muss; ({0}) denn die Bundesregierung liefert damit dem syrischen Regime Oppositionelle regelrecht ans Messer. Das ist unverantwortlich und muss sofort beendet werden. ({1}) Es ist schon lange bekannt, dass in Syrien gefoltert wird und die Menschenrechte nicht viel wert sind. Ganz besonders gilt dies für Angehörige der kurdischen Minderheit. Von Anfang an hat die Linke dagegen protestiert, Herr Grindel, ein Abschiebeabkommen mit einem dezidierten Folterstaat zu schließen - mit einem Staat, der die meisten internationalen Menschenrechtsabkommen nicht unterzeichnet hat, zum Beispiel auch die Genfer Flüchtlingskonvention nicht. So etwas geht unseres Erachtens gar nicht. ({2}) Das Abschiebeabkommen ist, wie das von Herrn Grindel richtig dargestellt wurde, in der Tat von Innenminister Schäuble ausgehandelt worden. Aber auch ich denke, es ist wenig glaubwürdig, wenn die SPD heute so tut, als hätte sie es nicht verhindern können. Nichtsdestotrotz, in der Opposition hat die SPD die Menschenrechte wiederentdeckt. ({3}) Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Das ist aber nicht mein Problem. Mir geht es um die Sache. Deswegen sage ich: besser spät als nie. Von daher sollte man die Position der SPD hier jetzt respektieren. Auch das Auswärtige Amt, Herr Grindel, gibt mittlerweile zu: Die Menschenrechtslage in Syrien ist unbefriedigend. Es gibt Folter, Misshandlung und Fälle von Verschwinden-Lassen. Die Kollegin Graf hat schon auf den Fall des Kurden Khaled Kenjo aufmerksam gemacht, der versucht hat, in Deutschland Asyl zu bekommen, dann nach Syrien abgeschoben wurde und dort, wie wir gehört haben, sieben Tage in Dunkelhaft gehalten wurde, gefoltert wurde, es dann aber glücklicherweise geschafft hat, wieder aus Syrien herauszukommen. Ich bin der Meinung, dass Deutschland alles tun sollte, damit Khaled Kenjo wieder nach Deutschland kommen kann, hier aufgenommen wird und nach dem, was er erlebt hat, entsprechend versorgt wird. ({4}) Was Sie hier heute vorgeführt haben, Herr Grindel, zeigt, dass das Abschiebeinteresse dieser Bundesregierung offensichtlich schwerer wiegt als die Sicherheit von Menschen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben. Das ist so, obwohl Sie alles das wissen, was in Syrien passiert. Das hat auch die Debatte gestern im Innenausschuss gezeigt. Sie lehnen unsere Anträge gänzlich ab. Ich finde es ziemlich zynisch, Herr Grindel, wenn Sie sagen - sei es im Innenausschuss oder heute hier -, es seien nur drei Leute verhaftet worden, verhört worden; bei einem sei es ein bisschen schiefgegangen. Ich möchte Sie gern einmal fragen: Woher wissen Sie eigentlich, was mit anderen Abgeschobenen passiert ist? Eine Anfrage des Bayerischen Flüchtlingsrates beispielsweise hat ergeben, dass das Auswärtige Amt von der syrischen Regierung keine Antwort auf die Frage bekommt, was mit den Flüchtlingen dort überhaupt passiert ist. Das gilt auch für die konkreten Fälle, wie man nachlesen kann. Deswegen bleibt die Linke dabei: Das Rückübernahmeabkommen mit Syrien muss sofort gekündigt werden. Das gebieten die Menschenrechte und die Humanität. ({5}) Mehr als 8 000 Menschen fürchten, dass sie abgeschoben werden. Diese Menschen brauchen einen sicheren Aufenthalt und eine Zukunftsperspektive ohne Angst. Ich sage hier ganz deutlich: Wir werden weiter Druck machen mit den zahlreichen Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen, die in den vergangenen Tagen auf die Straße gegangen sind und dafür eingetreten sind, dass es eine humane Politik für die Flüchtlinge aus Syrien gibt. Ich hoffe, dass wir andere Fraktionen dafür gewinnen, diese Aktionen zu unterstützen. Ich danke. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die SPD, wenn sie an der Regierung ist, ihre Wahlversprechen wenig ernst nimmt, ist in Deutschland inzwischen sattsam bekannt. Neu aber ist der umgekehrte Vorgang. Eine ehemalige Regierungspartei distanziert sich nur wenige Wochen nach ihrer Abwahl von der eigenen Politik. Das ist es, was wir im Fall des RückübernahmeabkomHartfrid Wolff ({0}) mens mit Syrien nun zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist wirklich bizarr, wenn der ehemalige Vizekanzler und Außenminister Steinmeier, der dieses Abkommen mit Syrien ausgehandelt hat, plötzlich als Fraktionsvorsitzender in der Opposition so seine ureigene Regierungsarbeit für unsinnig erklärt. ({1}) Es ist leider nichts Neues, wenn ich feststelle: Die Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig; Meinungsund Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben; die Inlandsopposition ist starken Repressionen ausgesetzt. Dies benennt die neue Bundesregierung ebenso wie ihre Vorgängerin. Das Abkommen war bereits in Zeiten der Verhandlungen heftiger Kritik ausgesetzt. Flüchtlingshilfeorganisationen haben Abschiebungen nach Syrien generell abgelehnt. Da ist es auch aus Ihrer Sicht konsequent, wenn Sie entsprechende Beschleunigungsmechanismen ablehnen. Die Vorgängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier hat sich dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschieden. Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes Instrument des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu effektivieren. Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blankoschecks für Ausländerbehörden; vielmehr ist weiterhin, wie immer, genau zu prüfen, ob im Einzelfall die Voraussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Gewährung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen setzen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur Ausreise verpflichtet ist. Wenn die Linken hier eine Aufgabe des Abkommens fordern, ist das aus ihrer Sicht folgerichtig: Eine möglichst weitgehende Aushöhlung des Ausländerrechts durch inflationären Umgang mit dem Abschiebestopp ist hier Programm. Das ist einfach die linke Spielart von „am deutschen Wesen soll die Welt gewesen“. ({2}) Dies ist aus Sicht der FDP zu einfach. Die Forderung der vorliegenden Anträge, das Rückübernahmeabkommen auszusetzen, lehnen wir ebenso ab wie die Forderung, die Abschiebungen nach Syrien sofort generell zu stoppen. Für einen Abschiebestopp sind in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zuständig. Generelle Abschiebestopps können auch nur ein letztes Mittel für eine besonders eskalierende Situation sein. Die Linken fordern die Bundesregierung auf, gegenüber den Bundesländern anzuregen, generell ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren. Eine generelle Gewährleistung würde die Systematik unseres Asyl- und Aufenthaltsrechts aushebeln: Dieses sieht vor, dass in jedem Einzelfall die besondere Verfolgungssituation nachzuweisen ist. ({3}) Im Falle einer erkennbaren Verfolgung gewährt die Bundesrepublik bereits heute Schutz. Das muss und wird auch so bleiben. Die Grünen fordern, dass das Schicksal der bisher nach Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung aufgeklärt und der Bundestag darüber unterrichtet wird. Das ist selbstverständlich und, soweit bislang möglich, auch schon geschehen. Laut Antrag soll die Bundesregierung auch die Erkenntnisse über den Umgang mit nach Syrien Abgeschobenen bei der Anerkennungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu ist zu sagen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien in die Bewertung einbezogen. Das Bundesinnenministerium hat dankenswerterweise die Länder nochmals sensibilisiert und gebeten, bis zu einer abschließenden Klärung anstehende Abschiebungen nach Syrien mit besonderer Sorgfalt zu prüfen. Dass Rückübernahmeabkommen sowohl auf nationaler wie europäischer Ebene nur mit Staaten abgeschlossen werden sollen, die die wesentlichen menschenrechtlichen Übereinkommen unterzeichnet haben, ist wohlfeil. Auch für die FDP-Bundestagsfraktion ist unbestreitbar, dass Rückübernahmeabkommen nicht einfach blind abgeschlossen werden dürfen. ({4}) Der jeweilige Partner muss nicht nur beim Abschluss, sondern auch danach, bei der Durchführung des Abkommens, in die Pflicht genommen werden. Diese Aufgabe nimmt die Bundesregierung wahr. ({5}) Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle, liebe Kollegin, muss die Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft werden. Auch deshalb werden wir die Menschenrechtslage in Syrien unsererseits weiterhin kritisch und regelmäßig beobachten und, wenn nötig, auch die entsprechenden Maßnahmen ergreifen. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Wolff, Sie haben heute Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich ({0}) und wünsche Ihnen einen ganz besonders schönen Abend am heutigen Festtag und ansonsten alles, alles Gute. ({1}) Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Wolff, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Trotzdem muss ich sagen: Das, was Sie und Herr Grindel hier abgeliefert haben, war vom Niveau her ein Tiefpunkt der Debatte des heutigen Tages. ({0}) Sie treten hier als christlich-liberale Koalition an; aber in Ihren Reden habe ich weder etwas Christliches noch etwas Liberales gefunden. ({1}) Es steht doch außer Zweifel - das sagt ja sogar der Bericht des Auswärtigen Amtes ({2}) - reden Sie einmal über die Menschen in diesem Zusammenhang! -, ({3}) dass abgeschobene Syrer in Syrien mit dem Tatvorwurf festgenommen wurden, dass sie in Deutschland an Demonstrationen gegen das deutsch-syrische Abschiebeabkommen teilgenommen oder dass sie hier Asylanträge gestellt haben. Das heißt doch, eine Abschiebung von Personen, auf die diese Tatbestände zutreffen, ist nicht zu verantworten. Das gilt doch faktisch für alle. Sie haben doch alle einen Asylantrag gestellt. Deswegen wird ihnen dann in Syrien vorgeworfen, sie hätten das Land beleidigt und Respekt gegenüber dem syrischen Staat vermissen lassen. Das wissen wir doch. Wir können uns als Bundestag, als Gesetzgeber, und als Bundesregierung doch nicht dümmer stellen, als wir sind. ({4}) Wir wissen, dass das passiert ist. Das ist eine neue Sachlage, die man zur Kenntnis nehmen muss, selbst wenn man bei der Ratifizierung des Abkommens noch weggeschaut hat. Das ist geschenkt. ({5}) Aber wenn wir sehen, dass wir durch die praktische Umsetzung des Abkommens, also durch Abschiebung, Leib, Leben und Freiheit von Menschen gefährden, dann muss man die Umsetzung aussetzen. Von mir aus müssen Sie es nicht kündigen. Mir ist erst einmal auch egal, welchen Aufenthaltsstatus die Betroffenen bekommen. Diese Frage können wir später klären. Ich bin da ganz bei Ihnen. Jetzt geht es aber erst einmal darum, das Leben dieser Menschen zu retten. Deshalb haben wir es in unserem Antrag auch so soft formuliert, dass Sie, wenn Sie noch ein Stückchen Humanität im Herzen und im Kopf haben, unserer Forderung, das Abkommen auszusetzen, keinen mehr abzuschieben und die Leute hier zu lassen und uns um all die zu kümmern, die wir abgeschoben haben, zustimmen müssten. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie uns auflistet, wer abgeschoben wurde, und in Erfahrung bringt, ob diese Menschen noch leben, ob diese Menschen noch in Freiheit sind oder ob sie verschwunden sind, wie es wahrscheinlich als Ergebnis festzustellen sein wird. ({6}) Herr Grindel, ich habe in Ihrer Rede sehr viel über die Systematik des Ausländerrechts gehört. ({7}) Auch ich bin dafür, dass jemand, der weder Flüchtling noch legaler Migrant ist, nicht hier bleiben darf, sofern es keine humanitären Abschiebehindernisse gibt. Das ist selbstverständlich; denn ansonsten macht eine gesteuerte Migrationspolitik keinen Sinn. Aber dieses Prinzip kann man nicht um jeden Preis gegen Menschen durchsetzen, bei denen de facto EMRK-Abschiebehindernisse bestehen. ({8}) Es ist doch ganz offensichtlich, dass die Garantien der Menschenrechtskonvention in Syrien nicht respektiert werden. In diesem Fall kommt es nicht auf das kodifizierte Recht an, sondern auf die tatsächliche Praxis. Diese haben wir ja nun kennengelernt. Sie machen sich zum Komplizen eines Regimes, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, wenn Sie ihm die Menschen ans Messer liefern, indem Sie sie im Rahmen eines solchen Abkommens abschieben. Ich bin wirklich entsetzt, dass man hier so hartherzig darüber herzieht und keine effiziente Maßnahme ergreift. Es gibt einen Brief des Bundesinnenministeriums - wie wunderbar! Aber was schert sich Ihr niedersächsischer Innenminister darum? Am 5. Januar wurde - Frau Graf hat es zitiert - erneut versucht, einen kurdischen Syrer abzuschieben. Das konnte vom Anwalt gerade noch verhindert werden. Aber in unserem Rechtsstaat, der humanitär orientiert ist, muss doch klar sein, dass nicht nur derjenige, der einen Anwalt griffbereit hat, sein Leben retten kann. Vielmehr müssen unsere Gesetzgebung und unsere Verwaltungspraxis von Anfang an garantieren, dass die Menschen nicht in ein Land abgeschoben werden, in dem sie umgebracht werden, in dem sie festgesetzt werden und ihre Freiheit verlieren oder in dem sie durch Folter ihre Gesundheit verlieren. ({9}) Das ist das Mindeste, was ich von Ihnen erwartet habe. Ich bin entsetzt, dass Sie das nicht machen - vielleicht nicht auf Grundlage der Anträge der Opposition; das wäre ja geschenkt. Aber Sie haben nicht im Ansatz erkennen lassen, dass Ihnen das Leben und die Freiheit dieser Menschen etwas wert sind. Sie wollen zynisch Ihre ausländerrechtliche Logik exekutieren - auf dem Rücken dieser Menschen. Ich bin wirklich entsetzt. Volker Beck ({10}) ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit schließen wir die Aussprache. Wir kommen noch zu einigen Abstimmungen, zu- nächst zu Tagesordnungspunkt 15 a. Dabei geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/525 mit dem Titel „Syrien - Abschie- bungen beenden, politischen Dialog fortführen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthal- tung? - Der Antrag ist damit mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Tagesordnungspunkt 15 b: Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksa- che 17/570. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a) seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/237 mit dem Titel „Abschiebungen nach Syrien stoppen - Abschiebe- abkommen aufkündigen“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltung? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und großen Teilen der SPD-Frak- tion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke sowie einer Enthal- tung bei der SPD-Fraktion angenommen. Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 15 b. Unter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/68 mit dem Titel „Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltung? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Teilen der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke und Teilen der SPD-Fraktion angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wiedereinführung der Förderung von Atomexporten stoppen - Keine Hermes-Bürgschaft für Angra 3 in Brasilien - Drucksache 17/540 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich dabei um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Lämmel, Rolf Hempelmann, Marco Bülow, Dr. Martin Lindner, Dr. Gesine Lötzsch, Sylvia KottingUhl und Parlamentarischer Staatssekretär Peter Hintze.

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dieser Antrag zeigt erneut, dass die Grünen aus gutem Grund auf der Oppositionsbank sitzen. Ihre Anträge haben ökonomisch sowie klima- und energiepolitisch keinen Bezug zur Realität. Sie bevorzugen die Bequemlichkeit Ihrer ideologischen Kuschelecke und verschließen die Augen vor den Tatsachen. Worum geht es? Seit 1975 existiert ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Brasilien zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. 1976 begann der Bau der Kraftwerke Angra 2 und 3. In den 1980erJahren wurden die Arbeiten an Angra 3 unterbrochen. Angra I und 2 leisten bisher einen Beitrag von 4 Prozent zur brasilianischen Stromerzeugung. Die brasilianische Regierung hat im Juni 2007 die Fertigstellung von Angra 3 beschlossen. Brasilien ist ein aufstrebendes Schwellenland. Zwischen 1990 und 2005 hat sich der Stromverbrauch in Brasilien um fast 75 Prozent gesteigert. Dieser Wachstumskurs ist auch zu begrüßen, da auf diesem Wege viele Brasilianer der Armut entkommen konnten. Wollen wir uns als Vertreter des deutschen Volkes dieser erfreulichen Entwicklung entgegenstellen? Ist es den Kollegen von den Grünen denn lieber, wenn die Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern in Armut leben und mit internationaler Entwicklungshilfe alimentiert werden müssen? Oder unterstützen wir ihren Weg heraus aus der Armut? Brasilien ist gegenwärtig die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Nach der kurzen Rezession des vergangenen Jahres wird für 2010 ein Wachstum von 5 Prozent erwartet. Darüber hinaus verfügt Brasilien über umfangreiche Devisenreserven ({0}). Die Zahlungsgarantie des brasilianischen Finanzministeriums stellt also eine glaubhafte Sicherheit dar. Die finanziellen Risiken und damit die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme der Bürgschaft sind folglich eher gering. Die Fortsetzung des Wachstumskurses in Brasilien erfordert einen entsprechenden Ausbau der Stromversorgung. Die Internationale Energieagentur, IEA, prognostiziert bis 2020 die Erhöhung des Strombedarfs um 50 Prozent. Brasilien verlässt sich an dieser Stelle bisher in umfangreichem Maße auf die Wasserkraft als Energieträger. Dies ist erfreulich, und sicher können wir Deutschen da auch noch etwas lernen, obgleich das Potenzial deutscher Gewässer vergleichsweise gering ist, Elbe und Rhein sind weder Amazonas noch Iguaçu. Das Potenzial zum Ausbau der Wasserkraft besteht weiterhin, obgleich nicht mehr in dem Maße wie in der Vergangenheit. Weiterhin bedingt die Fokussierung auf einen Energieträger auch Abhängigkeiten. Diese Erfahrung machte Brasilien im Jahre 2001, als in Folge einer Dürre Elektrizität rationiert werden musste. Es ist daher verständlich, dass Brasilien sein Energieträgerportfolio erweitern will. Bei der Erweiterung des Angebots an Energieträgern setzt Brasilien auch auf fossile Energieträger. Brasilien hat hier umfangreiche eigene Vorkommen. Im Jahr 2007 wurde das wohl drittgrößte Ölfeld der Welt - circa 33 Milliarden Barrel - vor der Küste Brasiliens entdeckt. An dieser Stelle zeigt sich aber auch, dass die Grünen ein Problem mit der Realität haben. Wenn Klimaschutz ernsthaft auf der Agenda steht, dann ist es absolut widersprüchlich, einer aufstrebenden Volkswirtschaft, wie der brasilianischen, den Zugang zu emissionsfreier Stromerzeugung zu verwehren. Wir können in Deutschland und Europa gar nicht ausreichend konventionelle Kraftwerke und Fabriken abschalten oder autofreie Sonntage veranstalten, um die globalen CO2-Emissionen zu reduzieren, wenn die Brasilianer ihren zusätzlichen Strombedarf ausschließlich durch Gas, Kohle und Öl decken. Meinen Sie - von den Grünen - es nun ernst mit dem Klimaschutz oder nicht? Selbstverständlich ist beim Bau eines Kernkraftwerkes der Aspekt der Sicherheit von herausragender Bedeutung, dies gilt im politischen und im technischen Sinne. Das Projekt Angra 3 entspricht deutschen und internationalen Standards. Dies haben Untersuchungen des deutschen Instituts für Sicherheitstechnologie, ISTec GmbH, ergeben. Dies gilt sowohl für die Standards der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, als auch die der deutschen Genehmigungspraxis. Bei diesen Untersuchungen wurden auch regionale Risiken wir Erdbeben oder Erdrutsche betrachtet und entsprechend in die Projektplanung einbezogen. Dass die deutsche Nukleartechnik zu den weltweit sichersten gehört, sollte an dieser Stelle auch erwähnt sein. Auch im politischen Sinne ist der Export deutscher Nukleartechnik unbedenklich. Brasilien ist eine stabile Demokratie. Brasilien hat umfangreiche völkerrechtliche Abkommen ratifiziert. Jetzt hier alle aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Es seien hier die wichtigsten und obligatorischen genannt: der Atomwaffensperrvertrag, der Nichtverbreitungsvertrag und der Atomwaffenteststoppvertrag. Zusätzlich hat Brasilien an einer atomwaffenfreien Zone in Südamerika mitgearbeitet. Des Weiteren ist die bisher betriebene und in Angra 3 vorgesehene niedrige Urananreicherung zur Herstellung von Atomwaffen ungeeignet. Brasilien hat zudem entschieden, auf die Wiederaufbereitung zu verzichten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der in der brasilianischen Verfassung niedergeschriebene Verzicht auf Nuklearwaffen. Das Problem der Endlagerung besteht selbstverständlich auch in diesem Fall. Gegenwärtig befindet sich am Standort Angra I und 2 ein Zwischenlager, welches bis 2017 erweitert wird. Seitens der brasilianischen Regierung ist noch keine Entscheidung zur Endlagerung hochradioaktiver Abfälle gefallen. Auch auf diesem Gebiet können die brasilianisch-deutschen Energiebeziehungen noch intensiviert werden. Ein weiterer Aspekt, der mir sehr wichtig ist, sind die Arbeitsplätze in Deutschland. 5 200 Mitarbeiter der AREVA NP GmbH in Erlangen und weitere in kleinen und mittleren Zulieferbetrieben sind von diesem Auftrag abhängig. Ein Großteil der Wertschöpfung wird in Deutschland stattfinden und hier bei uns Arbeitsplätze und kommunale Gewerbesteuern sichern. Ich weiß, diese Fragen des politischen Alltags - Arbeitsplätze und Steuern - sind für die Kollegen der Grünen nicht sonderliche interessant. Bedenken Sie bitte schließlich den positiven Effekt eines energiepolitischen Austausches mit Brasilien. Ich hatte es am Beispiel der Wasserkraft und der Endlagerung schon erwähnt. In Brasilien verfügt man über vertiefte Kenntnisse und Erfahrung in der Nutzung von Bioethanol als Energieträger. Hier gibt es sicher auch für Deutschland interessante Erkenntnisse zu gewinnen. Sicher gibt es in Brasilien auch Potenzial für deutsche Methoden der Steigerung von Energieeffizienz und deutsche Techniken bei den erneuerbaren Energien. Wie werden die Verantwortlichen in Brasilien wohl reagieren, wenn die Mitglieder des Deutschen Bundestages ihnen besserwisserisch und belehrend diese Anfrage verwehren? Diese Potenziale einer brasilianisch-deutschen Energiepartnerschaft zur Beruhigung der grünen Psyche oder treffender: Psychose zu verschenken, dient niemandem, nicht in Brasilien, nicht in Deutschland und dem Weltklima schon gar nicht. Dieser Antrag ist daher abzulehnen. Er ist ökonomisch und ökologisch unkonstruktiv.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Grundsätzlich begrüßen wir als SPD-Fraktion die Unterstützung deutscher Investitionen im Ausland und halten das Instrument der Hermesabdeckungen für richtig und wichtig. Dennoch müssen bei jedem Projekt insbesondere die ökonomischen Risikoabschätzungen genau beleuchtet werden, bevor ein solcher Antrag genehmigt werden kann. Im vorliegenden Fall hat die Bundesregierung viele wichtige Aspekte entweder nicht berücksichtigt oder falsch eingeschätzt. Der Bericht der Bundesregierung an den Ausschuss wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. In dem Bericht werden keine Aussagen zu einer Ausfallwahrscheinlichkeit getroffen. Doch gerade bei einer Bürgschaft in Höhe von über 2 Milliarden Euro, für die ja im Zweifelsfall der deutsche Steuerzahler geradesteht, sollte das Risiko eines Ausfalls genau geprüft werden. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der geplante Reaktortyp Stand der Technik der 70er-Jahre in Deutschland ist und heute in Deutschland unter keinen Umständen eine Baugenehmigung erhalten würde. Es liegt auf der Hand, dass der Einsatz derart alter Technik die ökonomischen Erfolgsaussichten dieses Projektes erheblich mindert und damit das Ausfallrisiko deutlich erhöht. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung klare Aussagen zu den wirklichen ökonomischen Risiken der beantragten Bürgschaft. Im Umgang mit dieser Bürgschaft zeigt sich wieder einmal, dass die Bundesregierung das Thema Atomkraft ohne Rücksicht auf Verluste in den Mittelpunkt ihres politischen Handelns stellt: Noch vor der Diskussion um ein Gesamtenergiekonzept verhandelt sie mit den großen Kraftwerksbetreibern über eine Laufzeitverlängerung, Zu Protokoll gegebene Reden ohne sich Gedanken über die negativen Auswirkungen auf Wettbewerb und Investitionen zu machen. Ihnen geht es nur darum, ein Zeichen für die Atomkraft zu setzen. Auch die Unterstützung der Bürgschaft soll außenpolitisch zeigen, dass die Regierung den breit in der deutschen Gesellschaft angelegten Konsens des Atomausstiegs wieder verlässt. Weder offensichtlich ökonomische noch sicherheitspolitische Risiken können die schwarz-gelben Ritter der Atomkraft stoppen. Zudem stellt sich die Frage, ob eine Bürgschaft seitens des Bundeshaushaltes in diesem Fall wirklich das richtige Instrument darstellt; denn das deutsche Unternehmen Siemens wird sich bis Ende 2012 aus dem Areva-Konzern zurückziehen. Dann würde der deutsche Steuerzahler die Risiken eines französischen Staatsunternehmens tragen. Hier erwarten wir ebenfalls eine klare Aussage der Bundesregierung. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Prüfung des Antrags unter anderem auf Grundlage der deutschen Genehmigungspraxis für Kernkraftwerke erfolgt ist. Dies verwundert uns doch sehr, ist doch in Deutschland 1988 das letzte Kernkraftwerk ans Netz gegangen. Insofern kann in diesem Zusammenhang nicht von einer wirklichen Genehmigungspraxis gesprochen werden. Deshalb wollen wir von der Bundesregierung wissen, ob auch neuere externe Risiken, wie die Gefahr eines Terrorangriffs, bei der Beurteilung berücksichtigt wurden. Beim Export von nukleartechnischen Gütern, insbesondere in Schwellenländer, muss aus meiner Sicht stets auch die Frage der Nichtverbreitung von Atomwaffen im Mittelpunkt der Prüfung stehen. In diesem Zusammenhang sind wir beunruhigt, dass Brasilien bis heute nicht das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat, welches der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, unangemeldete Kontrollen ermöglicht. Da passt es ins Bild, dass Brasilien im Jahr 2006 den Kontrolleuren dieser Behörde den Zutritt zu den zentralen Urananreicherungsanlagen in Resende zunächst verweigerte und damit erhebliche Spannungen auslöste. Ich gehe auch davon aus, dass der Bundesregierung die Tatsache bekannt ist, dass Brasilien gegen internationale Konventionen verstößt, indem es über keine unabhängige Atomaufsicht verfügt. Vielmehr liegen Förderung und Kontrolle der Atomenergie in den Händen ein und derselben Behörde, was sowohl eine Verletzung des Euratom-Vertrags als auch eine Verletzung der Internationalen Konvention zur Atomsicherheit bedeutet. Im Übrigen hat der brasilianische Kongress selbst diese Vorschrift im Jahre 1998 in nationales Recht übernommen. Es sollte der Bundesregierung doch zu denken geben, dass sich die Verantwortlichen der brasilianischen Atompolitik nicht einmal an die eigenen Gesetze halten. Neben der Berücksichtigung der genannten ökonomischen Risiken und Sicherheitsbedenken ist die Bundesregierung nach OECD-Leitlinien verpflichtet, ökologische und soziale Risiken zu prüfen. Ob dies mit der notwendigen Sorgfalt geschehen ist, muss bei genauer Betrachtung stark bezweifelt werden. Denn bisher ist die Frage der Lagerung der verbrauchten Brennelemente völlig ungeklärt. Brasilien verfügt weder über ein Zwischennoch über ein Endlager für atomare Abfälle. Nach unseren Informationen sollen die Brennstäbe auf dem Gelände des Kraftwerks gelagert werden. Wie weit die dortigen Kapazitäten reichen und was bei Erschöpfung derselben mit den Abfällen passieren soll, ist offen. Zudem fordern wir von der Bundesregierung, die Sicherheitssituation vor Ort zu prüfen. Denn welche Folgen es für Mensch und Umwelt hat, wenn diese Brennelemente nicht sachgemäß gelagert werden oder gar in die falschen Hände gelangen, kann sich jeder selbst vorstellen. In Brasilien gibt es ein potenzielles Erdbebengebiet mit instabilen Gesteinsschichten. Dieses befindet sich in der Nähe des geplanten Standortes. Dies zeigte sich eindrucksvoll, als bei Bauarbeiten an Angra 2 das Maschinenhaus von Angra 1 absackte. Auch bezüglich dieser Tatsache lassen sich die Risiken kaum seriös abschätzen. Es sind also noch viele Fragen offen, ohne deren klare und ausführliche Beantwortung durch die Bundesregierung eine Genehmigung dieser Bürgschaft hohe Risiken mit sich bringt: für den Bundeshaushalt und damit für den deutschen Steuerzahler, für die internationale Sicherheit und nicht zuletzt für die Menschen und die Umwelt in Brasilien. Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zu dem gesamten Verfahren machen, in dem die Bundesregierung eine grobe Missachtung des Parlaments zum Ausdruck gebracht hat. Grundsätzlich muss der Haushaltsausschuss über beantragte Bürgschaften in dieser Höhe informiert werden. Ich denke, es gehört zu einem fairen Umgang miteinander, dass die Abgeordneten vor der Presse und der Öffentlichkeit informiert werden. Doch bereits am 2. Dezember vergangenen Jahres war in den Zeitungen über die geplante Bürgschaft zu lesen. Den ganzen Dezember über wurde auf verschiedenen Internetseiten bereits über diese Pläne diskutiert. Der Haushaltsausschuss dagegen wurde erst im Januar informiert. Dies ist aus unserer Sicht eine Missachtung des Parlaments, die so nicht hingenommen werden kann.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist skandalös, dass mit deutschen Steuergeldern der Bau des brasilianischen Atomkraftwerks Angra 3 abgesichert werden soll. Kaum ist die neue Regierung im Amt, überhäuft sie die Atomwirtschaft mit Geschenken. Der Atomausstieg soll rückgängig gemacht werden, und zusätzlich wird großzügig auch noch eine milliardenschwere Hermesbürgschaft für den Export von Nukleartechnologie genehmigt. Willkommen in der Lobbyrepublik! Die Begünstigungen an die Hoteliers wirken gegenüber den Geschenken an die Atomlobby wie Peanuts. Wurden von Union und FDP die Atomkraftgegner häufig als ideologisch verbohrt diffamiert, zeigt sich am konkreten Beispiel, wer wirklich ideologisch verblendet handelt. Nicht nur, dass man sich generell wieder für die Möglichkeit der Kreditabsicherung für Nukleartechnologieexporte einsetzt, sondern es werden dann nicht einmal die Bedingungen der individuellen Projekte ausführlich Zu Protokoll gegebene Reden geprüft. Es scheint die Bundesregierung schlichtweg überhaupt nicht zu interessieren, dass es sich im Falle von Angra 3 um einen veralteten und damit noch unsichereren Reaktortyp handelt, dass Teile benutzt werden, die seit Jahren eingemottet sind, und dass der Standort im einzigen erdbebengefährdeten Gebiet Brasiliens liegt. Hinzu kommt, dass die Endlagerfrage komplett ungeklärt ist, dass Brasilien keine unabhängige Atomaufsicht besitzt und nicht einmal das Zusatzprotokoll des Atomwaffensperrvertrags unterschrieben hat. Wir dürfen doch kein Land in einer so sensiblen Technologie unterstützen, wenn es nicht einmal bereit ist, unangekündigte Kontrollen der Internationalen Atomenergie-Behörde zu akzeptieren. Was ist das für ein Signal, das wir setzen? Union und FDP sprechen immer davon, dass die Atomenergie nur eine Brückentechnologie ist, aber hier unterstützen sie ein Atomprojekt, das eventuell ein halbes Jahrhundert in Betrieb sein wird und das gleichzeitig viele Projekte der erneuerbaren Energien verhindern wird. Das geplante brasilianische AKW wäre in Deutschland schon vor Jahren nicht genehmigungsfähig gewesen. In Brasilien setzt die Bundesregierung aber offenbar andere Maßstäbe an. Sie macht sich durch diese riskante Bürgschaft mitverantwortlich dafür, dass die Gesundheit vieler Menschen gefährdet wird, die im Einzugsbereich des AKW leben müssen. Zur Wirtschaftlichkeit. Alle Erfahrungen zeigen, dass AKW-Neubauten nie zum kalkulierten Preis fertiggestellt werden. Das brasilianische AKW Angra 2 war ein ökonomisches Desaster, der Neubau des finnischen AKW in Olkiluoto wird zu einem gigantischen Zuschussgeschäft für Areva, und selbst in den USA liegt das Ausfallrisiko bei AKW-Neubauten laut einer Studie des USamerikanischen Bundesrechnungshofes bei über 50 Prozent. Quintessenz: Die Kreditausfallwahrscheinlichkeit bei diesem Projekt ist hoch. Schon das argentinische AKW Atucha hat den deutschen Steuerzahler über 900 Millionen Euro gekostet. Sollte Brasilien in eine finanzielle Notlage geraten, nutzt auch die Gegengarantie des brasilianischen Finanzministeriums nicht viel. Es ist bitter: Die Motivation der Bundesregierung, die deutsche Atomwirtschaft zu hofieren, scheint größer zu sein als ihre Motivation, den Steuerzahler vor zusätzlichen Lasten zu schützen. Hinzu kommt, dass die Exportgarantie in Milliardenhöhe einem Unternehmen gewährt wird, das nur zu einem Drittel in deutscher Hand ist und in absehbarer Zeit komplett in französischen Besitz übergeht. Zusammenfassend stelle ich fest: Das Vorgehen der Bundesregierung ist sicherheitstechnisch, energiepolitisch und auch ökonomisch unsinnig und es ist gefährlich. Leider kommt es noch schlimmer: Die Anträge für AKW-Projekte in Pakistan und Kaliningrad liegen den Ministerien schon vor, und auch in diesen Fällen soll es Befürworter geben. Die Bundesregierung wird zum Sponsor dafür, dass auch in sensiblen Regionen wieder mehr auf Atomenergie statt auf saubere Zukunftstechnologien gesetzt wird. Ich möchte daran erinnern: Auch das iranische AKW Buschehr, welches aufgrund seiner Gefahr für den Weltfrieden weltweit im Fokus steht, wurde mit Hermesbürgschaften abgesichert. Lernen Sie endlich aus Ihren Fehlern. Wir brauchen eine Regierung, welche Sicherheit und Zukunftsfähigkeit in die globale Energiepolitik bringt und keine Lobbygeschenke verteilt.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In Zeiten einer gerade zögerlich wieder in Fahrt kommenden Wirtschaft haben wir in der Koalition beschlossen, „die Entscheidungsverfahren für die Garantien für Exportkredite, Investitionen und ungebundene Finanzkredite zu beschleunigen und vorrangig an der Sicherung des Standortes Deutschland und der Förderung von Wirtschaft und Beschäftigung im Inland“ auszurichten. Genau diese Ziele können durch die Bürgschaft für Angra 3 in Brasilien erreicht werden: zum einen das Stärken des Standortes Deutschland durch die Absicherung eines Auftrages an ein Unternehmen mit Sitz in Erlangen und 5 200 Beschäftigen in Deutschland, zum anderen die Förderung eines Hochtechnologieunternehmens auf internationale Ebene. Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beruht auf Unwissenheit und dem Schüren der Angst. Doch die Lage der Sicherheit stellt sich tatsächlich wie folgt dar: Erstens. Durch das Deutsche Institut für Sicherheitstechnologie wurden die vorliegenden brasilianischen Studien und die erteilten Umwelt- und Baugenehmigungen geprüft auf Umweltverträglichkeit, Sicherheitskonzept, Brennstoffkreislauf sowie Betriebsführung. Zusätzlich wurden die relevanten Standards und Anforderungen der Internationalen Atomenergieorganisation, der EU sowie die Nuclear Guidelines der staatlichen US-Exportkreditagentur US Ex-Im Bank herangezogen. Das Projekt hält also deutsche und internationale Standards ein. Auch die neuen Herausforderungen durch mögliche terroristische Aktionen, wie die Sicherheit bei Flugzeugabstürzen, wurden bedacht. Bei der Festlegung des Konzepts wurden seinerzeit gemäß der internationalen Praxis die IAEA Safety Guides berücksichtigt. In diesem Rahmen wurde die Luftverkehrssituation im Bereich der Anlage berücksichtigt. Demzufolge sind in der Umgebung des Projektgebietes keine Flugplätze vorhanden, und es besteht auch kein erhöhtes Risiko durch Flugaufkommen von Militärmaschinen. Die Anlage kann, wie auch bei deutschen Kernkraftwerken üblich, mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen versehen werden, um auch gegen einen etwaigen gezielten Flugzeugabsturz - terroristischer Anschlag - gerüstet zu sein. Diese Maßnahmen bestehen beispielsweise in verstärkter Luftraumüberwachung in Kombination mit der Abschaltung des Reaktors sowie Vernebelungseinrichtungen. Zudem zeigen neuere Studien, dass die Betonhülle der Reaktorgebäude größere Explosionsdruckwellen, als bisher angenommen, abtragen können. Auch seismische Studien waren Gegenstand der Umweltstudien. Weltweit betrachtet gehört der brasilianische Schild zu den geologisch stabilsten Formationen der Erde. Die brasilianische Umweltgenehmigung umZu Protokoll gegebene Reden Dr. Martin Lindner ({0}) fasste auch Auflagen hinsichtlich der Risiken im Falle eines Erdbebens sowie weitergehende Auflagen zur Überwachung von Gebieten und zur Stabilisierung von Hängen, die Anzeichen für Erdrutsche aufweisen. Die vorgeschriebenen Untersuchungen wurden allesamt zur Zufriedenheit der brasilianischen Umweltbehörde abgeschlossen. Zweitens. Genau wie in Deutschland ist der Betreiber des Kraftwerks - hier Eletronuclear - für die Zwischenlagerung der abgebrannten Brennelemente am Standort verantwortlich. Am Projektstandort Angra sind Zwischenlager für Brennelemente in Betrieb. Mittelfristig ist neben den schon bestehenden Nass- und Trockenlagern ein weiteres Nasslager bis 2017 geplant. Die Endlagerung liegt im Verantwortungsbereich des Staates und somit bei der nationalen Nuklearenergiekommission. Drittens. Brasilien hat den Atomwaffensperrvertrag ratifiziert, das später hinzugekommene und freiwillige Zusatzprotokoll aus Gründen des Eingriffs in die Staatssouveränität und zum Schutz gegen Industriespionage indes nicht. Brasilien bemüht sich allerdings, die Kontrollen entsprechend der Vorgaben der IAEO gleichwohl zu erfüllen. Brasilien hat daneben eine Reihe von Verträgen unterschrieben, wie den Atomwaffenstopp-Vertrag und das Abkommen über das Verbot der Produktion von spaltbarem Material für Atomwaffen, und hat an einer atomwaffenfreien Zone in Südamerika mitgewirkt. Zur behaupteten Sorge der Oppositionsparteien, Brasilien könne Atomwaffen bauen, ist zu entgegnen, dass die beiden bisher betriebenen Anlagen und das geplante Projekt Angra 3 nur eine niedrige Urananreicherung besitzen. Diese Anlage ist zur Herstellung von Atomwaffen ungeeignet, zumal Brasilien sich entschieden hat, auf eine Wiederaufbereitung zu verzichten. Ferner hat Brasilien zusammen mit Argentinien eine regionale Aufsichtsbehörde zur Kontrolle von Nuklearmaterial gegründet und sogar in der Verfassung den Verzicht auf Atomwaffen aufgenommen. Brasilien als zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt ist ein wirtschaftlich stabiles Land. Im Hinblick auf die Garantie des brasilianischen Finanzministeriums und die vergleichbar geringe internationale Verschuldung und die hohen Devisenreserven bestehen auch haushaltspolitisch keine Bedenken. Sogar im Verlauf der Krise hatte Brasilien lediglich eine Minirezession und verzeichnete zwischen April und Juni 2009 bereits wieder Wachstum. Laut German Trade and Invest wird Brasilien schon 2010 wieder ein Wachstum von circa 5 Prozent erreichen. Viertens. Bei dem Antragsteller handelt es sich um das deutsche Unternehmen Areva NP GmbH in Erlangen mit 5 200 Mitarbeitern. In die Areva NP sind die Nuklearaktivitäten der Siemens AG aufgegangen. Gerade mit Blick auf den Erhalt und die Sicherung der Arbeitsplätze im Hochtechnologiesektor ist somit eine Absicherung dieses Projekts mit einer Hermesbürgschaft mehr als geeignet. Zum einen trägt das Projekt in erheblichem Umfang zur Sicherung des stetig steigenden brasilianischen Energiebedarfs sowie zur Diversifizierung des Strommixes bei. Zum anderen werden durch die verbrieften deutschen Lieferungen und Leistungen zahlreiche Arbeitsplätze in Deutschland gesichert. Dementsprechend begrüßt meine Fraktion die Vergabe einer Hermesbürgschaft für Angra 3 in Brasilien. Bündnis 90/Die Grünen ist eine Klientelpartei, die sich ausschließlich auf ein bestimmtes Segment im Bereich regenerativer Energien konzentriert. Verantwortungsvolle Regierungspolitik hat wieder die volle Bandbreite eines vernünftigen Energiemixes im Auge zu behalten. Darüber hinaus ist es unsere Pflicht, einen Beitrag zum Erhalt hochwertiger Arbeitsplätze in Deutschland zu leisten. Daher lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Bundesregierung will den Bau des Atomkraftwerks Angra 3 in Brasilien durch Siemens mit einer Exportkreditgarantie ermöglichen. Die Steuerzahler müssten mit 2,5 Milliarden Euro haften. Im Haushaltsausschuss haben wir sehr ausführlich über die Risiken eines solchen Geschäfts diskutiert. Die Vertreter der Bundesregierung konnten auf unsere Fragen keine seriösen Antworten geben. Es ist nicht akzeptabel, dass die Bundesrepublik solche Risikotechnologien weiter unterstützt und dafür noch die Steuerzahler in Haftung nehmen will. Umweltorganisationen benennen vier Kritikpunkte an diesem Risikogeschäft. Ökonomische Risiken. Gerade bei Atomanlagen ist das Ausfallrisiko für Bürgschaften enorm hoch, da sie hohe Anfangsinvestitionen erfordern und es oftmals zu immensen Kosten- und Bauzeitüberschreitungen kommt. Bereits der Bau von Angra 2 hat mit 25 Jahren Bauzeit und einem zwei- bis dreimal höheren Preis als veranschlagt enorm zur Verschuldung Brasiliens beigetragen. Politische Risiken. Die brasilianische Atomaufsicht ist nicht unabhängig, denn ein und dieselbe Behörde, die CNEN ({0}), ist für die Förderung und Kontrolle von Atomkraft zuständig. Die Internationale Konvention zur Atomsicherheit, die der brasilianische Kongress 1997/98 in nationales Recht übernommen hat, schreibt eine funktionale Trennung zwischen Aufsichtsbehörde und Förderern/Nutzern der Atomenergie vor. Die bestehende Struktur entspricht somit nicht einmal geltendem brasilianischen Recht, geschweige denn europäischen Standards. Sicherheitsrisiken. Vom Stand der Technik ist Angra 3 vergleichbar mit dem in den 70er-Jahren in Deutschland errichteten Kraftwerk Grafenrheinfeld. Dabei handelt es sich um einen Druckwasserreaktor der zweiten Generation. Der Neubau eines Atomkraftwerkes nach diesen Standards wäre heute in Westeuropa nicht mehr durchsetzbar. Ungelöste Müllentsorgung. Zentrales ökologisches Problem der Anlage ist die auch nach 20 Jahren Betriebslaufzeit von Angra 1 noch immer sehr provisorische Lösung für die radioaktiven Abfälle. Zurzeit lagert der radioaktive Müll der Atomreaktoren Angra 1 und 2 in sogenannten blauen Schwimmbecken unter Wasser. Zu Protokoll gegebene Reden Der brasilianische Umweltminister Minc kritisiert diese Lagerung als völlig unzureichend und fordert endlich eine Langzeitlösung für die Abfälle. Tatsächlich empfehlen sich die geologischen Verhältnisse in diesem von Erdbeben und Erdrutschen gefährdeten Küstengebirge zwischen Rio und São Paulo weder für sensible Bauwerke noch für die Zwischenlagerung von strahlendem Müll. Dieser Analyse ist nur hinzuzufügen, dass die Bundesregierung im Wissen um die genannten Probleme trotzdem an einer Hermesbürgschaft festhält. Das zeigt, dass die Bundesregierung der Atomlobby blindlings folgt. Offensichtlich wird Politik nicht mehr gewählt, sondern nur noch bestellt. Die Linke als großspendenfreie Partei folgt den Empfehlungen der Umweltverbände und lehnt die Bürgschaft ab.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

2001 wurde in Deutschland die Exportförderung von Atomtechnologie beendet. Das hatte seine guten Gründe, die bis heute ungeschmälert gelten. Zur Deckung des weltweiten Energiebedarfs spielt Atomkraft eine geradezu verschwindende Rolle. Daran ändert auch der ständige Versuch der Liebhaber dieser Technologie, das anders darzustellen, nichts. Atomenergie wird global weder für die künftige Energieversorgung noch für den Klimaschutz von größerer Bedeutung sein. Demgegenüber stehen die unverantwortbaren Risiken der Atomkraft, die dort noch steigen, wo keine unabhängige Atomaufsicht besteht oder Atomanlagen in erdbebengefährdeten Gebieten geplant werden. Beides trifft auf Brasilien zu, für dessen geplantes Atomkraftwerk Angra 3 Siemens/Areva eine Hermesbürgschaft von bis zu 2,5 Milliarden Euro beantragt. Wir wissen, dass der Bau von Atomkraftwerken in vielen Ländern insgeheim mit der Hoffnung verbunden ist, darüber in den Kreis der Atommächte aufzusteigen. Atomtechnik birgt immer die Gefahr des militärischen Missbrauchs. Die internationale Debatte um das Atomprogramm des Iran zeigt exemplarisch die große Sorge, die viele Staaten hier umtreibt. Das Ziel der Bundesregierung 2001 war, solche Risiken durch den Ausschluss der Förderung für Atomtransporte zu verringern. Dazu gehörte die Haltung, weltweit für den Ausstieg aus der zivilen wie militärischen Nutzung der Atomenergie zu werben, sich für eine Stärkung des Nicht-Verbreitungsregimes von Atomwaffen einzusetzen und die Atommächte bezüglich ihrer Abrüstungsverpflichtungen zu mahnen. CDU, CSU und FDP haben sich nun laut Koalitionsvertrag entschieden, die gute Praxis der Hermes-Umweltleitlinien nicht mehr anzuwenden. Wenige Monate nach der Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb steht der Antrag von Siemens/Areva als Präzedenzfall zur Entscheidung an. Nichts an diesem Antrag spricht dafür, ihn zu bewilligen. Hermesbürgschaften für Atomtechnologie bergen grundsätzlich ein hohes Risiko für den Bundeshaushalt. Die ständigen Begleiter der jüngsten AKW-Projekte, als da wären: explodierende Kosten, Verzögerungen im Bau und schlechte Planungen, erhöhen das Kreditausfallrisiko überdurchschnittlich, wie das Congressional Budget Office, eine Art amerikanischer Bundesrechnungshof, errechnet hat. Aber eine Bürgschaft für den Bau eines Atomreaktors in Angra dos Reis ist noch aus ganz anderen, darüber hinausgehenden Gründen abzulehnen. Die erdbebengefährdete Region liegt nur rund 100 Kilometer von der Millionenstadt Rio de Janeiro entfernt, ganz sicher nicht der geeignete Standort für ein Atomkraftwerk. Brasilien hat ein wichtiges Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag bis heute nicht unterzeichnet und hat keine unabhängige Atomaufsicht. Die funktionelle Trennung von Betrieb und Aufsicht über Atomanlagen ist also nicht möglich. Auch wenn mir Ihre, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, Haltung zur Atomkraft bei allem Unverständnis meinerseits bewusst ist, so gehe ich doch davon aus, dass Sie solche Unsicherheitsfaktoren nicht gutheißen können. Sie bereiten die Rückkehr zur Atomkraft in Deutschland derzeit auf allen Kanälen vor. Unsere Einschätzung Ihrer Absicht kennen Sie, und wir werden uns mit Ihnen darüber weiterhin gründlich auseinandersetzen. Heute geht es um die Frage einer Bürgschaft mit Steuergeldern für ein ökonomisch unsinniges und ökologisch nicht verantwortbares Projekt. Sie müssen diesen Antrag auf Bürgschaft ablehnen. Eine Lex Siemens in Verbindung mit der Inkaufnahme extremer Risiken, für die vor allem Sie, meine Damen und Herren von der FDP, sich bei Ihrem ständigen Gerede von Mittelstandsförderung schämen müssten, ist nicht das, was dieses Land derzeit braucht.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt mir heute Gelegenheit, über ein ganz entscheidendes Instrument der Außenwirtschaftsförderung zu sprechen: die Exportkreditgarantien des Bundes. Erstens. Die Exportkreditgarantien des Bundes, bekannter unter dem Namen Hermesdeckungen, haben sich gerade in der jetzigen Finanzkrise besonders bewährt. 2009 war ein schwieriges Jahr für die deutsche Exportwirtschaft, und auch in diesem Jahr wird die Exportwirtschaft vor großen Herausforderungen stehen. Die Bundesregierung unterstützt die deutsche Exportwirtschaft gerade jetzt mit Hermesdeckungen. Mit diesem Instrument ermöglicht und erleichtert die Bundesregierung den Zugang deutscher Exporteure zu Auslandsmärkten und schützt - gegen Zahlung risikogerechter Prämien - vor dem Ausfall ihrer Auslandsforderungen. Das gilt für alle Bereiche der deutschen Exportwirtschaft. Das heißt für mich auch: Hermesdeckungen müssen für alle zulässigen Exporte zur Verfügung stehen. Das schließt den zulässigen Export von Nukleartechnologie mit ein. Auch hier müssen faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Industrie gelten. Zweitens. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP wurde festgeschrieben, dass die sogenannten Zu Protokoll gegebene Reden OECD-Umweltleitlinien alleiniger Maßstab für die Umweltprüfung bei den Hermesdeckungen sind. Diese international anerkannten Leitlinien erlauben Deckungen bei Exporten von Nukleartechnologie. Demgegenüber machte eine in der rot-grünen Koalition eingeführte Praxis Hermesdeckungen für solche Exporte leider unmöglich. Diese Praxis, die einseitig zulasten der deutschen Industrie ging, haben wir nun beendet. Die seinerzeitige Praxis war ohnehin durch die inzwischen international vereinheitlichten Regelungen überholt. Würde die Bundesregierung auch weiterhin Exportkreditgarantien in diesem Bereich verweigern, könnte dies dramatische Folgen für deutsche Exporteure haben. Diese könnten sich im internationalen Wettbewerb ohne staatliche Risikoabsicherungen nur schwer behaupten; denn ihre Wettbewerber in Frankreich, Japan oder den USA haben die Möglichkeit, staatliche Sicherungen zu erhalten. Im Übrigen bliebe die Entscheidung anderer souveräner Staaten, Nuklearanlagen zu errichten, durch einen Ausschluss von Deckungsmöglichkeiten in Deutschland gänzlich unberührt. Selbstverständlich gilt für die Bundesregierung, dass vor der Entscheidung für eine Deckung eine gründliche Prüfung durchgeführt wird. Eine solche Prüfung ist gerade auch bei Exporten von Nukleartechnologie neben der Prüfung des Ausfuhrrechts dringend geboten. Drittens. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht das Projekt Angra 3 in Brasilien an. Eine Deckung über circa 1,5 Milliarden Euro für den Weiterbau des Kernkraftwerks Angra 3 wurde beantragt. Die Bundesregierung hat den Haushaltsausschuss wegen des großen Deckungsvolumens am Mittwoch dieser Woche über den Antrag unterrichtet. Die Verträge für den Bau dieses Kernkraftwerks wurden bereits 1976 geschlossen, ruhten jedoch aufgrund der damaligen Finanzschwierigkeiten Brasiliens. Die vertraglichen Vereinbarungen sehen allerdings die Verpflichtung zur Fertigstellung von Angra 3 vor. Die brasilianische Regierung hat sich für die Fertigstellung entschieden. Dieses Vorhaben bewegt sich auch im Rahmen der zwischen Brasilien und Deutschland geschlossenen Verträge. So wurde unter der Regierung von Bundeskanzler Schmidt 1975 das deutsch-brasilianische Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie geschlossen. Das im Mai 2008 unterzeichnete deutsch-brasilianische Energieabkommen lässt das Abkommen aus 1975 unberührt. Die Bundesregierung hält das zugrunde liegende Exportgeschäft für förderungswürdig: Erstens sichert der Exporteur durch diese Exporte für den Weiterbau von Angra 3 in erheblichem Maße Arbeitsplätze in Deutschland. Zweitens trägt das Projekt zur Sicherung des deutschen Know-hows in der Nukleartechnologie bei, und drittens hilft dieses Projekt Brasilien, seinen stetig wachsenden Energiebedarf zu decken und seinen Energiemix zu diversifizieren. Lassen Sie mich noch zwei weitere, bereits häufig aufgegriffene Punkte ansprechen: Dies betrifft zum einen die Umweltauswirkungen und zum anderen die Sicherheitsaspekte. Auch das Projekt Angra 3 wurde selbstverständlich nach den OECD-Umweltleitlinien geprüft. Die Bundesregierung hat einen externen Gutachter beauftragt. Dieser hat die Umweltverträglichkeit und das Sicherheitskonzept untersucht und ist zu einem positiven Ergebnis gekommen. Das Projekt hält internationale und nationale Standards ein. Zum anderen liegen uns keine Hinweise vor, dass Brasilien sein Kernenergieprogramm nicht ausschließlich zivil nutzen will. Brasilien hat den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet, an einer atomwaffenfreien Zone in Südamerika mitgewirkt und den Verzicht auf Atomwaffen in die Verfassung aufgenommen. Viertens. Die Bundesregierung wird die Indeckungnahme von Nukleartechnologieexporten selbstverständlich intensiv prüfen. Vor jeder Deckungsentscheidung schauen wir uns mögliche Auswirkungen - seien es Umwelt- oder seien es Sicherheitsaspekte - genau an. Auf der Grundlage einer solchen gründlichen Prüfung sind wir hier zum Ergebnis gekommen, dass die Deckung übernommen werden sollte.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/540 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rückschiebungen nach Griechenland sofort aussetzen - Drucksache 17/449 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Auch hier ist in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Dabei geht es um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Helmut Brandt, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, weitere Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verordnung sofort auszusetzen und die Prüfung der Asylanträge durch die Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung im nationalen Asylverfahren durchzuführen. Hintergrund des vorliegenden Antrags sind Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, das seit September 2009 durch mehrere einstweilige Anordnungen Überstellungen von Asylbewerbern gemäß der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland ausgesetzt hat. Eine erste Entscheidung in der Hauptsache wird bis zum Sommer dieses Jahres erwartet. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begründet ihren Antrag damit, eine Fortsetzung von Überstellungen nicht besonders Schutzbedürftiger nach Griechenland sei zum einen eine Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts. Zum anderen sei nach Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen in Griechenland der Zugang zum Asylverfahren nicht gewährleistet. Den Antrag lehnen wir aus mehreren Gründen ab. Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, Sie versuchen in Ihrem Antrag den Eindruck zu vermitteln, als seien nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Rücküberstellungen nach Griechenland derzeit unzulässig. Das ist unseriös. Zumindest die Juristen unter Ihnen wissen doch - jedenfalls gehe ich davon aus, dass sie es wissen -, dass Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts ausschließlich auf einer Abwägung zwischen den Folgen, die ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung eintreten, wenn die Hauptsache für den Antragsteller erfolgreich wäre, und den Folgen für den umgekehrten Fall beruhen. Das heißt, die einstweiligen Anordnungen, auf die Sie in Ihrer Begründung abstellen, enthalten gerade keine Aussagen zur Zulässigkeit der Überstellungen nach Griechenland. Sie enthalten auch keine Beurteilung der Situation in Griechenland. Vielmehr lassen sie gerade die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde offen. In diesem Zusammenhang noch Folgendes: Sie sprechen von einer Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts. Meines Wissens haben Sie jedoch bereits vor den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts in Anknüpfung an entsprechende Forderungen von UNHCR und Pro Asyl unter anderem eine vollständige Aussetzung von Überstellungen gemäß der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland befürwortet. Es wird Sie deshalb sicherlich nicht überraschen, dass ich Ihnen Ihre Besorgnis um das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts nicht abnehme. Ihrer Forderung wurde bzw. wird aus folgenden Gründen nicht entsprochen: Für sogenannte DublinRückkehrer besteht in Griechenland grundsätzlich Zugang zu Asylverfahren. Die griechische Regierung hat im Jahr 2008 erklärt, dass es aufgrund des unverhältnismäßig hohen Zustroms von Asylbewerbern und Migranten erhebliche Probleme bei der Aufnahme und der Durchführung von Verfahren gegeben habe, die Lage sich aber deutlich verbessert habe. Auch der UNHCR stellt in seinen Studien aus den Jahren 2007 und 2008 fest, dass Dublin-Rückkehrer grundsätzlich die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Griechenland hatte bereits 2007 gegenüber den Dubliner Büros der Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass die sogenannte Abbruchpraxis nicht mehr vollzogen wird. Im Sommer 2009 hat die griechische Regierung das Asylantragsverfahren dezentralisiert. Es ist aber noch zu früh, um Aussagen über die Auswirkungen des neuen Verfahrens zu treffen. Die Bewertung der Vereinbarkeit von Regelungen des griechischen Asylrechts mit EG-Recht obliegt im Übrigen der Europäischen Kommission. Gegen den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen spricht auch, dass bislang Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien und andere europäische Staaten grundsätzlich Überstellungen gemäß der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland durchführen. Auch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dieser Mitgliedstaaten sind Rücküberstellungen nach Griechenland möglich. Nach einer Entscheidung des niederländischen Raad van State vom 31. August 2009 kann nach Griechenland überstellt werden. Der österreichische Asylgerichtshof entschied am 16. Januar 2009, dass eine Überstellung nach Griechenland keinesfalls eine Verletzung des Art. 3 EMRK und somit auch keinen Anlass zur zwingenden Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs darstelle. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Entscheidung vom 2. Dezember 2008 eine Überstellung nach Griechenland für zulässig erklärt. Die Bundesregierung geht daher zu Recht nach wie vor davon aus, dass die griechische Regierung die erforderlichen Maßnahmen ergreift bzw. bereits ergriffen hat, um die mit dem hohen Zustrom von Migranten und Asylbewerbern verbundenen Schwierigkeiten zu bewältigen. Zwar erscheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass gegenwärtig und in Zukunft im Einzelfall noch Schwierigkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren, wie Einsatz von Dolmetschern, Bereitstellung von Unterkünften, möglich sind. Dies mag auch bei einzelnen Asylbewerbern zu persönlichen Härten und Schwierigkeiten führen können. Aber der Bundesregierung und unserer Fraktion liegen keine Hinweise auf gravierende Verstöße gegen fundamentale Gewährleistungen des Asylrechts oder Kerngewährleistungen des Flüchtlingsrechts oder der Menschenrechte in Griechenland vor. Griechenland selbst weist zudem auf eine bevorzugte Behandlung sogenannter Dublin-Rückkehrer hin. Ich möchte darüber hinaus auf folgendes Problem aufmerksam machen: Nur bei einer gerichtlichen Entscheidung zur vorübergehenden Aussetzung verlängern sich Fristen zur Überstellung. Würde ohne eine gerichtliche Entscheidung von Überstellungen nach Griechenland abgesehen, entstünde wegen Ablaufs der Überstellungsfrist eine deutsche Zuständigkeit zur Durchführung der Asylverfahren. Das wollen wir nicht. Außerdem würde der sogenannte Pull-Faktor nach Deutschland noch weiter verstärkt, wenn durch die zuständigen Behörden generell Dublin-Überstellungen nach Griechenland ausgesetzt würden. Schon 2009 war ein sprunghafter Anstieg unerlaubter Einreisen an deutschen Flughäfen bei Flügen aus Griechenland zu verzeichnen. Nach den vorliegenden Feststellungen haben sich die unerlaubten Einreisen gegenüber 2008 mehr als vervierfacht. Auch das wollen wir verhindern. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt der Situation in Griechenland Rechnung, indem es bei besonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel für Zu Protokoll gegebene Reden Minderjährige, für Flüchtlinge hohen Alters oder bei denen Schwangerschaft, ernsthafte Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder eine besondere Hilfebedürftigkeit vorliegen, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung sehr großzügig Gebrauch macht und von einer Überstellung nach Griechenland absieht. So machte das Bundesamt 2009 in circa 700 Fällen Gebrauch von seinem Selbsteintrittsrecht. Dem standen circa 200 Überstellungen gegenüber. Im Jahr 2008 war das Größenverhältnis noch umgekehrt: 222 Überstellungen standen 130 Selbsteintritten gegenüber. Ich finde, das beweist einen sehr verantwortungsvollen Umgang des Bundesamtes mit der tatsächlichen Situation. Ferner wird der Überstellungszeitraum grundsätzlich ausgeschöpft, um so durch eine zeitliche Streckung der Überstellungen eine Entlastung Griechenlands zu erreichen. Es existieren mehrere bilaterale Hilfsangebote: Deutschland hat Griechenland mehrfach bilaterale Unterstützung bei der Durchführung von Asylverfahren angeboten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat schriftlich seine Unterstützung angeboten, zum Beispiel beim Einsatz von Dolmetschern im Asylverfahren, dem Zugriff auf sein Informationssystem zu Herkunftsländern und bei Recherchen zu länderkundlichen Themen sowie bei der Zurverfügungstellung von Schulungspersonal und Formblättern. Außerdem wurde Griechenland die Entsendung eines BAMF-Verbindungsbeamten an die griechische Asylbehörde angeboten. Der Einsatz des Verbindungsbeamten könnte neben der Unterstützung im Dublin-II-Verfahren auch den Austausch von Herkunftsländerinformationen oder von Informationen über Strukturen und Abläufe im Asylverfahren umfassen. Außerdem möchte ich noch darauf aufmerksam machen, dass Griechenland finanzielle Hilfe der EU, zum Beispiel aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds, und voraussichtlich künftig neben der finanziellen Hilfe auch organisatorische und personelle Unterstützung vom EU-Asylunterstützungsbüro erhält bzw. erhalten wird. Abschließend stelle ich klar, dass kein Zweifel daran besteht, dass die Bundesregierung bzw. die dafür zuständigen Behörden die Ausübung des in der Dublin-II-Verordnung vorgesehenen Selbsteintrittsrechts gegenüber Griechenland im Lichte der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts auch weiterhin in jedem Einzelfall sorgfältig prüfen werden. Der Aussetzungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist damit zurückzuweisen.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Seit Beginn des Jahres 2008 wurden wir verstärkt durch viele NGOs auf die schwierige Lage von Flüchtlingen in Griechenland und insbesondere bei Rücküberstellungen gemäß der Dublin-II-Verordnung hingewiesen. Es erfolgten Berichte seitens des Innenministeriums an den Innenausschuss über die Prüfung des Selbsteintrittsrechts bei Dublin-II-Verfahren gegenüber Griechenland. Schließlich hatte ich die Gelegenheit, mir anlässlich einer Reise einer Delegation des Innenausschusses des Deutschen Bundestages nach Griechenland vom 8. bis 12. Juni 2009 selbst ein Bild über die Situation der Flüchtlinge und die Durchführung des Asylverfahrens vor Ort zu machen. In Griechenland werden jährlich rund 150 000 illegale Flüchtlinge registriert; die Dunkelziffer dürfte aber viel höher sein. Demgegenüber ist die Ziffer der jährlichen Erstbearbeitungen von Asylanträgen mit 20 000 auffallend gering. Nicht besser sieht es bei der Bearbeitung der Einspruchsbescheide in 2. Instanz aus: Nach einem Bericht des Auswärtigen Ausschuss vom 13. März 2009 werden im Jahr etwa rund 3 000 Einspruchsbescheide bei 30 000 offenen Entscheidungsfällen und jährlich mindestens 10 000 Neuzugängen erteilt. Allein das Verhältnis dieser Zahlen verdeutlicht gut, was wir im Rahmen der Delegation als Fazit mit nach Hause genommen haben: Griechenland hat weder materiell noch personell die Mittel, um des Flüchtlingsstroms Herr zu werden. So werden Flüchtlinge, die erst gar kein Schutzersuchen vortragen, zwar dazu aufgefordert, das Land zu verlassen; eine Ausreiseüberwachung oder sonstige Betreuung findet aber nicht statt. Zudem sind Rückführungen von Griechenland in andere Länder meistens problematisch. Insbesondere Rückführungen in die Türkei, dem Land also, aus dem fast alle asiatischen und afrikanischen Flüchtlinge nach Griechenland einreisen, können kaum durchgeführt werden. Die Flüchtlinge werden schlicht sich selbst überlassen. Nicht viel besser sieht die Situation der Asylantragsteller aus. Diese werden zwar im besten Fall als Asylsuchende registriert und erhalten ein „rosa Dokument“ mit einer Gültigkeitsdauer von sechs Monaten. Mit dieser Bescheinigung halten sie sich legal in Griechenland auf und sind berechtigt, zu arbeiten. Theoretisch haben sie einen Anspruch auf Unterkunft, Gesundheitsversorgung und ein Recht auf Zugang zu Bildung. In der Praxis können diese Rechte aufgrund von Kapazitätsmängeln - es soll zum Beispiel nur rund 700 Wohnplätze für Asylbewerber geben - selten gewährleistet werden. Das Problem beginnt allerdings schon damit, dass längst nicht alle Flüchtlinge die tatsächliche Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen und sich registrieren zu lassen. Die große Mehrheit der Asylanträge wird bei der Ausländerbehörde in der „Petrou Ralli-Straße“ in Athen bearbeitet. Diese hat eine Kapazität zur Bearbeitung von maximal 80 Fällen am Tag, also maximal 400 Anträgen in der Woche und im besten Fall 20 000 im Jahr. Aus eigener Anschauung weiß ich, dass es vielen Flüchtlingen erst gar nicht gelingt, zu einem Schalter in der Ausländerbehörde vorzudringen. Wir haben bei unserer Delegationsreise gesehen, dass Flüchtlinge unter freiem Himmel zu Hunderten vor der Ausländerbehörde anstehen, um überhaupt erst einen Termin zur Vorsprache zu erhalten. In der Praxis werden auch sie zumeist sich selbst überlassen. Uns wurde zwar gesagt, dass die Ausländerbehörde in Athen Dublin-II-Fälle bevorzugt behandelt; doch angesichts der geschilderten Eindrücke habe ich erhebliche Zweifel an der Durchführbarkeit dieser Aussage. Zu Protokoll gegebene Reden Das in dem Antrag angesprochene Beobachtungsergebnis internationaler Menschenrechtsorganisationen, dass die Situation für Asylsuchende in Griechenland seit langem gegen internationale und europäische Standards für Verfahren zur Überprüfung der Flüchtlingseigenschaft verstößt und dass vor allem der Zugang zum Asylverfahren nicht gewährleistet ist, deckt sich mithin mit den Erfahrungen der Teilnehmer der Delegationsreise des Innenausschusses nach Griechenland. Von den gravierenden humanitären und sozialen Problemen bis hin zu sozialer Verelendung, die aus dem Fehlen fast jeglicher staatlicher Fürsorge für Flüchtlinge resultieren, konnten wir uns vor Ort leider selbst überzeugen. Entscheidend ist aber schließlich, dass sich das Bundesverfassungsgericht in sechs Beschlüssen dafür ausgesprochen hat, im Eilverfahren die Überstellung nach Griechenland in Dublin-II-Fällen zu stoppen. Das oberste deutsche Gericht hielt in diesen sechs Beschlüssen die Verletzung elementarer Rechte für die Zurückzuführenden für möglich. Im Beschluss 2 BvQ 56/09 führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass „bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt“ sei, „sollte ihm, wie von ihm, gestützt auf ernstzunehmende Quellen, befürchtet, in Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Obdachlosigkeit drohen“. Und die Gefahr der Obdachlosigkeit realisiert sich für Flüchtlinge täglich hundertfach in Griechenland. Wenn selbst das Bundesverfassungsgericht die Gefahr sieht, dass die Rechte von Flüchtlingen bei einer Rückführung nach Griechenland verletzt werden, so darf sich die Bundesregierung dem nicht verschließen. Es kann nicht sein, dass sie die Rechte von Flüchtlingen weiter sehenden Auges gefährdet. Rückführungen nach Griechenland im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens sind zumindest bis zur Entscheidung in der Hauptsache des Bundesverfassungsgerichts auszusetzen und die Prüfung des Asylantrages im Wege des Selbsteintrittsrechts durchzuführen. Ich möchte hier kurz erwähnen, dass es uns immerhin schon unter der Großen Koalition gelungen ist, zusammen mit dem Bundesministerium des Innern und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine flexible Rückführungspraxis einzuführen, die besonders schutzbedürftige Personen von der Rückführung nach Griechenland ausgenommen hat. An dieser Stelle muss jedoch deutlich gesagt werden, dass wir uns in Zukunft als Europäer konkrete Gedanken über die Entwicklung eines echten Lastenteilungssystems in der EU machen müssen, das die Dublin-II-Verordnung als reinen Zuständigkeitsmechanismus sinnvoll ergänzt. Die Vermeidung der konstanten einseitigen Überlastung einzelner Staaten wie zum Beispiel Malta oder eben Griechenland ist erstens Voraussetzung für einen effektiven Flüchtlingsschutz und zweitens ein Gebot europäischer Solidarität. In diesem Sinne hat sich während unserer Delegationsreise nach Griechenland unsere Sorge bezüglich einiger hundert Zurückgeführter im Rahmen von Dublin II hin zu dem Massenphänomen der totalen Verelendung von Flüchtlingen in den vollkommen überlasteten Staaten der EU-Außengrenzen gewendet. Für heute empfehle ich jedoch aus den genannten Gründen die Zustimmung zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ziel der Dublin-Verordnung ist es, den EU-Mitgliedstaat festzulegen, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Asylantrages zuständig ist. Dadurch soll verhindert werden, dass eine Person in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen Asylantrag stellt. Zuständig ist meist der Mitgliedstaat, den der Antragsteller als Erstes in der EU betreten hat. Eine wichtige praktische Folge aus dieser Verordnung ist, dass ein unzuständiger Mitgliedstaat die entsprechenden Drittstaatsangehörigen an den als zuständig festgestellten Mitgliedsstaat abschiebt. Dort soll dann ein entsprechendes Asylverfahren durchgeführt werden. Die Abschiebungen nach Griechenland stehen bereits seit längerer Zeit unter massiver Kritik von den bekannten Organisationen Pro Asyl, Amnesty International und UNHCR. Hauptprobleme sind dabei: Griechenland hat eine besonders geringe Anerkennungsquote für Asylsuchende. Asylsuchende werden bereits für die Durchführung von Asylverfahren in Haftanlagen untergebracht. Oft können sie gar keinen Asylantrag stellen. Anwaltliche Vertretung wird ihnen nicht gewährt. In die Überlegungen muss andererseits sicherlich mit einbezogen werden, dass Griechenland aufgrund seiner geografischen Lage eine besonders hohe Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen hat. Auch wird von allen Seiten, einschließlich des UNHCR und der EU, darauf hingewiesen, dass Griechenland in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen habe, um die Bedingungen bei den Asylverfahren zu verbessern, jedoch besteht nachweislich noch deutlicher Nachholbedarf. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesrepublik Deutschland auf dem letzten Rat der Justiz- und Innenminister ihre Hilfe gegenüber Griechenland in praktischer Art angeboten hat. Staatssekretär Peter Altmaier führte im Innenausschuss vom 18. Juni 2008 aus, dass sich das Angebot der Bundesregierung auf die Entsendung von Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bezog. Diese sollten bei der Bewältigung der praktischen Probleme Hilfe leisten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist besonders angewiesen, jeden Einzelfall der Rücküberstellung nach Griechenland sorgfältig zu überprüfen. Nach Angabe von Pro Asyl werde auch generell bei besonders schutzwürdigen Gruppen, wie Minderjährigen und Kranken beispielsweise, in Einzelfällen jeweils von der Abschiebung abgesehen. Es erscheint jedoch angesichts der prekären Lage der Asylantragsteller in Griechenland sinnvoll, momentan auf Rücküberstellungen dorthin zu verzichten. Die Bundesregierung sollte daher generell von ihrem Selbsteinstrittsrecht Gebrauch machen. Ein generelles Selbsteintrittsrecht nimmt momentan innerhalb Europas ausschließlich Norwegen wahr. Die diesbezügliche Forderung der Grünen läuft letztlich auf eine deutZu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) sche Sonderolle hinaus. Dies ist auf Dauer nicht vernünftig. Griechenland sollte nicht von seiner unabweisbaren Verpflichtung der Einhaltung der Menschenrechtsstandards bzw. der Vorgaben der EU bei den Asylverfahren entbunden werden. Allerdings ist mittelfristig eine gerechtere Verteilung der Lasten anzustreben. Da gerade die Bundesrepublik Deutschland in den 90er-Jahren die Hauptlast der Balkan-Flüchtlinge getragen hat, liegt die Verantwortung nun eigentlich bei anderen Staaten der EU. Es wäre wünschenswert, wenn auch die Grünen ihre an sich berechtigte Kritik vor allem an die Regierung Griechenlands, aber auch anderer EU-Staaten richteten, und nicht die Missstände in Griechenland zulasten Deutschlands entschuldigen. Wenn Europa flüchtlingsfreundlicher werden soll, darf kein Staat aus seiner Verantwortung für ein korrektes Verfahren entlassen werden. Der Antrag der Grünen ist aber ein Aufruf, die Situation in Griechenland zu lassen, wie sie ist, und die Probleme einfach nach Deutschland zu verlagern. Das ist inakzeptabel.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Bundesverfassungsgericht hat in den vergangenen Monaten in mehreren Fällen entschieden, dass über Griechenland eingereiste Asylbewerber nicht zurückgeschoben werden dürfen. Nach der geltenden Rechtslage müssen Flüchtlinge in dem Staat ihr Asylverfahren betreiben, über den sie in die EU eingereist sind. In sechs Fällen hat das höchste deutsche Gericht die Rückschiebungen per einstweiliger Anordnung ausgesetzt. Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung keine Veranlassung sieht, von Rücküberstellungen nach Griechenland generell Abstand zu nehmen und das Asylverfahren in Deutschland zu betreiben. Wie eine Kleine Anfrage unserer Fraktion ergeben hat, gibt es ja nicht nur die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Auch zahlreiche Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte haben in die gleiche Richtung entschieden. Sogar das bayerische Staatsministerium des Innern hat angewiesen, von Rücküberstellungen nach Griechenland zunächst abzusehen. Nur die Bundesregierung stellt sich wieder einmal stur und schiebt Asylbewerber ins Elend ab. Denn genau das droht ihnen in Griechenland, weil die Versorgung von Flüchtlingen dort weiterhin die EUStandards verletzt. Das wird sich angesichts der schweren Haushalts- und Finanzkrise in Griechenland auch erst einmal nicht ändern. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinen Entscheidungen auf diese Zustände im griechischen Asylsystem berufen. Das Gericht hat vor diesem Hintergrund aber auch allgemein Zweifel an der sogenannten Sichere-Drittstaaten-Regelung geäußert. Nach dieser Regelung gilt ein Asylantrag in Deutschland als unerheblich, wenn der Antragsteller über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Ob dieser Drittstaat im konkreten Fall wirklich sicher ist, wird im Asylverfahren nicht mehr geprüft. Auf dieser Grundlage funktioniert auch das Asylsystem der EU. In diesem Sinne will das Bundesverfassungsgericht seine eigene Rechtsprechung noch einmal grundsätzlich überdenken. Daran anknüpfend, fordert die Fraktion der Grünen nun, dass keine Asylbewerber mehr nach Griechenland überstellt werden sollen. Bis das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entschieden hat, solle die Bundesrepublik das Asylverfahren durchführen. Diese Forderung ist in der aktuellen Situation nahe liegend und richtig. Aber sie geht am Kern des Problems vorbei. Der liegt ganz woanders: Selbst die EU-Kommission musste inzwischen einräumen, dass die EU weit davon entfernt ist, ein harmonisches Asylsystem geschaffen zu haben, das wirklich allen Flüchtlingen in jedem Land gleiche Chancen bietet, erfolgreich ein Asylverfahren zu durchlaufen. Die Zahlen sind ja bekannt: Während beispielsweise Tschetschenen in einigen EU-Staaten keine Chance auf Asyl haben, werden sie in anderen Ländern als Flüchtlinge anerkannt. Auch bei irakischen Flüchtlingen gibt es EU-weit ganz unterschiedliche Anerkennungsquoten. Davon abgesehen gibt es für jeden Flüchtling auch andere gute Motive, sich ein bestimmtes Land als Aufnahmeland auszusuchen. Die Linke hat aus all diesen Gründen bereits in der letzten Legislaturperiode gefordert, dass Asylsuchende ihr Aufnahmeland eigenständig aussuchen können. Damit soll auch dem Problem begegnet werden, dass Staaten an den Außengrenzen der EU, die sich mit der Zahl der Asylsuchenden in ihrem Land überfordert sehen, nicht zu einer äußerst restriktiven Anerkennungs- und Aufnahmepraxis greifen, um weitere Flüchtlinge abzuschrecken. Die Bundesregierung, sowohl die letzte als auch die amtierende, betätigt sich auf europäischer Ebene als Bremserin des Ausbaus eines harmonisierten europäischen Asylsystems. Beispielsweise hat sich Wolfgang Schäuble in die Phalanx derer eingereiht, die aus dem Europäischen Asylbüro einen zahnlosen Papiertiger gemacht haben. Die Äußerungen seines Nachfolgers lassen vermuten, dass die Misere des europäischen Asylsystems weitergehen wird. Der Antrag der Fraktion der Grünen ist uns in diesem Sinne nicht weitgehend genug. Jenen Schutzsuchenden, denen die Rückschiebung nach Griechenland droht, muss selbstverständlich geholfen werden. Das kann aber die Weiterentwicklung des Flüchtlingsschutzes in der Europäischen Union nicht ersetzen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Bundesverfassungsgericht hat unterdessen die Aussetzung der Abschiebung von Asylsuchenden nach Griechenland im Rahmen des EU-Verteilungssystems, der Dublin-II-Verordnung, in acht Einzelfällen angeordnet. Das Gericht stützt sich dabei auf „ernst zu nehmende Quellen“, wonach eine ordnungsgemäße Registrierung als Asylsuchender in Griechenland unmöglich sein könnte. Trotz der mittlerweile ergangenen acht einstweiligen Anordnungen des BundesverfassungsgeZu Protokoll gegebene Reden richts betreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weiterhin die Rückschiebung von Asylsuchenden nach Griechenland. Dies wollen wir mit dem vorliegenden Antrag verhindern. Denn das Asylverfahren in Griechenland ist weiterhin eine Frage des Zufallsprinzips. Nicht nur Pro Asyl und Human Rights Watch, sondern auch der UNHCR berichten, dass das Asylverfahren in Griechenland in vielerlei Hinsicht an erheblichen Mängeln leidet. Von einem fairen Verfahren, wie es nach dem internationalen Flüchtlingsrecht und den EU-Richtlinien über die Aufnahme von Flüchtlingen, die Durchführung des Asylverfahrens und die Kriterien für die Anerkennung als Flüchtling vorgesehen ist, kann man nicht sprechen. So kommen Inhaftierungen ohne Haftgrund vor, Dolmetscher bei der Befragung über die Fluchtgründe sind nicht garantiert, es gibt keine Unterbringung während des Asylverfahrens, der Zugang zur zentralen Asylbehörde in Athen ist nur an einem einzigen Tag möglich. Dies alles räumt das BMI auch in zahlreichen Stellungnahmen an den Petitionsausschuss des Bundestages ein, will die Menschen aber dennoch weiter zurückschicken. Das ist aus grüner Sicht untragbar, denn Deutschland trägt angesichts dieser dem Bundesinnenministerium schon länger bekannten Situation in Griechenland gerade auch für rücküberstellte Personen aus Deutschland eine Mitverantwortung. Aus unserer Sicht sollte Deutschland die Asylverfahren hier in Deutschland durchführen. Auch bei hohen Zugangszahlen von Asylantragstellern muss ein faires Verfahren unter Einhaltung der Mindeststandards aus der EU-Flüchtlingsaufnahme-Richtlinie, der EU-Asylverfahrens-Richtlinie und der EUQualifikations-Richtlinie erfolgen. Die südlichen Außengrenzländer der EU haben mit einer großen Zahl schutzsuchender Menschen zu tun: Griechenland vor allem mit Flüchtlingen aus dem Irak, Afghanistan, Iran. Viele dieser Menschen haben schwerste Menschenrechtsverletzungen durchlitten und suchen nach einem sicheren Platz. Deutschland sollte sich intensiv für eine Neuregelung der Verteilungsregelung innerhalb der EU einsetzen. Bis zu einer Neuregelung darf aber das Prinzip der „Verknappung von Zugangsmöglichkeiten zum Asylverfahren“ in Griechenland nicht weiterpraktiziert werden. Denn es trifft Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Dies ist nicht hinzunehmen. Bestätigt in dieser Haltung fühlen wir uns auch durch das Bundesverfassungsgericht: Dieses hat erneut mit Beschluss vom 8. Dezember 2009 ({0}) die Aussetzung der Abschiebung eines Asylsuchenden nach Griechenland im Rahmen des EU-Verteilungssystems ({1}) angeordnet. Dafür war wie in dem der einstweiligen Anordnung vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 - zugrunde liegenden Fall ausschlaggebend, dass möglicherweise bereits mit der Abschiebung oder in ihrer Folge eintretende Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden könnten. Zwar wird die Rückschiebung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge nach Griechenland in der Regel nicht vollzogen, die Argumentation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass man von Asylbewerbern, die nicht besonders schutzbedürftig sind, erwarten könne, dass sie auch unter gegebenenfalls erschwerten Bedingungen das Asylverfahren in Griechenland durchführten - Drucksache 16/14149 ({2}) -, ist aber menschenrechtlich höchst bedenklich. Die Antragsteller der bisherigen positiven Eilverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gehörten gerade nicht dem Kreis besonders schutzbedürftiger Personen an, bei denen die Bundesrepublik Deutschland vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin-IIVerordnung Gebrauch macht. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht die Verletzung elementarer Rechte in Griechenland für möglich hält und deswegen nach einer Abwägung die Rückführung unterbindet, darf sich die Bundesregierung dem nicht verschließen. Dennoch Rückführungen vorzunehmen, ist nicht nur eine Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts, sondern heißt auch, die Menschenwürde der Asylsuchenden sehenden Auges zu gefährden. Daher fordern wir, Rückschiebungen nach Griechenland im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens sofort bis zur Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszusetzen und die Prüfung der Asylanträge im Rahmen des Selbsteintritts im nationalen Asylverfahren durchzuführen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/449 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 29. Januar 2010, 9 Uhr, ein. Ich schließe die Sitzung, wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend und den Freunden aus der FDP eine schöne Geburtstagsfeier.