Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/28/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Ich habe Ihnen einige Mitteilungen zu machen, bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten. In den zurückliegenden Tagen haben eine Reihe von Kollegen ihren Geburtstag gefeiert. Besonders erwähnenswert ist, dass der Kollege Wolfgang Zöller seinen 70. Geburtstag, die Kollegen Werner Dreibus und Dr. Rainer Stinner ihren 65. und die Kollegin Marieluise Beck ihren 60. Geburtstag hatten. ({0}) Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen herzlich und wünsche alles Gute für das neue Lebensjahr. Die Kollegin Ingrid Nestle hat mit Wirkung vom 18. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist der Kollege Arfst Wagner nachgerückt. ({1}) Der Kollege Michael Groschek hat mit Wirkung vom 21. Juni 2012 ebenfalls auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist der Kollege Wolfgang Hellmich nachgerückt. ({2}) Auch Sie beide begrüße ich herzlich. Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit. Schließlich müssen wir vor Eintritt in unsere Tagesordnung noch eine Reihe von Wahlen durchführen. Als Mitglied des Stiftungsrats der „Treuhänderischen Stiftung zur Unterstützung besonderer Härtefälle in der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“ schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen ErnstReinhard Beck und die Fraktion der SPD den Kollegen Ullrich Meßmer vor. Sind Sie damit einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Beck und Meßmer als Mitglieder des Stiftungsrats der Härtefallstiftung gewählt. Die Fraktion der SPD schlägt des Weiteren vor, den Kollegen Lothar Binding als Nachfolger für die als stellvertretendes Mitglied aus dem Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes ausgeschiedene Kollegin Nicolette Kressl zu wählen. Können Sie sich auch damit anfreunden? - Das sieht so aus. Dann ist das so vereinbart. Damit ist der Kollege Binding als stellvertretendes Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses gewählt. Schließlich schlägt die Fraktion der SPD vor, für die auch aus dem Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsgesetzes ausgeschiedene Kollegin Nicolette Kressl die Kollegin Petra Hinz ({3}) als Nachfolgerin zu berufen. Dazu darf ich Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall. Damit ist Petra Hinz als Mitglied dieses Gremiums gewählt. Der Kollege Dr. Peter Tauber hat sein Schriftführeramt niedergelegt. ({4}) - Ich teile das Bedauern und das erkennbare Unverständnis ausdrücklich, nehme die Entscheidung aber als unabänderlich zur Kenntnis. Immerhin gibt es einen Nachfolgevorschlag. ({5}) Die CDU/CSU-Fraktion schlägt den Kollegen Dr. Thomas Feist vor. ({6}) - Das sieht mir nach Akklamation aus. - Ich habe den Eindruck, dass Sie alle damit einverstanden sind. Damit ist der Kollege Dr. Thomas Feist gewählt. Es geht weiter mit den Hiobsnachrichten. ({7}) Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass die Kollegin Petra Müller ebenfalls ihr Schriftführeramt niedergelegt hat. ({8}) Präsident Dr. Norbert Lammert - Das muss ich fast für persönliche Misstrauenserklärungen halten. Für sie wird der Kollege Manfred Todtenhausen als neuer Schriftführer benannt. ({9}) Sind Sie mit den Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die beiden Kollegen damit als neue Schriftführer gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 28./29. Juni 2012 in Brüssel ({10}) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Forderung von SPD und Grünen zu Tempo 30 in Städten ({11}) ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 51 a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Drucksache 17/10087 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({12}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({13}), Marieluise Beck ({14}), Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij - Drucksache 17/10111 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({15}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({16}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die Beschaffung unbemannter Systeme überprüfen - Drucksache 17/9414 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({17}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({18}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({19}) Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme - Drucksache 17/6904 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({20}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Ergänzung zu TOP 52 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({21}) zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Lisa Paus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein starker Haushalt für ein ökologisches und solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020 - Drucksachen 17/7952, 17/10081 Berichterstattung: Abgeordnete Bettina Kudla Michael Roth ({22}) Joachim Spatz Dr. Diether Dehm b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({23}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Gesetze zu Fiskalvertrag und Europäischem Stabilitätsmechanismus ({24}) - Drucksache 17/10149 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 453 zu Petitionen - Drucksache 17/10134 - d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 454 zu Petitionen - Drucksache 17/10135 - Präsident Dr. Norbert Lammert e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 455 zu Petitionen - Drucksache 17/10136 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 456 zu Petitionen - Drucksache 17/10137 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 457 zu Petitionen - Drucksache 17/10138 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 458 zu Petitionen - Drucksache 17/10139 - i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 459 zu Petitionen - Drucksache 17/10140 - j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 460 zu Petitionen - Drucksache 17/10141 - k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 461 zu Petitionen - Drucksache 17/10142 - l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 462 zu Petitionen - Drucksache 17/10143 ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({35}) zu dem Gesetz zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid - Drucksachen 17/5750, 17/6264, 17/6507, 17/7240, 17/7543, 17/10101 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({36}) ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({37}) zu dem Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung - Drucksachen 17/5335, 17/5496, 17/8058, 17/8680, 17/10102 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({38}) zu dem Gesetz zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien - Drucksachen 17/8877, 17/9152, 17/9643, 17/10103 Berichterstattung: Abgeordneter Michael Grosse-Brömer ZP 8 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Korruption im Gesundheitswesen bekämpfen - Konsequenzen aus dem BGH-Urteil ziehen ZP 9 Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Sportwetten - Drucksache 17/8494 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({39}) - Drucksachen 17/10112, 17/10168 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Dr. Barbara Höll ZP 10 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur Schaffung einer Stabilitätsunion Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 22, 42, 50 h, 50 i, 51 h und 52 h abgesetzt. Sie wissen sicher, worum es sich handelt. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Speaker der Knesset, des israelischen Parlaments, Reuven Rivlin, mit seiner Delegation Platz genommen. ({40}) Ich begrüße Sie, Mister Speaker, lieber Kollege Rivlin, ganz herzlich hier im Deutschen Bundestag. Ich bin zuversichtlich, dass Sie aus den zahlreichen Gesprächen, die Sie bei Ihrem Besuch in Berlin bereits geführt haben und weiter führen werden, den Eindruck einer tiefen Verbindung zwischen unseren beiden Ländern mit nach Präsident Dr. Norbert Lammert Hause nehmen, den Eindruck einer gefestigten Partnerschaft und einer, wenn es sein muss, kritischen Solidarität, wie es sich zwischen funktionierenden Demokratien gehört. Herzlich Willkommen in Deutschland und alles Gute! ({41}) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 a bis d auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes ({42}) - Drucksache 17/9917 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({43}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld - Drucksache 17/9572 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({44}) Innenausschuss Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Betreuungsgeld nicht einführen - Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen - Drucksache 17/9582 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({45}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahlfreiheit gewährleisten, Kindertagesbetreuung ausbauen - Drucksache 17/9929 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({46}) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion. ({47})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute diesen wichtigen Gesetzentwurf da diskutieren dürfen, wo er hingehört, nämlich im Plenum des Deutschen Bundestages. Wir müssen uns die Frage stellen: Worin besteht gute Familienpolitik, und was ist unsere Aufgabe als verantwortungsvolle und vor allem verantwortliche Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker? Ist es unsere Aufgabe, Eltern vorzuschreiben, welches Modell sie zu leben haben, um dann über die Steuergelder unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger einen finanziellen Vorteil zu bekommen? Oder ist es richtig, die Super-Nanny spielen zu wollen, die den Eltern sagt: „Brav! Dieses eine ist das richtige Modell im Jahr 2012. Ihr lebt ein falsches Modell, und deswegen erhaltet ihr als Umerziehungsmaßnahme nichts“? Ich würde mich freuen, wenn wir alle uns einmal bei uns, in unserem Land, umschauen würden, wenn wir die Augen öffnen und sehen würden, welch bunte Mischung an Familien wir haben. Es gibt nicht die Einheitsfamilie in Deutschland. Ich denke, da sind wir uns alle einig. Wenn wir uns alle einig sind, dass es in Deutschland nicht die Einheitsfamilie gibt, dann frage ich mich, warum man eine Einheitslösung, ein Einheitsmodell in diesem Lande möchte. ({0}) Ich freue mich, dass wir die Gelegenheit haben, heute darüber zu diskutieren. Ich freue mich auch, dass wir den Eltern, die Modelle leben wollen, die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht goutieren, sagen können, dass auch ihr Lebensentwurf von uns eine Wertschätzung erhält. Wir haben in den letzten Monaten viel Kontroverses über die Betreuung von Kleinkindern gehört: dass kleine Kinder angeblich jetzt bräuchten, was sie die letzten Jahrzehnte vielleicht nicht gebraucht haben. Aber mir kommt in der Diskussion eines viel zu kurz: Es mischen sich zwar diejenigen ein, die sagen, dass aus Arbeitgebersicht das und das wichtig ist, aus einer anderen Sicht das und das wichtig ist, aber es wird wenig geschaut, was eigentlich diese Kinder brauchen. Wenn ich von „Kindern“ spreche, müssen wir uns genau anschauen, über welche Kinder wir sprechen. Es geht um einen ganz fragilen Zeitraum. Es geht, anders als oft suggeriert wird, nicht um Kindergartenkinder. Gestern hat wieder irgendjemand gesagt - ich glaube, es war sogar im BlogPost von Herrn Özdemir -, es gehe um Kindergartenkinder. ({1}) Ich denke, es ist immer noch nicht verstanden worden, dass es nicht um Drei- bis Sechsjährige geht, sondern um diejenigen, die 12 oder 24 oder maximal 36 Monate alt sind. Jedes Kind ist anders, und deswegen gibt es nicht die eine Betreuungsform, die für jedes Kind gleich geeignet ist. Deswegen gibt es auch nicht die eine Antwort. Viele sogenannte Experten veröffentlichen Studien noch und nöcher. Unser ehemaliger Ministerpräsident hat einmal so schön gesagt: Zeig mir deinen Professor, dann zeige ich dir meinen Professor. - Deswegen muss man sich diese Studien ganz genau anschauen. Aber kaum jemand verlässt sich auf die wirklichen Experten bei diesem Thema. Für mich wären das in erster Linie die Kinder selber, so sie in dem Alter denn schon sprechen könnten. Aber die wirklichen Experten, die wissen, was das Beste für ihr Kind ist, sind selbstverständlich die Eltern. ({2}) Eine deutliche Mehrheit - ich sage das aus voller Überzeugung - der Eltern in unserem Lande wünscht sich für die unter Dreijährigen immer noch eine Alternative zur Krippenbetreuung. Die Eltern wünschen sich, die Kinder selbst zu betreuen bzw. eine individuelle Form der Betreuung zu wählen, die ihren Bedürfnissen entspricht. Es wird immer so dargestellt, als gäbe es in diesem Land nur zwei Betreuungsmodelle. Die eine Form ist - ich überspitze es einmal -, dass die Eltern die Kinder vom Kreißsaal direkt in die Krippe geben. Die andere Form ist, dass Eltern sich 18 Jahre lang zu Hause selbst um die Kinder kümmern. Das Gegenteil ist doch der Fall: Erstens gibt es viele Zwischenmodelle, und zweitens wechseln die Familien auch zwischen diesen Modellen, und zwar nicht nur von Kind zu Kind, sondern auch bei der Betreuung desselben Kindes. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Tagesmutter schwanger wird und die Betreuung nicht mehr übernehmen kann oder wenn eine Oma, die sich bislang um das Kind gekümmert hat, verstirbt. Dann müssen neue Lösungen gefunden werden. Es gibt nicht nur die beiden Modelle, wie Sie das oft suggerieren. Mich stört in der Diskussion am meisten - die Diskussion darüber ist von Ihnen angezettelt worden -, dass junge Eltern plötzlich unter einem Rechtfertigungsdruck stehen, wenn sie sich entschließen, ihr Kind nicht in eine Krippe geben zu wollen. Das ist falsch; denn wir brauchen jede Form der Betreuung. ({3}) Ich will nicht, dass sich jemand rechtfertigen muss, wenn er sein Kind in die Krippe gibt. Ich will aber auch nicht, dass sich eine Familie rechtfertigen muss, wenn sie sagt: Wir lösen die Betreuung anders. ({4}) Es ist geradezu pervers, wenn Eltern Angst haben, etwas falsch zu machen, nur weil wir ihnen sagen: Es gibt ein richtiges und ein falsches Modell. ({5}) Wer hat denn dann überhaupt noch Lust, sich für Kinder zu entscheiden, wenn zum Beispiel eine Nachbarfamilie ein anderes Modell lebt und dies als Kritik am eigenen Modell verstanden wird? Das kann doch nicht sein. Man darf sich nicht für ein bestimmtes Modell rechtfertigen müssen. ({6}) Selbstverständlich ist Bildung wichtig. Wir müssen aber doch immer überlegen, über welche Lebensmonate wir sprechen. In den ersten Lebensmonaten geht es in erster Linie um Bindung. Die Bindungsforschung hinsichtlich der Lebenszeit, über die wir sprechen, geht völlig unter. Doch gerade in den ersten Lebensmonaten hat Bildung sehr viel mit Herzensbildung zu tun. Dabei steht das Bedürfnis nach einer verlässlichen Bindung im Vordergrund. Deswegen ist eine familiäre bzw. eine familiennahe Betreuung zu unterstützen. Der Staat - Herr Steinmeier, Ihr Kollege Olaf Scholz ist nicht mehr im Bundestag ist nicht der bessere Erzieher! Wir dürfen nicht zulassen, dass die Lufthoheit über die Kinderbetten wieder errungen werden muss. ({7}) - Die Wahrheit tut weh. ({8}) Wer mit solchen martialischen Begriffen um sich schmeißt, muss damit leben, dass sie einem noch einmal vorgelegt werden. Wir wollen keine Lufthoheit über die Kinderbetten. Wir wollen die Familien darin stärken, dass sie selbst entscheiden dürfen, welches Modell für sie am besten ist. Interessant ist: Es gab in Dänemark Umfragen bei Kindergartenkindern, die zugegebenermaßen schon älter waren und sich gut ausdrücken konnten. Ein Viertel der Jungen sagte, dass sie sich im Kindergarten nicht wohl fühlen, aber sie werden nicht gehört und nicht gefragt. Deswegen sind alternative Betreuungsmodelle wichtig. Wir arbeiten daran, dass es mehr Krippenplätze gibt. Das ist unbenommen. Wir arbeiten auch an der Ausbildung qualifizierter Erzieherinnen und Erzieher, denen ich an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sage; denn sie sind eine gute Ergänzung zur Familie. Wir arbeiten auch an einem vernünftigen Personalschlüssel. Am vergangenen Wochenende hat der Bund, obwohl er nicht primär zuständig ist, wie unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder immer sagt, ({9}) zusätzlich weitere 580 Millionen Euro für den Ausbau der Krippenplätze und noch weitere 75 Millionen Euro für die Betriebskosten in die Hand genommen. Deswegen ist es wichtig, dass Sie Ihre Scheuklappen absetzen und konstatieren, dass viel gemacht wird. ({10}) Ich möchte an dieser Stelle einen Blick nach Bayern werfen. ({11}) - Ja, ich muss Ihnen jetzt noch einmal vorhalten, dass Sie immer sagen, durch das Betreuungsgeld würden Krippenplätze wegfallen. Das ist einfach falsch. Wir geben allein in Bayern über 1 Milliarde Euro für den Ausbau und die Instandhaltung der Kinderbetreuungsplätze aus. Wenn das alle Bundesländer machen würden und wenn alle Bundesländer ihre Betreuungsplätze nach Bedarf errichten würden, dann hätten wir diese Diskussion gar nicht. ({12}) Fakt ist: Wenn in Bayern ein Bürgermeister sagt, er habe einen Bedarf von 40 Prozent, dann bekommt er diese Plätze bezahlt. Würde ein Bürgermeister sagen, er habe einen Bedarf von 100 Prozent, dann bekommt er eben 100 Prozent bezahlt. Deshalb zieht das Argument, dass Plätze wegfallen würden, in keiner Weise. ({13}) Die emotionalen Reaktionen vieler Kritiker auf das Betreuungsgeld kann ich mir nur so erklären, dass es ihnen um viel mehr geht als um die Leistung selbst. Ich kann nämlich wirklich nicht verstehen, warum jemand ein Problem damit hat, wenn eine zusätzliche familienpolitische Leistung eingeführt wird. Wir haben ein Dreisäulenmodell. Vor fünf Jahren haben wir drei Versprechen gegeben: Erste Säule. Wir haben versprochen, die Krippenbetreuung auszubauen. Das haben wir gemacht; Häkchen dran. ({14}) - Ach, an diesen Teil der Abmachung erinnern Sie sich, an den Teil mit dem Betreuungsgeld nicht! Das ist ja spannend, so ein selektives Gedächtnis aufseiten der SPD. ({15}) Zweite Säule. Ich möchte auch an unser zweites Versprechen erinnern, nämlich den Rechtsanspruch. Ab dem 1. August 2013 gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Daran wird nicht mehr gerüttelt; das wird eingeführt. In Bayern will nur einer daran rütteln, das ist der Herr Ude. Alle anderen finden es großartig, dass es diesen Rechtsanspruch gibt. Das zweite Versprechen ist somit auch erfüllt; Häkchen dran. Dritte Säule. Unser drittes Versprechen war, ist und bleibt das Betreuungsgeld. Mir als Politikerin ist es wichtig, ein Versprechen, das ich vor fünf Jahren gegeben habe, auch einzuhalten. ({16}) Ich finde es schade, dass man nicht akzeptieren kann, wenn sich jemand für ein anderes Modell entscheidet. Es ist schade, dass - wie es die thüringische Ministerpräsidentin ausgedrückt hat - ein Kulturkampf entsteht, dass Familien das Gefühl haben, etwas nicht richtig zu machen oder sich rechtfertigen zu müssen, egal wie sie sich entscheiden. Deshalb brauchen wir die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Betreuungsformen. Das Gute an dem Ganzen ist doch, dass sich niemand hinsichtlich seiner Erwerbstätigkeit eingeschränkt fühlen muss. Jeder darf selbstverständlich - das ist für mich ein wichtiger Punkt - einer Erwerbstätigkeit nachgehen und hat trotzdem das Recht, das Betreuungsgeld zu erhalten. Ich hoffe - weil ja auch der Rechtsanspruch einer der wichtigen Punkte ist -, dass Sie über Ihren Schatten springen können, selbst wenn dieses Modell nicht Ihr Modell ist und Sie es vielleicht anders machen würden. Zwei Drittel der Familien in diesem Land jedoch würden dieses Modell wählen, weil es für sie das richtige ist. Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, bei diesem Thema Ihre ideologischen Scheuklappen abzunehmen. ({17}) Ich wünsche mir ein kleines bisschen mehr Liberalitas Bavariae, ein bisschen mehr „Leben und leben lassen“, ein bisschen mehr Vertrauen gegenüber den Familien. ({18}) - Die FDP ist unser geliebter Koalitionspartner, der ist nicht das Problem für mich. Das Problem sehe ich mehr auf der linken Seite. - Ich wünsche mir auch von Ihrer Seite ein bisschen mehr Vertrauen gegenüber den Familien in unserem Land; denn diese haben es verdient. An dieser Stelle möchte ich mich einmal ganz besonders bei den Eltern bedanken, bei den Müttern und Vätern, die 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr eine Erziehungsleistung erbringen, die nicht mit Geld aufzuwiegen ist. Sie haben es verdient. Vielen Dank an sie alle. ({19}) Ich hoffe, dass Sie vernünftig werden. Danke schön. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute einen Gesetzentwurf dieser schwarz-gelben Koalition, der eine besondere Qualität hat, nämlich gar keine. ({0}) Die Koalition, die dieses Land regiert, lässt sich von einer 4-Prozent-Partei, der CSU, vorschreiben, was aus ihrem Koalitionsvertrag erfüllt wird und was nicht. Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, die Partnermonate beim Elterngeld zu erhöhen. Umsetzung? Fehlanzeige! ({1}) Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, ein Teilelterngeld bis zu 28 Monaten einzuführen. Umsetzung? Fehlanzeige! Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, die Altersgrenze für den Bezug von Unterhaltsvorschuss für Kinder von Alleinerziehenden bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs anzuheben. Umsetzung? Fehlanzeige! Das alles sind Vorhaben, auf die auch Ihre Wählerinnen und Wähler gewartet haben. Worauf sie bestimmt nicht gewartet haben, ist die Einführung eines Betreuungsgelds für Kinder, die keine öffentlich geförderte Kita besuchen. Ihre eigene Wählerschaft hält die Einführung des Betreuungsgelds für falsch. Das sagen über 64 Prozent Ihrer Anhängerinnen und Anhänger. ({2}) Aber nicht nur die sind so klug. Die Arbeitgeber lehnen es ab, ebenso wie die Gewerkschaften. ({3}) - Herr Kauder, die Evangelische Kirche, die Wohlfahrtsverbände, die Landfrauen und auch der Sozialdienst katholischer Frauen lehnen es ab! Mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung lehnen es ab. ({4}) Schon vor zwei Jahren hat der familienpolitische Beirat von Ministerin Schröder einen ablehnenden Beschluss gefasst, und auch der Normenkontrollrat, der die Kanzlerin berät, hat Bedenken geäußert. Die CDU-Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer und der CDU-Minister Althusmann lehnen es ebenfalls ab. Frau Ministerin von der Leyen bezeichnete das Betreuungsgeld in der WAZ als „bildungspolitische Katastrophe“. Was machen Sie? Statt Lernprozess - kurzen Prozess. Sie wollen das Thema so schnell wie möglich loswerden und beschließen, ({5}) doch nicht einmal in Ihren eigenen Reihen gibt es eine Mehrheit dafür. Da gibt es eine Sondersitzung der FDPFraktion, um die Vernünftigen zur Unvernunft zu zwingen, da meldet sich die Bundeskanzlerin höchstpersönlich bei den vernünftigen CDU-Frauen zum Gespräch an, um sie zur Unvernunft zu zwingen, da wird die Vorsitzende des Familienausschusses, Kollegin Laurischk von der FDP, genötigt, das übliche parlamentarische Verfahren zu verkürzen, obwohl sie verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet hat, und das alles nach dem Motto „Augen zu und durch“ zum Wohle von Herrn Seehofer. ({6}) Warum lassen Sie sich eigentlich so nötigen? Sie machen die Politik insgesamt lächerlich. Auf der einen Seite legen Sie für vier Jahre ein 400-Millionen-EuroProgramm auf, um die Sprachförderung in den Kitas voranzutreiben, um vor allem etwas für Kinder von Migranten zu tun, auf der anderen Seite wollen Sie noch mehr Geld ausschütten, um diese von den Angeboten wegzulocken. ({7}) Auf der einen Seite wollen Sie Fachkräfte gewinnen, auf der anderen Seite fördern Sie den längeren Ausstieg aus dem Berufsleben. Auf der einen Seite fördern Sie eine bessere Qualifizierung von Tagesmüttern und Tagesvätern, um sie aus dem Graubereich herauszuholen, auf der anderen Seite dürfen deren Leistungen gerade nicht in Anspruch genommen werden, wenn Eltern das Betreuungsgeld erhalten wollen. Wo das Betreuungsgeld eingeführt wurde, wird es gerade wieder abgeschafft. Die Erfahrungen liegen doch vor und müssen nicht noch einmal gesammelt werden. Seien wir doch so klug und so verantwortungsbewusst, wie es unsere Aufgabe hier ist. ({8}) Wir tragen im Deutschen Bundestag nämlich nicht nur für Bayern, sondern für ganz Deutschland Verantwortung. Deshalb sollten wir die Beschlussfassung nicht auf die Ebene des Bundespräsidenten oder gar des Verfassungsgerichts heben. Nehmen wir uns selber ernst. Wir alle sind bei dieser Entscheidung nur unserem Gewissen verpflichtet und nicht einem bayerischen Ministerpräsidenten. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Miriam Gruß ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! In der Tat sind in den letzten Wochen, Monaten und Jahren viele Diskussionen über das Betreuungsgeld geführt worden. Leider - das muss ich als Fachpolitikerin sagen - sind diese Diskussionen nicht immer sachlich geführt worden. Ich habe mich in den letzten Wochen, Monaten und Jahren oft gefragt: Wie müssen sich wohl die Familien in Deutschland gefühlt haben? Wie muss sich eine alleinerziehende Frau gefühlt haben, die eine Arbeit sucht, ihr Kind in eine Krippe geben muss und der immer wieder indirekt oder direkt der Vorwurf, eine Rabenmutter zu sein, entgegenschallte? ({0}) Wie muss sich eine Familie gefühlt haben, die ihr Kind, sei es ein oder zwei Jahre alt, ganz selbstverständlich, weil sie das ganz normal findet, in eine Krippe gegeben hat, wenn ihr immer wieder Vorwürfe gemacht wurden, weil so viele Studien belegt hätten, wie schlecht Krippen seien? Wie müssen sich die Erzieherinnen und Erzieher gefühlt haben, die tagtäglich ihr Bestes gegeben und den Kleinsten in den Krippen viel Liebe und Zuwendung geschenkt haben? Ich fragte mich aber auch: Wie müssen sich Hausfrauen und Hausmänner in diesem Land gefühlt haben, die tagtäglich - das hat die Kollegin schon gesagt -, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr ihr Bestes für ihre Kinder gegeben und sich entschieden haben, zu Hause zu bleiben? Wie müssen sich gerade die Frauen gefühlt haben, die immer wieder gehört haben, sie seien nur ein Heimchen am Herd? Viele dieser Diskussionen haben mir nicht gefallen; denn eines ist mir und uns als FDP-Fraktion wichtig: Freiheit. ({1}) Es geht um die Freiheit der Familien, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen. Egal ob klassische Mutter-Vater-Kind-Beziehung, Patchworkfamilie, Regenbogenfamilie oder Alleinerziehende, es geht um die Freiheit, selbst entscheiden zu können. Der Staat soll dafür Rahmenbedingungen setzen, und die haben wir gesetzt. Wir geben insgesamt 195 Milliarden Euro für familienpolitische Leistungen aus. Das ist viel, europaweit mit am meisten. 73 Milliarden Euro davon geben wir für ehebezogene Leistungen aus und 5 Milliarden Euro für Elterngeld, damit in den ersten Monaten nach der Geburt des Kindes Zeit und Geld für die Familie vorhanden ist. Inzwischen geben wir fast 5 Milliarden Euro für den Ausbau der Plätze für unter Dreijährige aus. Und doch müssen wir feststellen, dass wir europaweit eine der niedrigsten Geburtenraten haben. Daher war es uns als FDP-Fraktion immer wichtig, dass wir eine Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen erhalten. Sie wird uns im nächsten Jahr vorliegen. Darauf freue ich mich. Ich bin auf die Ergebnisse gespannt. ({2}) Heute liegt uns der Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld vor. Das ist eine neue milliardenschwere sozialpolitische Leistung, eine Leistung - ich sage das bewusst auf Pump, die scheinbar keiner so recht will in Deutschland. ({3}) Daher lohnt es sich meines Erachtens, sie genau zu durchleuchten. Wirtschaft, Verbände, Gewerkschaften, Kirchen und OECD - viele haben Bedenken bezüglich des Betreuungsgelds. Darum ist es wichtig, dass wir uns zusammensetzen und miteinander über diesen Gesetzentwurf sprechen. Das wollen wir in den nächsten Wochen und Monaten tun. ({4}) Dabei gilt es, Maßstäbe anzulegen, die wir vor uns selbst und der gesamten Gesellschaft in Deutschland rechtfertigen können. Der oberste Maßstab dabei muss die Freiheit sein, die Freiheit der Familien, ein Familienmodell zu wählen, ohne dass ein anderes Modell diffamiert wird. ({5}) Ein Maßstab muss die Chancengerechtigkeit sein, auch für die Kleinsten in diesem Land. Ein Maßstab muss die Geschlechtergerechtigkeit sein; denn nur die Geschlechtergerechtigkeit sichert die Zukunft Deutschlands. Es geht darum, beiden Geschlechtern Chancen zu eröffnen. Auch die Generationengerechtigkeit muss ein Maßstab sein; denn auf Schuldenbergen können keine Kinder spielen und erst recht nicht lernen. ({6}) Derzeit gibt es noch viele Fragezeichen bezüglich der Maßstäbe in diesem Gesetzentwurf. Deshalb freue ich mich auf die Beratungen und auf konstruktive Diskussionen mit Ihnen hier, in Berlin, im Deutschen Bundestag. ({7}) Das sind wir allen Familien schuldig, egal wie unterschiedlich sie denken oder leben mögen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun liegt er vor, der Gesetzentwurf zum BeDiana Golze treuungsgeld. Über ihn wird heute hier zum ersten Mal debattiert. ({0}) Ich möchte den Fokus auf die Dinge richten, die hier unterschwellig mit im Raum stehen, auf die diversen Nebenabsprachen, Deals, Erpressungsversuche und auf die sich in den Schubladen befindenden Gesetzentwürfe, die sich auf Dinge beziehen, die mit dem Betreuungsgeld eigentlich gar nichts zu tun haben, die aber trotzdem mit dem Betreuungsgeld in Zusammenhang stehen, weil man sich damit die Stimmen der Kritikerinnen und Kritiker in den eigenen Reihen kaufen will. Ich glaube, es lohnt, einen Blick auf diese Deals zu werfen. Es ging in den letzten Wochen zu wie auf einem Basar: Gebe ich dir, gibst du mir. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen. Erstes Beispiel. Der sogenannte Pflege-Riester, ({1}) ein staatlicher Zuschuss für diejenigen, die sich eine private Pflegeversicherung leisten können. Hier soll eine private Pflegeabsicherung bezuschusst werden. Dazu werden 100 Millionen Euro jährlich veranschlagt, die aber nur 4 Prozent der Bevölkerung erreichen. Die Einführung dieses Zuschusses war eine große Bitte der FDP; im Rahmen der Verhandlungen im Koalitionsausschuss hat sie dies nun erreicht. Meine Fraktion lehnt dies ab. Ich glaube, wir sind nicht die einzigen. Ich möchte Sie fragen: Was hat die private Pflegeabsicherung mit der Betreuung von Kindern unter drei Jahren zu tun? ({2}) Ein weiteres Beispiel. Rentenpunkte für Frauen, die vor 1992 ein Kind zur Welt gebracht haben. Dieser Vorschlag kam aus den Reihen der Union, speziell aus den Reihen der viel zu wenigen Frauen in der Union. Es geht darum, dass Frauen, die vor 1992 ein Kind bekommen haben, mit denen, die später ein Kind bekommen haben, gleichgestellt werden sollen. Experten rechnen bei voller Anrechnungszeit mit Kosten in Höhe von 3,5 Milliarden Euro. Wir können gerne über diese Leistung sprechen. Aber ich frage: Was hat die Rente von Frauen, die erst ab 2030 zum Zuge kommen würde, mit der Betreuung von Kindern unter drei Jahren zu tun? ({3}) Noch ein Beispiel, das in den letzten Wochen genannt wurde. Die Verpflichtung zur Wahrnehmung der Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder. Das Saarland hat hier bereits im Jahr 2007 vorgelegt. Man hat dort für 40 000 Kinder 600 000 Euro jährlich veranschlagt; wir können das gerne einmal hochrechnen. Wir können auch gerne über diese Forderung sprechen. Auch in meiner Fraktion wird darüber diskutiert, wie man die Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder - nicht nur für die Kinder unter drei Jahren - verbindlicher machen kann. Ich frage auch hier: Was haben Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder bis zum 18. Lebensjahr mit der Betreuung von Kindern unter drei Jahren zu tun? ({4}) Ich frage Sie: Ist es bei diesem Geschacher, bei diesem Gezerre, bei diesem unwürdigen Schauspiel verwunderlich, dass fast drei Viertel der Bevölkerung, 71 Prozent der Befragten, und im Übrigen auch 62 Prozent der Unionsanhänger das Betreuungsgeld ablehnen? Ich finde, das sollte Ihnen zu denken geben. ({5}) Ich möchte auf ein weiteres Problem aufmerksam machen, auf das ich erst in den letzten Tagen gestoßen worden bin. In vielen Bundesländern - vielleicht auch in Ihren Wahlkreisen - gibt es neben Kindertagesstätten und Angeboten der Tagespflege weitere niedrigschwellige Angebote für Familien mit kleinen Kindern, die Hilfe und Unterstützung leisten. Sie heißen zum Beispiel Eltern-Kind-Gruppe oder PEKiP. Diese Projekte werden mit Personalmitteln und Sachmitteln unterstützt. Sie werden auch in vielen Kitagesetzen der Länder als eine Säule neben Kita und Tagespflege gleichgestellt behandelt. Ich habe aus dem Familienministerium die Information bekommen - ich habe dazu eine schriftliche Frage gestellt; ich bin auf die Antwort gespannt -, dass diejenigen, die diese niedrigschwelligen Angebote nutzen, vom Bezug des Betreuungsgeldes ausgeschlossen sein sollen. ({6}) Das ist ein Unding. ({7}) Es bedeutet das Aus für viele Angebote in den Kommunen. Es bedeutet das Aus für viele Träger. Es bedeutet das Aus für viele gute Projekte im Kinderschutz, über den wir hier in den letzten Monaten richtigerweise enorm viel diskutiert haben. Es bedeutet auch das Aus für die Letzten, die noch an bestimmte Versprechungen und Vorhaben der Bundesregierung geglaubt haben. Ich erinnere daran, dass in der letzten Legislaturperiode Bundesministerin von der Leyen im Zusammenhang mit der möglichen Einführung eines Betreuungsgelds gesagt hatte: Man könnte dies ja in Form von Gutscheinen ausgeben, mit denen man genau solche Angebote der Elternbildung und der niedrigschwelligen Förderung von Familien mit kleinen Kindern nutzen könnte. So könnte man die Eltern dabei unterstützen, die ersten Lebensjahre des Kindes gut miteinander zu gestalten. Genau solche Angebote sollen jetzt vernichtet werden; denn die Eltern, die diese Angebote wahrnehmen, werden vom Bezug des Betreuungsgeldes ausgeschlossen. Das passt doch nicht zusammen. ({8}) Das ist ein Unding. Sie lassen dabei genau diejenigen, von denen Sie behaupten, für sie machten Sie dieses Gesetz, außen vor, nämlich die Familien und vor allem die Kinder. Es geht Ihnen nicht um alle Familien und um alle Kinder. Ich möchte festhalten, dass ich bisher von niemandem aus der Koalition eine Antwort auf folgende Frage bekommen habe: Worin liegt der Unterschied zwischen der Erziehungsleistung der Eltern, die ihr Kind in eine Kita oder in eine Tagespflege geben, und der Erziehungsleistung der Eltern, die ihr Kind von der Oma, von der Freundin, von der Schwester, von der Tante, von wem auch immer betreuen lassen, die dann aber das Betreuungsgeld bekommen? Worin liegt der Unterschied? Warum müssen die einen Kitagebühren bezahlen - und nicht zu knapp -, und die anderen bekommen ein Taschengeld? Ich habe es noch nicht verstanden. Es stehen noch einige Ihrer Rednerinnen und Redner auf der Liste. Vielleicht können Sie es mir erklären. Ich glaube, ich bin nicht die einzige, die es nicht verstanden hat. ({9}) Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion hat gesagt, er gehe davon aus, es werde noch einige Änderungen an diesem Gesetz geben. Ich stelle hiermit den ersten Änderungsantrag: Streichen Sie den Gesetzentwurf von der ersten bis zur letzten Zeile. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast vom Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines sehen wir nicht nur in der Debatte hier im Haus, sondern auch bei allen Diskussionen draußen, bei allen Äußerungen draußen: Das Betreuungsgeldgesetz hat keine gesellschaftliche Mehrheit. Es wird mehrheitlich nicht gewollt. ({0}) Es hat, ehrlich gesagt, Frau Bär, auch keine ehrliche parlamentarische Mehrheit. ({1}) Hier entsteht Ideologie von vorgestern aufgrund von Druck: Sonst platzt hier die Koalition. - So äußert es Herr Seehofer. Es ist meines Erachtens nicht nur ein extrem teurer Versuch, die Koalition zu halten, sondern es ist auch ein extrem teurer Versuch, sich vom Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab August nächsten Jahres freizukaufen. ({2}) Ich zitiere Ihren Gesetzentwurf. Es heißt dort nämlich: Es - das Betreuungsgeld schließt die verbliebene Lücke im Angebot staatlicher Förder- und Betreuungsangebote für Kinder bis zum dritten Lebensjahr. ({3}) Das ist auf Neudeutsch Freikaufen von einer Verpflichtung. ({4}) Schauen wir uns doch einmal an, was Familien in Deutschland wollen, ({5}) was Eltern in Deutschland wollen. Die Mehrheit der Eltern in Deutschland sagt, dass Familie und Beruf in Deutschland nur sehr schwer zu vereinbaren sind. ({6}) Der Familienreport sagt, die meisten Väter wollen weniger, die meisten Mütter etwas länger arbeiten. Der Familienreport und anderes weisen uns darauf hin: Wir haben einen großen Bedarf an Krippenplätzen, in manchen Kommunen sogar über 50 Prozent. ({7}) Wir müssen in diesem Haus den Rahmen schaffen, damit der Anspruch erfüllt werden kann. ({8}) Miriam Gruß redet hier groß über Freiheit. Reden wir doch einmal über die Freiheit dieser 50 Prozent Kinder, die Bedarf für einen Krippenplatz haben, zum Beispiel, weil die Eltern alleinerziehend sind und einer Berufstätigkeit nachgehen müssen. Sie haben einen Bedarf für einen Krippenplatz. Sie brauchen flexible Betreuungszeiten. Man kann nicht auf der einen Seite von wirtschaftlicher Entwicklung reden, die man befördern will, und auf der anderen Seite den Frauen gar nicht die Möglichkeit geben, erwerbstätig zu sein. Aber genau das tun Sie. ({9}) Es kostet uns mindestens vergeudete 1,2 Milliarden Euro im Jahr, und das, wo viele Eltern verzweifelt nach Kitaplätzen suchen. An dieser Stelle muss man sagen: Schwarz-Gelb versagt in einer zentralen politischen Frage. Das ist unser Nachwuchs, meine Damen und Herren. Das ist der Nachwuchs dieses Landes, der das Recht darauf hat, dass wir seine Zukunft organisieren. Die Schwäche Ihrer Regierung zeigt sich bei diesem Betreuungsgeld, bei 1,2 Milliarden Euro, die nicht gegenfinanziert sind. Meine These ist: Das Betreuungsgeld ist für die CDU/ CSU das, was für die FDP die Mövenpick-Steuer ist. Sie werden dieses Thema nicht wieder los. Es wird sich rächen, und zwar zu Recht. ({10}) Wir wissen - an dieser Stelle geht es nicht um die Freiheit der Eltern; die OECD-Studie hat das gerade erst belegt -, ({11}) dass das Betreuungsgeld schlicht und einfach schadet. Die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen - das gilt gerade für Frauen aus Zuwandererfamilien - würde durch den Bezug von Betreuungsgeld um circa 15 Prozent sinken. Vor allem Kinder aus benachteiligten, bildungsfernen Familien bzw. aus Familien mit Problemlagen hätten dann keine Bildungschancen vom ersten Lebensjahr an. Die unselige Verquickung zwischen Herkunft und Bildungschancen bzw. zwischen Herkunft und der Chance, in Deutschland etwas zu werden, teilzuhaben und dem Land etwas zurückzugeben, werden Sie so nicht los. Schwarz-Gelb zementiert sie geradezu. ({12}) Gleichstellungspolitisch wäre diese Entwicklung fatal, meine Damen und Herren; das sagt selbst die EUKommission. Sie wollen das Betreuungsgeld einführen, obwohl das Grundgesetz Sie seit vielen Jahren verpflichtet, aktiv etwas für die Gleichstellung von Frauen und Männern zu tun. Ich verstehe die steigende Wut von Frauen und Männern. Sie fühlen sich nämlich nicht vertreten. Sie wollen in ihrem Beruf vorankommen, sich weiterentwickeln und natürlich auch ein bisschen mehr Geld verdienen; je niedriger ihr Einkommen ist, desto verständlicher ist das. Aber von Ihnen, meine Damen und Herren, bekommen sie ein Betreuungsgeld statt eines Kitaplatzes, der es ihnen ermöglichen würde, erwerbstätig zu sein. Statt einen Kitaplatz zugesichert zu bekommen, werden sie mit 100 Euro im Monat abgespeist. Die Menschen kommen sich von Ihnen für dumm verkauft vor. ({13}) Ich sage Ihnen: Das Betreuungsgeld ist nicht nur absurd, sondern auch sozial ungerecht. Eine Familie, in der beide Elternteile erwerbstätig sind und die genug Geld hat, ein Au-pair-Mädchen und eine Haushaltshilfe zu bezahlen, ({14}) soll das Betreuungsgeld bekommen, während arme Familien leer ausgehen sollen. Ich muss Ihnen wirklich sagen: Das ist irre und schizophren. Ich dachte, Sie wollen mit dem Betreuungsgeld die Erziehungsleistung honorieren und Ihren Respekt ausdrücken. ({15}) Bekommen sollen es aber diejenigen, die ihre Kinder gar nicht selber erziehen. ({16}) Wenn beide Elternteile erwerbstätig sind und Au-pairMädchen oder andere Personen viele Stunden am Tag das Kind der Eltern erziehen, bekommen die Familien dafür also Ihren Ausdruck des Respekts im Gegenwert von 100 oder 150 Euro im Monat. Herr Kauder, Sie haben recht: Es geht mich nichts an, ob die Eltern so oder so leben; ({17}) das ist Freiheit. ({18}) - Ja. Hören Sie bis zum Ende zu. - Aber dazu gehört auch, dass wir den Kindern aus benachteiligten Familien bzw. allen Kindern ermöglichen, ihr Leben in Freiheit zu führen und frei zu sein, sich für mehr Bildung zu entscheiden. Das entscheidet sich im ersten Lebensjahr. ({19}) Freiheit heißt auch, dafür zu sorgen, dass endlich alle Frauen in diesem Land erwerbstätig sein und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können, um zu verhindern, dass sie in Altersarmut landen. Das ist die Freiheit, über die wir hier zu reden haben. ({20}) Das ist das Leitbild einer modernen Familienpolitik. Ich frage mich übrigens, wo Frau von der Leyen ist. Da sie gesagt hat: „Das Betreuungsgeld ist eine bildungspolitische Katastrophe“, möchte ich sie auch kämpfen sehen. Ich weiß eines: Weder die Landfrauen noch der Sozialdienst katholischer Frauen noch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag glauben, dass es Freiheit ist, wenn einige wenige Familien ein Betreuungsgeld bekommen. ({21}) Echte Wahlfreiheit gibt es nur dann, wenn die mindestens 200 000 Kitaplätze geschaffen werden, die in diesem Land akut gebraucht werden. Wir werden das Betreuungsgeld in der nächsten Legislaturperiode abschaffen und das Geld in die Kinderbetreuung investieren. ({22}) Eines dürfen wir nicht tun - das ist die Pflicht der Generation, die hier sitzt; das ist auch Ihre Pflicht, Frau Bär -: auf Kosten der Kinder Deals mit der heutigen bayerischen Landesregierung machen. Das haben die Kinder nicht verdient. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute nicht das erste Mal, aber formell in erster Lesung über den Gesetzentwurf zur Einführung eines Betreuungsgelds. Bereits im Jahr 2008 hatte die damalige Große Koalition von Union und SPD parallel zum Kitaausbau auch die Einführung eines Betreuungsgelds vereinbart und gesetzlich festgeschrieben. ({0}) Der Gedanke dahinter war und ist folgender: Alle Eltern sollen dabei unterstützt werden, die Betreuung ihres Kleinkinds so zu organisieren, wie sie es für richtig halten. ({1}) Für die einen soll eine Sachleistung in Form eines Kitaplatzes zur Verfügung gestellt werden, ({2}) die anderen, die keinen Kitaplatz wollen oder denen er nicht hilft, sollen eine Geldleistung bekommen, unter anderem, um die Betreuung privat organisieren zu können. ({3}) Dieselben Sozialdemokraten, die das damals beschlossen haben, laufen heute dagegen Sturm. Ich frage mich schon: Was ist denn das für ein Politikverständnis, etwas in ein Gesetz zu schreiben und sich dann darüber aufzuregen, dass das auch Wirklichkeit wird? ({4}) Seit Monaten führt die Opposition eine Kampagne gegen das Betreuungsgeld. ({5}) Uns, die Koalition, wollten Sie damit treffen. Tatsächlich haben Sie Hunderttausende von Eltern beleidigt, vor allen Dingen auch solche mit Migrationshintergrund. ({6}) Sie haben so getan, als würden Eltern ihren einjährigen Kindern schaden, wenn sie sie nicht in die Kita geben - Stichwort: Bildungsfernhalteprämie. ({7}) Sie haben so getan, als wären Frauen, die sich dafür entscheiden, sich selbst um ihr einjähriges Kind zu kümmern, nichts anderes als dumme Heimchen - Stichwort: Herdprämie. Sie haben bewusst die Büchse der Pandora geöffnet, ({8}) mit dem Ergebnis, dass inzwischen jegliche Scham gefallen ist, junge Familien zu beleidigen - Stichwort: Verdummungsprämie. ({9}) Es gibt in der Tat viele gewichtige Argumente in der Debatte um das Betreuungsgeld, ({10}) und Sie können sich sicher sein, dass wir darüber in der Koalition auch sehr intensiv diskutieren. ({11}) Wenn ich aber Ihren Ton höre und diese Anmaßung spüre, mit der Sie mit vollem Vorsatz den Lebensentwurf von 50 Prozent der Familien in Deutschland herabwürdigen, ({12}) dann muss ich feststellen: Wir sind in Deutschland mit Vielfalt und Wahlfreiheit und mit Respekt und Toleranz offensichtlich noch lange nicht so weit, wie wir immer dachten. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ziegler zu?

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Gerne.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Sehr verehrte Ministerin, Sie unterstellen uns ja immer irgendwelche Aussagen. Ich weiß allerdings nicht, wem, weil es solche von uns nachweislich nicht gibt. ({0}) Ich würde von Ihnen gerne Ihre Stellungnahme zu einer Aussage von dem Generalsekretär der CSU-Bundestagsfraktion, die ich Ihnen verlese, hören und Sie fragen, ob Sie die Einschätzung teilen. ({1}) Es geht darum, dass sich Frau Gruß ihre Meinungsbildung offengehalten hat. Wenn es eine Veränderung gibt, dann wird sie dem Betreuungsgeld möglicherweise zustimmen, ansonsten sagt sie klar Nein. Herr Dobrindt wird in Welt Online vom 22. Juni 2012 wie folgt zitiert: Frau Gruß sollte überlegen, ob sie zu den staatshörigen Familienbevormundern der versammelten Linken gehören oder ob sie mit dem Betreuungsgeld die Entscheidungsfreiheit die Familien stärken will. ({2}) Meinen Sie, dass Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbände katholischer Frauen, Landfrauen etc. zur versammelten Linken gehören? ({3})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Liebe Frau Kollegin, zunächst einmal gehe ich davon aus, dass Sie den Generalsekretär der Partei CSU meinten, als Sie eben zitiert haben. ({0}) Herr Dobrindt hat in den Mittelpunkt seiner Aussage genau das gestellt, worum es geht, nämlich um die Freiheit, sich selbst zu entscheiden, welche Form der Betreuung man für seine ein- und zweijährigen Kinder wünscht. Das ist der Kern der Debatte. Bei allen Argumenten, die gewichtig sind ({1}) und gewichtet werden müssen, ist es der eigentliche Punkt, ob wir diese Freiheit der Eltern respektieren oder ob wir immer wieder versteckte Werturteile über bestimmte Lebensentwürfe fällen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Ministerin, darf die Kollegin Rupprecht noch eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Eine machen wir noch.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dann machen wir aber auch weiter. Bitte.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, ich habe zwei Fragen. Zum einen interessiert mich, wie Sie die Ungerechtigkeit ausgleichen wollen, dass eine Frau, die Teilzeit arbeitet und für zwei Tage die Woche eine organisierte Betreuung in Anspruch nimmt, kein Betreuungsgeld bekommt, sondern dafür Geld zahlen muss, während jemand anders, der sich für zwei Tage in der Woche eine selbst beschaffte Betreuung holt, das Geld erhalten wird. Das ist für mich eine Ungerechtigkeit, verfassungsrechtlich hochbedenklich. Das müssen Sie, denke ich, noch abklären. Denn es wird sicher Eltern geben, die diese Benachteiligung so nicht hinnehmen werden. Das Zweite, was mich interessiert, ist: Wir haben am Runden Tisch festgelegt, dass all diejenigen, die im Hauptberuf oder im Ehrenamt ein sehr intensives Näheverhältnis zu Kindern haben, mit einem Führungszeugnis nachweisen müssen, dass sie im Umgang mit Kindern unbedenklich sind. Wenn wir jetzt 150 Euro zur Selbstbeschaffung von Betreuung geben - das wird ja auch damit gemeint -, dann fällt das weg. Von Tagesmüttern, die über das Jugendamt organisiert vermittelt werden, wird dieses erweiterte Führungszeugnis verlangt. Von der Nachbarin oder sonst jemandem, der für 150 Euro die Betreuung übernimmt, verlangen wir diesen Nachweis nicht. ({0}) - Das ist Betreuungsgeld, Herr Kauder, da können Sie brüllen, wie Sie mögen. Marlene Rupprecht ({1}) Das ist für mich ein Widerspruch, der nicht aufgelöst werden kann. Wir alle sind hier gemeinsam angetreten im Sinne des Kindesschutzes. Meiner Meinung nach reißen wir eine Lücke auf, die wir eigentlich dadurch schließen wollten, dass wir Vermittlungen zur Betreuung ganz offiziell nur mit Überprüfung stattfinden lassen.

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Frau Kollegin Rupprecht, ich gebe Ihnen auf Ihre langen Fragen zwei kurze Antworten. Zu Ihrer ersten Frage: Alle Familien, die einen staatlich finanzierten Kitaplatz in Anspruch nehmen, bekommen eine erhebliche Unterstützungsleistung des Staates. Jeder Kitaplatz wird nämlich im Durchschnitt mit rund 1 000 Euro im Monat staatlich bezuschusst. ({0}) Damit bekommen diese Eltern eine erhebliche Sachleistung. ({1}) Und da ist es nur recht und billig, dem eine Barleistung entgegenzusetzen. Das Prinzip haben Sie zum Beispiel auch in der Pflegeversicherung. Auch in der Pflegeversicherung gibt es eine Wahlmöglichkeit zwischen einer Sachleistung und einer Barleistung. Und kein Mensch ist jemals auf die Idee gekommen, zu sagen, die Barleistung sei eine Heimprämie für Angehörige, die ihre zu pflegenden Angehörigen betreuen. ({2}) Zu Ihrer zweiten Frage, Frau Rupprecht, kann ich nur sagen: Das passiert doch schon alles längst. In Deutschland, gerade in Westdeutschland sind fast 50 Prozent der Tagesmütter privat organisiert. Zum Glück spielen schon heute die Großeltern eine riesige Rolle bei der Betreuung der Enkelkinder. ({3}) Wollen Sie da jetzt ernsthaft verbindlich über Führungszeugnisse nachdenken? Dieser Generalverdacht gegen Eltern, gegen Betreuer ist wirklich absurd. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie weit die Respektlosigkeit gegenüber den Familien in der Öffentlichkeit geht, das illustriert diese Anzeige, die die Grünen im Internet verbreiten lassen. ({5}) Schauen Sie sich diese Anzeige einmal genau an. Sie sehen hier links fröhlich spielende Kinder, die ich auf vier bis fünf Jahre schätze. Auf jeden Fall handelt es sich nicht um ein oder zwei Jahre alte Kinder, um die es beim Betreuungsgeld geht. Hier betreiben die Grünen eine bewusste Falschinformation der Eltern. ({6}) Sie sehen hier rechts ein einsames Kind, das vor dem Fernseher hockt. ({7}) Damit unterstellen die Grünen, dass Familien, die sich zu Hause um ihre Kinder kümmern, ({8}) nichts anderes tun, als sie vor dem Fernseher zu parken. Das ist eine Unverschämtheit gegenüber allen Familien in Deutschland. ({9}) Vielleicht können wir das Schlachtfeld des ideologischen Kulturkampfs für einen kurzen Augenblick verlassen. Schauen wir uns doch einmal die Fakten an. Fakt ist erstens: Es gibt in Deutschland einen großen Konsens, dass fast alle Familien die Betreuung von Kindern unter einem Jahr zu Hause organisieren möchten. 97 Prozent der Eltern beziehen das Elterngeld. ({10}) Fakt ist zweitens: Es gibt in Deutschland auch einen großen Konsens, dass fast alle Kinder über drei Jahre vom Kindergarten erheblich profitieren. Es geht in diesem Streit also nur um die Familien mit ein- und zweijährigen Kindern. In diesen Familien sind die Rahmenbedingungen unterschiedlich. Hier sind die Werthaltungen in den Familien unterschiedlich. Hier sind vor allen Dingen auch die Kinder unterschiedlich. Ist es denn so schwer, zu akzeptieren, dass die Familien unterschiedliche Wege gehen? Ist es denn so schwer, ihnen zuzugestehen, dass der Staat sie auf ihrem Weg unterschiedlich unterstützt? ({11}) Das steht schon im Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat dies, wie ich denke, mehrfach sehr eindrücklich formuliert. ({12}) Es hat festgestellt, dass sich aus der Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes die Aufgabe des Staates ergibt - ich zitiere -, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern. Genau darum geht es. Da steht nicht: in der von den Wirtschaftsverbänden gewählten Form, wonach alle Kinder möglichst mit einem Jahr in die Kita gehen sollen, damit die Mütter dem Arbeitsmarkt wieder in Vollzeit zur Verfügung stehen. Da steht auch nicht: in der jeweils von den Regierenden gewollten Form. Vielmehr steht da ganz klar: Unser Auftraggeber sind die Eltern, und maßgebend sind die Entscheidungen, die sie selbst zum Wohle ihrer Kinder treffen. ({13}) Unsere Politik orientiert sich an den Bedürfnissen der Familien. Diese sind nun einmal unterschiedlich. Deshalb gehört zur Wahlfreiheit auch der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab August 2013. Ich bin mir sicher, diesen Satz würde auch die Opposition sofort unterschreiben. Aber wir machen das eben nicht so, wie das die SPD à la Olaf Scholz will, nämlich „die Lufthoheit über den Kinderbetten“ zu erobern. Wir wollen die Familien darin unterstützen, so zu leben, wie sie es wollen. Deshalb brauchen wir beides, den Kitaausbau und das Betreuungsgeld. Wir strafen all diejenigen Lügen, die behaupten, das Betreuungsgeld würde beim Kitaausbau fehlen. Der Bund zahlt nämlich seinen Anteil. Wie ich angekündigt habe, ist der Bund bereit, für die 30 000 Kitaplätze, die wir mehr brauchen als 2007 gedacht, seinen Anteil zur Verfügung zu stellen. Deshalb werden wir noch über 580 Millionen Euro zusätzlich für Investitionen in die Hand nehmen. ({14}) Damit zahlt der Bund 4,6 Milliarden Euro an Investitionskosten, meine Damen und Herren. ({15}) Auch für die Betriebskosten gibt es zusätzliche Bundesmittel. Der Bund zahlt ab 2014 jährlich 845 Millionen Euro. Sie können dann noch die 400 Millionen Euro drauflegen, die wir in die Qualität und in die Sprach- und Integrationsförderung in den Kitas investieren. Eines ist klar: Wir unterstützen die Länder und Kommunen bei dieser Mammutaufgabe, wo wir können. Dann erwarte ich aber auch, dass die Länder nun ordentlich an Tempo zulegen und ihre Hausaufgaben machen. ({16}) Wenn manche die gleiche Kraft, die sie für den Kampf gegen zu Hause erziehende Eltern aufbringen, auch für den Kitaausbau aufbringen würden, dann wäre schon viel gewonnen. ({17}) Auch diese Botschaft gehört in die heutige erste Lesung des Betreuungsgeldgesetzentwurfs. Denn Kitaausbau und Betreuungsgeld gehören zusammen. Nur beides zusammen ergibt Wahlfreiheit. ({18}) Wer sein Kind mit einem Jahr in die Kita gibt, der ist nicht herzlos, und wer sein Kind auch nach dem ersten Geburtstag noch zu Hause erzieht, der ist nicht hirnlos. Alle Eltern verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung. Darin sollten wir uns einig sein. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin Schröder, das war wie gewohnt ein inhaltlich schwacher und unverschämter Auftritt. ({0}) Frau Schröder, wenn Sie von Respekt und Toleranz reden, dann ist das schlichtweg unglaubwürdig. ({1}) Die Koalition versucht heute einen neuen Anlauf, um den Gesetzentwurf für das Betreuungsgeld einzubringen. Denn am 15. Juni ist der erste Anlauf bekanntlich kläglich gescheitert. An jenem Freitag sind sage und schreibe 126 Abgeordnete der schwarz-gelben Koalition dem Plenarsaal ferngeblieben. ({2}) Das war vielleicht auch ein stummer Protest der Kritikerinnen und Kritiker in den eigenen Reihen. Dafür spricht, dass die Debatte über Sinn und Unsinn des Betreuungsgelds in der Koalition wieder richtig hochgekocht ist, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb. ({3}) Wenn vor allem die CSU der Opposition vorwirft, die Ablehnung des Betreuungsgelds sei Ausdruck reiner Ideologie, dann können, glaube ich, wir alle darüber nur herzlich lachen. Warum droht denn ein Herr Seehofer zum wiederholten Male im Zusammenhang mit dem Betreuungsgeld mit Koalitionsbruch? Hat das vielleicht auch mit den nach wie vor vorhandenen kritischen Stimmen in der schwarz-gelben Koalition zu tun? Wie erklären Sie sich, dass nach neuen Umfragen zwei Drittel der Bevölkerung das Betreuungsgeld ablehnen? ({4}) Werfen Sie etwa auch Ihren Kolleginnen und Kollegen in den eigenen Reihen im Bundestag, die noch Zweifel haben, und vor allem der Mehrheit der Bevölkerung vor, ideologisch zu denken? Setzen Sie sich doch endlich mit den ernsthaften Bedenken, die Fachverbände, Wissenschaftler, Arbeitgeber, Kirchen und viele andere gegen das Betreuungsgeld vorbringen, auseinander. ({5}) All diese Menschen fordern zu Recht eine vernünftige Politik für Familien und Kinder in unserem Land. ({6}) Herr Kauder, waschkörbeweise erreichen uns Stellungnahmen und Briefe, in denen bemängelt wird, dass Eltern nach wie vor in unserem Land keine echte Wahlfreiheit haben, dass sie nicht zwischen Kita und Betreuung zu Hause wählen können, weil Tausende Krippenplätze in unserem Land fehlen. In diesen Stellungnahmen wird die Bundesregierung aufgefordert, auf das Betreuungsgeld zu verzichten und endlich in den qualitativ hochwertigen Ausbau von Kitas mit entsprechendem Personal zu investieren. Ich sage: Dem ist nichts hinzuzufügen. ({7}) Ich möchte jetzt auf den Gesetzentwurf eingehen, um die Absurdität des Ganzen noch einmal deutlich zu machen. Dreh- und Angelpunkt des Gesetzes ist, die Zahlung des Betreuungsgelds an die Bedingung zu knüpfen, dass ein Kind keine öffentlich geförderte Kita oder Kindertagespflege in Anspruch nimmt. Das Betreuungsgeld soll aber mit allen anderen Betreuungsformen - also nicht nur mit der Betreuung zu Hause in der Familie, sondern auch durch ein Au-pair oder ein Kindermädchen oder in einer privaten Einrichtung - vereinbar sein. Qualitätskriterien, geschweige denn, Frau Ministerin, Kriterien des Kinderschutzes, die bei öffentlich geförderten Angeboten eine wichtige Voraussetzung sind, sollen keine Voraussetzung für die Zahlung eines Betreuungsgelds sein. Das ist wirklich nicht zu glauben. ({8}) Was heißt das? Erstens wird das von der CSU immer wieder vorgebrachte Argument ad absurdum geführt, dass das Betreuungsgeld die Erziehungsleistung der Eltern anerkennen soll, die ihr Kind zu Hause betreuen. Ich denke in diesem Zusammenhang vor allem an die Reden von Herrn Geis. Der Gesetzentwurf widerspricht diesem Argument nahezu; denn auch andere Betreuungsformen - egal ob qualifiziert oder nicht - sind nun mit dem Betreuungsgeld vereinbar. Zweitens läuft diese Regelung den jahrelangen Anstrengungen von Bund, Bundesländern und Kommunen zuwider, die staatlich geförderten Angebote der frühkindlichen Bildung weiter auszubauen, zu qualifizieren und möglichst vielen Kindern in unserem Land bereitzustellen. Eine Pressemitteilung vom 14. Juni, die verschiedene Fachorganisationen herausgebracht haben, bringt es auf den Punkt: Als Fernhalteprämie von Kindertagesstätten beleidigt das Betreuungsgeld das Betreuungssystem, das die Bundesregierung gleichzeitig ausbauen will. ({9}) Der aktuelle nationale Bildungsbericht, von der Bundesregierung und den Ländern in Auftrag gegeben, macht deutlich, dass das Betreuungsgeld insbesondere die öffentliche Förderung von Kindern mit Sprachdefiziten konterkariert. Circa ein Viertel der Drei- bis Siebenjährigen haben Sprachförderungsbedarf. Ein Viertel, meine Damen und Herren! Die Erziehungswissenschaftlerin Angelika Ehrhardt schrieb in einem Gastkommentar: Anreize zu schaffen, sein Kind möglichst lange zu Hause zu betreuen, ist dabei besonders für Familien aus bildungsfernen Milieus kontraproduktiv. … Kinder, die eine Kita besuchen - und zwar je länger, desto besser -, verfügen über einen Lernvorsprung bis zu einem Schuljahr. Ihr Betreuungsgeld entspricht also keiner folgerichtigen, keiner konsistenten Gesetzgebung und zeigt deutlich, dass der Koalition am Ausbau der frühkindlichen Bildung nicht wirklich viel liegt. ({10}) Es spricht für sich, dass fast durchgehend in Ihrem Gesetzentwurf von Betreuung und Betreuungsplatz die Rede ist. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz hingegen wird der Begriff der Förderung immer wieder in den Mittelpunkt gestellt. Warum rücken Sie in Ihrem Gesetz davon ab? Sie konterkarieren damit die Erfolge der vergangenen Jahre im Bereich der frühkindlichen Bildung. Wir wissen doch alle, dass Deutschland immer wieder ermahnt wird - auch innerhalb der EU und von der OECD -, qualitativ und quantitativ mehr in die frühkindliche Bildung zu investieren. Wir, die SPD, haben dieses Ziel seit langem in den Mittelpunkt gerückt. Das Betreuungsgeld wird das Erreichen dieses wichtigen Ziels - dabei geht es um den Ausbau der frühkindlichen Bildung bzw. der Krippenplätze, aber auch um Qualität und den Kinderschutz - konterkarieren. Es ist bildungs-, gleichstellungs- und integrationspolitisch schlichtweg kontraproduktiv. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass die Kritikerinnen und Kritiker in den Reihen der Union und der FDP, in der Regierungskoalition, hartnäckig bleiben und gemeinsam mit uns und den vielen Menschen draußen, die das Betreuungsgeld ablehnen - zum Beispiel betroffene Eltern, Fachverbände und die Kirchen; ich will sie alle nicht noch einmal aufzählen -, dieses unsinnige und absurde Projekt verhindern. Ich denke, die Eltern und die Kinder in diesem Land würden es uns allen danken. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Florian Toncar ist der nächste Redner für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns auch in der heutigen Debatte einig, dass der Aufbau einer Familie für junge Eltern eine zum Glück meist beglückende und bereichernde, aber auch sehr fordernde Erfahrung ist. Es ist - egal wie sie ihr Leben organisieren - immer mit Verzicht und auch Opfern verbunden, das Glück zu haben, Kinder erziehen zu dürfen. Wenn Eltern auf Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise für einige Zeit verzichten, ist das mit der Gefahr verbunden, dass das berufliche Aufstiegschancen kostet. Wenn Eltern sehr früh wieder in den Beruf einsteigen, ist das mit enormen organisatorischen und praktischen Schwierigkeiten verbunden, die mit der Beantwortung folgender Fragen anfangen: Wo finde ich einen passenden Platz in einer guten Betreuungseinrichtung, in die ich mein Kind guten Gewissens und gerne hingebe? Wie organisiere ich ganz alltägliche Dinge, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Krankheit eines Kindes? Das kann man nie planen, das passiert meistens über Nacht. Dann muss man ganz schnell reagieren. Ich glaube, das Letzte, was Eltern brauchen - egal wie sie sich entscheiden, ihr Leben zu organisieren -, ist, dass ihnen ihr Umfeld, die Gesellschaft und die Politik ein schlechtes Gewissen machen. Wir sollten alle sehr zurückhaltend sein, wenn wir darüber sprechen, wie sich Familien organisieren sollten. ({0}) Entscheidend ist doch nicht, in welcher Form Familien zusammenleben, sondern ob ein Kind Zuwendung bekommt, ob sich Eltern um ein Kind kümmern und ob sie ihre Verantwortung wahrnehmen. Das kann man in der einen oder anderen Form machen - oder auch nicht; wir kennen für beides Beispiele. Zuwendung für das Kind sollte im Mittelpunkt der Familienpolitik und der gesellschaftlichen Diskussion darüber stehen. ({1}) Als erster Mann, der heute in der Debatte zu Wort kommt, ({2}) sage ich: Wenn sich heute viele junge Menschen entscheiden, ein neues Familienbild zu leben, wenn Mütter sagen, dass sie gerne Mutter sind, aber auch gerne erwerbstätig sein sowie ihre Bildung und ihre Qualifikation einbringen möchten, und wenn Väter sagen, dass sie natürlich arbeiten möchten, sich aber auch um ihr Kind kümmern möchten, damit sie etwas von ihm haben, dann ist das, finde ich, kein Werteverlust, sondern ein Gewinn an Werten. Es bereichert die Gesellschaft. Dies ist ein gutes Familienbild, das viele junge Menschen bzw. Familien heute leben. ({3}) Natürlich muss man auch sehen: Die Arbeitswelt verändert sich. Dadurch, dass sich Technik und Berufsbilder schnell verändern, ist es heute nicht mehr so leicht, für einige Jahre aus dem Beruf auszusteigen. Das kann dazu führen, dass man ein ganzes Leben lang nicht wieder richtig Tritt fasst. Deswegen sind viele Familien gezwungen, zumindest zum Teil zu arbeiten bzw. früh wieder zu arbeiten. Das gilt insbesondere dort, wo es nur einen Elternteil gibt, also für Alleinerziehende. Viele von ihnen müssen zum Teil sehr schnell wieder in den Beruf einsteigen. Das ist gerade dann der Fall, wenn sich die Eltern dafür verantwortlich fühlen, ihren Kindern eine gute Sozialisation und eine gute Zukunftsperspektive zu bieten. Deswegen ist für uns ganz entscheidend: Ein Betreuungsgeld darf auf der einen Seite nicht daran anknüpfen, ob Eltern berufstätig sind. Das tut es auch nicht. Es wird auch ausbezahlt, wenn Eltern berufstätig bzw. erwerbstätig sind. Auf der anderen Seite darf diese Leistung nicht dazu führen, dass sich die Betreuung in Kitas und bei Tageseltern verschlechtert, dass das eine auf Kosten des anderen geht. Auch Folgendes ist nicht der Fall - ich spreche es noch einmal klar aus -: Bei den Betreuungsmöglichkeiten im Bereich der Kitas und der Tageseltern wird nichts verschlechtert, ({4}) sondern wir bauen diese - ganz im Gegenteil - von der Menge her und auch qualitativ aus. Wir haben mit den Ländern seit 2007 eine Vereinbarung. Ich finde es gut, dass Sie, Frau Ministerin, den Ländern, die nicht im Zeitplan liegen, klar gesagt haben, dass nur noch ein Jahr Zeit bleibt. Ich möchte Sie ermuntern, klar zu sagen, wenn ein Land zu langsam ist, ({5}) und zwar ohne auf das spezielle Land zu schauen, sondern nur aufgrund der Zahlen, die Sie haben. Denn die Länder und auch die Kommunen sind in der Pflicht, ihren Teil der Abmachung einzuhalten. ({6}) Wir haben darüber hinaus von Bundesseite am Wochenende zusätzlich über 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, weil wir der Meinung sind, dass wir die Situation weiter verbessern müssen. Ich kann nur sagen: Ich hätte mir gewünscht, dass sich auch die Länder, die diese Forderung aufgestellt haben, ebenso wie bei den alten Absprachen finanziell an der einen oder anderen Maßnahme beteiligt hätten. Der Bund macht wieder einmal freiwillig mehr, als er tun müsste. Eine Gegenleistung der Länder kann ich nicht erkennen. ({7}) Es wäre vielleicht gut gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, wenn Sie Ihren Ländervertretern nicht einfach einen Blankoscheck für die Gespräche am Sonntag gegeben hätten, sondern gesagt hätten: Wenn der Bund 500 Millionen Euro gibt, dann geben auch die Länder noch einmal 500 Millionen Euro dazu. - Das wäre für die Familien und den Ausbau der Betreuung mit Sicherheit besser gewesen, als einfach zu sagen: Ihr dürft fordern, der Bund bezahlt. - Dann hätten wir nämlich mehr Geld zur Verfügung, um das Ganze hinzubekommen. ({8}) Wir haben - auch das darf man einmal in Erinnerung rufen - eine Qualifizierungsoffensive auf den Weg gebracht. Fachkräfte, die sich vor allem mit Sprachförderung auskennen, sind seit einem Jahr in 4 000 Kitas in Deutschland tätig. Dafür stellt diese Koalition 300 Millionen Euro im Haushalt zur Verfügung. Wir kümmern uns also auch darum, dass in den Kitas eine bessere Betreuung stattfindet, dass Kinder, die noch nicht gut genug Deutsch sprechen und andere Schwierigkeiten haben, besser integriert werden. Wir haben das Programm „Offensive Frühe Chancen“ auf den Weg gebracht, bei dem es darum geht, dass gerade Familien, die Integrationsprobleme haben und in einer besonderen Notlage sind, früher geholfen wird. Wir kümmern uns also gewiss auch darum, dass Familien integriert werden und Kinder, die bisher nicht so gute Chancen hatten, bessere Bildungschancen erhalten. Es wäre für mich zu einseitig, die Familienpolitik dieser Koalition nur auf das Betreuungsgeld zu reduzieren. Es ist weit mehr getan worden, und das geht in die richtige Richtung. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält jetzt der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Sprecher des Volksbegehrens für eine bessere Familienpolitik bin ich 2005 politisch aktiv geworden. Wir setzten uns in Thüringen für sichere und bessere Kitaplätze ein. ({0}) Schon damals wollte uns die Union nicht glauben, dass frühkindliche Bildung die beste Investition in die Zukunft ist. ({1}) Ich zitiere den Nobelpreisträger für Ökonomie James J. Heckman: Eine geradezu traumhafte Rendite erwirtschaftet langfristig jeder Euro, der in die frühe Förderung von Kindern - also noch vor der Schulzeit - investiert wird. Heckman wies nach: weniger Schulabbrecher, weniger Teenagerschwangerschaften, weniger Kriminalität. Und stattdessen: höhere Bildungsabschlüsse, mehr Produktivität und bessere Gesundheit. Das seien laut Heckman die messbaren Erfolge einer verantwortungsvollen Bildungspolitik; denn diese müsse sich darauf konzentrieren, Benachteiligungen schon in Krippe und Kindergarten auszugleichen. Die herrschende Politik habe dies offenbar noch nicht begriffen, stellte Heckman am 13. März 2008 in Leipzig fest. Eine Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit vom März dieses Jahres, in Auftrag gegeben von der Thüringer SPD, belegt, dass aufgrund der Einführung des Thüringer Landeserziehungsgelds gerade Kinder aus benachteiligten Familien wegen des Betreuungsgelds zu Hause bleiben. Nun ist es an der Zeit, einmal die wahren Gründe für die Bockbeinigkeit der Union beim Betreuungsgeld zu betrachten. Ich bin überzeugt, dass die Union und die Familienministerin es nicht schaffen, bis 2013 den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz umzusetzen. Ihre Rechnung ist: Jede Familie, die sich für das Betreuungsgeld entscheidet, verkleinert die Lücke der fehlenden Plätze. Das ist der erste wahre Grund für das Betreuungsgeld. ({2}) Das Betreuungsgeld beträgt 150 Euro im Monat. Ein Kitaplatz für ein- bis dreijährige Kinder kostet in Thüringen etwa 800 Euro. Nehmen wir für die Bundesrepublik die Zahlen aus Thüringen als Grundlage: Abzüglich der Kitagebühren sparen Länder und Kommunen je Monat etwa 500 Euro für jedes Kind, das zu Hause bleibt. Laut Gesetzentwurf sind für 2014 1,1 Milliarden Euro für das Betreuungsgeld eingeplant. Damit würden 610 000 Kinder zu Hause bleiben. Jeden Monat 500 Euro für 610 000 Kinder, die keinen Kitaplatz nutzen - das erspart den öffentlichen Haushalten 3,7 Milliarden Euro Kosten im Jahr. Das ist der zweite Grund für das Betreuungsgeld. ({3}) In Thüringen besuchen dank des erkämpften Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz ab dem ersten Geburtstag mehr als 60 Prozent der Kinder zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr eine Kita. Frau Schröder will aber nur für 35 Prozent dieser Kinder Kitaplätze schaffen. ({4}) Ich glaube, die Eltern denken bundesweit wie die in Thüringen und wollen mehr Kitaplätze. Davor haben Sie Angst, und deshalb glauben Sie, mit den Silberlingen des Betreuungsgelds diese Herausforderung wegzubekommen. Das ist der dritte Grund für das Betreuungsgeld. ({5}) Paradox wird es ab 2014. Sie haben dann 1,1 Milliarden Euro für das Betreuungsgeld vorgesehen. Damit würden 50 Prozent der Kinder zwischen ein und drei Jahren zu Hause bleiben. 35 Prozent hätten nach Ihrem Plan einen Kitaplatz. Was ist mit den anderen Kindern? Wollen Sie Plätze zweimal vergeben, einmal von 8 bis 12 und einmal von 14 bis 18 Uhr? Dann gibt es doppelt so viele betreute Kinder, und Sie könnten für einen Kitaplatz zweimal Betreuungsgeld weglassen. Das schlägt dem Fass den Boden aus. ({6}) Liebe Koalitionäre, verzichten Sie auf das Betreuungsgeld. Verbessern Sie dafür, wie die Linke es fordert, die frühkindliche Bildung. Frau Ministerin, Sie kennen sicher viele Zitate. Ich empfehle Ihnen eines von Mark Twain: Wenn der letzte Dollar weg ist, ist Bildung das Einzige, was übrig bleibt. - Deshalb: Vergessen Sie das Betreuungsgeld. Stimmen Sie mit uns für die beste frühkindliche Bildung - für alle Kinder - und für Kindertagesstätten. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß, dass ich heute wieder vielen meiner lieben Kolleginnen und Kollegen nicht nur aus den Reihen der Opposition, sondern auch aus den Reihen von CDU, FDP und auch einigen aus der CSU aus der Seele spreche, wenn ich sage: Das Betreuungsgeld ist eine unsinnige, eine kontraproduktive Maßnahme. ({0}) Ich kann und ich will Ihnen das nicht ersparen. Aber Sie selbst könnten es sich langsam ersparen, wenn die vielen Kritikerinnen und Kritiker in den Regierungsfraktionen, die ihre Meinung geäußert haben, endlich die Reißleine zögen und dem Betreuungsgeld die Rote Karte zeigten. ({1}) Das Betreuungsgeld hat in diesem Haus keine Mehrheit. Die Art und Weise, wie Sie sich hier eben selber Mut zujubeln mussten, macht das doch doppelt deutlich. ({2}) Die vernünftigen Menschen in diesem Haus dürfen es nicht zulassen, dass eine Regionalpartei der kompletten Regierung auf der Nase herumtanzt und der gesamten Republik ihr überholtes Frauen- und Familienbild aufzwingt. ({3}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Gesetzentwurf bestätigt leider unsere schlimmsten Befürchtungen. Das Betreuungsgeld kommt als eine reine Antikitaprämie daher, und das macht doppelt klar, wes Geistes Kind sie ist. Wir wissen auch, wohin ein solches Betreuungsgeld führt, beispielsweise aus Thüringen: Mit der Einführung des Landeserziehungsgelds ging dort nämlich der Anteil der Zweijährigen, die eine Kita besuchen, um 15 Prozent zurück, und - was noch dazu kommt - auch der Anteil der älteren Geschwisterkinder ging um 30 Prozent zurück. Ich bin sehr froh und der Ministerin dankbar, dass sie noch einmal unser Plakat gezeigt hat, das genau das dokumentarisch zum Ausdruck bringt. ({4}) Die Erwerbstätigkeit der Mütter von Zweijährigen ist um 20 Prozent gesunken. All diese Effekte waren bei geringqualifizierten Eltern, bei Alleinerziehenden und Familien mit geringem Einkommen deutlich stärker zu beobachten als im Durchschnitt. Mit dem Betreuungsgeld soll die gesamte Republik auf eine solche Reise geschickt werden. Ich finde das unverantwortlich. ({5}) Das Betreuungsgeld soll die Erziehungsleistung der Eltern würdigen. Ich finde es zwar richtig, die Erziehungsleistung von Eltern zu würdigen. ({6}) Aber diese Begründung ist mehr als fragwürdig, wenn mit den 100 bzw. 150 Euro auch die Nanny oder das Aupair-Mädchen finanziert werden kann. Was ist eigentlich mit der Erziehungsleistung der Eltern, deren Kind zwei Tage in der Woche in die Tagespflege geht oder einen halben Tag in die Kita geht oder einfach an einer Krabbelgruppe teilnimmt? Diese Erziehungsleistung wird mit dem Betreuungsgeld nicht gewürdigt. Das ist einfach absurd. ({7}) Was ist mit den Eltern, die ALG II beziehen? Deren Erziehungsleistung ist nach Auffassung der Regierungsfraktionen offensichtlich überhaupt und grundsätzlich nicht zu würdigen. Ich finde, es ist eine Ungeheuerlichkeit, was mit diesem Gesetzentwurf an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht wird. ({8}) Das Betreuungsgeld ist eine bildungs- und gleichstellungspolitische Katastrophe; es ist verfassungsrechtlich höchst fragwürdig. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und von der FDP: Machen Sie diesem Spuk endlich ein Ende. An die Adresse der CSU sage ich: Es heißt so schön: Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab! - Ich finde, der Zeitpunkt, das zu tun, ist jetzt langsam einmal gekommen. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Markus Grübel hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Dinge hatten wir 2007 den Menschen in Deutschland versprochen: Erstens: Wir bauen massiv die Betreuungsplätze aus, und der Bund unterstützt diesen Ausbau, was sowohl die Investitionen als auch die Betriebskosten angeht. Zweitens: den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab 1. August 2013. Drittens: die Einführung eines Betreuungsgeldes im Jahr 2013. Diese drei Dinge - der Ausbau der Betreuungsplätze, die Schaffung des Rechtsanspruchs und die Einführung des Betreuungsgeldes - gehören zusammen. Sie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille und stehen für eine zeitgemäße Familienpolitik, die den Eltern ein Wahlrecht ermöglicht. ({0}) Die Kollegin Gruß hat es als „Freiheit“ umschrieben; man könnte auch „Wahlfreiheit“ sagen. Den engen Zusammenhang beider Leistungen hat die Koalition 2008 im Kinderförderungsgesetz festgeschrieben. Viele, die jetzt hier so kritisch über das Betreuungsgeld reden, haben damals zugestimmt. Der Bund hat sich nämlich damals in Absprache mit den Ländern und Gemeinden entschieden, auch die Unterstützung von Eltern bei der Betreuung von Ein- und Zweijährigen zu seiner Aufgabe zu machen. Man hat sich entschieden, es auf zwei Wegen zu machen: entweder mit einer Sachleistung - 1 000 Euro im Monat für einen subventionierten Betreuungsplatz - oder eben mit einer Geldleistung von jetzt 100 bzw. 150 Euro im Monat, mit der Eltern entweder eine Betreuung organisieren können oder sie selbst durchführen können. Das haben wir in § 16 Abs. 5 SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - festgeschrieben. Da steht es, Frau Ziegler. Sie waren damals nicht dabei; Sie waren noch nicht im Bundestag. Aber die Kollegen rechts und links von Ihnen - das kann ich Ihnen versichern - haben dem damals beide zugestimmt. ({1}) - Auch Sie, Frau Rupprecht. ({2}) Die Regelung ist mit der Regelung in der sozialen Pflegeversicherung vergleichbar: Auch da haben wir mit der stationären Pflege eine Sachleistung und mit der ambulanten Pflege eine Geldleistung. Hier kommt keiner auf die Idee, zu sagen, dass diese Geldleistung eine Fernhalteprämie sei oder dass die Pflege zu Hause durch Familienangehörige schlecht sei und verhindert werden müsse. Die Familien sind dankbar, dass sie unterstützt werden, genauso, wie sie für die Wahlfreiheit dankbar sein können, wenn das Betreuungsgeld eingeführt ist. ({3}) Familien müssen sich eben nicht einem staatlich vorgegebenen Leitbild anpassen, um finanzielle Unterstützung zu erhalten. Der Staat akzeptiert, dass Familien in eigener Verantwortung entscheiden, wie sie ihr Leben leben wollen. ({4}) Wenn man sich diese vergiftete, ideologische Diskussion ums Betreuungsgeld anhört, ({5}) dann könnte man geradezu meinen, wir wollten mit dem Geld eine terroristische Gemeinschaft unterstützen. ({6}) Nein, wir unterstützen Familien mit sehr kleinen Kindern. ({7}) Sehr geehrte Damen und Herren, jedes Kind, jede Familie ist anders. Die Frage nach der optimalen Betreuung kann daher nicht einheitlich beantwortet werden. Da ist es wichtig und richtig, wenn der Staat alle Formen der Kleinkindbetreuung unterstützt, egal ob sie von Eltern, von Großeltern, in der Krippe oder von Tagespflegepersonen übernommen wird. Statt sich mit der Idee, die hinter dem Betreuungsgeld steht, inhaltlich auseinanderzusetzen, wird in einer oberflächlichen Diskussion immer wieder behauptet: Frauen werden ferngehalten, erwerbstätig zu sein, oder den Kindern - das haben die Linken gesagt - werden Bildungschancen vorenthalten. Beides ist schlicht falsch. ({8}) Das Betreuungsgeld ist nicht an den Verzicht von Erwerbstätigkeit geknüpft. ({9}) Was die frühkindliche Bildung betrifft: Es ärgert mich zunehmend, mir immer wieder anhören zu müssen, dass Eltern ihren Kindern Bildungschancen vorenthalten, wenn sie nicht in eine Krippe kommen. Noch vor fünf oder zehn Jahren waren Krippenplätze - zumindest im Westen Deutschlands - selten, aber auch aus diesen Kindern konnte etwas werden. Wir haben den Ausbau der Krippenplätze gefördert und unterstützt. Aber man kann schlichtweg nicht sagen, dass es bei einem einjährigen Kind für die weitere Entwicklung entscheidend ist, ob es vom Vater oder der Mutter oder in einer Krippe erzogen wird. Dies ist nachweislich falsch; denn bei kleinen Kindern geht es um Bindung; Bindung steht bei ein- bis zweijährigen Kindern im Vordergrund. Die erste Bindung eines Kindes ist in der Regel die an die Eltern oder an eine feste Bezugsperson, ob es Oma oder Opa ist. ({10}) Diese familiennahe oder familiäre Betreuung ist der institutionellen Betreuung zumindest gleichwertig. ({11}) Wenn Eltern Zuwendung, Erziehung und Betreuung vernachlässigen, dann ist keine Frage, dass das eine andere Situation ist. Aber wir müssen doch sehen, was Ausnahme und was Regel ist. Es wurde immer wieder auf die OECD-Studie zu Arbeitsplätzen für Migranten hingewiesen. Für die Einführung des Betreuungsgeldes in Deutschland hat diese Studie überhaupt keine Aussagekraft. Die Studie plädiert in Bezug auf Norwegen dafür, dass für dreijährige Kinder kein Betreuungsgeld mehr gezahlt werden soll. Wir aber wollen in Deutschland das Betreuungsgeld für ein- und zweijährige Kinder einführen, erfüllen also die Forderungen der Studie. Dies ist auf Seite 196 nachzulesen. Man sollte also nicht nur die Überschriften lesen. Gleich wichtig wie die familiennahe oder familiäre Betreuung ist der Ausbau der Kitaplätze. Wir haben das im Jahr 2007 gemeinsam beschlossen, und es ist immer noch richtig und wichtig. Noch nie wurden so viele Kinderbetreuungsplätze geschaffen wie seit 2007 unter den Ministerinnen von der Leyen und Schröder. Das wird vom Bund mit Geld massiv gefördert; wir werden jetzt noch mehr Geld zur Verfügung stellen. Diesmal kommt das Geld - die Investitionskosten für einen Kitaplatz betragen 12 000 Euro - aber auch bei den Kommunen an. Ich denke hier an das rot-grüne Tagesbetreuungsausbaugesetz. Auf das Geld warten die Kommunen noch heute. Ich habe bis heute noch keinen Bürgermeister getroffen, der gesagt hat, er hätte dieses Geld bekommen. ({12}) Sehr geehrte Damen und Herren, eine Umfrage des Magazins Stern im April hat ergeben, dass in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen eine Mehrheit für das Betreuungsgeld ist. Bei den anderen Altersstufen sieht es anders aus. Diese Altersstufe ist aber vielleicht die wichtigste, wenn es um die Entscheidung für Kinder geht. Lassen wir doch die jungen Eltern selbst entscheiden, welche Betreuungsform sie für ihre Kinder wählen! Lassen Sie uns jede Entscheidung der Eltern akzeptieren und finanziell unterstützen! Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Hagedorn jetzt das Wort.

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich das Wort habe. Ich habe mich schon bei der Ministerin, Herrn Toncar, aber auch jetzt bei Herrn Grübel gemeldet. Ich will zunächst einmal mit einer Richtigstellung beginnen: Ja, wir haben gemeinsam den Ausbau der Kitaplätze, verbunden mit dem Rechtsanspruch ab dem Jahr 2013, gemacht. Allerdings haben wir offensichtlich gemeinsam, als wir von einer Ausbaukapazität von 35 Prozent ausgegangen sind, nicht damit gerechnet - Sie jedenfalls nicht, wir schon; aber wir waren in einer Koalition -, dass es sehr viel mehr Eltern geben würde, die dieses Recht in Anspruch nehmen. Darum müssen wir schlicht feststellen: Wenn wir den Eltern, den Kindern und auch den Kommunen gerecht werden wollen, dann darf bei einer Ausbaukapazität von 35 Prozent nicht Schluss sein. Darum müssen wir nachbessern und brauchen das Geld dort und nicht für das Betreuungsgeld. Warum ich mich aber vorhin gemeldet habe: Frau Ministerin, gestern Abend waren wir gemeinsam im Haushaltsausschuss. Ich habe Sie gefragt, wie Ihre Gegenfinanzierung ab 2014 für die 2 Milliarden Euro aussehen wird. Sie haben gestern Abend im Haushaltsausschuss geantwortet: Die Gegenfinanzierung besteht in einer globalen Minderausgabe. - Diese Aussage hat, glaube ich, auch Ihre eigenen Haushälter durchaus geschockt. Aber was Sie nicht deutlich dargestellt haben - das sollten Sie jetzt öffentlich nachholen -, ist die Antwort auf folgende Frage: Wie stellen Sie sich diese globale Minderausgabe eigentlich vor - als globale Minderausgabe für den Gesamthaushalt oder als globale Minderausgabe für Ihren Etat? Was ich an dieser Stelle - weil ich die Zeit noch habe ebenfalls klarstellen möchte, weil viele Redner das aus unserer Sicht falsch dargestellt haben, ist: Es geht nicht nur um den Aspekt der Freiheit. Wir alle in diesem Hause sind dafür, dass Eltern zu nichts gezwungen werden, dass ihnen nicht vorgeschrieben wird, wie sie ihr Kind zu betreuen haben. Vielmehr geht es darum, dass es diese Freiheit aktuell gar nicht gibt. Für diejenigen, die ihr Kind betreut wissen wollen, gibt es deutschlandweit noch nicht die qualitativ hochwertigen Angebote, die wir dringend benötigen. Was auch gestern Abend im Haushaltsausschuss zur Sprache gekommen ist, ist die Frage der Gerechtigkeit. Es ist nämlich sehr wohl so - auch dazu sollten Sie Stellung beziehen -, dass die gutverdienende Familie, die eine Nanny oder ein Au-pair-Mädchen beschäftigen kann, nach Ihren Vorstellungen die 150 Euro erhalten soll, dass aber die Krankenschwester, die von ihrem Arbeitgeber dringend gebraucht und nach der Babypause an ihren Arbeitsplatz zurückgerufen wird - und sei es nur in Teilzeit -, das Betreuungsgeld nicht in Anspruch nehmen kann, wenn sie auch nur einen oder zwei Tage pro Woche eine öffentliche Betreuung in Anspruch nehmen muss, um den Wiedereinstieg in den Beruf zu schaffen. Was noch hinzukommt, ist, dass bei den Langzeitarbeitslosen - 40 Prozent von ihnen sind Alleinerziehende -, die im ländlichen Raum wohnen und die wegen mangelnder Mobilität oder mangelnder finanzieller Mittel ihr Kind nicht in einer Krippe oder einer Kita unterbekommen, das Betreuungsgeld voll verrechnet wird. Finden Sie das gerecht? ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, bei großzügiger Zeitbemessung ist die für eine Kurzintervention vorgesehene Zeit ausgeschöpft. ({0}) Für eine kurze Beantwortung bitte ich die Ministerin. Sie war ja direkt angesprochen.

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Frau Kollegin, ich bedanke mich für Ihre ausführlichen Ausführungen. Ich gehe jetzt einmal auf die Punkte ein, über die wir noch nicht gesprochen haben. ({0}) Erstens. Sie haben die Frage des Bedarfs an Kitaplätzen angesprochen. ({1}) Sie sind hierbei von veralteten Zahlen ausgegangen; Sie haben die 35 Prozent aus dem Jahr 2007 wiedergegeben. Schon seit Monaten ist vollkommen klar - ich habe das in meiner Pressekonferenz gesagt; ich habe das auch gestern Abend im Haushaltsausschuss gesagt -: Wir werden einen Bedarf von 39 Prozent haben. In Zahlen bedeutet das: Im Jahr 2007 gingen wir von einem Bedarf von 750 000 Plätzen aus; in Wahrheit werden wir einen Bedarf von 780 000 Plätzen haben. Es gibt also ein Delta von 30 000 Plätzen. Diese 30 000 Plätze werden und können wir exakt mit den 580 Millionen Euro für die Investitionskosten und 75 Millionen Euro für die Betriebskosten finanzieren, die wir am Sonntag beschlossen haben. Insofern ist vollkommen klar: Der Bund hält sich an seine Zusagen und steht zu dem, was er 2007 vereinbart hat. Das sollten auch die Länder tun; dann werden wir den Kitaausbau packen. ({2}) Zweitens. Die Finanzierung des Betreuungsgeldes ist ein Projekt der gesamten Koalition; entsprechend wird auch die gesamte Koalition diese Finanzierung sicherstellen. ({3}) Mit Sicherheit wird es nicht möglich sein - das werde ich auch nicht zulassen -, dass eine Finanzierung aus meinem Etat erfolgt. Drittens. Ich konnte Ihnen nicht hundertprozentig folgen, aber Sie sprachen von einer „Verrechnung mit dem Elterngeld“, und dabei gäbe es eine Ungerechtigkeit, weil einige Mütter das gar nicht in Anspruch nehmen könnten. Ich möchte noch einmal die Grundlogik darlegen: Alle Eltern mit ein- oder zweijährigen Kindern haben einen Anspruch auf staatliche Unterstützung bei der Betreuung der Kinder. Das ist etwas Neues. Das gab es in Deutschland so bisher noch nicht. Bis vor wenigen Jahren gab es das Erziehungsgeld für diejenigen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf hatten. Bisher hat der Staat gesagt, für die anderen Familien mit unter dreijährigen Kindern sieht er keine Aufgabe. Das hat der Staat geändert. Der Staat sagt jetzt, er hält es für seine Pflicht, diese Familien zu unterstützen. ({4}) Er möchte aber den Familien die Wahl lassen zwischen einer Sach- und einer Barleistung. Diese Wahl kann jede Familie treffen. Das ist die Vollendung des Gedankens, dass Wahlfreiheit für die Familien bestehen soll und eben nicht irgendwelche Vorschriften gemacht oder etwas auch nur nahegelegt würde. Sie selbst haben gestern Abend im Haushaltsausschuss gesagt, Sie wünschen sich, dass möglichst alle Kinder in die Kita gehen. ({5}) Ich sage Ihnen: Ich habe kein solches Leitbild für die Familie, sondern ich möchte, dass die Familien selbst darüber entscheiden können. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Sönke Rix für die SPDFraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu dem Letzten, das Sie, Frau Ministerin, eben angesprochen haben, der Frage der Gerechtigkeit und der Wahlfreiheit. Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich ja schon dann, wenn es darum geht: Wer soll das Betreuungsgeld bekommen? Sie sagen immer: Es soll eine Zahlung für diejenigen sein, die sich dafür entscheiden, ihre Kinder zu Hause zu erziehen. Es ist also eine Anerkennung der Erziehungsleistung; das ist von den Rednern der Koalition zumindest so gesagt worden. ({0}) Wenn das so ist, dann frage ich mich, warum Eltern im Hartz-IV-Bezug das Betreuungsgeld nicht bekommen sollen. ({1}) Das ist und bleibt eine große Ungerechtigkeit. ({2}) Das Zweite: Sie sprechen immer davon, das Betreuungsgeld soll ein Bonus für diejenigen sein - Sie reden von Wahlfreiheit -, die sich dagegen entscheiden, ihre Eltern, ihre Kinder - die Eltern kann man manchmal auch besser zur Krippe bringen ({3}) zur Krippe bzw. in die Kindertagesstätte zu bringen. Gleichzeitig sagen Sie, dass auch jene Eltern das Betreuungsgeld erhalten sollen, die ihre Kinder zu Hause von Dritten oder Vierten betreuen lassen, also nicht nur innerhalb der Familie, von der Großmutter, von älteren Geschwistern oder von wem auch immer - da sage ich: Okay, das würde in Ihr System, das ich nicht teile, passen -, sondern auch dann, wenn sie die Kinder durch Kindermädchen, Au-pair-Mädchen, Nachbarn oder in Selbsthilfeprojekten betreuen lassen. Das passt nicht zu Ihrem Argument, dass das Betreuungsgeld der Wahlfreiheit und der Gleichstellung der Familienbilder dient. Das ist einfach nicht so; Sie schaffen damit keine einheitliche Argumentationslinie, Frau Ministerin. ({4}) Vielleicht diskutieren wir das Thema Betreuungsgeld deshalb so intensiv, mit vielen Zwischenrufen und mehr Zwischenfragen, als sie sonst zugelassen werden, weil es uns alle betrifft; denn wir alle kommen aus Familien, wir alle haben unsere Wertvorstellungen dazu, wie wir die Familie sehen. Frau Ministerin, ich gebe Ihnen ja recht, wenn Sie sagen: Jeder soll selbst entscheiden, wie er seine Familie zu Hause organisiert. - Aber unsere Aufgabe ist es, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass jede Familie es auch so entscheiden kann, dass es funktioniert. Das tun wir aber nicht genügend, weil wir als Staat nicht genügend Krippenplätze zur Verfügung stellen. Es kann daher nicht jede Familie das so organisieren, wie sie das will. Deshalb passt das nicht zu Ihrem Argument, dass das Betreuungsgeld gerade das aufheben würde. ({5}) Mit der Einführung des Betreuungsgeldes begehen Sie einen Systembruch; Sie begehen ihn. Während der Großen Koalition gab es hier im Hause einen breiten Konsens darüber, dass Krippenplätze ausgebaut werden sollen. An diesem Konsens zweifelt angeblich ja auch niemand. Aber Sie schaffen jetzt ein neues Instrument und verlassen damit den breiten gesellschaftlichen Konsens; denn Sie belohnen nun diejenigen, die eine staatliche Leistung, die wir alle gemeinsam gut finden, nicht in Anspruch nehmen. Das ist ein Systembruch. Das gibt es in keinem anderen Bereich. Das passt einfach nicht ins übrige System. ({6}) Vorhin wurde ja ausgeführt: Die Zurverfügungstellung von Kitaplätzen ist eine staatliche Leistung; wir fördern damit die Familien. - Richtig! Aber wir fördern durch den Straßenausbau auch die Autofahrerinnen und Autofahrer. Was zahlen wir eigentlich denjenigen, die kein Auto fahren? Was zahlen wir denjenigen, die keine Bibliothek in Anspruch nehmen? ({7}) - Ja, natürlich, so ist es! Das wollen Sie nur nicht wahrhaben. Sie belohnen diejenigen, die eine staatliche Leistung nicht in Anspruch nehmen. Nennen Sie mir einen Fall, bei dem wir das auch tun! ({8}) - Mit Steuergeldern! Und das mit einer nicht gegenfinanzierten Lösung, bei 1,2 Milliarden Euro, die bis heute noch nicht gedeckt sind, die vielleicht Sie, Herr Ramsauer, aus den Mitteln Ihres Haushalts mit bezahlen müssen. Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir viel besser, wenn wir das Geld im Haushalt zusammenbekämen, in den Ausbau von Krippenplätzen stecken. Da wäre das Geld sinnvoll verwendet. ({9}) Sie kritisieren, dass wir das Betreuungsgeld als Fernhalteprämie bezeichnen. Sie sagen, das sei keine Fernhalteprämie und wir würden damit diejenigen disqualifizieren, die ihre Kinder in den ersten Jahren zu Hause erziehen und bilden wollen. Alle Studien sagen: Natürlich passiert das auch zu Hause. - Ich würde niemals die Erziehungsleistung in einer Kindertagesstätte und die Erziehungsleistung von Familien gegenüberstellen. ({10}) Wenn, dann ergänzen sie sich immer. Die Studien, die das kritisieren, beziehen sich nicht auf alle Familien, sondern auf bildungsschwache Familien, und hier ist in der Tat zu fragen, ob das Betreuungsgeld bei diesen Familien nicht doch eine Fernhalteprämie ist. Dieses Argument haben Sie immer noch nicht aus dem Weg geräumt. Gerade diese Familien haben Unterstützung nötig. Hier gibt es den Bedarf dafür, die frühkindliche Bildung so früh wie möglich in Anspruch zu nehmen. Darauf gehen Sie nicht ein. ({11}) Es wurde schon gesagt: Sie sollten endlich vom toten Pferd absteigen. All das, was die Koalition an die Adresse der Opposition gerichtet hat, die angeblich nur ideologische Argumente hat, zielte im Grunde auch in die eigenen Reihen. Diese Argumente wurden nämlich auch von der Frauen-Union, von Frau von der Leyen, Frau Laurischk, Frau Gruß und vielen anderen vorgebracht. Sie reden immer davon, wir diffamierten diejenigen, die das Betreuungsgeld unterstützen - Sie diffamieren ja Ihre eigenen Leute; denn die Argumente „Fernhalteprämie“ und „bildungspolitische Katastrophe“ werden ja auch von Ihren eigenen Leuten vorgebracht. Also überlegen Sie es sich gut, wenn Sie von einem „vernünftigen Politikstil“ sprechen. Machen Sie eine anständige Politik, und steigen Sie vom toten Gaul ab! ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin Laurischk das Wort. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute eine geordnete Debatte über ein zweifellos kontroverses Thema führen. Das sah in der letzten Sitzungswoche noch durchaus anders aus: Da blieb die Opposition draußen vor der Tür. ({0}) Wir hatten schon die Sorge, dass Sie das Thema gar nicht diskutieren wollen. Aber wie wir heute sehen: Es ist eine durchaus engagierte und, wie ich finde, auch niveauvolle Diskussion, die den Menschen im Land zeigt, dass wir die Themen, die wir uns setzen, auch ernst nehmen. Wir müssen eines sehen: Aufgrund eines Beschlusses der Großen Koalition, von Schwarz-Rot, ist das Betreuungsgeld in die Welt gekommen. Das war nicht das Thema der FDP. Mir zeigt das, dass große Koalitionen eher nicht zu guten Ergebnissen kommen. ({1}) Die schwarz-gelbe Koalition sucht jetzt eine gute Lösung. Deswegen führen wir diese Diskussion. ({2}) Wir haben einfach Fragen zu klären, und dazu dient die parlamentarische Debatte. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich Zweifel an der Verfassungsgemäßheit habe, nämlich ob der Bund überhaupt zuständig ist, ob das Problem der konkurrierenden Gesetzgebung richtig bedacht worden ist. ({3}) Das sind Fragen, die wir in der weiteren Debatte klären müssen. Dazu werden wir auch eine Anhörung durchführen. Es gibt noch weitere Fragen, die offen sind. Wir haben beispielsweise gesagt - dieser Vorschlag steht im Koalitionsvertrag -, dass das Betreuungsgeld über ein Gutscheinmodell zielgenauer verteilt werden könnte. Auch hier gibt es sicherlich noch Klärungsmöglichkeiten. Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir, wenn wir Geld in Familien mit ganz kleinen Kindern geben wollen, sehr stark darauf achten müssen, dass die Kinder sprachfähig werden, dass sie die deutsche Sprache gut und sicher lernen. ({4}) Viele Schulen haben das Problem, dass viele Kinder in dieser Hinsicht eine viel zu schmale Grundlage mitbringen. Das ist ein sachlicher, ein fachlicher Grund. Auch solche Fragen werden wir klären. ({5}) Wir haben aber auch ein gesellschaftspolitisches Problem, das in dieser Debatte meiner Ansicht nach bisher überhaupt nicht zum Tragen gekommen ist: Wir haben in Deutschland zu wenig Kinder. Zu wenige entschließen sich, Kinder zu haben, eine Familie zu gründen. Das hat einen Grund: Immer weniger Frauen entschließen sich für eine Familie, für ein Kind, weil sie dann eine Karrierechance verpassen. Es ist ganz klar, dass sich Frauen diese Frage stellen. Mittlerweile sind Frauen in Deutschland gut ausgebildet und wollen beides: Wir wollen zum einen Familie und Kinder, und wir wollen zum anderen einen Beruf. ({6}) Entsprechend brauchen wir in dieser Hinsicht Unterstützung und den Ausbau einer guten Kinderbetreuung; das ist gar keine Frage. ({7}) Das Betreuungsgeld ist, in diesem Kontext betrachtet, nach meinem Dafürhalten ein wenig überzeugendes Taschengeld, das an dieser grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Fragestellung nichts ändern wird. In unserer Verfassung steht der Auftrag, die Gleichstellung von Mann und Frau zu fördern. Das Betreuungsgeld wird vorzugsweise die Situation fördern, dass Frauen zu Hause bleiben. Vielleicht sollten wir gerade auch in Anbetracht des eher konservativen Denkens, das hinter dem Betreuungsgeld steht, nach dem eher die Frauen zu Hause bleiben, einmal Folgendes überlegen: Ist es für eine moderne Gesellschaft nicht auch sinnvoll, dass Väter zu Hause bleiben? ({8}) Können wir die Gleichstellung vielleicht sogar mit dem Betreuungsgeld fördern, indem ganz gezielt Väter länger als nur zwei Elternmonate während des Bezugs von Elterngeld zu Hause bleiben? ({9}) Ich glaube, dann würde sich die Frage, ob wir das Betreuungsgeld wirklich wollen, auf eine ganz neue Art und Weise stellen. Ich danke Ihnen. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Peter Tauber. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden wieder über das Betreuungsgeld. Ich finde es - das muss ich ganz ehrlich sagen - gut, dass die Opposition das Betreuungsgeld so klar und deutlich ablehnt, und zwar aus einem Grund: Damit ist die Frage, was diese Seite des Hohen Hauses für die Familien tut, die ihre Kinder im Alter von 16 oder 21 Monaten zu Hause oder in der Familie erziehen, leicht zu beantworten: Sie tun für diese jungen Familien nichts. ({0}) Es ist sogar noch schlimmer. Wenn es bei der bloßen Ablehnung bleiben würde, könnte man noch sagen: Gut, das ist ein ganz normaler politischer Streit um den richtigen Weg, und da haben wir halt unterschiedliche Auffassungen. - Aber die Art und Weise, wie Sie das Betreuungsgeld ablehnen, ist eine Stigmatisierung und vor allem eine Diffamierung junger Familien, die man so nicht stehen lassen kann. ({1}) Wir tun genau das Gegenteil. Wir diskutieren - durchaus auch kontrovers - darüber, wie ein Betreuungsgeld ausgestaltet sein kann, damit es ankommt und funktioniert. Man muss die Frage beantworten: Was ist bei Teilzeitbeschäftigung? Man muss die Frage beantworten: Was machen wir mit jungen Familien, wenn die Eltern noch in der Ausbildung oder im Studium sind? Haben auch diese Familien einen Anspruch auf das Betreuungsgeld? Über diese Fragen diskutieren wir. Das ist zugegebenermaßen komplizierter, als sich einfach hinzustellen, Nein zu sagen und diejenigen zu beschimpfen, die ein Familienmodell leben, das nicht Ihrem Idealbild entspricht. Das muss man an dieser Stelle sehr deutlich sagen. ({2}) - Doch, Sie haben ein Idealbild. - Sie verraten sich ja selbst. Ihr Antrag mit dem Titel „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“, über den wir hier auch diskutieren, gibt eine klare Präferenz vor; er zeigt, was junge Familien in diesem Land Ihrer Meinung nach zu tun haben. ({3}) Wir machen genau das Gegenteil. Wir sagen: Krippenausbau und Betreuungsgeld. Diesen Weg will die Koalition gehen. ({4}) Wir wollen beides, und deswegen machen wir beides - die Ministerin hat es erklärt -: Wir geben mehr Geld für den Ausbau der Krippenplätze, ({5}) und wir überlegen, wie wir die Eltern unterstützen können, die einen anderen Weg wählen und ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren selbst begleiten. An dieser Stelle von einer bildungspolitischen Katastrophe zu sprechen ({6}) - Sie wiederholen das hier immer -, ist nicht in Ordnung. ({7}) Auch an anderer Stelle stecken Sie Eltern pauschal in eine Kategorie, in eine Schublade; das ist der völlig falsche Weg. Sie entlarven sich damit selbst. ({8}) - Frau Marks, Sie haben in der letzten Debatte 41-mal dazwischengerufen; ich habe im Protokoll nachgezählt. Eigentlich hätte man das Ihrer Fraktion von der Redezeit abziehen müssen. ({9}) Heute einmal. - Sie haben eine Steigerung, die atemberaubend ist. Deswegen bin ich auch etwas sprachlos. ({10}) Das ändert aber nichts an der Tatsache, Frau Kollegin, dass der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und uns ist: Wir trauen sowohl Eltern etwas zu ({11}) als auch Erzieherinnen und Erziehern. Wir spielen in dieser Debatte nicht beide gegeneinander aus. ({12}) Wir unterliegen auch nicht dem Trugschluss, dem Sie immer wieder das Wort reden, dass ein Kind, vielleicht aus schwierigen sozialen Verhältnissen, nur in eine Krippe zu kommen braucht, und alles wird gut. ({13}) So funktioniert das nicht. Ein Kind braucht immer beides: Es braucht auf der einen Seite die Herzenswärme und Liebe der Eltern - die kann auch eine noch so gute Betreuung nie ersetzen -, und es braucht auf der anderen Seite spätestens ab dem dritten Lebensjahr ein gutes Kindergartenangebot, damit es Startchancen hat, damit auf dem Weg in die Schule bildungsmäßig an der Stelle etwas getan werden kann, an der Defizite gibt. Aber das hat nichts mit den ersten drei Lebensjahren zu tun, über die wir hier reden. Uns zu unterstellen, wir seien dagegen, dass Kinder in den Kindergarten gehen, ist genau das, was in dieser Debatte für eine Schärfe sorgt, die nicht guttut. Moderne Familienpolitik hat für uns drei Säulen: erstens das Elterngeld, damit sich Väter und Mütter in den ersten Lebensmonaten dafür entscheiden können, zu Hause zu bleiben, zweitens der Ausbau der Krippenplätze, für den wir noch mehr Geld zur Verfügung stellen, und drittens das Betreuungsgeld. Der grüne Oberbürgermeister von Darmstadt hat vor kurzem auf einem Landesparteitag der CDU, auf dem er gesprochen hat, weil er in Darmstadt stattgefunden hat, erklärt, er sei kein großer Fan des Betreuungsgelds, aber das Wort „Herdprämie“ komme ihm nie über die Lippen, ({14}) weil es eine Diffamierung der jungen Eltern sei, die sich dafür entschieden hätten, ihre Kinder selbst zu erziehen. Daran sollten Sie vielleicht einmal denken. ({15}) Zum Abschluss würde ich Ihnen gern ein kurzes Zitat einer Mutter vorlesen, die mir geschrieben hat. Ich lese das nicht aus dem Grund vor, weil diese Mutter für das Betreuungsgeld ist. Das wäre zu leicht; ich könnte auch zehn Briefe von Müttern vorlesen, die gegen das Betreuungsgeld sind; die habe ich auch. Ich will Ihnen das Zitat aus einem anderen Grund nicht vorenthalten. Sie hat mir geschrieben: Ich bin der Meinung, dass Kinderbetreuung in einer Kita für ganz kleine Kinder gerade für Frauen, die arbeiten müssen oder alleinerziehend sind, sehr wichtig ist. Sehr schade ist aber, dass das Familienleben und die Familienarbeit bei uns so wenig Wertschätzung hat. Der Begriff „Herdprämie“ ist für jeden, der sich die Zeit für die Kindererziehung nimmt, ein Schlag ins Gesicht. Frauen wie ich sind mittlerweile ganz still geworden. In unserem Land fehlt Respekt und Toleranz, ein bisschen leben und leben lassen. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Ihre Art, diese Debatte zu führen, dazu führt, dass Mütter und Väter, die die Betreuung selbst übernehmen, so denken und so empfinden, dann ist allein das ein Grund, für das Betreuungsgeld zu stimmen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/9917, 17/9572, 17/9582 und 17/9929 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Statistische Ermittlung des Einsatzes von Werkverträgen und Leiharbeit in Unternehmen - Drucksache 17/9980 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Missbrauch von Werkverträgen verhindern - Lohndumping eindämmen - zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen Kontrollen verstärken - Drucksachen 17/7220 ({2}), 17/7482, 17/9473 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Kramme Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Nur nachrichtlich teile ich mit: Für die gerade stattgefundene Debatte haben wir mehr als die vereinbarte Zeit tatsächlich in Anspruch genommen. - Ich höre keinen Widerspruch, sodass wir damit auch diese Zeitvereinbarung so beschlossen haben. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke das Wort. ({3})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Was haben die Firmen Rossmann, BMW, Kaufland, Ikea und der Paketdienst GLS gemeinsam? Ich kann es Ihnen sagen: Sie alle haben neben ihren fest angestellten Beschäftigten Werkvertragsbeschäftigte als billige Alternative. Wir reden hier nicht von Einzelfällen. Aber wie viele Werkvertragsbeschäftigte es gibt, kann uns selbst Frau von der Leyen nicht mitteilen. Würde sie sich des Problems annehmen, könnten wir endlich über nachprüfbare Zahlen reden. Meine Damen und Herren, schauen wir doch einmal zurück: Es ist jetzt zwei Jahre her, dass wir in diesem Haus über das Ende des Lohndumpings in der Leiharbeit gestritten haben. Im Mittelpunkt stand die Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Herausgekommen ist eine halbherzige Verbesserung. Gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt es für die circa 1 Million Leiharbeitsbeschäftigten noch immer nicht. Bei Werkverträgen geht es um nichts anderes. Hier läuft das gleiche miese Spiel, nur mit anderem Namen und teilweise noch eine Nummer schärfer als bei der Leiharbeit. Werkvertragsbeschäftigte zählen wie Leiharbeitsbeschäftigte zur Randbelegschaft im Betrieb. Sie verdienen sowieso weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen im Stammbetrieb und oftmals noch weniger als Leiharbeitsbeschäftigte. Nachdem Leiharbeit zu Recht den schlechten Ruf einer Lohndumpingbranche bekommen hat, gehen nun immer mehr Unternehmen dazu über, gleich den ganzen Tätigkeitsbereich an eine Werkvertragsfirma auszugliedern. Verbreitung findet das Modell Werkver22330 träge in der ganzen Republik. Es ist nicht nur in weniger qualifizierten Bereichen zu finden; auch Ingenieure, die in der Forschung bei großen Automobilkonzernen arbeiten, betrifft die Ausgliederung in Werkvertragsfirmen auch hier natürlich zu weniger Lohn und ohne Sonderleistungen. Wie das System funktioniert, will ich Ihnen am Beispiel der Firma Rossmann, eines Drogeriediscounters, den Sie alle sicherlich kennen, deutlich machen. Laut Handelsblatt vom 15. Mai 2012 werden Werkverträge und Leiharbeit bei Rossmann genutzt, um Kassentätigkeit, Regaleinräumung und Inventur zu erledigen. Beim Regaleinräumen sinkt der Verdienst von 9,86 Euro laut Verdi-Tarifvertrag des Einzelhandels in Niedersachsen auf 6,63 Euro laut Tarifvertrag des Deutschen Handelsgehilfen-Verbandes West. Das ist ein Minus von sage und schreibe 33 Prozent. An der Kasse wird ebenfalls nicht mehr nach Verdi-Tarifvertrag bezahlt, sondern nach dem grottenschlechten Leiharbeitstarif. Bei der Inventur wird auf der Grundlage eines polnischen Tarifvertrages entlohnt, da die beauftragte Werkvertragsfirma eine polnische Firma ist. In diesem Betrieb gibt es also drei Formen der Ausnutzung der aktuellen Gesetze, und das gegen die Interessen der Beschäftigten. Das System Rossmann hört hier aber noch nicht auf. Rossmann verdient doppelt: sowohl am gesparten Entgelt als auch an den Gewinnen der Werkvertrags- und Leiharbeitsfirmen. Die Regaleinräumerfirma instore solutions services gehört Rossmann zu 49 Prozent. Die instore solutions personnel GmbH, die Leiharbeitsfirma für die Kasse, gehört Rossmann zu 22,5 Prozent. Die polnische Inventurfirma Invent gehört der genannten Rossmanntochter instore solutions services zu 49 Prozent. Meine Damen und Herren, an diesem Beispiel kann man erkennen, wie Leiharbeit und Werkverträge Hand in Hand gehen, und zwar gegen die Interessen der Beschäftigten. Gute Arbeit und Entlohnungsbedingungen werden zum Auslaufmodell. Die Bundesregierung bzw. Frau von der Leyen weigern sich, diese Realität anzuerkennen. Vor fast genau einem Jahr haben wir die Bundesregierung und Frau von der Leyen zu Werkverträgen befragt. Die Antwort war ernüchternd. Sie sieht keinen Handlungsbedarf, sie weiß nicht, wie viele Menschen über Werkverträge beschäftigt werden und zu welchen Bedingungen sie beschäftigt werden, und sie will es auch nicht herausfinden. Ich sage Ihnen: Es ist an der Zeit, das Schlupfloch Werkverträge zu schließen. ({0}) Die Linke hat dafür gute Vorschläge vorgelegt. Erstens wollen wir das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zur Regel machen, wenn es sich um eine Ausgliederung auf Werkvertragsbasis handelt. Eine Ausnahme von dieser Regel ist die gelegentliche Vergabe von Aufträgen, zum Beispiel an Handwerksfirmen, die für Reparaturarbeiten in einen Betrieb gerufen werden müssen. Zweitens muss als Werkvertrag getarnte Leiharbeit schärfer reguliert werden. Bei Scheinwerkverträgen müssen das auftraggebende und das auftragnehmende Unternehmen bei Verdacht nachweisen, dass ein Werkvertrag gegeben ist. Gelingt das nicht, hat das eine Festeinstellung der betroffenen Beschäftigten beim Auftragsunternehmen zur Folge. Drittens fordert die Linke eine stärkere Mitbestimmung der Betriebsräte bei der Vergabe von Werkverträgen. Mit unseren Vorschlägen wäre dem Missbrauch der Werkverträge als neue Form des Lohndumpings ein Ende gesetzt. ({1}) Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu unseren Anträgen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Statt über das reine Thema Zeitarbeit sprechen wir heute über die Abgrenzung von Werkverträgen und Zeitarbeit. Kollegin Krellmann, lassen Sie mich, bevor wir das Ganze hier emotional debattieren oder emotionalisieren, zunächst in einem kleinen juristischen Exkurs erklären, was Werkverträge sind ({0}) und worum es sich bei der Zeitarbeit handelt. ({1}) - Bei der Zeitarbeit, liebe Kollegin Krellmann. Bei einem Werkvertrag verpflichtet sich der Werkunternehmer, ein bestimmtes Werk zu erbringen. ({2}) Es geht also um eine Werkleistung. Im Gegensatz zur Arbeitnehmerüberlassung besteht kein Schuldverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer, also dem Entliehenen, und dem Werkbesteller, sondern nur hinsichtlich der Herstellung oder Veränderung des Werkes bzw. der Sache. Das Direktionsrecht bleibt beim Werkunternehmer und geht nicht an den Betrieb über. ({3}) Der Arbeitnehmer wird also nicht vom Auftraggeber gesteuert. - Ich bitte Sie also, zunächst einmal zu akzeptieren, wie das juristische Konstrukt aussieht, das dem Ganzen zugrunde liegt. ({4}) Unstrittig ist - hier stimmen wir mit den Grünen überein, aus deren Antrag ich sogar wörtlich zitieren möchte -: Werkverträge sind unter fairen Bedingungen ein regulärer Weg, um beispielsweise die Herstellung eines Produktes oder einer Dienstleistung an externe Unternehmen zu vergeben und so Beschäftigung zu schaffen. Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, zeigt zumindest einen gewissen wirtschaftlichen Durchblick und einen Durchblick für Zusammenhänge. Die Schlussfolgerungen sind in unseren Augen allerdings Denkfehler. Eines kann mit Sicherheit nicht sein - denken Sie an meine juristischen Vorformulierungen von vorhin -, nämlich dass Mitwirkungsrechte des Betriebsrates in das Werkunternehmen hinein zugelassen werden, wie Sie das wollen. Das ist systemwidrig; das gibt das System schlicht und ergreifend nicht her. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie begründen Ihren Antrag damit, dass es eine hohe Zunahme des Missbrauchs gibt. ({5}) Dann verifizieren und beweisen Sie das. Es gilt hier nämlich keine Beweislastumkehr; wenn ich einen Antrag stelle, dann muss ich ihn begründen und die Angaben darin beweisen. ({6}) Sie können hier nicht irgendwelche Beispiele bringen, die Sie vom Hörensagen kennen. Es gibt keine Verifizierung Ihrer Aussagen. Das alles sind Vermutungen. Dass Missbrauch nicht ausgeschlossen ist, ist eine Tatsache, die es im Rechtsleben überall gibt; denn immer, wenn es ein Gesetz gibt, kann man natürlich auch eine Missbrauchsregelung finden. ({7}) Gegen diesen Missbrauch sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber nicht schutzlos. Wir haben Gerichte, die sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. Es gibt Rechtsprechungen, die sehr wohl zwischen Zeitarbeit und Werkverträgen unterscheiden mit den wesentlichen Kriterien „Eingliederung in den Beschäftigungsbetrieb“ und „Weisungsrecht“. Dabei - so sieht es das Bundesarbeitsgericht - ist eine umfassende Würdigung der Begleitumstände vorzunehmen: Aufsicht über die Fremdfirmenarbeiter, Gestaltung von Werkzeugen und Material. Wie ist die materielle Ausstattung? Welchen anderen Geschäftszweck kann ich hier noch erkennen? Das BAG unterscheidet zwischen den vertraglichen Weisungen, die gegenständlich begrenzt sind, und den arbeitsvertraglichen Weisungen. Wenn ich diese Abgrenzungskriterien nehme und den Arbeitseinsatz darunter subsumiere, dann kommt es auf den konkreten Einzelfall an, ob ich Zeitarbeit, illegale Zeitarbeit oder einen Werkvertrag habe. Dafür haben wir heute ausreichende Regelungen. ({8}) Diese Abgrenzungskriterien sind auch praxistauglich, wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat. Ohne zusätzliche Bürokratie für die Arbeitgeber schaffen zu müssen, gelingt es uns, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Die Rechtsprechung akzeptiert nicht die rechtsmissbräuchliche Anwendung von Werkverträgen, liebe Kollegin Krellmann. Was Sie uns glauben machen möchten, ist, dass hier grundsätzlich ein Rechtsmissbrauch vorliegt. Das ist ausweislich nicht der Fall. ({9}) Deswegen sehen wir wie die Mehrheit der Sachverständigen derzeit keinen Bedarf, hier gesetzlich tätig zu werden. ({10}) Ich habe bereits in meiner letzten Rede gesagt: Es gibt hier geradezu ein reflexartiges Rufen nach immer mehr Gesetzen, nach immer mehr Verordnungen und damit am Ende nach immer mehr Bürokratie, ({11}) aus der Vermutung heraus, der böse Arbeitgeber handele gegen den Arbeitnehmer. Hier gibt es aber ein Miteinander, das in diesem Lande sehr gut funktioniert. Sie fordern nun in Ihrem Antrag, die Beweislast dem Arbeitgeber aufzuerlegen. Das ist nicht korrekt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Was die Linken angeht, möchte ich auf die weiteren Punkte nicht eingehen. Sie zeigen einmal mehr, dass sie letztlich ein Abrücken von unserer sozialen Marktwirtschaft wollen, ({13}) dass sie nicht bereit sind, unternehmerische Freiheit zu akzeptieren. Die unternehmerische Freiheit ist Grundlage unseres Wirtschaftssystems; sie hat dieses Land groß und stark gemacht. ({14}) Ich möchte jetzt nicht auf einzelne schwarze Schafe eingehen, ({15}) weil wir hier keine Einzelfalldebatte führen. Wir als Gesetzgeber führen eine Debatte über grundsätzliche gesetzliche Regelungen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lange, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann zuzulassen?

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich rede heute ohne Unterbrechung. ({0}) Worum geht es? Es geht darum, dass wir die Möglichkeiten unserer arbeitsteiligen Wirtschaft aufrechterhalten. Es gibt Dinge, die spezialisierte Betriebe auch in der Automobilindustrie zuliefern. ({1}) Es gibt Ingenieure, die auch sehr gut bezahlt sind, die ein einzelner Betrieb nicht vorhalten muss. ({2}) - Dann aber ist unsere gesetzliche Regelung ausreichend, lieber Kollege Heil. Dann brauchen wir nichts neu zu regeln. - Eines stimmt auch nicht, nämlich dass der, der zuliefert, grundsätzlich schlechter zahlt als der Betrieb, in dem das hergestellte Werk weiterverarbeitet und eingesetzt wird. ({3}) Sollte eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer schon heute Bedenken haben, ob das Vertragsverhältnis korrekt ist, dann brauchen sie kein Aufblähen der Schwarzarbeitskontrolle, sondern dann können sie sich an die Deutsche Rentenversicherung wenden und eine Statusüberprüfung machen lassen, ({4}) so wie wir, die in diesem Feld tätig sind, das zigfach jedes Jahr machen, mit all den rechtlichen Konsequenzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten an einem bewährten System mit von der Rechtsprechung sauber entwickelten Abgrenzungskriterien fest, die sich in der Praxis bewährt haben, die wir juristisch mit Leben gefüllt haben. Ich vertraue weiterhin auf unsere Gerichte und auf das, was wir jetzt als gesetzliche Grundlage haben. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Hubertus Heil von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Lange, niemand bestreitet, dass unternehmerische Freiheit ein konstitutives Moment einer sozialen Marktwirtschaft ist. Aber Sie verwechseln Freiheit mit der Freiheit, Menschen auszubeuten. Das unterscheidet uns möglicherweise. ({0}) Unternehmerische Freiheit in diesem Land ist wichtig, Herr Lange, aber soziale Bürgerrechte und Arbeitnehmerrechte sind genauso wichtig. ({1}) Es geht um den Einklang von sozialen Bürgerrechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unternehmerischer Freiheit. Es ist nicht die Freiheit der Ausbeutung und Lohndrückerei, die unsere soziale Marktwirtschaft verheißt. Vielmehr sind wir in diesem Land gut damit gefahren, mit einer anderen Tradition zu arbeiten. Der Missbrauch - ich rede von Missbrauch - von Zeit- und Leiharbeit wird mittlerweile öffentlich diskutiert. Wir kommen hoffentlich irgendwann über den Mindestlohn in der Zeit- und Leiharbeit hinaus, den wir Ihnen abringen mussten, zu wirksameren Regeln, Stichwort: gleicher Lohn für gleiche Arbeit zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeitern. ({2}) Wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Aber wir müssen auch aufpassen, dass die notwendigen Regulierungen in dem einen Bereich nicht zu Ausweichreaktionen in anderen Bereichen führen. Das ist ein bisschen wie bei Wasser, das sich immer seinen Weg sucht. Sie verfahren hier, vor allen Dingen die Ministerin von der Leyen, die ich vorhin kurz gesehen habe, nach dem alten Bild der berühmten drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen ({3}) ich möchte hinzufügen: vor allen Dingen nichts tun. Sie haben von Beweisen und Beweislast gesprochen. Wir befinden uns hier zwar nicht in einem Strafgerichtsverfahren; aber ich möchte Ihnen juristisch antworten: Nehmen Sie zumindest bestimmte harte Indizien wahr! Wenn auf einer Tagung eines arbeitgeberfinanzierten Instituts zum Thema Werkverträge von findigen Arbeitsrechtlern Hinweise gegeben werden - ich zitiere -, wie „dem Damoklesschwert des Branchenmindestlohns zu entkommen“ ist und dabei vor allen Dingen auf die Möglichkeit der Werkverträge verwiesen wird, dann ist Hubertus Heil ({4}) das ein hartes Indiz dafür, dass wir in diesem Bereich Missbrauch haben. Wenn Sie uns nicht glauben, glauben Sie den Fahndern im Bereich der Kontrolle von Schwarzarbeit. Es gibt massive Hinweise auf diese Form von Missbrauch. Ich gebe eines zu: Dieser Bereich - da haben Sie vollkommen recht - ist nicht öffentlich ausgeleuchtet. Wir könnten uns aber darauf verständigen, das zu machen. Wer kann das machen? Ich finde, es ist Aufgabe einer Bundesministerin für Arbeit und Sozialordnung, Licht in diese dunkle Grauzone zu bringen. ({5}) Das ist Ihre Aufgabe. Sie verweigern sich aber an dieser Stelle. ({6}) Lassen Sie uns zumindest dafür kämpfen, dass es Transparenz gibt. Vielleicht können wir uns darauf einigen. Bevor Sie sagen, das sei überhaupt kein Problem, und die Linkspartei dies für das größte Problem der Welt hält, sollten wir eine Analyse der Lage vornehmen. Dazu muss die Bundesregierung erst einmal bereit sein, die Datengrundlage zu schaffen, was sie verweigert. Dann können wir darüber diskutieren, welche Möglichkeiten es gibt, dem Missbrauch - ich betone: Missbrauch - von Werkverträgen entgegenzuwirken. Sie haben vollkommen recht: Viele Werkvertragsbeziehungen in unserem Wirtschaftsleben sind vollkommen in Ordnung und ermöglichen ein auskömmliches Einkommen. Aber es gibt eben auch sehr starke Hinweise auf Missbrauch. Was kann man tun? Wir sollten beispielsweise über einen gesetzlichen Mindestlohn bei Subunternehmen, die es immer geben wird, reden. Das wäre zumindest eine Möglichkeit, Lohndrückerei bei Ausgliederungen entgegenzuwirken. Auch müssen wir über die Situation von Soloselbstständigen in diesem Land reden, die nicht sozialversicherungsrechtlich abgesichert sind und deshalb oftmals Opfer von Werkverträgen und von Lohndrückerei werden. Das sind zwei handfeste Vorschläge dafür, was wir tun können. Unsere Aufforderung an Sie ist, nicht die Augen zu verschließen. Lohndrückerei ist nicht nur eine Katastrophe für die betroffenen Beschäftigten; das ist sie ohnehin. Wie entwürdigend ist es denn, wenn man hart arbeitet, aber am Ende des Tages keinen gerechten Lohn bekommt und dann auch noch erlebt, dass man durch solche Konstruktionen in der Entlohnung heruntergestuft wird? Wir reden über Menschen, die ohnehin nicht viel verdienen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie über zu viel Leidenschaft in diesem Land klagen, dann fehlen Ihnen vielleicht das Herz und die Empathie für die betroffenen Menschen. Vielleicht ist das Ihr Problem. ({7}) Ich finde, Leidenschaft und Verstand müssen sich nicht ausschließen; sie gehören zusammen. Es geht auch darum, zu erfahren, was Menschen in diesem Bereich erleben. Sie können nicht verkennen, dass die Lohndrückerei über den Missbrauch von Leih- und Zeitarbeit, aber auch über den Missbrauch von Werkverträgen nicht nur für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bitter ist, sondern ökonomisch fatale Folgen in diesem Land hat. ({8}) Wenn wir über wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland reden, müssen wir auch wettbewerbsfähig und exportstark sein. Das ist gar keine Frage. Aber wir müssen auch für Investitionen und vor allem für Kaufkraft am Binnenmarkt sorgen. Lohndrückerei führt dazu, dass wir zwar starke Auswärtsspiele, aber keine starken Heimspiele haben. Dass wir in diesem Land faire Löhne brauchen, ist eine Frage des Anstands gegenüber den betroffenen Menschen. Aber es ist auch volkswirtschaftlich vernünftig, für eine ausreichende Kaufkraft in diesem Land zu sorgen. Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt werden wir dies noch stärker brauchen. Das ist der Grund, warum die SPD-Bundestagsfraktion nicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt eine neue und faire Ordnung am Arbeitsmarkt fordert. Wir müssen das Verhältnis von Flexibilität und Sicherheit am Arbeitsmarkt neu beleuchten und austarieren. Jede Zeit braucht ihre Antworten. Das gilt auch beim Missbrauch von Werkverträgen. Machen Sie die Augen auf! Machen Sie Ihren Job, und verweigern Sie nicht den Blick auf die Realität der Menschen in diesem Land! Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb das Wort. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind praktisch am Ende des ersten Halbjahres 2012 angekommen. Die aktuellen Arbeitsmarktdaten zeigen, dass wir uns als Bundesrepublik Deutschland allen Kassandrarufen zum Trotz in einem schwieriger werdenden konjunkturellen Umfeld hervorragend behaupten. Das will ich zunächst einmal feststellen. ({0}) Lieber Hubertus Heil, vielen Menschen in unserem Land ist mit einem Arbeitsplatz viel besser geholfen als mit Reden, wie sie heute Morgen von der Opposition gehalten werden. ({1}) Es ist dieser schwarz-gelben Koalition Gott sei Dank gelungen, die Beschäftigungszahlen auf einen neuen Rekordstand hochzufahren. ({2}) Hinter diesen Zahlen verbergen sich knapp 1 Million Zeitarbeitnehmer, aber eine ungleich größere Zahl von Arbeitnehmern, die entlang von Zulieferketten in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft beschäftigt sind. Diese Zulieferketten wollen Sie, Linke und Grüne, mit Ihren Anträgen heute unter Generalverdacht stellen. Das halten wir für falsch, um das sehr deutlich zu sagen. ({3}) Ihre Äußerung, Frau Kollegin Krellmann, Sie hätten nichts dagegen, wenn Handwerker gelegentlich ein paar Reparaturarbeiten ausführen, zeigt mir, dass Sie von der Realität in unserer Volkswirtschaft keine Ahnung haben. Sie haben die Zulieferhandwerke, die eine wesentliche Säule des deutschen Handwerks sind, völlig ausgeblendet. Diese Zulieferhandwerke sind in der Regel nicht nur gelegentlich, sondern in festen Beziehungen für ihre Auftragnehmer tätig. Es wird jedes Mal, wenn ein Auftrag kommt, neu über den Preis und die Bedingungen verhandelt, aber dann werden diese Aufträge angenommen. Solche Beziehungen sind über Jahre hinweg stabil. Aber dafür haben Sie offensichtlich kein Ohr. Ich halte das für fatal, weil es die stärksten Betriebe in Deutschland sind, an die Sie die Axt legen wollen. Werkverträge sind nicht nur in der Automobilindustrie wichtig - in diesem Bereich sind sie vielleicht am bekanntesten; dort gibt es auch die größten Zulieferunternehmen -, sondern in jeder Branche. Sie müssen doch sehen, dass Arbeitsteilung auch in komplexen Arbeitsfolgen da stattfindet, wo es sinnvoll ist, und dass sich jemand spezialisiert, ({4}) spezielle Maschinen und spezielles Werkzeug kauft und seine Arbeitnehmer in spezieller Weise ausbildet, um sie effizient einsetzen zu können. ({5}) Es ist völlig richtig, was Kollege Lange gesagt hat: In solchen Zulieferbetrieben können auch die Werkunternehmer ihre Arbeitnehmer in der Regel sehr gut bezahlen, weil sie sich die entsprechenden Wirtschaftlichkeitspotenziale erschließen, was Sie offensichtlich völlig ausblenden. Aber ich weiß auch, woher das kommt. Ihr Denken ist Planwirtschaft pur. ({6}) In der DDR gab es keine Werkunternehmer. Dort gab es VEB, die von A bis Z, vom Anfang bis zum Ende, in einer unglaublichen Fertigungstiefe alles ausgeführt haben. Aber wo das endet oder - besser gesagt - wohin Sie damit gekommen sind, haben Sie doch sehr deutlich gesehen. ({7}) Das wollen wir nicht. Wir wollen auch künftig eine arbeitsteilige Volkswirtschaft, in der mithilfe von Werkverträgen wie in einem Getriebe große und kleine Zahnräder ineinandergreifen. So werden Aufträge bestmöglich abgewickelt und wird die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft auf internationaler Ebene gewährleistet. ({8}) Dort, wo es im Einzelfall möglicherweise zu Missbrauch kommt, ({9}) gibt es bereits heutzutage eine ganze Reihe von Kriterien, die man heranziehen kann. Aber so wie Sie es in Ihren Anträgen formulieren, wird es nicht funktionieren. Es muss unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien immer eine Einzelfallprüfung bzw. Einzelfallentscheidung erfolgen. Aber nun die FKS loszuschicken und die Wirtschaft sozusagen flächendeckend zu scannen, halte ich für falsch. So wie wir es bisher gehandhabt haben, sind wir gut gefahren. Im Einzelfall wird im Rahmen eines Antragsverfahrens der Status eines Arbeitnehmers geprüft und festgestellt. Daran sollten wir auch in Zukunft festhalten. Alles in allem bitte ich Sie sehr herzlich: Lassen Sie die Kirche im Dorf! Wir brauchen die ganze Bandbreite von Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland. Ich weiß, lieber Hubertus Heil, dass Ihr Herz an der unbefristeten und unendlich mitbestimmten Vollzeitstelle hängt; das ist Ihr Ideal. Aber die Realität sieht anders aus. Neben den von Ihnen favorisierten Arbeitsverhältnissen, die nach wie vor die Mehrzahl der Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland darstellen, tragen Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse, Zeitarbeit sowie Mini- und Midijobs dazu bei, dass wir so erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt sind, wie es die aktuellen Zahlen widerspiegeln. ({10}) Lassen Sie also die Kirche im Dorf! Marschieren Sie nicht einfach los, um flächendeckend einen ganzen Wirtschaftszweig unter Generalverdacht zu stellen! Sie sollten mit Augenmaß vorgehen. Wir werden versuchen, Ihnen das in den Beratungen noch etwas näherzubringen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Beate MüllerGemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu viele Unternehmen nutzen gezielt das Instrument Werkvertrag, um ihre Lohnkosten zu senken. Das unterstelle ich nicht leichtfertig, sondern das ist schlichtweg Realität in Deutschland. Offensichtlich wurde das auch bei einem Kongress zweier bekannter Arbeitsrechtler. Beide erklärten im vergangenen Jahr einer Reihe illustrer Unternehmen, wie Leiharbeitstarife durch Werkverträge umgangen werden können. Schon bei der Begrüßung der 130 hochrangigen Teilnehmer aus der deutschen Industrie erklärten sie, es gebe eine Chance, den strengen arbeitsrechtlichen Regelungen der Leiharbeit zu entfliehen. Anschließend wurde gezeigt, wie dies rechtlich wasserdicht möglich ist. So etwas bezeichne ich als krisenhafte Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Es fehlen klare Regelungen und effektive Kontrollen. Die Bundesregierung aber ignoriert auch dieses Thema ganz nach der altbekannten Devise „Augen zu und durch“. ({0}) Rund um die Werkverträge werden also Vorschriften missachtet. Arbeitgeber bewegen sich in der Grauzone geltender Gesetze. Mithilfe von juristischen Beratern werden vermeintlich legale rechtliche Konstruktionen entwickelt. Mit diesen nutzen sie Werkverträge, um tarifliche Standards zu umgehen. Die Folge sind Lohndumping und in vielen Fällen schlechtere Arbeitsbedingungen. Das geht zulasten der Sozialversicherung und der Steuereinnahmen und insbesondere zulasten der Beschäftigten. Hier dreht sich das Lohndumpingkarussell weiter: vom Missbrauch der Leiharbeit hin zum Missbrauch von Werkverträgen. Die Bundesregierung sollte das endlich zur Kenntnis nehmen. ({1}) Die Zahl der Scheinwerkverträge lässt sich nicht genau beziffern. Im Einzelhandel wird geschätzt, dass mittlerweile mehr als 100 Fremdfirmen mit 350 000 Beschäftigten Regale einräumen. In der Fleischindustrie ist es inzwischen üblich, dass 80 bis 90 Prozent der Beschäftigten aus Subunternehmen kommen. Das IAW Tübingen schätzt, dass in der Automobilindustrie nur noch 23 Prozent des Wertes eines Pkw von den Beschäftigten des Herstellers und 77 Prozent über Subunternehmen erzeugt werden. Gleichzeitig rechnen Wissenschaftler mit einer wesentlich höheren Dunkelziffer. Da frage ich mich wirklich: In welcher Welt leben wir eigentlich? Mit Werkverträgen werden der Kündigungsschutz, die betriebliche Mitbestimmung, die tarifliche Bezahlung und somit der soziale Schutz der Beschäftigten unterlaufen. Das ist die eine Sache. Ich mache mir aber auch Sorgen, was dies insgesamt für unsere Arbeitswelt bedeutet. Wenn immer mehr Beschäftigte auf der Grundlage von Werkverträgen auf demselben Betriebsgelände am selben Produkt arbeiten, dann zersplittern die Belegschaften. Kollegialität und innerbetriebliche Solidarität werden zerstört. Konkurrenz, Unsicherheit und Misstrauen entstehen. Das ist schädlich für das Betriebsklima sowie auch für die Motivation und die Identifikation der Beschäftigten mit dem Betrieb. Die gewerkschaftlichen Errungenschaften, die über lange Zeit hart erkämpft wurden, stehen nur noch auf dem Papier. Das schwächt nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte. Vor allem aber wird mit dem Geschäftsmodell „Werkverträge“ der jahrzehntealte gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Das können Sie, die Regierungsfraktionen, doch wohl nicht unterstützen. Gesellschaftliche Verantwortung sieht anders aus. ({2}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen lehnen Werkverträge nicht grundsätzlich ab. Wenn Werkverträge für fachfremde Aufgaben mit gelegentlichem Charakter, für Vorprodukte oder spezialisierte Tätigkeiten vergeben werden, ist das unbedenklich. ({3}) Das sehen wir auch so. Es entspricht einer modernen Arbeitswelt. Problematisch wird es aber, wenn Stammbelegschaften durch Werkvertragsbeschäftigte ersetzt werden, die die gleichen Tätigkeiten verrichten, wodurch eine Konkurrenzsituation bei Löhnen und Arbeitsbedingungen entsteht. Dann geht es eben nicht mehr um ein „Werk“ und schon gar nicht, wenn in tariffreie Zonen und billigere Tarifverträge verlagert wird. Für mich ist das schlichtweg Tarifflucht und Lohndumping. Und für mich gilt dann auch nicht der Verweis auf die Vertragsfreiheit. Hier geht es um Scheinwerkverträge, und beim Lohndumping hört die unternehmerische Freiheit auf. ({4}) Genau deswegen haben wir uns mit der Abgrenzung zwischen Leiharbeit und Werkverträgen beschäftigt. In unserem Antrag schlagen wir Kriterien vor, wie Scheinwerkverträge identifiziert werden können. Das bringt mehr Rechtssicherheit, und die Kriterien sind dann auch die Grundlage für Kontrollen. Zukünftig sollen auch die Betriebe - und eben nicht die Beschäftigten - den Nachweis erbringen, dass ein Werkvertrag und keine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung vorliegt. Vor allem aber soll die Finanzkontrolle Schwarzarbeit auch ohne Hinweis prüfen können. Sie muss auch personell aufgestockt werden. Das Geschäftsmodell „Scheinwerkvertrag“ darf nicht weiter lukrativ sein. Auch hier brauchen wir soziale Leitplanken zum Schutz der Beschäftigten. ({5}) Sehr geehrte Regierungsfraktionen, nehmen Sie sich endlich des Themas an, auch wenn Sie heute unseren Antrag wieder ablehnen. Die Arbeitswelt wird immer unmenschlicher, denn mit Scheinwerkverträgen kann man Menschen gewinnbringend als Sachausgaben verbuchen. Schließen Sie endlich das gesetzliche Schlupfloch; denn jegliche Arbeit hat ihren Wert und verdient Wertschätzung. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist, finde ich, ganz okay, wenn die Opposition auf Probleme hinweisen will. Herr Kollege Heil hat aber, an die Adresse der Regierungsfraktionen gerichtet, vorgetragen, dass wir angeblich das Thema „Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern“ nicht im Blick hätten, dass es an der notwendigen Empathie für die betroffenen Menschen fehle ({0}) und dass wir Lohndrückerei akzeptieren würden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Gedächtnis der Sozialdemokraten scheint sehr kurz zu sein. Es war die rot-grüne Koalition unter Schröder, die mit ihrem Gesetz zur Leiharbeit dem Missbrauch der Leiharbeit Tür und Tor - das waren riesengroße Scheunentore - geöffnet hat. Das sind die Fakten. ({1}) Es ist diese Koalition aus CDU/CSU und FDP, die mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - da geht es um Leiharbeit - die notwendige Ordnung, die wir in diesem Land brauchen, wieder hergestellt ({2}) und das, was Rot-Grün angerichtet hat, endlich korrigiert hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr, Herr Kollege Heil.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Weiß, Entschuldigung, dass ich Ihren zackigen Vortrag unterbreche. Ich wollte nur eine Frage stellen, unabhängig davon, wer was früher gemacht hat und dass Sie in diesem Bereich noch mehr wollten. Lassen Sie uns die Vergangenheit einen kurzen Moment ausklammern und überlegen, was wir heute und jetzt tun. Ich habe nur eine Frage: Wann setzen Sie endlich den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in der Zeit- und Leiharbeit durch? Sind Sie dazu in der Lage? Ich frage Sie, weil ich weiß, dass Sie persönlich Sympathien dafür haben. Aber wenn ich Teilen Ihrer Koalition, nicht Ihnen persönlich, Empathie an diesem Punkt abspreche, liegt das einfach daran, dass ich in die Bibel geschaut habe. Da steht der schöne Satz: An den Früchten sollt ihr sie erkennen. - Ich erlebe, dass Sie für die Ordnung am Arbeitsmarkt rein gar nichts tun. Wann kommt Ihr Gesetzentwurf für gleichen Lohn für gleiche Arbeit in dieses Parlament? Unserer liegt vor. Nennen Sie mir einfach ein Datum.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Heil, um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Wir haben den Missbrauch der Leiharbeit - Drehtüreffekt à la Schlecker - per Gesetz unterbunden. ({0}) Wir haben das Gesetz aus Ihrer Regierungszeit korrigiert. Wir haben, um Lohndrückerei durch Leiharbeit zu vermeiden, eine Regelung in das Gesetz aufgenommen, ({1}) die besagt, dass eine untere Lohngrenze für die Leiharbeit geschaffen werden kann. Seit dem 1. Januar dieses Jahres gilt die untere Lohngrenze für die Leiharbeit bundesweit, im Unterschied zu dem, was Sie ins Gesetz geschrieben hatten. ({2}) Im Zusammenhang mit der damaligen Diskussion hat die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen, angekündigt, dass wir zuerst den Tarifpartnern die Gelegenheit geben wollen, durch Tarifverträge ({3}) für die Leiharbeiter die schrittweise Angleichung der Löhne nach dem Grundsatz „Gleiche Bezahlung wie die Festangestellten“ zu realisieren, ({4}) bevor wir gesetzgeberisch handeln. Peter Weiß ({5}) ({6}) - Nein. - Das heißt nicht, dass wir nicht gesetzgeberisch handeln würden, sondern wir freuen uns, ({7}) dass die IG Metall ({8}) Branchenzuschläge für die Leiharbeit tarifvertraglich vereinbart hat. ({9}) Wir freuen uns, dass die IG BCE ebenfalls branchenbezogene Zuschläge, bei denen man je nach Monat gestaffelt mehr verdient, für Leiharbeiter vereinbart hat. ({10}) Wir freuen uns, dass der Vorstand von Verdi und der Vorstand der NGG beschlossen haben, ebenfalls über Tarifverträge für branchenbezogene Zuschläge zu verhandeln. Das heißt, aufgrund unserer konkreten Aufforderung schließen die Tarifpartner Vereinbarungen ab. ({11}) - Natürlich. Wir haben gesagt: Wenn ihr nichts macht, dann handeln wir. - Jetzt handeln die Tarifpartner. Es ist doch ein großartiger Erfolg, dass es die Tarifpartner selber schaffen, branchenbezogene Zuschläge für die Leiharbeit zu realisieren. ({12}) Herr Kollege Heil, deswegen muss man fair gegenüber den Tarifpartnern sein. ({13}) - Langsam. - Man muss als Parlament und als Regierung so fair gegenüber den Tarifpartnern sein, ihnen zunächst die Gelegenheit zu geben, das, was notwendig ist, durch eigene Vereinbarungen zu regeln. Ich halte noch einmal fest: Rot-Grün hat dem Missbrauch der Leiharbeit Tür und Tor - das waren Scheunentore - weit geöffnet. ({14}) Wir, die christlich-liberale Koalition, sorgen wieder neu für Ordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das sind die Fakten. ({15}) Natürlich missfällt das der Opposition; denn sie muss zur Kenntnis nehmen, dass wir am Arbeitsmarkt eine positive Entwicklung haben, die ihresgleichen sucht. ({16}) Wir haben den höchsten Stand an Beschäftigung, den wir in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg hatten. Es handelt sich um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, nicht um prekäre Beschäftigung. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland wächst. Darüber sollten wir uns eigentlich freuen, und diese Entwicklung sollten wir nicht schlechtreden. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weiß, der Kollege Meßmer würde gern ebenfalls eine Zwischenfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das ist aber jetzt die letzte Zwischenfrage, die ich bei dieser Rede zulasse.

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schönen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit. Ich fand es sehr stark, wie Sie eben die Gewerkschaften gelobt haben.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben aber auch zur Kenntnis genommen, dass alle Gewerkschaften, die Sie gelobt haben, von der Politik gefordert haben, dass man endlich eine gesetzliche Regelung für „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ und vor allen Dingen eine gesetzliche Regulierung von Werkverträgen schafft. Diese Information haben Sie doch auch. Ich gehe davon aus, dass Sie angesichts des Lobs der Gewerkschaften diese Forderung zumindest persönlich unterstützen werden. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, um es Ihnen präzise zu beantworten: ({0}) Ich schließe nicht aus, dass wir zum Grundsatz „Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit im Bereich Leiharbeit“ auch gesetzgeberisch etwas regeln müssen. Ich habe vorhin ausgeführt: Die Aussage der Bundesministerin für Arbeit und Soziales war und ist: Wir wollen zunächst den Tarifpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern, die Gelegenheit geben, mit Zuschlägen dieses Prinzip im Tarifvertrag zu regeln. ({1}) So war die klare Aussage. Deswegen ist es nur fair und richtig, den Tarifpartnern diese Gelegenheit zu geben. Peter Weiß ({2}) Das Positive ist doch: Die Tarifpartner nutzen die Gelegenheit, indem sie solche Vereinbarungen treffen. Jetzt warten wir einmal darauf, was Verdi und NGG bei ihren Verhandlungen zustande bringen, und dann schauen wir weiter. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Weiteres, was wir ebenfalls feststellen sollten, ist: Die erfreuliche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass Lohnerhöhungen wieder möglich werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in der Krise auch durch Lohnverzicht in einem großartigen Zusammenwirken der Sozialpartner mit dafür gesorgt, dass Deutschland schneller als alle anderen Industrienationen aus der Krise herausgekommen ist. ({4}) Deswegen sind Lohnerhöhungen, die dieses Wort verdienen, heute wieder möglich. Außerdem sollten wir feststellen: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland profitieren in dieser Zeit zu Recht vom wirtschaftlichen Fortschritt in unserem Land. Auch das ist eine positive Nachricht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({5}) Die Opposition führt diese Diskussion aus einem Grund - das wollte ich klarstellen -: Sie will dieses Ergebnis schlechtreden. Klar, „Werkverträge“ ist ein Thema. Aber gerade 1,7 Prozent der Erwerbstätigen sind in Werkverträgen. ({6}) - Das sagt uns das IAB. - 1,7 Prozent! Das zeigt: Das ist kein Massenproblem, sondern es ist ein relativ bescheidenes Problem. Ich will klar und deutlich sagen: Man kann die Methode fortführen, die die Opposition anwendet. Mit der Aufbietung von vielen kleinen Problemen, die es gibt - ich will sie nicht wegreden -, versucht man, die hervorragende Entwicklung am Arbeitsmarkt kaputtzureden. Sie müssen nur eins verstehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Wir als Regierungskoalition werden den Weg, der weiter zu wirtschaftlichem Erfolg, zu mehr Beschäftigung und auch zu einem höheren Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer führt, konsequent weitergehen und uns nicht durch Ihre Miesmacherei schlechtreden lassen. Das ist der entscheidende Punkt; das will ich in dieser Debatte festhalten. ({7}) Das Nächste ist: Wir haben es natürlich mit der Situation zu tun, dass offensichtlich - weil es in der Leiharbeit bestimmte Regelungen gibt - versucht wird, auf das Thema Werkverträge auszuweichen. Das ist das, was Sie als Problem dargestellt haben. Deswegen werden wir dieses Problem sehr aufmerksam verfolgen und beobachten. ({8}) Das ist richtig; das ist unsere Aufgabe. Dass Sie das uns und der Ministerin absprechen, wundert mich etwas. Aber der entscheidende Punkt ist doch - das hat der Kollege Uli Lange in seiner Rede zu Beginn der Debatte klar, deutlich und präzise vorgetragen -: Wir haben klare gesetzliche Regelungen, was Werkvertrag ist und was nicht. Wir haben Rechtsprechung dazu, was Werkvertrag ist und was nicht. Wir haben die Möglichkeit, zu kontrollieren, ob ein Werkvertrag vorliegt oder nicht, und der Arbeitnehmer hat die Möglichkeit, seinen Status bei der Deutschen Rentenversicherung feststellen zu lassen, nämlich ob er Selbstständiger ist oder ob er abhängig Beschäftigter ist. Das alles haben wir. Da ist doch das Allererste, was man sagen muss: Wenn der Verdacht vorliegt, es würde Missbrauch betrieben, dann müssen wir das, was wir an klaren rechtlichen Regelungen haben, nutzen. Die Antwort kann nur sein: Wenn Verdacht auf Missbrauch vorliegt, dann bitte kontrollieren und eine Feststellung des Status bei der Deutschen Rentenversicherung vornehmen lassen. Unser Punkt ist, zunächst einmal das, was wir an rechtlichen Regelungen haben, zu nutzen, bevor der Ruf nach neuen Gesetzen laut wird. ({9}) Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, kann ich den Vorwurf nicht akzeptieren, die Koalition würde Lohndumping tolerieren oder stillschweigend hinnehmen. ({10}) - Entschuldigung! ({11}) Zu einer sozialen Marktwirtschaft gehört guter Lohn für gute Arbeit konstitutiv dazu. ({12}) Peter Weiß ({13}) Deswegen gelten heute übrigens in zehn Branchen in Deutschland Mindestlohnregelungen. Das ist ein Vielfaches von dem, was zu Regierungszeiten von Rot-Grün gegolten hat. Herr Heil, Sie wollten uns doch an den Taten messen. Die Taten sind: Auch mit der FDP sowie der CDU und CSU an der Regierung gibt es heute in Deutschland in zehn Branchen, in denen die Situation besonders sensibel ist und bei denen man den Verdacht haben musste, dass Lohndrückerei stattfindet, Mindestlohnregelungen. Die gab es zu Zeiten von Rot-Grün nicht. Das ist doch ein Fakt. ({14}) Ich denke, das werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land zur Kenntnis nehmen. ({15}) - Herr Kollege Heil, Sie wissen ganz genau, woran das liegt: ({16}) weil es die Weiterbildungsbranche besonders schwer hat ({17}) - nein! -, den notwendigen Prozentsatz der Tarifbindung tatsächlich nachzuweisen. Daran arbeitet die Branche fleißig, ({18}) und wir, Herr Heil, sollten sie dabei unterstützen. Entschuldigung! Der Punkt ist doch: Sie haben in diesem Bereich überhaupt keine Ordnung geschaffen. ({19}) Wir schaffen die Ordnung, und dann beklagen Sie, dass binnen eines halben Jahres nicht alles in Ordnung gebracht ist, was Sie angerichtet haben. ({20}) In der Anhörung, die der Ausschuss für Arbeit und Soziales zu diesem Thema durchgeführt hat, war es auffallend, dass sich die allermeisten Experten äußerst zurückhaltend zu der Frage geäußert haben, ob man mit neuen, anderen gesetzlichen Regelungen die Zahl der Werkverträge stärker eingrenzen könnte. Das zeigt: Ja, es ist Wachsamkeit geboten, notfalls muss man vielleicht auch gesetzlich regeln. Aber es sollte auch gelten: Wir, das Parlament, sollten die von uns gemachten Gesetze - sie sind von uns Parlamentariern beschlossen worden zur Anwendung bringen; ({21}) wir sollten die Kontrollmöglichkeiten, die wir als Gesetzgeber geschaffen haben, nutzen und zur Anwendung bringen, ({22}) bevor wir den Ruf erheben, neue Gesetze zu schaffen, die dann vielleicht erst recht nicht praktikabel sind. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sollten angesichts des Aufschwungs am deutschen Arbeitsmarkt froh und stolz sein. Wir sollten die Probleme, die es gibt, selbstverständlich offen benennen, aber nicht die Erfolge am Arbeitsmarkt kaputtreden. Wir sollten die gesetzlichen Instrumentarien, die für die Kontrolle zur Verfügung stehen, offensiv nutzen. Dann kann auf dem deutschen Arbeitsmarkt in der Tat die notwendige Ordnung hergestellt werden, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Recht erwarten. Vielen Dank. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ottmar Schreiner. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Herr Kollege Kolb, ich erkläre Ihnen nicht die Welt, obwohl Sie es eigentlich nötig hätten; aber das ist ein anderes Thema. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu den letzten Bemerkungen vom Kollegen Weiß: Das, was Sie hier im Plenum verkünden, klingt alles ein bisschen wie eine militärische Befehlsausgabe. ({1}) Die letzte Losung der militärischen Befehlsausgabe lautete: Die jetzige Regierung reguliert und repariert die Schäden, die Rot-Grün auf dem Arbeitsmarkt angerichtet hat. ({2}) Jetzt sagen alle: So ist es, ja, ja!, und nicken zustimmend. Nennen Sie mir ein einziges Beispiel, bei dem die Union oder gar die FDP dagegen gewesen wäre. Sie haben alles bejubelt, was hier vorgetragen worden ist. Sie sind die allerletzten, die Anlass haben, das zu kritisieren. ({3}) - Jemand, der allem zugestimmt hat, sollte gefälligst die Schnauze halten - um im militärischen Jargon zu bleiben -, sollte gefälligst den Mund halten - um es parlamentarisch auszudrücken. ({4}) Der Kollege Kolb hat den Kollegen Heil ein bisschen angemistet nach dem Motto: Er hängt den altmodischen Vollzeitarbeitsverhältnissen nach, die sozialversicherungsrechtlich geschützt sind. Er sagt es so, als ob das eine Geschichte von vorgestern sei. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Kolb: Die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Familie gründen und ernähren wollen, sind auf ein festes, auf Dauer angelegtes sozial geschütztes Arbeitsverhältnis angewiesen. Das ist auch ein elementares Stück Familienpolitik. ({5}) Diejenigen, die in zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen, in Leiharbeitsverhältnissen und in miserabel bezahlten Arbeitsverhältnissen arbeiten, können ihre Familien damit nicht ernähren. Deshalb ist das normale Arbeitsverhältnis historisch eine Errungenschaft, die wir unter keinen Umständen preisgeben dürfen. Zum ersten Mal wird Arbeit so gestaltet, dass der Ertrag der Arbeit auch vor Risikofällen und vor Unsicherheiten schützt, in denen nicht gearbeitet werden kann: bei Krankheit, im Alter, bei Arbeitslosigkeit. Das werden wir unter keinen Umständen preisgeben, lieber Kollege Kolb. Das ist ein Erbe, das wir mit allen Kräften verteidigen werden. ({6}) Es wird gesagt: Es handelt sich um einzelne schwarze Schafe. Es handelt sich nicht um einzelne schwarze Schafe ({7}) - Ja, es ist eine schwarze Herde. Der Begriff „schwarze Schafe“ lockt ein bisschen, darauf einzugehen, aber ich lasse es bleiben. Es handelt sich nicht um einzelne schwarze Schafe. Ich nenne Ihnen ein Beispiel des Kollegen Rebmann. Er vertritt den Wahlkreis Mannheim. Er hat mir vorhin einen Zettel zugeschoben. In Mannheim gibt es die Firma MetoKote. Es ist ein amerikanisches Unternehmen. Es ist Zulieferer für John Deere bei der Lackherstellung. Diese Firma hat 50 Beschäftigte. Von diesen 50 Beschäftigten sind 24 Leiharbeiter, 25 haben eine befristete Stelle, und einer ist fest angestellt. Jetzt erzählen Sie mir etwas von einzelnen schwarzen Schafen. Es ist unglaublich, dass eine solche Konstruktion von Arbeitsbeziehungen in einer Firma in Deutschland legal sein kann. Das sind Beschäftigungsverhältnisse, von denen anständigerweise eine Familie nicht ernährt werden kann. Es sind in weiten Teilen Tagelöhnerverhältnisse für ein oder zwei Jahre. Danach beginnen die Sorgen von vorn. Also: Sie sollten die Situation nicht verniedlichen. Ungefähr 6 Millionen Leute haben zeitlich befristete Arbeitsverträge. Wir haben knapp 1 Million Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer. Wir haben 7 Millionen sogenannte Minijobverhältnisse. Wir haben einen Missbrauch bei den Werksarbeitsverträgen. Wir haben Missbrauch im Bereich der Praktikanten. Fast ein Drittel der deutschen Arbeitsverhältnisse befindet sich im prekären Bereich. ({8}) - Die Welt ist überhaupt nicht schlecht, aber Sie machen nichts, um die Welt zu verbessern. Das ist das Problem. ({9}) Der Kollege Weiß greift uns an, was wir in unserer Regierungszeit beim Thema Leiharbeit gemacht hätten und was wir alles versäumt hätten. Herr Kollege Weiß, Sie haben vergessen, die Machenschaften der sogenannten christlichen Gewerkschaften darzustellen. Erst durch die Tarifverträge - 4 Euro, 5 Euro, 5,50 Euro Bruttolohn in der Stunde -, die die sogenannten christlichen Gewerkschaften - was daran christlich ist, weiß der Teufel - abgeschlossen haben, ist das Ganze in den Sumpf geglitten. Erst durch diese Entwicklung vor einigen Jahren, ist es zu dieser Situation gekommen. ({10}) Sie müssen doch etwas zu ihren Betbrüdern sagen, meine Damen und Herren von der Union. Das wird natürlich alles verschwiegen. Sie verschweigen auch, dass Sie dem allen zugestimmt haben. - Wie dem auch immer sei. Es geht also nicht um einzelne schwarze Schafe, sondern um eine sehr systematische Arbeit. Der Kollege Weiß sagt, seitdem es die Lohnuntergrenze bei der Leiharbeit gibt, gibt es immer mehr Missbrauch bei den Werkverträgen. Ich zitiere Professor Düwell vom 19. April 2012. Düwell war über zehn Jahre Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht. Er kennt also die Materie. Düwell schreibt in seiner Stellungnahme zu den in Rede stehenden Anträgen: Nachdem die Lohnuntergrenze zur Regulierung der Leiharbeit Anfang 2012 in Kraft getreten ist, wurde auf einer großen Schulungsveranstaltung für Geschäftsführer und Arbeitsrechtler von prominenten Münchner Arbeitsrechtsprofessoren empfohlen, gezielt betriebliche Funktionen auf Werkvertragsnehmer zu verlagern, um Tariflöhne und die für Leiharbeitnehmer geltenden Mindestentgeltsätze zu unterlaufen. Ich frage einmal ganz nebenbei: Was ist das für ein Ethos, wenn hochverdienende Arbeitsrechtsprofessoren ihre gesamte Fantasie darauf verschwenden, wie sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Dumpinglöhne hineinbringen können? ({11}) Das ist wirklich unglaublich! ({12}) Dieser Methodenwechsel - heraus aus der inzwischen leicht anregulierten Leiharbeit, denn mehr ist das nicht, hinein in den massiven Missbrauch der sogenannten unechten Werkverträge, wobei die Leute noch weniger verdienen als bei der Leiharbeit - wird in Deutschland systematisch betrieben. Da kann die Koalition nicht so tun, als gebe es das nicht. ({13}) - Wie bitte? ({14}) - Es fehlt überhaupt kein Beweis. Es gibt ja auch andere Professoren. ({15}) - Herr Kollege Wadephul, ich zitiere hier Professor Düwell, der in seiner schriftlichen Stellungnahme ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Es gibt übrigens auch noch andere Arbeitsrechtsprofessoren, an anderer Stelle und institutionalisiert, die sich in ähnlicher Weise betätigen. Ich sage Ihnen nochmals: Mir will nicht in den Kopf, dass zu Recht gutverdienende deutsche Professoren ihre Fantasie und ihr Hirnschmalz darauf verwenden, mit dafür zu sorgen, dass Menschen möglichst wenig verdienen. Das ist unglaublich! ({16}) Der Kollege Kolb hat in einem weiteren lichtvollen Moment gesagt, die Opposition würde die sogenannten Zulieferketten unter Generalverdacht stellen. Herr Kollege Kolb, das ist wie üblich grober Unfug. Hier stellt niemand die Zulieferketten unter Generalverdacht. Die Opposition - und das ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit - schaut lediglich einmal genauer hin, ob und inwieweit insbesondere im Bereich der Zulieferketten Lohndumping betrieben wird. Das ist doch unser gutes Recht! Es wäre im Übrigen auch Ihr gutes Recht. Ich will Ihnen zu diesem Punkt ein Zitat nicht ersparen, weil es die gesamte Problematik sehr anschaulich schildert. Es stammt aus den Nürnberger Nachrichten vom 25. April 2012. Das Zitat stammt aus einer Veranstaltung, die gemeinsam von der Bundesagentur für Arbeit, der Stadt Nürnberg und dem IAB in Nürnberg durchgeführt worden ist. In den Nürnberger Nachrichten heißt es dazu: Eberhard Sasse, Chef und Inhaber einer Gebäudereinigungsfirma mit 5 000 Mitarbeitern … schildert, wie Mercedes mit ihm um die Reinigung der Fertigungshallen feilschen wollte. Der Premiumautohersteller ließ durchblicken, ein Wettbewerber habe ein günstigeres Putzangebot vorgelegt, er zahlt den Mitarbeitern weniger. Sasse: „Ein so niedriger Lohn reicht in Stuttgart nicht zum Leben.“ Mercedes: „Dann müssten die Mitarbeiter eben aufstocken, die Kommune zahlt zum Existenzminimum drauf.“ Sasse: „Die S-Klasse aus Ihrem Haus kostet 100 000 Euro? Und dann wollen Sie unsere Dienste unter Wert einkaufen. Und Sie wollen, dass die Aldi-Kassiererin über ihre Steuern Ihre Putzkolonne mitbezahlt?“ Nein, das wollte der Einkaufsmanager des Autoherstellers so dann doch nicht. Sasse schließt seinen Exkurs: „Wir haben den Auftrag bekommen.“ Die Nürnberger Nachrichten schlussfolgern: Oft läuft es anders, jeder - ich füge hinzu: außer Ihnen, Herr Kolb. - weiß das. Der Billigheimer macht das Rennen. Und dann? Die Billiglohnfirma verdrängt die anständig bezahlende Konkurrenz und bleibt selbst am Markt. Das heißt, der anständige Löhne zahlende Unternehmer ist der Dumme. Das ist geltendes Recht hier in Deutschland, lieber Herr Kollege Kolb. Das darf so nicht bleiben. ({17}) Es gibt eine ganze Reihe von Antworten. Da sich meine Redezeit dem Ende zuneigt, will ich Ihnen, lieber Kollege Kolb, noch ein letztes Zitat mit auf den Weg geben. Wir haben eine Fülle von Vorschlägen gemacht, nicht nur in Sachen „unechte Werkverträge“. Wir haben Vorschläge gemacht zum Mindestlohn, insbesondere zur erleichterten Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, um in den unteren Lohnbereichen vernünftige Regulierungsmechanismen zu erwirken. Sie wehren sich bis zur Stunde entschieden unter anderem gegen den Mindestlohn. Das Zitat lautet: … [es gibt] doch einen bestimmten Satz, unter den der gebräuchliche Lohn selbst der geringsten Art von Arbeit nicht auf längere Zeit heruntergebracht werden zu können scheint. Es muss ein Mensch durchaus von seiner Arbeit zu leben haben, und der Arbeitslohn muss wenigstens hinreichend sein, um ihm den Unterhalt zu verschaffen. Ja, er muss in den meisten Fällen noch mehr als hinreichend sein, sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, eine Familie zu gründen. Das ist die klassische Forderung, das klassische Verlangen nach einem existenzsichernden Mindestlohn, mit dem man auch eine Familie ernähren kann. Wissen Sie, von wem diese Forderung ist? Diese Forderung ist von dem Urvater der politischen Ökonomie.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nicht von Karl Marx, sondern von Adam Smith. Die Forderung stammt aus dem Buch Der Reichtum der Nationen von 1786. ({0}) - Lieber Herr Kollege Kolb, Sie sind weit hinter 1786 zurückgeblieben. Sie sollten einiges dafür tun, um sich diesem Datum allmählich zu nähern. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schreiner, wenn ich Sie reden höre, ({0}) bin ich mir nicht immer so ganz sicher, ob Sie die Wirklichkeit tatsächlich so wahrnehmen, wie Sie sie hier schildern, oder ob Sie sie ganz bewusst dramatisieren. ({1}) Da Sie von der Opposition sind, vermute ich, dass Sie sie ganz bewusst dramatisieren. ({2}) Manchmal bin ich da aber unschlüssig, wenn ich sehe, mit welchem Engagement und welchem Pathos Sie hier auftreten, wenn Sie die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt schildern. Ich biete Ihnen an, dass wir die Sommerpause nutzen, um uns vor Ort gemeinsam über die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Mannheim zu informieren. Wir könnten das Unternehmen, über das Sie eben gesprochen haben, aber auch die Situation Beschäftigter anderer Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt am Beispiel Mannheim anschauen. Dazu bin ich gerne bereit. Ich glaube, da wird sich ein Bild ergeben, das weit weniger düster ist als jenes, das Sie hier skizzieren. ({3}) Sicherlich gibt es an der einen oder anderen Stelle auf dem deutschen Arbeitsmarkt den Missbrauch von Werkverträgen, aber es gibt heute bereits Gesetze, durch die der Missbrauch bekämpft werden kann. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung kann im Rahmen einer Prüfung gemäß § 2 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes auch Werkverträge prüfen, und sie tut es. Die Rentenversicherungsträger können Werkverträge prüfen, und sie tun es. ({4}) Zu den tatsächlichen Zahlen - das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen -: Im Jahr 2010 gab es im Zuge dieser Kontrollen 64 abgeschlossene Strafverfahren und 1 267 abgeschlossene Ordnungswidrigkeitsverfahren, übrigens mit rückläufiger Tendenz im Vergleich zu den Vorjahren. Stellen Sie sich das einmal vor: 64 abgeschlossene Strafverfahren gegenüber 28 Millionen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter und 4 Millionen Selbstständigen in Deutschland - das ist eine verschwindend geringe Zahl. Die derzeitige Gesetzeslage reicht aus, um Missbrauch zu bekämpfen. Ich sehe keinen Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, weitere Regulierungen und Kontrollen einzuführen. ({5}) Nun kann es ja Ihr subjektives Empfinden sein, dass auf dem Arbeitsmarkt alles ganz schlimm ist. ({6}) Die christlich-liberale Koalition orientiert sich aber nicht am subjektiven Empfinden, sondern an Fakten, und die Fakten sprechen eine andere Sprache als das, was Sie hier zeichnen. Dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit den bestehenden Gesetzen handlungsfähig ist, zeigen insbesondere die jüngsten Ermittlungen gegen zwei große deutsche Einzelhandelsunternehmen. So reichte der bloße Verdacht auf illegale Arbeitnehmerüberlassung aus, um bundesweite Ermittlungen gegen diese beiden Unternehmen einzuleiten. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass die bestehende Gesetzeslage ausreicht und dass gegen Missbrauch in Deutschland bereits vorgegangen wird. Werkverträge gibt es wahrscheinlich schon länger als Adam Smith, Herr Schreiner. In Deutschland sind sie seit über 100 Jahren Bestandteil des Bürgerlichen Gesetzbuches. Sie haben sich - das haben der Kollege Kolb und auch andere Redner der Koalition schon eindrücklich dargelegt - in der Praxis bewährt. Letzten Endes sind sie das Fundament des Wirtschaftssystems, in dem wir leben. ({7}) Das durch Gesetze kaputtzumachen oder - was eigentlich noch schlimmer ist - kaputtzureden, wie Sie das auf dramatische Weise tun, ist der Sache in keinster Weise angemessen. Sie machen den Menschen Angst, statt ihnen die Augen für die tatsächliche Lage in Deutschland zu öffnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich bitte Sie, die Situation am deutschen Arbeitsmarkt in Zukunft etwas realistischer darzustellen. Ich glaube nicht, dass es hilft, wenn wir den Menschen draußen Angst vor der Zukunft machen. ({8}) Uns stehen extrem schwierige Zeiten bevor. Die Debatte über den Euro zeigt deutlich, welche wirtschaftliche Entwicklung die Lage auf den Weltmärkten erwarten lässt. Ich glaube, dass wir eher sachlich diskutieren müssen, damit die Bürgerinnen und Bürger von der Politik nicht enttäuscht werden. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Sabine Zimmermann das Wort. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Kolb - Sie merken, Sie stehen heute im Mittelpunkt -, ({0}) wenn eine Erzieherin, die bei einer Leiharbeitsfirma angestellt ist, mit 1 000 Euro netto im Monat nach Hause geht, obwohl sie gemäß Tarifvertrag eigentlich rund 2 200 Euro verdienen müsste, würden Sie das dann nicht als Lohndrückerei bezeichnen? Ich kann Ihnen viele weitere Beispiele nennen. Das sind keine Einzelfälle. Das ist Standard in dieser Republik. ({1}) Das Phänomen der Werkverträge, über das wir heute hier diskutieren, also die bewusste Ausgliederung von Unternehmensteilen, um Lohndumping zu betreiben, ist nur eines der Instrumente, deren sich die Arbeitgeber hier bedienen. Dabei geht es nur darum, dass Unternehmen Scheinwerkverträge abschließen, um illegal Leiharbeiter zu beschäftigen. An dieser Stelle möchte ich auf die Razzien verweisen, die der Zoll Anfang des Jahres bei den Einzelhandelsketten Kaufland und Netto durchgeführt hat. Dort sollen rechtswidrige Werkverträge mit Lagerarbeitern und Staplerfahrern abgeschlossen worden sein. Selbst in einigen Handelsketten werden Kassiererinnen über einen Werkvertrag beschäftigt. Das muss man sich einmal vorstellen. So etwas ist in Deutschland möglich. Das ist nicht nur ein Betrug an den Beschäftigten, die 30 Prozent weniger Lohn erhalten, sondern auch ein Betrug an der Gemeinschaft; ({2}) denn diese Unternehmen haben Sozialabgaben hinterzogen. Hier muss doch die Politik handeln, aber Bereitschaft dazu kann ich bei Ihnen überhaupt nicht erkennen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht ja nicht nur um Scheinwerkverträge. Es geht auch um die ganz legalen Werkverträge, mit denen Unternehmen ganze Abteilungen völlig gesetzestreu ausgliedern und an Billiganbieter weitergeben. Hier fordert die Linke: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! - Diese Forderung muss endlich umgesetzt werden. ({4}) Für mich ist es unfassbar, mit welcher Gleichgültigkeit die Bundesregierung diesem Treiben der Arbeitgeber zuschaut, ohne zu handeln. Aber sie praktiziert es ja auch selbst bei ihren Ministerien und den ihr unterstellten Behörden. So wurden im Verantwortungsbereich des Bundes im letzten Jahr nicht nur über 1 000 Leiharbeiter eingesetzt, von denen lediglich 29 übernommen worden sind, sondern es werden auch immer mehr Dienstleistungen nach außen vergeben. Der größte Bereich ist dabei der Wach- und Sicherheitsdienst. Wir wissen doch alle unter diesem Dach, dass diese Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus zu niedrigen Löhnen beschäftigt werden. Das können wir doch nicht zulassen! ({5}) Werkverträge sind nur ein Teil der Fehlentwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Das wurde heute schon mehrfach gesagt. Ich will nur einige Stichworte nennen: Leiharbeit, Minijobs, befristete Beschäftigung, Teilzeit. Das ist das Jobwunder von Frau Merkel. Herr Weiß, ich muss Ihnen wirklich widersprechen, ({6}) wenn Sie von einem guten Arbeitsmarkt sprechen. Sie müssen berücksichtigen, dass prekäre Beschäftigung Vorrang hat. Das ist für die Kolleginnen und Kollegen nicht zumutbar. ({7}) - Doch, damit habe ich recht. ({8}) Ich nenne Ihnen gleich ein paar Zahlen, Kollege Weiß. Arbeitgeber greifen immer häufiger auf atypische Beschäftigungsformen zurück. ({9}) Sie können dies tun, weil die Politik dafür Unterstützung gibt und die Fehlentscheidungen, die hier in den letzten Jahren getroffen worden sind, einfach nicht korrigieren will. Erst jüngst hat die Bundesagentur für Arbeit Zahlen veröffentlicht, die diese dramatische Fehlentwicklung verdeutlichen. Obwohl sich die Zahl der Erwerbstätigen, wie Sie, Herr Weiß, so schön sagen, in den zurückliegenden 20 Jahren erhöht hat, haben wir heute 5 Millionen unbefristete Vollzeitjobs weniger als 1991. Das müssen Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Dramatisch zugenommen hat dagegen die sogenannte atypische Beschäftigung. Die Zahl der Leiharbeiter, der befristet Beschäftigten, der Soloselbstständigen usw. ist dramatisch angestiegen, und zwar auf 14,2 Millionen. ({10}) Das entspricht einer Verdoppelung in den letzten Jahren. Daran will die Linke sich nicht beteiligen. Deshalb haben wir heute diesen Antrag vorgelegt. ({11}) Nur noch die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeitet heute in einem unbefristeten Vollzeitjob. Vor 20 Jahren waren es noch mehr als zwei Drittel. Diese Entwicklung darf die Politik doch nicht einfach so hinnehmen. Deshalb haben wir heute unseren Antrag „Missbrauch von Werkverträgen verhindern - Lohndumping eindämmen“ vorgelegt. Aber wir wissen: Sie werden dem natürlich nicht zustimmen, weil Sie die besseren Argumente einfach nicht hören wollen. Es gibt jedoch viele, die sich gegen prekäre Beschäftigung wehren. Vor drei Tagen protestierten in Koblenz 100 Paketauslieferer gegen die Praxis des Paketdienstes DPD, der Aufträge an Subunternehmen ausgelagert hat, die Hungerlöhne zahlen. Das ist gängige Praxis in der Republik. Dagegen müssen sich die Kolleginnen und Kollegen wehren. Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter. Jeder in diesem Haus muss sich fragen, ob er dieses Lohndumping mit einer falschen Gesetzgebung weiterhin unterstützen will. Die Linke will dem ein Ende machen. Deshalb: Hören Sie auf die besseren Argumente! Danke. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer.

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werkverträge sind gut und richtig, solange sie in ihrem angedachten gesetzlichen Rahmen bleiben. Für viele Unternehmen sind Werkverträge - das wissen wir alle - schlicht und einfach unverzichtbar, um zum Beispiel personelle Engpässe oder Produktionsspitzen abfedern zu können oder um Kompetenzen zu kaufen, die im Unternehmen nicht vorhanden sind. So weit sind wir uns einig. ({0}) Doch jetzt haben sich die Vorzeichen geändert. Werkverträge werden dazu eingesetzt, um die verschärften gesetzlichen Regelungen der Leiharbeit zu umgehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, worum geht es eigentlich? Die Mindestlohngrenze soll unterlaufen werden, und zwar mit allen juristischen Tricks. Großunternehmen treffen sich zu Großveranstaltungen, um sich juristisch briefen zu lassen, wie sie - ich zitiere die Zeit - „ihre ohnehin schon billigen Leiharbeiter durch noch billigere Beschäftigte ersetzen können.“ Das Ganze heißt dann eben nicht mehr Leiharbeit, sondern Werkvertrag. Wir alle wissen: Never judge a book by its cover. Wo Werkvertrag draufsteht, ist längst nicht mehr unbedingt ein Werkvertrag drin. ({1}) Oder auf gut Deutsch: Es handelt sich um eine Mogelpackung. Das ist ganz klar. Hier findet Lohndumping statt. Das ist dafür genau das richtige Wort. Da hört für uns Grüne die unternehmerische Freiheit auf. ({2}) Arbeit - und da zitiere ich sehr gern die Gewerkschaften - darf nicht zur „Ramschware“ verkommen. Gut 4 Millionen Beschäftigte verdienen hier in Deutschland mittlerweile weniger als 7 Euro brutto die Stunde. Sie wissen alle, wie schlecht man davon leben kann. Scheinwerkverträge drücken das Lohnniveau um bis zu 30 Prozent. Für viele diese Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen heißt das ganz klar: Unsicherheit, Ungleichheit, Niedriglöhne und damit auch ein hohes Armutsrisiko. ({3}) Aber es geht ja nicht nur den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen schlecht, es gibt ja auch Auswirkungen auf die Wirtschaft, auch wenn es ein kleiner Sektor ist. Was bedeutet das alles denn aus wettbewerbsrechtlicher Sicht? Unternehmen, die beim Lohndumping nicht mitBeate Walter-Rosenheimer machen, die fair bezahlen wollen, geraten in einen deutlichen Wettbewerbsnachteil. Wenn Betriebe fair zahlen wollen, wenn es ihnen wichtig ist, eine geschlossene Belegschaft in ihrem Betrieb mit einer hohen Arbeitszufriedenheit zu haben, dann werden sie an die Wand gedrängt. Sie ziehen den Kürzeren. Wenn es sich um kleine Unternehmen handelt, können sie sogar vom Markt gedrängt werden. Das wollen wir Grüne auf gar keinen Fall mitmachen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, nicht nur Arbeit muss sich wieder lohnen, wie einer Ihrer Minister so gerne betont, auch Fairness muss sich auszahlen. ({5}) Wir wollen keine Wettbewerbsnachteile für faire Unternehmen. Wettbewerb muss für uns durch Innovationen und durch gute und nachhaltige Geschäftsideen stattfinden. Nur dann kommen wir zu einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung. ({6}) Das nächste Stichwort ist der Markt. Konjunkturbelebend wirken sich Niedriglöhne nun wirklich nicht gerade aus. Wir wollen die Kaufkraft dann lieber doch durch ordentliche Löhne ankurbeln. Außerdem entgeht dem Staat schlicht und einfach auch Geld, und zwar durch Einnahmeausfälle bei den Sozialkassen und durch geringere Steuereinnahmen. ({7}) Sehr geehrte Regierungskoalition, die rechtliche Regelung hier ist zu lasch und lässt zu viele Schlupflöcher. Wir fordern eine eindeutige Abgrenzung von Leiharbeit zu Werkverträgen. Natürlich können nur die Betriebe nachweisen, dass es sich wirklich um Werkverträge handelt. Wir brauchen daher - das haben wir schon gehört eine Stärkung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zum Beispiel durch eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung. ({8}) Die Probleme sind uns durchaus bekannt. Das habe ich heute auch schon gehört. Es ist einfach an der Zeit, zu handeln und die Schlupflöcher zu schließen. Schon im Januar hat Frau Ministerin von der Leyen - die leider nicht mehr hier ist - in einem Spiegel-Interview gesagt, sie möchte sich der Sache annehmen und die Situation im Auge behalten. Wenn dem dann Taten folgen, halten wir das für eine sehr gute Idee. Wir wissen ja alle, dass nichts mächtiger ist als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Walter-Rosenheimer, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Dieter Jasper das Wort. ({1})

Dieter Jasper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Linken, ({0}) die in altbewährter Manier den Unternehmern in Deutschland immer nur das Schlechteste zutraut. Dieses Mal geht es um Werkverträge, Scheinwerkverträge und Leiharbeit. Nach Ansicht der Antragsteller versuchen die deutschen Unternehmen vermehrt, auf den Einsatz von Fremdfirmen auszuweichen. Es wird ein klarer Trend ausgemacht, den es zu stoppen gilt. Dieser Einsatz von Fremdfirmen wird gleich unter dem Begriff Scheinwerkvertrag diffamiert, und es wird per se ein gesetzwidriges Verhalten unterstellt. Ein Werkvertrag ist jedoch für viele deutsche Unternehmen ein legitimes und oft notwendiges Mittel, Effizienz- und Produktivitätssteigerungen zu erzielen und die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Die Linke sieht diese Werkverträge im Zeichen des Klassenkampfs aber ausschließlich als Mittel, um Löhne zu drücken und Mitarbeiter auszubeuten. Neben sogenannter Lohndrückerei dienen Werkverträge dann höchstens noch dazu, die angeblich noch schlechter beleumundete Zeitarbeit zu ersetzen und so das Image des einsetzenden Unternehmers zu verbessern. Werkverträge sind dann von zwei verwerflichen Alternativen nur noch die weniger schlimme. So weit die Logik der Linken! Das Ganze wird subsumiert unter die Forderung nach einem Gesetz zur Verhinderung des Missbrauchs von Werkverträgen, das eine Fülle von Einzelfallentscheidungen enthalten soll. ({1}) Dieses Gesetz soll dann jeden Einzelfall abschließend und gerecht regeln. Diese Forderung nach einer neuen und gesetzlichen Regelung ist in meinen Augen nicht begründet und hat überhaupt keine Basis. ({2}) Zeitarbeit und Werkverträge spielen trotz aller Diffamierung von Ihrer Seite in der deutschen Wirtschaft, ob in der Industrie, im Handel oder auch im Handwerk, eine große Rolle. Gerade Werkverträge sind elementare Grundlage einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Sie können zur Senkung der Kosten eines Unternehmens beitragen, zielen aber in erster Linie auf die Steigerung der eigenen Produktivität und der Effizienz der Unternehmen ab. ({3}) Dies ist gerade für Unternehmen, die sich im internationalen Wettbewerb befinden, von essenzieller Bedeutung. Wie viele Produkte „Made in Germany“ wären denn noch zu verkaufen, wenn diese ausschließlich und komplett in einem deutschen Unternehmen hergestellt würden? Allein diese Vorstellung ist völlig abwegig. Die Stärke der deutschen Wirtschaft beruht auch darauf, dass sich Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen besinnen und nur das fertigen und entwickeln, was sie besser können als andere. ({4}) Alles andere wird zugekauft, sodass am Ende ein Produkt entsteht, das im Idealfall die Stärken der einzelnen beteiligten Unternehmen in sich vereinigt und am Markt zu platzieren ist. ({5}) Die von Ihrer Seite geübte pauschale Kritik ist somit weder angemessen noch begründet. Sie verrät vielmehr einen Mangel an ökonomischem Verständnis über unsere arbeitsteilige Wirtschaftsform. ({6}) - Ja, genau. Natürlich gibt es auch Fehlentwicklungen, die es zu bekämpfen gilt. ({7}) Werkverträge sind dann, aber auch nur dann problematisch, wenn es sich hierbei um eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung oder um eine Scheinselbstständigkeit handelt. Eine Umgehung der gesetzlichen Schutzvorschriften ist selbstverständlich nicht hinnehmbar. Aber bereits heute sind ausreichend Sanktionsmöglichkeiten zur Bekämpfung eines möglichen Missbrauchs vorhanden. Die von den Linken behauptete rasante Zunahme von Scheinwerkverträgen ist ebenso wenig nachweisbar wie eine angebliche Verdrängung der Stammbelegschaft. In der Anhörung vom 23. April 2012 - vielleicht waren Sie zugegen - war die Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit in diesem Punkt vollkommen eindeutig. Zwei Aussagen dazu: Erste Aussage. Hinweise auf einen deutlichen Anstieg der Zahl individueller Werkverträge aufgrund geänderter Arbeits- und Rahmenbedingungen in der Zeitarbeit sind nicht zu erkennen. ({8}) Zweite Aussage. Verdrängungsprozesse zwischen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Werkverträgen und alternativen Beschäftigungsformen sind nicht nachweisbar. Somit bauen Sie da einen Riesenpopanz auf. ({9}) An dieser Stelle ein kurzes Zwischenfazit: Erstens. Leiharbeit und Werkverträge sind legitime und notwendige Instrumente einer arbeitsteiligen Wirtschaftsform. Zweitens. Die Beobachtung eines angeblich zunehmenden Missbrauchs lässt sich anhand objektiv überprüfbarer Zahlen nicht belegen. Drittens. Eine gegebenenfalls missbräuchliche Anwendung kann schon heute wirksam unterbunden werden, ({10}) ohne dass gleichzeitig deren rechtmäßige Nutzung eingeschränkt wird. ({11}) Es stellen sich nun die spannenden Fragen: Wie beurteilen die betroffenen Unternehmen die Situation? Wie sehen Handel und Handwerk die Forderungen der Linken? Werkverträge spielen gerade im Handwerk eine große Rolle. Ebenso wie in der Industrie gibt es auch hier keine belegbaren Hinweise auf die Existenz oder sogar die Zunahme der Zahl von Scheinwerkverträgen, wie sie behauptet wird. Die Vergabe von Aufträgen an Fremdfirmen über Werkverträge stellt natürlich auch hier ein unverzichtbares Element dar, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern. Dies gilt gerade für den großen Spezialbereich des Baugewerbes. In dieser Branche gilt das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung. Betriebe im Bauhauptgewerbe sind im Besonderen darauf angewiesen, Werkverträge mit Subunternehmen zu schließen. Baufremde Gewerke könnten sonst überhaupt nicht erstellt werden. Das deutsche Baugewerbe wäre ohne den Einsatz von Werkverträgen gar nicht denkbar. Der Handel sieht ebenfalls keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. ({12}) Gesetzliche Eingriffe in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit werden auch hier entschieden abgelehnt. Es obliegt den Firmen, ob sie im Rahmen ihrer gesetzlich geschützten Entscheidungsfreiheit bestimmte Tätigkeiten durch hochspezialisierte Fremdfirmen ausführen lassen. Es ist unbestritten, dass in großen Teilen der Privatwirtschaft, aber auch bei öffentlichen Arbeitgebern eine zunehmende Tendenz zum Auslagern von Tätigkeiten an Dienstleistungs- und Werkvertragsunternehmen vorhanden ist. Dies ist in einer arbeitsteiligen Wirtschaft aber zunächst ein ganz normaler Vorgang, der wegen der Spezialisierung zu Effizienzgewinnen führt. ({13}) Die Unternehmen können sich somit auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und am Markt bestehen. Angesichts der offensichtlichen Bedeutung von Werkverträgen für die deutsche Volkswirtschaft stellt sich die Frage, ob die bisherigen gesetzlichen Abgrenzungen zur Arbeitnehmerüberlassung ausreichend sind. Auch da beziehe ich mich auf die Anhörung: Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen hat dies in der Anhörung bejaht und betont, dass erstens für die Abgrenzung von Werkvertrag und Arbeitnehmerüberlassung ausreichende gesetzliche und durch höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierte Abgrenzungskriterien vorhanden sind, ({14}) es zweitens keiner weiteren Vermutungsregelung zugunsten der einen oder anderen Vertragsform bedarf und drittens weitere gesetzliche Klarstellungen nicht erforderlich sind - so die Mehrheit der Sachverständigen. Es gilt also, ganz im Gegenteil: Weitere gesetzgeberische Maßnahmen sind überflüssig, unverhältnismäßig und zum Teil gefährlich für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ich fasse kurz zusammen: Erstens. Die von Ihnen unterstellte rasante Zunahme einer missbräuchlichen Nutzung von Werkverträgen ist weder belegbar noch nachweisbar. ({15}) Zweitens. Die von Ihnen behauptete Verdrängung der Stammbelegschaft durch Werkverträge oder Scheinwerkverträge ist ebenfalls nicht zu beobachten. ({16}) Drittens. Die überwiegende Mehrzahl der Sachverständigen sieht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. ({17}) Viertens. Das hohe Gut der unternehmerischen Freiheit muss erhalten und geschützt werden. ({18}) - Vielleicht nicht genug. Fünftens. Die problematisierte Abgrenzungsfrage zwischen Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag ist nicht neu. ({19}) Aber es existiert bereits ein Katalog hinreichender und sachgerechter Kriterien. Auch bei einer möglichen Gesetzesänderung, wie sie von Ihnen angestrebt wird, ist immer eine Einzelfallbewertung notwendig. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass schon heute allein bei Verdacht des Vorliegens eines Scheinwerkvertrags eine Überprüfung des betreffenden Unternehmens möglich ist und auch durch das Zollamt durchführt wird. ({20}) Somit sind nicht einmal die Voraussetzungen für diesen Antrag richtig und nachvollziehbar; die Prämissen sind einfach falsch. Die Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Handelns wird nicht erkennbar. Ein neues Gesetz ist schlicht nicht erforderlich. In der Konsequenz ist Ihr Antrag irreführend und überflüssig, sodass wir ihn zurückweisen und ablehnen. Herzlichen Dank. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic von der SPD. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition! Wirtschaftlicher Erfolg ist noch lange nicht beschäftigungspolitischer Erfolg, insbesondere dann nicht, wenn zunehmend ausgebeutet wird und volkswirtschaftliche Schäden entstehen. Prekäre Beschäftigung nimmt in unserer Gesellschaft immer neue Formen an. Neben Leiharbeit, Befristungen, Schein22348 selbstständigkeit und Niedriglöhnen gehört auch der Missbrauch von Werkverträgen dazu. Ich habe großen Respekt vor Arbeitgebern, die Risiken und Verantwortung übernehmen, wenn sie ein Unternehmen führen. Mit den prekären Beschäftigungsformen wälzen die Arbeitgeber ihre Risiken aber ausschließlich auf die Arbeitnehmer ab, die von einem Tag auf den anderen ohne jegliches Recht auf Widerspruch auf die Straße gesetzt werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem Zustand, dass die Arbeitnehmer für alles haften sollen, müssen wir rechtlich entgegenwirken. ({0}) Die Zahl der Werkverträge hat seit der völlig unzureichenden Regulierung der Leiharbeit durch Union und FDP zugenommen. Es gibt einen systematischen Missbrauch und Scheinwerkverträge, die nur dazu genutzt werden, Mitbestimmungsrechte und Kündigungsfristen zu umgehen und Dumpinglöhne zu bezahlen. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Missbrauchs von Werkverträgen und anderen Formen sind gravierend: Viele junge Menschen wissen nicht, ob und wie lange sie noch eine Beschäftigung haben, und sehen sich deshalb nicht in der Lage, eine Familie zu gründen. Im Betrieb gibt es eine Spaltung der Belegschaft. Die Randbelegschaften nehmen immer mehr zu, die Stammbelegschaft wird immer kleiner. Dadurch findet eine Entsolidarisierung im Betrieb statt, die unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Durch die Teilung in Stamm- und Randbelegschaften wird auch die Mitbestimmung ausgehöhlt; denn die Betriebsräte haben bei kleinen Stammbelegschaften weniger Mitglieder, aber immer mehr Arbeit mit der Kontrolle von Werkverträgen und Leiharbeit. Werkvertragsarbeitnehmer werden zudem nicht über die Personalabteilung von Unternehmen eingestellt, sondern sie werden über die Einkaufsabteilung, wie sonst Schrauben oder auch Toilettenpapier, abgerechnet. Ich komme aus der betrieblichen Praxis. Sie glauben nicht, wie weit die Perversion der Einkäufer geht, wenn Kostensenkung mit persönlichem Erfolg verknüpft wird. Ich finde Wettbewerb wichtig und gut, aber Wettbewerb braucht auch klare Regeln. Auch in der gesamten Gesellschaft erfahren prekär Beschäftigte eine Stigmatisierung. So erhalten sie zum Beispiel kaum einen Kredit. Aber nicht nur für Arbeitnehmer, auch für Arbeitgeber bergen Werkverträge langfristige Nachteile: So fließt über Werkverträge das Know-how der Arbeitnehmer aus dem Betrieb ab, da Werkvertragsarbeitnehmer ihr spezielles Fachwissen nach dem Ende des Werkvertrags mitnehmen. Die Stammbelegschaft verliert Motivation und Vertrauen, wenn sie merkt, dass der Arbeitgeber auf prekäre Beschäftigung statt auf gute Arbeit setzt. Zudem werden die ehrlichen und anständigen Unternehmer, die faire Löhne und Arbeitsbedingungen bieten, unter einen unmöglichen Konkurrenzdruck gesetzt, wenn andere Unternehmer mit prekärer Beschäftigung arbeiten. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, mir geht es nicht darum, sinnvolle und gut bezahlte Werkverträge zu verbieten, aber wir müssen handeln, damit der Missbrauch von Werkverträgen eingedämmt wird, wenn es den Arbeitgebern nur darum geht, reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu umgehen. Dazu habe ich konkrete Vorschläge: Zunächst einmal müssen wir die Mitbestimmungsvorschriften bei Werkverträgen gesetzlich ändern. Wenn Betriebsräte noch nicht einmal wissen können, wo in ihren Unternehmen Werkverträge eingesetzt werden, dann können sie auch nicht gegen Missbrauch vorgehen. Wir müssen daher das Betriebsverfassungsgesetz so ändern, dass Betriebsräte informiert und beim Einsatz von Werkverträgen beteiligt werden müssen. Mehr Mitbestimmung allein reicht aber nicht aus, um den Missbrauch effektiv einzudämmen. Besonders in Unternehmen ohne starke Betriebsräte müssen wir deshalb eine Kontrolle von Werkverträgen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit sichern. Daneben müssen wir gesetzlich Werkverträge von Soloselbstständigkeit abgrenzen. Auch die Abgrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen müssen wir klarstellen, damit eine sinnvolle Kontrolle möglich ist. Wir brauchen eine klare Definition von abhängiger und selbstständiger Beschäftigung im SGB IV. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben den verstärkten Kontrollen muss die Generalunternehmerhaftung ausgeweitet werden. Oft werden Werkverträge an zahlreiche Subunternehmer vergeben. Diese Subunternehmerketten sind für Arbeitnehmer nicht durchschaubar, und im Zweifel geht der Subunternehmer pleite oder taucht ab. Der Arbeitnehmer geht in der Regel leer aus. Der Arbeitnehmer muss daher das Recht haben, auch beim Generalunternehmer Lohn und faire Arbeitsbedingungen einzuklagen. ({2}) Vor Gericht brauchen wir zudem eine Umkehr der Beweislast. Nicht der Arbeitnehmer muss nachweisen, warum er glaubt, dass Missbrauch vorliegt, sondern der Arbeitgeber muss nachweisen, warum kein Missbrauch vorliegt. Es ist immer wieder zu beobachten, dass besonders ausländische Arbeitnehmer von prekärer Arbeit betroffen sind, weil sie oft sprachliche Probleme haben und nicht ausreichend über ihre Rechte informiert sind. Deswegen fordere ich, dass die DGB-Büros für die Beratung von entsandten Beschäftigten ausgebaut und langfristig vom Bund finanziell gesichert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen das Thema Werkverträge sachlich und präzise angehen. Ich habe hier einige Vorschläge gemacht, was wir gesetzlich ändern müssen, um Missbrauch von Werkverträgen zu verhindern und den Arbeitnehmern ein Recht auf faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen zu geben. Die Anträge von Grünen und Linken gehen uns trotz der gemeinsamen Zielrichtung nicht weit genug. Denn in allen Anträgen fehlt beispielsweise die wichtige Forderung nach einer Ausweitung der Generalunternehmerhaftung. Wir werden im Herbst einen eigenen Vorschlag vorlegen, der klar und deutlich die Probleme und Lösungen aufzeigt. Denn wir müssen verhindern, dass sich immer wieder ein neues Tor zum Missbrauch öffnet, wenn wir ein Einfallstor schließen, wie es bei der teilweisen Regulierung der Leiharbeit und dem Missbrauch von Werkverträgen der Fall ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Johannes Vogel das Wort. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als vorletzter Redner in dieser Debatte, die ja - nicht nur vom Kollegen Schreiner - über die allgemeine Lage am deutschen Arbeitsmarkt und damit nicht allein über die Anträge der Opposition geführt wurde, will ich festhalten, wie angesichts der Daten, die wir von der Bundesagentur für Arbeit und den seriösen Forschungsinstituten bekommen haben, die Lage am deutschen Arbeitsmarkt ist. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist so hoch wie seit 1992 nicht mehr. Wir haben trotz schwerer Krise in Europa die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Sehr viele Menschen schaffen den Einstieg in den Arbeitsmarkt, was ihnen vorher nicht möglich war. ({0}) Das finden wir gut, und das ist etwas, worauf wir stolz sein können. ({1}) Entgegen dem, was behauptet wurde, widmet sich diese Koalition auch der Aufgabe, erstens dafür zu sorgen, dass die Menschen, die den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen, jetzt beispielsweise durch mehr Qualifikation auch den Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt schaffen können, und zweitens dafür zu sorgen, dass der Missbrauch von flexiblen Beschäftigungsformen da, wo es ihn gibt, erfolgreich verhindert und eingedämmt werden kann. Dies mache ich Ihnen an den Themen, die in Ihren Anträgen behandelt werden, deutlich. Es geht zunächst um das Thema Zeitarbeit. Zeitarbeit in Deutschland ist ganz normale sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, ({2}) mit allen Arbeitnehmerrechten wie in den anderen Branchen auch. Zeitarbeit in Deutschland gibt sehr vielen Menschen Einstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt. Zwei Drittel der Zeitarbeiter kommen aus der Beschäftigungslosigkeit. ({3}) 40 Prozent haben gar keine berufliche Qualifikation. Zeitarbeit ist also etwas, was wir nicht sozusagen wegwerfen sollten. Sie sagen ja immer: Im Bereich der Zeitarbeit gibt es einen großen Missbrauch. - Da kann ich nur wiederholen, was bereits vorhin gesagt wurde: Diese Koalition hat Drehtüreffekte bei der Zeitarbeit gesetzlich ausgeschlossen, einen branchenbezogenen tariflichen Mindestlohn in der Zeitarbeit eingeführt und mit den Tarifpartnern jetzt dafür gesorgt, dass es schrittweise Angleichung und Equal Pay nach klug bemessener Frist gibt. Ich kann nur sagen: Wie dann noch ein Missbrauch der Zeitarbeit möglich sein soll, kann ich nicht erkennen. Das ist gut so. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Vogel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Von der Kollegin Zimmermann immer gerne.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Präsident. - Danke schön, Herr Vogel, dass Sie meine Frage zulassen. Ich weiß ja, dass wir immer ein gutes Verhältnis haben. ({0}) - Ja, das muss man hier einmal fürs Protokoll sagen. Herr Vogel, da Sie davon sprechen, wie gut die Leiharbeit ist, möchte ich Sie fragen: Wissen Sie, dass die Bundesagentur für Arbeit festgestellt hat, dass dort bis zu 50 Prozent weniger Lohn gezahlt wird? Finden Sie es richtig, dass viele Menschen teilweise über sieben Jahre in der Leiharbeit sind, aber so wenig Lohn bekommen, dass es sie fast arm macht?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Zimmermann, in der Tat freue ich mich über unser persönlich gutes Verhältnis. Aber das kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen - mit Ihrer Frage belegen Sie das erneut -, dass wir politisch doch einen ganz unterschiedlichen Blick auf die Realität haben. Ich stelle beim Thema Zeitarbeit fest: Erstens. Bei der Zeitarbeit gibt es einen branchenbezogenen tariflich vereinbarten Mindestlohn. Das heißt, Dumpinglöhne kann es dort nicht mehr geben. Zweitens. Zeitarbeit ist in Deutschland eine ganz normale Branche. Das heißt, die Menschen, die in der Zeitarbeit arbeiten, verdienen genauso viel wie ihre Kollegen, die bei demselben Zeitarbeitsunternehmen arbeiten. Drittens. Wenn sich die Menschen in einem sehr langen Verleiheinsatz befinden, wenn sie also ein Jahr oder länger in einem Entleihunternehmen sind, dann ist es natürlich irgendwann unfair, dass sie weniger verdienen als die Kollegen dieses Unternehmens. Genau deshalb ist es gut, dass die Branche jetzt eine schrittweise Angleichung an Equal Pay vornimmt, aber nach einer klug bemessenen Frist. Sie ist dabei, diese Lücke - das ist ein Gebot der Fairness - zu schließen. Gleichzeitig schafft sie es, die Balance zu halten: Der Missbrauch wird verhindert, aber die Vorteile des deutschen Zeitarbeitsmodells für die Menschen gehen nicht verloren. Das beschreibe ich als gute Politik für die Menschen, für die Unternehmen, für die gesamte Volkswirtschaft und den Arbeitsmarkt in unserem Land. Frau Kollegin, deshalb glaube ich, dass es gut ist, dass wir diesen Weg verfolgt haben, dass wir im Gegensatz zu Ihnen die Zeitarbeit nicht kaputtmachen wollten und das deutsche Zeitarbeitsmodell mit seinen Vorteilen für die Menschen nicht zerstört haben. Das wäre nämlich der Ausfluss Ihrer Politik, die Sie uns heute wieder darlegen, liebe Kollegin Zimmermann. Das wollen wir nicht. ({0}) Dass Sie oft diese Balance nicht halten, zeigt sich in meinen Augen auch bei Ihrem zweiten Thema, über das wir heute reden, nämlich bei den Werkverträgen. Wenn Sie sich Sorgen machen, dass Menschen durch Werkverträge verstärkt ausgenutzt werden könnten, dann kann ich nur sagen: Der schlimmste Weg, hier den Missbrauch zu fördern, wäre, das zu machen, was Sie vorschlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nämlich die Zeitarbeit nach dem deutschen Modell kaputtzumachen und gesetzliche Mindestlöhne einzuführen, mit denen dafür gesorgt wird, dass Menschen mit geringer Qualifikation keine Beschäftigung mehr finden. ({1}) Dann würde in großem Umfang auf die Werkverträge ausgewichen werden. Dann gäbe es einen Missbrauch von Werkverträgen. Deshalb ist gut, dass wir dabei nicht mitmachen. ({2}) Kommen wir nun zu Ihrer Behauptung, dass es schon heute Missbrauch bei den Werkverträgen gibt. Ich will hier nur auf die Anhörung im Ausschuss zu diesem Thema verweisen. Das IAB, das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit, stellt ganz klar fest: Ein steigender Missbrauch von Werkverträgen in Deutschland ist auf Grundlage der vorhandenen seriösen Daten derzeit nicht feststellbar. - Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: Sie selber haben eben auf die Razzien bei den Unternehmen Kaufland und Netto verwiesen. Wenn Razzien stattfinden, dann kann ich nur feststellen: Das zeigt doch, dass wir ein effektives Instrumentarium haben, um Missbrauch da, wo es ihn gibt, zu verhindern. ({3}) Wie Sie daraus einen gesetzgeberischen Nachsteuerungsbedarf ableiten wollen, kann ich nicht erkennen. Etwas anderes - das ist mein letzter Punkt - kann ich in Ihrem Antrag sehr wohl erkennen, liebe Kollegin Zimmermann, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken - der Kollege Kolb hat es vorhin schon richtig gesagt -: In Ihrem Antrag spürt man schon - das fließt quasi aus jedem Satz heraus; das ist der Subtext in Ihrem Antrag -, dass Sie in Wahrheit den Grundgedanken von Werkverträgen, nämlich dass ein Unternehmen bestimmte Aufgaben an ein anderes Unternehmen abgibt, weil es darauf spezialisiert ist und diese Aufgaben besser erledigen kann, ablehnen und er Ihnen zutiefst zuwider ist. ({4}) - Dafür bekomme ich sogar Applaus. Das heißt, meine Wahrnehmung wird bestätigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich will Sie bitten, darüber wirklich nachzudenken. Arbeitsteiliges Wirtschaften, die Idee, dass man Aufgaben, die andere, die darauf spezialisiert sind, besser erledigen können, abgibt, ist eine wesentliche Triebfeder des menschlichen Fortschritts überhaupt. Spezialisierung ist das entscheidende Instrument, mit dem die deutsche Wirtschaft in der globalen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts wettbewerbsfähig geworden ist. ({5}) Ich bitte Sie dringend, darüber nachzudenken, ob Sie das wirklich wegwerfen wollen, und Ihre Haltung zu überdenken. Wir jedenfalls werden aus diesen Gründen Ihre Anträge heute ablehnen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Dr. Johann Wadephul von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schreiner, ich will gerne etwas zum Fußball sagen. Wir sind jetzt in dieser Debatte in die Verlängerung gegangen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland heute Abend ohne Verlängerung 2:1 gegen Italien gewinnen wird. ({0}) Das wäre eine gute Grundlage für die nächsten Tage. Ausgangslage ist in der Tat - der Kollege Vogel hat darauf hingewiesen - eine Situation in der deutschen Wirtschaft und auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die Sie fast vergessen wollen. Wenn man Ihre Debattenbeiträge verfolgt, dann könnte man glauben, dass wir in einem Land des Elends und der Not leben und in einer außerordentlich prekären Situation sind. Wirklichkeit ist, dass wegen erfolgreicher und sich positiv auswirkender Entscheidungen, die Rot-Grün vor gut zehn Jahren getroffen hat - das Tragische dabei ist, dass Sie sich heute dieser Entscheidungen schämen -, und einer erfolgreichen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der christlich-liberalen Koalition der Arbeitsmarkt in Deutschland boomt. Europa und die Welt bewundern uns aufgrund unseres Jobwunders. ({1}) Das ist Anlass, auf unsere Politik stolz zu sein, statt sie jeden Tag infrage zu stellen. Der Regelfall ist im Übrigen auch das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis. Ich weiß nicht, was Sie an die Wand malen. Wir haben nahezu 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland. Sie führen wie die Arbeitgeber Sozialversicherungsbeiträge ab und zahlen Steuern, sie leben auf einer sicheren Grundlage und tragen zum Wohlstand in Deutschland bei. Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ist in dieser Koalition von CDU, CSU und FDP ein Erfolgsmodell. Das lassen wir uns von Ihnen nicht zerreden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) In der Tat - darin sind wir vollkommen einer Meinung - ist ein solches Beschäftigungsverhältnis die Grundlage dafür, dass Menschen sich nicht nur persönlich in Sicherheit wiegen und fühlen, sondern dass sie - damit haben Sie völlig recht, Herr Schreiner - auch eine ausreichende soziale und wirtschaftliche Grundlage für die Zukunft sehen. Das ist besonders für junge Menschen wichtig, die sich entscheiden, eine Familie zu gründen. Deswegen ist die gute Sozial- und Beschäftigungspolitik, die wir betreiben, auch eine gute Familienpolitik und wahrscheinlich noch wichtiger als viele familienpolitische Leistungen, die wir hier diskutiert haben. ({3}) Das ist eine wichtige Grundlage, und das wird auch von uns in keiner Weise infrage gestellt. Es stellt auch niemand in diesem Hause infrage, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse nicht zulässig sind. Auch dass die sogenannten Dumpinglöhne, mit denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebeutet werden, nicht zulässig sind, ist völlig unstreitig. ({4}) Das hat schon jetzt nach deutschem Recht zur Folge, dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Anspruch auf höheren Lohn haben. Zu der Frage, ob und in welcher Form wir darüber hinaus eine allgemeine Lohnuntergrenze in Deutschland gesetzlich regeln sollten, gibt es in diesem Hause unterschiedliche Vorstellungen und Auffassungen, sogar innerhalb unserer Koalition, was öffentlich mindestens so bekannt ist wie das freundschaftliche Verhältnis von Frau Zimmermann und Herrn Vogel. Ich bin allerdings optimistisch, dass wir, was die allgemeine Lohnuntergrenze angeht, eher zueinanderfinden, als dass Frau Zimmermann und Herr Vogel - in politischer Hinsicht natürlich - noch weiter zueinanderfinden. Lieber Kollege Vogel, ich glaube, dass wir politisch näher beieinander sind, dass wir gemeinsam zu einem guten Ergebnis kommen und dass wir verhindern, dass Menschen durch Arbeitgeber ausgenutzt werden können. Jeder, der in Vollzeit arbeitet, hat einen Anspruch darauf, dass er und seine Familie davon leben können. Das ist auch eine Grundlage unserer christlich begründeten politischen Auffassung. ({5}) Ich warne allerdings davor, von vornherein prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die es bedauerlicherweise in Deutschland gibt, pauschal in einen Topf zu werfen, wie Sie das tun, und zu sagen: Jeder, der im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung bzw. auf Grundlage eines Werkvertrages befristet beschäftigt ist, befindet sich automatisch in einer prekären Beschäftigungssituation. - Das ist eine Simplifizierung, die nicht zulässig ist. ({6}) Jeder wünscht sich natürlich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Aber es gibt oft gute Gründe, ein Beschäftigungsverhältnis zu befristen. Eine familienpolitische Anmerkung dazu: Die meisten Befristungen dienen im Übrigen der Überbrückung von Schwangerschafts- und Mutterschaftsfehlzeiten. Das sind gute Befristungen. Ein befristetes Arbeitsverhältnis ist erst einmal ein Arbeitsverhältnis. Sozial ist, was Arbeit schafft. ({7}) Deswegen sind auch befristete Arbeitsverhältnisse erst einmal gute Arbeitsverhältnisse. Wir sollten sie daher nicht von vornherein diskreditieren. ({8}) - Herr Präsident, ich möchte in meinen Ausführungen gerne fortfahren, weil die Kollegen den Wunsch geäußert haben, schnell zu einem Ende zu kommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Also keine Zwischenfrage?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Danke.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zur Arbeitnehmerüberlassung hat der Kollege Vogel bereits das Notwendige gesagt. Nur so viel: Auch bei der Arbeitnehmerüberlassung handelt es sich zuallererst um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Sie sorgt für die von unserer Wirtschaft dringend benötigte Flexibilität. Frau Müller-Gemmeke, Sie beklagen, dass die Wertschöpfung in der deutschen Automobilindustrie, zum Beispiel bei Daimler, zu einem großen Teil - wahrscheinlich zu über 50 Prozent - nicht mehr in Deutschland stattfindet, weil vieles ausgelagert wurde. Wenn aber auf diese Art und Weise deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - seien sie nun bei Daimler oder anderswo beschäftigt - Arbeit haben und Geld verdienen und wenn dadurch in Deutschland Steuern generiert werden, wenn das die Grundlage dafür ist, dass MercedesBenz viele Kraftfahrzeuge überall auf der Welt verkauft, dann finde ich persönlich das gut und freue mich darüber. ({0}) Das ist die Grundlage dafür, dass wir Beschäftigung und Wohlstand in Deutschland haben. Ich habe die große Hoffnung, dass wir das erhalten. Wir sollten das nicht andauernd infrage stellen. ({1}) Ich rate auch in dieser Debatte dringend davon ab, die Möglichkeiten, die die Sozialpartnerschaft in Deutschland hat, infrage zu stellen. Sie ergehen sich jeden Tag darin und sagen: Die Gewerkschaften haben keine Macht mehr; sie können keine Mindestlöhne gewährleisten. Nun seien schon die Betriebsräte nicht mehr in der Lage, das in den Betrieben zu überwachen. - Das ist falsch. Betriebsräte haben nicht nur bei der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch beim Abschluss von Werkverträgen nach § 80 des Betriebsverfassungsgesetzes den Anspruch, vom Unternehmer Auskünfte zu erhalten. Ich verweise Sie auf einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 31. Januar 1989 - ich darf kurz zitieren -: Der Betriebsrat kann auch verlangen, dass ihm die Listen zur Verfügung gestellt werden, aus denen sich die Einsatztage und Einsatzzeiten der einzelnen Arbeitnehmer der Fremdfirmen ergeben. Der Betriebsrat darf also sehr viel mehr, als Sie behaupten. Reden Sie die Betriebsräte und die Gewerkschaften nicht schwach! Die Sozialpartnerschaft, die in den Betrieben und im Rahmen der Tarifautonomie gelebt wird, bildet die Grundlage dafür, dass Deutschland Krisenzeiten übersteht, dass wir jederzeit wettbewerbsfähig sind und dass es eine soziale Arbeitswelt gibt, die dafür sorgt, dass die Schwachen nicht unterdrückt, sondern einbezogen werden. Unsere Arbeitsmarktpolitik ist fundiert, gut und erfolgreich. Wir sollten sie fortsetzen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9980 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/9473. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7220 ({0}) mit dem Titel „Missbrauch von Werkver- trägen verhindern - Lohndumping eindämmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 17/7482 mit dem Titel „Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen - Kontrollen verstärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen- stimmen der Grünen und Enthaltung der SPD und der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 51 a bis g und i so- wie den Zusatzpunkt 3 a bis d auf: 51 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Mikrozensusgesetzes 2005 - Drucksache 17/10041 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes - Drucksachen 17/10042, 17/10124 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Bermuda über den Auskunftsaustausch in Steuersachen - Drucksache 17/10043 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Montserrat über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/10044 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Rechtsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne Schieder ({3}), Ulla Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauen in Wissenschaft und Forschung Mehr Verbindlichkeit für Geschlechtergerechtigkeit - Drucksache 17/9978 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Volker Beck ({5}), Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konsequente Umsetzung des Public Corporate Governance Kodex - Drucksache 17/9984 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Rechtsausschuss Finanzausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Josef Göppel, Marie-Luise Dött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Impulse für einen wirksamen und umfassenden Schutz der Afrikanischen Elefanten - Drucksache 17/10110 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ein nationales Digitalisierungsprogramm für unser Filmerbe - Drucksache 17/10098 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({8}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 51 a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Drucksache 17/10087 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({10}), Marieluise Beck ({11}), Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij - Drucksache 17/10111 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({12}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die Beschaffung unbemannter Systeme überprüfen - Drucksache 17/9414 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({14}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({15}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({16}) Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme - Drucksache 17/6904 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({17}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu einer Überweisung - das ist der Zusatzpunkt 3 b -, bei der die Federführung strittig ist. Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10111 mit dem Titel „Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij“ an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktion der CDU/CSU wünscht, dass die Federführung beim Auswärtigen Ausschuss liegt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht, dass der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe die Federführung hat. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe abstimmen. Wer ist für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung der Oppositionsfraktionen und Ablehnung der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung beim Auswärtigen Ausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Der Überweisungsvorschlag ist mit umgekehrtem Abstimmungsverhältnis angenommen. Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen betreffend den Tagesordnungspunkt 51 a bis g und i sowie den Zusatzpunkt 3 a, c und d. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu dem Tagesordnungspunkt 52 a bis g und i bis q sowie dem Zusatzpunkt 4 a bis l. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 52 a: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Oktober 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Mauritius zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Drucksache 17/9689 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abkommen vom 19. und 28. Dezember 2011 zwischen dem Deutschen Institut in Taipeh und der Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung hinsichtlich der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/9690 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({18}) - Drucksache 17/10036 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({19}) Zuerst komme ich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Republik Mauritius zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10036, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9689 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Ich komme zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Abkommen zwischen dem Deutschen Institut in Taipeh und der Taipeh-Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung hinsichtlich der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der FinanzausVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10036, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9690 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 52 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. Dezember 2011 über den Internationalen Suchdienst - Drucksache 17/9693 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({20}) - Drucksache 17/10047 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Serkan Tören Katrin Werner Volker Beck ({21}) Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10047, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9693 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 52 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Dezember 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbelastung bei der Bankenabgabe - Drucksache 17/9688 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22}) - Drucksache 17/10154 Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Manfred Zöllmer Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10154, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9688 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 52 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/9851 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({23}) - Drucksache 17/10167 Berichterstattung: Abgeordneter Michael Groß Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10167, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9851 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 52 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes - Drucksache 17/9686 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24}) - Drucksache 17/10080 22356 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Dr. Matthias Miersch Judith Skudelny Dorothea Steiner Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10080, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9686 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 52 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({25}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Demokratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehmerischen Entscheidungen stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren - Drucksachen 17/2122, 17/1413, 17/7696 Berichterstattung: Abgeordnete Jutta Krellmann Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7696 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2122 mit dem Titel „Demokratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehmerischen Entscheidungen stärken“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1413 mit dem Titel „Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 52 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({26}) zu dem Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck ({27}), Marieluise Beck ({28}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine engere Kooperation mit Georgien - Drucksachen 17/8778, 17/9622 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Grund Franz Thönnes Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({29}) Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9622, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8778 mit dem Titel „Für eine engere Kooperation mit Georgien“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 52 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({30}) Übersicht 7 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 17/10148 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 52 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 445 zu Petitionen - Drucksache 17/9964 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 445 ist einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Tagesordnungspunkt 52 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 446 zu Petitionen - Drucksache 17/9965 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 52 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 447 zu Petitionen - Drucksache 17/9966 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 52 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 448 zu Petitionen - Drucksache 17/9967 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 52 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 449 zu Petitionen - Drucksache 17/9968 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 52 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 450 zu Petitionen - Drucksache 17/9969 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Grünen bei Gegenstimmen von SPD und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 52 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 451 zu Petitionen - Drucksache 17/9970 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD und Gegenstimmen von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 52 q: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 452 zu Petitionen - Drucksache 17/9971 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 4 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({39}) zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Lisa Paus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein starker Haushalt für ein ökologisches und solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020 - Drucksachen 17/7952, 17/10081 Berichterstattung: Abgeordnete Bettina Kudla Michael Roth ({40}) Joachim Spatz Dr. Diether Dehm Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10081, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7952 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der SPD angenommen. Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({41}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Gesetze zu Fiskalvertrag und Europäischem Stabilitätsmechanismus ({42}) - Drucksache 17/10149 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Streitverfahren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten, mehrere Prozessbevollmächtigte zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage22358 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms gen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43}) Sammelübersicht 453 zu Petitionen - Drucksache 17/10134 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44}) Sammelübersicht 454 zu Petitionen - Drucksache 17/10135 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45}) Sammelübersicht 455 zu Petitionen - Drucksache 17/10136 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46}) Sammelübersicht 456 zu Petitionen - Drucksache 17/10137 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({47}) Sammelübersicht 457 zu Petitionen - Drucksache 17/10138 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Linken angenommen. Zusatzpunkt 4 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48}) Sammelübersicht 458 zu Petitionen - Drucksache 17/10139 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({49}) Sammelübersicht 459 zu Petitionen - Drucksache 17/10140 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Linken angenommen. Zusatzpunkt 4 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({50}) Sammelübersicht 460 zu Petitionen - Drucksache 17/10141 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({51}) Sammelübersicht 461 zu Petitionen - Drucksache 17/10142 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Darf ich das wiederholen, weil der Herr von der SPD anscheinend an der falschen Stelle die Hand gehoben hat? ({52}) Ich wiederhole: Sammelübersicht 461 auf Drucksache 17/10142. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? ({53}) Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({54}) Sammelübersicht 462 zu Petitionen - Drucksache 17/10143 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der KoaliVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses, Zusatzpunkte 5 bis 7. Ich rufe zunächst Zusatzpunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({55}) zu dem Gesetz zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid - Drucksachen 17/5750, 17/6264, 17/6507, 17/7240, 17/7543, 17/10101 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({56}) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses zu den Zusatzpunkten 6 und 7. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke Habe ich das jetzt richtig aufgenommen? ({57}) - Gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen - ({58}) - Gut, dann wiederhole ich die Abstimmung. Entschuldigen Sie. - Drucksache 17/10101. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von Linken und Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 6: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({59}) zu dem Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung - Drucksachen 17/5335, 17/5496, 17/8058, 17/8680, 17/10102 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/10102? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 7: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({60}) zu dem Gesetz zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien - Drucksachen 17/8877, 17/9152, 17/9643, 17/10103 Berichterstattung: Abgeordneter Michael Grosse-Brömer Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/10103? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ansonsten einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitglieder des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums gemäß § 39 a des Stasi-Unterlagen-Gesetzes - Drucksache 17/10089 Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlag auf Drucksache 17/10089? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Drucksache 17/10090 Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlag auf Drucksache 17/10090? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist ebenfalls einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und DIE LINKE Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Ge22360 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms setzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ - Drucksache 17/10091 Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Drucksache 17/10091? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Dies ist eine strittige Entscheidung: Alle Fraktionen haben zugestimmt mit Ausnahme der Grünen, die dagegen gestimmt haben. Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Korruption im Gesundheitswesen bekämpfen Konsequenzen aus dem BGH-Urteil ziehen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Edgar Franke von der SPD-Fraktion das Wort. ({61})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesgerichtshof, konkret: der Große Senat für Strafsachen, hat in der letzten Woche eine gerichtliche Entscheidung getroffen, die von weitreichender Bedeutung für das Gesundheitswesen ist. Pharmavertreter, die freiberuflich tätige Ärzte schmieren wollen, aber auch Ärzte, die sich schmieren lassen, können wegen Bestechlichkeit und Bestechung nicht bestraft werden. Um was ging es in diesem Verfahren konkret? Ein Hersteller von Generika hatte Ärzten, die seine Produkte verschrieben haben, als Belohnung 5 Prozent vom Herstellerpreis überwiesen. Dass das nicht sein darf, hat auch der BGH so gesehen. Er hat nämlich über ein Jahr lang nach einem Straftatbestand gesucht, der einschlägig ist. Es sei jedoch Aufgabe des Gesetzgebers, so der BGH, zu entscheiden - ich zitiere -: ob die Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist und durch Schaffung entsprechender Straftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werden soll. Nichts anderes hat die SPD schon in ihrem Antrag im Jahr 2010 gefordert. ({0}) Wir brauchen ergänzende Normen, um diese Regelungslücke zu schließen; denn es ist niemandem zu erklären, dass ein angestellter Arzt, wenn er geschmiert wird, bestraft werden kann, ein niedergelassener Arzt aber nicht. Das versteht keiner. ({1}) Der Grund ist ein rechtlicher: Er ist kein Beauftragter der Krankenkasse. Das heißt also: Ein freiberuflich tätiger Arzt kann selbst dann nicht bestraft werden, wenn er beispielsweise im Bereich der Onkologie, also im Bereich der Krebsbehandlung, wo es um Leben und Tod geht, Schmiergeld nimmt. Er kann selbst dann nicht bestraft werden, wenn er aufgrund von Schmiergeldzahlungen Medikamente verschreibt, die vielleicht sogar schlechter wirken und im Vergleich zu den Produkten anderer Hersteller teurer sind. Das kann nicht sein. Ich glaube, das kann man niemandem erklären. Vor allen Dingen kann man die volkswirtschaftlichen Schäden und die Schäden bei den Krankenkassen nicht erklären. Darauf muss man einmal hinweisen. Wir alle wissen: Ein Kassenarzt löst durch sein Tätigwerden - angefangen beim Ausstellen des Rezepts bis hin zu den Krankenhauseinweisungen - Kosten aus, die locker fünf- bis siebenmal so hoch sind wie sein Honorar. Die Liste der Abhängigen ist lang; auch das wissen wir. Das geht vom orthopädischen Schuhmachermeister - einer aus meinem Wahlkreis ist heute anwesend - über den Augenoptiker, das Sanitätshaus bis hin zum Hörgeräteakustiker. Alle Beteiligten können Geschichten erzählen von Fangprämien oder von Geldzahlungen. Das ist die Realität in Deutschland. Auch darauf muss man hinweisen. ({2}) Hier fließt nicht nur Geld, sondern - das ist vielleicht noch entscheidender - hier ist auch kein Unrechtsbewusstsein vorhanden. Es wird zwar verschiedentlich angemerkt, es gebe standesrechtliche Berufsordnungen der Ärzte und letztlich sei auch im SGB V geregelt, dass man solche Prämien nicht annehmen dürfe; aber weder das SGB V noch das Standesrecht sieht wirksame Sanktionen vor. Das wissen wir aus der Praxis. Die Patientinnen und Patienten müssen sicher sein, dass bei den Entscheidungen des Arztes für eine Therapie oder für eine Operation allein medizinische Gründe maßgebend sind und nicht monetäre Verlockungen, von wem auch immer. ({3}) Die Politik muss handeln. Damit hier kein falscher Zungenschlag aufkommt: Wir haben in Deutschland ein hervorragendes Gesundheitswesen. ({4}) - Sehr geehrter Herr Spahn, wir haben auch hervorragende niedergelassene Ärzte. Aber, Herr Spahn, gerade wenn man das System aufrechterhalten will, braucht man eine Abschreckung für diejenigen, die das System bewusst ausnutzen. Herr Spahn, ein Arzt, der betrügt, schädigt auch immer seine richtig abrechnenden Kollegen, weil es ja ein Gesamtbudget gibt. Das muss man auch ganz klar sagen. ({5}) Das ist nämlich kein Kavaliersdelikt. Herr Spahn, wenn man unser gutes Gesundheitswesen aufrechterhalten will, ist nach unserer Meinung ein spezieller Korruptionstatbestand notwendig. Wenn man jetzt nicht handelt, bedeutet das nicht einen Etappensieg der Freiberuflichkeit, wie das einige Ärzteverbände meinen, sondern vielmehr eine Legitimierung der Korruption in unserem Gesundheitswesen. Das ist die Wahrheit. ({6}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen eindringlich auf, endlich zu handeln. Die Vorschläge, die wir in unserem SPD-Antrag von 2010 gemacht haben, würden hierfür einen guten Weg weisen. ({7}) Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr. ({0})

Daniel Bahr (Minister:in)

Politiker ID: 11003495

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Korruption im Gesundheitswesen schadet dem Vertrauen, der Solidarität und der Finanzierbarkeit im Gesundheitswesen. Deswegen ist es richtig, dass alle Formen der Korruption im Gesundheitswesen entsprechend geahndet werden. Versicherte und Patienten müssen sich in Deutschland darauf verlassen können, dass sie die jeweils notwendige Behandlung bekommen - unabhängig von finanziellen Interessen des Arztes, aber auch unabhängig von den Interessen der Krankenversicherung. Insofern ist die Darstellung, der Bundesgerichtshof erlaube nunmehr, dass Ärzte Geschenke - beispielsweise von Pharmaunternehmen - annehmen dürften, falsch. Der Bundesgerichtshof hat sich ausschließlich mit der Frage beschäftigt, ob Ärzte als Angestellte und Beauftragte einer gesetzlichen Krankenversicherung gelten. Aus guten Gründen hat der Bundesgerichtshof diese Frage verneint. Ärzte sind nicht Angestellte und Beauftragte einer Krankenkasse, sondern sie sind in Deutschland aus guten Gründen und seit vielen Jahren Freiberufler. Daran will diese Koalition auch weiterhin festhalten. ({0}) Mediziner sollen nach medizinischen Gründen entscheiden - weder nach den finanziellen Interessen der Krankenkassen noch nach den finanziellen Interessen anderer Beteiligter am Gesundheitswesen. Ärzte sind eben keine Angestellten oder Beauftragten einer gesetzlichen Krankenkasse. Ein Arzt darf in seinem Verhalten weder von den Interessen eines Pharmaunternehmens noch allein von den Interessen einer Krankenkasse geprägt sein. ({1}) Wir müssen - und das macht die Gesundheitspolitik aus - dabei beide Seiten berücksichtigen: die berechtigten Interessen der Patienten, die bestmögliche Behandlung zu bekommen, und die berechtigten Interessen der Beitragszahler, dass mit begrenzten Ressourcen immer kostenbewusst und verantwortungsvoll umgegangen wird. ({2}) Genau in diesem Spannungsverhältnis befindet sich der Arzt. Aus guten Gründen setzen wir in Deutschland, anders als in anderen Ländern, weiterhin auf die freiberufliche Tätigkeit gerade des niedergelassenen Arztes. Herr Kollege, Ihre Darstellung, dass es keine Regelungen gebe, die Korruption im Gesundheitswesen ahnden oder untersagen, ist nicht korrekt. ({3}) Es gibt bereits heute mehrere Regelungen, die Korruption verbieten oder sogar ahnden. Lassen Sie mich kursorisch einige Beispiele nennen: § 32 Berufsordnung für Ärzte, § 5 Bundesärzteordnung, § 73 Sozialgesetzbuch V, § 128 Sozialgesetzbuch V, § 67 Arzneimittelgesetz, § 7 Heilmittelwerbegesetz oder auch § 4 Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Das jeweilige Strafmaß zeigt, dass falsches Verhalten konsequent geahndet wird. Immerhin kann einem tätigen Arzt die Approbation entzogen werden. ({4}) All das zeigt, dass uns schon heute Sanktionen zur Verfügung stehen, ein solches Verhalten zu ahnden. Im Übrigen hat die Koalition aus Union und FDP in dieser Legislaturperiode einige Regelungen, zum Beispiel in § 128 Sozialgesetzbuch V, erst geschaffen, um Fehlverhalten zu ahnden und Konsequenzen daraus zu ziehen. ({5}) Als zuständiger Bundesgesundheitsminister sage ich klar und deutlich: Wir werden das Urteil des Bundesgerichtshofs gründlich auswerten. Wir werden prüfen, ob und welche Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehen sind. Es ist zu prüfen, ob bestimmte Verbote strafbewehrt sein sollten. Ebenso ist zu prüfen, wie weitere Anregungen des Bundesgerichtshofs umgesetzt werden können. Beim Thema Freiberuflichkeit werden die Unterschiede, die es in diesem Parlament zwischen den gesellschaftlichen Konzepten und der Herangehensweise der politisch linken Seite und der bürgerlich liberalen Mitte gibt, die derzeit die Bundesregierung stellt, besonders deutlich. Für uns ist die Freiberuflichkeit des niedergelassenen Arztes ein hohes Gut. Sie trägt maßgeblich dazu bei, dass wir eine so gute Versorgung, wie wir sie derzeit haben, weiterhin gewährleisten können. Das ist im Interesse der Patienten und Versicherten in Deutschland. Die Gesundheitssysteme in Ländern, in denen Freiberuflichkeit nicht möglich ist, sind geprägt von einer Zweiklassenmedizin, das heißt, Mangelversorgung, sehr lange Wartezeiten und krasse Unterschiede bei der Behandlung. Das wollen wir in Deutschland nicht, und deswegen halten wir an der Freiberuflichkeit im Gesundheitswesen in Deutschland weiterhin fest. ({6}) Herr Kollege, es ist schon bemerkenswert: Während Ihrer Rede habe ich auf die Uhr geschaut und festgestellt, dass Sie nahezu 90 Prozent Ihrer Redezeit dafür gebraucht haben, um das deutsche Gesundheitssystem unter Generalverdacht zu stellen. ({7}) Das wird der Tätigkeit derer, die tagtäglich im Gesundheitswesen ihrer Arbeit mit viel Freude, Engagement und Leistungsbereitschaft nachgehen, nicht gerecht, und das wird auch dem Vertrauen, das die Patienten in das deutsche Gesundheitswesen haben, nicht gerecht. ({8}) Sie haben zwar in einem Satz zugegeben, dass wir auf unser leistungsfähiges deutsches Gesundheitssystem stolz sein können. Trotzdem stand der Generalverdacht der Korruption im Mittelpunkt Ihrer Rede. ({9}) Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen, das den Unterschied zwischen unseren Positionen verdeutlicht. Eine SPD-Gesundheitsministerin hat den Satz geprägt, dass mit der Ideologie der Freiberuflichkeit Schluss sein muss. Das zeigt die unterschiedliche Herangehensweise. ({10}) Ja, wir brauchen Regelungen, wir haben bereits Regelungen, und wenn es erforderlich ist, werden wir weitere Regelungen im Gesetz verankern, durch die Korruption und Fehlverhalten im Gesundheitswesen geahndet werden. Das Gesundheitswesen ist ein großer Markt, hier geht es um viel Geld. Wir haben eine ethische, eine soziale, eine rechtliche und eine wirtschaftliche Verantwortung für unser Gesundheitswesen. Deswegen müssen wir für einen Interessenausgleich sorgen und gesetzliche Regelungen in verantwortbarem Rahmen auf den Weg bringen. Für uns ist völlig klar: Wir wollen die freie Arztwahl und die Therapiefreiheit erhalten, weil wir wissen, dass der Patient davon profitiert. Ein Patient will, dass sich der Arzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit für die notwendige und bestmögliche Behandlung für den Patienten entscheidet. ({11}) Nur wenn der Arzt diese Freiheit hat und er nicht allein als Beauftragter oder Angestellter in der Funktionsträgereigenschaft einer Krankenversicherung handelt, kann sich der Patient weiterhin darauf verlassen, dass der Arzt dem Wohle des Patienten und den Interessen der Versicherten gleichermaßen verpflichtet ist. Dieser Aufgabe fühlen wir uns weiterhin verpflichtet. ({12}) Wir sehen die Selbstverwaltung bestehend aus gesetzlicher Krankenversicherung, Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern als Erstes in der Pflicht, Ärzte über die Regelungen im Gesetz zu informieren, Konsequenzen zu ziehen und bei entsprechendem Fehlverhalten ein Verfahren einzuleiten und die Fälle von Korruption zu ahnden. Es gibt Stellen, an die man sich wenden kann, wenn man den Verdacht hat, dass ein Fehlverhalten vorliegt. Schon heute sind im Gesetz Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen. Die müssen genutzt werden. ({13}) Wir werten das Urteil des Bundesgerichtshofs als Bestätigung unserer Position, dass der Beruf des freiberuflich tätigen Arztes in Deutschland erhalten bleiben soll. Wir sehen das Urteil des Bundesgerichtshofs natürlich mit Interesse. Wir werden es gründlich auswerten und dann entscheiden, ob daraus Konsequenzen zu ziehen sind und Gesetze geändert werden müssen. Die Konsequenzen können aber nicht schon ein paar Tage nach dem Urteil gezogen werden, sondern erst nach gründlicher Auswertung, erst recht, wenn es um Grundfragen unseres Gesundheits- und Rechtssystems geht. Erst nach einer gründlichen Auswertung können Konsequenzen gezogen werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit es gleich am Anfang gesagt ist: Das deutsche Gesundheitswesen ist gut, es ist leistungsfähig. Ich sage das, damit mir nach meiner Rede nicht wieder vorgeworfen wird, das nicht gesagt zu haben. Man kann aber nicht drum herumreden. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, geht, aber wenn ich zum Arzt gehe, dann will ich, dass der Arzt die Behandlung und die Medikamentenverschreibung allein aus medizinischen Erwägungen heraus vornimmt. ({0}) Vielleicht geht es Ihnen ja auch so. Ich will nicht, dass der Arzt dem eigenen Geldbeutel zuliebe eine andere Entscheidung trifft als die, die medizinisch angezeigt ist. Zum Glück ist der überwiegende Teil der Ärztinnen und Ärzte nicht bestechlich, sondern versucht, die bestmögliche Medizin zu liefern. Davon gehe ich aus. Aber wenn sich im Einzelfall herausstellt, dass eine Ärztin die Hand dafür aufgehalten hat, dass sie die Medikamente eines bestimmten Anbieters verschreibt, dann will ich, dass die Staatsanwaltschaft und die Gerichte die gesetzlichen Mittel haben, um dagegen strafrechtlich vorzugehen. ({1}) Dieses Mittel - das hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil aufgezeigt - gibt es aber nicht. Es gibt kein Gesetz, das den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten unter Androhung von Strafe verbietet, bestechlich zu sein. Das hat der Bundesgerichtshof vor wenigen Tagen klargestellt. Der Bundesgerichtshof hat der Politik mitgeteilt, dass sie ein entsprechendes Gesetz gegen die Bestechung der Ärzteschaft, falls gewünscht, gerne beschließen kann. Es hat dem Gesetzgeber sozusagen den Auftrag gegeben, darüber nachzudenken und entsprechende Schritte zu unternehmen. ({2}) Was war die Antwort unseres Gesundheitsministers? Er sagte: Dafür bin ich nicht zuständig; das sollen die Ärzte unter sich oder mit den Kassen regeln. Was sagt der gesundheitspolitische Sprecher der Union? Zitat: Die Freiheit der Ärzte ist eine der Stärken unseres Gesundheitssystems. ({3}) Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Da stellt ein Gericht fest, dass aufgrund der Freiberuflichkeit der Ärzte eine strafrechtliche Ahndung von Korruption nicht möglich ist, und Herr Spahn sagt dazu, das sei eine Stärke unseres Gesundheitswesens. Es geht immerhin um Milliardensummen aus den Versicherungsbeiträgen und um die Gesundheit der Patientinnen und Patienten. Dieses Gut muss man abwägen gegen die Raffgier einiger Ärzte und Ärztinnen. „Was ist da stärker zu gewichten?“, frage ich Sie. Für Herrn Singhammer von der CSU scheint das klar zu sein. Er schoss den Vogel ab und diktierte interessierten Medien in den Schreibblock - Zitat -: Handlungsbedarf hätte es nur gegeben, wenn der BGH … entschieden hätte, dass Ärzte Amtsträger oder Beauftragte der Kassen sind. Dann hätte der Gesetzgeber die Freiberuflichkeit der niedergelassenen Ärzte wieder herstellen müssen. Wenn das Gericht also festgestellt hätte, dass nach geltendem Recht Korruption bei Ärzten strafbar ist, dann hätte man schleunigst handeln und die korrupten Ärzte unter den Schutz der Freiberuflichkeit stellen müssen. Meinen Sie das ernsthaft? ({4}) „Wie weit reicht der Arm der korrumpierenden Pharmakonzerne denn schon?“, muss man sich da ernsthaft fragen. ({5}) Nennen Sie mir einen plausiblen Grund, warum niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, wenn sie sich bestechen lassen und sich zum Nachteil der Patientinnen und Patienten und zum finanziellen Schaden der Krankenversicherung die Taschen vollmachen, nicht genauso bestraft werden sollen wie angestellte Ärzte. ({6}) Warum sollen sie nicht genauso bestraft werden wie sonstige Angestellte, Beamte oder wir Abgeordnete? Auch bei uns steht, völlig zu Recht, wenn auch nicht hinreichend, Bestechung unter Strafe. Denken Sie bitte auch an die große Mehrheit der ehrlichen Ärztinnen und Ärzte. Die wünschen sich, dass diese strafrechtliche Lücke endlich geschlossen wird. Das sagte zum Beispiel der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Auch der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte sagte ganz klar - Zitat -: Wenn die Freiheit des Arztberufes die Freiheit zu Bestechung und Vorteilsnahme einschließt, so können wir auf diese Freiheit ohne weiteres verzichten, denn sie bedeutet gleichzeitig die Freiheit von Moral und Ethik. Zitat Ende. ({7}) Dem kann man sich meines Erachtens voll und ganz anschließen. Das ist der Auftrag, den der Bundesgerichtshof dem Deutschen Bundestag mitgegeben hat. Kriminelles Handeln muss auch bei freiberuflichen Ärzten strafbar sein. Es gibt hier eine Gesetzeslücke. Ich fordere Sie auf: Kommen Sie zu sich. Hören Sie auf, sich schützend vor kriminelle schwarze Schafe zu stellen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem - das hat man ja an den Reden von Ihnen, Herr Weinberg und Herr Franke, gemerkt - ist: Sie sind einfach nicht in der Lage oder zumindest nicht willens, bei diesem Thema auch nur ansatzweise zu einer differenzierten Betrachtung zu kommen ({0}) und sich die Diskussionslage genau anzuschauen. Um eines vorneweg zu sagen, weil Sie das hier so latent unterstellt haben - ich finde die Unterstellung an sich schon eine Unverschämtheit -: Niemand hier in diesem Parlament will Korruption oder findet Korruption richtig. Niemand findet, dass Korruption im Gesundheitswesen nicht bestraft, nicht geahndet werden soll, insbesondere wenn es um die Versorgung von Patienten und um die Frage, was das Richtige für die Patienten ist, geht. Niemand will das. Im Gegenteil: Gerade im Interesse der Patienten und vor allem der vielen Ärzte, die richtig und integer handeln, muss das natürlich geahndet werden. Das sagen wir, das sagt die Koalition, und das sagen natürlich auch die Ärzte. ({1}) Aber - da ist der Unterschied in unserer Betrachtungsweise - man sollte sich Zitate genau anschauen. Ich bleibe dabei: Es ist genauso im Interesse der Patientinnen und Patienten, dass Ärzte nicht Beauftragte oder Amtsträger von Krankenkassen sind. Wir in der Koalition jedenfalls wollen nicht, dass die niedergelassenen Ärzte in Deutschland quasi Staatsangestellte sind, wie es in anderen Gesundheitssystemen in Europa der Fall ist. Eines der größten Qualitätsmerkmale des deutschen Gesundheitssystems ist die Freiberuflichkeit, die Selbstständigkeit der niedergelassenen Ärzte. Diese machen nicht um 17 Uhr Feierabend, sondern sind um 21 Uhr noch im Einsatz. Sie setzen sich ein und engagieren sich. Wir wollen sie nicht unter Generalverdacht stellen. Wir halten es für einen Mehrwert, dass wir diese Freiberuflichkeit in Deutschland haben. ({2}) Wir halten es vor allem für einen Mehrwert für die Patientinnen und Patienten. Ich glaube, wenn Sie einmal die Menschen im Land fragen würden, ob sie wollen, dass ihr Arzt quasi ein Angestellter der Krankenkasse ist, ({3}) dann würden die meisten sagen, dass sie damit ein Problem hätten; das hätten sie zu Recht. Deshalb war es richtig, dass der Bundesgerichtshof klargestellt hat: Selbstständig tätige Ärzte sind nicht quasi Angestellte der Krankenkassen. ({4}) Das Problem an der Debatte, wie Sie sie vor allem in den Medien geführt haben - ich denke an Zitate des Kollegen Lauterbach und anderer -, ist, dass Sie einen Generalverdacht gegen die Ärzteschaft aussprechen. Wenn man Ihren Antrag zu diesem Thema liest, über den hier ja noch in zweiter und dritter Lesung debattiert werden wird, und die Wortwahl betrachtet, zum Beispiel „Abzocke“, man müsse den Patienten schützen, dann sieht man, dass Sie Ärzte, Apotheker und Patienten gegeneinander ausspielen wollen. Ich glaube, das führt nicht zu einer guten Behandlung. Die Menschen wollen ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Arzt haben können, und Sie machen es durch Generalverdacht kaputt. Das ist das eigentliche Problem in dieser Debatte. ({5}) Ich habe kein Problem damit, wenn es bei diesem Thema Unterschiede hier im Hause gibt. Jetzt zur Frage der Korruption. Natürlich müssen wir dagegen vorgehen. Wir haben sozialrechtlich in der Großen Koalition schon viel geregelt. ({6}) - Geregelt! - Ich kann mich gut erinnern: Die SPD war der Bremser, als es um § 128 SGB V, Zuweisung gegen Entgelt, ging. Es ging um die Frage, ob der Arzt einen Vorteil davon haben darf, wenn er die Patienten zu einer bestimmten Physiotherapiepraxis, zu einer bestimmten Apotheke oder zu einem bestimmten Krankenhaus schickt. Er darf natürlich keinen Vorteil dadurch haben. Das Patientenwohl muss im Mittelpunkt stehen und nicht das finanzielle Interesse des Arztes. Deswegen haben wir in dieser Koalition die Regelungen im Sozialgesetzbuch V noch einmal verschärft und gesagt, dass man als Strafe sogar seine Zulassung verlieren kann, wenn man so handelt. Sie sollten uns also nicht vorwerfen, dass wir nicht entsprechend aktiv werden. Nun zum Berufsrecht der Ärzte. Die Approbation könnte entzogen werden, ({7}) aber das müssen in den allermeisten Bundesländern die Landesregierungen machen. Das können die Ärztekammern nicht allein. Ich bin gespannt, ob die grüne Gesundheitsministerin in NRW endlich einmal anfängt, zu dieser Strafe zu greifen. Es passiert sehr selten, dass eine Landesregierung einem Arzt die Approbation entzieht. ({8}) Berufsrechtlich möglich wäre es schon heute. Die Instrumente müssen nur genutzt werden, auch und gerade in den Ländern. ({9}) Wir haben gesagt - der Bundesminister hat gerade noch einmal darauf hingewiesen -: Wir begrüßen es, dass niedergelassene Ärzte nicht Amtsträger der Krankenkassen sind und dass das Gericht das klargestellt hat. Das haben wir übrigens auch nie anders gesagt. Man muss Gesagtes nur einmal differenziert aufnehmen und auch hören wollen; das wäre ganz wichtig. Wir haben aber genauso gesagt, dass wir nach dem Urteil natürlich noch einmal schauen wollen, was man regeln sollte und kann, wenn es um Korruption, um Vorteilsnahme insbesondere bei Anwendungsbeobachtung geht, wo die Pharmaindustrie an manche Ärzte - es beteiligen sich ja bei weitem nicht alle Ärzte; Sie äußern ja immer einen Generalverdacht - Geld zahlt, wenn sie bestimmte Medikamente verschreiben. Da muss man mehr Transparenz reinbringen. Da muss es am besten eine entsprechende Einwilligung der Patienten geben, damit sie wissen, dass sie an einer solchen Anwendungsbeobachtung teilnehmen. ({10}) Wir sind bereit, das zu regeln, und werden das in den nächsten Tagen und Wochen in der nötigen Ruhe diskutieren. Aber ein Unterschied bleibt. Ich bin eigentlich ganz dankbar, dass er bleibt; denn er ist Ausdruck der unterschiedlichen Gedankenschulen. Wir halten es für einen großen Wert in Deutschland, dass wir freiberuflich tätige, niedergelassene Ärzte haben, die vor allem dem Wohl des Patienten verpflichtet sind und nicht Handlanger von Krankenkassen sind. Genau in dieser differenzierten grundsätzlichen Betrachtungsweise werden wir die Probleme, die vorhanden sind, angehen - ohne Generalverdacht und zum Wohle des Patienten. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben hier wieder einmal eine Aktuelle Stunde, in der versucht wird, Flagge zu zeigen. Sie von den Mehrheitsfraktionen wollen Flagge zeigen in Richtung Freiberuflichkeit. ({0}) Sie vonseiten der SPD versuchen, Flagge in Richtung Krankenkassen, in Richtung Versicherte, ein bisschen in Richtung Patienten - die kamen nicht so deutlich vor zu zeigen. Was wird gegeneinander ausgespielt? Freiberuflichkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite Korruptionsfreiheit, lauteres Verhalten. Diese beiden Dinge gegeneinander auszuspielen, ist nicht der richtige Weg. Von beiden Seiten ist das tendenziös und wird der eigentlichen Aufgabe, die wir hier haben, in keinster Weise gerecht. Das finde ich in dieser ganzen Debatte verlogen. ({1}) Erstens können wir uns alle miteinander hier keine Debatte leisten, nach der es in den Schlagzeilen heißt: Ärzte dürfen Geschenke annehmen. Das ist eine Debatte und eine Schlagzeile, die sich keiner hier im Raum erlauben kann. Das ist nämlich ein Angriff auf das allgemeine Rechtsempfinden in der Bevölkerung. Es muss klar sein, dass Korruption nicht geht, dass Bestechlichkeit nicht geht, dass Vorteilsnahme nicht geht. Gleichzeitig muss aber auch klar werden, dass ein Arzt keine Sonderstellung gegenüber anderen Berufen hat. Wo kommen wir denn dann hin? Es gibt sehr viele Berufe, in denen das Ethos der Freiberuflichkeit gelten muss. ({2}) Nehmen wir die Rechtsanwälte, nehmen wir andere freie Berufe. Das muss überall gelten. Von daher ist die heutige Diskussion für alle Anlass, aufzustehen und zu sagen: Nein, das gibt es nicht, das ist nicht in Ordnung, und wir werden dafür Sorge tragen, dass Korruption, wenn sie doch vorkommt, sanktioniert werden kann. ({3}) Das ist die erste Aufgabe und Aussage, die deutlich im Raum stehen muss. Sie haben genau das Gegenteil gemacht. Sowohl der Minister als auch die Redner von der Koalition haben insbesondere auf die Freiberuflichkeit abgehoben. Das haben Sie bewusst gemacht, weil Sie ein Signal an Ihre Klientel, an Ihre Wählergruppen, senden wollten. Darum ging es an dieser Stelle. Da brauchen Sie der Opposition nicht scheinheilig etwas anderes zu unterstellen. Das ist einfach nicht lauter. Zweitens dürfen wir hier nicht so tun - das ist hier passiert -, als gäbe es genug Regelungen, sodass wir nichts mehr zu tun bräuchten. Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Wir alle wissen, dass wir zwar sozialrechtliche Regelungen, juristische Regelungen und berufsrechtliche Regelungen haben, gleichzeitig wissen wir, dass Korruption im Einzelfall vorkommt. Wir wissen auch, dass sie in einzelnen Branchen nicht nur in Einzelfällen vorkommt. ({4}) Sie alle werden genau wie ich Zuschriften erhalten, in denen - im Übrigen häufig von Ärzten - mit großer Empörung berichtet wird, dass es diese Einflussnahmeversuche beispielsweise von Pharmafirmen gibt. Ich jedenfalls erhalte diese Anschreiben. Ich denke, sie werden in gleicher Weise auch an alle anderen gegangen sein. Das heißt, wir haben weiterhin eine Aufgabe. Im Urteil wurde dargelegt, dass es einen strafrechtsfreien Raum gibt. Die Rechtsprechung hat vorher versucht, ihn mit einem kleinen Trick zu füllen. Sie hat nämlich, in22366 dem sie die Ärzte in Amtsträger oder verlängerte Angestellte ({5}) eines geschäftlichen Betriebes umfunktionierte, künstlich einen Straftatbestand geschaffen. Das ist jetzt gestoppt worden. Es ist gesagt worden: Nein, das ist keine ordentliche Grundlage. Lieber Gesetzgeber, überprüfe, ob es hier eine Strafbarkeitslücke gibt! Wenn ja, sorge dafür, dass eine neue Regelung getroffen wird. - Damit müssen wir uns jetzt sorgfältig beschäftigen. Das ist schlichtweg die Aufgabe, die wir alle miteinander haben. ({6}) Wenn ich das ganze Gerede, wir würden schon so viel machen, höre, dann kann ich nur daran erinnern: Im Ausschuss ging es um die Berichte über die Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen. Was steht da drin? Darin heißt es: Wir wissen von nichts. Wir haben Daten, die nicht miteinander kompatibel sind. 2004 sind diese Stellen eingerichtet worden. 2011 gibt es noch nicht einmal eine Übereinkunft darüber, welche Daten wir gemeinsam erfassen. Das ist doch Wahnsinn! Das ist doch kein Signal an die schwarzen Schafe, dass wir ernsthaft gegen sie vorgehen! Was heißt das eigentlich? ({7}) Das sind die Aufgaben, die wir angehen müssen, und das werden unsere nächsten Schritte sein. Ich finde, es ist, gelinde gesagt, eine Frechheit, wenn wir auf eine Kleine Anfrage vom Ministerium die Antwort bekommen: Daten liegen uns nicht vor. Wir können sie leider auch nicht beschaffen. - Zu all den Verfahren, in denen es darum ging, zu erfahren, ob es berufsrechtliche Verfahren gibt und ob es zur Weitergabe von Verfahren an die Staatsanwaltschaft kommt, hieß es: Uns liegen keine Erkenntnisse vor. Uns liegen keine Daten vor. Welche Konsequenz wird daraus gezogen? Wird etwa gesagt: Wir schaffen jetzt Transparenz? Nein. Ich denke, im Hinblick auf das Verfahren ist das ein Riesenfehler, ein Riesentort. Es muss doch als Erstes darum gehen, Transparenz zu schaffen. Denn sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir die schwarzen Schafe zunächst stringent erfassen und im nächsten Schritt eine vernünftige gesetzliche Regelung zur Strafbarkeit treffen. ({8}) Das wird die Aufgabe sein, die wir in Zukunft zu bewältigen haben. Ich bin gespannt, was nach den Ferien auf uns zukommt. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDPFraktion. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Wochen hat die SPD durch Arbeitsverweigerung verhindert, dass der Antrag, auf den Sie sich bezogen haben, Herr Franke, hier behandelt werden konnte. ({0}) Jetzt versuchen Sie, das nachzuholen. Ich glaube, dass Sie das Urteil des BGH viel gründlicher hätten lesen sollen. Dieses Urteil ist nicht nur in juristischer Hinsicht sehr interessant - meiner Ansicht nach ist es auch vollkommen richtig -, sondern auch seine Begründungen sind sehr interessant. Am Ende, wenn der Bundesgerichtshof erklärt, wie die Dinge zusammenhängen, taucht nämlich das Stichwort der Freiberuflichkeit auf. ({1}) - Frau Bender, nun krähen Sie doch nicht dazwischen. ({2}) Es ist so: Wenn Ärzte keine Amtsträger, keine Beauftragten, keine Angestellten und keine Funktionsträger sind, dann sind sie Freiberufler. Dann gelten für sie, was die Strafbarkeit angeht, dieselben Regelungen wie für alle anderen Freiberufler. Frau Klein-Schmeink kann uns ja nachher einmal erklären, wie man in bestimmten Konstellationen einen Rechtsanwalt bestechen kann. Dann führen wir eine rechtspolitische Debatte; auch darauf freuen wir uns. ({3}) Im Übrigen hat der BGH festgestellt, dass ein Arzt im konkreten Fall nicht deshalb tätig wird, weil er sich in einer hierarchischen Struktur bzw. in einer Dienststellung befindet, sondern aufgrund der individuellen, freien Auswahl der versicherten Person. Hier sind wir beim Arzt-Patienten-Verhältnis, beim Vertrauensverhältnis; das ist eine wichtige Grundentscheidung, die man erst einmal treffen muss. Wir haben dieses Thema also nicht erfunden, sondern Sie haben es vor dem Hintergrund des BGH-Urteils auf die Tagesordnung setzen lassen. Ich danke insbesondere Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, dass er dies klar herausgestellt hat. Im Übrigen war es sehr hilfsreich, dass er alle Paragrafen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, einmal geHeinz Lanfermann nannt hat; im Redebeitrag von Herrn Franke wurden sie nämlich nicht erwähnt. ({4}) Sie werden übrigens auch in Ihrem Antrag, auf den Sie so stolz sind, nicht erwähnt. Man fragt sich: Was ist eigentlich in den sieben Jahren, in denen es rot-grüne Regierungen gab, an dieser Stelle passiert? Hat es Sie nicht jede Nacht umgetrieben, dass es hier keinen Straftatbestand gibt? Oder waren Sie etwa mit den Regelungen, die es schon damals gab - 2011 sind sie ja nur etwas modernisiert worden -, zufrieden? Die Regelung, dass für Ärzte das Standesrecht gilt, hätte Ihnen doch eigentlich schon damals nicht reichen dürfen. Tatsächlich beklagen Sie - hier stimme ich Ihnen ja zu -, dass es an der einen oder anderen Stelle Vollzugsdefizite gibt. Diese gibt es übrigens auch sonst, bei jeder Form von Recht und Verwaltung. Lassen Sie uns daran arbeiten! Machen Sie doch einmal Vorschläge, wie das, was schon Recht ist, auch entsprechend umgesetzt werden kann! Der Vollzug muss funktionieren, dann wird auch etwas erreicht. Immer Neues zu fordern, hilft nicht. Wenn der SPD keine neue Steuer einfällt, dann fällt ihr halt ein neuer Straftatbestand ein. ({5}) Sie sind mit Ihrer Denkweise kassenorientiert. Das merkt man auch genau, wenn man liest, wie der Straftatbestand aussehen soll, den Sie fordern. Der BGH hat in der Tat indirekt gesagt, dass man prüfen soll. Das werden wir auch äußerst gründlich tun. Sie kommen sich aber klüger vor und fordern zum Beispiel - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen -: Es wird ein besonderer, auf sozialversicherungsrechtliche Sachverhalte abzielender Straftatbestand geschaffen, der neben dem Vermögen die besondere Stellung der gesetzlichen Krankenversicherung und der Patientinnen und Patienten schützt. ({6}) Dass die besondere Stellung geschützt werden soll, kennen wir sonst nur bei Staats- oder Verfassungsorganen. Man fragt sich, was das bedeuten soll. In der Begründung bejammern Sie: Das gesundheitliche Risiko für den Patienten und die generelle Frage der Behandlungsqualität spielen für die strafrechtliche Qualifizierung als Betrug keine Rolle. Na so was, das ist ja wirklich etwas ganz Tolles. Sie beklagen hinsichtlich des Betruges weiter: Dieser schützt als reines Vermögensdelikt - das ist er in der Tat; aus gutem Grund … nur tatsächliche, objektiv messbare Eingriffe in das Vermögen. - Das ist richtig. Für den optimalen Schutz sozialversicherungstypischer Rechtsgüter ist daher die Schaffung eines speziellen Straftatbestandes dringend erforderlich. Hier empfehle ich, neben dem SGB und auch einmal das Strafgesetzbuch zu lesen und zu verstehen. Dann merken Sie nämlich, dass Sie hier etwas Unmögliches fordern. Auf die auch von Ihnen, Frau Reimann, heute in einem Interview angekündigte Initiative hinsichtlich eines Straftatbestandes bin ich sehr gespannt. Aus dem, was Sie sagen, kann ich nicht erkennen, dass hier irgendetwas „gebacken“ wird, mit dem man etwas anfangen kann. Wir werden prüfen, und wir werden zu guten Ergebnissen kommen. Ich denke, es ist gut, wenn man sich in der Diskussion dann auch einmal wieder auf die Fakten bezieht, wenn die Rechtslage einmal wirklich sorgfältig geprüft wird und wenn eine solch sensible Diskussion nicht mit dieser Fülle von Verdächtigungen und Unterstellungen geführt wird, mit denen Sie heute hier aufgewartet sind. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Max Straubinger für die CDU/ CSU-Fraktion.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Aktuelle Stunde durch, die keine Aktuelle Stunde mehr sein kann, weil sie schon für den 15. Juni 2012 beantragt worden war. Durch ihre Arbeitsverweigerungshaltung ({0}) hat die SPD die Durchführung dieser sogenannten Aktuellen Stunde zu dem Zeitpunkt, als sie noch aktuell gewesen wäre, verhindert, nämlich im Vorfeld der Entscheidung des Bundesgerichtshofs über Korruption im Gesundheitswesen. Mittlerweile hat sie an Aktualität verloren. Das liegt an der SPD und an den linken Fraktionen hier in diesem Hause, die an diesem Tag Arbeitsverweigerung betrieben haben. ({1}) Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine solche Debatte hier natürlich zu verstehen. ({2}) Wir stellen fest - der Kollege Jens Spahn und auch der Bundesminister haben dies schon getan -, dass die Bekämpfung von Korruption natürlich in unser aller Sinne ist. Niemand will Korruption. Das gilt nicht nur für das Gesundheitswesen, sondern für das gesamte Wirtschaftswesen in unserem Lande. ({3}) Deshalb ist die Bekämpfung von Korruption natürlich eine große Aufgabe, die wir hier zu bewältigen haben. Der Kollege Franke hat sich auf den Sachverhalt berufen, um den es bei der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ging. Dieser ist natürlich verurteilenswert; das ist überhaupt keine Frage. Hier haben wir auch keinen Dissens. Bei seiner Darstellung hat er aber einen Fehler gemacht; denn er hat die Grundlage vergessen. Es geht nämlich um das Jahr 1997, und 1997 sah die Rechtssituation noch völlig anders aus als mittlerweile. Zum damaligen Zeitpunkt war es noch möglich, durch den Einsatz von besonderer Praxissoftware entsprechende verurteilenswerte Regelungen mit Ärzten zu treffen. Ich erinnere daran, dass wir 2006 in der Großen Koalition beschlossen haben, dass Praxissoftware nur noch in dem Sinne eingesetzt werden darf, dass kein Hinweis mehr auf irgendwelche Hersteller von Arzneimitteln gegeben ist. Somit wurde in diesem Bereich eine Praxis ausgeschlossen, die in früheren Jahren und Jahrzehnten durchaus möglich war. Auch das zeigt sehr deutlich, dass Sie etwas hinterherhinken. In diesem Sinne haben Sie auch Ihren Antrag aufgebaut, der noch Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag sein wird. Ich hoffe nur, dass die Grundlage Ihres Antrages besser ist als manche Grundlage, die heutzutage im Zusammenhang mit Korruption und Fehlverhalten geboten wird. Ich führe uns nur zu Gemüte, dass eine Grundlage für die Behauptung, dass massenhaft Fangprämien in unserem Gesundheitswesen gezahlt werden, die Aussagen von 63 Ärzten von insgesamt 155 000 angestellten Ärzten sein sollen. Ich finde, das sind dürftige Grundlagen. Ich hoffe, dass in Ihrem Antrag die Grundlage etwas kräftiger ist. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte kurz auf den Antrag eingehen, den bereits der Kollege Lanfermann erwähnt hat. Bereits in der Einleitung stehen falsche Feststellungen. Es ist die Rede von nun anstehenden Beitragssatzsteigerungen und der in Zukunft drohenden Kopfpauschale und dergleichen mehr. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sollten einmal die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Im Gegensatz zu Ihren Regierungen haben wir im Krankenversicherungssystem nicht Schulden, sondern Überschüsse angehäuft, und zwar dank einer guten Wirtschaftspolitik, aber vor allem dank einer guten Gesundheitspolitik, betrieben durch unseren Bundesminister Daniel Bahr und die die Regierung tragenden Fraktionen. ({4}) Bemerkenswert ist, dass die Landesminister der SPD offensichtlich mehr auf der Höhe der Zeit sind. Jetzt war ja die Landesministerkonferenz. Und was fällt den SPDKollegen ein? Die Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen. ({5}) Offensichtlich haben wir viel zu viel Geld. Ich weiß nicht, wie dies in Einklang zu bringen ist mit dem, was Sie seinerzeit in den Antrag geschrieben haben. ({6}) Dies zeigt sehr deutlich: Sie wollen mit dieser Diskussion einen ganzen Berufsstand diffamieren. ({7}) Es sind also nur Lippenbekenntnisse, die Sie getätigt haben. Der Kollege Spahn hat es ja bereits klar und deutlich gesagt: 90 Prozent über Korruption zu reden und dann zu schließen, dass wir ein gutes Gesundheitssystem haben, wird meines Erachtens einer differenzierten Betrachtungsweise in keinster Weise gerecht. Deshalb werden wir zukünftig Ihre Anträge ablehnen. ({8}) Die heutige Aktuelle Stunde zeigt sehr deutlich: Ihre Argumente sind in keinster Weise überzeugend. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Spiegel dieser Woche wurde Herr Spahn mit den Worten zitiert: Falls die Bundesrichter den Korruptionsparagrafen … anwenden …, werden wir das rechtlich so klarstellen, dass ein solches Urteil künftig anders aussehen müsste. Da wird mit markigen Worten das Bundessozialgericht in die Schranken verwiesen. Wenn hier Korruption für den niedergelassenen Arzt eingeschränkt wird, dann werden wir auf jeden Fall sicherstellen, dass die Korruption weiter stattfinden kann. Das ist ja das, was Sie sagen. Ich muss ehrlich sagen: Für eine solche Aussage sollten Sie sich als gesundheitspolitischer Sprecher Ihrer Partei schämen. ({0}) Sie sollten sich nicht wundern, dass aufgrund dieser Aussage und der Einlassungen von Ihnen, Herr Singhammer, bei den meisten Journalisten der Eindruck entsteht, dass für die CDU nicht die Korruption das eigentliche Problem zu sein scheint, sondern die Bekämpfung der Korruption. Damit entsteht in der Öffentlichkeit der verheerende Eindruck, dass Sie die Korruption schützen wollen. Es ist richtig, was Herr Spahn sagt, dass niemand hier Korruption will; das ist nicht der springende Punkt. Die Frage ist: Wer hier im Haus will Korruption schützen, und wer will sie bekämpfen? ({1}) Das hat auch nichts mit der Frage zu tun, was 1997 möglich war. Zum jetzigen Zeitpunkt laufen mehrere Gerichtsverfahren, in denen es darum geht, dass Patienten Medikamente im Rahmen einer Chemotherapie bekommen haben, die sie nicht brauchten, was die Ärzte wussten. Diese haben Geld dafür bekommen, dass sie den Patienten diese Wirkstoffe gegeben haben. ({2}) Stellen Sie sich einmal vor, das würde Ihnen oder Ihren Verwandten, Ihrer Mutter passieren. Sie würden erfahren: Hier ist eine Chemotherapie durchgeführt worden, diese hat aufgrund falscher Medikamente nicht gewirkt, und die Mutter muss sterben. Das sind reale Fälle. Jetzt kommt die CDU/CSU und sagt: Wir müssen dafür sorgen, dass das weiterhin möglich ist. - Was geben Sie hier für ein beschämendes Bild ab! ({3}) Der Minister trägt vor, dass seiner Meinung nach die Entscheidungen der Ärzte nach medizinischen Kriterien und nicht nach finanziellen Kriterien getroffen werden. Gleichzeitig trägt er zehn Minuten lang vor, dass er alles tun wird, damit das Gegenteil weiter möglich bleibt. ({4}) Dabei darf man sich nicht fragen, weshalb die FDP in der Gesundheitspolitik die geringste Glaubwürdigkeit hat. Stetig kommt von Ihnen die Ankündigung des Gegenteils von dem, was Sie in Wirklichkeit wollen. ({5}) Das will der Wähler nicht mehr hören. Entweder sind Sie dafür, dass wir etwas gegen Korruption tun, oder Sie haben wenigstens den Mut, zu sagen: Ich möchte, aus welchen Gründen auch immer, nichts gegen Korruption tun. Ich möchte keinen Streit mit den Ärzten. Angesichts der 5-Prozent-Hürde kann ich mir einen solchen Streit derzeit nicht leisten. Ich brauche diese Stimmen. ({6}) - Nein, das ist die Wahrheit. ({7}) Sie kämpfen doch um die Zustimmung der Ärzteschaft. Mehr ist es doch nicht. Seien Sie doch ehrlich! Sie haben hier eben vorgetragen, es ginge uns um die Freiberuflichkeit der Ärzte. ({8}) So dumm ist doch selbst bei Ihnen niemand. Sie wissen ganz genau: Die Amtsträgerschaft ist eine strafrechtliche Kategorie. Das hat nichts mit Freiberuflichkeit und nichts mit Dienstverhältnissen zu tun. Das ist nichts anderes als eine billige Hetze. Sie wollen hier nur täuschen. Ein Chefarzt im Krankenhaus, der wegen Korruption belangt werden kann, ist kein Angestellter der Kassen. ({9}) Das wissen selbst Sie, Herr Lanfermann! Herr Lanfermann, Sie würden doch nicht sagen, dass der Krankenhausapotheker oder der Krankenhausarzt ein Angestellter der Kassen ist. ({10}) Das weiß doch auch Herr Bahr. Sie schämen sich doch im Prinzip für Ihre eigene Position. Seien wir doch hier im Haus eine Sekunde lang ehrlich! ({11}) Die Wahrheit ist: Sie wollen die Korruption bei niedergelassenen Ärzten zulassen, derweil sie zu Recht im Krankenhaussektor verboten ist. Das ist eine Ungleichbehandlung. Das schützt die Unehrlichen. ({12}) Das ist eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung. Das ist gegen die Patienten, gegen die Versicherten, gegen ehrliche Ärzte und schützt die wenigen korrupten Ärzte, vor die Sie sich stellen, weil Sie glauben, dass Ihnen das ein paar Stimmen bringen wird. ({13}) Da werden Sie sich aber geschnitten haben. Zum Schluss. Durch das angesprochene Urteil wird dieses Problem massiv an Bedeutung gewinnen. Das ist sogar für Sie, Herr Kauder, von Bedeutung. ({14}) Das Urteil wird dazu führen, dass diese Art der Korruption zunimmt. Dieses Urteil ist dafür im Prinzip ein Freibrief. Dann müssen Sie Ihre Position durchhalten und sagen: Der Krankenhausarzt, der Krankenhausapotheker und der Chefarzt werden strafrechtlich verfolgt, wenn sie Geld annehmen, aber der niedergelassene Arzt nicht. Ich sage Ihnen voraus: Das werden Sie weder rechtlich noch politisch schaffen. Zum Schluss werden Sie gezwungen sein, mit uns gemeinsam etwas zu unternehmen, damit diese unehrenhafte und unwürdige Form der Korruption in unserem Gesundheitssystem unterbunden wird. Davon bin ich fest überzeugt. ({15}) - Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? Dann erheben Sie sich bitte. Ich lasse eine Zwischenfrage zu. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, in Aktuellen Stunden gibt es keine Zwischenfragen. Das wäre also falsche Großzügigkeit. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann nehme ich diese Großzügigkeit zurück. ({0}) - Ich komme ja zum Schluss. ({1}) - Herr Kauder, es mag Ihnen als Nichtfachpolitiker entgangen sein: Wir haben einen Gesetzentwurf in Vorbereitung und schon einen Antrag vorgelegt, mit denen wir die Bekämpfung der Korruption vorantreiben wollen, die Sie schützen. ({2}) Wir haben einen Antrag zur Bekämpfung der Korruption bei niedergelassenen Ärzten vorgelegt und werden Sie nach der Sommerpause mit einem entsprechenden Gesetzentwurf unterstützen. Sie werden zum Schluss die Kurve bekommen und uns in dieser Sache bestätigen, weil Sie die unpopuläre und auch falsche Position in der Öffentlichkeit nicht durchhalten können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erwin Lotter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003895, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lauterbach, was Sie eben vorgebracht haben, ist billigste Polemik. ({0}) Zum Beispiel der Chemotherapie ist zu sagen: Das ist wissentlich eine falsche Behandlung. Das ist sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich zu ahnden. ({1}) Ich bin kein Jurist, aber das habe sogar ich verstanden. Liebe Kollegin Klein-Schmeink, wenn Sie in Bezug auf das ärztliche Berufsethos Zweifel haben, dann gebe ich Ihnen den dringenden Rat, nächstes Mal meinen ärztlichen Kollegen in Ihrer Fraktion zu befragen und sich zu informieren, statt hier unqualifizierte und diffamierende Äußerungen von sich zu geben. ({2}) Im Übrigen versucht die Opposition, ein totes Pferd zuschanden zu reiten. Denn bereits vor einem Jahr hat die SPD einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der die ganze Ärzteschaft unter Generalverdacht stellte und an allen Ecken und Enden Korruption witterte. ({3}) Für die Sozialdemokraten war das Strafrecht das Mittel der Wahl, um angeblich unkontrolliertes Fehlverhalten der Ärzte mit dem Holzhammer zu sanktionieren. Dankenswerterweise hat der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs die juristische Seite dieser unsäglichen Debatte letzte Woche beendet. ({4}) Denn das Gericht hat unmissverständlich klargestellt: Niedergelassene Ärzte sind weder Amtsträger noch Beauftragte einer öffentlichen Körperschaft. Sie sind somit keine Adressaten der Strafvorschriften wegen Bestechlichkeit. Entsprechendes gilt für Vertreter der Pharmaunternehmen, die auch nicht wegen Bestechung verurteilt werden können. Das ist ein glasklares Verdikt. Was aber macht die Opposition? Sie inszeniert einen Sturm der Entrüstung und ruft lauthals nach einem neuen Paragrafen im Strafrecht. ({5}) Der Tatbestand soll auf niedergelassene Ärzte ausgeweitet werden. Auch hier zeigen sich wieder das gleiche krude Verständnis vom Wesen der Ärzteschaft und die gleiche Missachtung eines ganzen Berufsstands. ({6}) Den Ärzten wird prinzipiell Misstrauen entgegengebracht. Sie sollen potenziell kriminalisiert und an den Pranger gestellt werden. Dies, meine Damen und Herren, machen wir Liberalen und die Regierungskoalition nicht mit. Die von der Koalition bewiesene Besonnenheit in dieser Frage hat sich als richtig erwiesen. Schon vor einem Jahr habe ich darauf hingewiesen, dass es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers ist, bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen den Schiedsrichter zu spielen. Die KoaliDr. Erwin Lotter tion hat sich entschlossen, die Klarheit einer höchstrichterlichen Entscheidung als Maßstab zu wählen. Auf keinen Fall werden wir dem populistischen Mantra der Opposition folgen, das zur Verunglimpfung eines ganzen Berufsstands führt. ({7}) Zu Recht hat die Bundesärztekammer in ihrer Stellungnahme zu dem Urteil darauf hingewiesen, dass dieses die Freiberuflichkeit des niedergelassenen Arztes und seinen daraus resultierenden Status betont. Das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten ist geprägt durch persönliches Vertrauen und durch eine Gestaltungsfreiheit, die den Kontrollfanatikern der Opposition offensichtlich fremd ist. Was würde denn passieren, wenn die Opposition ihren völlig unangemessenen Vorschlag einer Strafbewehrung durchsetzen könnte? Entscheidungen über die Verschreibung von Medikamenten würden nicht mehr nach therapeutischen und qualitativen Kriterien erfolgen. Das Wichtigste wäre die Frage: Hat der Vertreter eines Unternehmens schon einmal ein Päckchen dieses oder jenes Präparats in meiner Praxis gelassen? So etwas, meine Damen und Herren, kann nun wirklich nicht im Sinne einer bestmöglichen medizinischen Versorgung sein. Im Gegenteil: Wie der BGH ausführt, ist die Verordnung eines Arzneimittels untrennbar Bestandteil der originär ärztlichen Behandlung, und sie vollzieht sich innerhalb des „personalgeprägten Vertrauensverhältnisses“ zwischen Arzt und Patient. Genau so ist es, und so soll es auch bleiben. ({8}) Übrigens ist es nach wie vor unbestreitbar, dass die ärztliche Berufsordnung ein korruptives Verhalten von Medizinern als Verstoß ansieht. In § 31 der bundesweit gültigen Berufsordnung ist klar geregelt: Ärztinnen und Ärzten ist es nicht gestattet, … für die Verordnung oder den Bezug von Arzneimitteln … ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich oder Dritten … gewähren zu lassen … Die Ärzteschaft selbst ist und bleibt daran interessiert, verehrter Herr Kollege von der Linken, schwarze Schafe in ihren Reihen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Die von den Krankenkassen sowie den Körperschaften der Ärzte und Zahnärzte eingerichteten organisatorischen Einheiten zur Bekämpfung korruptiver Verhaltensweisen arbeiten seit Jahren erfolgreich. Auf diesem Weg werden wir fortschreiten. Das Bundesgesundheitsministerium hat deutlich gemacht, dass es an der Freiberuflichkeit der Vertragsärzte nicht rütteln wird und keinen Handlungsbedarf des Gesetzgebers sieht. ({9}) Ohne die Freiheit der Ärzte wird unser Gesundheitssystem entscheidend geschwächt. Als Liberale stehen wir voll und ganz hinter diesem Berufsbild, das von Vertrauen in den Einzelnen und seine Urteilsfähigkeit geprägt ist. Das sensible Verhältnis zwischen Arzt und Patient darf nicht infrage gestellt werden. Dafür stehen wir weiterhin ein. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Korruption ist durchaus ein Problem im Gesundheitswesen. Bis zu 18 Milliarden Euro im Jahr - so schätzen Experten - gehen den Versicherten durch Korruption, Abrechnungsbetrug und Falschabrechnungen verloren. Das allein ist schon schlimm genug. Doch zum finanziellen Schaden kommen ernsthafte gesundheitliche Gefahren für Patientinnen und Patienten hinzu, wenn die ärztliche Behandlung von dubiosen Zahlungen der Pharmaindustrie beeinflusst wird. Spätestens an dieser Stelle muss jedem einleuchten, dass es sich hier nicht um Kavaliersdelikte handelt. ({0}) Korruption schadet unserer Solidargemeinschaft und gefährdet die Gesundheit von Patientinnen und Patienten. Das Urteil des BGH besagt klar: Dies ist effektiv und wirksam zu unterbinden. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Es wird höchste Zeit, dass die Bundesregierung handelt. Um es noch einmal für diejenigen in diesem Hause, die es noch immer nicht verstanden haben, ganz deutlich zu sagen: Hier geht es nicht um einen Generalverdacht gegen die gesamte Ärzteschaft. ({1}) Es geht auch nicht darum, einen ganzen Berufsstand in Zweifel zu ziehen. Hier geht es um die Bekämpfung von Korruption. Es geht um einzelne Ärzte, um schwarze Schafe, die mit ihrem Verhalten die große Mehrheit der Ärzte, die tagein, tagaus gute Arbeit leisten, in Misskredit bringen und das Vertrauen in deren Arbeit untergraben. Vor allem geht es um den Schutz von Patientinnen und Patienten, die den Anspruch haben, dass allein medizinische Gründe - das wird von allen hier betont - für eine gewählte Behandlung den Ausschlag geben und nicht die Höhe der Zuwendung des Pharmareferenten. Der Einsatz von Union und FDP bei der Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen lässt sich bestenfalls mit dem Begriff „Arbeitsverweigerung“ beschreiben. Das haben wir bei CDU und CSU schon in der Großen Koalition feststellen müssen. Das setzt sich nun bei Schwarz-Gelb nahtlos fort, trotz der zahlreichen Skandale der vergangenen Jahre. Es ist schon erstaunlich und sogar beängstigend, wie unbeeindruckt hier Mitglie22372 der der Koalitionsfraktionen und der Minister selbst nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs an ihrer Untätigkeit festhalten. ({2}) Der BGH selbst spricht von korruptivem Verhalten und davon, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist - ich zitiere -, „darüber zu befinden, ob die Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist und durch Schaffung entsprechender Straftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werden soll“. Wer die überdeutlichen Rechtslücken nicht schon während dieses Rechtsstreits erkannt hat, der müsste spätestens nach diesem Urteil und dieser Aussage verstanden haben, dass hier kein Prüfbedarf, Herr Minister, sondern Handlungsbedarf besteht. ({3}) Ich hätte mir gewünscht, dass hier ein klares Bekenntnis des Ministers kommt. Stattdessen präsentieren Sie uns windelweiche Prüfankündigungen. Offensichtlich ist diese Regierung nicht an einer effektiven strafrechtlichen Ahndung dieser Missstände interessiert. Offenbar können Sie ganz gut damit leben, dass man sich als Arzt in Deutschland nicht strafbar macht, wenn man sich von der Pharmaindustrie schmieren lässt. Das empfinde ich als Skandal. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Verweis auf das Berufsrecht und die Regelungen im SGB V ist ja richtig. Sie ändern aber nichts daran, dass diese Regelungen - das wissen Sie ganz genau - nicht scharf genug sind. Es fehlt die strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit. Ohne Straftatbestand werden Sie diese Probleme auch nicht in den Griff bekommen. Was für angestellte Ärzte gilt, muss auch für niedergelassene Ärzte gelten. Tun Sie doch nicht so, als sei die Freiberuflichkeit oder die Freiheit in Gefahr, wenn man korruptives Verhalten konsequent verfolgt. Korruptives Verhalten ist strafwürdiges Unrecht. ({5}) Deshalb: Sorgen Sie für eine effektive strafrechtliche Ahndung. Wir brauchen eine wirksame Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen, damit sich die Patientinnen und Patienten darauf verlassen können, dass sie wirklich das verschrieben bekommen, was medizinisch begründet ist, und nicht das, woran der Arzt mitverdient. Das trägt auch dazu bei, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient keinen Schaden nimmt. Danke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dietrich Monstadt für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Beschluss des BGH, dass Ärzte weder als Amtsträger noch als Beauftragte der Krankenkassen einzustufen sind. Auf die Erforderlichkeit dieser Aktuellen Stunde, die nur der Arbeitsverweigerung der Opposition geschuldet ist, hat der Kollege Straubinger, wie ich finde, schon nachdrücklich hingewiesen. ({0}) - Wir waren da. Wir sind uns einig, dass der Arzt die Medikamente zu verordnen und die Behandlung durchzuführen hat, die unter medizinischen Gesichtspunkten für seinen Patienten die geeignetsten sind. Das Vertrauen des Patienten beruht darauf, dass keine sachfremden Aspekte - insbesondere keine persönlichen und finanziellen Interessen des Arztes - diese Entscheidung beeinflussen. Das hohe Gut Vertrauen ist die Grundlage der Beziehung zwischen Arzt und Patient. Nicht nur die Patienten, sondern gerade auch die Ärzteschaft ist darauf angewiesen, dass die Basis dieses Vertrauens nicht zerstört wird. Gerade vor diesem Hintergrund gehe ich - anders als erkennbar viele Redner der Opposition vor mir - davon aus, dass die überwiegende Mehrheit der Ärzteschaft sich dessen bewusst ist und sich im Sinne der Patienten korrekt verhält. Diese Ärzte wollen von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht kriminalisiert werden. ({1}) Was bedeutet nun der BGH-Beschluss? Welche Schlussfolgerungen sind aus dieser Entscheidung des BGH zu ziehen? Zunächst betrifft der Beschluss ausschließlich den strafrechtlichen Bereich. Er betrifft nicht den berufsrechtlichen, wettbewerbsrechtlichen und sozialrechtlichen Bereich, aber auch nicht den des Heilmittelwerbegesetzes. Wie bisher ist das Verhalten eines Arztes, das zu einem Gesundheitsschaden des Patienten führt, als Körperverletzung strafbar. Wie bisher ist das Verhalten eines Arztes, das zu einem Vermögensschaden - etwa der Krankenkasse - führt, zum Beispiel als Untreue nach § 266 StGB strafbar. Daran hat der BGH-Beschluss nichts geändert. Bedeutung entfaltet der BGH-Beschluss nur dort, wo weder ein Gesundheitsschaden noch ein Vermögensschaden eintritt. Dennoch bedeutet der BGH-Beschluss auch in diesem Bereich nicht, dass ein Pharmahersteller dem Kassenarzt im rechtsfreien Raum Vorteile für die Verschreibung seiner Produkte gewähren kann. Es bleibt eine Vielzahl von Verboten und Regeln auch und gerade für diesen Bereich. Ich darf zunächst zur ärztlichen Berufsordnung kommen. § 31 Abs. 1 bestimmt, ({2}) dass es Ärztinnen und Ärzten nicht gestattet ist, … für die Zuweisung von Patientinnen und Patienten oder Untersuchungsmaterial oder für die Verordnung oder den Bezug von Arznei- oder Hilfsmitteln oder Medizinprodukten ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich oder Dritten versprechen oder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechen oder zu gewähren. Das ist eine klare, eindeutige Bestimmung. Sie kann und muss von den Ärztekammern gelebt werden. ({3}) Meine Damen und Herren, sozialrechtlich sind die Kassenärztlichen Vereinigungen durch § 81 a SGB V verpflichtet, Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen einzurichten. Sie haben dabei mit den Krankenkassen und ihren Verbänden zusammenzuarbeiten. Diese Stellen informieren die Staatsanwaltschaft, wenn es einen Anfangsverdacht auf strafbare Handlungen gibt. Im Zusammenhang mit den viel zitierten Anwendungsbeobachtungen kann die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V eine entscheidende Rolle spielen. Das Arzneimittelgesetz schreibt in § 67 Abs. 6 die Anzeige jeder Anwendungsbeobachtung durch den pharmazeutischen Unternehmer - unter anderem bei der KBV - vor. Nach dieser Vorschrift müssen die beteiligten Ärzte namentlich benannt werden. Entschädigungen dürfen nicht so bemessen sein, dass ein Anreiz für eine bevorzugte Verschreibung oder Empfehlung bestimmter Arzneimittel entsteht. Vertragswerke und erhaltene Entschädigungen sind gegenüber den KVen offenzulegen. Damit können die KVen an zahlreiche Informationen gelangen, die bei einer Wirtschaftlichkeitsprüfung sehr relevant wären. Hier müssen wir ansetzen und gegebenenfalls ergänzende Regelungen schaffen. Schließlich gibt es die sozialrechtlichen Sanktionen des § 128 SGB V: Abs. 6 erstreckt in Verbindung mit den §§ 31 und 116 b Abs. 7 SGB V die „unzulässige Zusammenarbeit“ und die dafür vorgesehenen Sanktionen ausdrücklich auch auf die Pharmaindustrie. Die Sanktionen nach § 128 Abs. 3 können gravierend sein: Für den Fall schwerwiegender und wiederholter Verstöße sehen die Regelungen vor, dass Leistungserbringer für die Dauer von bis zu zwei Jahren von der Versorgung der Versicherten ausgeschlossen werden können ({4}) und damit letztlich ihre Existenz verlieren können. Wir haben also berufs- und sozialrechtliche Regelungen. Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und Kassen sind aufgerufen, dieses Instrumentarium in der Praxis konsequent anzuwenden. Zusammenfassend kann man festhalten: Der BGHBeschluss hat eine lange debattierte Rechtsfrage, wie ich finde, richtig geklärt. Er lässt Kassenärzte und pharmazeutische Unternehmen aber nicht im rechtsfreien Raum. Aus diesem Grunde müssen wir uns gut überlegen, ob es erforderlich ist, einen Sonderstraftatbestand für Kassenärzte zu schaffen und sie in dieser Form, wie ich finde, herausgehoben unter Generalverdacht zu stellen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Mechthild Rawert für die SPDFraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Tag, Herr Präsident! Guten Tag, meine Damen und Herren! ({0}) Ich möchte am Anfang auf zwei Codewörter der Fraktion zu diesem Tagesordnungspunkt eingehen, ohne zu wissen, wer sie als Steuerungsinstrumente eingebracht hat. Zum einen auf das Codewort Arbeitsverweigerung. Wir haben zwischendurch nachgelesen. Es gibt gute, übergeordnete Gesichtspunkte, die dies erlauben. Ich weiß zwar nicht, ob das Gleiche bei Ihnen galt, als in der letzten Sitzungswoche 126 Abgeordnete fehlten. Aber das müssen Sie schließlich selbst beurteilen. Wir können nachweisen - ich würde Ihnen meine Website empfehlen -, dass „ungehaltene Reden“ veröffentlicht worden sind. Es ging damals um die gleiche Thematik wie heute. Also, Codewort Arbeitsverweigerung abgearbeitet, Schwachsinn Ihrerseits. Zweites Codewort Generalverdacht. Keiner von uns - das nehme ich jetzt einmal insbesondere für unser Lager in Anspruch -, niemand ist so undifferenziert, dass wir von Generalverdacht reden. Wir haben gute Ärzte und Ärztinnen. Wir haben aber auch solche, die sich bestechen lassen, sich der Bestechlichkeit anheimstellen. Um die Ärzte vor diesen Kollegen und Kolleginnen zu schützen, diskutieren wir heute diesen Antrag, der ja inhaltlich schon sehr gut begründet worden ist. ({1}) Sie fordern hier stetig, es müsse etwas getan werden. Ich bin bereit, mit Herrn Lanfermann oder mit Herrn Spahn eine Wette um einen Gutschein für einen Einkauf im Reformhaus einzugehen, dass in dieser Legislaturperiode Ihrerseits nichts zur Beseitigung des in Rede stehenden Tatbestands gemacht wird. ({2}) Wir können uns hinterher unterhalten, ob Sie die Wette annehmen oder nicht. ({3}) Faktum ist, dass insbesondere Herr Dietrich Monstadt schon im Mai 2011 befand - ich zitiere -: Es gibt Fehlverhalten. - Also auch im Gesundheitswesen. Ich danke ihm ausdrücklich dafür, dass er in seiner Rede gerade viele Gründe zum Ausdruck gebracht hat, wieso es notwendig ist, Korruption zum Straftatbestand zu machen, damit die Ärzteschaft vor ihren der Bestechlichkeit anheimfallenden Kollegen und Kolleginnen geschützt wird. Ich möchte noch auf etwas eingehen, was zu kurz gekommen ist: auf das Vertrauensverhältnis gegenüber Arzt und Ärztin. Ja, wir alle sind vielleicht noch so erzogen worden, dass wir glauben: Wenn ich krank und hilfsbedürftig zu meinem Arzt oder meiner Ärztin gehe, dann ist er oder sie diesbezüglich an meinem Wohl interessiert. Er oder sie will mir Heilung angedeihen lassen und nicht seinem oder ihrem eigenen Portemonnaie. Auch Herr Köhler, immerhin Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, hat öffentlich eingeräumt, dass es mehrere Möglichkeiten des illegalen Verhaltens gebe, und benannte unter anderem Bestechung in Form von ich zitiere - „Motivationsprämien, Fangprämien, Kopfpauschalen“, auch Zuweisungen durch Niedergelassene an Krankenhäuser gegen Entgelt. Das Ganze ist also nicht „dürftig“, Herr Straubinger, sondern wird aus den eigenen Fachkreisen heraus kritisiert, und es wird beklagt. Daher ist unser Anliegen so notwendig. Wichtig ist, dass da endlich etwas getan wird, dass Ihrerseits nicht nur über Gesetzeslücken schwadroniert wird, sondern dass Ihren Worten endlich auch Taten folgen. Die ärztliche Berufsordnung besagt - auch das ist schon gesagt worden -: Es gibt ein Verbot der Zuweisung von Patientinnen und Patienten an die Krankenhäuser gegen Entgelt oder andere Vorteile. Ärzte sollen keinerlei Geschenke annehmen und andere Vorteile für sich in Anspruch nehmen. ({4}) Dies reicht nicht. Das ist auch seitens der Ärzteschaft selber schon festgestellt worden. Ich blicke voller Spannung auf das, was Herr Henke im Hinblick auf die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer auszuführen hat. Es werden nämlich selbst aus den eigenen Reihen längst Forderungen gestellt, dass die ärztliche Berufsordnung hier bei weitem nicht ausreicht und dass nachzubessern ist. ({5}) Mit anderen Worten: Wir sind gegen Fangprämien. Wir gehen gegen Zuweisungen gegen Entgelt vor. Vor allen Dingen, liebe Kollegen und liebe Kolleginnen, liebe Regierung: Tun Sie etwas! Nehmen Sie meine Wette an! Vielleicht kommt es ja zum Schließen einer Gesetzeslücke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Ausgangspunkt dieser Debatte kann nicht von jedem, der zuhört und zuschaut, erkannt werden, weil nicht jeder zum Zeitpunkt dieser Aktuellen Stunde ({0}) nachvollziehen und wissen kann, in welchen Bereichen die Koalition schon lange gehandelt hat. Es war eben von Arbeitsverweigerung die Rede. Diese Umschreibung stimmt ja nicht. Sie suggerieren unter dem Eindruck des BGH-Urteils und unter dem Eindruck bestimmter öffentlicher Schlagzeilen, dass hier eine Situation festgeschrieben wird, in der es keine Sanktionen, keine Gegenmaßnahmen, kein staatliches Handeln dagegen gibt, dass sich jemand in seiner Arztpraxis schmieren lässt. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass wir mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz sehr konkrete Maßnahmen bezüglich der Fehlverhaltensbekämpfung beschlossen haben - alles Maßnahmen, denen Sie durch Ihre Ablehnung dieses Gesetzes widersprochen haben. Es gibt dort ein ausdrückliches Verbot für Vertragsärzte, sich für die Zuweisung von Versicherten ein Entgelt oder sonstige wirtschaftliche Vorteile versprechen oder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechen oder zu gewähren. Das heißt, die Regelung in der Berufsordnung der Ärzte, die mehrfach richtig zitiert worden ist, ist von dieser Koalition in das staatliche Recht übertragen worden und ist Teil der Regelungen im Sozialgesetzbuch. Wir haben beschlossen, dass Vertragsärzte das Zuwendungsverbot nicht durch Beteiligung an Unternehmen von Leistungserbringern im Hilfsmittelbereich in Verbindung mit einem entsprechenden Verordnungs- und Zuweisungsverhalten umgehen können. Das ist Teil des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes. Wir haben im GKV-Versorgungsstrukturgesetz klargestellt, dass die Forderung oder Annahme unzulässiger Zuwendungen durch Vertragsärzte einen Verstoß gegen die vertragsärztlichen Pflichten darstellt. Wir haben die Regelungen zu unzulässigen Praktiken der Zusammenarbeit zwischen Vertragsärzten und anderen Leistungserbringern auch auf den Heilmittelbereich ausgedehnt. Wir haben klargestellt, dass Sozialdaten auch zum Zweck der Fehlverhaltensbekämpfung erhoben, verarbeitet und übermittelt werden dürfen. ({1}) Es sind die Krankenkassen, die zu dieser Leistung, zur Arbeit der Koalition, in einem Faktenblatt zum Thema Rechtsrahmen sagen: Hilfreich wird hierbei auch die ebenfalls durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz erfolgte Klarstellung der datenschutzrechtlichen Übermittlungsbefugnisse in den Paragraphen 81 a und 197 a Abs. 3 a SGB V sein. Die Krankenkassen begrüßen das. ({2}) Insofern halte ich die Tatsache, dass Sie all das als Untätigkeit darstellen, für genauso infam wie die Tatsache, dass Sie bestimmte Zuweisungen an die Krankenhäuser beklagen, aber in den Bundesländern nichts dagegen tun. Ja, dann handeln Sie doch! In der Zeit, als ich noch im Landtag Nordrhein-Westfalen war, haben wir dort eine Regelung vorbereitet und anschließend mit den Stimmen von CDU und FDP beschlossen, nach der Krankenhäuser aus dem Krankenhausplan ausgeschlossen werden können, wenn sie es sich leisten, Zuweisungen gegen Entgelt vorzunehmen, dass sie wegen dieses Verhaltens nicht nur öffentlich an den Pranger kommen, sondern auch die Stellung einbüßen können, in den Krankenhausplan aufgenommen zu sein. Es gibt ein einziges Bundesland, das es ähnlich wie Nordrhein-Westfalen macht. Wenn das woanders alles so schrecklich ist, dann handeln Sie dort doch in gleicher Weise. Sie sagen, dass das Standesrecht, das Berufsrecht der Ärzte zahnlos sei. Den Approbationsentzug kann natürlich nicht die Ärztekammer vornehmen, auch nicht das Berufsgericht. In allen Bundesländern ist es - mit einer einzigen Ausnahme, glaube ich - so geregelt, dass die Zuständigkeit für den Approbationsentzug bei den Bezirksregierungen liegt. Die Bezirksregierungen handeln im Auftrag der Landesregierungen. Wenn Sie das alles beklagen und so schrecklich finden und sagen, hier gebe es Untätigkeit und eine Regelungslücke, dann frage ich mich: Warum handeln Sie denn nicht in den Bezirksregierungen, auf die Sie Einfluss haben, da, wo Sozialdemokraten oder auch Grüne den Gesundheitsminister stellen? Ich fordere Sie dazu auf. Ich bin offen für eine Debatte darüber, ob wir das Instrumentarium der Ärztekammern stärken sollen, um sich besser durchzusetzen. Da bin ich für jede Diskussion offen. Aber ich bin nicht bereit, hinzunehmen, dass Sie den ganzen Berufsstand unter Generalverdacht stellen, ({3}) obwohl Sie wissen, dass in der Berufsordnung steht: Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, in allen vertraglichen und sonstigen beruflichen Beziehungen zu Dritten ihre ärztliche Unabhängigkeit für die Behandlung der Patientinnen und Patienten zu wahren. Jeder Fall, in dem jemand geschmiert wird, ist einer zu viel. Das BGH-Urteil ist ein guter Beschluss, weil es klarstellt, dass der Arzt den Patienten verpflichtet ist; er ist nicht der Vermögenswahrung der Krankenkassen verpflichtet. Das hat der BGH eindeutig klargestellt. Deswegen verdient dieses Urteil zunächst einmal Applaus und keine schlechte Darstellung. ({4}) Wer dazu beiträgt, einen ganzen Berufsstand unter Generalverdacht zu stellen, der handelt unanständig. ({5}) Wer verschweigt, dass das Sanktionsmaß

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- das tue ich - bis zum Approbationsentzug und bis zum Zulassungsentzug reicht, der handelt auch unanständig. Wir sollten keine Spezialgesetzgebung für eine einzige Berufsgruppe schaffen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme mit diesem Satz zum Schluss: Wer neue Gesetze fordert, der muss die Frage der Notwendigkeit, der Verhältnismäßigkeit, der Tauglichkeit und der Zweckmäßigkeit prüfen; genau das muss geschehen und nicht das populistische Schreien nach einem Gesetz, weil einem das zu ein paar Schlagzeilen verhilft. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das war ein langer letzter Satz. Die aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({1}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({2}) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 2004 ({3}) vom 30. August 2011 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksachen 17/9873, 17/10162 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Kerstin Müller ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/10163 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Birgit Homburger für die FDP-Fraktion das Wort. ({6})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit großer Spannung im letzten Jahr die Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten beobachtet, die einen großen Einfluss auf die Situation und die Stabilität in der Region haben, vieles davon mit offenem Ausgang. Aufgrund der Kürze meiner Redezeit kann ich nur einige Stichworte nennen: arabischer Frühling in Nordafrika, die Lage in Ägypten, die wir gerade in diesen Tagen bei den Präsidentschaftswahlen und der Annullierung der Parlamentswahl wieder in den Blick nehmen, die Rolle Irans, das iranische Nuklearprogramm, die Situation zwischen Israel und den Palästinensern bzw. den palästinensischen Gebieten und dort die Diskussion zwischen Fatah und Hamas über Wahlen in den palästinensischen Gebieten. Das alles birgt Unsicherheiten für die Situation in der Region. Alles haben wir im Blick, ganz besonders in diesen Tagen auch die Entwicklung in Syrien, wo ein Diktator mit großer Grausamkeit gegen das eigene Volk vorgeht und das Land in einen Bürgerkrieg stürzt. Wir verurteilen dieses Vorgehen und werden in der internationalen Gemeinschaft alles dafür tun, den Menschen in Syrien Hilfe zu geben ({0}) Die Unterbrechung der Beobachtermission zeigt, wie sehr sich die Lage zugespitzt hat. Es ist ein negatives Signal. Dennoch begrüßen wir alle Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft, zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Wir begrüßen, dass am 30. Juni in Genf ein Treffen der Syrien-Aktionsgruppe stattfindet, zu dem auch Russland sein Kommen zugesagt hat. Dies gibt eine gewisse Hoffnung, dass sich vielleicht auch in der russischen Position eine gewisse Veränderung abzeichnet und die Bereitschaft vorhanden ist, mit der internationalen Gemeinschaft gemeinsam zu handeln. Russland kommt in dieser Frage definitiv eine Schlüsselrolle zu. Deshalb ist es wichtig, das Gespräch mit Russland fortzusetzen und dafür zu sorgen, dass wir zu einer Lösung in Syrien kommen. ({1}) Für uns gilt vor allen Dingen, dass die EU zu Recht eine ganze Reihe von Sanktionen gegen Syrien und Assad eingeleitet hat. Die Sanktionen wurden gerade in dieser Woche nochmals verschärft. Aber es wäre sehr viel wirksamer, wenn diese Sanktionen von der gesamten Staatengemeinschaft im UN-Sicherheitsrat mitgetragen würden. Das wollen wir erreichen. Die Lage in Syrien ist dramatisch; die Zahl der Flüchtlinge ist sehr hoch. Vor kurzem habe ich bei einer Reise in die Region zwei syrische Flüchtlingslager in Jordanien besuchen können. Die Menschen haben dort nicht nur Angst um Leib und Leben, sondern auch um ihre Familien, die noch vor Ort sind; denn auch die Familien der Flüchtlinge werden von dem Regime bedroht. Das ist alles höchst dramatisch. Die Vielzahl der Flüchtlinge stellt die Nachbarländer Türkei, Jordanien und Libanon vor große Herausforderungen. Deshalb ist es wichtig, an dieser Stelle zu helfen. Die Bundesregierung hat das getan. Der Bundesaußenminister hat Gelder zur Verfügung gestellt, um die Länder bei diesen Aufgaben zu unterstützen. Trotz dieser Situation haben die Gesprächspartner im Nahen Osten vor einer militärischen Intervention in Syrien gewarnt, weil sie unabsehbare Folgen für die Region sehen. Viele haben gewarnt, dass eine solche Intervention die ganze Region in Flammen setzen könnte. Es ist unbefriedigend, dass wir den Menschen in Syrien im Moment nicht effektiver helfen können. Trotzdem bleibt überlegtes Handeln gefragt. Deutschland und Europa haben ein hohes strategisches Interesse an der Stabilität im Nahen Osten; das ist gerade in den letzten Tagen noch einmal deutlich geworden. Beim Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs durch Syrien ist jedem erneut die Nähe dieser Region klar geworden und dass die NATO mit der Türkei als Partner an dieser Stelle involviert ist. Es stellt sich die Frage, was wir über die politischen und diplomatischen Initiativen hinaus tun können. Hier ist vor allem ein Instrument zu nennen: das UNIFILMandat, über das wir heute diskutieren und über das wir abstimmen werden. Alle Gesprächspartner haben übereinstimmend deutlich gemacht, dass das UNIFILMandat maßgeblich zur Stabilität in der Region beiträgt. Gerade die israelische Seite hat noch einmal ausdrücklich darum gebeten, dass auch die Bundesrepublik Deutschland ihr Engagement im Rahmen des UNIFILMandats fortsetzt. Ich glaube, dass wir mit diesem Einsatz einen Beitrag zur Stabilität in der Region leisten können. ({2}) Das wird umso deutlicher, wenn man weiß, dass die UNIFIL im Süden des Libanon stationiert ist. Dort ist die Lage inzwischen relativ stabil. Der Norden des Libanon rückt jetzt in den Vordergrund. In den letzten Wochen hat die Krise in Syrien dort ihre Fortsetzung gefunden. Es kam zu Demonstrationen von Assad-Anhängern und -Gegnern. Im Mai kam es in Tripoli zu Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang zwischen Sunniten und Alawiten. Auch in Beirut wurde deutlich, wie real die Gefahr eines Übergreifens der Situation von Syrien in den Libanon ist. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir das UNIFIL-Mandat fortsetzen. Unser Beitrag liegt in der maritimen Komponente. Zu Beginn der Legislaturperiode haben wir den Schwerpunkt unseres UNIFIL-Mandats geändert, weg von einer reinen Militärpräsenz hin zu einer verstärkten Ausbildung der libanesischen Marine. Unser Ziel ist es, den Libanon in die Lage zu versetzen, selbst für die Sicherheit seiner Seegrenze zu sorgen und dort Waffenschmuggel zu unterbinden. ({3}) Dabei machen wir gute Fortschritte, wir sind aber noch nicht am Ziel. Auch wenn UNIFIL eher ein kleines Mandat ist, ist dieses Mandat aus meiner Sicht dennoch elementar wichtig für eine der fragilsten Regionen der Welt. Deshalb möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, den Soldatinnen und Soldaten, die bisher im Rahmen des UNIFIL-Mandats Dienst getan haben - aus allen Nationen, aber insbesondere aus Deutschland -, ein herzliches Dankeschön für ihre Bereitschaft und für ihren Einsatz zu sagen. Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität der Region geleistet. Wir bitten Sie heute um Zustimmung zur Fortsetzung dieses Mandats, um damit einen aktiven Beitrag zur Stabilität in der Region zu leisten. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Günter Gloser für die SPD-Fraktion. ({0})

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen, am 24. Juni, hat Syrien einen türkischen Kampfjet über dem Mittelmeer abgeschossen. Dieses Ereignis, das - wenn man so will - fast in Sichtweite des UNIFIL-Mandatsgebiets stattgefunden hat, zeigt uns dramatisch, dass der Syrien-Konflikt ein großes Potenzial für eine regionale Eskalation besitzt. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Türkei nicht militärisch reagiert hat. Unser NATO-Partner Türkei verdient dafür Anerkennung, zugleich aber auch Dank und Respekt für sein humanitäres Engagement für Flüchtlinge aus Syrien. ({0}) Auch die Bundesregierung - das will ich ausdrücklich sagen - arbeitet von Beginn an daran mit, dass es nicht zu einer weiteren Militarisierung, Internationalisierung und unkontrollierbaren Eskalation des Syrien-Konflikts kommt. Insbesondere die Vertretung bei den Vereinten Nationen unter Leitung des Ständigen Vertreters Botschafter Wittig und seine Mitarbeiter arbeiten seit Monaten unermüdlich für eine Beendigung des Blutvergießens in Syrien. Das will ich hier im Parlament ausdrücklich würdigen. ({1}) Das beharrliche Festhalten am Sechs-PunkteFriedensplan von Kofi Annan war bei aller Kritik dennoch richtig. Nun müssen bei der internationalen Syrien-Konferenz am Samstag in Genf weitere Schritte zu seiner Umsetzung vereinbart werden. Es bleibt zu hoffen, dass es sich dieses Mal wirklich um einen ersten Schritt in Richtung Frieden handelt. Die Ereignisse der letzten zwei Wochen seit der Einbringung des Antrags haben uns drastisch vor Augen geführt, dass die heutige Debatte über eine erneute Verlängerung des UNIFIL-Mandats keineswegs eine bloße Formsache ist. Auch wenn sich der Deutsche Bundestag in den vergangenen Jahren regelmäßig mit dieser Mission beschäftigt hat, auch wenn die vielen guten Argumente für eine Zustimmung des Bundestages die gleichen geblieben sind und auch wenn diese Mission selbst keine großen Schlagzeilen produziert, müssen wir uns vor Augen halten: Die Bundeswehr ist und bleibt eine Parlamentsarmee, und wir müssen in jedem einzelnen Fall den Einsatz von Soldatinnen und Soldaten gut abwägen. Im Fall von UNIFIL ist die Sache klar. Die Mission der Vereinten Nationen ist ein Erfolg, weil sie Vertrauen schafft, weil erstens der Waffenschmuggel von der Seeseite her wirksam bekämpft wird, weil zweitens der Libanon dabei unterstützt wird, eine eigene Marine aufzubauen, um in Zukunft selbst vor seinen Küsten für Sicherheit zu sorgen, und weil drittens UNIFIL einen international abgesicherten Kommunikationsweg zwischen Israel und dem Libanon schafft, zwischen zwei Staaten, die sich noch immer im Kriegszustand befinden. Denn außer den militärischen Beratungen von UNIFIL mit beiden Parteien gibt es nach wie vor keinerlei direkte Kontakte. In diesem Zusammenhang danke ich ausdrücklich - das darf nicht zum Ritual werden, aber es muss unterstrichen werden - unseren Soldatinnen und Soldaten für ihre Leistung. Das gilt auch für ihre Familien. Sie verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung. ({2}) Alle genannten Punkte sind Grund genug, um über dieses Mandat zu sprechen, und zwar zu einem früheren Zeitpunkt als bei der Einbringung des Mandats, die erst am späten Abend stattfand. Nun haben wir aber den Bürgerkrieg in Syrien, der im Gegensatz zu UNIFIL viele Schlagzeilen produziert, die Menschen rund um die Welt erschüttert und bislang durch keine diplomatische Mission gestoppt werden konnte. Wir müssen alles dafür tun, damit dieser gewalttätige Konflikt nicht auf den Libanon übergreift; denn wir wissen, dass der Libanon zerrissen ist zwischen den Anhängern Assads bzw. den Helfern des Iran auf der einen Seite und jenen Gruppen auf der anderen Seite, die sich mehr Distanz zur ehemaligen Besatzungsmacht Syrien wünschen. Premier Mikati verfolgt daher unter schwierigen Bedingungen eine Politik der Nichteinmischung. Er tut alles, um ein Übergreifen des syrischen Konflikts zu vermeiden. Gerade in dieser Situation braucht der Libanon unsere Unterstützung. Wir sollten Verständnis für die schwierige Lage dieses Landes und der brüchigen Regierungskoalition haben. Gerade in dieser Krise dürfen wir unser Engagement in der Region nicht reduzieren. Im Gegenteil: Wir müssen den Menschen im Libanon zeigen, dass wir ihre Sorgen teilen. Wir müssen das Unsere tun, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. ({3}) Dazu tragen auch die bis zu 300 deutschen Soldatinnen und Soldaten bei, die im Rahmen der UNIFIL-Mission tätig sind. Sie stärken die libanesische Armee, insbesondere ihre Fähigkeit, die Küste des Landes zu kontrollieren. Sie stärken damit aber auch die Legitimation der Regierung des Landes, die von verschiedenen Milizen immer wieder infrage gestellt wird. Zudem ist durch das Mandat sichergestellt, dass kein deutscher Soldat mit dem israelischen Militär in Konflikt geraten kann. Ich möchte auf die Debatte zurückkommen, die wir im Rahmen der Einbringung des Antrags geführt haben. Unverständlich ist mir vor dem von mir geschilderten Hintergrund wieder einmal die Haltung der Linken, die eine deutsche Beteiligung an UNIFIL immer abgelehnt hat. ({4}) Als ich vor zwei Wochen bei der Einbringung des vorliegenden Antrags Herrn Kollegen Gehrcke zuhörte, da flackerte in mir kurz die Hoffnung auf, die Linke könnte zur Einsicht gekommen sein. Sehr verehrter Kollege Gehrcke, Sie haben nämlich gesagt: UNIFIL ist eine richtige und eine wichtige Mission. - Sie haben das leider aber nur gesagt, um zu schlussfolgern, dass sich Deutsche daran auf keinen Fall beteiligen dürfen. Diese Logik erschließt sich mir nicht, und sie wird auch von den Menschen im Libanon und in Israel nicht verstanden. ({5}) Auf der einen Seite militärische Einsätze - ja, aber nur mit Soldaten anderer Länder. Ich gestehe Ihnen zu, das man sich erst einmal mit diesem Thema auseinandersetzen musste. Das ist das legitime Recht; das machen andere Fraktionen im Bundestag auch. Die anderen Fraktionen des Hauses haben ebenfalls erst einmal darüber nachdenken müssen, ob das richtig ist. Aber ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihre Haltung ist nicht von Verantwortungsbewusstsein geprägt. Die SPD hat das Mandat für diese Mission der Vereinten Nationen immer mitgetragen. Darin zeigt sich ihre außenpolitische Verlässlichkeit, aber auch ihr Bewusstsein für die internationale Verantwortung. Wir haben in diesem Mandat immer einen solidarischen Beitrag für die Völkergemeinschaft gesehen. In der UNIFILMission engagieren sich auch viele kleinere und weiter entfernt liegende Staaten wie Osttimor oder El Salvador, um in dieser Region für Stabilität zu sorgen. Deutschland kann und soll sich deshalb nicht unsolidarisch und ignorant zeigen, wenn es um den Frieden in der Nachbarschaft Europas geht. Unser Ziel bleibt die Krisenprävention; denn sie schafft den politischen Spielraum für die Sicherung des Friedens, auch für neue Entwicklungschancen, auch für die Achtung der fundamentalen Rechte eines jeden Menschen. Deshalb erwarten wir - das ist in der ersten Lesung von meinem Kollegen Hans-Peter Bartels erwähnt worden - weitere Initiativen der Bundesregierung im Hinblick auf den Frieden im Nahen und Mittleren Osten. Aus den von mir genannten Gründen stimmt die SPD dem friedensfördernden UNIFIL-Einsatz und der Verlängerung des Mandats wie in den vergangenen Jahren zu. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ingo Gädechens für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Ingo Gädechens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In meiner letzten Rede vor fast einem Jahr zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon habe ich besonders betont, dass nach dem libanesisch-israelischen Krieg viel versprochen wurde. Deutschland hat seine Zusagen nicht nur eingehalten, sondern nachhaltig Hilfe zur Selbsthilfe geleistet. Der UNIFIL-Einsatz auf See hat ein doppeltes Mandat. Dieses sieht neben der Sicherung der seeseitigen Grenzen auch die Unterstützung der libanesischen StreitIngo Gädechens kräfte beim Aufbau von Fähigkeiten vor, die Küste und die Territorialgewässer des Landes selbstständig zu verteidigen. Zuletzt wurde das Mandat vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis zum 31. August dieses Jahres verlängert. Mit einer weiteren Verlängerung ist zu rechnen. Natürlich rechnen die Vereinten Nationen mit uns, mit der Bundesrepublik Deutschland. Die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am Flottenverband dient unverändert der Stabilisierung der Beziehungen zwischen Israel und dem Libanon und damit der Stabilität der Region als Ganzes. Die Einschätzung, dass die Mission ein Stabilitätsanker und eine Versicherung gegen eine regionale Destabilisierung ist, wie sie auch von meinen Vorrednern bereits skizziert wurde, wird von allen Seiten geteilt. Dies gilt insbesondere angesichts der aktuellen Entwicklung in der Region. Seit der letzten Verlängerung des Bundestagsmandats für den UNIFIL-Einsatz im Juni 2011 gibt die Sicherheitslage im Libanon zunehmend Anlass zur Beunruhigung, insbesondere - auch das wurde bereits erwähnt mit Blick auf das benachbarte Syrien. Die zurzeit unkalkulierbaren innenpolitischen Spannungen haben das Potenzial, zu einer Destabilisierung beizutragen, welche sich auf die gesamte Region auswirken könnte. Diese Situation führt dazu, dass der erhoffte langsame Ausklang dieser Mission leider noch nicht in Sicht ist. Die Erfolge bei der technischen Ausstattung, Ausrüstung und Ausbildung sind erkennbar. Mit einer hochmodernen Küstenradarorganisation kann nicht nur das Küstenvorfeld überwacht, sondern können auch Schiffsbewegungen beobachtet und dokumentiert werden. Ebenso positiv ist der derzeitige Ausbildungsstand der libanesischen Marinesoldaten, die von deutschen Offizieren und Unteroffizieren intensiv in Seemannschaft und Navigation ausgebildet wurden. Leider bestehen immer noch Lücken bei der Fähigkeit zur durchgreifenden Kontrolle von Seefahrzeugen innerhalb der eigenen Hoheitsgewässer, die es zu schließen gilt. Um die libanesischen Kapazitätslücken bei Booten und Schiffen zu schließen, bedarf es weiterer Anstrengungen, nicht nur Deutschlands, sondern der gesamten internationalen Gemeinschaft. Einen weiteren Schritt zur Schließung dieser von mir beschriebenen Fähigkeitslücke verspricht sich die libanesische Marine von der noch in diesem Jahr geplanten Übergabe eines 40-Meter-Bootes durch die USA. Eventuell führt unser Engagement ja auch dazu, dass der deutsche Marineschiffbau, unsere Werften von einem Auftrag für fünf seetüchtige Boote profitieren werden. Ich freue mich, dass nach monatelangem Einsatz am kommenden Freitag, also morgen, die beiden Minensucher „Ensdorf“ und „Auerbach/Oberpfalz“ mit ihren Besatzungen wohlbehalten im Heimathafen Kiel einlaufen werden. ({0}) Dabei freue ich mich nicht nur für die Besatzungen, sondern auch ganz besonders für die Familien, Freunde und Angehörigen, die diesen Tag sicherlich ungeduldig herbeigesehnt haben. Israel und der Libanon begrüßen ausdrücklich das deutsche Engagement. Nicht nur die libanesischen Soldaten, sondern weite Teile der Bevölkerung stehen dem deutschen Engagement mit Respekt und Dankbarkeit gegenüber. Ich denke, auch wir in diesem Haus zollen unseren Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten nicht nur Respekt, sondern sind auch dankbar für den ausgesprochen professionellen Einsatz weitab von der Heimat. ({1}) Das Bundestagsmandat für die deutsche Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband soll heute um weitere zwölf Monate, bis zum 30. Juni 2013, verlängert werden. Diese Verlängerung macht nicht nur Sinn, sondern ist auch aufgrund der von mir beschriebenen Situation in der Region zwingend geboten. Ich bitte Sie daher alle - alle - um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Inge Höger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um direkt auf Herrn Gädechens zu antworten: Die Linke wird auch in diesem Jahr dem Mandat nicht zustimmen. ({0}) Zielsetzung des UNIFIL-Mandates ist die Überwachung des Waffenstillstandes zwischen Israel und Libanon. Inzwischen geht die Debatte aber nicht nur um die Lage im Libanon, sondern auch um Syrien. Viele hier im Haus sind sich wohl einig, dass die Eskalationsgefahr beachtlich ist - regional und weit darüber hinaus. Vor diesem Hintergrund waren meine Fraktion und ich erleichtert, dass bei der letzten UNIFIL-Debatte zur Vorsicht gemahnt wurde, zumindest in Bezug auf eine militärische Intervention in Syrien. Staatsminister Link machte darauf aufmerksam, dass Interventionsforderungen den politischen Prozess untergraben. Das ist absolut richtig. Es geht in Syrien im Kern um einen politischen Konflikt. Eine tragfähige Lösung kann nur auf politischem Wege erreicht werden. ({1}) Das gilt auch für den Konflikt zwischen Israel und Libanon, der durch UNIFIL befriedet werden soll. Durch den Versuch einer oberflächlichen Stabilisierung durch Militär gerät der politische Prozess ins Hintertreffen. Altbekannte Probleme wie der Grenzverlauf zwischen Israel und Libanon sind nach wie vor ungelöst. Neue politische Konflikte sind hinzugekommen, insbesondere um die Nutzung von Gasvorkommen vor der libanesischen und israelischen Küste und die Abgrenzung der Wirtschaftszonen beider Länder. Anstatt konsequent auf einen internationalen Vermittlungsprozess zu setzen, anstatt auf tragfähige Verhandlungslösungen zu drängen, stimmt hier im Bundestag Jahr für Jahr eine Mehrheit für die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes. Das ist völlig widersinnig. ({2}) Es gibt in Bezug auf Syrien nicht nur vorsichtige Signale. Minister de Maizière hat bereits öffentlich über mögliche Aufgaben der UNIFIL-Soldaten in Bezug auf Syrien spekuliert. Bei seinem Truppenbesuch in Zypern sprach er davon, dass deutsche Marineangehörige im Syrien-Konflikt zum Einsatz kommen könnten. Gleichzeitig sind deutsche Flottendienstboote außerhalb des UNIFIL-Mandates seit Ende letzten Jahres wiederholt vor der syrischen Küste präsent. Faktisch handelt es sich hier um Spionageschiffe. Sie werden in eine hochexplosive Region geschickt. Ohne das Parlament zu fragen oder auch nur ausreichend zu informieren, werden Daten gesammelt. Sie könnten die Grundlage für eine militärische Intervention in Syrien liefern. Selbst wenn dies nicht die Absicht sein sollte - allein die Gegenwart eines Aufklärungsschiffes reicht, um die Spannungen in der Region zu verschärfen. So befand sich die Besatzung des Flottendienstbootes „Alster“ mindestens einmal im Visier eines syrischen Kriegsschiffes. Das Mandat UNIFIL setzt auf Kontrolle des Waffenhandels. Ein Erfolg darf bezweifelt werden. Ein erster Schritt zur Unterbindung des illegalen Waffenhandels wäre schlicht und einfach der Stopp des legalen Waffenhandels in die Region. ({3}) Das findet jedoch nach wie vor nicht statt. Nicht nur Israel, sondern auch zahlreiche arabische Staaten erhalten deutsche Waffen. Das muss endlich aufhören. Auch das Wissen über die Wege des illegalen Waffenhandels scheint sehr selektiv zu sein. So konnte mir die Bundesregierung auf meine Frage nach Waffenschmuggel durch den Libanon an syrische Milizen keinerlei Auskünfte geben. Vieles deutet darauf hin, dass hier vonseiten der NATO-Verbündeten, aber auch vonseiten der Bundesregierung nicht mit offenen Karten gespielt wird. Die Linke spricht sich klar dagegen aus, weiterhin Soldatinnen und Soldaten vor die Küste des Libanon zu entsenden. Stattdessen fordern wir einen glaubwürdigen politischen Prozess. ({4}) Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten nach dem Vorbild der KSZE könnte ein vielversprechender Ansatz sein. Wichtig ist es, von der Logik des Militärischen wegzukommen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Höger, ich kann die Ablehnung der Linken und Ihre Argumentation wirklich nicht nachvollziehen. ({0}) Ich will noch einmal sehr deutlich sagen, worum es bei UNIFIL geht. Es geht doch bei den UNIFIL-Soldaten nicht um einen Kriegseinsatz, wie Sie immer behaupten. ({1}) Durch UNIFIL wurde vielmehr 2006 ein Krieg zwischen Libanon und Israel beendet. Die Vorstellung, das wäre mit einer Art THW-Team oder einer Polizeimission genauso möglich gewesen, ist einfach abwegig. ({2}) Dieser Einsatz ist nicht anstelle eines politischen Prozesses erfolgt, sondern hat erst den Raum für den politischen Prozess geschaffen. Diese Mission ist zuallererst das war sie von Anfang an - von hoher Bedeutung für die Stabilität in der Region - gerade angesichts der Gewalteskalation in Syrien. Die ganze Region dort droht zu einem Pulverfass zu werden. Die Gräueltaten des Assad-Regimes gegenüber Zivilisten nehmen dramatische Ausmaße an. Das wurde gestern in einem Bericht des UN-Menschenrechtsrates deutlich, der sehr intensiv diskutiert wird: Folter, Mord, Vergewaltigungen, selbst an unschuldigen Kindern, durch das Regime und seine Milizen sind inzwischen an der Tagesordnung. Syrien gleitet immer mehr in einen blutigen Bürgerkrieg ab, in dem auch Racheakte der anderen Seite zunehmen. Auch das wird in dem Bericht deutlich. Es gibt mehr als 15 000 Tote, 200 000 Binnenvertriebene und 80 000 Flüchtlinge, die in die Nachbarstaaten geflohen sind. Es ist eine menschliche Katastrophe. Ich will hier sehr deutlich sagen: Dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angesichts einer solchen Katastrophe diese Verbrechen noch immer nicht klar verurteilt, ist geradezu unerträglich. Wir müssen alles versuchen, damit das geschieht. ({3}) Denn die Menschen in Syrien brauchen jetzt ein starkes politisches Signal, und zwar von allen in der internationalen Gemeinschaft, dass wir nicht länger bereit sind, diese Massaker hinzunehmen. Ich fordere von dieser Stelle vor allen Dingen Russland und China auf, eine klare Entschließung des Sicherheitsrates nicht weiter zu blockieren. Wir brauchen eine politische Isolierung des Kerstin Müller ({4}) Regimes. Wenn das nicht passiert, führt das nur dazu, dass die Kämpfe umso blutiger weitergehen. Das muss gestoppt werden. ({5}) Am Samstag kommt in Genf die neugegründete Aktionsgruppe zusammen, wie Kofi Annan sie nennt. Es soll ein neuer Plan von Kofi Annan zur Bildung einer Übergangsregierung beschlossen werden. Dabei ist klar - das kommt in den Formulierungen zum Ausdruck -, auch wenn Teile des Regimes natürlich in eine Lösung eingebunden werden müssen: Mit Assad wird es keinen Frieden geben. Denn die Liste der Menschenrechtsverletzungen, der schwersten Menschenrechtsverbrechen ist inzwischen viel zu lang. Das sollte auch Russland einsehen, und zwar bevor der ganze Konflikt tatsächlich zu einem Flächenbrand eskaliert. ({6}) Der Abschuss des türkischen Kampfjets durch die syrische Luftabwehr zeigt, dass der Konflikt eine neue Eskalationsstufe erreicht hat. Es war richtig, dass der NATO-Rat diesen Vorfall zunächst einmal politisch klar verurteilt hat. Aber es zeigt auch: Es könnte zu einem regionalen Flächenbrand kommen. Erdogan hat angekündigt, künftig militärisch zu reagieren, wenn sich in der Nähe der Grenze zur Türkei syrische Truppenbewegungen zeigen. Das erste Land, das davon betroffen wäre, ist der Libanon; der Libanon war schon einmal Schauplatz eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs, eines Stellvertreterkriegs. Das haben die gewalttätigen, tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Alawiten und Sunniten in Tripoli und Beirut im letzten Monat gezeigt. Auch der Flüchtlingsstrom aus Syrien hat das Potenzial, das Land zu destabilisieren. Was die syrisch-libanesische Grenze angeht, muss man sagen: Es werden vermutlich mehr Waffen denn je über die Grenze geschmuggelt. Eine Schwäche des Mandats ist, dass es hier nichts bewirken kann, und zwar in keine der beiden Richtungen. Auf der einen Seite wird die Hisbollah aufgerüstet - das empfindet Israel verständlicherweise als Bedrohung -, auf der anderen Seite wird die syrische Opposition mit Waffen beliefert. Auch deshalb ist es richtig, dass wir den Libanesen weiter dabei helfen, ein Grenzüberwachungsregime aufzubauen. Aus all diesen Gründen ist klar: Gerade angesichts dieser fragilen Situation ist es besonders wichtig, dass die UNIFIL-Mission als Stabilitätsanker in der Region fortgesetzt wird. Was wäre es angesichts der prekären und eskalierenden Situation in Syrien für ein Signal, wenn wir hier und heute beschließen würden, UNIFIL zu beenden? Das wäre das absolut falsche Signal in die Region. Deshalb wird meine Fraktion diesem Mandat mit großer Mehrheit zustimmen. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat ein Interesse an einem stabilen Libanon. Hierzu leistet UNIFIL einen wertvollen, sowohl vom Libanon als auch von Israel hochgeschätzten Beitrag. Daher werden wir für eine Verlängerung des UNIFIL-Mandats stimmen. Sehr geehrte Frau Kollegin Müller, herzlichen Dank! Treffender als Sie es getan haben, kann man die Haltung der Linken bzw. den Unsinn, den die Linken zu diesem Thema verbreiten, nicht kommentieren. Deswegen möchte ich das nicht weiter tun. Wenn wir in diesen Zeiten des Aufruhrs in der arabischen Welt und der anhaltenden Gewalt in Syrien zur Vertrauensbildung und zur Stabilisierung der Sicherheitslage in dieser Region beitragen können, dann haben wir die Pflicht, dies zu tun; das hat Außenminister Westerwelle bei seinem Besuch in Beirut dankenswerterweise erst kürzlich bekräftigt. Längst hat die Gewalt in Syrien eine Dimension erreicht, die das Potenzial hat, die gesamte Region zu destabilisieren. Dies hätte auch unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit Israels. Außerdem gibt die Sicherheitslage im Libanon aufgrund innenpolitischer Spannungen seit der letzten Verlängerung des UNIFIL-Mandats zunehmend Anlass zur Beunruhigung. Wie Staatsminister Michael Link bereits vor zwei Wochen an dieser Stelle ausführte, beobachtet das Auswärtige Amt die Sicherheitslage seit den jüngsten tödlichen Auseinandersetzungen in Tripoli und Beirut mit wachsender Sorge. Die entlang konfessioneller Linien verlaufenden Konflikte zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen im Libanon werden durch die Gewalt in Syrien zusätzlich angefacht. Vor diesem Hintergrund ist die Verlängerung des UNIFIL-Mandats dringender geboten denn je; denn UNIFIL ist ein Symbol für Vertrauensbildung und Völkerverständigung. Sowohl der Libanon als auch Israel nehmen UNIFIL als Stabilitätsanker und Versicherung gegen eine regionale Destabilisierung wahr. UNIFIL bietet einen von beiden Seiten anerkannten Rahmen für direkte Kontakte zur Klärung und zur Deeskalation. ({0}) Das allein ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen schon ein nicht zu gering zu schätzender Erfolg. Beide Seiten schätzen dabei gleichermaßen den deutschen Beitrag und wünschen eine aktive Rolle Deutschlands im Rahmen von UNIFIL. Mich freut diese Wertschätzung des deutschen Beitrags, vor allem in Anbetracht der anfänglichen Bedenken gegenüber einer deutschen Beteiligung an den Einsätzen in dieser Region. Mit einer Verlängerung des deutschen Beitrags senden wir daher auch das Signal an die Region, dass wir bereit sind, langfristig in diesem Krisenherd engagiert zu sein und Verantwortung für diese Region zu tragen, wenn dies von allen Seiten gewünscht wird. Derzeit besteht unser deutscher Beitrag aus rund 230 Soldatinnen und Soldaten und zwei Patrouillenbooten. Ergänzend zu dieser Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband engagiert sich Deutschland auch auf bilateraler Basis an der Ausstattung und am Aufbau der libanesischen Marine. Darüber hinaus sind wir, wie Sie dem Antrag der Bundesregierung entnehmen können, im Rahmen des vernetzten Ansatzes dabei, die deutsche Beteiligung an UNIFIL in ein umfassendes Engagement für den Libanon und die Region einzubetten, was auch politische, wirtschaftliche und sozioökonomische Maßnahmen umfasst. ({1}) All den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die bei UNIFIL ihren Dienst leisten und in den vergangenen Jahren geleistet haben, gebührt unser Dank. ({2}) Ich wünsche allen unseren Soldaten an dieser Stelle Gottes Segen bei ihren Einsätzen. ({3}) Ihnen und ihren Kameraden haben wir es zu verdanken, dass UNIFIL seit 2006 einen signifikanten Beitrag zur Festigung der Waffenruhe zwischen Libanon und Israel geleistet hat. Der größte Erfolg besteht wohl darin, dass es seit 2006 geglückt ist, eine erneute militärische Eskalation der kontinuierlich weiterschwelenden Spannungen zwischen Libanon und Israel zu verhindern. Die Überwachung der libanesischen Grenze zur See, die die libanesische Regierung 2006 von den Vereinten Nationen erbeten hatte, hat sich als Erfolg erwiesen. Die Präsenz des UNIFIL-Flottenverbands hat erheblich zur Sicherung der seeseitigen Grenze des Libanons beigetragen. Ziel ist und bleibt es, Waffenschmuggel radikalislamischer Terrorgruppen zu verhindern. Weitere Erfolge sind im Bereich des Aufbaus maritimer Kapazitäten zu verzeichnen. Noch in diesem Jahr wird die achte von insgesamt neun Stationen der landesweiten Küstenradarorganisation in Betrieb gehen; die letzte folgt nächstes Jahr. Somit wird die libanesische Marine ab 2013 über ein komplettes System zur Erfassung des Schiffverkehrs verfügen. Ebenso ist es UNIFIL gelungen, den Ausbildungsstandard der libanesischen Marine deutlich zu verbessern. Dank dieser Fortschritte wird UNIFIL hoffentlich bald die Verantwortung für die Überwachung der libanesischen Seegrenze schrittweise an die libanesische Marine übergeben können. Insofern wohnt dem UNIFIL-Mandat eine Exitoption inne. Nach erfolgreich abgeschlossenem Aufbau der maritimen Fähigkeiten kann die Beendigung des Einsatzes erfolgen. Bis es so weit ist, braucht UNIFIL unsere Unterstützung. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/10162 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/9873 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Bevor ich die Abstimmung eröffne, will ich darauf hinweisen, dass wir unter dem noch folgenden Tagesordnungspunkt 11 zwei weitere namentliche Abstimmungen durchführen werden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung geben wir Ihnen später bekannt. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne Schieder ({0}), Swen Schulz ({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Einführung eines generellen Schüler-BAföG Ein Instrument für mehr Chancengleichheit im deutschen Schulsystem - Drucksache 17/9576 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Ich bitte darum, dass die Besprechungen beendet werden, damit wir in der Tagesordnung fortfahren können. Es ist vereinbart, zu diesem Tagesordnungspunkt eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das beschlossen. Ich gebe der Kollegin Marianne Schieder für die SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die SPD-Fraktion, legen heute einen Antrag Marianne Schieder ({0}) zur Wiedereinführung eines allgemeinen SchülerBAföG vor, das viele von uns noch kennen werden; denn bis 1983 gab es bereits ein umfassendes BAföG für Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen. Durch die erste Regierung Kohl wurde dieses Instrument massiv eingeschränkt und gekürzt, weil man glaubte, es nicht mehr zu benötigen. Seitdem aber ist der Anteil der Kinder aus Elternhäusern mit niedrigerem Einkommen und aus prekären Familienverhältnissen, die den Sprung an die Universitäten schaffen, stetig zurückgegangen. Nach den Gründen befragt, geben sowohl Eltern als auch junge Menschen sehr oft finanzielle Gründe an. Man traut sich nicht zu, die Kosten, die mit dem Besuch einer weiterführenden Schule oder einem Studium verbunden sind, zu schultern. Daraus folgt für uns: Wir brauchen Förderinstrumente, die bereits vor dem Abitur ansetzen und die Entscheidung für eine weiterführende Schule erleichtern. ({1}) Daher heute unser Appell: Lassen Sie uns gemeinsam wieder ein allgemeines Schüler-BAföG auf den Weg bringen, um für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen! Den Zugang zu Bildung für alle Bürgerinnen und Bürger zu öffnen, insbesondere Kindern und jungen Menschen eine möglichst individuelle und möglichst intensive Förderung zukommen zu lassen, damit niemand verloren geht und alle ihre Potenziale entfalten und entwickeln können, das ist Aufgabe guter Bildungspolitik. ({2}) Leider ist es hierzulande aber immer noch so, dass der Zugang zu Bildung sehr stark von der sozialen Herkunft der Kinder und jungen Menschen abhängig ist, also im Grunde der Geldbeutel der Eltern ausschlaggebend dafür ist, für welchen Schulweg sich ein Kind entscheidet und welchen Schulabschluss es erreicht. Die jüngste Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund und der Bertelsmann-Stiftung vom März 2012 zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit im deutschen Schulsystem belegt dies erneut schwarz auf weiß. So gelingt es Kindern einkommensschwacher Eltern viel seltener, ein Gymnasium zu besuchen, als dem Nachwuchs von Akademikern. Insbesondere in Bayern und in Niedersachsen ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischem Werdegang sehr stark ausgeprägt. ({3}) Die Erkenntnis ist sehr alt. Bereits vor rund zehn Jahren wurden diese Zusammenhänge in einer PISA-Untersuchung festgestellt. Geändert hat sich seitdem nicht viel. Wir meinen, dass wir endlich etwas tun müssen, um dieser sozialen Schieflage entgegenzuwirken. Wir brauchen ein neues Schüler-BAföG. Anspruchsberechtigt sollen alle Schülerinnen und Schüler einer weiterführenden Schule ab der zehnten Jahrgangsstufe sein. Das Schüler-BAföG soll als Vollzuschuss gewährt werden, dem Grunde und der Höhe nach abhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern. SchülerBAföG gibt es bereits, allerdings nur für Kinder und junge Menschen, die zum Besuch einer weiterführenden Schule nicht bei ihren Eltern wohnen können. Die wesentlichen Grundlagen sind also bereits vorhanden. Es bedarf lediglich einer Ausweitung der bestehenden Regelungen. Wenn Kinder wegen der Schule das Elternhaus verlassen müssen, so müsste es zukünftig zusätzlich einen Wohnzuschuss geben. Von einer solchen Ausweitung könnten nach aktuellen Zahlen, basierend auf Vorausberechnungen der Kultusministerkonferenz, rund 183 000 Schülerinnen und Schüler profitieren. Sie könnten eine maximale monatliche Förderung von bis zu 216 Euro erhalten. Für den Bundeshaushalt würde dies Ausgaben von rund 300 Millionen Euro bedeuten. Dieses Geld wäre in jedem Fall mehr als sinnvoll angelegt. Das wäre auch angesichts des sich anbahnenden Fachkräftemangels dringend notwendig. ({4}) Vor allem aber würden vielen Kindern und jungen Menschen erheblich bessere Zukunftsperspektiven eröffnet. Ich kann Ihnen versichern, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- und FDP-Fraktion: Viele Eltern wären froh, wenn sie der Staat dabei unterstützen würde, ihren Kindern eine gute Ausbildung bzw. die Erlangung der Hochschulreife zu ermöglichen. Wir dürfen nicht länger Zeit verlieren. Wir fordern die Bundesregierung auf, umgehend mit den Bundesländern in die erforderlichen Verhandlungen einzusteigen, um baldmöglichst zu einer neuen BAföG-Reform zu kommen, die ein generelles Schüler-BAföG enthält. Ziel für die Einführung sollte der Beginn des Schuljahres 2013/14 sein. Jeder junge Mensch, der geeignet und willens ist, muss die Möglichkeit erhalten, zu studieren, unabhängig von der finanziellen Situation des Elternhauses und von der Frage, ob die Eltern selber eine akademische Vorbildung haben. Das war die Vision für die Einführung des BAföG 1971. Diesem Ziel näherzukommen, bleibt für uns alle ein ständiger Auftrag. Bildung ist ein hohes Gut. Sie ist Garant für eine stabile Demokratie, Garant für das Wohlergehen unseres Landes und Basis für eine gelingende zukünftige Entwicklung. Jeder Cent, der jetzt in Bildung investiert wird, sichert die Zukunft unseres Landes und unserer Gesellschaft. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 100 Millionen Euro für Schüler, die zu Hause wohnen - das ist die heutige Forderung der SPD. Worum geht es? Schülerinnen und Schüler sollen in Zukunft das BAföG ab Klasse 10 auch dann bekommen, wenn sie noch bei ihren Eltern wohnen, und das Ganze als Vollzuschuss. Die erste Frage, die sich mir dazu stellt, Frau Schieder: Warum haben Sie dieses Schüler-BAföG für alle als Vollzuschuss nicht in Ihrer Regierungszeit eingeführt? Das hätten Sie gleich 1998 machen können. ({0}) Stattdessen ist die rot-grüne BAföG-Bilanz ziemlich mau. Abgesehen von einer einzigen BAföG-Erhöhung 2001, der die CDU/CSU-Fraktion damals im Übrigen zugestimmt hat, ist nicht viel passiert, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil jede BAföG-Erhöhung am Veto des Bundeskanzlers Schröder gescheitert ist. Dem Ruf der rot-grünen Anti-BAföG-Koalition haben Sie schon damals alle Ehre gemacht. Mit Bundeskanzlerin Merkel haben wir jetzt zum Glück eine Regierungschefin, die die absolute Priorität der Bildung unterstützt. ({1}) Deshalb ist es auch erst mit einem CDU-geführten Bildungsministerium gelungen, große Fortschritte für die Studierenden zu erreichen. 2008 kam es zu einer kräftigen und 2010 zu einer weiteren BAföG-Erhöhung mit vielen Verbesserungen für die Studierenden im Detail. Ich könnte es mir jetzt leicht machen und weiter auf die Diskrepanz zwischen den schönen Worten der Oppositions-SPD und der tatsächlichen SPD-Regierungspolitik herumreiten. Stattdessen werde ich mich aber sachlich mit Ihrem Antrag auseinandersetzen und ihn Schritt für Schritt durchgehen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmann zulassen?

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich mache erst einmal weiter, Herr Rossmann. Sie haben ja noch Gelegenheit, zu sprechen. ({0}) Als Begründung für Ihren Vorstoß weisen Sie gleich am Anfang Ihres Antrags auf die angebliche Chancenungleichheit an deutschen Schulen hin und ziehen eine Studie heran. Zunächst einmal darf ich sagen, dass auch ich für absolute Chancengleichheit bin. Diese verwechsle ich aber im Gegensatz zu Ihnen nicht mit Ergebnisgleichheit. ({1}) Die Studie, die Sie anführen, der „Chancenspiegel“ 2012 der TU Dortmund und der Bertelsmann-Stiftung, macht aber genau diesen Fehler. Deshalb ist diese Studie - das sage ich sehr deutlich - nicht ernst zu nehmen. Der Verband Deutscher Realschullehrer wirft zu Recht ein, dass in der Studie einseitig die Schulform Gymnasium betrachtet wird. Entscheidend ist aber der erfolgreiche Übergang der Jugendlichen ins Berufsleben. Was bringen denn Abiturquoten von bis zu 80 Prozent wie in Frankreich, wenn gleichzeitig über 30 Prozent aller Jugendlichen arbeitslos sind? Ist das gerechter? Der Studie zufolge schon, aber meines Erachtens nicht. ({2}) Auf den Punkt bringt es meiner Meinung nach der Philologenverband, der zu Recht darauf hinweist, dass der von Ihnen zitierte „Chancenspiegel“ lediglich ein Recycling alter PISA-Daten liefert; dabei wurde aber bekanntermaßen nur die Gruppe der 15-Jährigen untersucht. Was die Schüler danach erreichen, bleibt unberücksichtigt, etwa ob sie später auf ein Gymnasium wechseln oder eine Fachschule oder Berufsschule besuchen. Mittlerweile führen mehrere Wege zur Hochschulzugangsberechtigung. ({3}) Das wissen Sie doch, Frau Schieder: Inzwischen erwirbt sogar mehr als die Hälfte eines Jahrgangs eine Hochschulzugangsberechtigung. Das alles wird in der Studie, die Sie vollmundig zitieren, völlig ignoriert. Stattdessen werden die Zusammenhänge unzulässig verkürzt. Es wird der Eindruck erweckt, dass Kinder finanziell schwächer gestellter Eltern beim Besuch weiterführender Schulen vor allem an vorenthaltenen Finanzgrundlagen scheitern würden. Meiner Meinung nach gibt es keine strukturelle Benachteiligung, wie die Studie suggeriert. Die Unterschiede sind vielmehr das Ergebnis von Erziehung, Begabung, Leistungen und dem Lernumfeld, also außerschulischer Faktoren. ({4}) Das wird in der Bildungsstudie vergessen. Auf dieser Studie bauen Sie Ihre gesamte Argumentation und Begründung auf, Frau Kollegin Schieder. Das ist ein sehr brüchiges Fundament. Dann führen Sie auch noch Bremen und Brandenburg als Beispiele für eine geringere Chancenungleichheit an. ({5}) Dass dieselben Länder in derselben Studie als diejenigen identifiziert werden, die Kinder aus bildungsfernen Familien am stärksten benachteiligen, und dass diese bildungsfernen Schüler über zwei Lernjahre hinter Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern zurückbleiben, verschweigen Sie geflissentlich. So geht es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Damit aber nicht genug. Beim Lesen Ihres Antrags ergeben sich weitere Ungenauigkeiten. Zwar trifft es zu, dass seit dem Haushaltsbegleitgesetz von 1983 nur noch Schüler BAföG erhalten, die nicht mehr bei ihren Eltern wohnen. Allerdings - das verschweigen Sie ebenfalls hat es bereits zuvor, nämlich unter Ihrer SPD-Regierung, scharfe Sparmaßnahmen gegeben. Mit dem 7. BAföGÄnderungsgesetz im Herbst 1981 haben Sie bereits Leistungen in erheblichem Umfang eingespart. Die jetzt von Ihnen geforderte Förderung für Schüler der 10. Klasse an Berufsschulen haben Sie damals gestrichen. Das waren nicht wir, sondern die SPD-Regierung. Das muss einmal klargestellt werden. ({7}) Jetzt zu Ihren Forderungen bzw. Ihrer Wunschliste. Sie fordern für alle anspruchsberechtigten Schüler ab Klasse 10, also auch für diejenigen, die bei ihren Eltern wohnen, die Einführung eines BAföG als Vollzuschuss. Außerdem soll es einen Wohnkostenzuschuss geben. Dafür fordern Sie in einem ersten Schritt 100 Millionen Euro vom Bund. Nun wissen wir alle, dass die Länder ein Drittel der BAföG-Kosten tragen müssen. Das bedeutet 50 Millionen Euro obendrauf. Wie wollen Sie das denn schaffen? Selbst eine minimale BAföG-Erhöhung bekommen wir derzeit nicht hin, weil vor allem die SPD-geführten Länder blockieren: Dafür sei kein Geld da; soll der Bund das doch alleine zahlen. ({8}) Sie fordern viel von anderen. Aber es gelingt Ihnen nicht, selbst etwas zu schaffen. Hier verhält es sich doch genauso wie beim Kooperationsverbot. Im Bund wird vollmundig die Einbeziehung der Schulpolitik gefordert. Gleichzeitig sagen Ihre Parteikollegen im Land, dass ihnen eine Einbeziehung der Hochschulen zu weit geht. Das ist keine konstruktive Opposition, sondern Ausdruck einer „Wünsch dir was“-Mentalität, verbunden mit medialer Schaumschlägerei. Das können wir wirklich nicht gebrauchen. ({9}) Ich bin überzeugt, dass wir uns den wirklich wichtigen Herausforderungen der Modernisierung des BAföG stellen sollten. Dazu gehört erstens die Vereinfachung des Antragsverfahrens. Derzeit arbeiten Bund und Länder gemeinsam an der Aktualisierung der rund 650 Verwaltungsvorschriften zum BAföG. Dazu gehört zweitens eine einheitliche oder zumindest kompatible BAföG-Bearbeitungssoftware in den Ländern. Derzeit nutzen die Länder drei unterschiedliche Softwaresysteme zur Bearbeitung der Anträge. Dazu gehört drittens, die Verständlichkeit der Antragsformulare zu verbessern. Durch verständlichere Anträge kann die Zahl unvollständiger Anträge bzw. von Rückfragen gesenkt und können die Bearbeitungsdauer und der Aufwand für die Studentenwerke erheblich reduziert werden. Viertens wäre derzeit der wichtigste Fortschritt für die Studierenden die flächendeckende Einführung eines Onlineantrags. Bisher ist dies nur in Bayern und Hessen gelungen. Bayern war hier wieder einmal ganz vorne dabei, lieber Kollege Albert Rupprecht, und hat 2010 als erstes Bundesland ein Onlineantragsverfahren eingeführt. Das ist beispielhaft, wie ich finde. ({10}) Dass im Jahre 2012 in 14 von 16 Bundesländern die BAföG-Anträge noch immer handschriftlich ausgefüllt werden müssen, ist eigentlich ein Unding. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Bisher benötigt ein Studierender durchschnittlich 335 Minuten, das heißt über fünfeinhalb Stunden, um einen BAföG-Antrag auszufüllen. Diese Zeit könnte mit einem Onlineantrag erheblich verkürzt werden. Unsere Aufgabe besteht nun darin, die positiven Entwicklungen zu unterstützen, zum Beispiel durch das E-Government-Gesetz. Dann können die Anträge auch mit elektronischer Unterschrift abgegeben werden. Zusammenfassend: Vereinfachung, Modernisierung und Onlineantrag, das sind für mich die großen Herausforderungen, die wir jetzt angehen müssen. Wenn wir das tun, können wir BAföG-Empfänger wirklich unterstützen. Die von Ihnen vorgeschlagene Einführung eines generellen Schüler-BAföG als Vollzuschuss ist aus meiner Sicht nicht zielführend. Ich hoffe, dass sich die SPD wieder konstruktiver mit dem Thema BAföG auseinandersetzt. ({11}) Wir sind in der Großen Koalition zusammen ein gutes Stück vorangekommen. Unter Schwarz-Gelb wurden die Anstrengungen beim BAföG deutlich intensiviert. Diesen Weg wird die Union konsequent weitergehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über das UNIFIL-Mandat bekannt: Es wurden 585 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt 507, mit Nein 74. Vier Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 585; davon ja: 507 nein: 74 enthalten: 4 Ja CDU/CSU Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({6}) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Thomas Jarzombek Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({7}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({8}) Volker Kauder Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({9}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({10}) Dr. Michael Meister Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({11}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({12}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({13}) Anita Schäfer ({14}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Karl Schiewerling Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({15}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({16}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Armin Schuster ({17}) Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({18}) Michael Stübgen Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({19}) Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({20}) Peter Weiß ({21}) Sabine Weiss ({22}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Lothar Binding ({23}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({24}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Sebastian Edathy Ingo Egloff Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({25}) Kerstin Griese Michael Groß Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann ({26}) Hubertus Heil ({27}) Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Frank Hofmann ({28}) Christel Humme Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Fritz Rudolf Körper Angelika Krüger-Leißner Christine Lambrecht Christian Lange ({29}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({30}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Stefan Rebmann Sönke Rix Karin Roth ({31}) Michael Roth ({32}) ({33}) Annette Sawade Axel Schäfer ({34}) Bernd Scheelen ({35}) Werner Schieder ({36}) Ulla Schmidt ({37}) Carsten Schneider ({38}) Swen Schulz ({39}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Andrea Wicklein Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({40}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther ({41}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth ({42}) Sibylle Laurischk Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({43}) Michael Link ({44}) Horst Meierhofer Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({45}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({46}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({47}) Cornelia Pieper Dr. Christiane RatjenDamerau Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Stefan Ruppert Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Serkan Tören ({48}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({49}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({50}) Volker Beck ({51}) Birgitt Bender Agnes Brugger Ekin Deligöz Harald Ebner Hans-Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({52}) Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Sven-Christian Kindler Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({53}) Dr. Tobias Lindner Jerzy Montag Kerstin Müller ({54}) Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({55}) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Markus Tressel Jürgen Trittin Beate Walter-Rosenheimer Arfst Wagner ({56}) Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Nein SPD Klaus Barthel Willi Brase Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({57}) Rüdiger Veit DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Inge Höger Andrej Hunko Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Sabine Leidig Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer ({58}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Sahra Wagenknecht Harald Weinberg Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Monika Lazar Dr. Harald Terpe Enthalten BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Dr. Anton Hofreiter Lisa Paus Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke für die Linke. ({59})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Seit Januar warten wir darauf, dass Ministerin Schavan den im Kabinett längst verabschiedeten BAföG-Bericht endlich dem Parlament vorstellt. Vor der Sommerpause herrschte aber bislang Fehlanzeige. Es muss erst ein Antrag aus der Opposition kommen, damit wir das Thema BAföG im Bundestag überhaupt noch einmal behandeln. Im vergangenen Jahr wurde das 40-jährige BAföGJubiläum gefeiert. Anlässlich dieses Jubiläums und der damit verbundenen Festivitäten haben sich auf einmal alle Fraktionen - auch die Koalitionsfraktionen - als ganz überzeugte Fans des BAföG präsentiert. Alle haben für sich in Anspruch nehmen wollen, damit die Hochschulen in sozialer Hinsicht geöffnet zu haben. Nach diesen Lobesreden auf die eigene Politik ist dann allerdings wenig passiert. Es gab nämlich weder eine Erhöhung des BAföG noch eine Ausweitung des Berechtigtenkreises - und zwar weder an Schulen noch an Hochschulen -, obwohl diese zwei Maßnahmen dringend notwendig wären und wirklich überfällig sind. ({0}) Der gerade erschienene Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2012“ macht ganz deutlich, wie sehr die soziale Herkunft den Bildungsweg in der Bundesrepublik bestimmt. Von 100 Kindern aus Elternhäuser mit akademischem Hintergrund nehmen 77 ein Studium auf. Bei Kindern, deren Eltern einen Hauptschulabschluss haben, sind es gerade einmal 13. Das ist im Jahr 2012 der Zustand in einer Gesellschaft, die sich selbst als Bildungsrepublik bezeichnet und eine Bildungsrepublik sein will. Ich finde, diese Zahlen zeigen keine Bildungsrepublik, sondern eigentlich eine bildungspolitische Katastrophe. ({1}) Weil man um all diese bildungspolitischen Peinlichkeiten weiß, sagt die Bundesregierung in ihrem BAföGBericht auch gar nicht ganz genau, wie hoch der Anteil der Schülerinnen und Schüler ist, die heute noch BAföG bekommen. Sie sagt nur, dass die Zahl der Geförderten um 3,6 Prozent gestiegen ist. Die Frage ist aber, auf welchem Niveau diese Zahl gestiegen ist. An den allgemeinbildenden Oberstufen erhielten im Jahre 2010 gerade einmal 9 300 Schülerinnen und Schüler das BAföG. 9 300 im gesamten Bundesgebiet! Umrechnet sind das genau - diese Zahl findet man nicht mehr in dem Bericht - 0,8 Prozent. Das ist sozusagen die BAföG-Förderungsquote bei Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Oberstufen. Was plant die Regierung in dieser Situation weiter? Sie will im Jahr 2013 eine Viertelmilliarde beim BAföG einsparen. Das sind Ihre Pläne für den Haushaltsentwurf 2013. Wahrscheinlich ist das auch schon die vorauseilende Umsetzung der Kürzungsorgie, die uns ins Haus steht, wenn der Fiskalpakt ratifiziert ist. Sagen Sie den Menschen wenigstens die Wahrheit, anstatt die Mär von der Bildungsrepublik zu bemühen. ({2}) Das BAföG für Schülerinnen und Schüler ist über die Jahre so zusammengestrichen und deformiert worden, dass davon eigentlich nichts mehr übrig geblieben ist. Dabei ist das Schüler-BAföG eine entscheidende VoNicole Gohlke raussetzung dafür, dass sich junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft für einen ihren Interessen entsprechenden Beruf entscheiden und dass mehr Schülerinnen und Schüler eine Hochschulzugangsberechtigung, nämlich das Abitur, erwerben. Wir Linke wollen deswegen eine deutliche Ausweitung des Schüler- und Schülerinnen-BAföG. Wir möchten, dass endlich wieder alle Schülerinnen und Schüler an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen das Recht auf BAföG erhalten. Das haben wir bereits im letzten Jahr in unserem Antrag für eine nötige BAföGReform gefordert. Ich freue mich über die jetzige Initiative der SPD, die Richtiges benennt. In dem Antrag der SPD ist die Entwicklung der Förderhöhe leider nicht erwähnt. Der BAföG-Bericht macht deutlich, dass es wegen der gestiegenen Preise nötig ist, das BAföG um mindestens 5 Prozent zu erhöhen, damit das aktuelle Förderniveau gehalten werden kann. Die wirklich lausige Erhöhung der Bundesregierung von 2010 - sie betrug 2 Prozent - hat noch nicht einmal die Inflation ausgeglichen. Die dauernde Nichterhöhung des BAföG ist de facto eine BAföG-Kürzung. ({3}) Deswegen fordert die Linke die sofortige Anhebung des BAföG um 10 Prozent. Weiter brauchen wir jährlich einen automatischen Ausgleich der gestiegenen Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten. ({4}) Das BAföG hat den Auftrag, Bildungschancen zu stärken und soziale Ungleichheiten aktiv auszugleichen. Dazu muss es aber Lebenshaltungskosten real abdecken. Hier ist ein aktives politisches Handeln gefordert und nicht schwarz-gelbes Nichtstun. Wenn die Politik handelt, könnte das BAföG wieder - so war es ursprünglich auch gedacht - zum besten Schutz vor Bildungsausgrenzung werden. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Patrick Meinhardt hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede Debatte um mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland bringt uns voran. Dies gilt aber nicht für jeden Antrag. Ich bin ein Freund davon, immer zuerst einen Blick auf die Realität in Deutschland zu werfen. Wenn wir das wirklich ernsthaft machen, finden wir eine beachtliche Zahl: 200 000. 200 000 Schülerinnen und Schüler erhalten nicht in Zukunft, sondern schon heute ein Schüler-BAföG. 200 000 junge Menschen erhalten eine zusätzliche finanzielle Unterstützung, damit sie entsprechend ihrer Begabung und nicht nach dem Geldbeutel ihrer Eltern gefördert werden. Das ist gelebte Bildungsgerechtigkeit im 21. Jahrhundert. ({0}) Das gesellschaftspolitische Ziel von BAföG war und ist immer, Bildungsperspektiven, Bildungsaufstieg für diejenigen zu ermöglichen, deren Familien nicht das Geld haben, sie optimal zu fördern, oder - um in der Formulierung Ihres Antrags zu bleiben - die aus prekären Familienverhältnissen kommen. ({1}) Genau deswegen setzt die Förderung mit SchülerBAföG insbesondere bei den Schülerinnen und Schülern an, die schon einen beachtlichen Bildungsweg hinter sich haben, bis sie in einer beruflichen Schule angekommen sind. Das heißt, über 70 Prozent - über 70 Prozent! der Schülerinnen und Schüler sind meist über die Hauptschule oder über die Realschule in eine berufliche Schule gekommen. Wir setzen mit der bereits existierenden Regelung des Schüler-BAföG also exakt dort an, wo die soziale Gerechtigkeit in Deutschland noch mehr zum Tragen kommen muss. Das bestehende Schüler-BAföG ist ein Aufstiegsgarant. Darauf kann der gesamte Deutsche Bundestag stolz sein. ({2}) Kritisch wird es, und zwar äußerst kritisch, wenn wir den Blick in die Bundesländer werfen und dabei feststellen müssen, was die Länder selbst im Bereich des Schüler-BAföG tun bzw. nicht tun. ({3}) In Sachsen verzeichnen wir eine Steigerung um 18 Prozent, ({4}) in Hessen um 18 Prozent, in Nordrhein-Westfalen um 21 Prozent in der Zeit 2008 bis 2010 bei SchülerBAföG-Zuwendungen. Wenn aber von 2008 auf 2010 die Anzahl der geförderten Schülerinnen und Schüler in Mecklenburg-Vorpommern um 21,2 Prozent heruntergeht, ({5}) gleichzeitig sich aber die Anzahl der Schulabbrecher dramatisch erhöht, läuft etwas bildungspolitisch granatenmäßig falsch. ({6}) Dies macht deutlich, dass zunächst endlich einmal auch die Länder ihre Hausaufgaben zu machen haben, bevor schon wieder neue Forderungen nach mehr Bundesausgaben kommen. Wenn wir schon bei den Ländern sind, dann sage ich eines ganz klipp und klar: Wir machen bei keinem neuen BAföG-Basar mehr mit. Ich erwarte von Ihnen eine klare Aussage, ob Ihre SPD-Ministerpräsidenten bereit sind, sich an den Kosten zu beteiligen. Wir beteiligen uns nicht an dem unwürdigen Spiel, das da heißt, die SPD-Fraktion beantragt ein Schüler-BAföG, die SPDLänder schwadronieren über soziale Gerechtigkeit und schlagen sich dann in die Büsche, wenn es darum geht, ihr Drittel zu finanzieren. So nicht! ({7}) Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist es umso wichtiger, dass wir all diejenigen Länder fördern und stärken, die selbst bereit sind, ein Schüler-BAföG in die Wege zu leiten. Exemplarisch greife ich dort die rotrote Landesregierung von Brandenburg heraus. Ganz unkompliziert - ganz unkompliziert! - konnte dort die einzige vernünftige Regelung verabredet werden, dass für die 500 Jugendlichen aus Hartz-IV-Familien sichergestellt ist, dass eine Anrechnung auf die Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch ausgeschlossen ist. Ganz unkompliziert auf der direkten persönlichen Verhandlungsebene - genau so und nicht anders sieht ein intelligentes, sinnvolles Miteinander zwischen Bund und Ländern aus. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie erlauben mir, dass ich grundsätzlich noch einmal die Ausweitung eines Schüler-BAföG für Schülerinnen und Schüler für weiterführende allgemeinbildende Schulen ab Klasse 10 an Ihrem eigenen Anspruch messe, den Anteil der Kinder gerade aus Arbeiterfamilien zu erhöhen, der den Weg in die Hochschule findet. Dass wir aber auch grundsätzlich die Zielrichtung eines Schüler-BAföG hinterfragen müssen, gehört ebenfalls zur Diskussion eines solchen Antrags. Jetzt wird es spannend; denn genau die gleiche Debatte ist bei der Anhörung im Landtag von Brandenburg auch geführt worden. Ich zitiere aus einer Stellungnahme dort: Es existieren keine belastbaren Daten darüber, dass Schüler aus der gymnasialen Oberstufe gehen, wenn sie kein Schüler-BAföG erhalten. In der wissenschaftlichen Forschung findet man keinerlei Belege dafür, dass die Einführung eines SchülerBAföG strukturelle Veränderungen in der Grundschule auslöst, was die eigentlichen Richtungsentscheidungen von Schülern betrifft. ({8}) Dies hat der Vertreter der GEW in Brandenburg zum Gesetzentwurf der rot-roten Landesregierung formuliert. Recht hat er. ({9}) Man kann noch eins draufsetzen. Noch deutlicher wird der Landesschülerrat - was er sagt, gilt auch für eine bundesweite Stellungnahme -: Unbestritten ist, dass in Deutschland die Bildungschancen von der sozialökonomischen Herkunft eines Kindes abhängen. Sollte dann aber nicht Ziel der rot-roten Regierung sein, genau dieser Tatsache entgegenzuwirken? Das Problem bestehen zu lassen und die Auswirkungen durch das Schüler-BAföG zu kaschieren, erscheint als keine geeignete Lösung dieses Problems.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Herr Rossmann würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, vielen Dank. Nach vielen Diskussionen stellten wir fest, dass es sich mehr oder weniger um ein kleines Imageprojekt handelt, das nicht den Bedürfnissen der Schüler entgegenkommt. Schlussformulierung des Landesschülerrates: Den Zweck des Schüler-BAföG auf dem Papier festzuhalten heißt jedoch nicht, dass es in der Realität diesem Zweck auch zugutekommt. Dem ist bildungspolitisch überhaupt nichts mehr hinzuzufügen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie alle wissen, dass wir ein erhebliches Problem damit haben, dass die Querverbindungen zur Sozialgesetzgebung in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt worden sind und dass ein höherer Verwaltungsaufwand in erheblichem Maße provoziert werden würde, wenn es zu Auszahlungsverzögerungen käme, da nach Ihrem Antrag die Förderung nach dem SGB II erst nach der Antragsberatung durch die BAföG-Ämter anlaufen könnte. Es ist ein erhebliches Problem, solch einen wichtigen Punkt wie die Querverbindung der Sozialpolitik hier überhaupt nicht berücksichtigt zu haben. Der von Ihnen vorgelegte Antrag ist nichts anderes als der Einstieg in ein neues Bürokratiemonster im Sozialbereich. ({0}) Ich glaube deswegen, man sollte bei diesem Antrag das tun, was wir Ihnen vonseiten der Regierungsfraktionen vorschlagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich attestiere den Sozialdemokraten gern, dass ihr Antrag gut gemeint ist. Aber er löst zentrale Fragen nicht. Er entlässt die Länder an Stellen aus der Verantwortung, wo sie sie definitiv wahrnehmen müssten, und er lässt die sozialpolitischen Querverbindungen vollständig außer Acht. Schade! Deswegen ist dieser Antrag einmal mehr der Beweis dafür, dass das Gegenteil von „gut“ nicht „schlecht“, sondern „gut gemeint“ ist. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Kai Gehring das Wort.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. ({0}) Dies gilt auch beim Zugang zum Abitur. Wir wollen strukturelle Benachteiligung abbauen, für mehr Durchlässigkeit sorgen und damit der sozialen Spaltung von Bildungsbiografien entgegenwirken. Die weitgehende Aushöhlung des Schüler-BAföG in den 1980er-Jahren hat vielen jungen Menschen aus einkommensarmen Elternhäusern den Weg zum Abitur zunächst erschwert. Nur noch Schülerinnen und Schüler, die nicht bei ihren Eltern wohnen, können unter sehr engen Voraussetzungen gefördert werden. Der SPD-Antrag ist aber allenfalls gut gemeint. Wir müssen intensiv prüfen und diskutieren, mit welchen Mitteln das eigentliche Ziel, nämlich mehr bildungsfernen Jugendlichen das Abitur zu ermöglichen, am besten zu erreichen ist. ({1}) Gerade in der Schulbildung gilt für uns Grüne klar der Grundsatz der Institutionenstärkung. Diese ist meist viel wirkungsvoller als Transfers, wie das völlig verunglückte und überbürokratisierte Bildungs- und Teilhabepaket zeigt. ({2}) Starke Institutionen wie gute Ganztagsschulen bieten allen, aber gerade bildungsfernen Kindern und Jugendlichen bessere Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schullaufbahn. Lehrerinnen und Lehrer müssen zudem in ihrer Ausbildung besser auf heterogene Lerngruppen vorbereitet werden. Klar ist auch: Der Lebensunterhalt ist ein Kostenpunkt, der einkommensschwache Eltern davon abhalten kann, ihrem Kind den Zugang zum Abitur zu ermöglichen. Auch deshalb ist es inakzeptabel, dass die Bundesregierung bei Bedarfsgemeinschaften weiterhin eine nachvollziehbare Regelsatzberechnung verweigert. Wir sagen: Für mehr Bildungsaufstieg ist eine kluge Kombination aus Transfers und starken Bildungsinstitutionen notwendig. ({3}) Viele Studien, zuletzt der nationale Bildungsbericht, haben nachgewiesen, dass der Weg zum Abitur für bildungsferne Jugendliche in Deutschland besonders schwierig ist - aber nicht vorrangig aus finanziellen Gründen in der Oberstufenphase, wie der SPD-Antrag meint. Die negative Auswahlentscheidung wird meistens viel früher getroffen. So liegt die unterproportionale Abiquote von Nichtakademikerkindern vor allem an dem Aussieben beim Übergang aus der Grundschule in die weiterführende Schule. ({4}) Für diese Kinder und Jugendlichen kommt erschwerend hinzu, dass ihre Leistungen häufig ungerecht beurteilt werden. So hat die Vodafone-Stiftung ermittelt, dass ein Kind aus einer bildungsfernen Familie bei gleicher Leistung oft schlechter benotet wird. Nur zur Hälfte sei die Benotung mit der erbrachten Leistung zu erklären. Bei der Empfehlung zu weiterführenden Schulen betrage die soziale Verzerrung bei gleicher Leistung während der Grundschulzeit mindestens 25 Prozent. Der aktuelle Chancenspiegel von Bertelsmann-Stiftung und TU Dortmund beklagt letztlich die fehlende Integrationskraft und Durchlässigkeit unseres Schulsystems. Aber die Studie belegt auch, dass Fairness, Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit und echte individuelle Förderung in den Schulen, wenn sie verbunden werden, ganz klar ein gutes Mittel sein können, um bildungsferne Kinder und Jugendliche zu fördern. Um Bildungshürden in Deutschland abzuräumen, muss Bildung endlich so organisiert und finanziert werden, dass individuelle Förderung für alle möglich ist. Bund und Länder müssen dabei gemeinsam und in gesamtstaatlicher Verantwortung handeln. Genau deshalb wollen wir das Kooperationsverbot aufheben, um noch mehr gute Ganztagsschulen in Deutschland haben zu können. ({5}) Für die Einführung eines echten Schüler-BAföG müssten zunächst die Länder gewonnen werden. Deswegen muss sich die SPD schon die Frage gefallen lassen, warum es, von Brandenburg abgesehen, bisher keine relevanten SPD-Initiativen aus den Ländern zum SchülerBAföG gegeben hat. Eine massive Ausweitung des Schüler-BAföG wäre daher ein ehrgeiziges und ambitioniertes Unterfangen. Die von der SPD im Antrag vorgeschlagene Anschubfinanzierung von 100 Millionen Euro reicht dafür sicher gar nicht aus. Sinnvoller könnte es vielmehr sein, zunächst eine schrittweise Ausweitung des Berechtigtenkreises ins Auge zu fassen, zum Beispiel auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Programmen, bei denen Schulabschlüsse nachgeholt werden, ({6}) sowie auf Berufskollegs. Auch sollten die Richtlinien, die es jetzt gibt, weniger restriktiv ausgelegt werden, etwa in Fällen, in denen jungen Menschen das Zusammenleben mit ihren Eltern nicht zugemutet werden kann. Für einen Bildungsaufbruch müssen strukturelle Hürden beseitigt und die Finanzausstattung der Schulen weiter verbessert werden. Für uns Grüne sind diejenigen Maßnahmen prioritär, die sich unmittelbar auf den Schulerfolg bildungsferner Jugendlicher auswirken und soziale Öffnung bringen. Nur so werden wir dem einzelnen jungen Menschen gerecht und bekämpfen nachhaltig soziale Ausgrenzung und Fachkräftemangel. Ich habe ein paar Beispiele dafür genannt, wie man es besser machen könnte. Wir sind zu solch einer Prioritätensetzung bereit und freuen uns darauf, ambitionierte und zugleich umsetzbare Instrumente auf den Weg zu bringen. Der SPD-Antrag trägt in seiner jetzigen Form noch nicht dazu bei. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Florian Hahn hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist ein hohes Gut in unserer Gesellschaft. Ich denke, wir sind uns über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass wir Deutschland als Bildungsrepublik weiterhin stärken müssen, damit wir im globalen Wettbewerb nicht auf der Strecke bleiben. Außerdem sind wir es den jungen Menschen in unserem Land schuldig, sie entsprechend ihrer Talente und Fähigkeiten ausreichend zu fordern und zu fördern. Beruflicher Erfolg darf nicht nur über Generationen vererbt werden, sondern muss durch Talent und Einsatzbereitschaft erreichbar sein. Auch Kinder aus sozial schwachen Familien müssen eine faire Chance auf einen höheren Bildungsabschluss bekommen. Diese Herausforderung nimmt die Bundesregierung ernst. Wir investieren in große Programme, wie zum Beispiel in den Ausbau der Ganztagsschulen, um für jeden Schüler eine angemessene Förderung zu gewährleisten. Auch das Projekt „Lesestart“ setzt sehr früh an und versucht, die Potenziale von Kindern aus sogenannten bildungsfernen Familien auszuschöpfen. Die Wiedereinführung des Schüler-BAföG, meine Damen und Herren, gehört leider nicht zu den Lösungen, die für mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land sorgen. Es macht weder inhaltlich Sinn, noch ist es finanziell zu stemmen. Schließlich tun sich die Länder jetzt schon schwer, die benötigten Finanzmittel für das bestehende BAföG bereitzustellen. ({0}) Zu glauben, ein kleiner Geldbeitrag im Monat könnte derart komplexe Probleme wie soziale Ungleichheit und mangelnde soziale Mobilität lösen, halte ich für reichlich naiv. Finanzielle Mittel allein sind in diesem Fall völlig unzureichend, wenn nicht gar vollends sinnlos. ({1}) Interessant ist auch, dass sich die SPD in ihrem Antrag plötzlich für direkte monetäre Leistungen für Familien starkmacht, während sie das Betreuungsgeld ablehnt. ({2}) Dort wäre das Geld viel sinnvoller angelegt. Viele Initiativen, wie zum Beispiel ArbeiterKind.de, haben mittlerweile ausreichend belegt, dass es nicht unbedingt die finanziellen Sorgen sind, die Kinder aus bildungsschwachen Haushalten vor einem gymnasialen Abschluss oder einer späteren akademischen Laufbahn abschrecken, sondern dass Erziehungsfragen, der Wertekanon, der in der Familie vorherrscht, und die persönliche Unterstützung dabei eine Rolle spielen. Hier müssen wir ansetzen. Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass nie mehr für Bildung getan wurde als unter der heutigen Regierung. Der 4. Bildungsbericht, der letzten Freitag vorgelegt wurde, belegt die positive Gesamtentwicklung des deutschen Bildungssystems eindeutig. Damit zahlt sich die klare Schwerpunktsetzung der Koalition für die Bildung aus: Weniger Risikoschüler, weniger Schulabbrecher, dafür mehr Geld im System, mehr Durchlässigkeit und höhere Abschlüsse denn je. Fast jeder zweite Schüler verlässt die Schule inzwischen mit der Hochschulreife. Nie waren Bildungschancen für junge Menschen in Deutschland besser als heute. ({3}) Das zeigt sich auch am schon bestehenden BAföG. Das haben wir sogar noch ausgebaut. Im Bereich der Begabtenförderung und der Bildungsdarlehen haben wir weitere Instrumente der Ausbildungsfinanzierung flankiert. So wurde das Deutschlandstipendium ins Leben gerufen und das Bildungskreditprogramm erweitert. Damit hat unsere Ministerin Schritte in eine offenere Bildungspolitik eingeleitet, die der unterschiedlichen Lebenssituationen der Menschen Rechnung trägt. Ich möchte noch die Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte hervorheben. Dies ist in Bayern eine ungeheure Erfolgsgeschichte. Das heißt, der Abschluss als Meister zieht in puncto Hochschulzugang mit dem Abitur gleich und hält somit Handwerkern alle Bildungschancen offen. ({4}) Dies macht deutlich, dass die Bildungsbeteiligung nicht auf den Besuch eines Gymnasiums reduziert werden darf. Schon heute werden 42 Prozent der Hochschulzugangsberechtigungen nicht mehr am Gymnasium erworben, sondern über andere Wege, wie zum Beispiel die berufliche Bildung. Gerade in Bayern, meiner Heimat, sind junge Menschen aus sogenannten bildungsfernen Schichten und nichtdeutscher Herkunft überdurchschnittlich am Erwerb entsprechender Zertifikate beteiligt. Ich erzähle ihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass die Schüler in Bayern von jeher in Ländervergleichen am besten abschneiden. Gleichaltrige Schüler in anderen Bundesländern hinken oft bis zu einem Jahr hinterher. Der Berufseinstieg für Schulabgänger in Bayern, ob diese von der Mittelschule, der Realschule, oder von einem Gymnasium kommen, ist so leicht wie in keinem anderen Bundesland. ({5}) Bayern weiß, wo es Defizite hat, und arbeitet mit Hochdruck daran. Die von mir genannten großartigen Erfolge lasse ich mir trotzdem von der SPD nicht madig reden. ({6}) Vor diesem Hintergrund und den zahlreichen Errungenschaften in der Bildung dank unserer Regierung ist es doch höchst verwunderlich, dass die SPD mit der alten Forderung nach einem Schüler-BAföG kommt. Das Schüler-BAföG gilt seit 1983/84 nur noch für Jugendliche, die nicht bei den Eltern wohnen. Einkommensschwache Familien erhalten für zu Hause wohnende Schüler natürlich Unterstützung. Diese werden beim Gesamtbedarf von SGB-II-Empfänger-Haushalten berückFlorian Hahn sichtigt. Würden sie jedoch künftig BAföG-berechtigt, blieben sie zu einem großen Teil zusätzlich nach SGB II förderungsberechtigt. Das würde in zahlreichen Fällen zu einer Überschneidung der Finanzierungshilfeinstrumente nach dem SGB II einerseits und dem BAföG andererseits kommen. Ich muss nicht weiter ausführen, welch erheblichen Verwaltungsaufwand mit sich bringen würde und mit welchen Auszahlungsverzögerungen zu rechnen wäre. Hier hört die Absurdität des Antrags noch nicht auf. Derzeit wird das BAföG mit 65 Prozent vom Bund und 35 Prozent von den Ländern gestemmt. Vor allem die Länder haben jetzt schon Probleme, das bestehende BAföG anzugleichen. Nun will die SPD auch noch das Schüler-BAföG einführen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit ihren Genossen in den A-Ländern. ({7}) Herr Schulz und der SPD-Haushälter, Herr Hagemann, haben behauptet, die Regierung kürze im Haushalt 2013 beim BAföG. Das ist nicht nur falsch, sondern bewusst irreführend. Jeder BAföG-Empfänger hat im kommenden Jahr einen bis auf den letzten Cent unveränderten BAföG-Anspruch. Das wissen Sie. Es ist klar, dass die Rückzahlungsausfälle bei guter Konjunktur sinken, ebenso, dass dieses Geld für zusätzliche Studienplätze eingesetzt wird. Kehren Sie an dieser Stelle zu einer ernsthaften Argumentation zurück. Sie haben ja gleich Gelegenheit, das Ganze entsprechend richtigzustellen. ({8}) Mir drängt sich dabei auch der Verdacht auf, dass die SPD angesichts des bevorstehenden Wahlkampfs lediglich versucht, das alte Thema Schüler-BAföG populistisch wiederaufleben zu lassen. Dies würde auch den sonderbaren Umstand erklären, dass die SPD weder in der rot-grünen noch in der Großen Koalition jemals auf die Idee kam, das Schüler-BAföG wieder einzuführen. Den Antrag gilt es daher abzulehnen. Herzlichen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Swen Schulz hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mir diese Debatte so anhöre, dann bin ich schon ein Stück weit enttäuscht davon, wie die Vertreterinnen und Vertreter insbesondere von CDU/CSU und FDP hier argumentieren. ({0}) Die SPD hat einen Antrag zur Verbesserung des Schüler-BAföG vorgelegt, und Sie haben spontan auf Abwehr geschaltet. Anstatt sich mit der Argumentation einmal ernsthaft auseinanderzusetzen und von unserer Seite etwas dazu zu hören, bauen Sie Barrikaden und Blockaden auf. ({1}) Ich bitte Sie herzlich, sich in der weiteren parlamentarischen Beratung hier ein Stück weit zu öffnen. Der kürzlich erst veröffentlichte nationale Bildungsbericht bestätigt: Bildung hängt weiterhin sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Im Bildungsbericht findet sich - auf Seite 293, wenn ich mich recht entsinne - eine kleine, aber sehr ausdrucksstarke Grafik. Diese macht deutlich, dass 77 Prozent der Akademikerkinder den Weg zu den Hochschulen finden, aber nur 13 Prozent der Kinder von Eltern mit Hauptschulabschluss studieren. Dieses Ungleichgewicht rührt doch nicht daher, dass die Kinder von Hauptschülern etwa dümmer wären, sondern sie bekommen weniger Unterstützung und weniger Förderung. Da müssen wir ansetzen. ({2}) Es gibt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, mit dem nationalen Bildungsbericht umzugehen. Die erste Möglichkeit: Man nimmt ihn ernst und versucht, politische Antworten auf das zu finden, was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darin formuliert haben. Die zweite Variante: Man kann ihn ignorieren. Die CSU und die Bayerische Staatsregierung haben eine dritte Variante erfunden: Sie haben die Autoren des Bildungsberichts beschimpft und wollen ihnen den Mund verbieten. Das ist eine Form der Wissenschaftsfeindlichkeit, die wir weder akzeptieren noch mitmachen. ({3}) Wir befinden uns ja schließlich nicht beim Papst im 17. Jahrhundert, auch wenn der Herr Seehofer das vielleicht gerne hätte. ({4}) Uns macht das Sorgen, was im Bildungsbericht steht. Wir nehmen Ungerechtigkeit und Chancenungleichheit im Bildungswesen nicht hin, sondern wir wollen Antworten darauf finden. Deswegen wollen wir dazu beitragen, dass der Zugang zum Abitur nicht am Geldbeutel scheitert. Wir schlagen daher vor, dass das Schüler-BAföG verbessert wird und auch an diejenigen gezahlt wird, die noch zu Hause leben. Herr Meinhardt, Ihnen und den anderen sei gesagt: Das löst natürlich nicht jedes Problem selbstverständlich nicht, welche einzelne Maßnahme könnte das schon von sich behaupten? Herr Kollege Gehring, natürlich wollen wir die Schule als Institution stärken. Die Verbesserung des Schüler-BAföG wäre jedoch ein wichtiger Baustein zur Unterstützung derjenigen, denen es finanziell nicht gut geht, ({5}) Swen Schulz ({6}) oder derjenigen, die sich vielleicht zu Hause dafür rechtfertigen müssen, dass sie weiter zur Schule gehen wollen, anstatt Geld nach Hause zu bringen, eine Ausbildung zu machen oder zu arbeiten. Wir wollen eine bedarfsabhängige Förderung, und zwar bis zu 216 Euro monatlich als Vollzuschuss. Nach Schätzungen der KMK könnten davon etwa 183 000 Schülerinnen und Schüler profitieren. Das würde in der Spitze insgesamt Ausgaben von jährlich 300 Millionen Euro bedeuten. Natürlich ist das viel Geld. Aber es ist gut in Bildung investiert, ganz im Gegensatz zu dem geplanten Betreuungsgeld, Herr Hahn. Das ist genau der Unterschied. Im Gegensatz zu Ihnen unterstützen wir die Bildung. ({7}) Herr Hahn, dass Sie hier ernsthaft das Finanzargument gegen das Schüler-BAföG ins Feld geführt haben, finde ich einigermaßen dreist. Das hat mich fast vom Stuhl gehauen. Lassen Sie es mich einmal so formulieren: Solange Sie in der Koalition auch nur darüber nachdenken, das Betreuungsgeld einzuführen, das bis zu 2 Milliarden Euro kosten würde, ({8}) haben Sie jedes Recht verwirkt, das Finanzargument gegen Bildungsförderung ins Feld zu führen. ({9}) Das BAföG ist das zentrale Instrument der Bildungsförderung. Es muss weiterentwickelt werden. Dafür setzen wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten engagiert ein. Das haben wir auch unter Rot-Grün getan. Nachdem das BAföG in der Kohl-Ära in Schutt und Asche gelegt wurde, haben wir es wieder aufgebaut. Auch in der Großen Koalition, mussten wir Frau Schavan ordentlich schieben und treiben, damit überhaupt etwas passiert. ({10}) Sie wollte das BAföG eigentlich abschaffen. Heute beraten wir unseren Antrag in erster Lesung. Wir setzen darauf, dass es uns in der weiteren Beratung im Ausschuss, auch unter Einbeziehung von Sachverständigen, gelingt, dass Sie sich öffnen und sich von unseren guten Argumenten überzeugen lassen. ({11}) Herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9576 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Das möchten Sie auch so. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus - Drucksachen 17/8672, 17/8990 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 17/10155 Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Michael Hartmann ({1}) Ulla Jelpke Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP vor. Verabredet ist es, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Das ist also so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat Dr. Hans-Peter Friedrich. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Minister:in)

Politiker ID: 11003124

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Die Aufarbeitung der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, NSU, wie sie sich selbst genannt haben, geht weiter. Hunderte von Beamten werten die Asservate aus. Leider ist diese schwierige und mühsame Arbeit immer wieder mit neuen, unerfreulichen Meldungen verbunden. Sie haben es heute vielleicht den Agenturen entnommen. In den Medien wird darüber berichtet, dass vom Bundesamt für Verfassungsschutz Akten vernichtet worden sind, und zwar nach dem Aufdecken des NSU. ({0}) Diese Vorgänge sind dem Bundesinnenministerium gestern bekannt geworden. Nachdem ich gestern Mittag davon erfahren habe, habe ich den zuständigen Staatssekretär gebeten, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die für diese Kontrollfragen zuständig sind, also das Parlamentarische Kontrollgremium, entsprechend zu unterrichten. Das ist erfolgt. Ich habe gestern Abend den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz zu mir gebeten und ihn beauftragt, eine lückenlose Aufklärung vorzunehmen und einen Bericht vorzulegen. Sobald dieser Bericht vorliegt, werde ich ihn dem Bundestag bzw. den zuständigen Gremien des Deutschen Bundestages zur Kenntnis bringen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Aufklärungsarbeit und der Auswertung der Asservate geht es zum einen darum, zu klären, welche strafrechtlichen Konsequenzen sich für die handelnden Personen bzw. die Mitwisser und Mithelfer ergeben. Es geht zum anderen aber auch um politische Gesichtspunkte, nämlich um die Frage: Müssen wir eventuell strukturelle Veränderungen bei den Sicherheitsbehörden herbeiführen, weil sich Lücken und Mängel erkennen lassen? Was ist notwendig, um diese Mängel zu beseitigen? Es wurde eine Bund-Länder-Regierungskommission zur Aufarbeitung des Rechtsterrorismus eingesetzt. Sie erhielt den wichtigen Arbeitsauftrag, dafür zu sorgen, dass alle sich jetzt ergebenden Erkenntnisse zusammengetragen werden, um zu klären, ob Strukturveränderung notwendig sind oder nicht. Ich will meine Ausführungen nicht mit der Behauptung verbinden, dass, wenn wir die eine oder andere Änderung schon zu einem früheren Zeitpunkt vorgenommen hätten, dieses oder jenes hätte verhindert werden können. Aber eines ist klar: Wenn es uns gelingt, und in dem Maße, wie es uns gelingt, Lücken zu schließen und auch Mängel zu beseitigen, wachsen die Chancen, dass solche Untergrundbewegungen früher ausfindig gemacht werden können. Ich denke, dass das unsere Aufgabe ist. Noch bevor man endgültige Entscheidungen trifft, ist es wichtig, dass man sich Klarheit verschafft über einige feststehende Grundtatsachen, die von den Einzelerkenntnissen unabhängig sind: Erstens. Ich glaube, wir sind uns in allen Fraktionen einig, dass wir auch in der Zukunft eine Trennung zwischen Polizei, Kriminalpolizei und Nachrichtendiensten haben wollen. ({1}) Ich glaube, da gibt es einen Konsens in allen Fraktionen. Der zweite wichtige Punkt ist, zu erkennen, dass wir sowohl beim Verfassungsschutz wie auch bei der Polizei neben Zentralstellen, die in Berlin, Köln oder wo auch immer sind, immer auch regionale Einheiten brauchen, die sich vor Ort mit extremistischen Bewegungen beschäftigen und vor Ort klären, was da eigentlich passiert. Diese Dualität von einer Zentrale, die eine Koordinierungsfunktion hat, und regionalen Einheiten muss aufrechterhalten werden. Ich glaube, dass es auch daran keinen ernsthaften Zweifel gibt. Entscheidend ist also nicht die Frage, wer wo zuständig ist - der Bundesinnenminister oder die Innenminister der Länder -, sondern entscheidend ist die Frage, wie wir die Arbeit an den Schnittstellen zwischen regionalen Einheiten und Zentralen so eng verknüpfen können, dass die Zusammenarbeit gewährleistet ist. Deswegen habe ich in dieser Frage keine Föderalismusdiskussion geführt, sondern mich von Anfang an auf die Aufgabe konzentriert, diese Schnittstellen entsprechend zu bearbeiten. Das Ergebnis ist ein Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus, das seine Arbeit im Dezember aufgenommen hat. In diesem Gemeinsamen Abwehrzentrum sitzen Beamte aus Behörden von Bund und Ländern täglich zusammen, um über das Phänomen des Rechtsextremismus zu reden. Sie berichten von einzelnen Sachverhalten aus ihren Ländern, um damit den anderen Kenntnis davon zu geben. Auch wenn diese vielleicht zunächst keinen Zusammenhang mit Sachverhalten in ihrem eigenen Land sehen, erkennen sie im Laufe der weiteren Erörterung über Wochen und Monate womöglich Zusammenhänge über Bundesländer hinweg. Diese Zusammenarbeit führt nicht nur zu einer Effizienzerhöhung, sondern fördert auch das Vertrauen der Behörden untereinander. Ich glaube, es ist wichtig, dass man eine menschliche Ebene für die Zusammenarbeit findet. Ein wichtiges Hilfsmittel für diese gemeinsame Arbeit aller Behörden von Ländern und Bund ist die Verbunddatei, um die es heute geht. Die Informationen, die in den Ländern vorhanden sind, sollen systematisch und pflichtgemäß in diese Datei eingebracht werden, ohne Ermessen. Diese Datei steht allen beteiligten Sicherheitsbehörden zur Verfügung, und es soll - das ist wichtig - eine Analysemöglichkeit geschaffen werden. Bestimmte Personen sollen mit bestimmten Personengruppen, bestimmten Phänomenen und Einzelprojekten verbunden werden können. Diese Analysefähigkeit bietet die Möglichkeit, regional zugeordnet bestimmte Phänomene zu untersuchen. Diese Verbunddatei, die Ermessensspielräume und subjektive Entscheidungen von Behörden ausschaltet und eine systematische Aufarbeitung durch das Zusammenschließen von Informationen ermöglicht, ist eine moderne Antwort auf Basis moderner Technologie auf das, was die Polizei, was die Sicherheitsbehörden, was der Verfassungsschutz braucht. Deswegen bin ich sehr dankbar dafür, dass wir heute das Gesetz, das zur Errichtung dieser Datei notwendig ist, auf den Weg bringen. Ich darf mich ganz herzlich bei den Kollegen von der Koalition, aber auch bei den Kollegen von SPD und Grünen für die konstruktive Zusammenarbeit in all diesen Fragen bedanken. Ich glaube, dass wir mit diesen Möglichkeiten, die mit diesem Gesetz und dieser Verbunddatei geschaffen werden, einen Meilenstein im Kampf gegen den Rechtsextremismus setzen. Insofern bitte ich um Zustimmung. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Hartmann hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, es war richtig, dass Sie zu Beginn Ihrer Aus22396 Michael Hartmann ({0}) führungen auf das abgehoben haben, was wir heute und zum Teil auch bereits gestern zur Kenntnis nehmen mussten. Die Debatte über diese Verbunddatei wird nun plötzlich - vielleicht nicht einmal unerwartet - von einer Aktenlöschung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz überschattet. Als Mainzer Abgeordneter möchte ich sagen: „Ausgerechnet am 11. November“, aber für Witze ist hier kein Anlass. Diese Aktenlöschung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz ist unmöglich und untragbar. Es kann nicht sein, dass in diesem Komplex relevante Vorgänge und Akten - und würden sie auch nur am Rande das Thema berühren - einfach von Behörden vernichtet werden. So viel Datensparsamkeit würde ich mir oft in anderen Fällen wünschen. ({1}) Über das, was da geschehen ist, darf man nicht nur in unseren Zusammenhängen diskutieren. Es ist ein Schlag ins Gesicht aller, die wirklich aufklären wollen, ein Schlag ins Gesicht unseres Untersuchungsausschusses und ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ihrer Angehörigen. Deshalb gibt es nur eine Möglichkeit: Alles muss ganz schnell auf den Tisch gelegt werden. Was ist von wem warum gemacht worden? Bitte bis zur Sitzung des Untersuchungsausschusses in der nächsten Woche alles vorlegen und alles aufklären! Nur so kann der entstandene Schaden minimiert werden. ({2}) Dieser Schaden betrifft nicht nur die Aufklärung oder die Opfer, es ist auch ein weiterer Schaden für das Ansehen unserer Sicherheitsbehörden. Dabei hätten sie es gerade im Zusammenhang mit der Aufklärung der NSUMorde so nötig, dass sie mal wieder gelobt werden. Leider kann das auch heute nicht geschehen. Dieser Vorgang, den ich gerade angesprochen habe, steht durchaus im Zusammenhang mit dem Thema, um das es in dieser Debatte gerade geht, nämlich die Etablierung einer Verbunddatei. Denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, was nützen uns die besten Rahmenkonstrukte für Dateien, wenn diese weder mit der richtigen Haltung noch mit der richtigen Ausbildung noch mit der richtigen Datengrundlage bedient werden? In allen drei Feldern besteht weiterhin hoher Handlungsbedarf. Wenn dort nichts geschieht, nutzt uns diese Verbunddatei gar nichts. ({3}) Die Notwendigkeit einer solchen Datei - da wird mir kein Fachkundiger widersprechen können - verweist natürlich darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden nicht funktioniert, weder auf der Ebene des Bundes untereinander noch zwischen Bund und Ländern. Sonst müsste man gar nicht darüber nachdenken, dass man den Austausch von Informationen, den Austausch über wichtige Sachverhalte eigens in einem dafür geschaffenen Gesetz festhalten muss. Aber es ist so, und es soll auch geschehen, auch mit unserer Zustimmung; denn es ist nirgendwo vorgesehen - das sage ich an alle, die vielleicht verkürzt kritisch diskutieren -, neue Daten zu erheben, wohl aber, vorhandene Daten zusammenzuführen, und zwar in einer Indexdatei und keiner Volltextdatei. Das alles ist gut und solide an das angelehnt, was wir bei der Antiterrordatei bereits auf den Weg gebracht haben. Wir haben, als der Gesetzentwurf eingebracht wurde - manche werden sich erinnern -, bereits angekündigt, dass wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten diesen Gesetzentwurf wie jedes andere Sicherheitsgesetz begleiten werden und dass wir auch in dem Fall sehr genau darauf achten werden, ob Standards der Bürgerrechte und des Datenschutzes eingehalten werden. Es darf und kann nicht sein, dass im Kampf gegen Rechts jedes Maß verloren geht und wir plötzlich Schleusen öffnen, die wir bei anderen Themen zu Recht geschlossen halten. So sind wir in die Anhörung gegangen, die in der Tat ertragreich war ({4}) und dazu führte, dass mit der Koalition noch einmal Gespräche aufgenommen wurden. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich, Herr Kollege Binninger, Frau Kollegin Piltz. Es ist nicht selbstverständlich, dass man die Anregungen und Änderungswünsche einer Oppositionsfraktion aufnimmt. Es ist aber ein gutes Zeichen für den Konsens der Demokraten im Kampf gegen Rechts, dass Sie es getan haben. Dem darf man auch einmal Respekt zollen. ({5}) Es ist durch diese Verhandlungen im Lichte der Anhörung tatsächlich gelungen, Verbesserungen zu erreichen. Beim Freitextfeld, bei der Eilfallbefugnis und bei den Kontaktpersonen haben wir dafür gesorgt, ({6}) dass nicht möglicherweise Menschen, die unschuldig sind, die nichts mit rechten Umtrieben zu tun haben, in diese Datei hineingeraten. Insofern sollte sich das ganze Haus zugutehalten, dass wir Bürgerrechtsstandards und Datenschutzstandards auch hier eingehalten und sogar nach oben geschraubt haben. Ich sage allerdings, Herr Minister: Wir gehen mit dieser Datei einen Schritt. Es ist wahrhaftig kein Meilenstein. Das wäre zu kurz gesprungen. Ich finde es auch sehr selbstbewusst, davon zu reden, dass wir ein Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus auflegen. Nein, wir bilden eine Verbunddatei, die ein notwendiger und wichtiger Mosaikstein ist, ({7}) aber nicht der allein entscheidende, um den Rechtsextremismus besser und entschiedener durch mehr Kooperation bekämpfen zu können - nicht mehr und nicht weniger. Vieles andere gehört dazu, vor allem die noch immer Michael Hartmann ({8}) nicht ausreichende Unterstützung der Präventionsarbeit, die Aufstellung von neuen und besseren Statistiken bei der Kriminalpolizei und anderen Behörden und eine bessere und entschlossenere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, ({9}) die von dieser Bundesregierung im Kampf gegen Rechts allenfalls instrumentalisiert, aber an keiner Stelle ernst genommen wird. ({10}) Ich kann dies an vielen Stellen belegen. Es gibt die tolle Idee - Herr Minister, was ist das eigentlich? -, ein bundesweites Informations- und Kompetenzzentrum zu errichten. Wir haben uns erlaubt, mit einer Kleinen Anfrage herauszufinden, was denn da Geniales angedacht wurde, zumal sich alle, die aus der Zivilgesellschaft als Partner eingeladen waren, hinterher - gelinde gesagt veralbert und instrumentalisiert gefühlt haben. Auf unsere Frage, wie die Arbeitsweise des BIK, also des bundesweiten Informations- und Kompetenzzentrums - darunter geht es ja nicht - aussehen wird, wurde uns geantwortet - ich lese nur einen Satz vor, um nicht ermüdend zu sein -: Die grundsätzliche Gestaltungsvoraussetzung für das bundesweite Informations- und Kompetenzzentrum ist, dass nicht nur Kompetenzen gebündelt und Bildungsmaßnahmen initiiert, ({11}) sondern insbesondere die positiven Aspekte der pädagogischen Bildungsarbeit in diesem Themenfeld deutlicher formuliert werden. Respekt, meine Damen und Herren! Großartig, was Sie da voranbringen! Soziologische Wortungetüme, aber kein Schritt im Kampf gegen Rechts! ({12}) Wer ernsthaft Präventionsarbeit betreiben will, wer ernsthaft gegen Rechte kämpfen will, der muss vor allem eines machen: Er muss die Partner aus der Zivilgesellschaft so ernst nehmen, wie sie es verdient haben, und darf sie finanziell nicht ausbluten lassen. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: Die Kommunen brauchen eine anständige Finanzausstattung. Ich wiederhole, was ich an anderer Stelle schon gesagt habe: Wer Jugendhäuser schließt, macht die Tür auf für Rechtsextreme, die da durchgehen, meine sehr geehrten Damen und Herren! ({13}) Deshalb müssen wir immer an die Kommunen denken, wenn wir an den Kampf gegen Rechts denken. Es gehört übrigens auch dazu, dass wir selbst nicht leichtfertig oder billigen Applaus heischend durch die Lande ziehen, um beispielsweise islamophobe Parolen nachzuplappern. Auch in Wahlkämpfen ist das nicht erlaubt. Es ist eine Aufgabe gerade von Berufspolitikerinnen und Berufspolitikern, überall dem Geist der Intoleranz, dem Geist der geistigen Enge, dem Geist, der undemokratisch ist, der rassistisch ist, zu widerstehen und auch da deutlich zu widersprechen, wo es unangenehm wird. Da ist Zivilcourage auch von uns als Abgeordneten verlangt, meine Damen und Herren! ({14}) Wenn wir heute diesem Gesetz zustimmen, sagen wir zugleich ganz deutlich: Wir sind beim Kampf gegen Rechts noch nicht am Ende. Wir haben gerade erst angefangen. Es muss noch viel mehr geschehen. Wir werden es nicht akzeptieren, dass in unserem Land weiterhin ungestraft Schurken herumlaufen, die sich für eine angeblich höhere nationale Gesinnung erlauben, auf Plakate zu schreiben: „Gas geben“, die sich erlauben, in ihrem Parteiprogramm zu sagen, Integration ist Völkermord, oder die wenige Wochen nach Bekanntwerden dieser Untaten die Melodie von Paulchen Panther bei einer Demonstration in München spielen. Wir stehen für ein Deutschland, in dem alle ohne Angst verschieden sein können und sich sicher fühlen. Ein Land, in dem Freiheit und Respekt, Vielfalt und Weltoffenheit lebendig sind.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war Text unseres gemeinsamen Entschließungsantrags. Vergessen wir ihn nicht! Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gisela Piltz hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal steht man hier vorne im Plenum des Deutschen Bundestages und ist fassungslos, was sich wieder im Rahmen der Aufklärung der verbrecherischen Morde um das NSU-Trio ereignet hat. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich finde es schon erstaunlich, dass es eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages braucht - und übrigens auch einer FDP, ohne die die Aussage von Herrn Fromm heute nicht möglich gewesen wäre -, ({0}) dass Herr Fromm heute überhaupt ausgesagt hat. Interessant ist auch, wenn ich das so sagen darf, dass Herr Ziercke gestern bei uns im Innenausschuss war und ich heute lesen kann, dass er sagt: Wir haben versagt. ({1}) Ich weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Innenausschuss, wie es Ihnen dabei geht. Aber ich habe den Eindruck, er nimmt den Innenausschuss nicht ernst; denn davon war gestern nicht die Rede. ({2}) Ich glaube, dass wir so weder den zehn Toten noch der großen Aufgabe, die die weitere Bekämpfung des Rechtsextremismus für uns darstellt, gerecht werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das hätten wir uns früher gewünscht. Herr Minister, wenn Herr Fromm das, was geschehen ist, nicht ausreichend aufklären kann, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie entsprechende Konsequenzen ziehen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Ströbele würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte. Man kann ja nicht einmal 30 Sekunden reden, ohne dass er die Hand hebt; aber wenn er Spaß daran hat. ({0}) - Ja. Das begleitet mich von meiner ersten Rede im Deutschen Bundestag bis heute. Mir würde sonst etwas fehlen, Herr Kollege.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, ich habe mich gemeldet, weil Sie nicht die Wahrheit gesagt haben. ({0}) Sie waren heute ja nicht im Untersuchungsausschuss und können deshalb gar nicht wissen, wer dort als Zeuge vernommen worden ist. Herr Fromm war nicht anwesend. ({1}) Nach dem, was ich gehört habe, soll Herr Fromm an anderer Stelle eine Presseerklärung abgegeben haben. ({2}) Herr Fromm ist aber nicht der Urheber dieser Geschichte. Vielmehr hat er gestern oder vorgestern den Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses darüber informiert, dass Akten geschreddert worden sein sollen, ({3}) und zwar Akten, die - das ist ganz wichtig - den „Thüringer Heimatschutz“ und dort eingesetzte V-Leute betreffen. Sieben Tage nachdem das Trio durch den Selbstmord aufgeflogen ist, sollen diese Akten geschreddert worden sein. Das ist der entscheidende Zusammenhang, der aufgeklärt werden muss. Denn es besteht der Verdacht, dass Akten vernichtet worden sind, in denen zuverlässige Informationen über die Tätigkeit von V-Leuten beim „Thüringer Heimatschutz“ und damit auch über das NSU-Trio enthalten waren. Geben Sie mir da recht, und korrigieren Sie insoweit den Anfang Ihrer Rede?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Ströbele, was mich wundert, ist: Sie sind zwar kein Lehrer, ({0}) meinen aber, wegen einer ansatzweisen Unklarheit die Gelegenheit zu haben, zu reden. Ich gebe Ihnen recht: Herr Fromm war heute nicht im Untersuchungsausschuss. ({1}) Aber dass er in den Ausschuss kommt, hat die FDP durchgesetzt. Ich möchte Ihnen im Zeitalter moderner Medien nur eines mit auf den Weg geben: Niemand von uns muss immer vor Ort sein, um zu wissen, was passiert. Das habe ich von Ihnen gelernt. Sie machen uns das schließlich jeden Tag vor. Von daher kann auch ich davon Gebrauch machen. ({2}) Ich komme jetzt einfach einmal auf den aktuellen Tagesordnungspunkt zu sprechen: In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich Ihnen im Namen der FDPFraktion versprochen, dass am Ende des anstehenden parlamentarischen Verfahrens vielleicht ein noch besseres Gesetz, aber auf keinen Fall ein Gesetz, das rechtsstaatliche Grundsätze nicht beachtet, stehen wird, dass das Gesetz also verbessert wird. Heute beraten wir das Ergebnis des parlamentarischen Verfahrens. Ich finde, wir haben unser Versprechen gehalten. Denn das Gesetz ist an einigen Stellen verbessert worden, mithilfe der Union und auch mithilfe der SPD. Herzlichen Dank! ({3}) Die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat ergeben - nicht erst durch das, was heute passiert ist; das gilt vermutlich auch für das, was dort nächste Woche geschehen wird, Herr Ströbele -, dass massive Fehler gemacht worden sind, Informationen nicht ausgetauscht worden sind, Behörden nicht miteinander kommuniziert haben. Ich glaube - da, Herr Kollege Hartmann, haben Sie recht -, dies ist ein Baustein, allerdings ein wichtiger Baustein, auf dem Weg zur Verbesserung der institutionalisierten Grundlage für den Informationsaustausch. Ein wichtiger Punkt ist - ihn gilt es hier noch einmal zu betonen -, dass in die Datei vorhandene Daten eingepflegt werden. ({4}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass sich der Zugriff auf die vollständigen Datensätze nach wie vor nach den für die Datenübermittlung zwischen den beteiligten Sicherheitsbehörden geltenden Vorschriften richtet. ({5}) Deshalb sind wir der Auffassung, dass das Trennungsgebot so gut wie vollständig gewährleistet ist. Es gibt nur eine Ausnahme - auch das muss man als Liberale sagen dürfen -: die sogenannte Eilfallregelung. Hier haben wir noch Veränderungen vorgenommen und die Hürden erhöht. Es bedarf einer Vorabprüfung durch die abfragende Behörde, ob eventuell Gründe gegen die Datenermittlung sprechen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich persönlich kann noch immer nicht verstehen, dass es bei der Bekämpfung von Extremismus gleich welcher Art eine Ruhezeit für deutsche Behörden geben kann. ({6}) Ich würde mir wünschen, dass es anders ist. Wir mussten aber lernen, dass es nicht so ist. ({7}) Meine dringende Aufforderung an alle Behörden lautet: Sie können bei der Bekämpfung von Links- oder Rechtsextremismus oder Islamismus nicht um 12 Uhr freitagmittags die Türen zumachen. ({8}) Ein weiterer zentraler Punkt für unseren Rechtsstaat ist, dass Personen, die selbst nicht als Verdächtige gelten, sondern vielmehr als Kontaktperson eine Rolle spielen könnten, besonderen Schutz verdienen; denn ein Eintrag in eine solche Datei ist keine Lappalie. Wem so etwas schon einmal passiert ist, der weiß, wovon ich spreche. Deshalb mussten auch hier die Hürden besonders hoch sein. Deswegen ist es für den Rechtsstaat gut, dass der Kreis der in der Datei zu speichernden Kontaktpersonen auf solche Personen begrenzt wurde, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für einen mehr als nur zufälligen oder flüchtigen Kontakt in die rechte Szene bestehen. Herr Hartmann, Herr Kollege Binninger, wir haben lange darüber gesprochen. Klar ist: Eine Zufallsbekanntschaft reicht definitiv nicht aus. Ich glaube, das war auch in unser aller Sinne. ({9}) - Herr Kollege Wieland, natürlich ist etwas geändert worden. ({10}) Schließlich wurde für den Zugriff auf Daten im Eilfall sowie auf gesperrte Daten deutlich gemacht, dass solche gravierenden Ausnahmen von den sonst rechtsstaatlich aufgestellten Restriktionen nur dann rechtens sein können, wenn auf der anderen Seite eine ebenso gravierende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter besteht. Auch hier haben wir nachgearbeitet. Die Auflistung der genannten Rechtsgüter stellt das deutlich klar. Der Umgang mit dem Freitextfeld ist hinsichtlich der Bürgerrechte immer etwas schwierig; denn hier kann, wie der Begriff schon sagt, eine Vielzahl eher unbestimmter Daten enthalten sein. Dem haben wir jetzt richtigerweise einen Riegel vorgeschoben. Alle Daten, die im Freitextfeld landen können, müssen auf Tatsachen basieren. ({11}) Ich glaube, das zeigt, dass hier keine vagen Vermutungen eingetragen werden dürfen. Diese Änderungen haben wir unter anderem aus der Anhörung im Innenausschuss mitgenommen. Deshalb gilt hier auch einmal den Sachverständigen mein herzlicher Dank, die uns weitergeholfen haben. Wir haben Ihnen heute auch noch einen Entschließungsantrag vorgelegt, weil es einen Wunsch des Bundesdatenschutzbeauftragten hinsichtlich der Kontrolle der Daten, die dort auflaufen, gegeben hat. Wir leben allerdings in einem föderalen Staat. Das heißt, der Bundesdatenschutzbeauftragte kann die Daten der Länder nicht kontrollieren. Da wir das hier im Deutschen Bundestag nicht regeln können, aber der Auffassung sind, dass die Datenschutzbeauftragten hierfür eine Lösung finden sollten, haben wir Ihnen zu diesem Thema einen Entschließungsantrag vorgelegt und somit entsprechende Konsequenzen aus der Anhörung gezogen. Meine Damen und Herren, wenn die Datei zu einem Baustein im Kampf gegen den Rechtsextremismus wird, dann haben alle Menschen, die in einer freien, toleranten und menschlichen Gesellschaft leben wollen, gewonnen. Das wäre ein guter Beitrag dieses Bausteins. Vielen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf soll laut Titel tatsächlich dazu dienen, die Bekämpfung des Rechtsextremismus zu verbessern. Der Kollege Hartmann hat es schon gesagt: Wir halten das für Hochstapelei, weil dieser Gesetzentwurf nicht ansatzweise dem gerecht wird, was eigentlich notwendig wäre. Wenn durch diesen Gesetzentwurf nämlich tatsächlich der Rechtsextremismus bekämpft würde, dann könnten Sie sich sicher sein, dass die Linke diesen unterstützen würde. Doch dieser Gesetzentwurf - da wundere ich mich doch sehr, Herr Innenminister - hat nur eine einzige Maßnahme zum Inhalt, nämlich die Einrichtung einer gemeinsamen Datei von Polizei und Geheimdiensten. Der Nutzen dieser Datei erschließt sich uns bisher überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Wir haben die Befürchtung, dass das hehre Ziel, Rechtsextremisten zu bekämpfen, als Begründung für den weiteren Abbau von Bürgerrechten herhalten und mit dieser Datei Missbrauch betrieben werden soll. Es gibt diverse Gremien, zum Beispiel den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss und die Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wir sind der Meinung, dass erst einmal untersucht werden muss, worin das klägliche Versagen der hiesigen Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung der Mordserie des sogenannten NSU bestand. Erst danach können Konsequenzen gezogen werden. Man darf ja nicht vergessen, dass diese Datei schon wenige Tage nach dem Bekanntwerden der Mordserie sozusagen aus der Schublade geholt wurde. Wir gehen von einer großen Ignoranz aus. Das haben wir gestern im Innenausschuss erlebt. Ich bin zwar nicht Mitglied des Untersuchungsausschusses und kann daher nicht allzu viel über die heutigen Vernehmungen sagen. Fakt ist aber: Die Bundesregierung will mit dieser Datei diejenigen stärken, die eigentlich auf dem Prüfstand stehen, nämlich die Sicherheitsbehörden. Schon die bisherigen Erkenntnisse zur Rolle des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit dem Naziterrorismus belegen: Demokratisch nicht kontrollierbare Geheimdienste sind selber Teil des Problems. ({0}) Auch das ist schon eben hier gesagt worden. Wenn Akten geschreddert werden, dann muss das aufgeklärt werden. Es kann nicht sein, dass man diesen Behörden mehr Rechte und mehr Kompetenzen gibt, weiterhin Daten zu sammeln. Zunächst einmal muss aufgeklärt werden, was passiert ist. Jeder hat mitbekommen, dass sich aus der Mitte des Heimatschutzes eine Terrorzelle gegründet hat, aber offensichtlich nicht der Verfassungsschutz. Wer diese Geheimdienste nun auch noch mit einer Verbunddatei belohnen will, der hat wirklich überhaupt nichts verstanden. Vorbild der neuen Datei ist die Antiterrordatei. Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen: In einer Anhörung des Innenausschusses hat die Mehrheit der Sachverständigen eingefordert, dass erst einmal die gesetzlich vorgeschriebene Evaluierung dieser Datei vorgelegt wird, bevor eine weitere Datei geschaffen wird. Auch wir fordern, dass zunächst diese Antiterrordatei evaluiert wird. Der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter Schaar, hat sehr deutlich gemacht, dass zum Beispiel seine Kontrollrechte eingeschränkt sind und dass er nicht die notwendigen Informationen bekommt. Alle diese Fragen sind noch offen. Daher darf dieser Gesetzentwurf heute eigentlich nicht verabschiedet werden. Herr Minister, ein weiterer Punkt, der uns sehr wichtig ist, ist folgender: Es geht hier - das haben Sie vor einigen Wochen gesagt und auch heute wieder - gar nicht eindeutig um Rechtsextremismus, sondern Sie sprechen immer nur von extremistischen Bereichen, von extremistischen Gruppen. Die Neonazi-Datei soll also den Weg zu einer umfassenden Verbunddatei ebnen, die dann neben Naziterroristen auch Antifaschisten oder Kapitalismuskritiker umfasst. Das machen wir auf gar keinen Fall mit. ({1}) Die Linke bleibt dabei: Der Kampf gegen Rechtsextremismus muss ein Kampf für und nicht gegen Grundrechte sein. ({2}) Mit Antifaschismus hat der vorliegende Gesetzentwurf nichts zu tun, mit einer weiteren Aufweichung der Verfassung umso mehr. Daher werden wir diesem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen. Danke. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wolfgang Wieland hat jetzt das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Friedrich, ich habe es hier schon einmal gesagt, und es ist mir fast peinlich, es zu wiederholen: ({0}) - Hören Sie doch mal zu! - Ihr Umgang mit dieser NSUMordserie gefällt uns. Es gefällt uns, dass Sie sich nicht, wie das sehr oft Minister machen, schützend vor irgendjemanden stellen, sondern dass Sie unzumutbare Dinge beim Namen nennen. Zu der Aktenschredderung haben Sie hier gesagt: Das muss aufgeklärt werden; das ist so nicht akzeptabel. - Daher haben Sie uns hier ausdrückWolfgang Wieland lich auf Ihrer Seite, auch was das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechts angeht. So weit zur Vorrede. ({1}) - Wartet doch mal ab! Die Kollegin Piltz war nun nicht in dem Untersuchungsausschuss. ({2}) - Aber sie hat an einer Stelle gesagt, dass Herr Fromm heute ausgesagt hat und dass die FDP um Herrn Fromm als Zeugen gekämpft hat. ({3}) Nun vergesst das doch mal bitte. Alle wollten, dass Herr Fromm als Zeuge kommt. Das war nur eine Frage des Zeitpunkts. Er wird kommen, und er wird dazu Stellung nehmen müssen. Aber das, was Herr Ziercke heute zu seiner Verantwortung gesagt hat, liebe Frau Piltz, das war leider weniger als wenig. Nach dem abstrakten Satz „Wir haben versagt“ folgte der Satz „Aber ich nicht!“. Dann kam die völlig neue Behauptung, die gute Arbeit des BKA am Katzentisch dieser BAO habe dazu geführt, dass die Mordserie aufgehört habe, der Erfolg habe ihm recht gegeben. ({4}) Das war beschämend für Deutschlands obersten Kriminalisten. ({5}) Aber ich billige Ihnen die Gnade der Abwesenheit zu, liebe Kollegin Piltz. Nun zu dieser Datei. Wir als Grüne haben immer gesagt - das war bei der Antiterrordatei so, und das ist auch hier so -: Man kann das im Prinzip machen. - Dann kam das große Aber: Es muss eine Fundstellendatei sein. Sowohl Verfassungsschutz als auch Polizei müssen Herren ihrer Daten bleiben. Es darf keinen Onlinezugriff und keine Vermischung geben. Das gibt es aber im Eilfall nach wie vor. Dafür sehen wir keinen Grund. Nun sagen Sie: Der Eilfall ist nur einmal eingetreten. Auch auf Nachfragen in den Berichterstattergesprächen war das Bundesministerium nicht in der Lage, diesen Fall zu schildern. Der BND soll diesen Fall durch einen Wochenendschlaf ausgelöst haben. Der BND ist bei dieser Datei aber nicht mit dabei. Das heißt, ein Behördenversagen und ein Nichterreichbarsein nach Feierabend oder am Wochenende dürfen nicht dazu führen, dass die grundsätzliche Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten aufgehoben wird. Dieser Eilfall ist ein Sündenfall. Wir machen das nicht mit. ({6}) Wenn Sie jetzt behaupten, lieber Kollege Hartmann, in den Berichterstattergesprächen sei diese Regelung nun so verbessert worden, dass Sie zustimmen können, dann kann ich dazu nur sagen: kleine kosmetische Verbesserungen. Die vielen Monita von Professor Poscher und von anderen, die hier vorgetragen wurden und die zum Teil sehr konkret und sehr gut ausformuliert waren, wurden nicht aufgegriffen. Die Daten der Kontaktpersonen sind nicht so sicher, wie Sie es hier dargestellt haben. Die Gefahr, als Kontaktperson in diese Datei zu kommen, ist nach wie vor viel zu hoch. Deswegen haben wir gesagt: Man braucht die Evaluierung der Antiterrordatei. 15 Monate nehmen Sie sich dafür Zeit. Sie lesen das Gesetz so, dass es nach fünf Jahren zu evaluieren ist, dass man also erst nach fünf Jahren mit der Evaluierung beginnt. Dann wird das aus Kostengründen zeitlich gestreckt, sodass wir jetzt den Missstand haben, eine neue Datei nach dem Vorbild einer alten Datei zu stricken, deren Evaluierung uns irgendwann im Herbst vorliegen wird. Das ist doch nicht sinnvoll. Das ist dann doch keine ernstzunehmende Evaluierung. ({7}) Schließlich und endlich steht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der Wege aus, die man hier gehen kann. Daten von Verfassungsschutz und Polizei zusammenzubringen, ist nicht banal. Das ist nicht vergleichbar mit irgendwelchen anderen Datensammlungen, und das haben auch alle Sachverständigen so gesagt. Nichts in Richtung Mitteilungspflicht und in Richtung Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten ist in diesem Gesetzentwurf verbessert worden. Deswegen sagen wir dazu Nein. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Clemens Binninger hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es war eine Verbrechensserie, die uns tief erschüttert hat, die uns immer noch beschäftigt und die uns immer noch fassungslos macht: 10 Morde, 2 Sprengstoffanschläge, 14 Banküberfälle sowie Sicherheitsbehörden, denen es nicht gelingt, diese Fälle aufzuklären. Infolgedessen hatten wir schon einige Male die Gelegenheit, hier über das Problem zu sprechen, das uns zu beschäftigen hat, nämlich über den gewaltbereiten Rechtsextremismus. Wir sind alle in der Pflicht, weil wir alle es nicht erkannt haben: die Politik, die Gesellschaft, die Medien und die Sicherheitsbehörden. Wenn von solchen Debatten wie der heutigen ein Signal ausgehen sollte - ich hoffe, dass es parteiübergreifend akzeptiert wird -, dann dieses: Für Extremismus ist in unserem Land kein Platz, egal ob von rechts, von links oder religiös motiviert. Das muss das Zeichen sein, das wir von solchen Debatten aussenden. ({0}) Sie haben völlig recht, Herr Kollege Hartmann: Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ist ein Baustein. Ein Baustein ist etwas mehr als ein Mosaikstein, aber es ist nur ein kleiner Teil dessen, was getan werden muss. Ursachenforschung, Prävention und Stärkung der Zivilgesellschaft: Das alles gehört mit dazu. Aber der Teil, um den es heute geht, ist das, was wir als Parlament unmittelbar machen können, nämlich ein Gesetz zu beschließen, mit dem wir die Arbeit der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den Rechtsextremismus verbessern. Denn das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden hat natürlich angesichts des Umstands, dass es nicht gelungen ist, diese vielen Verbrechen aufzuklären, gelitten. Ich will auch dem Bundesinnenminister etwas sagen. Natürlich trägt das Schreddern von Akten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, sieben Tage nachdem das Trio aufgeflogen ist, nicht dazu bei, das Vertrauen zu stärken. Im Gegenteil: Dabei besteht immer die Gefahr, dass alle möglichen Verschwörungstheorien auf einmal wieder breiten Raum bekommen. ({1}) Aber so, wie Sie heute Position bezogen haben, habe ich großes Vertrauen in Sie, dass Sie diesen Fall sicherlich rückhaltlos aufklären und wir relativ schnell über alles Bescheid wissen, damit gar nicht erst der Eindruck entstehen kann, dass etwas unterdrückt wurde. Wenn das doch der Fall war, dann muss das sicherlich gewisse Konsequenzen haben. ({2}) Eine Konsequenz aus der Mordserie des NSU ist, dass wir heute ein Gesetz beschließen, mit dem Polizei und Nachrichtendienste im Bund und in den Ländern ihr Wissen zusammenführen können. Wo liegt das Problem? Das Problem in der Vergangenheit war, dass das Wissen über gewaltbereite Rechtsextremisten auf 36 verschiedene Behörden von Bund und Ländern verteilt war und dass Anfragen über Rechtsextremismus - das haben wir im Untersuchungsausschuss gehört -, die die Polizei an den Verfassungsschutz in Bayern gerichtet hat, teilweise acht Monate Bearbeitungszeit in Anspruch genommen haben. Das ist alles nicht hinnehmbar; es ist nicht akzeptabel. Wir brauchen einen schnellen Informationsaustausch, verbunden mit der Pflicht, dass die Behörden ihre Informationen entsprechend weitergeben. Genau das erreichen wir mit dieser Datei. Schnell und präzise einen Gesamtüberblick zu bekommen, das leistet diese Datei. Sie setzt, glaube ich, auch an der richtigen Stelle an, wenn man berücksichtigt, welche Personen in die Datei aufgenommen werden. An die Adresse der Grünen muss ich bei aller Wertschätzung sagen, Kollege Wieland: Sie sind heute weit unter Ihren Möglichkeiten geblieben bei dem Versuch, krampfhaft einen Grund zu finden, warum die Grünen, die sonst bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus immer an erster Stelle sein wollen, hier kneifen. Bei einer entscheidenden Maßnahme für die Sicherheitsbehörden verweigern Sie sich, obwohl wir Gespräche angeboten und den Gesetzentwurf geändert haben. Sie haben sich vom Acker gemacht und suchen heute banale Gründe, um zu erklären, warum Sie dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Das ist blamabel, und es ist ein falsches Signal, das die Grünen setzen. Das sage ich in aller Deutlichkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Wieland zulassen, Herr Kollege?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne und immer.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Binninger, Sie sagten, wir hätten uns vom Acker gemacht. Ich habe so lange an den Berichterstattergesprächen teilgenommen, bis ich zum Hammelsprung in diesen Saal gerufen wurde, noch nicht ahnend, dass ich gar nicht hineingehen sollte. ({0}) Sie blieben sitzen, weil Sie meinten: Das ist nicht nötig; da machen wir ein Pairing. Werfen Sie mir also bitte nicht vor, dass ich ein pflichtschuldiger Abgeordneter bin. ({1}) - Ich wusste doch nicht, worum es bei der Abstimmung ging. Ich hörte das Klingelzeichen und verließ die Berichterstatterrunde. Wollen Sie mir das vorwerfen?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Wenn ich an die Wortbeiträge der Grünen nach dem 4. November zurückdenke, stelle ich fest, dass sie damals nicht zu Scherzen aufgelegt waren. Ich glaube, das Thema ist auch zu ernst, um darüber scherzhaft hinwegzugehen. Im Gegensatz zur SPD, die dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmt - die SPD hatte Änderungswünsche, die sie aufgrund unseres Entgegenkommens durchsetzen konnte -, verweigern Sie sich heute. Diese Botschaft bleibt. ({1}) Die Grünen fordern zwar gerne vollmundig bestimmte Sachen ein. Wenn es aber konkret wird, suchen sie krampfhaft nach Ausreden. Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, die Kriterien für die Speicherung der Daten von Kontaktpersonen seien noch immer zu weit gefasst, weil wir nichts Wesentliches geändert hätten. Ich empfehle Ihnen, sich den Gesetzentwurf noch einmal genau anzuschauen. Eine Kontaktperson muss - und das ist anhand von Tatsachen zu überprüfen - Mitglied der Neonazi-Szene sein. Sie darf nicht nur zufällig in engem Kontakt zu einem gewaltbereiten Neonazi stehen. Außerdem muss das Wissen der Kontaktperson geeignet sein, Verbrechen oder Straftaten aufzuklären. Das sind die drei Voraussetzungen. Wenn Sie trotzdem behaupten, das sei zu weit gefasst, dann kann ich nur sagen: Da haben Sie Ihr Herz für die völlig falschen Leute entdeckt. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen. ({2}) Wir haben ein Gesetz vorgelegt, das die entscheidenden Mängel beseitigt. Diese haben darin bestanden, dass das Wissen auf 36 Stellen verteilt war und dass es Monate gedauert hat, bevor man auf das Wissen zugreifen konnte. Wir haben den richtigen Personenkreis definiert und die Regelungen für den Eilfall noch einmal verschärft, um deutlich zu machen, dass das die absolute Ausnahme ist, von der nur selten Gebrauch gemacht werden sollte. Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen, ist ein wichtiger Baustein. Mit dem Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechts und der Einführung der neuen Datei sind die ersten Schritte gemacht. Wir werden im Untersuchungsausschuss weitere Zeugenvernehmungen durchführen und darauf achten, was noch zu ändern ist. Hier herrscht ein großer parteiübergreifender Konsens. Es ist schade, dass sich die Grünen heute diesem parteiübergreifenden Konsens verweigern. Von der Linken habe ich nichts anderes erwartet. Aber Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, enttäuschen mich an dieser Stelle maßlos. Drei Fraktionen in diesem Hause wissen, was zu tun ist, und stimmen heute zu. Dafür herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/10155, den Gesetzentwurf auf Drucksachen 17/8672 und 17/8990 in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch Koalition und SPD angenommen. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke waren dagegen. Enthaltungen gab es keine. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/10161. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist bei Zustimmung durch die einbringen- den Fraktionen angenommen. Die SPD hat sich enthal- ten. Dagegen waren die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 a, b und c auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck ({0}), Renate Künast, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Un- gleichbehandlung eingetragener Lebenspart- nerschaften gegenüber Ehen - Drucksachen 17/4112, 17/8248 - b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts - Drucksache 17/6343 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 17/9611 - Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Stephan Thomae Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Recht auf Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen - Drucksachen 17/8155, 17/9611 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Stephan Thomae Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zu ihrer Großen Anfrage einen Entschließungsantrag sowie zu ihrem Gesetzentwurf einen Änderungsantrag eingebracht. Über den Entschließungsantrag und über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen. Vorgesehen ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obama hat sich dafür ausgesprochen, Hollande will es, und auch der Konservative Cameron kämpft in Großbritannien für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Heute ist der Tag, da sollten sich auch die Kanzlerin und die schwarz-gelbe Koalition endlich ein Herz nehmen und bekennen: Auch in Deutschland ist die Zeit reif für schwule und lesbische Hochzeiten. Dafür geben wir Ihnen heute die Gelegenheit. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich kann Sie vielleicht nicht mit meinen Worten überzeugen, aber vielleicht mit den Worten von Herrn Cameron, die er auf dem Parteitag der Tories 2011 gesprochen hatte: Konservative glauben an die Bindungen, die uns unterstützen. Die Gesellschaft ist stärker, wenn wir uns gegenseitig verpflichten und uns unterstützen. Ich unterstütze die Öffnung der Ehe nicht, obwohl ich ein Konservativer bin, sondern weil ich ein Konservativer bin. - Wenn Sie heute etwas für konservative Werte und für den Fortschritt in der Gesellschaft tun wollen, dann stimmen Sie unseren Vorlagen zu. ({1}) Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, der Bundesaußenminister sagte zu dem Ausspruch von Obama „It‘s okay to marry gay“ über die Öffnung der Ehe: Das entspricht auch unserer deutschen Politik, die wir als Regierung und mit großer Mehrheit auch im Bundestag verfolgen. - Davon habe ich nicht viel gemerkt. ({2}) Aber heute gibt es die Chance, die Worte des Bundesaußenministers wahr zu machen. Es gibt eine Mehrheit von 60 Prozent in der Bevölkerung für die Öffnung der Ehe. Es gibt eine Mehrheit für diese Forderung im Deutschen Bundestag. Vier Fraktionen können auf Beschlüsse von Parteitagen ihrer jeweiligen Partei verweisen, in denen die Öffnung der Ehe gefordert wird. Deshalb wäre es eine Schande für das Haus, wenn es heute dafür keine Mehrheit bei der Abstimmung geben würde. ({3}) 15 Staaten auf dieser Welt ermöglichen das Eingehen von gleichgeschlechtlichen Ehen. 16 Staaten - einer mehr, nämlich Israel - erkennen gleichgeschlechtliche Ehen an. Ich meine, diese internationale Rechtsentwicklung ist auch einer der Gründe, warum wir heute sagen können, dass die grundgesetzliche Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht so lauten wird: Es hat einen Bedeutungswandel der Strukturprinzipien der Ehe - aufgrund der internationalen Rechtsentwicklung, aber auch aufgrund der Haltung in der Bevölkerung, in der es eine Mehrheit für diese Forderung gibt - gegeben. In der Alltagssprache der Bevölkerung wird, wenn Lebenspartner aufs Standesamt gehen, schon längst davon gesprochen, dass geheiratet wird. Es ist selbstverständlich nicht die Rede davon, dass - dies ist deutsches Amtschinesisch eine Partnerschaft eingetragen wird. Die Menschen sind da nahe an der Realität und wissen, dass gleiche Liebe gleichen Respekt und deshalb auch gleiche Rechte verdient. ({4}) Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in seiner Transsexuellen-Entscheidung dem Strukturprinzip der Geschlechtsverschiedenheit der Ehe keine Bedeutung mehr beigemessen, indem es den ersten gleichgeschlechtlichen Ehen den Weg bereitet hat. Es sagte nämlich: Man muss sich vor einer Geschlechtsumwandlung nicht scheiden lassen. Eine Ehe muss nicht in eine Lebenspartnerschaft umgewandelt werden. Man bleibt verheiratet. Etwas anderes wäre im Hinblick auf den Schutz von Ehe und Familie zerstörerisch. Recht hat das Bundesverfassungsgericht. Wir haben das im Transsexuellengesetz auch nachvollzogen. Deshalb haben Gesetzgeber und Verfassungsgericht die ersten gleichgeschlechtlichen Ehen - auch wenn es sich nur um eine kleine Gruppe handelt - geschaffen. Die Geschlechtsverschiedenheit kann deshalb hier keine heilige Kuh sein. Kommen Sie nicht mit der Monstranz der Verfassung. Die Verfassung verwirklicht sich in Gleichberechtigung und gleichem Respekt vor allen Bürgerinnen und Bürgern. ({5}) Lassen Sie uns - wie wir es seit dem Ende der Regierungszeit von Rot-Grün hier eigentlich nur noch Volker Beck ({6}) machen - nicht immer darauf warten, bis uns das Bundesverfassungsgericht zu den nächsten Gleichstellungsschritten verurteilt. Der Deutsche Bundestag ist nicht nur Notar der Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Wir sind Gesetzgeber und haben den Auftrag, die Zukunft des Landes aktiv zu gestalten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zum Schluss, meine Kolleginnen und Kollegen: Wir wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen; aber Sie haben heute eine Alternative. Sie können entweder unserem Gesetz zur Öffnung der Ehe zustimmen - dann sind alle anderen Fragen in diesem Bereich gesetzgeberisch erledigt -, oder Sie stimmen unserem Antrag zu und beauftragen die Bundesregierung, bis zur nächsten Sitzungswoche im September einen Gesetzentwurf vorzulegen,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

der alle Benachteiligungen der Lebenspartnerschaften beseitigt. Wer zweimal mit Nein stimmt, der will den homosexuellen Bürgerinnen und Bürgern

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kollege Beck!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- den Respekt versagen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir achten alle Lebensentwürfe des respektvollen Zusammenlebens. CDU und CSU erkennen an, wenn Menschen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften füreinander einstehen und verlässlich Verantwortung und Sorge füreinander übernehmen. Kern unserer heutigen Debatte ist allerdings etwas ganz anderes, nämlich der Vorstoß von SPD und Grünen, das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe vollständig gleichzustellen. Das ist mit uns nicht zu machen. ({0}) Die Grünen stellen mit ihrer Großen Anfrage die Verfassungsmäßigkeit einer Reihe von spezifischen bundesrechtlichen Regelungen infrage, die zwischen eingetragener Lebenspartnerschaft einerseits und Ehe andererseits differenzieren. Fakt ist zunächst einmal, dass Lebenspartner in vielen Fragen bereits heute nicht anders als Ehegatten behandelt werden. ({1}) Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag verpflichtet, gleichheitswidrige Benachteiligungen abzubauen. Entsprechende Änderungen sind bereits in Kraft getreten bei der Erbschaftsteuer, bei der Schenkungsteuer, bei der Grunderwerbsteuer und im öffentlichen Dienstrecht. Dort, wo es geboten ist, sind wir auch weiterhin bereit, gesetzgeberisch tätig zu werden. Wir haben insbesondere auch die Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stets zügig umgesetzt. ({2}) Aber es gibt keinen Grund, bewährte Einrichtungen für Eheleute, wie zum Beispiel das Ehegattensplitting, umzukrempeln. Hier gilt es, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das ja in dieser Sache angerufen worden ist, abzuwarten. ({3}) Meine Damen und Herren, nach Vorstellung von SPD und Grünen soll das Verständnis der Ehe als einer auf Dauer angelegten Verbindung von Mann und Frau aufgehoben werden, und gleichgeschlechtliche Paare sollen in jeder Hinsicht mit Ehegatten gleichgestellt werden. Das würde bedeuten, dass das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft, das wir für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen haben, obsolet würde. ({4}) Ihre Begründung teilen wir nicht. Sie führen an, dass es einen grundlegenden Wandel des traditionellen Eheverständnisses in unserer Gesellschaft geben würde. Dazu hätten das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft, die Änderung des Transsexuellengesetzes von 2009, die geänderten Anschauungen in der Bevölkerung ganz allgemein und die Rechtsordnungen - man höre und staune - anderer Länder beigetragen. ({5}) Meine Damen und Herren, den Vergleich mit anderen Ländern müssen Sie gar nicht erst bemühen; denn wenn man sich einmal genauer anschaut, wie es in der Welt um die Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren bestellt ist, dann zeigt sich, dass Deutschland hier bei Gleichbehandlung und Toleranz mit an der Spitze steht. ({6}) Es unterliegt in Deutschland allerdings keinem Zweifel, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der Formulierung von Art. 6 des Grundgesetzes den Begriff der Ehe als dauerhafte Verbindung von Mann und Frau verstanden haben. Sie haben das für so selbstverständlich gehalten, dass sie es nicht ausdrücklich in das Grundgesetz hineingeschrieben haben. Nun haben Sie über Jahre versucht, eine Uminterpretation zu erreichen, und in der Tat kann sich das Verfassungsrecht im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Es steht Interpretationen grundsätzlich offen. Der Kernbereich aber bleibt davon unberührt, und die Ehe gehört zu diesem Kernbereich. Sie kann nur mit einem Partner des jeweils anderen Geschlechts geschlossen werden; ({7}) denn ihr Wesensmerkmal ist gerade die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner. Das hat das Bundesverfassungsgericht - ich bitte, dies zur Kenntnis zu nehmen - in ständiger Rechtsprechung immer wieder bekräftigt. ({8}) Es hat in seinem Grundsatzurteil zu eingetragenen Lebenspartnerschaften vom 17. Juli 2002 herausgestellt, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft eben keine Ehe mit falschem Etikett ist, sondern ein Aliud zur Ehe, also etwas anderes ist. Auch in seiner Entscheidung zum Transsexuellengesetz vom 6. Dezember 2005 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass - ich zitiere - „zum Gehalt der Ehe gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist“. Diese Interpretation hat das Bundesverfassungsgericht in Kenntnis der gesetzgeberischen Entscheidung zum Lebenspartnerschaftsgesetz bekräftigt, das am 1. August 2001 in Kraft getreten ist. Die Ehe ist also von Verfassungs wegen der Beziehung von Mann und Frau vorbehalten, und deswegen scheidet eine Öffnung für gleichgeschlechtliche Partner für uns aus. ({9}) An dieser Einschätzung ändert auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Transsexuellenrecht vom 11. Januar 2011 nichts, auf die SPD und Grüne in ihren Papieren Bezug nehmen. Das Bundesverfassungsgericht trifft dort keine abweichenden Aussagen. Meine Damen und Herren, die Motivation für Ihre Initiativen liegt klar auf der Hand: Ihre Bemühungen waren seit langem, im Wege des Verfassungswandels zu erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Ehe uminterpretiert. Damit sind Sie gescheitert. ({10}) Jetzt versuchen Sie, das, was verfassungsrechtlich nicht haltbar ist, auf dem Wege eines einfachen Gesetzes zu beschließen. Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit der Ehe ist insofern ein untauglicher und auch ein etwas hilfloser Versuch, das Verfassungsinstitut der Ehe auszuhöhlen, und deswegen machen wir hier nicht mit. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, für CDU und CSU steht fest: Die Ehe bleibt die Verbindung von Mann und Frau. Sie ist die Keimzelle der Familie. Sie bedarf ungeachtet von gesellschaftlichem Wandel eines besonderen Schutzes und der Förderung durch den Staat und die Rechtsordnung, ({12}) so wie es - trotz aller Ihrer Zwischenrufe - sehr unzweideutig in Art. 6 des Grundgesetzes steht und vom Bundesverfassungsgericht in vielen Jahren interpretiert worden ist. ({13}) Das bedeutet allerdings nicht, dass wir andere Formen des menschlichen Zusammenlebens geringschätzen. Wir sehen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften eben nur als etwas anderes an als die Ehe. Meines Erachtens sprechen auch keine überzeugenden Argumente gegen die Parallelität von Ehe auf der einen und gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften auf der anderen Seite. ({14}) Dort, wo es Handlungsbedarf gibt, dort, wo gleichheitswidrige Benachteiligungen von Lebenspartnern abgebaut werden müssen, sind wir aufgeschlossen und diskussionsbereit. ({15}) Aber eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder eine vollständige Gleichstellung mit der Ehe lehnen wir ab. ({16}) Meine Damen und Herren, ich hätte jetzt noch viereinhalb Minuten Redezeit. Aber ich finde, dass meine Position in dieser Frage dermaßen klar ist, ({17}) dass ich darauf gern verzichte. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Lieber Kollege, die Fußballfreunde werden für jede Minute danken, die hier eingespart wird. ({0}) Als Nächste hat unsere Kollegin Frau Sonja Steffen für die Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin. ({1})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit 2001 ist das sogenannte Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft. Das Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft hat die Rechte von Schwulen und Lesben erheblich gestärkt. Es hat dazu beigetragen, dass diese Paare gesellschaftlich inzwischen viel besser akzeptiert werden. Wir haben mit diesem Gesetz den Lebenspartnerschaften die gleiche finanzielle Verantwortung wie den Ehepaaren auferlegt. Was bedeutet das in der Praxis? Wenn Tom und Peter eine Lebenspartnerschaft eingehen, dann verpflichten sie sich zum gegenseitigen Unterhalt. Sie gründen eine Zugewinngemeinschaft. Im Falle des Todes eines Lebenspartners erbt der andere wie ein Ehegatte. Trennt sich Tom von Peter, so schuldet der Partner mit dem höheren Einkommen dem anderen Trennungsunterhalt und gegebenenfalls auch sogenannten nachpartnerschaftlichen Unterhalt. ({0}) Auch Rentenanwartschaften werden nach der Aufhebung der Partnerschaft im Wege des Versorgungsausgleichs verteilt. Bis hierhin ist also alles gleich zwischen Eheleuten und Lebenspartnern. ({1}) Schauen wir jetzt noch einmal genauer in die Lebenspartnerschaft von Tom und Peter, dann stellen wir fest, dass die finanziellen Entlastungen, die die Ehe bietet, den Lebenspartnern nicht gewährt werden. Bei einem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von 60 000 Euro im Jahr beträgt der sogenannte Splittingvorteil für Ehepartner jährlich durchschnittlich 1 600 Euro. Tom und Peter, unser schwules Paar, erhalten diesen Vorteil nicht. Nun mag man über Sinn und Unsinn des Ehegattensplittings streiten; das wird richtigerweise an anderer Stelle getan. Wir stellen jedoch fest, dass die derzeitige Ungleichbehandlung keine verfassungsrechtliche Grundlage hat. ({2}) Finanzminister Schäuble hat diese unterschiedliche Behandlung 2010 in einem Interview wie folgt begründet: Ein solcher Differenzierungsgrund ist beim Ehegattensplitting die Förderung der Ehe, insbesondere im Hinblick auf ihre bleibende Bedeutung als typische Grundlage der Familie mit Kindern. ({3}) Aber, Herr Minister Schäuble, vor allem meine Kolleginnen und Kollegen der Koalition, eine abstrakte Vermutung, dass Ehen typischerweise zur Gründung einer Familie führen, reicht nicht aus, um auch kinderlosen Ehepaaren diese Vergünstigung zukommen zu lassen, die Lebenspartnern - da ist es egal, ob mit Kindern oder ohne - nicht gewährt wird. ({4}) Damit bin ich bei einer weiteren Ungleichbehandlung, die das Adoptionsrecht betrifft. Nehmen wir einmal an, Petra und Paula gründen eine Lebenspartnerschaft und sie beschließen, ein Kind zu adoptieren. Hier zeigt der Gesetzgeber eine seltsame Schizophrenie: Petra und Paula werden vom Jugendamt als Paar geprüft, das heißt, sie müssen sich gemeinsam beim Jugendamt vorstellen; aber das Kind kann nur von einem Teil des Paares adoptiert werden, allerdings auch wieder nur, wenn der andere Partner seine Zustimmung zur Adoption erteilt. ({5}) Das adoptierte Kind ist also weder im Steuerrecht noch im Erbrecht noch im Unterhaltsrecht das Kind beider Eltern. Hinzu kommen etliche Alltagsprobleme, und die Familie lebt mit einem gewissen Risiko. Wenn die Adoptivmutter sterben sollte, müssen die Behörden die schwierige Aufgabe lösen, die Zugehörigkeit des Kindes festzustellen. Eine vernünftige und einleuchtende Begründung für diese Ungleichbehandlung der Adoptivkin22408 der von Lebenspartnern gibt es nicht. Das Wohl des Kindes wird jedenfalls nicht dadurch gefährdet, dass es einen weiteren Vater oder eine weitere Mutter hat; das behauptet mittlerweile eigentlich niemand mehr, bis auf die Kollegen der CDU/CSU. ({6}) Meine Damen und Herren, in den elf Jahren seit Bestehen des Lebenspartnerschaftsgesetzes hat es zahlreiche rechtliche Angleichungen zwischen den Rechtsinstituten der Lebenspartnerschaft und der Ehe gegeben; wir haben schon davon gehört. Zum großen Teil mussten wir uns allerdings die Angleichungen vom Bundesverfassungsgericht nach erfolgreichen Klagen von Lebenspartnern Schritt für Schritt sozusagen ins Gesetz schreiben lassen. Die Diskriminierungen im Einkommensteuerrecht und im Adoptionsrecht sind die letzten Unterschiede zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe. Sie ergeben praktisch keinen Sinn und sind auch rechtlich, möglicherweise sogar verfassungsrechtlich, nicht länger haltbar. Ein Minimum wäre die Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft, über die Sie heute entscheiden können. Der wirklich logische Schritt ist aber die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Vielen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Sonja Steffen. - Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Stephan Thomae. Bitte schön, Kollege Stephan Thomae. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Freiheit und Verantwortung - das ist die Maxime der Freien Demokraten. ({0}) Für Liberale ist jede Lebensform allen Respektes wert, in der Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. ({1}) Wo gleiche Pflichten übernommen werden, da sollen auch gleiche Rechte gelten. Was die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften anbelangt, so haben wir im deutschen Recht den Weg der schrittweisen Annäherung und Angleichung beschritten ({2}) und sind auf diesem Weg auch schon vergleichsweise weit fortgeschritten. Es gibt durchaus noch offene Punkte - das sei eingeräumt -, derer man sich nach und nach annehmen muss. Wenn man sich einmal ansieht, welche Punkte in dieser Legislaturperiode von uns erledigt worden sind, ist das eine ganz beachtliche Liste: Mit dem Jahressteuergesetz 2010 sind Nachteile bei der Grunderwerbsteuer für gleichgeschlechtliche Paare abgeschafft worden. Mit dem Jahressteuergesetz 2012 und dem Erbschaftsteuerreformgesetz wurden Nachteile bei Erbschaft- und Schenkungsteuer beseitigt. Mit Wirkung zum 1. Januar 2009 wurden Nachteile für Beamte, Richter und Soldaten beim öffentlichen Dienstrecht beseitigt. Auch beim BAföG wurden Nachteile beseitigt. ({3}) - Herr Kollege Beck, es gibt aber durchaus noch offene Punkte. Das räume ich ein. Beim Einkommensteuergesetz werden wir darauf hinarbeiten, dass die Versprechen, die gemacht wurden, auch eingelöst werden. ({4}) Beim Adoptionsrecht sehe ich ebenfalls keine Bedenken. Es müssen aber noch internationalrechtliche Dinge geklärt werden. Deutschland hat ein europäisches Abkommen über die Adoption von Kindern unterzeichnet. Das ist ein Abkommen aus dem Jahr 1967. Das Abkommen wird überarbeitet. Diese Dinge müssen gemacht werden. ({5}) Es gibt Dutzende Einzelvorschriften, die ebenfalls angegangen werden müssen. Das BMJ hat ein Rechtsbereinigungsgesetz vorgelegt, in dem diese Punkte abgearbeitet werden. Ich muss aber darauf hinweisen, dass verfassungsrechtliche Bedenken nicht nur eine Kleinigkeit sind. ({6}) - Es geht nicht darum, das wie eine Monstranz vor sich herzutragen, Herr Kollege Beck. Wir nehmen das Verfassungsrecht ernst. Wir wollen durchaus darüber diskutieren, ob verfassungsändernde Vorschriften notwendig sind, um eine Öffnung der Ehe vorzunehmen. Die Grünen haben bereits im Jahr 1995 einen Antrag zur Öffnung der Ehe vorgelegt, der in großen Teilen wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz auf Vorbehalte gestoßen ist. ({7}) Deswegen wollen wir diese Diskussion zunächst führen, um zu prüfen, ob das Verfassungsrecht Anpassungen benötigt, bevor wir - quasi aus der Hüfte geschossen - einfachgesetzliche Änderungen vornehmen. ({8}) Das ist unser Weg. ({9}) Wir wollen Respekt vor dem Grundgesetz zeigen und wo nötig das Grundgesetz ändern. So weit ist die Diskussion bislang noch nicht. Es muss zunächst diese Diskussion geführt werden, bevor wir aus der Hüfte heraus eine Änderung im BGB vornehmen. ({10}) Das ist der Grund, weshalb wir Ihrem Vorschlag heute nicht zustimmen können. Vielen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Barbara Höll. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident! Ich hoffe, dass die Qualität der Reden Ihr Lächeln nicht richtig verbannt, sondern es wiederkommt. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Silberhorn, ich hoffe für Sie, dass die Zeit und das Bundesverfassungsgericht Sie nicht völlig überholen und Sie sich irgendwann wieder einkriegen. Die dänische Ministerpräsidentin hat heute auf Facebook geschrieben: Jetzt erlauben wir homosexuellen Paaren die Ehe zu den gleichen Bedingungen wie allen anderen. Ich freue mich, dass die überwiegende Mehrheit im Parlament diesen historischen Beschluss mitträgt. ({0}) Jetzt kann auch die kirchliche Trauung, die in Dänemark eine Bedeutung entsprechend unserer standesamtlichen Trauung hat, vollzogen werden. Wir sitzen hier im Bundestag und sind damit dem Grundgesetz verpflichtet. Wir sind auch dazu verpflichtet, das umzusetzen, was das Bundesverfassungsgericht urteilt. Wir sind aber nicht verpflichtet, das umzusetzen, was zum Beispiel der Papst sagt, der unter Ehe das Zusammenleben von Mann, Frau und Kind versteht. Wir müssen der Lebensrealität Rechnung tragen. ({1}) Darüber bin ich froh. Die Initiative „Keine halben Sachen“ wurde auch von der FDP unterstützt und den Lesben und Schwulen in der CDU. Also: Sie sind doch in Teilen schon so weit. Trauen Sie sich endlich, dem heute zuzustimmen! ({2}) Wenn Sie sich nicht trauen, der Öffnung der Ehe zuzustimmen, dann stimmen Sie dem zweiten Antrag zu. Worüber reden wir? Wir reden darüber, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass die Privilegierung eines Rechtsinstituts nicht die Diskriminierung eines anderen Rechtsinstituts rechtfertigt. Wir haben neue Urteile aus den Jahren 2009, 2010 und 2011. Das kann man alles nachlesen. Diese Urteile geben sehr wohl die klare Auskunft, dass eine Gleichbehandlung notwendig ist. Wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder sagen wir ganz schnell und elegant: Wir öffnen die Ehe für alle Menschen. Im Übrigen finde ich, dass wir uns nicht auf lesbische und schwule Paare beschränken sollten. Es gibt nämlich immer noch das Problem von intersexuellen Menschen in einer festen Beziehung, die sich vielleicht auch rechtlich binden möchten. ({3}) Auf diese Weise könnten wir in einem Schritt vorgehen, dann bräuchten wir nicht sämtliche Einzelgesetze zu ändern. Oder aber wir verfolgen weiterhin die Tippeltappeltour. Auf der Tippeltappeltour sind wir mit viel Kampfeswillen und durch etliche Gerichtsurteile schon relativ weit gekommen. Wesentliche Punkte bleiben dabei jedoch offen, zum Beispiel das Recht auf künstliche Befruchtung für lesbische Paare oder - ganz wesentlich das Adoptionsrecht. Hierzu wurde schon einiges ausgeführt. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Frage des Ehegattensplittings. Hierzu sei klipp und klar gesagt: Das Ehegattensplitting kostet uns als Gesellschaft pro Jahr fast 20 Milliarden Euro. Davon geht ein Großteil an Ehepaare ohne Kinder bzw. Ehepaare, in deren Haushalt keine Kinder mehr leben, weil sie inzwischen zu Hause ausgezogen sind. 9 Prozent der veranlagten Ehepaare sind kinderlos. Von den in Deutschland lebenden 13 Millionen Kindern wachsen 17 Prozent bei Alleinerziehenden auf. Diese Kinder gehören gefördert und nicht das Ehegattensplitting nach dem Gießkannenprinzip. ({4}) Die ursprüngliche Zielstellung ist völlig aus dem Blick geraten und wird überhaupt nicht mehr verfolgt. ({5}) Wenn wir jetzt den Weg „Gleiches Steuerrecht für alle“ - also für die eingetragene Lebenspartnerschaft genauso wie für die Ehe - gehen wollen, kostet uns das sage und schreibe 30 Millionen Euro gegenüber 20 Millionen Euro, ({6}) auf die wir jedes Jahr verzichten, unter anderem auch durch den Unterhalt für Geschiedene - das betrifft dann die gescheiterten Ehen -, weil der auch noch steuerlich geltend gemacht werden kann. Das muss einmal gesagt werden. ({7}) Wir werden beiden Anträgen zustimmen. Sie haben heute die zweite Chance, der Eheöffnung zuzustimmen; denn wir hatten vor einem Jahr bereits einen entsprechenden Antrag eingebracht. Nicht alle Mitglieder meiner Fraktion werden den Anträgen zustimmen, weil sie berechtigterweise befürchten, dass die Öffnung der Ehe möglicherweise dazu führen kann, dass Menschen wie Sie, Herr Silberhorn, das Ganze als Zementierung interpretieren und meinen, dass darüber hinaus nichts weiter geändert werden müsste. Wir müssen aber etwas ändern. Wir als Linke sind der Meinung, dass die Gleichheit vor dem Gesetz gilt. So steht es auch in Art. 3 Grundgesetz. Deshalb fordern wir jetzt die unmittelbare Gleichstellung oder Öffnung der Ehe. Danach müssen wir jedoch zielgerichtet darangehen, die Bereiche Leben mit Kindern und Pflege zu fördern. Deshalb werden wir auch weiterhin dafür streiten, dass das Ehegattensplitting abgeschafft wird und wir endlich ein modernes Steuer- und Sozialrecht bekommen, das auf das Individuum abzielt und nicht auf eine Institution. Danke. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Michael Kauch. Bitte schön, Kollege Michael Kauch. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP tritt für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ein. ({0}) Viele unserer Abgeordneten haben deshalb auf die Frage von ColognePride, ob wir für die Öffnung der Ehe sind, mit Ja geantwortet. ({1}) Ich sage aber auch sehr deutlich: Wir sind nicht gefragt worden, ob wir diesem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Der ist leider, das muss man sehr deutlich sagen, schlampig formuliert worden. ({2}) Ein Hinweis, wie schlampig er formuliert worden ist, zeigt sich darin, dass die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen heute mit einem nachgereichten Änderungsantrag versucht, den größten Klopper in ihrem Gesetzentwurf zu heilen, nämlich die Inkrafttretensregelung. In jedes Gesetz schreibt man normalerweise: Es tritt in Kraft mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt. Was hat Bündnis 90/Die Grünen gemacht? Man hat fixe Daten hineingeschrieben, die längst abgelaufen waren.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck? ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nein, er gestattet es nicht, Kollege Volker Beck. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, Sie haben hier nicht ordentlich gearbeitet. Mit Ihrem Gesetzentwurf hätten Sie bestehende Lebenspartnerschaften gefährdet. Im Übrigen haben Sie die Verfassungsprüfung nicht ordentlich durchgeführt. Ich werde abweichend von meiner Fraktion stimmen; aber ich werde nicht diesem Gesetzentwurf zustimmen, weil er eben verfassungsrechtlich nicht ordentlich abgeprüft ist. Ich werde dem Entschließungsantrag zustimmen, damit die Bundesregierung einen ordentlichen Gesetzentwurf hierzu vorlegt; die Grünen sind dazu offenkundig nicht in der Lage. ({0}) Es ist verfassungsrechtlich geboten, gleichgeschlechtliche Paare den Ehegatten vollständig gleichzustellen. Wer die gleichen Unterhalts- und Einstandspflichten wie Ehegatten hat, der muss endlich auch im Steuerrecht, wo genau diese Dinge reflektiert werden, die gleichen Rechte bekommen. ({1}) Das steht übrigens auch im Koalitionsvertrag. Meine Damen und Herren von der Union, es wird Zeit, dass sich nicht nur die FDP an den Koalitionsvertrag hält, zum Beispiel beim Betreuungsgeld, sondern dass auch die Union an den Punkten, die ihr nicht gefallen, den Koalitionsvertrag eins zu eins umsetzt. ({2}) Die Schaufensterpolitik, die Bündnis 90/Die Grünen heute mit ihren Anträgen machen, geht an der Realität des Parlaments vorbei. Man kann als Koalitionspartner nicht einfach so mit wechselnden Mehrheiten stimmen. ({3}) Die Grünen haben 2005 gegen das Adoptionsrecht für Schwule und Lesben gestimmt, weil die SPD es nicht wollte. Beim Afghanistan-Einsatz hat man bei den Grünen sogar ausgelost, wer noch mit Nein stimmen kann, ohne die Regierung zu gefährden. ({4}) Deshalb brauchen wir von den Grünen keine Nachhilfe in Sachen aufrechter Politik. ({5}) Wir Liberale haben in dieser Wahlperiode gezeigt, dass wir die Rechte von Lesben und Schwulen auch in einer Koalition mit der Union deutlicher voranbringen, als es die SPD in der letzten Wahlperiode geschafft hat. Das ist unsere Leistung. Auf diesem Weg werden wir weitergehen. Vielen Dank. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege Volker Beck. Bitte schön, Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich nehme die Redezeit von Herrn Silberhorn. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauch, Sie sind in keiner beneidenswerten Situation. Sagen Sie doch einfach trotzdem klipp und klar: Mit Schwarz-Gelb wird es keine Gleichstellung der homosexuellen Partnerschaften geben. Wenn das so ist, dann muss SchwarzGelb halt weg. ({1}) Sie beziehen sich auf die angeblichen handwerklichen Mängel des Gesetzentwurfs, dabei hat er gar keinen Mangel, er lag einfach nur länger im Ausschuss. Dort konnten wir ihn aber nicht ändern, weil uns dazu die Mehrheit fehlt. Das wäre Ihre Aufgabe gewesen. Deshalb können wir heute hier - wo wir es können, wenn wir durch Ihre Stimmen die Mehrheit bekommen - Folgendes regeln: In dem Gesetzentwurf, den wir in der ersten Hälfte des Jahres 2011 eingebracht haben, wird das Datum für das Inkrafttreten geändert werden. Es soll nun der 1. Januar 2013 gelten. Die Regelung für das Abschließen von Lebenspartnerschaften endet an dem Tag, an dem das Gesetz in Kraft tritt. Das ist logisch und zwingend. Ersparen Sie sich solche Nickeligkeiten. Lassen Sie uns über die Sache streiten, damit wir diesen Haufen aus der Blockadeposition bekommen. ({2}) Es geht um eine gesellschaftspolitische Frage. Wir müssen uns doch nicht hier im Klein-Klein verlieren. Eins ist klar - das hat Herr Silberhorn frank und frei bekannt -: Solange CDU/CSU an der Regierung sind, wird es keine Gleichstellung geben. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass Schwarz-Gelb nicht länger eine Mehrheit in diesem Hause hat. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Lieber Kollege Volker Beck, wir sind in diesem Hause sicherlich gemeinsam der Meinung, dass eine Fraktion oder Mitglieder einer Fraktion kein „Haufen“ sind, sondern die Mitglieder einer demokratisch gewählten Fraktion. ({0}) Kollege Michael Kauch, Sie haben die Möglichkeit zur Antwort.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Beck, der Präsident hat es mir vorweggenommen: Auch in einer solch emotionalen Debatte muss man nicht nur die Form wahren, sondern man ist dem Andersdenkenden auch Respekt schuldig. Ich glaube, das ist in diesem Haus ganz wichtig. ({0}) Ich frage mich schon, warum Ihnen heute anderthalb Stunden vor der Debatte eingefallen ist, dass man Ihren Gesetzentwurf abändern muss. Im Rechtsausschuss ha22412 ben Sie, wie mir gerade versichert wurde, keinen entsprechenden Antrag gestellt. Das mag daran liegen, dass der rechtspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen diesem Gesetzentwurf im Rechtsausschuss nicht zugestimmt hat, weil er die verfassungsrechtliche Prüfung dieses Gesetzentwurfs offenkundig für unzureichend hält. Das ist möglicherweise der wahre Grund für die Behandlung im Rechtsausschuss durch Bündnis 90/Die Grünen. ({1}) Inhaltlich bin ich ja ganz bei Ihnen. Auch meine Fraktion ist inhaltlich bei Ihnen. Wir wollen die Öffnung der Ehe. Wir müssen aber seriös prüfen, ob das einfachgesetzlich geht, wie Sie das hier vorschlagen. Das ist nicht offenkundig verfassungswidrig, aber die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gibt Hinweise darauf, dass man möglicherweise eine Verfassungsänderung braucht. ({2}) Wir sind eine Verfassungspartei. Uns ist das Grundgesetz nicht egal. Deswegen finde ich, dass wir in dieser Frage weiteren juristischen Sachverstand einholen müssen. Wir sind bereit, das in der nächsten Zeit zu tun. Entscheidend ist, dass die Menschen in dieser Wahlperiode das erhalten, was sie jetzt wirklich verlangen müssen, nämlich gleiche Rechte und gleiche Pflichten hinsichtlich der Einkommensteuer. Das ist geboten, und das ist vereinbart. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie für den letzten Redner unserer Aussprache, für unseren Kollegen Johannes Kahrs, um Aufmerksamkeit bitten. - Bitte schön, Kollege Johannes Kahrs. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier heute eine Debatte erlebt, in der man nachdenklich werden konnte. Ich glaube, ein Großteil dieses Hauses ist der Meinung, dass man den Anträgen von SPD und Grünen zustimmen kann. Ich glaube, dass diese Anträge richtig sind. Auch wir haben in der Vergangenheit mal gesagt, dass man schauen muss, wie das Bundesverfassungsgericht dazu steht, zum Beispiel in der Zeit von Rot-Grün, als wir das Lebenspartnerschaftsgesetz beschlossen haben. An dieser Stelle möchte ich mich besonders herzlich bei Margot von Renesse bedanken, die das damals mit sehr viel Elan und Leidenschaft vorangetrieben hat. Das kann, das muss man an dieser Stelle einmal sagen. ({0}) Damals haben wir gesagt: „Wir trennen Rechte und Pflichten und machen das in zwei Teilen“, weil wir sehr viel Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht hatten. Wir haben uns aber geirrt. Wir haben festgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht weiter war als der Deutsche Bundestag. Es war weiter, als wir uns das vorstellen konnten. Das Problem in diesem Zusammenhang ist, dass gleiche Pflichten nicht gleiche Rechte hervorrufen. Ich glaube, dass wir die gesellschaftliche Realität in unserem Land nicht nachvollziehen, und das ist das Problem von CDU/CSU und von niemand anderem in diesem Haus. ({1}) Der Kollege Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktion hat hier erklärt, dass mit Ihnen eine Öffnung der Ehe, das heißt eine Gleichstellung, nicht zu machen ist. ({2}) Nach ihm besteht die Leistung darin, das, was das Bundesverfassungsgericht gerade erlaubt hat, umzusetzen. Ehrlich gesagt: Das ist peinlich. Wir sind Gesetzgeber und nicht Nachvollzieher. ({3}) Das ist etwas, was die CDU/CSU endlich einmal kapieren muss. Als wir damals hier über die Gesetzentwürfe von RotGrün zur gleichgeschlechtlichen Ehe diskutiert haben, gab es aufseiten der CDU/CSU jede Menge Bedenken. Seitdem ist zwar vieles passiert, aber von dem, was die CDU/CSU befürchtet hat, ist nichts eingetreten. ({4}) Wir alle haben gemerkt, dass es in diesem Land positive Reaktionen gegeben hat. Wenn ich an die Reden des Kollegen Geis denke, ({5}) an all das, was er uns hier zugemutet hat, muss ich feststellen: Die Menschen in diesem Land sind deutlich weiter als CDU und CSU. ({6}) Dass der Kollege Silberhorn seine Redezeit nicht einmal zur Hälfte ausgeschöpft hat, ist verständlich. Er hat halt keine Argumente gehabt. ({7}) Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Diskussion in der CDU/CSU-Fraktion verlaufen ist, als man zu diesem Tagesordnungspunkt einen Redner finden musste. ({8}) Sehr viele werden sich zurückgelehnt haben. Keiner wollte reden. Dann wird man nach jemandem gesucht und sich gedacht haben: Mit einem sicheren Wahlkreis in Bayern kommt man mit so etwas noch um die Kurve. Ich glaube aber, bezogen auf ganz Deutschland gilt das nicht mehr. Man muss sogar in der CDU/CSU-Fraktion sehr lange suchen, um einen Redner zu finden, der in diesem Hohen Hause so einen Unsinn vorträgt. ({9}) Das CSD-Komitee Köln hat eine Umfrage gemacht, die zeigt, dass es selbst CDU/CSU-Kollegen gibt, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen; sie stehen dazu. Auch wenn man es aus tiefstem innerstem Herzen nicht will, Herr Kauder, wäre es trotzdem schön, wenn man sich einen Ruck gäbe und über seine ideologische Barriere springen würde. ({10}) Es geht dabei um Menschen wie mich - ich lebe seit 18 Jahren mit meinem Freund zusammen -, die sich solch eine Eheschließung vorstellen können. ({11}) - Ja, aber dann muss man auch gleiche Rechte haben. ({12}) Herr Kauder: „Machen Sie es doch!“, ist schön gesagt, aber dann sollten wir hier auch gleiche Pflichten und gleiche Rechte fordern. Ich dachte immer, gerade bei den Konservativen würde darauf Wert gelegt, dass man zueinander hält und dass man Dinge gemeinsam macht. Ich persönlich bin sehr enttäuscht. Ich glaube, dass Sie sich in den nächsten Jahren entwickeln müssen. Keine Großstadtpartei wird sich so eine Einstellung lange leisten können; dies geht vielleicht in Bayern, vielleicht in einem ländlichen Wahlkreis. Deswegen sollten Sie zweimal mit Ja, zweimal für gleiche Rechte und gleiche Pflichten, stimmen. Vielen Dank. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. ({0}) Mir liegen eine Reihe von Erklärungen nach § 31 un- serer Geschäftsordnung vor.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10133 zu ihrer Großen Anfrage. Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag auf Verlan- gen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir gleich im An- schluss noch eine weitere namentliche Abstimmung durchführen werden. Nun bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Darf ich nachfragen, ob an irgendeiner Urne noch die entspre- chenden Schriftführer fehlen? - Das ist nicht der Fall. Es sind also alle Urnen besetzt. Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das in der ersten namentlichen Abstimmung seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.2) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich zur nächsten Abstimmung komme, weise ich darauf hin, dass wir unmittelbar nach dieser namentlichen Abstim- mung weitere Abstimmungen zu diesem Tagesordnungs- punkt haben. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9611, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6343 abzu- lehnen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstim- men. Darf ich Sicht zu den einzelnen Geschäftsführern ha- ben, damit ich weiß, wie sich die Fraktionen positionie- ren? - Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- sache 17/10185? - Das sind die Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen, der Sozialdemokraten und der Linken. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koali- tionsfraktionen. Ich frage nach den Enthaltungen! - Eine Stimmenthaltung. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Alle stehen bereit, alle Urnen sind besetzt. Somit eröffne ich die zweite na- mentliche Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- 1) Anlagen 2 bis 10 2) Ergebnis Seite 22416 C Vizepräsident Eduard Oswald lung zu beginnen. Die Ergebnisse der namentlichen Ab- stimmung werden Ihnen später bekannt gegeben1). Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Auf- merksamkeit. Tagesordnungspunkt 11 c. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der So- zialdemokraten mit dem Titel „Recht auf Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/9611, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8155 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Sozialdemokraten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen und die Linksfraktion sowie zwei Gegenstimmen von der FDP. Enthaltungen? - Keine. Die Beschluss- empfehlung ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- ordnungspunkt 12 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften - Drucksache 17/9341 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1}) - Drucksache 17/10156 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für gute Arzneimittelversorgung Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen - Drucksachen 17/9556, 17/10156 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Sie alle sind damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Kollegin Ulrike Flach. Bitte schön, Frau Kollegin Ulrike Flach. ({3})

Ulrike Flach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003119

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften enthält im Wesentlichen Änderungen im Arzneimittelgesetz, veranlasst durch ein neues EU-Recht, und darüber hinaus weitere wichtige Änderungen in anderen Gesetzen, insbesondere im Fünften Buch Sozialgesetzbuch. Hauptanliegen der Regelungen im Arzneimittelgesetz sind die Stärkung der Arzneimittelsicherheit und der Schutz vor gefälschten Arzneimitteln. Zur Stärkung der Arzneimittelsicherheit wurden die Überprüfungsmöglichkeiten für Zulassungsbehörden erweitert, das Meldeverfahren bei Nebenwirkungen gestrafft und mehr Transparenz im Hinblick auf zugelassene Arzneimittel geschaffen. Gefälschte Arzneimittel stellen auch in Europa ein wachsendes Problem dar. Mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen gehen wir die Bekämpfung dieses Problems aktiv an. Von den Änderungen in den anderen Gesetzen möchte ich die folgenden besonders hervorheben: Im SGB V befassen wir uns vor allem mit der Verbesserung der Betäubungsmittelversorgung ambulanter Palliativpatienten und greifen damit zentrale Forderungen von Hospiz- und Palliativverbänden auf. ({0}) Um eine absehbare palliativmedizinische Krisensitua- tion zu überbrücken, kann der Arzt Schwerstkranken künftig ein Betäubungsmittel ausnahmsweise überlas- sen, wenn die Besorgung des Medikaments aus der Apo- theke nicht rechtzeitig möglich ist. Damit verbessern wir übrigens in einem weiteren Schritt die Situation schwerstkranker Patienten in Deutschland. Mit dem AMNOG wurde die frühe Nutzenbewertung als lernendes System eingeführt. Mit diesem Gesetz wer- den nun aufgrund der ersten Erfahrungen einige Anpas- sungen vorgenommen. So können pharmazeutische Unternehmer für eine Übergangszeit unvollständige Nutzendossiers nachbes- sern und jederzeit eine neue Nutzenbewertung beim G-BA beantragen. Außerdem soll der G-BA bei Beratungen des pharmazeutischen Unternehmens zur Planung von Studien die Zulassungsbehörden beteiligen. Darüber hi- naus wird durch eine Vorschrift zur Ländergewichtung die bestehende Regelung über die Berücksichtigung der Arzneimittelpreise in anderen europäischen Ländern konkretisiert. Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle ganz ausdrücklich sagen: Wir haben uns natürlich auch mit dem Thema Vertraulichkeit befasst. Ein Erfolg unse- rer Bemühungen ist: Die Erstattungspreise für neue Arz- neimittel, die ausgehandelt wurden, bleiben weiter öf- fentlich. Wir sehen bisher ein ausgewogenes Handeln, behalten die Entwicklung aber gerade auch im Hinblick auf die zurzeit laufenden Verhandlungen sehr genau im Auge. In Zukunft können Apotheken und Krankenkassen gemeinsam den Austausch bestimmter Arzneimittel in der Apotheke verbieten, und ebenso können sie sich in Zukunft darauf verlassen, dass kein Arzt wegen verord- neter Arzneimittel in Regress genommen werden kann, 1) Ergebnis Seite 22418 D wenn er nicht zuvor beraten worden ist. Weil es immer wieder Fragen danach gibt, will ich das an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Das gilt auch für Prüfverfahren, die Ende 2011 noch nicht abgeschlossen waren. ({1}) Wir halten damit am Kurs des AMNOG fest. Das heißt, die Erreichung des Ziels der Sicherung des Innovationsstandorts Deutschland bei gleichzeitig bester Versorgung der Patienten zu bezahlbaren Preisen bleibt gewahrt, und darauf sind wir stolz. Ich will an dieser Stelle kurz noch Folgendes zu den Linken sagen - die Zeit ist knapp -: Das Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln stößt auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Wir wollen eben keinen ungerechtfertigten Eingriff in die grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfreiheit. Wir haben aber etwas getan, was es vorher in Deutschland nicht gegeben hat: Zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Versandapotheken ist im vorliegenden Gesetzentwurf die Klarstellung vorgesehen, dass die deutsche Arzneimittelpreisverordnung auch für den Versandhandel aus dem Ausland nach Deutschland gilt. Das heißt, gleiches Recht für alle! Das ist uns so viel wert, dass wir das extra mit in diesen Gesetzentwurf hineingeschrieben haben. ({2}) Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben auf diese Art und Weise im Arzneimittelbereich vieles noch besser gestalten können, als es in diesem Lande sowieso schon ist. Ich bitte sehr um Ihre Unterstützung und freue mich auf eine angeregte Diskussion. Herzlichen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Marlies Volkmer. Bitte schön, Frau Kollegin Volkmer. ({0})

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Flach, die Bundesregierung kann froh darüber sein, dass die Koalition noch so viele Änderungsanträge eingebracht hat, unter anderem die zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes; denn diese Änderungen sind vernünftig, und diesen Änderungen haben wir als SPD im Gesundheitsausschuss auch zugestimmt. Kern dieser Änderungen ist, dass sich schwerstkranke Patientinnen und Patienten mit starken Schmerzen, die zu Hause versorgt werden, darauf verlassen können müssen, dass sie bedarfsgerecht mit Schmerzmitteln versorgt werden. Das ist vernünftig. Das halten wir für richtig. ({0}) Erfolgreich hat sich unsere SPD-Fraktion gegen die Pläne der Pharmaindustrie und der Union gestellt, künftig die Preise von neuen Arzneimitteln zu verheimlichen. Die Koalition hat richtigerweise auf einen solchen Antrag verzichtet, obwohl die Union die Erwartung bei Lobbyisten durchaus geweckt hatte. Es ist gut, dass ein solcher Antrag nicht gekommen ist, denn es ist notwendig, dass die Öffentlichkeit weiterhin erfährt, auf welchen Preis sich die Krankenkassen mit den Pharmaunternehmen geeinigt haben. Wir brauchen im Gesundheitswesen nicht weniger, sondern mehr Transparenz. ({1}) Das war das Positive, aber es gibt auch Negatives. ({2}) Dieser Gesetzentwurf hat nach wie vor viele Mängel. Herr Zöller, Sie wissen schon, was jetzt kommt. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht sind Regelungen hineingekommen, die nicht im Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern, Patientinnen und Patienten sind. Sie haben zum Beispiel nicht dafür gesorgt, dass alle Arzneimittel nach den Maßgaben der geltenden UN-Behindertenrechtskonvention gekennzeichnet werden müssen. Es ist zum Beispiel nach wie vor nicht Pflicht, Augentropfen und Sicherheitsmerkmale auf Medikamentenpackungen für blinde und sehbehinderte Menschen ertastbar zu machen. Sie haben in diesem Gesetzentwurf Regelungen getroffen, die wir rundheraus ablehnen. Das sind an erster Stelle Lockerungen im Heilmittelwerbegesetz. Ich sage Ihnen dies auch als Ärztin: Wir brauchen nicht mehr verkaufsfördernde Angebote für Arzneimittel, sondern mehr objektive und verständliche Informationen für Patientinnen und Patienten. ({3}) Sie wollen jedoch erlauben, dass mit Gutachten geworben werden kann. Sie tun allerdings nichts, um die Verbraucherinnen und Verbraucher vor manipulativen Aussagen zu schützen. Es ist doch vorherzusehen: Es wird mit positiven Gutachten geworben, und die negativen Gutachten werden in der Schublade verschwinden. Dieser Art Rosinenpickerei wird durch diesen Gesetzentwurf Tür und Tor geöffnet. Durch die jetzt mögliche Nutzung von einseitigen Gutachten, Krankengeschichten und Berichten von Patientenschicksalen zu Werbezwecken wird bei Patientinnen und Patienten ein völlig verzerrtes Bild vom Nutzen von Medikamenten erzeugt. Das kann nicht nur zu Fehlentscheidungen führen, sondern auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gefährden, nämlich dann, wenn die Aussagen des behandelnden Arztes im krassen Gegensatz zu dem stehen, was sich der Patient in den zum Teil sehr suggestiven Darstellungen der Werbung angelesen hat. Bei den Kranken kann dann die Ver22416 mutung aufkommen, der Mediziner würde ihnen die beste Therapie vorenthalten. Gegen die Interessen von Patientinnen und Patienten ist auch eine Ausnahme von der Versicherungspflicht bei klinischen Prüfungen von Arzneimitteln mit geringem Risiko. Dadurch wird das Schutzniveau von Teilnehmern solcher Studien in unzumutbarer Weise gesenkt. Ich möchte noch ein weiteres Beispiel nennen: Die bedarfsgerechte Bereitstellung lebenswichtiger Arzneimittel und Impfstoffe muss kontinuierlich gewährleistet sein. Es ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung, dass sie keine Regelung gefunden hat, Bundesländern geeignete Maßnahmen zu ermöglichen, wenn erhebliche Versorgungsengpässe drohen, zum Beispiel bei Impfstoffbereitstellungen. Meine Damen und Herren, hinter dem sperrigen Titel dieses Gesetzes „Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ verbergen sich nicht nur technische Umsetzungsdetails, sondern es betrifft auch viele Maßnahmen, von denen die Patientinnen und Patienten ganz unmittelbar betroffen sind. Darunter sind eben auch leider viele negative Maßnahmen. Aus diesem Grund lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Marlies Volkmer. Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, darf ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der zwei namentlichen Abstimmungen bekannt geben. Zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“. Abgegebene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 260, mit Nein haben gestimmt 309, Enthaltungen 12. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 583; davon ja: 265 nein: 309 enthalten: 9 Ja SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Lothar Binding ({0}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({1}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({2}) Kerstin Griese Michael Groß Bettina Hagedorn Klaus Hagemann ({3}) Hubertus Heil ({4}) Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({5}) Frank Hofmann ({6}) Christel Humme Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Fritz Rudolf Körper Angelika Krüger-Leißner Christine Lambrecht Christian Lange ({7}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({8}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({9}) Michael Roth ({10}) ({11}) Annette Sawade Axel Schäfer ({12}) Bernd Scheelen ({13}) Werner Schieder ({14}) Ulla Schmidt ({15}) Carsten Schneider ({16}) Swen Schulz ({17}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({18}) Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Jan Mücke Vizepräsident Eduard Oswald DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Matthias W. Birkwald Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Barbara Höll Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Sabine Leidig Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer ({19}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Halina Wawzyniak Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({20}) Volker Beck ({21}) Agnes Brugger Ekin Deligöz Harald Ebner Hans-Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({22}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Sven-Christian Kindler Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({23}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Kerstin Müller ({24}) Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({25}) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Beate Walter-Rosenheimer Arfst Wagner ({26}) Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({27}) Manfred Behrens ({28}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({29}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({30}) Dirk Fischer ({31}) Axel E. Fischer ({32}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({33}) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Thomas Jarzombek Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({34}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({35}) Volker Kauder Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({36}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Vizepräsident Eduard Oswald Stephan Mayer ({37}) Dr. Michael Meister Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({38}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({39}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({40}) Anita Schäfer ({41}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({42}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({43}) Bernhard Schulte-Drüggelte Armin Schuster ({44}) Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({45}) Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({46}) Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({47}) Peter Weiß ({48}) Sabine Weiss ({49}) Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({50}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther ({51}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Patrick Kurth ({52}) Sibylle Laurischk Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({53}) Michael Link ({54}) Horst Meierhofer Gabriele Molitor Petra Müller ({55}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({56}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({57}) Cornelia Pieper Dr. Christiane RatjenDamerau Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Stefan Ruppert Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Serkan Tören ({58}) Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({59}) Enthalten CDU/CSU Jürgen Klimke Ingo Wellenreuther Dr. Matthias Zimmer DIE LINKE Karin Binder Andrej Hunko Niema Movassat Nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen“. Abgegebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 266, mit Nein haben gestimmt 309, Enthaltungen 9. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Vizepräsident Eduard Oswald Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 581; davon ja: 260 nein: 309 enthalten: 12 Ja SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Lothar Binding ({60}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({61}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({62}) Kerstin Griese Michael Groß Bettina Hagedorn Klaus Hagemann ({63}) Hubertus Heil ({64}) Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({65}) Frank Hofmann ({66}) Christel Humme Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Fritz Rudolf Körper Angelika Krüger-Leißner Christine Lambrecht Christian Lange ({67}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({68}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({69}) Michael Roth ({70}) ({71}) Annette Sawade Axel Schäfer ({72}) Bernd Scheelen ({73}) Werner Schieder ({74}) Ulla Schmidt ({75}) Carsten Schneider ({76}) Swen Schulz ({77}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({78}) Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Matthias W. Birkwald Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Barbara Höll Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Sabine Leidig Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer ({79}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Halina Wawzyniak Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({80}) Volker Beck ({81}) Birgitt Bender Agnes Brugger Ekin Deligöz Harald Ebner Hans-Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({82}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Sven-Christian Kindler Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({83}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Kerstin Müller ({84}) Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({85}) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Vizepräsident Eduard Oswald Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Beate Walter-Rosenheimer Arfst Wagner ({86}) Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({87}) Manfred Behrens ({88}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({89}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({90}) Dirk Fischer ({91}) Axel E. Fischer ({92}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({93}) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Thomas Jarzombek Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({94}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({95}) Volker Kauder Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({96}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({97}) Dr. Michael Meister Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({98}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({99}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({100}) Anita Schäfer ({101}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({102}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({103}) Bernhard Schulte-Drüggelte Armin Schuster ({104}) Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({105}) Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({106}) Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({107}) Peter Weiß ({108}) Sabine Weiss ({109}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({110}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Vizepräsident Eduard Oswald Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther ({111}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Patrick Kurth ({112}) Sibylle Laurischk Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({113}) Michael Link ({114}) Horst Meierhofer Gabriele Molitor Petra Müller ({115}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({116}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({117}) Cornelia Pieper Dr. Christiane RatjenDamerau Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Björn Sänger Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Serkan Tören ({118}) Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({119}) Enthalten CDU/CSU Jürgen Klimke Dr. Matthias Zimmer FDP Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Jan Mücke DIE LINKE Karin Binder Andrej Hunko Niema Movassat Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fahren in unserer Aussprache fort. Ich gebe das Wort für die Fraktion der CDU/CSU unserem Kollegen Johannes Singhammer. Bitte schön, Kollege Johannes Singhammer. ({120})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Volkmer, Sie haben Teile des Entwurfs eines Zweiten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes gelobt. Sie hätten sich mit Ihrem Lob nicht auf Teile zu beschränken brauchen; denn dieser Gesetzentwurf ist gut. Er steht natürlich im Zusammenhang mit dem ersten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, das wir vor zwei Jahren beschlossen haben und das eine Punktlandung auf der Zielmarke der Sparsamkeit hingelegt hat. Wir haben uns damals vorgenommen, im Arzneimittelmarkt erstmals deutlich nachprüfbar zu sparen, und haben alle Zielmarken eingehalten. Wir können jetzt erfreut zur Kenntnis nehmen, dass im ersten Quartal dieses Jahres bei der gesetzlichen Krankenversicherung ein Überschuss von 1,5 Milliarden Euro zu verzeichnen ist und dass insgesamt eine Rücklage im Fonds und bei einzelnen Kassen von annähernd 20 Milliarden Euro mit steigender Tendenz zu verzeichnen ist. Das ist der Erfolg dieses Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes - die Bundesregierung hat hier die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt -, mit dem neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind und damit neue Beitragszahler gewonnen werden konnten und durch das letztendlich auch wieder die Einnahmen in der gesetzlichen Krankenkasse gestiegen sind. Mit den Änderungen des Arzneimittelrechts setzen wir zugleich aber auch die europäischen Richtlinien zur Verbesserung der Pharmakovigilanz und zur Verhinderung des Eindringens gefälschter Arzneimittel in die legale Lieferkette in deutsches Recht um. Lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Niemand denkt bei uns daran, diesen Erfolgskurs der Einsparungen zu verlassen und bei den Preisen für Arzneimittel kleine oder große Schleusen zu öffnen. Keine einzige Sparmaßnahme wird zurückgenommen, ({0}) eingeschränkt oder aufgegeben. ({1}) Aber was wir machen wollen, ist, dieses lernende System mit einer revolutionären Neuerung, nämlich dem Zusatznutzen und weiteren, bisher nicht vorhandenen neuen Verfahrensmaßstäben, so zu verbessern, dass die Partner in diesem System gut damit umgehen können. In der Vergangenheit - ich darf darauf eingehen, Sie hatten es angesprochen - gab es Diskussionen um die Vertraulichkeit der verhandelten Beträge. Sie finden im Gesetzentwurf nichts davon. ({2}) Es geht aber nicht darum, Frau Bender, Geheimniskrämerei zu fördern und das Ausmauscheln in Hinterzimmern gesetzlich abzusichern; es geht ausschließlich um die Frage, ob und wie der deutsche Gesetzgeber als Leitmarkt in Deutschland auf Preisverhandlungen in anderen Ländern, zum Beispiel Frankreich oder Griechenland, Einfluss nehmen soll. An dieser Stelle sage ich: Es ist nicht die Aufgabe des deutschen Gesetzgebers, ({3}) Preisverhandlungen in anderen Ländern zu beeinflussen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Das war der Hintergrund dieser Diskussion. Jetzt haben wir eine klare, ausbalancierte Lösung in diesem lernenden System gefunden, die es erlaubt, dass die Partner ein kluges Verfahren zur Preisgestaltung finden werden. Wir haben insbesondere eine Änderung in dem komplexen Schiedsgerichtsverfahren vorgesehen. Beispielsweise soll die Schiedsstelle die Höhe des tatsächlichen Abgabepreises in anderen europäischen Ländern gewichtet nach tatsächlicher Kaufkraft im Verhältnis zu Deutschland berücksichtigen. ({4}) So soll die Zulassungsbehörde bereits vor Beginn von Zulassungsstudien eine Beratung der beteiligten Unternehmen unter Beteiligung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte oder des Paul-EhrlichInstituts durchführen. Das dient der Rechtssicherheit, der Verfahrensbeschleunigung und auch der Fairness. Wir beseitigen Wettbewerbsverzerrungen. Für deutsche Apotheken und ausländische Versandapotheken gelten künftig die gleichen Vorschriften. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eines erwähnen: Gesundheitspolitik ist gerade im Zusammenhang mit dem Bereich der Arzneimittel immer auch Industriepolitik. Wer Industriepolitik für notwendig erachtet, der darf die Arzneimittelindustrie nicht davon ausnehmen. Die Wertschöpfung in Deutschland bei den Arzneimitteln ist hoch. Mit etwa 104 000 hochqualifizierten Arbeitnehmern, pharmazeutischen Erzeugnissen im Wert von 27 Milliarden Euro und Exporten im Wert von 51 Milliarden Euro trägt die Arzneimittelindustrie wesentlich zur Wertschöpfung bei. Früher war Deutschland die Apotheke der Welt. Ich denke, es macht Sinn und ist ein richtiger Anspruch, zumindest wieder in die Nähe dieses früher erreichten Niveaus zu kommen. Deutschland ist aufgrund seines industriellen Kerns verhältnismäßig gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Kein anderes Land in Europa verfügt über eine so breite industrielle Wertschöpfungskette wie Deutschland. Die besondere Stärke des Wirtschaftsstandorts gründet auf dem Zusammenspiel der Industrieunternehmen - vor allem einem starken Mittelstand - und den damit verflochtenen Dienstleistungen. Zitatende. Ich erwarte jetzt insbesondere von der Sozialdemokratie lebhaften Beifall; denn dies sind die ersten Sätze Ihres Antrags zur Industriepolitik, den Sie im Februar dieses Jahres in diesem Hohen Hause eingebracht haben. An dieser Stelle sage ich: Industriepolitik ist keine Klientelpolitik, sondern sie nutzt den Arbeitnehmern und auch dem Finanzminister, weil er Steuern einnimmt. Sie nutzt aber vor allem letztendlich den Patientinnen und Patienten in Deutschland. Denn nur dann, wenn die modernsten und besten Arzneimittel auch bei uns angeboten werden und für die Menschen, die sie brauchen, verfügbar sind, können sie am medizinischen Fortschritt teilhaben. Wir wollen, dass die Patientinnen und Patienten in Deutschland weiter von den Sparmaßnahmen unserer Regierung und den eingeleiteten Maßnahmen profitieren. Wir wollen auch, dass sie die modernsten und wirksamsten Arzneimittel sofort erhalten, ohne zeitliche Verzögerung bzw. ohne sie gar auf unsicheren Wegen im Ausland erwerben zu müssen. Deshalb verbessern wir jetzt das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz nach zwei Jahren. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Martina Bunge. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Martina Bunge. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arzneimittel sind keine normalen Konsumgüter, und Patientinnen und Patienten sind keine Kundinnen und Kunden; darin müssten wir uns alle wohl einig sein. ({0}) Daher ist Arzneimittelwerbung immer ein heikles Thema. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Versuch der Europäischen Kommission, das Verbot der Werbung für rezeptpflichtige Arzneimittel de facto abzuschaffen, gescheitert ist und auch der unselige Kompromissvorschlag vermutlich gestoppt wird. Daran hat die Bundesregierung ihren Anteil - sicherlich haben wir im Ausschuss ebenfalls darauf hingewirkt -, und das darf auch einmal gesagt werden, Frau Staatssekretärin. ({1}) Umso unverständlicher ist aber, dass Sie nichts unternommen haben und auch weiterhin nichts unternehmen, um die so wichtigen Werbebeschränkungen bei rezeptfreien Arzneimitteln in Deutschland zu erhalten. Das deutsche Heilmittelwerbegesetz ist eindeutig besser als die europäische Richtlinie. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2007 war klar, dass die Bundesregierung hätte handeln müssen. Aber sie hat fünf Jahre verstreichen lassen und gar nichts getan. Die EU-Richtlinie war sowieso in Überarbeitung. Warum haben Sie keine Initiative im Rat gestartet mit dem Ziel, diese Richtlinie zumindest an die deutsche Regelung anzupassen? Nun, nach so langer Zeit, nach fünf Jahren, mit Umsetzungsdruck zu argumentieren, nehmen wir Ihnen nicht ab. ({2}) Dieses Gesetz offenbart ganz genau, wohin Sie wollen. Sie öffnen der Desinformation der Menschen Tür und Tor, vor allen Dingen der Menschen, die auf Hilfe durch Arzneimittel hoffen. Wenn mit Studien geworben wird, die niemand nachprüfen muss, wenn mit Experten geworben wird, deren Sachkenntnis niemand belegen muss, und wenn mit wichtigtuenden Menschen in weißen Kitteln geworben werden kann, dann dient das unseres Erachtens nicht der Information, sondern ausschließlich der Umsatzmaximierung. Das werden wir auf keinen Fall mittragen. ({3}) Wenn Sie aber für gute und objektive Information der Bevölkerung stehen würden und gegen eine Ausweitung irreführender Werbung wären und dafür erkennbar in Europa eintreten würden, dann würden wir gerne mit Ihnen gemeinsam kämpfen. Sie wissen: Uns geht es um die Sache. Auch beim vorliegenden Gesetz haben wir den Änderungen betreffend die Palliativmedizin zur Überlassung von starken Schmerzmitteln, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, zugestimmt. Sie sehen also, dass für uns die Fachfragen Vorrang haben. Einen Schwerpunkt des Gesetzes bildet die Einführung von Regeln, die dazu dienen, Fälschungen in der deutschen Handelskette zu verhindern. Dieses Ziel teilen wir doch sicherlich alle. Doch mit welchen Mitteln wollen Sie das erreichen? Jede einzelne Packung soll beim Hersteller eine Nummer bekommen. Diese Nummern werden zentral gespeichert. Die Apotheke trägt diese Nummern bei der Abgabe wieder aus. Das klingt erst einmal trivial. Aber in Wirklichkeit handelt es sich wieder einmal um ein technologisches Großprojekt, das die EU - so ist es veranschlagt - bis zu 9 Milliarden Euro kostet. Wie viele Fälschungen gibt es denn überhaupt im legalen Handel? Die Statistik sagt: fast keine. So gut wie alle Fälschungen kommen aus dem illegalen Onlinehandel. Aber dagegen richten Sie mit den 9 Milliarden Euro überhaupt nichts aus. Wir als Linke haben Ihnen wegen dieser Ausgangslage in Übereinstimmung mit dem Beschluss des Bundesrates den Antrag vorgelegt, den Versandhandel so weit wie möglich zu beschränken. Wir wollen, dass klar ist: Arzneimittelsicherheit und Internethandel kann man nicht zusammenbringen. Es gibt keinen Weg, legale Versandapotheken von illegalen für die Menschen deutlich unterscheidbar zu machen. Es gibt keinen Weg, eine gute Betreuung online zu gewährleisten. Es gibt keinen Weg, die vollkommen unangemessenen Abholstellen zu verbieten. Ihr Weg, ausländische Versandapotheken an das deutsche Recht zu binden und damit für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen, wird von uns als nicht ausreichend wirksam eingeschätzt. Diese Einschätzung gibt es nicht nur bei uns, Frau Staatssekretärin. Ich fordere Sie auf, mit uns für eine transparente und schlanke Handelskette, die einer effektiven Bekämpfung von Fälschungen dient, einzutreten, statt Milliarden zu verpulvern, die letztlich wieder nur die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bezahlen müssen. Die von uns geforderte Beschränkung des Versandhandels ist der richtige Weg. Haben Sie den Mut, zuzustimmen. Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Ländern hatten ihn auch. Danke. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Birgitt Bender. Bitte schön, Frau Kollegin Birgitt Bender.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie schon deutlich wurde, widmet sich die Novelle in erster Linie der Umsetzung der neuen EU-Richtlinien zur Pharmakovigilanz und zur Verhinderung des Eindringens gefälschter Arzneimittel in die legale Lieferkette. Die Debatte ist jedoch eher von anderen Themen beherrscht worden. Um mit dem Positiven anzufangen: Auch wir begrüßen es, dass Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Palliativversorgung jetzt unter bestimmten Voraussetzungen Betäubungsmittel abgeben dürfen. Das ist eine dringend notwendige, patientenfreundliche Regelung, der wir deswegen auch zugestimmt haben. ({0}) Ein bisschen anders sieht es da aus, wo Werbung für rezeptfreie Arzneimittel in stärkerem Maße ermöglicht wird. Das ist in der EU-Richtlinie angelegt. Man hätte es aber nicht so weit öffnen müssen, wie es jetzt hier im Gesetz geschieht. Wir befürchten, dass das, da man die Spielräume, bestimmte Beschränkungen beizubehalten, nicht ausgeschöpft hat, keine Regelung im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher ist. Gut ist wiederum, dass Sie in der Anhörung etwas gelernt haben und dass bei der Überprüfung der Qualifikation der Ärztinnen und Ärzte, die klinische Studien durchführen, nachgebessert wurde. Dennoch verschlechtert sich - das ist festzuhalten - die Position der Menschen, die als Probandinnen und Probanden an solchen Studien teilnehmen, weil dort nämlich Ausnahmen von der Versicherungspflicht vorgesehen sind. Diese Kritik haben Sie leider nicht aufgegriffen. Wir begrüßen wiederum die verlängerten Übergangsfristen zur formalen Anpassung der Packungsbeilagen von registrierten Arzneimitteln der Komplementärmedizin. Damit wird eine Überforderung der Firmen verhindert, die sehr viele, aber umsatzschwache Medikamente vertreiben. Deswegen ist das auch richtig so. Die Koalition hat sich allerdings - auch das gehört zur Wahrheit - davor gedrückt, das von mir in der ersten Lesung angesprochene strukturelle Problem der Gleichbehandlung von komplementär- und schulmedizinischen Arzneimitteln bei der OTC-Ausnahmeliste anzugehen. Das bedauern wir sehr. ({1}) Nun zum AMNOG. Herr Singhammer, Sie haben schon die sogenannte Vertraulichkeit angesprochen. Ich rede da eher von Geheimhaltung. Das ist nun glücklicherweise vom Tisch. Ich bin mir nur nicht so sicher, ob man Sie dafür in großen Tönen loben soll; denn ich fürchte, dass dies nicht besserer Einsicht geschuldet ist, sondern eher dem Problem, das Sie in der Koalition als CDU und vor allem als FDP hatten: Sie befanden sich im Widerstreit sich entgegenstehender Klientelinteressen. ({2}) Hätten Sie nämlich den Forderungen der Pharmaindustrie nachgegeben, wären Sie der PKV auf die Füße getreten; denn die hätte dann Nachteile für ihre Versicherten befürchtet. Da der PKV das Wasser eh schon bis zum Halse steht - wegen der Debatten über ständig steigende Prämienerhöhungen, über Vermittlerprovisionen und oftmals geringere Leistungsstandards im Vergleich zu GKV-Versicherten, schließlich auch wegen der schlechten Zinssituation -, wollten Sie ihr nicht noch einen weiteren Nachteil zufügen. Das Ergebnis stimmt, die Überlegungen dahinter aber wohl weniger. ({3}) Meine Damen und Herren, in einem Punkt sind sich Pharmaverbände und Kassen einig, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten. Für sie ist nämlich bei der Berücksichtigung der internationalen Preise im Rahmen der Erstattungsverhandlungen eine Umsatzgewichtung nicht sinnvoll. Diesen Unsinn behält die Koalition jedoch bei. Das verstehe, wer wolle. Auch bei einem weiteren Punkt, der Ausweitung der Arzneimittelpreisverordnung auf ausländische Versandapotheken, weigerte sich die Koalition, die Argumente aus der Anhörung wahrzunehmen und aufzugreifen. Wir haben dort deutlich von den Patientenverbänden gehört, dass gerade chronisch Kranke diese Angebote nutzen. In Internetforen ist nachzulesen, dass einige Patienten befürchten, dass sie sich zukünftig die Zuzahlungen zu ihren Medikamenten nicht mehr leisten können. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die Koalition vor allem den hiesigen Apothekerinnen und Apothekern einen Gefallen tun wollte. Die Frage ist: Haben Sie bedacht, welche Nachteile das zum einen für chronisch Kranke bringt und dass zum anderen die europäischen Versandhändler wahrscheinlich mit einiger Aussicht auf Erfolg klagen werden? Sie wissen doch: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Es könnte sein, dass Sie das noch bedauern werden. ({4}) Letzter Punkt. Mehr Transparenz bei Anwendungsbeobachtungen und Unbedenklichkeitsstudien, bei denen die Gefahr des Missbrauchs als Marketinginstrument naheliegt, ist überfällig. Untragbar ist etwa, dass eine Teilnahme ohne Information und Zustimmung der Patientinnen und Patienten erfolgt. In der Gesamtschau, meine Damen und Herren, sehen wir in diesem Gesetz Licht und Schatten. Deswegen werden wir Grünen uns enthalten. Danke schön. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Bender. - Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Michael Hennrich. Bitte schön, Kollege Hennrich. ({0})

Michael Hennrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003551, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung die AMG-Novelle. Anlass für dieses Gesetz ist zum Ersten die Umsetzung von zwei Richtlinien der Europäischen Kommission. Zum Zweiten geht es um Regelungen beim Thema Betäubungsmittelrecht - die Verbesserung der Situation von Schwerstkranken und Sterbenden wurde zu Recht angesprochen - und um Anpassungen im Bereich des Heilmittelwerberechts. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei Ihnen, Frau Dr. Bunge, für Ihre differenzierte Darstellungsweise bedanken. Es ist nämlich nicht nur so, dass es um Richtlinien ging, sondern es gab auch eine entsprechende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Diese mussten wir eins zu eins umsetzen. Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation seit 2007 bekannt ist. Wir hatten da für zwei Jahre eine Ministerin der SPD, die die Chance hätte ergreifen können, aber darauf verzichtet hat. Deswegen herzlichen Dank für Ihre Darstellungsweise. ({0}) Zum Dritten geht es um Regelungen im Bereich des Apothekenwesens. Ich sage nach wie vor, dass ich es für richtig halte, dass die Arzneimittelpreisverordnung für Versandapotheken und Präsenzapotheken gleichermaßen gilt. Frau Bender, während Sie sagen, es gehe dabei um chronisch Kranke, geht es mir bei diesem Thema um die ländliche Apotheke. ({1}) Es kann nicht sein, dass wir Rosinenpickerei betreiben, was dann dazu führt, dass zum Beispiel im ländlichen Raum Apotheken zumachen müssen. ({2}) Sie sind ein wichtiger Beitrag zum Erhalt entsprechender Versorgungsstrukturen. Natürlich ging es auch noch einmal um das Thema AMNOG. Ich möchte hier zwei Bereiche besonders hervorheben: zum Ersten das Thema Umsetzung von europäischen Richtlinien. Zum Zweiten möchte ich auf das AMNOG eingehen. Ich glaube, dass heute ein ganz guter Anlass ist, noch einmal über das Thema Arzneimittelsicherheit zu diskutieren; denn wir haben in der Tat die Verpflichtung, uns nicht nur um Ausgabenbegrenzung zu kümmern, sondern auch um Arzneimittelsicherheit. Ich möchte vorab eine Bemerkung machen: Arzneimittelsicherheit bedeutet Bürokratie. Das kostet Geld, und zwar zulasten der Pharmaindustrie. Deswegen ist es auch wichtig, dass die Industrie auskömmliche Preise erzielt. Wir haben die Richtlinien zur Pharmakovigilanz und zur Arzneimittelsicherheit, also zum Schutz vor Fälschungen, eins zu eins umgesetzt. Wir haben keine zusätzlichen Verschärfungen vorgenommen, weil die Richtlinien unseren Anforderungen gerecht wurden. Wir haben eine Umsetzung der Richtlinien mit Augenmaß betrieben - Frau Bender, Sie haben es angesprochen -, zum Beispiel bei den Übergangsvorschriften im Rahmen der Umstellung der Packungsbeilagen für Arzneimittel der besonderen Therapierichtung, wo die Möglichkeit bestand, diesen Zeitraum auf fünf Jahre zu verlängern. Wir haben außerdem sinnvolle Ausnahmen bei der Herstellungserlaubnis nach § 13 Arzneimittelgesetz für den Fall ermöglicht, dass Apotheker bestimmte Produkte herstellen. Auch Kollegin Reimann hat ein Interesse daran gehabt, dass wir beim Thema Testallergene einen vernünftigen Vorschlag machen. Dies haben wir aufgegriffen. Darüber hinaus haben wir uns der in den Anhörungen geäußerten Kritik gestellt. Im Hinblick auf stellvertretende Prüfer wurde in Form von Änderungsanträgen eine Regelung vorgeschlagen, wonach die Ethikkommission und die Aufsichtsbehörden die Eignung der stellvertretenden Prüfer bewerten und kontrollieren können. Das Wesentliche ist: Wir haben deutliche Verbesserungen bei der Arzneimittelüberwachung und dem Schutz vor Arzneimittelfälschungen erreicht. ({3}) Zur Pharmakovigilanz. Wir werden Nebenwirkungen in Zukunft besser erfassen können. Gleichzeitig wurde der Begriff der Nebenwirkung präzisiert. Wir gestalten Meldewege effizienter. Wir erreichen eine bessere Verzahnung der Akteure. Die Informationsmöglichkeiten für Ärzte und Patienten werden ebenfalls deutlich verbessert. Beim Thema Arzneimittelfälschung geht es uns um eine Stärkung der legalen Vertriebswege. Ich denke, dass mit den zusätzlichen Sicherheitsmerkmalen auf den Packungen ein echter Fortschritt erreicht wird. Das bedeutet natürlich auch Prüfpflichten für die Industrie, für den Großhandel und für die Apotheken. Ich glaube, dass diese Maßnahmen gleichzeitig dazu dienen können, die beteiligten Akteure in ihrer Rolle zu stärken. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will jetzt auf das Thema AMNOG eingehen. Ich kann mich noch gut an die hitzige Debatte hier im Parlament vor anderthalb Jahren erinnern. Damals war eine namentliche Abstimmung beantragt. Es gab ein riesengroßes Tohuwabohu mit Kritik von allen Seiten. Ich glaube, heute können wir rückblickend sagen, dass uns mit dem AMNOG ein wirklich gutes Gesetz gelungen ist. Sie haben in den letzten Wochen und Monaten keinen einzigen Vorschlag unterbreitet, was wir im Bereich der Arzneimittelversorgung besser gestalten könnten. ({4}) Ich habe Verständnis für die Verunsicherung der Industrie. Wir haben versucht, Probleme aufzugreifen. Ich möchte in diesem Zusammenhang deutlich hervorheben, dass es klug war, dass sich die Union im Februar/März zum AMNOG positioniert hat. Wir, die Union, haben in unserem Positionspapier nämlich einige Bedenken aufgegriffen. Es wurden dann ein paar Probleme vernünftig gelöst, ohne dass wir dafür ein Gesetz auf den Weg bringen mussten. Vier Themenbereiche sind für uns von besonderer Bedeutung: Beratung durch den G-BA, Vergleichstherapie/ Subgruppenbildung, die Grundlage für Preisvergleiche und Preisfindung sowie Vertraulichkeit. Bei den Beratungsgesprächen hat sich einiges verbessert, sodass eine Nachbesserung nur in einem Punkt erforderlich war: In Zukunft werden die Zulassungsbehörden in die Beratungsgespräche besser eingebunden werden müssen. Bei der Vergleichstherapie eröffnen wir den Unternehmen, die jetzt aus formalen Gründen keinen Zusatznutzen hatten, die Möglichkeit, in ein neues Verfahren einzutreten. Bei der Preisfindung haben wir an zwei Punkten Änderungen vorgenommen: bei der Kaufkraftparität und beim Umsatz. Ich sage Ihnen: Es war richtig, den Aspekt Umsatz zu berücksichtigen. Länder wie die Schweiz oder Luxemburg haben nämlich hohe Arzneimittelpreise, aber geringe Umsätze. Angesichts dessen ist diese Regelung ausgewogen. Ich möchte zum Schluss auf das Thema Vertraulichkeit zu sprechen kommen. Wenn Sie beobachtet haben, welche Wünsche und Anforderungen die Industrie hat, dann haben Sie festgestellt: Wir konnten im Vorfeld einiges abräumen. Die einzige zentrale Forderung war die Wahrung der Vertraulichkeit. Dies hätte uns kein Geld gekostet. Auch der Bürokratieaufwand war überschaubar. Der GKV-Spitzenverband Bund selber hat diesen Aufwand mit rund 32 Millionen Euro beziffert. Ich sage Ihnen: Es wäre mir wert gewesen, das Signal an die Industrie auszusenden, dass wir nicht nur Verschärfungen vornehmen, sondern dass uns auch die Pharmaindustrie am Standort Deutschland wichtig ist. ({5}) Insofern hoffe ich, dass wir zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht noch einmal darüber nachdenken. Wir warten jetzt ab, wie die weiteren Preisverhandlungen ausgehen. Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung unter Umständen dem Thema öffnet, wenn noch Nachbesserungsbedarf besteht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich werbe um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Ich nehme mit Wohlwollen zur Kenntnis, dass die Grünen aus den Erfahrungen mit dem AMNOG lernen und sich heute der Stimme enthalten; aber Zustimmung wäre noch besser gewesen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Michael Hennrich. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Steffen-Claudio Lemme. Bitte schön, Kollege Steffen-Claudio Lemme. ({0})

Steffen Claudio Lemme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004090, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Staatssekretärin Flach! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine geschätzte Kollegin Marlies Volkmer hat bereits ausführlich die wesentlichen Punkte der Kritik der SPD-Bundestagsfraktion an dieser Novelle des Arzneimittelgesetzes dargestellt. Kurz: Die Bundesregierung liefert mit diesem Gesetz ein Beispiel für Über-, Unter- und Fehlregelungen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, die Notwendigkeit der Harmonisierung der Arzneimittelsicherheit in Europa steht auch für meine Fraktion außer Frage. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist jedoch, dass wir Arzneimittelsicherheit konsequent aus der Sicht der Patientinnen und Patienten betrachten. Sie jedoch blähen diese Novelle zum Omnibusgesetz auf, um einmal mehr den Forderungen der pharmazeutischen Industrie zu entsprechen. Aber das ist ja mittlerweile gute Tradition bei Ihnen. So werden Sie jedenfalls in dieser Legislaturperiode den Geruch der Klientelpolitik nicht mehr los. ({0}) Die Bedürfnisse, die Sicherheit und die Versorgung der Patientinnen und Patienten stehen für die SPD-Bundestagsfraktion bei all ihren Entscheidungen und Vorschlägen stets im Vordergrund; das haben wir in der Vergangenheit immer wieder deutlich gemacht. Ich erinnere hier nur kurz an unsere Empfehlungen zur Schaffung von mehr Versorgungssicherheit im Rahmen des GKVVersorgungsstrukturgesetzes und an unsere Vorschläge zur Stärkung der Patientensouveränität bei IGeL-Leistungen oder auch in der aktuellen Debatte um die Sicherheit von Medizinprodukten. Bei uns stehen immer die Betroffenen im Fokus. ({1}) Nur eine konsequente Betroffenenperspektive kann eine differenzierte Bewertung dieses Gesetzentwurfs zulassen. Ich will dies kurz mit zwei Beispielen belegen: Die Notwendigkeit einer verbesserten ambulanten Versorgung von Palliativpatienten hat uns beispielsweise dazu bewogen, den Änderungen zum Betäubungsmittelgesetz zuzustimmen. Ungenügend sind hingegen die Regelungen zu Austauschverboten, die wir abgelehnt haben. Ich selbst hatte als Mitglied des Petitionsausschusses in einer öffentlichen Beratung die Gelegenheit, mit Vertretern von Betroffenenverbänden von Schmerzpatienten zu sprechen. Eindrucksvoll hatte dort eine Vertreterin der Deutschen Schmerzliga die Bedürfnisse von Schmerz- und Palliativpatienten geschildert. Dieser Personenkreis ist mitunter auf ganz bestimmte Medikamente angewiesen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Nur diese speziellen Medikamente, die mitunter sehr starke Opiate enthalten, versprechen ihnen echte Linderung. Zu Recht wurde von den Betroffenen die Regelung einer automatischen Austauschpflicht für diese besonderen Betäubungsmittel nach § 129 SGB V kritisiert. Dieser Sicht der Dinge hatten sich im Übrigen die Vertreter aller Fraktionen im Petitionsausschluss angeschlossen. So plädierten auch Frau Kollegin Vogelsang von der CDU/CSU und Herr Dr. Röhlinger von der FDP, der leider nicht anwesend ist, für eine Änderung. Am Ende hat es dann aber bei den Koalitionären nur zu einer halbherzigen Neuregelung gereicht, ({2}) die von den Betroffenen zu Recht als unzureichend bezeichnet wird und von uns abgelehnt wurde. Mit der vorgesehenen Kann-Bestimmung laden Sie die vielfach diskutierte Problematik wieder auf die Schultern der Selbstverwaltung. Damit rückt eine rasche Lösung des Problems zugunsten der betroffenen Patientinnen und Patienten erneut in weite Ferne. Hingegen haben wir der Neuregelung zur Überlassung von Betäubungsmitteln durch den ambulant tätigen Arzt an seine Patienten zugestimmt. Das ausschließliche Abgabemonopol von Apotheken gegenüber Patientinnen und Patienten wird der Notwendigkeit einer Stärkung der ambulanten Versorgung nicht mehr gerecht. Die Abgabe durch den Arzt in Krisen- und Ausnahmesituationen muss möglich sein. Das gebietet mitunter die Situation des Patienten. Gerade in ländlichen Regionen, wo die nächste Apotheke kilometerweit entfernt ist, muss der Arzt dem Patienten auch ein Medikament überlassen dürfen, ohne Angst vor rechtlichen Konsequenzen. ({3}) Menschen, die akute Schmerzen haben oder die die letzten Stunden ihres Lebens im Kreise ihrer Angehörigen daheim verbringen wollen, muss größtmögliche Versorgungssicherheit gewährt werden. Ich will an dieser Stelle noch ein paar Worte zum Antrag der Fraktion Die Linke verlieren. Wir teilen die Haltung in Sachen Pick-up-Handel und zum Verweis auf die Notwendigkeit einer umfangreichen Beratung und Sicherheit von Medikamentenbeziehern. Auch für uns bleibt die Beratung durch den Präsenzapotheker unverzichtbar. Wir können aber einer Verdammung des Versandhandels nicht beipflichten. Im Gegenteil: Der Versandhandel hat sich in großen Teilen bewährt. Wir werden zu gegebener Zeit auch hierzu gern Stellung nehmen. Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Lemme. - Nächster und letzter Redner in unserer Aussprache zu diesem Thema ist unser Kollege Heinz Lanfermann. Bitte schön, für die Fraktion der FDP Kollege Heinz Lanfermann. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es bleiben nur noch wenige Minuten bis zum Schluss dieser Runde. Ich darf mich zunächst einmal für die einhellige Zustimmung zu unserer neuen Regelung zur ambulanten Palliativversorgung bedanken. Das Gesetz ist mit all seinen guten Facetten sehr ausführlich beschrieben worden. Deswegen brauche ich das nicht zu wiederholen. Die Redner der Opposition haben stark angefangen, indem sie das Gesetz gelobt haben. Es wurde danach ja doch ein wenig brüchig. Bei Frau Bender wurde es dann mehr eine Nörgelliste, mit der sie zeigen wollte, dass es doch nicht so gut sei. Immerhin enthalten Sie sich wenigstens; das will ich dann auch loben. Sie müssen sich allerdings nicht bemühen, irgendwelche Kerlekes hinter den Gebüschen zu sehen, wenn es um einen angeblichen Lobbyeinfluss oder Ähnliches geht. Die PKV hat keine Rolle gespielt bei der Frage der Vertraulichkeit - das sage ich Ihnen aus dem Nähkästchen -, weil sie schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt gesagt haben: Na gut, das lieben wir nicht gerade, aber wenn die Politik es für richtig hält, dann tragen wir das klaglos mit. - Damit war der Fall erledigt. So einfach kann Politik auf der Regierungsseite sein. Machen Sie sich also nicht zu viele Gedanken um Dinge, die Sie nicht kennen! Bei solchen Gesetzgebungsverfahren ist es interessant, wie viele Leute sich darum kümmern, herauszufinden, was alles nicht passiert oder welche Erwartungen erfüllt oder nicht erfüllt werden. Dann darf ich in dieser Schlussrunde auch noch mit einem typischen Missverständnis der letzten Wochen aufräumen. Manche haben sich gefragt: Warum, außer in den angesprochenen Regelungen, steht nichts über die wirtschaftliche Situation der Apotheken im Gesetz? Ich kann alle beruhigen. Das gehört überhaupt nicht in das Gesetz; denn alle wesentlichen wirtschaftlichen Fragen, die Apotheken angehen, werden in Verhandlungen mit der Regierung geklärt. Das wird auf dem Verordnungswege geregelt. Alles, was nach diesen Verhandlungen geändert werden kann, wird zur gegebenen Zeit auf dem Verordnungswege neu geregelt. Das ist also keine Frage des Gesetzgebers; dies geht den Wirtschaftsminister und den Gesundheitsminister an. Was im Übrigen die Apothekenabgabe angeht, so haben die Vertreter der Koalition eindeutig erklärt, dass die vom Gesetzgeber festgesetzten Preise für 2011 und 2012 auslaufen und nicht verlängert werden. Sie stellen auch keinen Maßstab bei den Verhandlungen dar, die zwischen den Partnern stattfinden müssen. Das macht nicht die Politik, sondern das wird zwischen den Partnern ausgehandelt. So einfach kann Politik auch sein, Frau Bender. Zum Schluss darf ich noch sagen: Ich freue mich sehr, dass wir am Ende zu einem solch umfangreichen Gesetzentwurf gelangt sind. Manche behaupten ja, in der Gesundheitspolitik herrsche eine gewisse Unsitte, nämlich dass häufig sogenannte Omnibusgesetze entstehen, mit denen noch diese oder jene Gesetzesänderung durchgeführt werden kann. Wir haben viel zu tun. Dieser Ausschuss - und damit auch dieses Ministerium - gehört mit zum Fleißigsten, was der Bundestag bzw. die Bundesregierung vorzuweisen haben; denn wir haben in der Tat eine ganze Menge geregelt. ({0}) Das AMNOG ist überdies ein gutes Beispiel dafür, dass man nicht nur ein gutes Gesetz machen, ({1}) sondern auch ein bestehendes Gesetz gut fortsetzen kann. Wir haben eine Zwischenbilanz gezogen, die sich sehen lassen kann. In einigen Punkten haben wir ein wenig nachgesteuert; Kollege Hennrich hat das vorhin sehr genau beschrieben. Die weiteren Verfahren und Verhandlungen werden wir uns in der Tat sehr genau anschauen. Denn wir wollen, dass nach fairen Verhandlungen auch faire Preise ausgehandelt werden können. „Faire Preise“ heißt, dass die berechtigten Interessen jeder Seite so weit wie möglich berücksichtigt werden und dass man sich auf einem vernünftigen Weg bei einem vernünftigen Ergebnis trifft. Genau das wollten wir mit dem AMNOG erreichen, und das werden wir auch schaffen. Ich danke Ihnen mit diesem positiven Schlusswort für Ihre Aufmerksamkeit. Danke schön. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, aber nicht über die Frage, welcher Ausschuss in diesem Hause der fleißigste ist, sondern ganz einfach über den von der Bundesregie- rung eingebrachten Gesetzentwurf eines Zweiten Geset- zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/10156, den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung auf Drucksache 17/9341 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Vizepräsident Eduard Oswald wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und der Linken. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage- gen? - Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange- nommen. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für gute Arzneimittelversorgung Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/10156, den An- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9556 ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfrak- tion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- ordnungspunkt 13 a bis d auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Andrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Situation des Mittelstands - Drucksache 17/9655 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Friedrich, Dr. Carsten Sieling, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Finanzierungsbedingungen des Mittelstands verbessern - Drucksache 17/5229 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna Voß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Handwerkskammern demokratisieren und transparent gestalten - Drucksache 17/9220 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna Voß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Handwerksnovelle evaluieren, hohes Qualifikationsniveau sicherstellen - Drucksache 17/9221 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer Vereinbarung aller Fraktionen ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind alle damit einverstanden? - Dann haben wir das hiermit so beschlossen. Jetzt nehmen wir den notwendigen Wechsel hier im Plenum vor und konzentrieren uns dann auf diese Aussprache. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Andrea Wicklein. Bitte schön, Frau Kollegin Andrea Wicklein. ({2})

Andrea Wicklein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003659, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Nachrichten über die deutsche Wirtschaft sind positiv. Aber es gibt auch deutliche Signale, dass bei den mittelständischen Unternehmen eine zunehmende Verunsicherung einkehrt. Sowohl die globalen als auch die nationalen Herausforderungen sind gewaltig. Die Euro-Krise wird sich auch auf den deutschen Mittelstand auswirken. Neben der Euro-Krise gibt es im Wesentlichen drei bedeutende Themenfelder, die die weitere Entwicklung des deutschen Mittelstands bestimmen werden. Das ist erstens die Unternehmensfinanzierung, zweitens der Fachkräftemangel und drittens die Entwicklung der Energie- und Rohstoffpreise. Das sind die Themen, die den Mittelstand landauf, landab bewegen und die Unternehmen unruhig in die Zukunft blicken lassen. Deshalb ist es die vordringliche Aufgabe der Politik, die Aufgabe der Bundesregierung, gerade jetzt alles dafür zu tun, dass die Rahmenbedingungen für den Mittelstand in Deutschland Stabilität und Sicherheit bieten. ({0}) In unserer Großen Anfrage „Situation des Mittelstands“ fordern wir die Bundesregierung auf, Antworten auf diese drängenden Fragen zu geben. Doch obwohl keine Zeit zu verschenken ist, beabsichtigt sie, das erst im Januar 2013 zu tun. Man könnte meinen, dass die Bundesregierung auf Zeit spielt, Zeit, die der deutsche Mittelstand nicht hat. Das ist für mich ein klares Zeichen dafür, dass Sie die notwendigen Antworten nicht geben können. Um noch einmal deutlich zu machen, worum es geht. Beispiel Unternehmensfinanzierung: Basel III wird AusAndrea Wicklein wirkungen auf die Mittelstandsfinanzierung insbesondere junger und innovativer Unternehmen haben. Deshalb müssen wir dringend die Rahmenbedingungen für alternative Finanzierungsmöglichkeiten in Deutschland verbessern. Im internationalen Vergleich hinken wir hier deutlich hinterher. Wir haben bereits im März letzten Jahres einen Antrag zur Verbesserung der Finanzierungsbedingungen des Mittelstands eingebracht, der heute auch zur Beratung vorliegt. Die Zahlen zum Gründungsgeschehen zeigen, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Die Zahl der Firmengründungen ist 2011 gegenüber 2010 um 11 Prozent zurückgegangen. Beispiel Fachkräftemangel. In einer aktuellen Umfrage des DIHK gaben 35 Prozent der insgesamt 25 000 befragten Unternehmen an, dass der Mangel an Fachkräften schon heute ein großes Problem darstellt. Da ist es schön und gut, dass die Bundesregierung - ich zitiere - „politische Priorität auf die Fachkräftesicherung“ legt. Aber was tun Sie konkret? Dem viel beschworenen Fachkräftekonzept von 2011 wird nun eine Informations- und Mobilisierungskampagne zur Seite gestellt, und so etwas nennt die Bundesregierung dann eine „Fachkräfteoffensive“. Fakt ist: Der deutsche Mittelstand braucht Fachkräfte; nur darüber zu reden, das reicht nicht mehr. ({1}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Investitionen in Bildung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Weiterbildung und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das alles sind notwendige Maßnahmen, die die SPD immer wieder vorgeschlagen hat. Und was tun Sie? Sie verschleudern Milliarden für ein unsinniges Betreuungsgeld. Sie wollen ernsthaft Geld dafür ausgeben, Frauen vom Beruf fernzuhalten, und beklagen gleichzeitig einen zunehmenden Mangel an Fachkräften. Niemand kann es sich leisten, auf die Kompetenz und Leistungsfähigkeit von Frauen zu verzichten, auch Sie nicht. ({2}) Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Damit es auch zukünftig so bleibt: Zeigen Sie, dass es Ihnen ernst ist mit dem Mittelstand! Beantworten Sie unsere Fragen zur Zukunft des Mittelstands, und das nicht erst 2013. Ganz herzlichen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Andrea Wicklein. Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Frau Lena Strothmann. Bitte schön, Frau Kollegin Strothmann. ({0})

Lena Strothmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mittelstand ist Deutschlands Stärke. Er ist das Herz der sozialen Marktwirtschaft und der Motor für Wachstum und Beschäftigung. Der Jahresmittelstandsbericht 2011 hat Rekordzahlen gemeldet: Im vergangenen Jahr wurden 490 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, die Wachstumsquote beträgt 3,4 Prozent. ({0}) Der Mittelstand ist also nach wie vor eine krisenfeste Wachstumslokomotive. ({1}) Das ist der Beweis dafür, dass wir mit unserer Politik für den Mittelstand auf dem richtigen Weg sind. ({2}) Wir werden daher den Bürokratieabbau weiter vorantreiben, uns kontinuierlich um eine solide Unternehmensfinanzierung kümmern und in Forschung und Entwicklung investieren, um Arbeitsplätze zu erhalten und weitere zu schaffen. Aber unsere wichtigste Aufgabe wird es sein, uns weiterhin um die Ausbildung guter Fachkräfte zu kümmern; denn leider melden unsere Betriebe schon heute, dass sie keine Kräfte finden. Der demografische Wandel wird dieses Problem in den nächsten Jahren noch verstärken. Wenn wir aber unseren Vorsprung als Hightechland halten wollen und wenn wir die Herausforderungen der Zukunft, zum Beispiel die Energiewende, meistern wollen, dann brauchen wir mehr gut ausgebildete Fachkräfte in unserem Land. ({3}) Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt; denn Deutschland hat das duale Ausbildungssystem, um das uns viele Nachbarländer in Europa beneiden. Der Berufsbildungsbericht 2012 hat dies gerade bestätigt. Dem dualen Ausbildungssystem wird erneut eine hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt. Erfolgsindikator hierfür ist die niedrige Jugendarbeitslosigkeit in unserem Land; wir haben derzeit eine Quote von 7,9 Prozent. Das sind natürlich immer noch zu viele arbeitslose junge Menschen, aber das ist die niedrigste Quote in Europa. Im EU-Durchschnitt liegt die Jugendarbeitslosenquote bei 22,6 Prozent, und, wie wir wissen, in Spanien sogar bei über 50 Prozent. Wir treten den Beweis an: Unser duales System schützt vor Jugendarbeitslosigkeit. ({4}) Zu diesem Ergebnis kommt im Übrigen auch die Europäische Kommission. Auch die Übergangsquote dual ausgebildeter Jugendlicher in den Arbeitsmarkt ist bei uns sehr hoch. Die Gründe für den Erfolg unserer dualen Ausbildung möchte ich noch einmal hervorheben: Die Ausbildung im Betrieb, der Schulunterricht und die überbetriebliche Unterweisung sind gut aufeinander abgestimmt. Andere europäische Länder setzen ausschließlich auf eine schulische Ausbildung. In diesen Ländern ist der Übergang in die Betriebe sehr schwierig für die jungen Menschen, weil ihnen der Praxisbezug fehlt. Sie können auch nicht wie viele Lehrlinge bei uns vom „Klebeeffekt“ profitieren und nach der Ausbildung direkt in den Betrieb übernommen werden. Unsere duale Ausbildung ist auch deshalb so erfolgreich, weil wir Voraussetzungen geschaffen haben, die die Qualität der Ausbildung sichern. Der Grundsatz lautet: Wer ausbildet, muss selbst ein ausgebildeter Fachmann sein. Das sind nach wie vor unsere Meister. Sie geben ihr Wissen und ihre Erfahrung an die jungen Menschen weiter. Nur in wenigen europäischen Ländern gibt es die Meisterprüfung als Befähigung zur Ausbildung. Nun gibt es leider Tendenzen in Europa, die Zahl der reglementierten Berufe zu reduzieren. Dazu gehört auch der deutsche Meister. Das muss man wissen. Wer die reglementierten Berufe abschaffen will, der schafft damit auch den deutschen Meister ab. Dieser ist aber ein wichtiger Baustein im dualen Ausbildungssystem. ({5}) Ohne die Meisterprüfung als Befähigung zur Ausbildung würde es nicht mehr so erfolgreich funktionieren, und jahrelang erarbeitete Strukturen würden zerstört. Das werden wir nicht zulassen. ({6}) Zu diesem bewährten System gehören im Übrigen auch die Handwerkskammern. Die Kammern erfüllen hoheitliche Aufgaben. Das heißt, die Aufgaben werden vom Staat zur Erfüllung übertragen und von den Kammern wirtschaftlich und effektiv erbracht. Ich will Ihnen das am Beispiel der Ausbildung deutlich machen: Die wichtigsten hoheitlichen Aufgaben sind hier die Führung der Lehrlingsrolle, das Erlassen von Prüfungsvorschriften, die Einrichtung von Prüfungsausschüssen und die organisatorische Durchführung von Prüfungen. Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit gehört auch die Entscheidung über anzuerkennende Abschlüsse dazu. Zusammengefasst ist festzuhalten: Die Kammern sichern die Qualität der Ausbildung. Sie sind Garanten der dualen Ausbildung. Allein im Handwerk - das muss man wissen - engagieren sich 65 000 ehrenamtlich tätige Personen in den Gremien der Selbstverwaltung und den Prüfungsausschüssen. Sie leisten pro Jahr freiwillig 7,7 Millionen Stunden. ({7}) Im Übrigen, meine Damen und Herren von den Linken: Die Rechtsaufsicht über die Handwerkskammern obliegt den Wirtschaftsministerien der Länder. Damit ist die Anwendung der geltenden Rechtslage durch die Kammern sichergestellt. Es gibt auch keine gesetzlichen Missstände in der Handwerksordnung. Die Drittelparität unserer Arbeitnehmer trägt den besonderen Gegebenheiten im Handwerk Rechnung; das sind nämlich Unternehmer, Kleinstunternehmer und Mitarbeiter. Im Übrigen ist auch die Friedenswahl höchstrichterlich bestätigt. Die Veröffentlichung der Bilanzen erfolgt im Rahmen der Feststellung des Haushaltsplans und der Abnahme der Jahresrechnung durch die oberste Landesbehörde. Transparente und demokratische Beschlussfassungen sind durch die Satzungen der Handwerkammern gewährleistet. Eine Befassung der Kammergremien ist damit sichergestellt. Aber die Hauptaufgabe der Handwerkskammern bleiben Aus-, Fort- und Weiterbildung. Dieses System sollten wir weiter stärken; denn die Herausforderungen der Zukunft werden wir nur mit gut ausgebildeten Kräften meistern. ({8}) Wir tun also gut daran, in Zukunft noch mehr für die duale Ausbildung zu werben. Wir sollten die Säulen, auf denen sie steht, nicht kaputtmachen. Danke schön. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Lena Strothmann. Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Johanna Voß. Bitte schön, Frau Kollegin Voß. ({0})

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute sprechen wir über den Mittelstand. Gerade haben wir schon etwas zum Handwerk gehört. An diesem Punkt will ich weitermachen. Ihre Große Anfrage, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, geht so gut wie gar nicht auf das Handwerk ein. Das Handwerk stellt aber mit 1 Million Betrieben - darunter Klein- und Kleinstunternehmen - den Großteil des Mittelstands. Damit ist es ein bedeutender Teil der deutschen Wirtschaft. Es gibt bei diesem Thema genug, über das es sich lohnt zu reden. Erstens. 2004 wurde die Handwerksordnung novelliert. 53 Gewerke sind seitdem meisterfrei. Das heißt, wer sich als Estrichleger selbstständig macht, braucht dafür keinerlei Mindestqualifikation mehr. Bei 52 weiteren Berufen ist es genauso. War das gut? Wem bringt das Vorteile? Es fehlt eine Untersuchung, was diese Novelle der Handwerksordnung gebracht hat und was sie nicht gebracht hat. Solch eine Untersuchung haben die CDU/ CSU-Fraktion bzw. die Großen Koalition insgesamt selbst schon gefordert. Umgesetzt haben Sie Ihre eigene Forderung indes nicht. Wofür fürchten Sie sich? Haben sich dadurch prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder Scheinselbstständigkeit ergeben? Das würden wir gerne herausfinden. Zweitens. Es gibt seit fast 60 Jahren in allen 53 Handwerkskammern alle fünf Jahre Vollversammlungswahlen. Das sind mehr als 500 Wahlen. Aber nur dreimal wurde tatsächlich gewählt. Das heißt, nur dreimal fand ein Wahlakt statt, weil nur in drei Fällen konkurrierende Listen vorlagen. Ansonsten galt die vorher ausgekungelte Liste als gewählt. Das war die Aussage der Bundesregierung auf unsere Anfrage.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin Voß, der Kollege Ernst Hinsken beabsichtigt, eine Zwischenfrage an Sie zu richten. - Sie lassen sie zu. Bitte schön, Kollege Ernst Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich fasse mich ganz kurz. - Liebe Frau Kollegin Voß, ich war dabei, als die Neufassung der Handwerksordnung ausgearbeitet und beschlossen wurde. Speziell als es um die Reduzierung der Zahl der Gewerke ging, in denen ein Meisterbrief für die selbstständige Tätigkeit nötig ist, haben wir stark dagegen gehalten. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bewusst ist, wie sich damals Ihre Fraktion verhalten hat, was damals Ihre Meinung war, ob Sie das damals für richtig befunden haben. Ich weiß nicht, inwieweit Sie überhaupt mitreden konnten; denn Sie vertreten ja eine Fraktion, die damals wahrscheinlich noch gar nicht im Bundestag war.

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Hinsken, ich danke für die Frage. Daran sehe ich, dass wir an dieser Stelle konstruktiv zusammenarbeiten könnten. Ich war damals tatsächlich nicht dabei. Ich gehöre dem Haus seit knapp zwei Jahren an. ({0}) Über die alten Entscheidungen weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass die Handwerksordnung geändert wurde. Die Frage ist: Wollen wir dies evaluieren oder nicht? Es scheint doch dafür einen Bedarf zu geben. Darauf könnten wir uns einigen. Im Rahmen einer Evaluierung könnten wir schauen, was die Novellierung bewirkt hat, zumal wir eben gehört haben, dass der Meister durch weitere „Neoliberalisierungen“ infrage gestellt werden soll. Es wäre doch der richtige Weg, folgende Fragen dagegenzuhalten: Was ist gut daran, dass wir diese Regelungen haben, dass wir das duale System haben und dass wir die Meisterausbildung haben? Warum sollte man mehr Berufe freistellen, dort diese Ausbildung abschaffen?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Fahren Sie fort, Frau Kollegin.

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gut. - Es gibt also eine Große Anfrage der SPD, die die Überschrift „Kammern, Innungen und Kreishandwerkerschaften“ enthält. Augenscheinlich ist der SPD aber zu den Handwerkskammern gar nichts eingefallen. Zu denen fragt sie nämlich darin gar nichts. Das Gleiche gilt für die Große Anfrage der Koalition zum Handwerk vom Oktober 2010. Auch hier fehlt jede Frage zu den Handwerkskammern. Möglicherweise haben Sie durch unsere Nachfragen bereits mehr Antworten erhalten, als Ihnen lieb ist. Wir meinen: Die Politik muss dem Handwerk mehr Aufmerksamkeit widmen. ({0}) Viele Handwerkerinnen und Handwerker sind unzufrieden. Sie sind mit ihrer Pflichtmitgliedschaft in den Handwerkskammern nicht einverstanden. Das muss ernst genommen werden. Die Unzufriedenheit ist begründet. Es fehlt den Kammern an demokratischer Legitimation. ({1}) Das betrifft sehr wohl auch die Wahlen, und das betrifft politische Äußerungen und Beschlussfassungen ohne Legitimation. Es fehlt den Kammern an Transparenz. Das betrifft vielfach Vorstandsgehälter, Pensionsansprüche und Rücklagen. Viele Pflichtmitglieder fühlen sich abgezockt. Es gibt hohe Gebühren, aber kaum Gegenleistungen. Auch die enormen Unterschiede zwischen den Beitragssätzen der verschiedenen Handwerkskammern sind unerträglich. Die Beiträge für die Betriebe müssen fair und transparent ausgestaltet werden. Kleinund Kleinstbetriebe gehören entlastet. ({2}) Dadurch würde die Selbstverwaltung im Handwerk mit ihrem Praxisbezug und ihrer Sach- und Fachkompetenz wieder besser legitimiert und akzeptiert werden. Außerdem: Die Situation vieler Handwerkerinnen und Handwerker ist nicht nur wegen der aufgezählten Defizite schwierig, sondern auch, weil sich die Leute vieles, was das Handwerk anbietet, nicht leisten können. Damit Handwerk goldenen Boden hat, braucht es deshalb den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro. Das fordert die Linke schon lange. Einen schwierigen Stand hat insgesamt die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU. Sie empfiehlt den Abgeordneten, bei den Abstimmungen über den Rettungsschirm mit Nein zu stimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke nimmt die Belange des Handwerks ernst. Stimmen Sie unseren Anträgen zu! ({3}) Evaluieren Sie die Handwerksnovelle! Demokratisieren Sie die Handwerkskammern! Machen Sie sie transparent! Kämpfen Sie für den Mindestlohn, und stimmen Sie morgen mit Nein bei den Gesetzespaketen zu dem Fiskalpakt und dem sogenannten Rettungsschirm! ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf darauf hinweisen, dass ich angesichts der fortschreitenden Zeit und des anstehenden Fußballspiels nicht mehr beabsichtige, irgendwelche Zwischenfragen zuzulassen. ({0}) Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Ernst Burgbacher. ({1})

Ernst Burgbacher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003063

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ja, der Mittelstand ist Stabilitätsanker und gleichzeitig Wachstumsmotor für die deutsche Wirtschaft. Frau Kollegin Strothmann hat das alles zutreffend geschildert. Der Mittelstand umfasst eine breite Palette vom Handwerk bis zum industriellen Mittelstand. Er ist stark durch Familienbetriebe geprägt. Das Ausland beneidet uns um diese Struktur. ({0}) Der Begriff „German Mittelstand“ ist zu einem stehenden Begriff geworden. Wir wollen diesen Begriff weltweit verbreiten. Ich möchte Ihnen die Mittelstandspolitik der Bundesregierung - ich habe nur drei Minuten - in drei Sätzen deutlich machen. Erstens. Wir stärken die Grundlagen des Erfolgsmodells „German Mittelstand“. Zweitens. Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik im Mittelstand. ({1}) Drittens. Wir begleiten den Mittelstand in die Zukunft. ({2}) Zum ersten Punkt: Wir stärken die Grundlagen des Erfolgsmodells „German Mittelstand“. Da ist zuallererst das Bankensystem zu erwähnen. Unser Bankensystem ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass wir diesen Mittelstand haben. Deshalb lassen wir daran nicht rütteln. ({3}) Wir haben uns im Zusammenhang mit Basel III erheblich engagiert. Wir sind einen gewaltigen Schritt weiter. Ich behaupte heute: Basel III wird mittelstandsfreundlich gestaltet sein. Auch das ist ein entscheidender Schritt. Wir lassen auch an der dualen Ausbildung nicht rütteln, im Gegenteil: Wir werden die duale Ausbildung noch viel stärker ausbauen und im Ausland dafür werben, weil die duale Ausbildung ein Glücksfall für unsere Wirtschaft ist. ({4}) Zum zweiten Punkt: Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik. Wir haben steuerliche Entlastungen zu Beginn der Legislaturperiode - Unternehmensteuer, Erbschaftsteuer - durchgesetzt. Wir wollen jetzt die kalte Progression angehen. Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie das im Bundesrat behindern, dann ist das geradezu ein Anschlag auf den Mittelstand; denn das hat gewaltige Auswirkungen auf die Unternehmer und die im Mittelstand Beschäftigten. Das nimmt ihnen die Motivation. Deshalb: Machen Sie endlich mit! ({5}) Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik, indem wir die Bürokratie abbauen. Bei der sogenannten Gelangensbestätigung haben wir Änderungen durchgesetzt; wir haben ihr eigentlich alle Giftzähne gezogen. ({6}) Die Aufbewahrungsfristen haben wir auf acht Jahre gesenkt, und wir werden sie auf sieben Jahre reduzieren für den Mittelstand einer der größten Erfolge überhaupt. Außerdem haben wir die elektronische Bilanz so verändert, dass sie für den Mittelstand nicht zu Bürokratieaufwuchs, sondern zu einem deutlichen Bürokratieabbau führt. Das ist konkrete Politik für den Mittelstand. ({7}) Zum dritten Punkt: Den Mittelstand in die Zukunft zu begleiten, bedeutet Innovation. Unser Flaggschiff ist das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand. Wir haben die Mittel auf 500 Millionen Euro erhöht. Außerdem fördern wir Gründungen, und zwar im Rahmen unserer Initiative „Gründerland Deutschland“. Darüber hinaus haben wir neue Wege geschaffen, an Wagniskapital zu kommen, sowohl mit dem High-Tech Gründerfonds als auch durch die steuerliche Unterstützung von Business Angels. Auch bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels sind wir aktiv. Ferner begleiten wir den Mittelstand auf dem Weg ins Ausland; dieser Schritt ist für uns ganz wesentlich. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich in allen Gesprächen, die ich mit Vertretern des Mittelstands führe, und bei all meinen sonstigen Kontakten immer wieder spüre: Der deutsche Mittelstand ist stolz darauf und glücklich darüber, eine Mittelstandsregierung an seiner Seite zu haben. Das wird so bleiben. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Thomas Gambke. Bitte schön, Kollege Dr. Gambke.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beim Thema Mittelstand ist eines, glaube ich, in diesem Hause unstrittig: seine große Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft, gerade in der jetzigen Situation. Da wir über den Mittelstand reden, möchte ich gerne zwei Themen ansprechen, die mir sehr wichtig erscheinen. Das erste Thema lautet Innovation. Beim Stichwort Innovation fällt mir als Erstes ein - vor allem, weil ich gerade Herrn Hinsken sehe -, was man nicht tun darf. Man darf keine Branchenförderung, die nicht der Innovation dient, betreiben. Ich meine, dass auch die Kollegen von der SPD noch einmal in sich gehen und überlegen sollten, ob die Kfz-Zulieferindustrie oder die Schiffbaubranche tatsächlich einer besonderen Förderung bedürfen. Aber eines ist sicher: Wenn diese Bereiche gefördert werden, dann muss es sich, bitte schön, um eine Förderung handeln, die der Innovation dient; es muss dabei also um die Entwicklung neuer Technologien und neuer Produkte gehen. Man darf aber nicht 1 Milliarde Euro für die Hotellerie zur Verfügung stellen. ({0}) - Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören. Herr Riesenhuber hat gleich die Gelegenheit, aus Worten Taten zu machen. Schließlich geht es um die steuerliche Forschungsförderung. Die steuerliche Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen kostet 1 Milliarde Euro pro Jahr - hat aber Rendite. Was haben Sie gemacht? Sie reden seit 20 Jahren über dieses Thema, haben aber nichts getan. Ich weiß, dass dieses Vorhaben insgesamt bis zu 4 Milliarden Euro kosten würde und wir dieses Geld nicht haben. Herr Riesenhuber, ich bin gespannt: nicht nur auf Ihre Worte, sondern auch auf Taten. Aber Taten lassen Sie, was die steuerliche Forschungsförderung anbelangt, leider vermissen. ({1}) Das zweite Thema, das ich im Zusammenhang mit dem Mittelstand ansprechen möchte, ist das Bohren dicker Bretter. Man braucht einen langen Atem, bis Unternehmen zu dem geworden sind, was wir als Hidden Champions, als heimliche Sieger, bezeichnen. Gemeint sind damit Unternehmen, die mit innovativen Produkten am Markt sind und im globalen Wettbewerb wichtige Positionen erobern. Diese Unternehmen brauchen, wie gesagt, einen langen Atem. Was benötigen sie dafür? Sie benötigen schlicht und einfach Geld: Geld, um die Entwicklung ihrer Produkte voranzutreiben, und Geld, um es sich erlauben zu können, auch einmal ein Tal zu durchschreiten. Das bedeutet, dass wir ihre Eigenkapitalbasis stärken müssen. An dieser Stelle muss ich sagen, meine Damen und Herren von der Koalition: Ich bin fast erschrocken, dass Sie dieses Thema in den fast drei Jahren Ihrer Regierungszeit noch nicht aufgegriffen haben. Mit der Abgeltungsteuer haben wir ein System geschaffen. Es hatte gute Gründe, warum man sich damals so entschieden hat. Aber dieses System hat auch Schwächen. Wie ist heute die Situation? Bei einer Entnahme von Gewinnen findet auf Ebene des Unternehmens eine Eigenkapitalbesteuerung statt, und zwar in Höhe von fast 50 Prozent. Kapitalrenditen hingegen werden mit 25 Prozent besteuert. Das ist keine nachhaltige Situation. Ich möchte Sie doch sehr bitten, diesen Punkt anzugehen. Das gilt auch hinsichtlich der Thesaurierung bei Personengesellschaften. Hier gibt es ein weites Feld. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Dazu habe ich nichts von Ihnen gehört. Das ist beschämend für zwei Fraktionen, die sich hier hinstellen und sagen: Wir wissen, was Mittelstand ist. ({2}) Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Der Mittelstand braucht Kontinuität; er braucht jemanden, der nachhaltig und berechenbar agiert. Das Bild, das Sie bei der EEG-Förderung durch kurzfristige rückwirkende Änderungen abgegeben haben, war beschämend. Herr Hinsken, Sie haben doch auch die Briefe und Stellungnahmen aus dem Bayerischen Wald bekommen. Sie sind hier von Ihren eigenen Ministerpräsidenten zurückgepfiffen worden. Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen, hier über den Mittelstand zu reden, wenn Sie das, was Sie sich hier als Regierungsfraktion geleistet haben, nicht endlich in Ordnung bringen. Herzlichen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Gambke. - Nächster Redner ist unser Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Heinz Riesenhuber. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Wicklein, es ist schon eindrucksvoll, dass Sie uns hier 186 Fragen gestellt haben. Einige davon sind schon andiskutiert worden, nämlich die Fragen zum Handwerk, zur Finanzierung und zu einer Reihe von anderen Punkten. Herr Gambke, ich freue mich, dass Sie den innovativen Mittelstand mit so fröhlichem Unternehmungsgeist ins Gespräch gebracht haben. ({0}) Der Herr Staatssekretär hat das hier auch beiläufig angesprochen; er hatte ja nur bescheidene drei Minuten. ({1}) Zur Sache. Wenn wir uns anschauen, wie sich der forschende Mittelstand in den vergangenen Jahren entwickelt hat, dann sehen wir, dass das eine Erfolgsgeschichte war. Die Bundesregierung hat die Aufwendungen für Forschung seit 2005 um über 50 Prozent erhöht. Die kleineren Unternehmen des Mittelstands haben ihre Aufwendungen für Forschung um 54 Prozent, die größeren um 42 Prozent erhöht. Die Wirtschaft insgesamt hat sie dagegen nur um 30 Prozent erhöht. Der Mittelstand ist mit Schwung im Bereich der Forschung tätig gewesen. Gut, wir haben mit einigen Programmen geholfen, zum Beispiel mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand, für das rund 500 Millionen Euro jährlich zur Verfügung stehen, und mit der Industriellen Gemeinschaftsforschung, für die wir die Mittel auf 135 Millionen Euro erhöht haben. Diese Gelder fließen auch und stehen nicht nur im Haushaltsplan, wie das in früheren Zeiten - ganz alte Leute erinnern sich noch an Bundeskanzler Schröder - geschehen ist. ({2}) Die Förderung erfolgt auf solide und gesunde Weise und geht von der Initiative KMU-innovativ des Forschungsministers bis hin zu den neuen Initiativen des Wirtschaftsministers im Rahmen seines Innovationskonzepts auch für Gründungen. Wir haben hier einiges getan. Der Witz ist aber, dass der Mittelstand gar keine Subventionen will. Der Mittelstand hält es schon für eine großartige Leistung des Staates, wenn er die Leute nicht mehr als nötig bei der Arbeit stört. ({3}) Deshalb haben wir für Bürokratieabbau gesorgt. Frau Wicklein, eine Ihrer Fragen war - ich habe die Fragen sorgfältig und mit Interesse gelesen; die Beamten, die ihre Sommerpause jetzt anders gestalten müssen, werden sie genauso neugierig lesen -, was für den Bürokratieabbau geschehen ist. Bis zum Jahresende werden wir die Bürokratiekosten um 25 Prozent abgebaut haben. Das entspricht ungefähr 12 Milliarden Euro. Das ist ein gewaltiger Betrag. Vor allem haben die Leute jetzt den Kopf frei für die Arbeit. ({4}) Herr Gambke hat hier zu Recht einige Punkte angemahnt, zum Beispiel die steuerliche Forschungsförderung. Ich gebe schon zu: Auch in der Großen Koalition haben wir das nicht geschafft, obwohl wir in herzlicher Eintracht darauf hingearbeitet haben. Wir haben gesagt: Sobald das mit dem Haushalt geht, werden wir das machen. So haben wir das auch beschlossen. Garrelt Duin, den wir hier verloren haben, ist inzwischen in einer anderen Funktion tätig. Wir hoffen sehr, dass er mit seiner ganzen Leidenschaft für die steuerliche Forschungsförderung auch im Bundesrat kämpfen wird, sodass wir den Bundesrat bei einer Steuerentlastung auf unserer Seite haben. Das wäre eine glanzvolle Leistung. ({5}) Das heißt, das Projekt ist ausdiskutiert, und zwar voller Harmonie. Wir müssen jetzt nur noch ein bisschen Geld beibringen; Sie haben die Größenordnung genannt. Es gibt noch andere Punkte, bei denen wir uns genau überlegen müssen, was wir mehr machen müssen. Frau Wicklein sprach von Unternehmensgründungen und Wagniskapital. Wir haben, was die staatsnahen Fonds angeht, eine großartige Landschaft. Es gibt kein anderes Land, das so viele Fonds hat: ERP/EIF-Dachfonds, den High-Tech Gründerfonds II, der mit der Industrie zusammen aufgelegt worden ist, das Programm EXIST. Wir haben den ERP-Startfonds der KfW. Wir haben eine ganz vielfältige großartige Landschaft. Aber was uns noch fehlt und woran wir arbeiten, ist die steuerliche Förderung von innovativen Unternehmensgründungen. Hierzu haben wir in der Großen Koalition, die es ja einmal gab - ich hoffe, Sie erinnern sich mit Wonne an diese beglückende Zeit -, ({6}) ein Gesetz beschlossen - MoRaKG hieß es; ich erläutere jetzt nicht, was es war -, das in Europa majestätisch an die Wand gefahren worden ist. Böse Zungen sagen, dass der Finanzminister es genauso gestrickt hat. Was wir jetzt machen müssen, ist, genau hier anzusetzen. Die Bundeskanzlerin hat einen großartigen Innovationsdialog mit Wissenschaft und Wirtschaft angelegt und empfohlen, dass genau diese Punkte in einem Bericht vorgelegt werden müssen, der übrigens, Herr Staatssekretär, fällig ist. Wir warten voller Neugier darauf. Darin geht es um steuerliche Transparenz für Wagniskapitalfonds, darum, wie man Managementleistungen in diesem Fonds besteuert, und um die Frage, wie man die Verlustvorträge behandelt, wenn der Mehrheitseigner in innovativen Unternehmen wechselt. Das heißt, es gibt konkrete Punkte. Lieber Herr Staatssekretär, ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, Ihnen den dringenden Wunsch des Parlaments zu Füßen zu legen, dass wir von der Bundesregierung entsprechend dem Innovationsdialog unserer Bundeskanzlerin konkrete, saubere, zukunftsführende Beschlüsse bekommen, die zu Dynamik führen und das flankieren, was man durch direkte Staatsfonds nicht erreicht. Ich sehe einem weiteren Punkt mit Neugierde entgegen. Es wird ja mit wachsender Leidenschaft die Frage nach innovationsfördernder öffentlicher Nachfrage gestellt. Wir haben nach großer Mühe ins Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geschrieben, dass nicht nur soziale und umweltfreundliche, sondern auch innovative Aspekte berücksichtigt werden sollen, wenn öffentliche Aufträge vergeben werden. Das scheint mir eine tolle Sache zu sein. Wenn beim Wirtschaftsministerium dazu Pilotprojekte laufen und die Europäische Union ihre Mitgliedsländer auffordert, dies zu verstärken, wenn von verschiedenen Seiten darauf gedrängt wird, die öffentliche Nachfrage zu nutzen, dann haben wir bei einem Volumen von 300 Milliarden im Jahr, selbst wenn nur 1 Prozent davon innovationsrelevant ist, etwas, was zieht. In den klassischen Bereichen der Förderung des innovativen Mittelstands sind wir sehr gut. Aber die Bereiche der steuerlichen Förderung von Unternehmensgründungen -

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Riesenhuber, wenn Sie immer vom Pult weggehen, dann sehen Sie ja nicht, dass die Anzeige leuchtet. Darauf möchte ich dringend hinweisen. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich lege am besten einen Zettel darauf; dann stört das nicht weiter. Aber ich bedanke mich für die Mahnung, Herr Präsident.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Es sollte auch ein Hinweis auf Ihre Redezeit sein.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich dachte, es ginge nur um das Optische. ({0}) Wir haben also eine Reihe von Punkten, wo wir unsere Möglichkeiten noch nicht uneingeschränkt ausgeschöpft haben. Wir streiten uns in anderen Punkten herzlich; aber im Bereich „Forschung und Mittelstand“ gibt es schon einige Übereinstimmungen. Wenn hier die derzeitige Opposition, die im Bundesrat immerhin ein gewisses Gewicht hat, mit der gleichen Leidenschaft dafür kämpft, dann bekommen wir eine Landschaft, in der die Leute glücklich sind, weil sie tun können, was sie wirklich tun wollen, ohne dass man sie behindert, weil sie etwas Neues aufbauen können, weil sie Schwung in unsere Arbeitswelt bringen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Professor, Vorlesungen kann man überziehen, Debatten im Bundestag weniger. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut. Ich nehme die Mahnung in Demut entgegen. Ich wünsche uns einen fröhlichen und entschlossenen Aufbruch mit einer Gemeinsamkeit für die Zukunft unseres tüchtigen innovativen Mittelstands. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber. - Als Nächste spricht unsere Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach diesem Vortrag über Herrn Riesenhubers schöne neue Welt fällt es einem schwer, wieder zur harten Realität zurückzukommen. ({0}) Man kann sich zwar auf den Lorbeeren ausruhen, aber man muss doch die Realität sehen. Frau Voß, gehört für Sie das Handwerk nicht zum Mittelstand? Wenn man Sie so hört, könnte man meinen, dass der Mittelstand ohne das Handwerk auskommt. Wo war da die Kritik? Wir in Baden-Württemberg gehen unter Grün-Rot beispielhaft voran. ({1}) Wir haben für das Handwerk das Tariftreuegesetz auf den Weg gebracht und gesagt: Ehrliche Handwerker, die einen ordentlichen Lohn bezahlen - ich weiß, das machen meine Handwerker in Baden-Württemberg -, profitieren davon. ({2}) Ja, die Lage ist gut. Wir haben gute Bedingungen, gute Beschäftigungszahlen und gute Umsätze. Wir haben auch eine gute Finanzierungslage. Allerdings lässt die Nachfrage bei Krediten aufgrund der Euro-Krise nach. Wir haben die Herausforderungen beschrieben: der Fachkräftebedarf und vor allem die Energiewende, die längst überfällig ist. Auch wenn die Stimmung sehr gut ist, muss man sich ansehen, wie sich die Kosten für Energie entwickeln; denn diese wollen wir im Griff haben. Deutsche Unternehmen brauchen Planungssicherheit, um weiterhin wettbewerbsfähig zu sein. Das gilt insbesondere für das Logistikgewerbe und das Verkehrsgewerbe. Da spielen die Energiekosten eine gewaltige Rolle. Die Bundesregierung hat sich gezwungenermaßen im vergangenen Jahr zur Energiewende entschlossen. Schade, dass Sie noch unentschieden sind, ob Sie nun backbord oder steuerbord segeln. Aber entscheiden Sie sich endlich, mit der Energiewende zu beginnen, und setzen Sie dafür die Segel. ({3}) Die Bewältigung der Energiewende ist eine der zentralen Herausforderungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Den Umbau der Energieversorgung schaffen wir nur mit dem Mittelstand als Produzent und Dienstleister. Der Mittelstand braucht gezielte Unterstützung innerhalb der Wachstumsfelder erneuerbare Energien, Energieeffizienz und nachhaltige Mobilität, um die neuen Entwicklungen aufzugreifen und die entsprechenden Marktchancen tatsächlich nutzen zu können. Aber die Bundesregierung hat weder einen Masterplan noch hat sie sich als Vorbild bei der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie erwiesen. Ihr EU-Kommissar hat darauf hingewiesen, dass es besser gewesen wäre, wenn diese Bundesregierung, was die Energieeffizienzrichtlinie angeht, gar nicht erst nach Brüssel gekommen wäre. Jetzt haben die Minister Rösler und Altmaier angekündigt, Mittelstand und Handwerk bei den Stromkosten zu entlasten. Das haben wir gehört; wir wollen aber auch Taten sehen. Die Energiewende ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen ein Monitoring, das die Preisentwicklung für Verbraucherinnen und Verbraucher und die Wirtschaft im Auge behalten wird. Die Preisentwicklung muss transparent und nachvollziehbar sein. ({4}) Bei der Diskussion über die Kosten darf man allerdings nicht aus dem Blick verlieren, dass die Energiewende für Unternehmen erhebliche Chancen darstellt. Wir benötigen in Deutschland eine Qualifikations- und Qualitätsoffensive. Nehmen Sie zum Beispiel den Bau- und Gebäudetechnikbereich. Sowohl bei der Verarbeitung als auch bei dem Einbau komplexer Energieeffizienzsysteme brauchen wir qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker. Deswegen müssen die Anforderungen frühzeitig in Aus- und Weiterbildung der entsprechenden Berufe einbezogen werden; dabei diskutieren wir nicht unbedingt über die Handwerksrolle. Das muss vorangebracht werden; sonst können wir das gar nicht bewältigen. ({5}) In Zusammenarbeit mit Sozialpartnern sind entsprechende Verordnungen zu überarbeiten. Wir brauchen auch Weiterbildungstarifverträge und Sozialpartnervereinbarungen. Es gibt noch andere Bereiche beim Thema Energie, wo der Mittelstand profitieren kann. Aber ich sehe, dass das Licht blinkt, Herr Präsident. Setzen Sie endlich die Segel, damit wir beim Mittelstand vorankommen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht dringend eine zukunftssichere und wettbewerbsgerechte Versorgung mit erneuerbarer Energie. Wenn Sie das auf den Weg bringen, dann sind wir mit Ihnen im Boot. Herzlichen Dank. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Nächste und letzte Rednerin in unserer Aussprache ist für die FDP-Fraktion unsere Kollegin Claudia Bögel. Bitte schön, Kollegin Claudia Bögel. ({0})

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mittelständische Unternehmen haben im Wesentlichen dazu beigetragen, Deutschland nach dieser Wirtschaftskrise wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Es gilt nun, diesen Erfolgskurs des Mittelstandes weiter zu festigen und die kleinen und mittleren Unternehmen in ihrer Leistungs- und Risikobereitschaft bestmöglich zu unterstützen. Die Regierung tut dies. Die Politik muss hierfür die richtigen Rahmenbedingungen setzen und diese auch kontinuierlich verbessern. So kann die mittelständische Wirtschaft ihr Entwicklungspotenzial, ihr Innovationspotenzial und ihre nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit entfalten. Zu drei wichtigen Themen möchte ich kurz Stellung nehmen - ich habe leider nicht sehr viel Redezeit -: Finanzierung, Fachkräftemangel und Innovationspotenzial. Ein zentrales Thema ist die Stabilisierung des EuroRaums. Mehrheitlich gehen die Exporte der mittelständischen Unternehmen in den europäischen Raum. Das muss beachtet werden. Denn so gut die Ideen und so motiviert die mittelständischen Unternehmer und ihre Mitarbeiter auch sind: Es gilt der Grundsatz „Ohne Moos nix los“. Die Unternehmensfinanzierung des Mittelstandes muss eine stabile und verlässliche Basis haben. ({0}) So sollte unsere Arbeit gezielt die neuen Regulierungen von Basel III berücksichtigen. Hier müssen wir darauf achten, dass diese für die Finanzierung des Mittelstandes nicht zur Gefahr werden. Die Neuregelung zur Eigenkapitalanforderung der Banken darf nicht zu einem Kollateralschaden bei der Kreditvergabe an mittelständische Unternehmen führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Unterzeichner der Großen Anfrage sehen eine Gefahr im demografischen Wandel und in dem damit einhergehenden Fachkräftemangel. Sehr richtig. Weil wir aber da sind, wo man uns braucht, wissen wir auch, dass die Unternehmen nicht unvorbereitet sind. Da kann ich nur aus dem Märchen von dem Hasen und dem Igel zitieren: „Ich bin schon da“. Noch wichtiger ist: Wir haben bereits reagiert. Nach dem bewährten Schema „Kräfte bündeln, um mehr Schlagkraft zu erhalten“ haben Wirtschaftsminister Dr. Rösler und Ministerin von der Leyen gemeinsam mit der Agentur für Arbeit die Fachkräfteoffensive, ein wirklich wunderbares Programm, gestartet. Die Priorität liegt bei der Information und Mobilisierung der Wirtschaft, der Arbeitskräfte und der Öffentlichkeit. ({1}) Der Mittelstand ist innovativ. Das ZIM, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, ist ein wachstumsorientiertes Programm, das sich auch in Krisenzeiten sehr bewährt hat. Der Mittelstand setzt darauf. So setzen wir uns zum Ziel, dieses bewährte Programm auch über 2013 hinaus fortzusetzen. In Ihrer Anfrage fordern Sie - wie sollte es auch anders sein? -, dass der Staat in die Unternehmensgeschicke eingreift, um mehr Frauen in mittelständische Unternehmen zu bekommen. Da haben wir es schon wieder: das Thema Frauenquote. Als mittelstandspolitische Sprecherin meiner Fraktion kann ich dazu nur sagen: Die Wirtschaft sollte die Entscheidung treffen, wen sie einstellt, und zwar nach Qualifikation. ({2}) Ohne weibliche Nachwuchs- und Führungskräfte geht es in Zukunft sowieso nicht mehr. Das hat der Mittelstand schon längst erkannt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie gerne Ihre Fragen. Unsere gute Regierung wird sie beantworten. ({3}) Ich freue mich, dass es unserer Wirtschaft so gut geht; denn nichts ist sozialer als ein Arbeitsplatz, und die meisten Arbeitsplätze bietet der Mittelstand. ({4}) Daher setzen wir alles daran, ebendiesen Mittelstand zu unterstützen. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Bögel. Wir sind nun am Ende der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Infolgedessen kann ich die Aussprache schließen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/5229, 17/9220 und 17/9221 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind alle damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Stephan Mayer ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela Piltz, Hartfrid Wolff ({1}), Manuel Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Stiftung Datenschutz - Ein wichtiger Baustein für modernen Datenschutz in Deutschland - Drucksache 17/10092 Gemeinsam wurde vereinbart, eine halbe Stunde für die Aussprache vorzusehen. Sind damit alle einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir das auch gemeinsam beschlossen. Erster Redner in dieser Aussprache ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder. Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schröder. ({2})

Dr. Ole Schröder (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003628

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir leben in einer Welt, in der die elektronische Datenverarbeitung immer wichtiger wird. Grundlegende Funktionen unserer Gesellschaft, zum Beispiel die Wertschöpfung, Infrastrukturen und Kommunikation, sind mittlerweile von der Digitalisierung erfasst. Wir profitieren von Innovationen in allen Lebensbereichen, die zum Teil erst durch die zunehmende Vernetzung und die Verfügbarkeit größerer Datenmengen ermöglicht werden. Die Digitalisierung bietet große Chancen und ist Motor für Innovationen. Ich denke dabei an den Energiesektor - CO2-Einsparungen werden durch Smart Grids ermöglicht -, den Gesundheitsbereich - dort sind große Innovationen für jeden Einzelnen möglich, aber auch Einsparungen - oder an den Bereich E-Government. Darüber hinaus hat die digitale Vernetzung großen Einfluss auf unsere Kommunikation. Ich denke in diesem Zusammenhang natürlich an die sozialen Netzwerke. Wir können über die Chancen der Digitalisierung natürlich nicht reden, ohne gleichzeitig die Risiken zu bedenken. Diese liegen auf der Hand, gerade im Bereich des Datenschutzes. Da es möglich ist, Daten für ungewollte Profilbildungen nutzbar zu machen, brauchen wir gute rechtliche Vorgaben, um die Menschen vor Datenmissbrauch zu schützen. Gerade die neue Datenschutzverordnung, über die auf europäischer Ebene verhandelt wird, eröffnet große Möglichkeiten. Wir, die Bundesregierung, unterstützen das. Wir brauchen ein einheitliches europäisches Datenschutzrecht. Wir wollen die Marktmacht von 500 Millionen Verbrauchern nutzen, um unsere hohen datenschutzrechtlichen Standards auch gegenüber Unternehmungen zur Anwendung zu bringen, die ihren Sitz nicht in Europa haben. Neben den rechtlichen Vorgaben kommt es im Bereich des Datenschutzes aber maßgeblich auf das Verhalten jedes Einzelnen an. Der Verbraucher selbst nimmt Einfluss auf den Umgang mit seinen Daten. Entscheidend ist, dass der Verbraucher um den Wert seiner Daten weiß und mit ihnen sensibel umgeht. Er sollte zum Beispiel bei der Auswahl einer Dienstleistung berücksichtigen, ob der Anbieter dieser Dienstleistung datenschutzfreundlich ist oder nicht. Gerade bei sozialen Netzwerken spielt es eine große Rolle, ob die Grundeinstellungen datenschutzfreundlich sind oder nicht. Um das selbst beurteilen zu können, brauchen die Verbraucher die erforderliche Aufklärung und das notwendige Fachwissen. Hier kommt die Stiftung Datenschutz ins Spiel. Diese von der Bundesregierung neu zu gründende Stiftung will den Verbraucher dabei unterstützen, seine Rechte, aber auch seine Verantwortung im Umgang mit eigenen wie mit fremden Daten besser wahrzunehmen. Die Stiftung kann durch Aufklärungskampagnen auf Gefahren hinweisen und praktische Tipps geben. Die Stiftung wird auch einzelne Produkte und Dienstleistungen auf ihre Datenschutzfreundlichkeit hin überprüfen. Sie wird Datenschutzauditverfahren entwickeln. Gegenstand eines derartigen Verfahrens sind beispielsweise die Anwendung datenschutzrechtlicher Regelungen in Unternehmen und ihre Weiterentwicklung in Best-PracticeVerfahren. Diese Datenschutzaudits können dann von anderen angewendet werden. So entsteht Innovation im Bereich des Datenschutzes. Um die Stiftung möglichst praxisnah und an den aktuellen Problemen im Bereich des Datenschutzes auszurichten, ist über den Beirat der Stiftung eine enge Zusammenarbeit mit der betroffenen Wirtschaft, mit staatlichen Stellen des Bundes und der Länder, aber auch mit sonstigen Stellen - wie zum Beispiel mit der Stiftung Warentest und dem Verbraucherschutz - vorgesehen. Meine Damen und Herren, die Stiftung Datenschutz steht momentan am Anfang. Der Bundestag hat im Haushalt 10 Millionen Euro Stiftungskapital zur Verfügung gestellt. Wir haben die Satzung intensiv - auch mit der Koalition - beraten. Die Stiftung soll in Leipzig eingerichtet werden. Ich glaube, dass die vorgesehenen Au22438 ditierungsverfahren und die Prüfung von Produkten und Dienstleistungen auf ihre Datenschutzfreundlichkeit hin insgesamt positive Effekte haben werden. Datenschutz wird immer mehr zu einem Qualitätsmerkmal von Unternehmen werden. Er wird sich auch immer stärker zu einem Wettbewerbsvorteil entwickeln. Die Verbraucher werden das hoffentlich immer stärker bei der Auswahl ihrer Produkte und ihrer Dienstleistungen berücksichtigen. Damit entsteht im Markt ein Wettbewerb für den besseren Datenschutz. Genau das soll diese Stiftung befördern. Wir setzen daher mit dieser Stiftung ein wichtiges Signal für eigenverantwortliches Handeln im Bereich des Datenschutzes. Ich bitte Sie alle, diese Stiftung bei ihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Ole Schröder. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Gerold Reichenbach. Bitte schön, Kollege Gerold Reichenbach. ({0})

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuschauer! Ihre Worte waren sehr hehr, Herr Staatssekretär. Allein die Praxis bei dieser Regierungskoalition sieht doch etwas anders aus. ({0}) Die heutige Debatte trägt den Titel „Stiftung Datenschutz“. Eigentlich müsste ein ehrlicher Titel heißen: Bei dieser schwarz-gelben Koalition geht Datenschutz stiften. ({1}) Sie haben mit großem Brimborium angekündigt: Datenschutz wird einer unserer Schwerpunkte. Die FDP hat sich sogar verstiegen, sich zu der Datenschutz- und Bürgerschutzpartei Deutschlands auszurufen. Was ist das Ergebnis? Außer Spesen nichts gewesen. ({2}) Dabei sind die Probleme im Bereich des Datenschutzes doch drängender denn je. Wir haben hier im Hause schon mehrmals darüber diskutiert. Es gab Datenschutzskandale bei Telekom und Bahn. Bei den sozialen Netzwerken Facebook und Google gab es Selbstherrlichkeit beim Einsammeln und Verwenden von Daten der Bürger. Der letzte Skandal war, dass die Schufa in den sozialen Netzwerken - sozusagen in den Fotokästchen der Bürger - nach unsolidem Lebenswandel forschen wollte, um herauszubekommen, ob sie denn weiter kreditwürdig sind. In diesem Zusammenhang könnte die Stiftung Datenschutz, richtig umgesetzt, durchaus ihren Beitrag leisten. Das könnte - Sie haben es gesagt - durch Aufklärung geschehen, aber auch durch Zertifizierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder kennt das Bermudadreieck, in dem Schiffe und Flieger verschwinden. Das Datenschutz-Bermudadreieck der Bundesrepublik Deutschland heißt Schwarz-Gelb. ({3}) Ich erinnere nur an die Nichtumsetzung der E-PrivacyRichtlinie und an die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, das schlicht und einfach nur an Wirtschaftsinteressen ausgerichtet war. Weiter erinnere ich an das Dauerthema Beschäftigtendatenschutz und an das groß angekündigte Rote-Linie-Gesetz, von dem man nichts mehr hört. Alles ist in den Strudeln des Koalitionsstreites und den Tiefen Ihrer Lobbyhörigkeit versunken. ({4}) - Frau Piltz, in diese Reihe fügt sich auch die endlose Story um Ihre Stiftung Datenschutz ein. Sie sollte eigentlich schon 2011 starten. Das Geld lag 2011 bereit. Man hat es in eine Treuhandstiftung überführt, damit es nicht verfällt. Dann hieß es: Die Stiftung ist spätestens bis spätestens Ende März 2012 betriebsbereit. Der März ist längst vorbei, wir haben nichts gesehen. Jetzt kommt der Antrag, und es heißt, dass es im Oktober passieren wird. Schauen wir uns einmal an, was die Koalitionsfraktionen nach all diesem Gerangel überhaupt vorgelegt haben. Offensichtlich hat es dazu geführt, dass Sie das Konstrukt, das Sie hier jetzt vorlegen, noch nicht mal mehr in der Öffentlichkeit diskutieren wollen. Das ist das erste Mal, dass hier ein Antrag zu so einer wichtigen Geschichte nur im Plenum diskutiert werden soll und nicht in die Ausschussberatung überwiesen werden soll, um dann dort auch einmal inhaltlich über das Konstrukt der Stiftung, über die Ausgestaltung reden zu können. ({5}) Es geht sogar noch ein Stückchen weiter. Sie sagen, Sie haben eine Satzung. - Dem Hause liegt die Satzung nicht vor. Was uns aber vorliegt, Frau Kollegin Piltz, ist die Ankündigung, dass Sie am Montag der Presse erläutern sollen, wie es mit dem Konstrukt, mit der Satzung und der Stiftung weitergeht. Okay, da könnte ich ja noch sagen, die FDP bereitet sich offensichtlich auf die Situation vor, dass sie in diesem Hause nicht mehr präsent ist und nichts mehr zu sagen hat. ({6}) Aber momentan sind Sie noch Abgeordnete im Deutschen Bundestag, und dann erwarten wir, dass Sie hier das diskutieren, was Sie in diesem Land politisch voranbringen wollen, und nicht am Montag gegenüber irgendeinem Pressegremium. ({7}) Wenn wir uns dann einmal die Struktur anschauen, dann sehen wir, dass Sie im Haushalt 10 Millionen Euro eingestellt haben. Das ist gemessen an dem, was auch der Staatssekretär eben an Auftrag vorgetragen hat, ein Tropfen auf den heißen Stein. Wie wollen Sie denn die Aufklärung der Verbraucher, die Förderung des Datenschutzbewusstseins, die Zusammenarbeit mit den Landesdatenschutzbeauftragten überhaupt finanzieren? Die Lösung ist klar: Das wird nur funktionieren, wenn die Wirtschaft, und zwar die betroffene Wirtschaft, einen großen Teil der Finanzierung übernimmt. Das trägt doch bereits den Keim des Scheiterns in sich. ({8}) Glauben Sie denn wirklich, dass die Wirtschaft ein Instrument der Aufklärung, ein Instrument der Zertifizierung finanzieren wird, das nicht ihren Bedürfnissen genügt? Wir haben doch genug Erfahrung mit all den Plaketten und Zertifizierungen, die in der Vergangenheit unter der Ägide der betroffenen Wirtschaft aufgelegt worden sind. Mal ehrlich, wer guckt beim Einkauf nach dem DLG-Siegel, wer guckt denn nach dem deutschen Weinsiegel? Der Grund ist, dass diese Siegel alle so abgeschliffen wurden, dass sie am Ende gar keine Aussagekraft mehr haben. Im Gegenteil! Beim deutschen Weinsiegel gab es ja einmal den Spruch - Sie erinnern sich an den ehemaligen CDU-Politiker Pieroth -: Wo ein Weinsiegel drauf ist, ist Glykol drin. ({9}) Ich prophezeie Ihnen, dass Sie mit diesem Konstrukt, auch mit der Stiftung Datenschutz, genau dahin geraten. ({10}) Gucken wir uns das Konstrukt an! Die Stiftung selber ist mit ihrem Verwaltungsrat eine reine Regierungsveranstaltung. Darin sitzen die Ministerien, nicht mal - wie ursprünglich geplant; wie von Ihnen, Frau Kollegin Piltz, groß vorgetragen - unabhängige Sachverständige, die die Garantie dafür geben, dass sie auch gegenüber der Öffentlichkeit als unabhängig gelten. Nein, rein Ministeriumsvertreter. Und wie sieht es in dem Beirat aus mit 25 Mitgliedern? Da kann man sich die Frage stellen: Ist der überhaupt arbeitsfähig? Allein 14 Wirtschaftsvertreter, noch einmal aufgestockt um 2. Die Zahl der BITKOM-Vertreter dort - das ist eindeutig ein Lobbyverband - hat sich verdoppelt. ({11}) - Ja, natürlich. - Die schreiben Ihnen jetzt sogar noch, dass das alles Murks ist, was Sie vorlegen. Die Verbraucherberatung, von der Sie sagen, Sie wollen sie mit einbeziehen, sagt: Das ist alles Murks. Die mittelständische Wirtschaft für die Datenverarbeitung, die Berliner Datenschutzrunde sagen: Das ist alles Murks. Das Ergebnis ist am Ende: Sie können noch nicht mal mehr sagen, wie das Ganze denn eigentlich mit in die Arbeit der Landesdatenschutzbeauftragten eingeordnet wird. Soll das dann ein Siegel sein, das da irgendwo den Datenschutzbeauftragten signalisiert: Ihr braucht bei uns nicht mehr nachzugucken? So nach dem Motto, im Mittelalter hat man Krähen an die Tür genagelt, damit die Geister vom Hof fernbleiben. Sie nutzen dann Ihr Zertifizierungssiegel, um die Datenschutzbeauftragten fernzuhalten? Das wird nicht funktionieren, wenn die Standards nicht auch so gesetzt sind, dass die Datenschutzbeauftragten sagen können: Das ist ein gewisser Qualitätshinweis. - Das werden Sie mit dieser Konstruktion des Beirats, in dem die Wirtschaft vorherrscht, nicht hinbekommen. Deswegen sage ich am Ende: Setzen Sie sich endlich für einen ernsthaften Daten- und Verbraucherschutz ein, und legen Sie ein abgestimmtes Konzept vor, bei dem die zügige Errichtung einer unabhängigen Stiftung, einer wirklich unabhängigen Stiftung, integraler Bestandteil ist! Den Antrag, den Sie hier in dieser Fassung vorgelegt haben, werden wir nicht nur deswegen ablehnen, weil Sie sogar die Debatte in den Ausschüssen scheuen, sondern wir werden ihn ablehnen, weil dieser Antrag schlicht und einfach nichts mit Daten- und Verbraucherschutz zu tun hat. Das, was Sie hier vorlegen, ist schlicht und einfach Murks. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für Liberale ist der zentrale Grundsatz des Datenschutzes, dass mündige Bürgerinnen und Bürger selbst darüber entscheiden, welche persönlichen Daten über sie bekannt werden. Als mündige Bürgerin mache ich heute von mir selbst öffentlich in Wort und Bild bekannt: Ich bin Fortuna-Düsseldorf-Fan. Ich freue mich, wenn ich das hier sagen darf, dass meine Mannschaft in die erste Liga aufgestiegen ist. Um im Bild zu bleiben: In die erste Liga steigt jetzt auch der Datenschutz auf; ({0}) denn die Stiftung Datenschutz wird bis Oktober dieses Jahres errichtet sein. ({1}) Wir setzen mit der Errichtung dieser Stiftung den Koalitionsvertrag um, und das ist - das bekennen wir ein Herzensanliegen der Liberalen gewesen. Es ist so, dass Datenschutz ein gesellschaftlich wirklich wichtiges Thema geworden ist. Das war nicht immer so; aber das hat sich Gott sei Dank geändert. Deshalb ist es folgerichtig, dass dies von der Bundesregierung mit einem neuen Instrumentarium begleitet wird. Herr Kollege Reichenbach, wenn ich Reaktionen wie die von Ihnen höre, dann habe ich den Eindruck: Sie sind eigentlich bloß neidisch, weil Sie es nicht geschafft haben. ({2}) Ganz ehrlich: Wie Sie sich hier als jemand verhalten, der aus der Partei Otto Schilys kommt! Er hat Daten über Daten gesammelt, mit jedem ausgetauscht, ohne Kontrolle. Angesichts dessen wäre ich hier einmal ein bisschen demütiger. Wenn Sie hier eine Geschichtsvorlesung durchführen wollen, dann fühle ich mich herausgefordert, mit Ihnen einmal über die Beteiligung der Wirtschaft an der Finanzierung der „Plattform Ernährung und Bewegung“ zur Vorbeugung von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen für dicke Kinder zu reden; diese Plattform haben Sie, Rot und Grün, eingeführt. Auch diesbezüglich können wir uns überlegen, ob das sinnvoll ist. ({3}) Wenn Sie Bundestrainer wären - um in meinem Bild zu bleiben -, dann würden Sie die Taktik so zerreden, dass am Ende auch die beste Mannschaft verliert. ({4}) So sieht es bei Ihnen mit dem Datenschutz aus. Da ist Ihnen nicht zu helfen. Die Geschichte ist so: In Ihrer Regierungszeit ist der Datenschutz Stück für Stück in unergründlichen Tiefen verschwunden. Ja, ich bekenne: Es hat lange gedauert und für meine Fraktion manchmal auch zu lange. Aber der Unterschied ist: Wir schaffen das jetzt. Sie hätten es nie geschafft. ({5}) Auch der Kollege von Notz hat sich schon öffentlich beklagt, diese Stiftung sei nur ein zahnloser Tiger. ({6}) Ich darf nur daran erinnern, wie die Grünen 1998 und 2002 beim Datenschutz den Menschen weismachen wollten, sie starteten als Tiger. - Und sie sind doch nur als Bettvorleger gelandet. ({7}) Sie wollten doch tatsächlich 2002 in Ihrer Koalition - das muss ich vorlesen, weil es so wunderbar ist - prüfen, wie durch die von Ihnen verlangte Stärkung „selbstregulativer Modelle“ beim Datenschutz mittels moderner Kommunikation eine „institutionalisierte Plattform zur Koordination“ geschaffen werden könne. Dennoch werfen Sie uns jetzt vor, eine Stiftung Datenschutz gründen zu wollen. Das müssen Sie einmal irgendjemandem erklären. ({8}) Wir stärken mit der Stiftung Datenschutz den Ansatz in der Informationsgesellschaft, der Dreh- und Angelpunkt des Datenschutzes ist: Eigenverantwortung des Einzelnen, also Selbstdatenschutz, und Verantwortung der Wirtschaft für den Umgang mit den Daten, die ihr anvertraut wurden. Wir setzen damit einen Kontrapunkt zu denen - auch das ist ein Zeichen -, die meinen, Bevormundung sei der beste Weg, die den Datenschutz als Schutz des Menschen vor sich selbst verstehen. Diese Stiftung hat die Aufgabe, den Selbstdatenschutz zu verbessern und Aufklärung zu leisten. Datenschutz ist heute nicht nur die Summe aller Hoheitsakte, sondern aktive Gestaltung der Umgangsformen in der Informationsgesellschaft. Datenschutz ist aber auch ein Qualitätsmerkmal für die Wirtschaft. Das, was Sie hier so heruntergeredet haben, Herr Kollege, ist ein wichtiger Aspekt dieser Stiftung. Die Firmen, die in den letzten Jahren durch Skandale aufgefallen sind, haben das leidvoll erfahren: Ihnen sind Kunden von der Fahne gegangen, und ihr Image hat gelitten, als man mit den Kundendaten nicht ordentlich umgegangen ist. Ich glaube, dass die Entwicklung eines Datenschutzgütesiegels ein wichtiger Schritt auf dem Weg des Datenschutzes ist. Wenn andere Siegel nicht funktionieren, dann mag das so sein. Aber etwas nur deswegen kaputtzureden, weil es nicht von Ihnen kommt, ist wirklich der falsche Weg. ({9}) Es soll nicht so sein, dass diese Stiftung das Siegel selber vergibt; vielmehr sollen dadurch die Standards festgelegt werden. Natürlich werden wir den TÜV und die Datenschutzbeauftragten einbeziehen. Aber, Herr Kollege, nennen Sie mir einen Datenschutzstandard, ein Datenschutzsiegel, das es heute schon gibt und mit dem Verbraucher etwas anfangen können. Das gibt es nicht. Das ist ein Versäumnis, und das werden wir jetzt beenden. Für das Vertrauen in die Stiftung ist ihre Unabhängigkeit von entscheidender Bedeutung. Die nun vorliegende Satzung bietet der Stiftung den Rahmen dafür. Herr Kollege Reichenbach, für Sie ein bisschen Nachhilfe in Sachen Geschäftsordnung. Ich verstehe, dass Sie nach dem, was Sie hier geboten haben, jetzt keinen Bock mehr haben, mir zuzuhören und mich anzugucken. Aber eines muss ich Ihnen noch sagen: Wenn Sie glauben, das hier sei keine öffentliche Debatte, dann drehen Sie sich einmal um und schauen Sie nach oben, auf die Besuchertribüne. Das hier ist eine öffentliche Debatte; in einem Ausschuss wird nichtöffentlich debattiert. Die Damen und Herren da oben, die unserer Debatte heute freundlicherweise folgen können, können das im Ausschuss nicht. Wenn Sie das nicht wissen, gebe ich Ihnen gerne einmal privat Nachhilfe. ({10}) Offensichtlich haben Sie es nötig, wenn Sie nicht wissen, was öffentlich und nichtöffentlich ist. ({11}) Wir glauben, dass dies für den Datenschutz ein guter Anfang ist. Der Beirat bindet viele Akteure ein, vielleicht manchmal auch zu viele; aber am Ende des Tages wird sich auch das regeln. Wenn ich zum Schluss in meinem heutigen Bild bleiben darf: ({12}) Wie eine Fußballmannschaft braucht auch die Stiftung Datenschutz Rückenwind und Begeisterung von denen, die Fans des Datenschutzes sind. ({13}) - Herr Korte, wenn Sie nicht so nette Reden halten können, kann ich Ihnen nicht helfen. - Der Fanblock ({14}) ist heute rechts von mir. Bei den Fans bedanke ich mich ganz herzlich. Eine La Ola nehme ich gerne entgegen. Ich hoffe, dass sich vielleicht der Fanblock links von mir irgendwann einmal einen Datenschutz-Fanschal umlegen kann, um gemeinsam daran zu arbeiten, dass die Stiftung ein Erfolg wird und dass Datenschutz in Deutschland ein besseres Image erhält als bisher. Vielen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Piltz, damit wir uns nicht missverstehen: Die leidvollen Geräusche, die ich eben machte, hatten etwas mit den eben von Ihnen vorgetragenen Logiksaltos zu tun, die wirklich auch körperlich kaum zu ertragen sind; ({0}) das hatte nichts mit Begeisterung zu tun. Ich will trotz des dahingekritzelten Antrags versuchen, ein wenig Seriosität in die Debatte zu bringen. ({1}) - Hören Sie doch einmal zu. - Sie hatten vor langer Zeit bei diesem Thema überraschenderweise eine mittelgute Idee: die Errichtung der Stiftung Datenschutz. Das ist erst einmal sachlich festzustellen. Es hätte Potenzial gehabt, daraus etwas Sinnvolles zu machen. Hätten Sie die Opposition, die Ausschüsse und diejenigen, die davon Ahnung haben, einmal eingebunden, ({2}) dann hätten Sie heute nicht so einen Wisch vorlegen müssen. Jetzt liegt hier dieses dahingekritzelte Ding, das Sie hier unbedingt noch heute, vor der Sommerpause, durchbringen müssen, damit Sie in diesem Bereich überhaupt auch nur einen Punkt durchbringen. Ansonsten haben Sie ja nichts durchgebracht; Sie haben voll versagt. Deswegen wird das jetzt hier eben einmal auf den Tisch geknallt. Ich will Ihnen aber sagen, inwiefern von Ihnen aus einer guten Idee eine bemerkenswert schlechte Sache gemacht wird. Das ist bei der FDP zwar nicht überraschend; aber man hätte uns ja einmal überraschen können. ({3}) - Der Kalaueranführer ist Ihr Fraktionsvorsitzender. Da kann keiner mithalten; den haben Sie. ({4}) Erstens. Die Stiftung ist massiv unterfinanziert. So kann man überhaupt keine seriöse Zertifizierung und anderes vornehmen. ({5}) Zweitens. Ein aktiver und aufklärerischer Datenschutz - das ist die Grundregel - muss unabhängig sein. Das, was Sie machen, ist alles, nur nicht unabhängig. Ein Gutes hat der Antrag: Damit die Leute, die es sich antun, den Antrag zu lesen, es sofort begreifen, heißt es in Ihrem Antrag zum Thema Unabhängigkeit, dass man sich „gemeinsam mit der Wirtschaft für eine ausreichende finanzielle Basis der Stiftung einsetzen“ will. Das schreiben Sie da sogar hinein. Das hat doch nichts mit Unabhängigkeit zu tun; das ist eine Gefälligkeitsstiftung der Konzerne. Das machen Sie, und nichts anderes. ({6}) Es ist wirklich nur absurd, was Sie hier vorlegen. ({7}) Drittens. Sie besetzen alle möglichen Gremien, und die Mitglieder werden vom BMI ausgesucht. Wir wissen doch: Wenn der Datenschutz beim BMI - bei Friedrich, bei Schily oder wie sie alle heißen - angesiedelt ist, ist das schlecht für den Datenschutz. Das hat die Geschichte doch bewiesen. ({8}) Es ist einfach nur grotesk, was Sie hier vorlegen. Viertens. Mit der Stiftung Datenschutz - das ist nicht mal im Ansatz mehr witzig - lenken Sie von einer prekären Unterfinanzierung der Landes- und Bundesdatenschutzbehörden ab, die ihren Aufgaben nicht nachkommen können, weil sie dafür kein Personal haben. Damit lenken Sie ab. Fünftens. Die Stiftung Datenschutz ist das einzige Projekt, das die FDP in diesem Bereich überhaupt durchgesetzt hat. Mich interessiert eines - der Kollege Mayer kann das für die Koalitionsfraktionen sagen -: In der ersten Fassung für die heutige Tagesordnung stand der Tagesordnungspunkt Arbeitnehmerdatenschutz. Wir haben uns gefreut, diesen Tagesordnungspunkt in der Debatte argumentativ zu versenken. Dann ist es ganz interessant gewesen: Man reist aus dem Wahlkreis an, und der Tagesordnungspunkt ist von der Tagesordnung verschwunden. Vielleicht können Sie, Kollege Mayer, uns einmal über den Grund aufklären; denn statt so eine komische Stiftung zu installieren, wäre es für den Datenschutz, vor allem für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das Wichtigste gewesen, dies hier durchzusetzen. Von Ihnen kommt gar nichts; denn Sie sind den Unternehmerinteressen verpflichtet und nicht dem Datenschutz der Beschäftigten. So sieht es aus. ({9}) Deswegen fasse ich zusammen: Wir werden mit voller Begeisterung diesen Antrag ablehnen. ({10}) Wir finden das ganze Verfahren reichlich bizarr. Sie haben nicht einmal den Mumm, über dieses Thema mit den Fachleuten im Ausschuss und in einer Anhörung zu diskutieren. Ich finde, das ist eine schwache Performance, die Sie liefern. ({11}) Deswegen steht die Linke, im Gegensatz zu Ihnen, für einen unabhängigen und kritischen Datenschutz, der zuerst und in besonderer Weise den Schwächeren in dieser Gesellschaft ein demokratisches Instrument gegen die Wirtschaft, gegen die Mächtigen und auch gegen Sie in die Hand geben sollte. Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab. Schönen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nun das Wort.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als man vor nunmehr drei Jahren im Koalitionsvertrag das Kapitel über den Datenschutz erstmalig las, konnte man für den Datenschutz vorsichtig optimistisch sein. Wir haben diese Absichtserklärungen damals durchaus anerkannt und unsere konstruktive Unterstützung zugesagt. In der langen, langen Zeit des Wartens auf Konkretes haben wir immer wieder gesagt: Eine Stiftung könnte zweifellos ein wichtiges Projekt für einen besseren Datenschutz sein. Aber das, was Sie hier heute unter dem Label der Stiftung vorlegen, ist einfach zu wenig. ({0}) Man hat sich ja damit abgefunden, dass Sie die notwendige Reform des BDSG sträflich liegen gelassen haben. Frustriert sahen wir uns gezwungen, Ihre Arbeit zu erledigen, und ein eigenes, tragfähiges Beschäftigtendatenschutzgesetz vorzulegen. Wir beobachten derzeit, Herr Staatssekretär Schröder, wie das Innenministerium den Prozess der Schaffung eines effektiven europäischen Datenschutzrahmens eher zu hintertreiben scheint. Das ist etwas ganz anderes, als Sie es eben gesagt haben. ({1}) Die Stiftung war Ihr letztes Feigenblatt. Nach der Vorlage Ihres heutigen Entwurfs stehen Sie nun endgültig datenschutzrechtlich nackt im Wind, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Der Reformbedarf ist unbestritten hoch. Ähnlich wie beim Urheberrecht ist der Datenschutz durch Digitalisierung und Internet zu einem zentralen gesellschaftspolitischen Thema geworden, das die Bürgerinnen und Bürger praktisch täglich betrifft. Das in Deutschland bestehende unabhängige Datenschutzsystem und das zugrunde liegende Ordnungsrecht haben sich grundsätzlich bewährt. Aber angesichts einer technologisch höchst dynamischen Entwicklung muss auch der Datenschutz dynamisch weiterentwickelt werden. Im Hinblick auf das wichtige Ziel der Vergabe von Gütesiegeln hätte eine starke, eine unabhängige Stiftung Datenschutz eine wertvolle Ergänzung der bestehenden Strukturen sein können, Frau Kollegin Piltz. Wir brauchen neue Instrumente der Steuerung und einen Mehrebenenansatz, auch um zusätzliche Anreize für ein höheres Datenschutzniveau zu schaffen. Was Sie uns aber hier als unabhängige Stiftung verkaufen wollen, ist nichts anderes als eine winzige Außenstelle des BMI, des Innenministeriums, das in letzter Zeit in diesem Bereich nur dadurch auf sich aufmerksam gemacht hat, dass es den Datenschutz ganz neu denken möchte. Ich sage Ihnen: Die zwei Angestellten - von diesen Geldern können Sie nämlich nur zwei Angestellte finanzieren - werden im Wesentlichen damit beschäftigt sein, die Sitzungen des halbjährlich stattfindenden Wirtschaftsrats zu organisieren. Das ist keine effektive Datenschutzpolitik, Frau Kollegin Piltz; das ist auch nicht der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den WirtDr. Konstantin von Notz schafts- und Bürgerrechtsflügeln dieser schwarz-gelben Koalition, sondern das ist das Zeugnis Ihres kläglichen Versagens im Bereich Datenschutz in dieser Legislaturperiode. ({2}) Die Währung des Datenschutzes ist Vertrauen. Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die Wirtschaft, die endlich einen verbindlichen Rahmen für Innovations- und Investitionssicherheit braucht. Doch nur unabhängige Institutionen verdienen Vertrauen. Ihre Stiftung aber wird einseitig von der Exekutiven beherrscht. Das BMI allein dominiert Vorstand und Verwaltungsrat nach Belieben, Frau Piltz. ({3}) Das kann doch nicht allen Ernstes Ihr Ansatz sein! Der Beirat ist so wirtschaftslastig, dass von einer paritätischen Besetzung kaum gesprochen werden kann. Ihr Versuch, das BMI als Türöffner zu nutzen, um die Wirtschaft auf Augenhöhe mit den Aufsichtsbehörden an einen Tisch zu setzen, verdient kein Vertrauen, ganz im Gegenteil. Ihr Vorgehen nährt den Verdacht, dass Sie ein U-Boot in das bestehende Aufsichtssystem integrieren wollen. Das ist mit uns nicht zu machen. ({4}) Zu guter Letzt: Mit dem, was Sie hier heute vorgelegt haben, beschädigen Sie die grundsätzlich gute Idee einer Stiftung Datenschutz. Das ist auch der Grund, warum sich nicht nur die bösen Grünen und der Rest der bösen Opposition diesem Vorhaben entgegenstellen, sondern auch die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, die Verbraucherzentralen und die Berliner Datenschutzrunde. Sie alle fordern: Keine Zustimmung des Bundestages zu dieser Vorlage. Denn das, was Sie hier vorhaben, hat ein sehr viel höheres Schadenspotenzial, als dass es nützt. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Stephan Mayer das Wort. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Vor Beginn dieser Debatte dachte ich eigentlich, dass sie relativ ruhig, unaufgeregt und sachlich verlaufen würde. Denn an sich teilen wir doch ein Ziel: Wir wollen den Datenschutz in Deutschland verbessern, ({0}) wir wollen den Datenschutz hier im Hause voranbringen und insgesamt mehr für den Datenschutz tun. Dass diese Debatte dann doch so aufgeregt und keifend verlief, ({1}) insbesondere seitens der Beiträge der Oppositionsvertreter, erweckt bei mir schon den Eindruck, dass Sie einfach nur sauer und bekümmert sind, dass Sie es nicht geschafft haben. ({2}) Wir sind jetzt so weit: Wir gründen die Stiftung Datenschutz. Diese Stiftung wird einen wichtigen Baustein für ein modernes Datenschutzrecht in Deutschland darstellen. ({3}) Als ich vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, fristete der Datenschutz noch ein stiefmütterliches Dasein - hier im Bundestag, aber auch insgesamt in Deutschland. Man muss sagen: In den letzten zehn Jahren hat sich viel getan. ({4}) Der Datenschutz ist mittlerweile ein Querschnittsthema, das alle Politikbereiche betrifft. Es gibt fast keinen Politikbereich mehr, in dem der Datenschutz keine Rolle spielt. Das ist an sich gut so. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass es erheblichen Verbesserungsbedarf gibt. Das gilt teilweise für den Bereich Recht; das ist richtig. Das Bundesdatenschutzgesetz ist zu alt; es ist in die Jahre gekommen und bedarf einer Novellierung. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben aber auch gezeigt: Es gab immer wieder - teilweise sehr unschöne - Ereignisse, die die Notwendigkeit offenbart haben, in Deutschland mehr für die Aufklärung und die Bildung unserer Bevölkerung - vor allen Dingen der jungen Bevölkerung - in Sachen Datenschutz zu tun. Ich möchte offen sagen: Der beste Datenschutz ist der Selbstdatenschutz; das heißt, dass die Bürgerinnen und Bürger selbstverantwortlich und sensibel mit ihren personenbezogenen Daten umgehen. ({5}) Konkret in diesem Zusammenhang verspreche ich mir viel von der neuen Stiftung Datenschutz. ({6}) Stephan Mayer ({7}) Diese Stiftung wird in Zusammenarbeit mit den Ländern die Bildung und die Aufklärung verbessern. Die Länder als diejenigen mit der Kompetenz im Bereich der Bildungspolitik sind hier natürlich an erster Stelle gefordert. Der große Charme und der große Mehrwert dieser Stiftung Datenschutz liegen aus meiner Sicht darin begründet, dass sie die erste konzertierte Stelle in ganz Deutschland ist, die die notwendige Bildungs- und Aufklärungsarbeit zusammenführen kann. Ich persönlich verspreche mir davon, dass die Stiftung Datenschutz in wenigen Jahren eine ähnlich hohe Reputation genießt wie beispielsweise die Stiftung Warentest. Ein weiterer wichtiger Zweck wird die Schaffung und Entwicklung eines bundesweit anerkannten Datenschutzaudits durch die Stiftung sein, darüber hinaus ein Verfahren zur Vergabe von Datenschutzgütesiegeln sowie die Entwicklung eines Gütesiegels. ({8}) Dabei wird es ganz entscheidend darauf ankommen, mit kompetenten Partnern von dritter Seite entsprechend zusammenzuarbeiten. Meines Erachtens steckt in diesem Gütesiegel eine große und nicht zu unterschätzende Chance für Unternehmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in wenigen Jahren für Unternehmen ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein wird, wenn sie damit werben können, dass sie nicht nur das schon geltende Datenschutzrecht einhalten, sondern dass sie darüber hinaus überobligatorisch hohe Datenschutzstandards erfüllen, eben offenkundig vermittelt durch das Datenschutzsiegel. ({9}) Es gilt, die Datenschutzsicherheit zu erhöhen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das nicht nur ein Thema für Onlinedienstleistungen ist. Datenschutz ist mittlerweile ein so allumfassendes Thema, dass es sich aus meiner Sicht kein Unternehmen - und sei es auch noch so klein und egal in welcher Branche angesiedelt - leisten kann, sich dem Thema Datenschutz nicht anzunehmen. Wir in Deutschland müssen darauf achten, dass die Stiftung Datenschutz nicht zu einer 18. Datenschutzbehörde verkommt. Vor diesem Hintergrund muss uns klar sein: Die Satzung bildet einen Rahmen, den wir in den nächsten Monaten entsprechend ausfüllen müssen. Aus meiner Sicht kommt es entscheidend darauf an, dass wir bei der Besetzung des Vorstandspostens die richtige Person finden. ({10}) Dieser Entscheidung muss sehr große Aufmerksamkeit beigemessen werden, damit wir die richtige Persönlichkeit finden. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass dem Beirat eine wichtige Funktion bei der Arbeit zukommen wird. Herr Kollege Korte, ich teile Ihre Meinung nicht, dass es sich nur um eine Gefälligkeitsstiftung handelt. ({11}) Ich glaube, der große Mehrwert der Stiftung liegt darin, dass durch einen sehr breit aufgestellten Beirat - dazu gehört nun einmal auch die Wirtschaft, weil sie in diesem Bereich unser erster Ansprechpartner ist ({12}) alle möglichen gesellschaftlich relevanten Gruppierungen umfasst werden: der Verbraucherschutz, ({13}) die Verwaltung, aber auch die Wirtschaft. Eben ist die in einer Pressemitteilung der Verbraucherzentrale Bundesverband geäußerte Kritik angesprochen worden. In dieser Pressemitteilung offenbart sich ein eklatanter Widerspruch. Einerseits wird bemängelt, dass die Finanzierung der Stiftung nicht ausreicht, um die große Aufgabenfülle zu bewältigen, andererseits wird im nächsten Satz kritisiert, dass die Aufgabenbeschreibung, der Zweck der Stiftung viel zu vage formuliert seien. Beide Aspekte passen aber nicht zusammen. ({14}) Wir als Bundesgesetzgeber und auch als Haushaltsgesetzgeber können stolz darauf sein, dass wir 10 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um die Stiftung ins Leben zu rufen. Natürlich muss uns auch klar sein: Die 10 Millionen Euro werden nicht reichen. Die Stiftung wird Drittmittel benötigen, um effektiv arbeiten zu können. ({15}) Ich sage Ihnen ganz offen: Ich erwarte von der Wirtschaft einen konstruktiven Beitrag. Die Stiftung Datenschutz kann viel bewirken. Sie ist eine gute Sache. Die Wortmeldungen seitens der Opposition haben mich ehrlich gesagt in meiner Auffassung bestärkt, dass die Stiftung der richtige Schritt hin zu einem modernen und effektiven Datenschutz in der Zukunft ist. Sie sind einfach nur beleidigt, dass Ihnen das nicht eingefallen ist, dass Sie das in Ihrer Amtszeit nicht geschafft haben. ({16}) In diesem Sinne hoffe ich auf eine möglichst breite Zustimmung in diesem Hause. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Petra Pau Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/10092 mit dem Titel „Stiftung Datenschutz - Ein wichtiger Baustein für modernen Datenschutz in Deutschland“. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Abstimmung in der Sache. Die Fraktion Die Linke wünscht Überweisung an den Innenausschuss. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Überweisung abgelehnt. Wir kommen daher zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 17/10092. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Dr. Bärbel Kofler, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zukunft des „Energie- und Klimafonds“ und der durch ihn finanzierten Programme - Drucksache 17/10088 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben1). Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10088 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes - Drucksache 17/8799 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 17/10160 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Ingo Egloff Christian Ahrendt Jens Petermann Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben2). Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10160, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8799 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Schließung des einzigen deutschen Schienenherstellers TSTG Schienen Technik in Duisburg - Übernahme des Unternehmens durch die Deutsche Bahn AG - Drucksache 17/9581 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Federführung strittig Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). - Ich höre keinen Widerspruch. Dann geschieht das so. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9581 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirt- schaft und Technologie. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überwei- sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion 1) Anlage 13 2) Anlage 14 3) Anlage 15 Vizepräsidentin Petra Pau und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Opposi- tion abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Tech- nologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- schlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2013 - Drucksache 17/10000 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Landwirtschaftsbetriebe ermöglichen - Drucksache 17/10099 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch hier die Reden zu Protokoll genommen.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten heute in erster Lesung das Jahressteuergesetz 2013. Traditionsgerecht werden mit dem Jahressteuergesetz überwiegend steuertechnische Anpassungen vorgenommen, welche sich im Laufe eines Jahres aus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben oder aus Anregungen von Verwaltung und Verbänden ergaben. Wir haben über einen Gesetzentwurf im Umfang von 155 Seiten mit mehr als 200 steuerrechtlichen Änderungen zu beraten. Auch wenn die Mehrzahl der Änderungen nur technischer Natur ist, enthält dieser Gesetzentwurf eine Reihe von bedeutenden Regelungen. Hierzu gehört zweifelsohne die weiter bestehende Steuerfreiheit für den Grundsold der freiwillig Wehrdienst bzw. freiwillig Wehrübungen Leistenden, während alle weiteren Bezüge - Zuschläge, unentgeltliche Unterkunft und Verpflegung etc. - zukünftig steuerpflichtig sein sollen. Der Steuerpflicht auf die weiteren Bezugsbestandteile müssen wir im Laufe der Beratungen besondere Beachtung schenken. Hier sollten wir genau prüfen, ob eine Steuerpflichtigkeit nicht zu einem überbordenden Bürokratismus bei der Truppe und daneben zu einem erheblichen Vollzugsaufwand bei den Finanzämtern führt. Ich finde es konsequent und richtig, dass aus Billigkeitserwägungen auch das für den Bundesfreiwilligendienst gezahlte Taschengeld für den Bundesfreiwilligendienst steuerfrei belassen wird. Wer sich außerhalb von Beruf und Schule für das Allgemeinwohl im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich oder im Bereich des Sports, der Integration sowie im Zivil- und Katastrophenschutz engagiert, soll das ihm von der Einsatzstelle gewährte Taschengeld von derzeit maximal 336 Euro monatlich nicht auch noch versteuern müssen. In den meisten Fällen würde es aufgrund fehlender anderweitiger Einkünfte eh nicht zu einer Steuerpflicht kommen. Bedeutsam ist auch die zukünftige Zuordnung der ersten sechs Monate des freiwilligen Wehrdienstes zu den Tatbeständen der Ausbildungsphase eines Kindes. Mit der steuerlichen Zuordnung können diese Zeiten beim Kindergeld und auch beim Kinderfreibetrag berücksichtigt werden. Wir beraten auch über die steuerliche Förderung von Elektro- und Elektrohybridfahrzeugen im Bereich der Dienstwagenbesteuerung. Aufgrund der preisintensiven Akkumulatoren liegt der Bruttolistenpreis von Elektround extern aufladbaren Hybridelektrofahrzeugen deutlich über dem von herkömmlichen Kraftfahrzeugen. Wir wollen erreichen, dass die umweltfreundlichen Elektrofahrzeuge zunehmend im Dienstwagenbereich akzeptiert werden. Bislang schreckt jedoch der hohe Bruttolistenpreis und die damit verbundene höhere Versteuerung des geldwerten Vorteils eher ab. Die Bundesregierung hat sich deshalb bereits mit dem Regierungsprogramm zur Elektromobilität dafür ausgesprochen, die in der Systematik der Dienstwagenbesteuerung begründeten steuerlichen Wettbewerbsnachteile für Elektrofahrzeuge abzubauen. Wir verstehen Elektromobilität als ein wichtiges zukunftsträchtiges und innovatives Element einer nachhaltigen Energie- und Verkehrspolitik. Hier gilt es, gerade im Stadium der Einführung dieser Technologie in den breiten Massenmarkt hinderliche Steuernachteile auszugleichen. Hierbei wird der zur Berechnung des zu versteuernden geldwerten Vorteils maßgebliche Bruttolistenpreis dieser Kraftfahrzeuge um die darin enthaltenen Kosten des Batteriesystems im Zeitpunkt der Erstzulassung des Kraftfahrzeugs gemindert. Mit dem Jahressteuergesetz 2013 wollen wir außerdem einen weiteren Schritt zum Bürokratieabbau gehen. Die Aufbewahrungsfristen für Unterlagen im Steuerrecht, die bisher zehn Jahre aufbewahrt werden mussten, sollen in einem ersten Schritt - ab 2013 - auf acht Jahre und in einem weiteren Schritt - ab 2015 - auf sieben Jahre verkürzt werden. Wir werden damit auch im Handelsgesetzbuch die Aufbewahrungsfristen entsprechend verkürzen. Damit verringert sich für Unternehmen der Umfang der insgesamt aufzubewahrenden Unterlagen erheblich. Die letzten Jahressteuergesetze haben gezeigt, dass wir bei den kommenden Beratungen sicherlich noch die ein oder andere zusätzliche Maßnahme ins Gesetz einfließen lassen werden. Der heute vorliegende Entwurf wird also in den Beratungen noch Ergänzungen erfahren. Nur beispielhaft soll hier die Aufteilung des Gewerbesteuermessbetrags zwischen Betriebs- und StandortOlav Gutting gemeinden beim Betrieb von Photovoltaikanlagen genannt sein. Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachverständigenanhörung und auf gute Beratungen in den nächsten Monaten - auch mit der Opposition.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute in erster Lesung den vom Kabinett beschlossenen Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013. Wie seine Vorläufer in den vergangenen Jahren fasst auch dieses Jahressteuergesetz eine Vielzahl von einzelnen Regelungen aus unterschiedlichen Bereichen des Steuerrechts zusammen. Dieses Vorgehen hat sich als ein zeitsparender Weg erwiesen, um unsere Steuergesetze an Vorgaben von europäischer Ebene, an aktuelle Gerichtsurteile, an Erfahrungen bzw. Anregungen aus der Verwaltungspraxis und an neue gesellschaftliche Problemlagen anzupassen. Diese Detailarbeiten sind wichtig, um die Ecken und Kanten unseres Steuerrechts zu glätten, Besteuerungslücken zu schließen, ungerechtfertigte Nachteile für die Steuerpflichtigen zu beseitigen und seine Anwendbarkeit zu vereinfachen - zumindest als Arbeitsrichtung. Die Fülle an kleinteiligen Einzelregelungen fällt auf, wenn man sich überlegt, was der Bundesregierung fehlt: Reform des Mehrwertsteuersystems - Fehlanzeige; Reform der Gemeindefinanzen und der Gewerbesteuer - zum Glück Fehlanzeige; Reform der Grunderwerbsteuer - Fehlanzeige; Reform der Unternehmensbesteuerung, der Verlustverrechnung, der Gruppenbesteuerung und der Organschaft - immer noch Fehlanzeige; Überlegungen zu einer gerechteren Verteilung von Belastungen in unserer Gesellschaft, etwa über eine Weiterentwicklung der Erbschaftsteuer und eine grundlegende Reform der Vermögensbesteuerung - Fehlanzeige. Dafür ein Steuervereinfachungsgesetz, das den Namen nicht verdient; ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das eigentlich nur das Wachstum der Klientelpolitik und der Steuerbefreiungen für Großunternehmen und Erben hoher Vermögen beschleunigt; und die Wirtschaft klagt über neue bürokratische Lasten: Ich denke an die Taxonomie der E-Bilanz oder an die Voraussetzungen an die Gelangensbestätigung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen. Es fällt mir - und wahrscheinlich auch jedem anderen - schwer, in der Steuerpolitik der Bundesregierung eine klare Arbeitsrichtung, neue Ideen, praktikable Ansätze zu erkennen. Das vorliegende Jahressteuergesetz führt uns diese Diskrepanz zwischen Ankündigung und Einhaltung, die „Fehlanzeigen im Großen“, nochmals deutlich vor Augen. Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen eine Reihe von Briefen und Anrufen von Verbänden, Unternehmen und Einzelpersonen erhalten, die auf Probleme, Schwierigkeiten, Bedenken angesichts einiger Regelungen im Jahressteuergesetz hinweisen. Der heutige erste Beratungsdurchgang bietet - vor dem Eintreten in die Facharbeit im Finanzausschuss - die Möglichkeit, uns einige dieser Themen genauer anzuschauen. Das Jahressteuergesetz führt in Art. 1 ein EU-Amtshilfegesetz, EUAHiG, ein, das die Regelungen der europäischen Amtshilferichtlinie in den nationalen Rechtsbestand überführt. Wir können damit wichtige Fortschritte beim steuerlichen Informationsaustausch zwischen Behörden machen, die uns dabei helfen sollen, ein gerechteres und gleichmäßigeres Besteuerungsverfahren für alle Steuerpflichtigen durchzusetzen, Schlupflöcher und Vermeidungsstrategien zu beenden und die Steuereinnahmen in Deutschland zu verbessern. Die Richtlinie umfasst alle Steuerarten mit wenigen Ausnahmen - Umsatzsteuer, Zölle und harmonisierte Verbrauchsteuern, Abgaben und Gebühren - und ermöglicht es unserer Steuerverwaltung, alle für das Besteuerungsverfahren voraussichtlich erheblichen Informationen zu erhalten bzw. diese anderen Staaten zur Verfügung zu stellen. Auch der persönliche Anwendungsbereich wird deutlich erweitert: künftig werden auch Einkünfte, die in Stiftungen, Trusts oder neuen rechtlichen Konstruktionen versteckt werden, dem Finanzamt bekannt. Die Zuständigkeit für den grenzüberschreitenden Datenaustausch soll bei einem zentralen Verbindungsbüro liegen. Eine wichtige Verbesserung ist die Einrichtung eines Verfahrens für den automatischen Informationsaustausch. Ab 2014 werden steuerlich relevante Informationen über Vergütungen aus unselbständiger Arbeit, über Ruhegehälter, Vergütungen für Aufsichtsräte und Verwaltungsräte, Eigentum und Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen, Lebensversicherungsprodukte automatisch zwischen Steuerbehörden ausgetauscht und nicht erst auf Anfrage. Leider ist es bislang nicht gelungen, bei der Überarbeitung der europäischen Zinsrichtlinie zu einer gleichwertigen Regelung im Bereich der Kapitaleinkünfte zu kommen. Das neue EU-Amtshilfegesetz enthält noch eine Reihe von weiteren Regelungen, etwa zum spontanen Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden, zum Prozedere der Datenübermittlung oder zur Beteiligung ausländischer Steuerbeamter an inländischen Betriebsprüfungen. Im Bereich des Informationsaustausches mit Drittstatten sind insbesondere auch datenschutzrechtliche Fragen zu beantworten, etwa mit Blick auf das Fehlen von Widerspruchsrechten des betroffenen Steuerpflichtigen, die Prüfung der Verwendung der Daten im Drittstaat oder die Einhaltung der Bedingungen für die Datenweitergabe. Was passiert mit den Steuerdaten im Drittstaat, der diese Informationen angefordert hat? Wie lässt sich überwachen, dass diese sensiblen Daten nicht unkontrolliert weitergereicht werden? Wer hat Zugriff auf die Daten, und wer bestraft ihre missbräuchliche Verwendung? Ich hoffe, dass die folgenden Beratungen und die Erläuterungen der Fachbeamtinnen und Fachbeamten aus dem Bundesfinanzministerium zur Klärung dieser Fragen beitragen können. Zu Protokoll gegebene Reden Lothar Binding ({0}) Ich habe in den vergangenen Tagen auch mehrere Briefe von zivilgesellschaftlich tätigen Nichtregierungsorganisationen erhalten, die auf eine Änderung der Abgabenordnung, § 51 Abs. 3 AO, hinweisen. Sie befürchten, dass durch eine Neuregelung der Voraussetzungen für die steuerliche Begünstigung zivilgesellschaftlicher Organisationen diese in ihrer Existenz gefährdet werden. Bislang gilt für Körperschaften, die in einem Verfassungsschutzbericht als extremistische Organisation erwähnt werden, die Klausel, dass sie damit ihre Berechtigung zur Steuerbegünstigung verlieren. Diese Vermutung ist allerdings „widerlegbar“ und ermöglicht es daher den betroffenen Organisationen, juristisch dagegen vorzugehen; zudem verbleibt dem zuständigen Finanzamt ein Entscheidungsspielraum. Die SPD-Fraktion hatte diese Beweislastumkehr-Regelung - Steuerbefreiung gegen Nachweis der verfassungsrechtlichen „Unbedenklichkeit“ - im Zuge der parlamentarischen Beratungen zum Jahressteuergesetz 2008 eingeführt. Wie die Erfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt haben, war dies ein praktikabler Kompromiss zwischen dem wirksamem Ausschluss tatsächlich verfassungsfeindlicher Organisationen von steuerlicher Förderung, einem ausreichenden Rechtsschutz für Körperschaften und einem Ermessensspielraum für das Finanzamt. Mit der Neuregelung im Jahressteuergesetz ist nun vorgesehen, diese Widerlegbarkeitsklausel abzuschaffen und einen Quasi-Automatismus einzurichten, das heißt wenn eine Organisation in einem Verfassungsschutzbericht Erwähnung findet, folgt hieraus zwingend die Versagung der Steuerbefreiung. Ein gerichtlich zu prüfendes Widerspruchsrecht der Betroffenen entfällt dadurch ebenso wie der Entscheidungsfreiraum des Finanzamts. Außerdem werden sich viele Bürgerinnen und Bürger überlegen, ob sie weiterhin für eine der betroffenen Organisationen spenden, wenn diese Zuwendung nicht mehr steuerlich geltend gemacht werden kann. Daraus ergibt sich nach Darstellung der betroffenen Organisationen eine akute Gefährdung ihrer Finanzlage. Ich finde die widerspruchslose Verknüpfung von Steuerrecht und Verfassungsschutz in der vorgeschlagenen Weise nicht überzeugend. Das Gemeinnützigkeitsrecht ist nach meiner Einschätzung nicht das beste Instrument, um sich mit einer möglichen Gefährdung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auseinanderzusetzen. Ich halte es für keine gute Idee, gerade an dieser Stelle die juristische Überprüfung von Verwaltungshandeln - eventuell auch die Korrektur von Fehleinschätzungen in den Verfassungsschutzberichten - außer Kraft zu setzen. Die Beratungen im weiteren parlamentarischen Verfahren geben sicher Gelegenheit, diese Regelung auf ihre Angemessenheit zu prüfen. Das Jahressteuergesetz sieht auch eine Steuerfreiheit von Bildungsleistungen vor, die von Volkshochschulen, Ersatzschulen, Einrichtungen mit vergleichbarer Zielsetzung, selbständigen Lehrern und Privatlehrern erbracht werden. Zu diesen Bildungsleistungen gehören Schul- und Hochschulunterricht, Maßnahmen der beruflichen Umschulung, Aus- und Fortbildungsleistungen. Für diese Leistungen ist eine steuerliche Begünstigung vorgesehen, die den Zugang zu Bildungsleistungen erleichtert und die steuerliche Gleichbehandlung von privaten und staatlichen Bildungseinrichtungen bzw. -leistungen herstellt. Die Steuerbefreiung bezieht sich nicht nur auf die Bildungsleistung selbst, sondern auch auf damit eng verbundene Dienstleistungen und Lieferungen, etwa die Anmietung und Ausstattung eines Veranstaltungsorts. Die betroffenen Anbieter von Bildungsleistungen haben darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Steuerbefreiung auch die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs entfalle, und leiten daraus ihre Befürchtungen über eine Veränderung der Wettbewerbsbedingungen ab. Vermutlich wäre für das eigentliche Ziel der Neuregelung, der verbesserte Zugang zu Bildungsleistungen, wenig erreicht, wenn Fort- und Weiterbildungen oder bildungsbezogene Volkshochschulkurse infolge dieser Regelung teurer würden oder das Leistungsangebot schmäler würde. Der Blick in den Begründungsteil des Gesetzes, der die Notwendigkeit und Zielsetzung der Umsatzsteuerbefreiung erläutert, zeigt, dass es bei der Regelung um die Umsetzung gerichtlicher Entscheidungen geht - erfahrungsgemäß ein Bereich, in dem der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers geringer als in anderen Gebieten ist. Die parlamentarischen Beratungen im Ausschuss und die Diskussionen in der Arbeitsgruppe Finanzen werden Gelegenheit bieten, die Argumente zu prüfen und sich ein umfassenderes Bild von den Auswirkungen der geplanten Umsatzsteuerbefreiung zu machen. Ich bin auch auf die Einschätzung der Steuerverwaltung gespannt, der die Aufgabe der Beurteilung der Voraussetzungen für die Steuerbefreiung - die Bewertung von Lehrplänen, Methoden, Qualifikationen des Lehrpersonals usw. - von Bildungsleistungen zukommt. Eine weitere Regelung im Jahressteuergesetz, über die wir in den parlamentarischen Beratungen nochmals nachdenken werden, ist die Aufhebung der privilegierten Besteuerung von Bezügen des freiwilligen Wehrdienstes. Das Ziel ist die steuerliche Gleichbehandlung von Wehrsold, der im Rahmen des freiwilligen Wehrdienstes gezahlt wird, und des Taschengeldes, dass man für den Bundesfreiwilligendienst erhält. Der Referentenentwurf zum Jahressteuergesetz hatte noch die Besteuerung des kompletten Wehrsoldes vorgesehen. Im vorliegenden Kabinettsbeschluss ist nun vorgesehen, dass für freiwillig Wehrdienstleistende und Reservisten der Gehaltsbestandteil „Wehrsold nach § 2 Abs. 1 Wehrsoldgesetz“ ({1}) sowie das nach § 2 des Bundesfreiwilligendienstgesetzes gezahlte Taschengeld ({2}) steuerfrei gestellt werden. Die weiteren Bezüge, etwa für Verpflegung, Leistungszuschlag und Unterkunft sollen steuerpflichtig sein. Geld- und Sachbezüge an Wehrpflichtige bleiben steuerfrei. Ich hoffe, dass wir uns im Verlauf der Beratungen im Finanzausschuss Klarheit hinsichtlich der Folgen der geplanten Änderungen verschaffen können. Leider enthält der Entwurf bislang keine Zahlen zu den finanziellen Auswirkungen auf die einzelnen Betroffenen sowie Zu Protokoll gegebene Reden Lothar Binding ({3}) den Bundeshaushalt. Wir werden auch nochmals über die steuerrechtliche Qualifizierung des freiwilligen Wehrdienstes als „auf die Einkünfteerzielung ausgerichtete übliche Berufstätigkeit“ und die damit verbundene Attraktivität des freiwilligen Wehrdienstes nachdenken. Ich habe die vorgesehenen Neuregelungen im Bereich der Unternehmensbesteuerung bislang nicht erwähnt, etwa die Erstattung von Abzugsteuer bei ausländischen Kapitalerträgen, die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes auf internationale Betriebsstättenfälle sowie grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen von Personengesellschaften und Mitunternehmerschaften, oder der steuerfreie Bezug von Auslandsdividenden nach einem DBA. Nicht, weil ich diese Regelungen nicht für wichtig oder diskussionswürdig hielte; ich glaube vielmehr, dass die Koalitionsfraktionen - wieder einmal - ein laufendes Gesetzgebungsverfahren dazu nutzen werden, um noch weitere unternehmensteuerliche Regelungen „draufzusatteln“. Das 12-Punkte-Papier der Koalitionsfraktionen bietet hier noch einiges an Material für eine „Reform durch die Hintertür“. Man kann sich mit Blick auf die bislang dargestellten Themenbereiche schon fragen, warum für die Anhörung zum Jahressteuergesetz ein sehr langer Zeitraum von vier Stunden eingeplant ist. Dieses Vorgehen ist ein heimliches, weil peinliches Eingeständnis, dass wir es bei einem weiteren steuerpolitischen Großprojekt der Bundesregierung, der Reform der Unternehmensbesteuerung, mit einer Fehlanzeige zu tun haben. Zugleich spricht daraus allerdings auch eine ärgerliche Missachtung des Bundestages, wenn gerade die Oppositionsfraktionen mit dieser Taktik der tröpfchenweisen Reform an den Rand ihrer Belastbarkeit im parlamentarischen Verfahren gebracht werden. Der Verlauf der parlamentarischen Beratungen wird zeigen, ob wir mit der sachkundigen Unterstützung von Fachleuten aus Verbänden, Verwaltung und Unternehmen diesen Rückstand aufholen und am Ende zu guten, praktikablen Ergebnissen beitragen können.

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Jahressteuergesetz 2013, welches wir heute beraten, enthält eine Reihe von Punkten, die für mehr Steuergerechtigkeit, einen besseren Steuervollzug und klarere Regeln in der deutschen Steuergesetzgebung sorgen werden. Folgende Punkte sind dabei hervorzuheben: Die Beendigung der vorübergehenden Steuerfreiheit des Wehrsolds für freiwillig Wehrdienstleistende ist aus Gerechtigkeitsgründen notwendig, soll aber das Verteidigungsministerium nicht daran hindern, durch eine Solderhöhung die Belastungen der Wehrdienstleistenden zu minimieren. Ebenso ist zu beachten, dass auch für Wehrdienstleistende ein Grundfreibetrag von 8 004 Euro gilt. Steuerfrei bleiben die Geld- und Sachbezüge an Wehrpflichtige im Sinne des § 4 des Wehrpflichtgesetzes und die Vorteile aus einer unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung der Soldaten und Zivildienstleistenden; dies gilt auch für den freiwilligen Wehrdienst. Ebenso wird die Steuerfreiheit für die an Zivildienstleistende nach § 35 des Zivildienstgesetzes gezahlten Geld- und Sachbezüge beibehalten. Für die den freiwilligen Wehrdienst und freiwillige Wehrübungen Leistenden werden mit der vorliegenden Änderung zukünftig nur noch die Gehaltsbestandteile „Wehrsold nach § 2 Abs. 1 Wehrsoldgesetz“ sowie „Dienstgeld nach § 8 Wehrsoldgesetz“ steuerfrei gestellt. Die weiteren Bezüge, zum Beispiel Wehrdienstzuschlag, besondere Zuwendungen sowie unentgeltliche Unterkunft und Verpflegung, sind zukünftig steuerpflichtig. Bei den Reservisten gibt es momentan noch Beratungsbedarf bezüglich steuerpflichtiger Leistungen und Zulagen. Steuerfrei gestellt wird ferner das für den Bundesfreiwilligendienst gezahlte Taschengeld. Weitere Bezüge wie zum Beispiel unentgeltliche Unterkunft und Verpflegung sind steuerpflichtig. Das Taschengeld beträgt derzeit monatlich maximal 336 Euro. Die Bezüge für den Bundesfreiwilligendienst sind nach bisheriger Gesetzeslage voll steuerpflichtig; sie wurden aber aufgrund einer Billigkeitsregelung der Verwaltung bisher als steuerfrei behandelt, um sie gegenüber den Bezügen für den freiwilligen Wehrdienst nicht zu benachteiligen. Mit dieser Gesetzesänderung ist die Billigkeitsregelung nunmehr entbehrlich. Im Zuge dieser Klarstellungen setzen wir uns aber auch für die Einbeziehung des Jugendfreiwilligendienstes ein, da dieser bisher ausdrücklich nicht in das Gesetz einbezogen wurde. Diskussionsbedarf sehen wir unter anderem noch beim Kindergeld und bei den geplanten Änderungen bei der Vorlage bzw. Vorzeigepflicht von Unterlagen gemäß § 97 der Abgabenordnung. Besonders hilfreich und bürokratieabbauend wird sich die zweijährige Geltungsdauer der im Lohnsteuerabzugsverfahren zu berücksichtigenden Freibeträge erweisen. Diese Verfahrensanweisung ist sowohl für die Arbeitnehmer wie auch die Finanzverwaltung entlastend. Die in § 39 a Abs. 1 Satz 2 ({0}) geregelte zweijährige Geltungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerabzugsverfahren ist erstmals für den Lohnsteuerabzug 2014 anzuwenden und befreit den Steuerpflichtigen von den jährlichen Neuanträgen auf Lohnsteuerermäßigung, soweit sich bezüglich seiner Antragssituation nichts geändert hat. Zudem werden im Interesse des Bürokratieabbaus die Aufbewahrungsfristen nach der Abgabenordnung und dem Umsatzsteuergesetz ab 2013 zunächst auf acht und in einem weiteren Schritt ab 2015 auf sieben Jahre verkürzt und vereinheitlicht. Auch im Handelsgesetzbuch werden die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege entsprechend verkürzt. Dies spart erhebliche Kosten bei den Unternehmen und verstärkt die Motivation der Finanzverwaltung, mehr Ressourcen in die zeitnahe Betriebsprüfung, eine wichtige steuerpolitische Forderung der FDP, zu investieren. Zu Protokoll gegebene Reden Mit dem Jahressteuergesetz 2013 werden auch die EU-Amtshilferichtlinie, die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie, die Rechnungsstellungrichtlinie sowie die sogenannte Mutter-Tochter-Richtlinie umgesetzt. Dies ist zur Vermeidung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die EU-Kommission bis zum Jahresende ({1}) auch zwingend notwendig. Das Gesetz zeigt, dass das Steuerrecht sehr komplex ist und damit der Lebenswirklichkeit einer entwickelten Industrienation entspricht. Dass nur noch Experten den Durchblick haben, und das auch nur noch in Teilbereichen, liegt auf der Hand. Forderungen nach Steuervereinfachung sind berechtigt, setzen aber voraus, dass dem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit stärker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierungen würden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und garantieren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das Ziel der Steuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das bestehende Recht an sich verändernde Verhältnisse angepasst werden. Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben die Familien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlastet. Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir werden Gesundheit wieder bezahlbar machen. Wir stehen für Investitionen in die Zukunft. Wir werden die Bildungschancen für alle Menschen in diesem Land verbessern, denn dies bedeutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wie gehabt steht wieder ein Jahressteuergesetz zur Diskussion und Verabschiedung an, für das Jahr 2013, und es beinhaltet wieder eine Vielzahl von teils sehr unterschiedlichen Maßnahmen. Unter anderem findet sich in Art. 2 Nr. 5 eine Regelung zur steuerlichen Förderung der Elektromobilität. Aber ich denke, dazu wird im Rahmen des Verkehrsteueränderungsgesetzes genug gesagt; daher werde ich hierauf nicht weiter eingehen. Eingehen möchte ich auf zwei Punkte: Mit Art. 10 des JStG 2013 wollen Sie § 51 Abs. 3 Satz 2 der Abgabenordnung durch die Streichung des Wortes ‚widerlegbar‘ scheinbar minimal ändern. Es geht hier um die Versagung bzw. Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen, sofern diese in Berichten des Verfassungsschutzes als verfassungsfeindlich aufgeführt werden. Bereits vor vier Jahren, im Rahmen des JStG 2009, hatte eine Verschärfung dieser Regelung stattgefunden. Im JStG 2013 heißt es in der Begründung auf Seite 93 unter anderem: „Ist deshalb eine Körperschaft im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als verfassungsfeindlich aufgeführt, ist ihr die Anerkennung als gemeinnützige Körperschaft zu versagen. Die Überprüfung, ob eine Körperschaft trotz einer Nennung in einem Verfassungsschutzbericht doch die Anforderungen nach § 51 Absatz 3 Satz 1 erfüllt, muss nach Streichung des Wortes ‚widerlegbar‘ in Satz 2 nicht mehr durchgeführt werden. Sollte eine Körperschaft ihrer Ansicht nach zu Unrecht in einem Verfassungsschutzbericht aufgeführt worden sein, so obliegt es ihr, sich dagegen in einem gerichtlichen Verfahren zur Wehr zu setzen. Körperschaften, bei denen der bloße Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit besteht und die nur als Verdachtsfall in einem Verfassungsschutzbericht erwähnt wurden, ist nicht aufgrund des Verdachtes die Gemeinnützigkeit zu versagen.“ Natürlich ist auch die Linke der Meinung, dass extremistische und verfassungsfeindliche Organisationen nicht ungewollt zum Beispiel durch Steuerbegünstigungen gefördert werden sollen. Das, denke ich, sollte allen hier nach Bekanntwerden der Pannen bei den Ermittlungen gegen die NSU ein Anliegen sein. Dennoch sehen wir mit der geplanten Regelung eine gewisse Gefahr. Die Nennung und Einstufung im Verfassungsschutzbericht unterliegt stark einer politischen Willkür, und Verfassungsschutzbehörden sind dem vorgesetzten Ministerium weisungsgebundene Behörden. Die bisherige Prüfmöglichkeit durch die Finanzämter entfällt, und es soll eine automatische Aberkennung der Gemeinnützigkeit erfolgen. Viele engagierte Menschen gerade in Vereinen, welche gegen Rechtsextremismus wirken, befürchten, dass sie dadurch im Zweifelsfalle in gerichtliche Prozesse gezwungen werden, welche sie finanziell gar nicht stemmen könnten. Deshalb gibt es da bereits jetzt vielfältige Kritik. Diese Regelung ist bereits jetzt streitanfällig. So hat jüngst auch der BFH am 11. April 2012 entschieden, dass ein islamisch-salafistischer Verein für das Jahr 2008 trotz Erwähnung im Verfassungsschutzbericht als gemeinnützig anerkannt werden darf. Wir bitten Sie daher ausdrücklich, im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses sowie der Anhörung die Regelung noch einmal mit Vereinen und entsprechenden Interessenverbänden zu diskutieren, um hier Klarheit zu schaffen. Ein anderer uns wichtiger Punkt ist die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Landwirtschaftsbetriebe, welche nach unserer Auffassung in das Jahressteuergesetz aufgenommen werden sollte, denn es gibt dringenden Handlungsbedarf. Ein entsprechender Vorschlag liegt Ihnen mit dem Antrag mit der Drucksachennummer 17/10099 vor. Der Klimawandel steigert nachweislich die Risiken landwirtschaftlicher Erzeugung in bisher ungeahntem Maße. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher negativer Auswirkungen auf die Landwirtschaft, so zum Beispiel Trockenheit bzw. Dürre, Überschwemmungen und Spätfröste durch direkte extreme Witterungsereignisse genauso wie die klimabedingte Ausbreitung von Krankheiten und Schaderregern bei Pflanzen und Tieren. Versicherungen sind in der landwirtschaftlichen Risikoabsicherung schnell überfordert und greifen im Schadensfall nicht wirklich. Zudem wurde und wird die Landwirtschaft sukzessive den globalen Märkten ausgesetzt. Durch die zunehmenden Preisschwankungen hat sich die Risikolage für die Betriebe ebenfalls extrem verändert; längerfristig kalkulierbare Agrarpreise gibt es Zu Protokoll gegebene Reden nicht mehr. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass den landwirtschaftlichen Betrieben ermöglicht wird, einen Teil ihrer erwirtschafteten Einkünfte aus ihrem zu versteuernden Einkommen herauszunehmen und in eine steuerbefreite Risikoausgleichsrücklage zu verwandeln.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Für die Bundesregierung ist das Jahressteuergesetz wie jedes Jahr ein Auffangbecken für alles, was ohne großes Aufsehen noch irgendwie abgeräumt werden muss. Mit „fachlich notwendigem Gesetzgebungsbedarf“ und „Anpassungen an Recht und Rechtsprechung der Europäischen Union“ wird das Gesetz begründet. Doch bei genauerem Hinsehen liegt die Vermutung nahe, dass die Bundesregierung auch in diesem Jahr es nicht lassen kann, einige Steuergeschenke an ihre Klientel zu verteilen. Die jährlichen Steuerausfälle Ihres Entwurfs erreichen 250 Millionen Euro, ein erheblicher Kostenaufwand, den Sie mit der Organleihe des Personals der Länder für die zukünftige Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer begründen. Es wäre wichtig zu wissen, welche Steuerauswirkungen die weiteren zahlreichen Änderungen verursachen. Kein Wort findet sich zum Beispiel zur Frage der Steuerausfälle, die sich aus der Verkürzung der Aufzeichnungsvorschriften ergeben. Wenn Finanzbehörden - statt bisher zehn Jahre - zukünftig nur noch acht und ab dem Jahr 2015 nur noch sieben Jahre Zeit haben sollen, bis die Festsetzungsverjährung eintritt, erhöhen Sie gewaltig den Druck auf die Betriebsprüfung. Anlassbezogene Prüfungen werden dann viel seltener durchgeführt. Damit gehen Mehrergebnisse aus Betriebsprüfungen verloren. Kein Wort davon, ob Sie gewillt sind, diese Steuerausfälle zu kompensieren. Nach über einem Jahr kommt die Regierung nun endlich auch ihrer Ankündigung nach, Elektrodienstwagen steuerlich zu entlasten. Zu Recht hat der Finanzausschuss des Bundesrats bereits kritisiert, dass die Regierung sich hier eine komplizierte Regelung ausgedacht hat. Die vorliegende Regelung ist zwar besser als die Untätigkeit bei der Förderung der Elektromobilität im letzten Jahr. Was wir aber eigentlich brauchen, ist ein grundlegender Wandel in der Besteuerung von Dienstwagen, die noch immer leider viel zu oft als spritfressende Statussymbole angeschafft werden. Wenn die Vorschläge meiner Fraktion zum Abbau des Steuerprivilegs für Dienstwagen umgesetzt würden, brauchte man auch keine komplizierte Sonderregelung für Dienstwagen mit Elektroantrieb. Denn setzt die Dienstwagenbesteuerung generell am Ausstoß von Klimagasen an, profitieren umweltfreundliche Elektromobile ganz automatisch. Eine bisher wenig beachtete Änderung, die es jedoch in sich hat, betrifft den Status der Gemeinnützigkeit. Es sollen nun die Geheimdienste des Bundes und der Länder sein, die darüber entscheiden, ob Organisationen vom Finanzamt als gemeinnützig anerkannt werden können. Für die betroffenen Organisationen kann es dabei durchaus um ihre Existenz gehen. Denn der Status der Gemeinnützigkeit ist die Voraussetzung dafür, steuerabzugsfähige Spenden einzunehmen und unter Umständen steuerfrei tätig sein zu können. Bereits seit 2009 führt die Einstufung als extremistische Organisation im Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz oder in einem der 16 Berichte der Landesämter für Verfassungsschutz zur Versagung des Status der Gemeinnützigkeit. Dabei genügen selbst weiche Formulierungen wie „ist extremistisch beeinflusst“. Doch in der Vergangenheit hatten Finanzgerichte regelmäßig Finanzämtern widersprochen, die den Status der Gemeinnützigkeit Organisationen auf Grundlage von Verfassungsschutzberichten aberkannten. Die Geheimbehörden sind aus offenkundigen Gründen nicht in der Lage, ihre Einstufung zu rechtfertigen, sodass eine Würdigung der Erkenntnisse faktisch nicht möglich ist. Nun soll nach den Plänen der Bundesregierung also der Verfassungsschutz direkt entscheiden. Damit erhalten die Berichte der Geheimdienste den Rang von steuerlichen Grundlagenbescheiden. Ich teile das Ziel der Bundesregierung, Missbrauch zu verhindern. Verfassungsfeindliche Organisationen können nicht gemeinnützig sein. Doch die Lösung der Bundesregierung geht völlig am Problem vorbei. Denn Einschätzungen von Geheimbehörden können nicht transparent geprüft werden. Und es ist auch nicht mit meinem Verständnis von einem Rechtsstaat vereinbar, wenn 17 intransparenten Geheimbehörden ein Freibrief erteilt wird, nach eigenem Ermessen Organisationen über die Aberkennung des Gemeinnützigkeitsstatus den Geldhahn abdrehen zu können. Die Bundesregierung verkennt hier das eigentliche Problem: Bürgerinnen und Bürger brauchen verlässliche Angaben, ob die Organisation, der sie spenden möchten, gemeinnützige Ziele nicht nur auf dem Papier verfolgt. Doch hier muss ganz anders angesetzt werden, als blind auf die Berichte des Verfassungsschutzes zu vertrauen. Neben den bisher genannten Punkten ließe sich die Liste noch weiter fortsetzen. Und die eine oder andere Änderung in letzter Minute ist ja jetzt schon abzusehen, etwa bei der Umsetzung von EU-Vorgaben bei Mehrwertsteuerbefreiungen. Hier traut sich die Bundesregierung offenbar nicht, die Änderungen von Anfang an ins Gesetz zu schreiben.

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Der vorliegende Entwurf für ein Jahressteuergesetz 2013 als überwiegend technisches Gesetz ist erforderlich, da sich in vielen Bereichen des deutschen Steuerrechts ein fachlich notwendiger Änderungsbedarf ergeben hat. Es erfolgen Anpassungen an das europäische Recht, insbesondere bei der Umsatzsteuer, aber auch Änderungen zur Umsetzung der EU-Amtshilferichtlinie. Außerdem wird das Steuerrecht als Folgeänderung an Gesetzesänderungen in anderen Rechtsgebieten angepasst. Daneben reagieren wir auf aktuelle Entscheidungen des Bundesfinanzhofes und nehmen gesetzliche Klarstellungen zu steuerlichen Zweifelsfragen vor. Zu Protokoll gegebene Reden Obwohl es sich um ein recht umfangreiches Gesetz handelt, das verschiedene, thematisch zum Teil nur wenig oder gar nicht miteinander verbundene Einzelmaßnahmen enthält, hat es einige inhaltliche Schwerpunkte, auf die ich näher eingehen möchte: Schaffung eines EU-Amtshilfegesetzes. Mit dem EUAmtshilfegesetz wird die sogenannte EU-Amtshilferichtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Sie bezweckt vor allem eine effizientere Zusammenarbeit der Steuerbehörden der EU-Mitgliedstaaten, um Steuern bei grenzüberschreitenden Aktivitäten ordnungsgemäß festsetzen zu können. Die Neuerungen betreffen im Wesentlichen die Schaffung zentraler Verbindungsbüros in allen Mitgliedstaaten und die stufenweise Entwicklung eines automatischen Informationsaustauschs. Änderung von Steuergesetzen. Eine unmittelbare Umsetzung von europäischem Recht erfolgt unter anderem durch folgende Rechtsänderungen: Es gibt verschiedene Anpassungen des Umsatzsteuergesetzes an die sogenannte Mehrwertsteuersystem-Richtlinie sowie die sogenannte Rechnungsstellungsrichtlinie. Zugleich wird die Regelung zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung von Dividendenzahlungen und anderen Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften ({0}) an die Neufassung der sogenannten Mutter-Tochter-Richtlinie angepasst. Weitere bedeutsame materiell-rechtliche Änderungen sind: Verkürzung der Aufbewahrungsfristen. Diese Maß- nahme ist ein wesentliches Anliegen der Bundesregie- rung auf dem Gebiet der Bürokratiekostenentlastung der Wirtschaft, Als Ergebnis des Projekts „Harmonisierung und Verkürzung der Aufbewahrungs- und Prüfungsfris- ten nach Handels-, Steuer- und Sozialrecht“ werden die Aufbewahrungsfristen nach der Abgabenordnung und dem Umsatzsteuergesetz von bisher zehn Jahren ab 2013 auf zunächst acht und in einem weiteren Schritt ab 2015 auf sieben Jahre verkürzt. Auch im Handelsgesetz- buch werden die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbe- lege entsprechend verkürzt. Dadurch verringert sich der Umfang der insgesamt in einem Unternehmen aufzube- wahrenden Unterlagen. Regelungen für Dienstwagen im Zusammenhang mit der E-Mobilität. Zur Umsetzung des Regierungspro- gramms Elektromobilität wird im Einkommensteuerge- setz eine Regelung zum Nachteilsausgleich für die pri- vate Nutzung von betrieblichen Elektrofahrzeugen und Hybridelektrofahrzeugen geschaffen. Vom Regelungsge- genstand sind Elektrofahrzeuge und Hybridelektrofahr- zeuge erfasst, deren mechanische oder elektrochemische Speicher extern aufladbar sind. Um eine Überkompen- sation zu verhindern, wird der pauschale Abzug auf einen Höchstbetrag beschränkt, der ratierlich ab- geschmolzen wird. Diese Änderungen stehen im Zusam- menhang mit Änderungen im Kraftfahrzeugsteuergesetz, die im Entwurf eines Verkehrsteueränderungsgesetzes enthalten sind, das heute ebenfalls in erster Beratung behandelt wird. Besteuerung des Wehrsolds freiwillig Wehrdienstleis- tender. Für die den freiwilligen Wehrdienst und freiwil- lige Wehrübungen Leistenden wird zukünftig der Ge- haltsbestandteil „Wehrsold“ sowie „Dienstgeld“ steuerfrei gestellt. Steuerfrei gestellt wird ferner das für den Bundesfreiwilligendienst gezahlte Taschengeld, um insoweit eine Gleichbehandlung sicherzustellen; weitere Bezüge sind künftig steuerpflichtig. Damit tragen wir der besonderen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Freiwilligendienste Rechnung. Eine echte Verfahrenserleichterung im Besteuerungs- verfahren für den Arbeitnehmer wie für die Finanzver- waltung bedeutet die Möglichkeit, auf Antrag die Gel- tungsdauer eines im Lohnsteuerabzugsverfahren zu berücksichtigenden Freibetrags künftig auf zwei Kalen- derjahre zu verlängern. Damit entsprechen wir der poli- tischen Zielsetzung, die Handhabbarkeit des Steuer- rechts - wo immer möglich - zu vereinfachen. Des Weiteren erfolgt eine Modernisierung und Ver- einfachung des Verfahrens der Anmeldung der Feuer- schutzsteuer durch die Option, diese künftig elektronisch abzugeben. Die Mehrzahl der weiteren Änderungen hat überwie- gend technischen Charakter. Dies betrifft beispielsweise redaktionelle Anpassungen der Steuergesetze an den Vertrag von Lissabon, die Anpassung weiterer steuerli- cher Vorschriften an die Einführung der Abgeltung- steuer und Detailregelungen zur elektronischen Vermö- gensbildungsbescheinigung und Folgeänderungen im Fünften Vermögensbildungsgesetz. Fazit. Die Bundesregierung legt mit dem heute zu be- ratenden Gesetzesvorhaben einen umfangreichen Ent- wurf mit vielen Detailregelungen vor. Auch ein derarti- ges Technikgesetz ist notwendiger Bestandteil einer soliden Regierungsarbeit. Mit den vorgenommenen Rechtsänderungen soll ein möglichst reibungsloses Funktionieren des Besteuerungsverfahrens gewährleis- tet und damit das Steueraufkommen gesichert werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/10000 und 17/10099 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10000, also Tages- ordnungspunkt 18 a, soll zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Kerstin Müller ({0}), Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutzverantwortung weiterentwickeln und wirksam umsetzen - Drucksache 17/9584 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Vizepräsidentin Petra Pau Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Die internationale Schutzverantwortung weiterentwickeln - Drucksache 17/8808 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nie wieder Völkermord - das ist das ehrgeizige Ziel, das sich die internationale Gemeinschaft nach den Massakern von Ruanda und Srebrenica gesetzt hat. In den letzten drei Jahren wurden immer wieder Konkretisierungen der Antworten auf die Frage gefunden, wie Menschen besser vor Gräueltaten verbrecherischer Regime geschützt werden können, also wie die 2005 beschlossene Schutzverantwortung, die sogenannte Responsibility to Protect, die RtoP, wirksamer umgesetzt werden kann. Immer mehr Staaten bestimmen die RtoP-Agenda durch konkrete Antworten, durch konkrete Mitarbeit und durch neue Ideen. Das deutsche Engagement dabei ist - wenn überhaupt vorhanden - durch Profil- und Konzeptlosigkeit geprägt, und das ungeachtet der historischen Verantwortung, die Deutschland für die Verhütung von Völkermord und schweren Menschenrechtsverbrechen eigentlich hat. Das alles spielt in der gegenwärtigen deutschen Außenpolitik keine Rolle. ({0}) Das ist nicht überall so. Der amerikanische Präsident Obama zum Beispiel lässt keine Gelegenheit aus, die RtoP als nationales Sicherheitsinteresse und moralische Verantwortung hervorzuheben, und das zu Recht. Die Kanzlerin überlässt das Thema ihrem Außenminister, und dieser orientiert sich lieber an seinen sogenannten Gestaltungsmächten wie Russland und China. Auch wenn der Außenminister das Gegenteil beteuert: Beim Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen hat Deutschland Nachholbedarf. ({1}) Andere Staaten sind weiter und begreifen die RtoP als Säule einer menschenrechtsorientierten globalen Friedenspolitik, und das zu Recht. Die US-Administration hat dazu einen ressortübergreifenden Beirat zur Prävention vor schwersten Menschenrechtsverbrechen, Atrocities Prevention Board, geschaffen. Er setzt sich aus hochrangigen Vertretern der Ministerien für Äußeres, Verteidigung, Entwicklung, Finanzen und Justiz, der Geheimdienste, der Streitkräfte, der Vertretung bei den Vereinten Nationen und des Büros des Vizepräsidenten zusammen. So macht man das, wenn man ein Thema wirklich ernst nimmt. ({2}) Deutschland hat sich der globalen Initiative, nationale RtoP-Kontaktstellen einzurichten, um nationale und internationale Anstrengungen besser koordinieren zu können, bisher noch nicht angeschlossen. Die Regierung sagt, sie prüfe. Ich frage: Wie lange eigentlich noch? Wer wirksamen Schutz vor Völkermord will, darf sich vor unbequemen Entscheidungen nicht drücken. Dazu gehört auch, die UN-Missionen nicht nur zaghaft zu unterstützen und die Hauptarbeit und vor allem das Risiko anderen zu überlassen, sondern selbst Verantwortung zu tragen. Die selbstgefällige Fixierung auf das Wenige, das von Deutschland dann doch immerhin getan wird, hilft denen nicht, die unmittelbar von schwersten Verletzungen von Menschenrechten bedroht sind. RtoP ist ein Konzept der Prävention, der Unterstützung und des Handelns. Dieses Konzept verdient unsere volle Zustimmung und Unterstützung. ({3}) In unserem Antrag haben wir verschiedene praktische Anregungen zur Umsetzung der RtoP gegeben. Ich hoffe, dass die Bundesregierung zumindest einige davon aufgreift und entschlossener dazu beiträgt, dass die moralische Maxime „Nie wieder Völkermord!“ kein leeres Versprechen bleibt. Danke sehr. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Marina Schuster das Wort. ({0})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Koenigs, ich finde es schade, dass Sie dieses sehr wichtige Thema nehmen, um zu einem Rundumschlag auf die Bundesregierung auszuholen, und insbesondere nicht erwähnen, was in diesem Bereich, auch hier im Parlament, auch im Bereich des Ressortkreises, aber auch im Bereich des Beirats, geleistet wird. Ich werde nachher noch einmal darauf zu sprechen kommen. Die Entscheidung, wie sich die Bundesregierung im Sicherheitsrat bei der Resolution 1973 verhalten hat, wurde ja mehrfach diskutiert. Ich will da gar nicht mehr auf Parteipolitik eingehen. Denn dann müsste ich der SPD die Äußerung ihres Fraktionsvorsitzenden Steinmeier vorhalten, der am Tag nach der Entscheidung das Votum Deutschlands ausdrücklich begrüßt hat. Zum Konzept der Schutzverantwortung. Sie ist in der Tat ein Meilenstein im Völkerrecht. Unsere Aufgabe muss es jetzt sein, dieses Konzept weiterzuentwickeln, es zu operationalisieren. Denn unabhängig davon, ob man für oder gegen die Libyen-Entscheidung war oder sich bei ihr enthalten hat, die Entscheidung und der Einsatz danach geben uns konkrete Hausaufgaben auf. Es ist die Frage zu beantworten: Was ist von der RtoP tatsächlich gedeckt? Die Bewaffnung von Rebellen? Das gezielte Töten eines Diktators oder einer ganzen Führungsriege? Was ist erlaubt? Der Mandatstext im Fall Libyen beinhaltete eben gerade nicht einen Regime Change oder Waffenlieferungen an Rebellen. ({0}) Deswegen erhoben gerade China und Russland in der nachfolgenden Diskussion den Vorwurf - sei er berechtigt oder unberechtigt -, es habe einen Overstretch gegeben. Insofern ist es unsere Aufgabe, diese strittigen Fragen zu klären. ({1}) Der zweite Punkt, der damals in dem Dokument der Generalversammlung 2005, aber auch schon vorher bei dem Dokument der Konferenz der ICISS, der International Commission on Intervention and State Sovereignty, offengelassen wurde, ist die zukünftige Rolle von Regionalorganisationen. Damit hier kein Zweifel aufkommt: Natürlich sind wir der Auffassung, dass der Sicherheitsrat die oberste und zentrale Verantwortung für Frieden und Sicherheit hat. Das ist auch die völkerrechtliche Legitimierung. Nur die Vereinten Nationen können das Mandat zur Durchsetzung der RtoP erteilen, und das auch nur in den vier Tatbeständen „Völkermord“, „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „ethnische Säuberungen“. Doch man muss die Frage stellen: Welche Rolle werden die Regionalorganisationen zukünftig übernehmen? Ich denke da ganz besonders an einen Fall, nämlich an die Afrikanische Union. Sie hat nämlich in Art. 4 ihrer Gründungscharta das Right to Intervene im Fall von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit festgelegt. Das heißt, man muss schon klären, welche Rolle Regionalorganisationen zukünftig spielen, und es muss immer klar sein, wem die Befugnis für einen Einsatz erteilt wird. Der nächste Punkt - dieser ist in der Diskussion ganz besonders wichtig - ist, dass wir klarstellen und ganz deutlich machen müssen: Schutzverantwortung ist nicht identisch mit militärischem Eingreifen. Es gibt keinen Automatismus. Vielmehr ist RtoP ein ganzheitliches Konzept mit drei wesentlichen Säulen, nämlich „to prevent“, „to react“ und „to rebuild“. Gerade dieser Bereich - es sind ja Kollegen da, die in dem Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ sehr aktiv sind: Kollege Spatz als Vorsitzender und Kerstin Müller - ist besonders wichtig. Es geht nämlich darum, Krisen früh zu erkennen, früh mit diplomatischen Möglichkeiten, mit politischen Möglichkeiten, sei es durch Vermittlung, durch Sonderberichterstatter, Beauftragte, Krisen zu verhindern. Da würdigen Sie zu wenig, was im Ausschuss, aber auch im Beirat „Zivile Krisenprävention“ und im Ressortkreis geleistet wird. Wenn man die Bundesregierung kritisiert, muss man auch erwähnen, wo überall sich Deutschland engagiert, ({2}) nämlich auch auf internationaler Ebene, zum Beispiel bei den Friends of RtoP auf UN-Ebene. Das muss man schon deutlich machen. Ein weiterer Bereich, den ich noch einmal ansprechen wollte, ist, dass dieses Konzept mit Vorschlägen anderer Staaten ausgestaltet wurde. Wir haben ganz konkret einen Vorschlag, den Brasilien im Herbst 2011 auf den Tisch gelegt hat, nämlich „Verantwortung beim Schützen“. Ich glaube, es ist ganz besonders wichtig, dass wir in der Diskussion über die RtoP gerade diese Staaten mit einbeziehen und in einem stetigen Dialog mit ihnen treten, um dieses Konzept weiterzuentwickeln. Ich freue mich, dass wir im Auswärtigen Ausschuss und im Menschenrechtsausschuss schon Ed Luck zu Gast hatten; denn es ist ja seine Arbeit, die wir unterstützen, übrigens auch finanziell. Mein ganz konkreter Vorschlag - ich habe im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Bericht dazu vorgelegt, der sich im weitesten Sinne mit Fragen der Staatlichkeit und der Souveränität befasst -: Wir sollten eine Folgekonferenz der ICISS einberufen. Denn wir brauchen einen Austausch über die Operationalisierung: mit Fachleuten, mit Wissenschaftlern und auch mit NGOs. Wir müssen die Entwicklungen der letzten zehn Jahre beleuchten. Ich denke, das wäre ein ganz wichtiger Schritt, um dieses Konzept nach vorne zu bringen. Der letzte Punkt. Eines ist, glaube ich, ganz besonders wichtig: dass dieses Konzept nicht missbraucht oder diskreditiert wird, dass sich also kein Staat, wenn es ihm aus nationalem Interesse passt, darauf beruft, es später in einem anderen Fall aber als Eingriff in die nationale Souveränität ablehnt. ({3}) Das haben wir vonseiten Russlands schon erlebt. Insofern, glaube ich, ist es wichtig, dass wir eine solche Konferenz einberufen. Deutschland wird sich hier aktiv und engagiert einbringen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Heidemarie WieczorekZeul für die SPD-Fraktion. ({0})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, ist die Lehre aus den Katastrophen von Ruanda 1994 und von Srebrenica 1995. Sie ist - Tom Koenigs hat darauf hingewiesen - im Abschlussdokument der UN-Generalversammlung von 2005 von der Staatengemeinschaft mit Zustimmung Deutschlands anerkannt worden. Die Lehre aus … Ruanda und Srebrenica - so sagt Wolfgang Seibel bestand namentlich darin, die Schranke der Achtung vor der einzelstaatlichen Souveränität und der territorialen Integrität … im Interesse des Schutzes des höherwertigen Gutes, nämlich des Schutzes vor Massenverbrechen, zu durchbrechen. Es sollte nicht noch einmal die Situation eintreten, dass die internationale Gemeinschaft tatenlos zusieht, wenn staatliche oder nichtstaatliche Akteure Massenverbrechen … verüben … Diese Herausforderung ist, denke ich, bisher nicht in allen politischen Diskussionen und in der Außenpolitik Deutschlands, aber auch vieler anderer Länder in dem Maße verwirklicht. Ich will daran erinnern, dass die Schutzverantwortung an vier Tatbestände gebunden ist - dabei geht es nicht darum, immer militärisch einzugreifen -: an die Tatbestände des Völkermordes, der Kriegsverbrechen, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der ethnischen Vertreibung. Es ist die primäre Verantwortung der Staaten, ihre Bevölkerung vor diesen Massenverbrechen und vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Wenn sie selbst dazu nicht imstande oder an diesen Verbrechen sogar beteiligt sind, dann geht die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über. Sie hat in der Tat drei Säulen: die Prävention, die Reaktion - damit ist auch die militärische Aktion gemeint und den Wiederaufbau. Aber zur Wahrheit gehört auch, zu fragen: Wer diskutiert frühzeitig über Prävention und die Notwendigkeit des Eingreifens? Hier gibt es meist nur wenig Öffentlichkeit, und vor allen Dingen werden dafür meist nur geringe Finanzmittel mobilisiert. Wir machen in unserem Antrag deutlich: Zum ersten Mal ist mit der Libyen-Resolution des UN-Sicherheitsrats vom März 2011 die internationale Schutzverantwortung der UN in einer konkreten Situation angewandt worden; damit ist eine Völkerrechtsnorm entwickelt worden. Sie erinnern sich: Der von Gaddafi angedrohte Angriff auf die Stadt Bengasi - mit mehr als 600 000 Einwohnern - hätte zu einem Massaker mit Tausenden von Opfern geführt. Der Einsatz hatte die Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, die Aufforderung der Menschen aus dem Land selbst und den Beschluss der Regionalorganisation der Arabischen Liga als Voraussetzung; Frau Schuster hat das ja angesprochen. Es ist deshalb ein schwerer historischer Fehler der Bundesregierung, dass sie sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über die UN-Resolution 1973 der Stimme enthalten hat. ({0}) Durch ihre Entscheidung ist die Bundesregierung ihrer Unterstützungsfunktion für diese Norm der Schutzverantwortung, die ja entwickelt wird, nicht gerecht geworden. Es wäre Zustimmung notwendig gewesen, und gleichzeitig, Frau Schuster, hätte ein Prozess der Überprüfung, ein sogenannter Monitoringprozess, die Aktion entsprechend begleiten müssen. ({1}) Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es vonseiten der Bundesregierung keinerlei Versuch gegeben hat, einen solchen Monitoringprozess zu verwirklichen. Skandalös ist übrigens, dass die Bundesregierung in den nachfolgenden Tagen die Soldaten aus den über dem Mittelmeer nahe Libyen kreisenden AWACS-Flugzeugen abgezogen und auch die zwei Schiffe der Bundesmarine aus einem vor der libyschen Küste kreuzenden Flottenverband der NATO herausgelöst hat. Dessen Aufgabe war die Durchsetzung des vom UN-Sicherheitsrat am 26. Februar 2011 mit der UN-Resolution 1970 beschlossenen Waffenembargos, das die Bundesregierung selbst gefordert und Bundesaußenminister Westerwelle mehrfach begrüßt hatte. ({2}) Es ist absurd, wie sich die Regierung hier verhalten hat. Deutschland sollte nachdrücklich für das Konzept der Schutzverantwortung eintreten und in der EU und auch bei anderen Staaten - zum Beispiel den Schwellenländern - für das Konzept werben. Die Schutzverantwortung muss zum Schwerpunktinstrument der deutschen Entwicklungszusammenarbeit werden, und die Bundesregierung muss ausreichende Finanzmittel für Prävention und Wiederaufbau mobilisieren. Von denjenigen, die die Schutzverantwortung jedenfalls als Prinzip nicht wirklich akzeptieren oder sagen, das seien immer militärische Aktionen - Frau Schuster hat das auch noch einmal gesagt -, wird eingewandt, dass die Libyen-Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, die UN-Resolution 1973, nicht den Auftrag enthalten habe, Gaddafi zu stürzen. Das ist in der Tat richtig. Dass aber gerade diejenigen, die der Resolution des UNSicherheitsrates nicht zugestimmt haben wie Herr Westerwelle, aktiv gesagt haben, Gaddafi müsse gestürzt werden, ist doch ein innerer Widerspruch. ({3}) Hier gibt es ja durchaus gemeinsame Vorschläge. Es ist deshalb wichtig, die Leitkriterien in den UN für die Schutzverantwortung so zu entwickeln, dass ihre Anwendung im Falle Libyens zukünftig nicht als Vorwand genutzt werden kann, die Schutzverantwortung in anderen Situationen abzulehnen. Ich plädiere sehr dafür, dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg versuchen, entsprechende Positionen zu finden. Den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen könnten wir zu einem gemeinsamen Antrag weiterentwickeln. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Dass es keine militärische Initiative im Sinne der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf Syrien gibt, kann nicht als Argument herangezogen werden, dass es hier doppelte Standards gibt. Ein militärisches Eingreifen in Syrien würde die Zahl der Opfer in einer derart komplexen Situation erhöhen. ({4}) Das entbindet uns aber nicht davon, alles zu tun und dazu beizutragen, dass dem Blutvergießen in Syrien Einhalt geboten wird. Es schmerzt uns, wenn wir die Situation der Menschen dort sehen. Meines Erachtens - das ist meine persönliche Meinung - wäre im UN-Sicherheitsrat ein Drängen auf die Entsendung von UN-Blauhelmen notwendig. Die unbewaffneten UN-Beobachter können das, was von dem Annan-Plan erwartet wird, jedenfalls nicht leisten. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es aber falsch gewesen wäre, in Libyen einzugreifen, halte ich für einen Vorwand. Dass wir nicht alle retten können, heißt doch nicht, dass wir auch diejenigen nicht retten sollten, die wir retten können. Das müssen wir in all den Fällen tun, in denen wir dazu alle Möglichkeiten haben, und zwar mit Leidenschaft, Engagement und finanzieller Unterstützung. Die Prävention - das ist völlig klar - müssen wir natürlich immer an die Spitze stellen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass wir uns dieses Themas annehmen, auch wenn ich mir eine andere Debattenzeit hätte vorstellen können. ({0}) Aber das Thema verdient die Erörterung in diesem Plenum in jedem Falle. Ich stelle voran: Wir sind uns einig, dass das Prinzip der Schutzverantwortung ein neues, relativ junges internationales Prinzip ist, das noch mit Leben gefüllt werden muss. Aber die Tatbestände, die formuliert worden sind - die Vorredner haben das bereits ausgeführt -, sind unstreitig. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Nationen, die sich innerhalb der UN dafür einsetzt, dass das Prinzip weiterentwickelt wird, dass es Kraft gewinnt und dass es ein Instrumentarium wird, das eine gewisse Verlässlichkeit bietet. Dabei muss Orientierung bei der Frage geschaffen werden, wann ein möglichst großer Konsens in der internationalen Gemeinschaft hergestellt werden kann, um einzugreifen. Wir sind uns natürlich auch über die drei Säulen Prävention, Reaktion und Wiederaufbau einig. Darüber hinaus sind wir uns darüber einig, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, dass wir natürlich beim Thema Prävention noch nicht genug tun. Das ist auch in den Beiträgen der Vorredner deutlich geworden. Automatisch liegt natürlich ein Schwerpunkt auf der Reaktion. Ein Schwerpunkt ist auch die Diskussion, auch die streitige Diskussion hier und anderswo, zum Beispiel in der UN. Daher ist eine Reaktion jetzt angesagt. Die Frage muss beantwortet werden, ob sie notwendig und gerechtfertigt ist. Deutschland tut gut daran, die präventiven Bemühungen zu verstärken. Wenn wir hierüber in diesem Hause einen Konsens herstellen, dann fände ich das schon wertvoll. Wann allerdings das Prinzip der Schutzverantwortung heranzuziehen ist, um auch militärisch zu intervenieren, darüber sind wir ganz offenkundig unterschiedlicher Auffassung. Wichtig ist, dass wir dieses Instrument nicht auf militärische Interventionen verengen. So ist es, glaube ich, auch nie gemeint gewesen. Das kann immer ein mögliches Element sein. Es kann aber immer nur die Ultima Ratio sein und sollte nicht die erste Maßnahme sein, wozu wir uns genötigt sehen, auch wenn es - das geben ja schon die Tatbestandsvoraussetzungen her - um Gräueltaten geht. Wir dürfen nicht die Ersten sein, die zu den Waffen eilen. Das sollte ein Konsens in diesem Hause sein. ({1}) Vor dem Hintergrund sage ich in Richtung der linken Seite des Hauses - die Linkspartei, Herr Gehrcke, lasse ich an der Stelle einmal außen vor, weil Sie da eine relativ klare Position haben, die ich überhaupt nicht teile -: Das, was wir von den Sozialdemokraten und den Grünen zu diesem Thema hören, ist nicht konsistent. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen. Als die Bundesregierung angekündigt hat, sich enthalten zu wollen, haben wir aus den ersten Reihen Ihrer Fraktionen eine Ad-hocZustimmung vernommen. ({2}) Es wurde gesagt: Wir haben jedes Verständnis dafür, dass sich Deutschland enthält. - Das kommt aus Ihren Reihen. Fragen Sie Herrn Steinmeier und Herrn Trittin, was sie damals dazu gesagt haben. Man hat sich dann später korrigiert. Aber seien Sie so ehrlich: Die erste Reaktion von Rot und Grün war Verständnis für diese Enthaltung. ({3}) So ist das gewesen. Das muss hier schon einmal gesagt werden. Im Nachhinein tun Sie so, als hätten Sie alles besser gewusst nach dem Motto „Wäre Deutschland doch bei der militärischen Aktion dabei gewesen“. Es ist keine Frage, dass es sich um ein menschenverachtendes Regime handelte und dass sich Gräueltaten andeuteten. Wie Sie dann, Frau Wieczorek-Zeul, in einer rhetorischen Volte dazu kommen, einen Einsatz in Syrien komplett abzulehnen, wo doch dort im Grunde jeden Tag Anschläge wie in Bengasi geschehen, und wie Sie das hier schlüssig begründen wollen, das kann ich schlicht und ergreifend nicht nachvollziehen. Das muss ich Ihnen in aller Offenheit sagen. Hier müssen Sie schon den gleichen Maßstab anlegen. Deswegen bin ich ganz aufseiten der Bundesregierung, die die Schutzverantwortung, was das militärische Element angeht, ganz offensichtlich restriktiv interpretiert. Das hat Deutschland insgesamt immer gut angestanden. ({4}) Das sollte auch für die Zukunft an dieser Stelle unser Grundsatz sein. ({5}) Das Militärische ist nicht der Ausweg. Mit diesen Worten möchte ich meine Ausführungen beenden und freue mich auf einen deutschen Sieg im Fußball. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, dass es wirklich gut ist, sich am Beginn der Debatte doch einmal an die Charta der Vereinten Nationen und an den Gründungsgeist der Vereinten Nationen zurückzuerinnern und davon auszugehen. Es waren zwei große Gedanken, die die Vereinten Nationen bewegt haben: Krieg sollte als Mittel der Politik ausgeschlossen werden, und man wollte nie wieder Faschismus, Diktaturen und Gewalt dulden. - Das sind die Leitlinien der Vereinten Nationen. Deswegen haben sich die Vereinten Nationen sehr früh darauf festgelegt, Gewalt und bereits die Androhung von Gewalt aus dem Zusammenleben der Völker auszuschließen. Stattdessen sind mehr und mehr Überlegungen zu Konfliktvermeidung und friedlicher Konfliktlösung entwickelt worden. Die Vereinten Nationen haben einen großen Anteil daran, dass das Kolonialsystem zusammengebrochen ist. Ich glaube, dass man sich, von den Positionen der Vereinten Nationen herkommend, besser die Frage stellen sollte: Gehören Menschenrechte zum Völkerrecht, oder stehen sie außerhalb des Völkerrechts? Das ist die rechtliche Frage. Ich möchte aus meiner Sicht ganz deutlich sagen: Menschenrechte gehören zum Völkerrecht und sind Teil des Völkerrechts. Das sollte unbestritten sein. ({0}) Die großen beiden Dokumente der Vereinten Nationen sind für mich die Charta der Vereinten Nationen und die Charta der Menschenrechte. Beides muss umgesetzt werden. Daraus ziehe ich für mich die Schlussfolgerung, dass die Vereinten Nationen nicht nur für Menschenrechte kämpfen dürfen, sondern sie sind verpflichtet, für Menschenrechte zu kämpfen und in diesem Bereich möglichst noch mehr zu tun. Um den Kampf um Menschenrechte geht es auch in den vorliegenden Anträgen. Ich finde vieles, was in diesen Anträgen steht, vernünftig. Ich würde gern in den Ausschüssen, wo wir darüber noch reden werden, einiges vertiefen wollen. Aber ich will auch gleich auf die Pferdefüße zu sprechen kommen, die für mich eine Zustimmung zu diesen Anträgen ausschließen. Beide Anträge beinhalten die Möglichkeit eines Krieges. Es ist allerdings anders formuliert: Die SPD spricht in ihrem Antrag von militärischem Eingreifen oder militärischer Intervention. Die Grünen sprechen von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta. Beide Anträge beziehen militärische Gewalt ein und schließen sie nicht aus. ({1}) Dem stimme ich nicht zu. Wir werden nicht unsere Stimmen für den Einsatz militärischer Gewalt geben. ({2}) - Ich behaupte ja nicht, dass die Anträge damit enden. Das ist erst der Anfang. Ich habe Ihre Anträge gelesen. Es gab einmal eine Zeit, wo für die Sozialdemokratie militärische Gewalt nicht Ultima Ratio, sondern Ultima Irratio war. Das war zur Zeit von Willy Brandt. Für die Grünen galt dasselbe. Hier müssen Sie sich entscheiden: Wird militärische Gewalt für Sie wieder Ultima Ratio? Dann landet man schnell bei militärischer Gewalt. Oder bleibt es dabei, dass Krieg die Ultima Irratio ist? Dann müssen wir sie ausschließen. ({3}) Schauen Sie sich einmal die Opfer der Kriege an: in Jugoslawien - bei diesem Krieg wurde immer mit den Menschenrechten argumentiert -, im Irak, in Afghanistan und Libyen. Wenn Sie die Zahl der Opfer zusammenrechnen, kommen Sie auf das furchtbare Ergebnis, dass wahrscheinlich über 900 000 Menschen in diesen Kriegen ihr Leben verloren haben. Das ist eine gewaltige Opferzahl. Kann es wirklich sein, dass wir akzeptieren, dass aufgrund des Einsatzes von militärischer Gewalt und ihrer Folgen Menschen Leben und Gesundheit verlieren? Das entspricht nicht meiner Vorstellung. Ich glaube nicht, dass man über den Krieg Menschenrechte erkämpfen kann. Deswegen will ich militärische Gewalt ausschließen. ({4}) Ich schlage Ihnen gerne ein anderes Herangehen vor. Man kann über Schutzmaßnahmen in Form eines Pakts im Parlament diskutieren. Ich möchte gerne verhindern, dass Menschen weiter im Mittelmeer ertrinken, weil sie nach Europa kommen wollen. 14 000 Menschen sind im Mittelmeer umgekommen. Ist das nicht eine Herausforderung? Ich möchte die Flüchtlingsströme mit ihren Hunderttausenden von Menschen beenden. Ich möchte, dass wir eine Sprache finden, in der wir die Dinge wieder beim Namen nennen und in der Krieg wieder Krieg heißt statt militärische Einmischung, Schutzverantwortung oder Zwangsmaßnahmen. Ich möchte, dass wir eine Art und Weise der Menschenrechtspolitik entwickeln, die gradlinig ist. Man kann nicht auf der einen Seite hinschauen und auf der anderen Seite wegschauen. Bei Libyen hatte sich Deutschland - das war das einzig Vernünftige dieser Bundesregierung - seiner Stimme enthalten. Wir hätten, wenn wir es zu entscheiden gehabt hätten, dagegen gestimmt. Der Libyen-Krieg hat das Leben von 40 000 Menschen gekostet. Da können Sie doch nicht sagen, dass er vernünftig war. Danke sehr. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist, denke ich, in dieser Debatte deutlich geworden, dass das Konzept der Schutzverantwortung, das in den letzten zehn Jahren entwickelt worden ist, darauf abzielt, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. Es hat im Jahr 2005 Eingang in das Abschlussdokument des Weltgipfels der Vereinten Nationen gefunden. Seit 2008 gibt es einen Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen zu diesem Thema. 2009 hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen einen Bericht vorgelegt, in dem es um die Ausdifferenzierung der Verantwortlichkeiten in die Bereiche Prävention, Reaktion und Wiederaufbau geht. Frau Kollegin Wieczorek-Zeul hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zugleich der Anwendungsbereich auf die vier Massenverbrechen Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingegrenzt worden ist. Aber es bleibt dabei, meine Damen und Herren: Die Entscheidung über den Einsatz militärischer Mittel zur Umsetzung der Schutzverantwortung verbleibt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Rahmen von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. Die Entwicklung des Konzepts der Schutzverantwortung vor dem Hintergrund der schrecklichen Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan, in Ruanda, in Darfur und im Kongo ist schon dargestellt worden. In Libyen hat dieses Konzept insofern eine Weiterentwicklung erfahren, als der Sicherheitsrat in seiner Resolution ausdrücklich auf die Schutzverantwortung der libyschen Behörden gegenüber der eigenen Bevölkerung Bezug genommen hat. Deswegen zeigt der Fall Libyen die Stoßrichtung des Konzepts auf: Wo Staaten ihrer Schutzverantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht nachkommen, soll die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft übergehen. Diese soll dann handeln, um drohende oder akute schwerste Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Das Konzept reiht sich damit in einen Paradigmenwechsel ein, der schon seit längerem stattfindet und auch vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen befördert wurde, und zwar im Hinblick auf die tragenden Säulen des Völkerrechts: die Prinzipien der Souveränität, des Interventionsverbots und des Gewaltverbots. Sicherlich bleibt es die essenzielle Aufgabe eines Staates, die Sicherheit seiner eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Die Staaten haben diese Verantwortung in zahlreichen Verpflichtungen zum Menschenrechtsschutz und zum humanitären Völkerrecht verankert. Je umfassender und konkreter diese Bindungen durch das Völkerrecht sind, desto kleiner wird der Bereich ausschließlicher nationaler Souveränität; desto sensibler stellt sich aber auch die Frage nach einer Intervention von außen im Sinne der Schutzverantwortung. Das hat sich zuletzt im Falle Libyens gezeigt: Dort haben die intervenierenden Kräfte unter Berufung auf die Schutzverantwortung einen Regimewechsel herbeigeführt. Wir müssen im Blick behalten, dass dieses Konzept von vielen Staaten, die ihm ohnehin kritisch gegenüberstehen, durch diesen Regimewechsel als diskreditiert angesehen wird. Aufgrund dieser Entwicklung möchte ich dafür werben, dass wir dem Konzept der Schutzverantwortung den Stellenwert beimessen, den es auch im Abschlussdokument des Weltgipfels der Vereinten Nationen hatte, nämlich den eines politischen Signals. Der Grundsatz, dass die Verantwortung eines Staates darin besteht, seine Bevölkerung zu schützen, ist nicht gerade neu; denn im Völkervertragsrecht und im Völkergewohnheitsrecht ist diese Verpflichtung schon lange verankert, zum Beispiel in den Normen des internationalen Menschenrechtsschutzes, in den Genfer Abkommen zum humanitären Völkerrecht, in der Völkermordkonvention und im Völkerstrafrecht. Deshalb ist es wichtig, dass das Gipfeldokument von 2005 die Rolle und die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und damit auch die Befugnisse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen betont und bestätigt. Außer dem damaligen Aufruf, eine Frühwarnkapazität im Rahmen der Vereinten Nationen zu unterstützen, gibt es keine rechtliche Weiterentwicklung. Insbesondere werden keine Optionen für den durchaus wahrscheinlichen Fall einer Blockade des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen formuliert. Eines muss klar herausgearbeitet werden: Es gibt im Rahmen des Konzepts der Schutzverantwortung keine Pflicht zum Eingreifen bei schwersten Menschenrechtsverletzungen. Das Konzept kann aber bei der Analyse von Gefährdungssituationen und bei der Operationalisierung von Handlungsoptionen durchaus gute Dienste leisten. Deutschland sollte dabei - hier gebe ich den Antragstellern recht - im Rahmen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union sowie im Dialog mit den Menschenrechtsorganisationen eine aktive Rolle spielen und seine vielfältigen Erfahrungen einbringen. Eine Gefahr bei der Berufung auf die Schutzverantwortung besteht - das ist schon angesprochen worden in der Verkürzung auf die militärische Option, die oft falsche Erwartungen erweckt. Ich befürworte sehr, dass wir den Bereich der Analyse und Früherkennung sowie den Präventionsbereich weiter ausbauen. Wenn es aber um den Einsatz der Bundeswehr geht, müssen wir uns wie üblich die Fragen stellen: Nützt oder schadet eine Intervention? Wo sind die Grenzen der Intervention? Wie lange dauert sie? Wie kann sie beendet werden? Worin bestehen unsere Interessen und die Bündnisinteressen? Ich rate zur Vorsicht bei der Schutzverantwortung, um keine Enttäuschungen zu produzieren. Aus meiner Sicht macht es am meisten Sinn, das Konzept der Schutzverantwortung im Hinblick auf seine präventiven Möglichkeiten zu diskutieren. Die Kapazitäten der Vereinten Nationen in den Bereichen der Früherkennung und der gezielten Beobachtung krisenhafter Entwicklungen sollten überprüft werden. Interessant ist sicherlich auch der Austausch mit unseren amerikanischen Partnern. Die Obama-Administration hat ein Atrocities Prevention Board eingerichtet, das einen Katalog an geeigneten Maßnahmen und Instrumenten erarbeiten soll. Lassen Sie mich in einem letzten Schwenk

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Maximal in einem letzten Satz. Achten Sie bitte auf die Zeit!

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- auf das Prinzip der strukturellen Krisenvorsorge eingehen, das die EU in unserer Nachbarschaft hervorragend verwirklicht, insbesondere auf dem Balkan, wo die Menschen vor nicht allzu langer Zeit ethnische Säuberungen ertragen mussten. Wir sollten das, was wir realistischerweise tun können, richtig tun. Die Schutzverantwortung beginnt vor unserer eigenen, europäischen Haustür. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/9584 und 17/8808 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung zur Vorlage auf Drucksache 17/9584 - Tagesordnungspunkt 19 a - ist jedoch strittig. Die Frak- tionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überwei- sungsvorschlag ist angenommen. Damit liegt die Feder- führung beim Auswärtigen Ausschuss. Wir kommen nun zu dem in der Tagesordnung aufge- führten Überweisungsvorschlag zu Tagesordnungspunkt 19 b. Sind Sie mit diesem Überweisungsvorschlag ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013 ({0}) - Drucksache 17/9875 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 17/10145 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({2}) Dr. Stefan Ruppert Dr. Konstantin von Notz - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/10151 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Herrmann Dr. Peter Danckert Vizepräsidentin Petra Pau Michael Leutert b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abschaffung der gesetzlichen Vermutung der „Versorgungsehe“ bei Eheschließung und eingetragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Beamten nach dem Eintritt in den Ruhestand - Drucksachen 17/7027, 17/10144 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({5}) Dr. Stefan Ruppert Dr. Konstantin von Notz Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem heute von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes gleichen wir die Bezüge der Bundesbeamten, Richter, Soldaten und Ruheständler an die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse in Deutschland an. Der Bund überträgt damit die Ergebnisse der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst inhaltsgleich auf die Beamtenbesoldung. Und das ist ein gutes, es ist aber vor allem ein sehr bewusstes Signal an unsere Staatsbediensteten. Gab es angesichts der heutigen Lage in Europa jemals deutlichere Belege dafür, wie stark und verlässlich unsere öffentliche Verwaltung ihren Dienst leistet? Mit dieser Anpassung der Bezüge honorieren wir die wertvolle Arbeit unserer Beamtinnen und Beamten - eine Arbeit, die für unser Gemeinwohl von elementarem Wert ist und gleichzeitig maßgeblich zum deutschen Standortvorteil beiträgt. Und deshalb müssen die öffentlichen Arbeitgeber auch weiterhin attraktive Arbeitsbedingungen bieten. Um meinem Bild der letzten Reden treu zu bleiben: Der Bund ist als konkurrenzfähiger Arbeitgeber auf der Attraktivitätsleiter wieder eine Sprosse weiter geklettert. Als beamtenpolitischer Sprecher der CDU/CSUFraktion darf ich heute auch die Gelegenheit nutzen, eine Zwischenbilanz zu ziehen, eine Bilanz über eine der tatkräftigsten Legislaturperioden im Sinne der Beamten des Bundes, der Soldaten und Bundesrichter: Ich erinnere an die Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften, die inhaltsgleiche Anpassung der Dienstbezüge mit dem Bundesbesoldungs- und -versorungsanpassungsgesetz von 2010 bis Ende 2011, das Gesetz zum Staatsvertrag über die Verteilung von Versorgungslasten bei bund- und länderübergreifenden Dienstherrenwechseln, das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz 2011 für unsere Soldaten und das Fachkräftegewinnungsgesetz im März dieses Jahres. Wir haben den öffentlichen Dienst in dieser Wahlperiode spürbar fortentwickelt und einige Regelungen aufgefrischt. Selbst die Causa Weihnachtsgeld haben wir wie versprochen bei der ersten möglichen Gelegenheit korrigiert. Durch die nicht einfach zu erzielenden dienstrechtlichen Vereinbarungen im Bundeswehrreform-Begleitgesetz haben wir die geplante Umsetzung der Bundeswehrreform im Sinne der Soldatinnen und Soldaten maßgeblich unterstützt. Die rote Linie der Arbeitsbelastung wurde in einigen Bereichen der Bundesverwaltung überschritten. Der Bundesinnenminister hat daher mit der Entscheidung, die pauschalen Stellenkürzungen auslaufen zu lassen, genau zum richtigen Zeitpunkt ein wichtiges Zeichen gesetzt. Den zahlreichen schriftlichen und persönlichen Rückmeldungen, auch aus den Spitzenverbänden des öffentlichen Dienstes, entnehme ich, dass dieser beamtenpolitische Weg der christlich-liberalen Koalition der richtige ist. Das alles sind schon heute positive Wirkungen für die Fachkräftegewinnung; dennoch bleibt dieses Thema eine der besonderen Herausforderungen für die Zukunft der öffentlichen Verwaltung. So haben Verwaltungen in den kommenden Jahren ihr Angebot an staatlichen Leistungen den veränderten demografischen Rahmenbedingungen anzupassen. Es gilt, zukünftig mehr Menschen mit weniger Verwaltungseinrichtungen zu versorgen. Und gleichzeitig muss die ITgestützte Ansprechbarkeit steigen. Das heißt, Regierungs- und Verwaltungshandeln der Zukunft wird stärker als heute durch Kooperation und Partizipation gekennzeichnet sein; offener und transparenter gegenüber den Bürgern und der Wirtschaft aufzutreten, ist das Ziel. Ein erster Schritt ist hier das Offenlegen von Verwaltungsdaten. Die Förderung des Open Government und die Bedeutung von offenen Daten ist deshalb eines von sieben Steuerungsprojekten für Bund, Länder und Kommunen. Hier hat das Bundesinnenministerium im Oktober 2011 mit dem Beschluss zur Umsetzung der Nationalen E-Government-Strategie Handlungsbedarf erkannt. Wir, die christlich-liberale Koalition, erheben den Anspruch, zukünftig mit einer bürgernahen, wirtschaftlich handlungsfähigen und modernen Verwaltung zu arbeiten. Und hierzu muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen. Gerade im Bereich des E-Government und Open Government sehen wir die Möglichkeit, Akzente für eine noch effektivere Verwaltung zu setzen. Bürger und Unternehmen können noch stärker als Kommunikationspartner in das Verwaltungshandeln online eingebunden werden. Bieten wir in Zukunft den Bürgern oder den Unternehmen verstärkt die Möglichkeit, Information, Kommunikation oder Datentransfers über das Internet zu bewerkstelligen! Das bedeutet auch, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen mitzunehmen, insbesondere zu qualifizieren. Welche nächsten dienstrechtlichen Schritte planen wir in absehbarer Zeit? Wir werden noch in diesem Jahr unter anderem die Familienpflegezeitregelungen bei Tarifbeschäftigten auch auf die Beamtinnen und BeamArmin Schuster ({0}) ten des Bundes übertragen. Die christlich-liberale Regierungskoalition sieht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der öffentlichen Verwaltung auch als eine Art Vorbildfunktion für die privaten Arbeitgeber und eine gerechtere Gesellschaft. Pflege von Angehörigen in der häuslichen Umgebung muss auch für Beamte möglich sein. Außerdem werden wir uns in dieser Wahlperiode noch mit den Themen Mitnahmefähigkeit von Versorgungsanwartschaften und Vereinbarkeit von Ehrenamt und öffentlichem Dienst beschäftigen. Wir können für die Verwaltung am Arbeitsmarkt nicht die finanziellen Anreize der Privatwirtschaft bieten; wir können aber mit den beschriebenen Vorhaben dafür sorgen, dass die Bundesverwaltung Fachkräfte gewinnen kann, bei denen attraktive Arbeitsbedingungen eine größere Motivation auslösen. Abschließend muss ich leider noch zum unnützen Antrag der Linken Stellung nehmen: Sie, sehr geehrte Damen und Herren der Linkspartei, wollen die Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, die eine Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft mit einer Beamtin oder einem Beamten im Ruhestand eingehen, aufheben. Ihrer Meinung nach handelt es sich um Altersdiskriminierung mit moralischer, sozialer und ökonomischer Benachteiligung. Die Linksfraktion bezieht sich auf die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG des Rates zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Im Beamtenversorgungsgesetz ist ebenfalls geregelt, dass ein Hinterbliebener Anspruch auf Witwengeld nur erhält, wenn die Ehe mit dem Beamten während dessen aktivem Beschäftigungsverhältnis mindestens ein Jahr gedauert hat ({1}). Diese Regelung zielt darauf ab, dem Missbrauch der Ehe vorzubeugen. Dies ist nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung absolut verfassungsgemäß. Von Altersdiskriminierung kann also keine Rede sein. Wir legen Ihnen mit dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz in kürzester Frist die bestmögliche Form der Anpassung der Bezüge für unsere Beamten, Versorgungsempfänger und Bundesrichter zur Zustimmung vor. Auch wenn ich für die christlichliberale Koalition bereits eine sehr positive beamtenpolitische Zwischenbilanz ziehen konnte: Die CDU/CSU wird sich auch weiterhin mit aller Kraft für eine attraktive Fortentwicklung und Modernisierung des öffentlichen Dienstes starkmachen.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir debattieren heute zwei voneinander unabhängige Vorlagen zum Beamtenrecht, auf welche ich deshalb gesondert eingehen werde. Bei dem Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/ 2013 der Bundesregierung ({0}) handelt es sich um die übliche Anpassung der Bezüge an die Entwicklungen der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, die regelmäßig zu erfolgen hat. Die hier infrage stehende Anpassung orientiert sich an den Ergebnissen der Tarifverhandlungen für die Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes des Bundes vom 31. März 2012. Bereits während der Verhandlungen hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich die zeit- und inhaltsgleiche Übertragung der Tarifeinigung auf Bundesbeamtinnen und -beamte, Soldatinnen und Soldaten sowie Versorgungsempfängerinnen und -empfänger des Bundes gefordert. Genau dies - nicht mehr und nicht weniger - bezweckt der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung. Dem stimmen wir deshalb zu. Die zweite heute hier zu beratende Vorlage ist ein Antrag der Fraktion Die Linke ({1}) zur beamtenrechtlichen Hinterbliebenenversorgung im Falle einer sogenannten Nachheirat. Nach dem Beamtenversorgungsgesetz sind Ansprüche des hinterbliebenen Ehegatten auf Witwengeld unter anderem ausgeschlossen, wenn die Ehe erst nach Eintritt der Beamtin bzw. des Beamten in den Ruhestand geschlossen wurde und die Ruhestandsbeamtin bzw. der -beamte zur Zeit der Eheschließung die Regelaltersgrenze erreicht hatte. Derzeit entspricht die Regelaltersgrenze der Vollendung des 67. Lebensjahres. In solchen Fällen ist grundsätzlich ein Unterhaltsbeitrag zu gewähren. Auch in allen Landesbeamtenversorgungsgesetzen finden sich solche Regelungen. Wie die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag richtig vorbringt, trifft diese beamtenrechtliche Bestimmung auch auf Beamtinnen und Beamte zu, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben; denn das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 28. Oktober 2010 ({2}) eine diesbezügliche Gleichstellung mit der Ehe festgestellt. Warum die Antragsteller nun in der Begründung so umfangreich auf den Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartnerinnen und -partner eingehen, ist nicht ersichtlich und sei dahingestellt. Richtig ist auch, dass es sich hier um eine Regelung handelt, die „einzig und allein an das Alter ({3}) anknüpft“. Jedoch ist zu betonen, dass nicht jede Benachteiligung aufgrund des Alters auch gleich eine Diskriminierung darstellt; denn Ungleichbehandlungen können durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein. Hier muss man also etwas genauer hinschauen. Die Antragsteller beziehen sich in ihrer Begründung auf die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe. Menschen im höheren Alter werde unterstellt, dass sie die Ehe bzw. eingetragene Partnerschaft nur zum Zweck der Versorgung geschlossen hätten. Aber das ist gar nicht Bestandteil der beamtenrechtlichen Regelung, deren Aufhebung die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert. Denn § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Beamtenversorgungsgesetz schließt einen Anspruch auf Witwengeld nicht deshalb aus, weil eine Versorgungsabsicht unterstellt wird. Vielmehr handelt es sich hier um den Fall der sogenannten Nachheirat oder Ruhestandsehe. Hintergrund dieser Regelung ist die Erwägung, dass die GeZu Protokoll gegebene Reden währung des Witwengeldes auch ein Ausgleich für die Beteiligung des Ehegatten an der Lebensleistung des Beamten sein soll. Genau dies ist eben nicht der Fall, wenn die Ehe erst nach Eintritt der Beamtin bzw. des Beamten in den Ruhestand geschlossen wurde. Die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe findet sich hingegen in § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Beamtenversorgungsgesetz. Nach dieser Bestimmung wird Eheleuten bzw. Lebenspartnern ein Anspruch auf Witwengeld untersagt, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat. Diese Regelung knüpft aber eben nicht an das Alter, sondern an die kurze Dauer der Ehe bzw. eingetragene Lebenspartnerschaft an. Wie bereits erwähnt kann eine Benachteiligung aufgrund des Alters durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein; dann liegt auch keine Diskriminierung - im vorliegenden Zusammenhang: Altersdiskriminierung vor. Genau dies ist hier der Fall. Der Ausschluss vom Witwengeld aus dem Grund, dass die Regelaltersgrenze bei Eheschließung bereits überschritten war, stellt eine Ungleichbehandlung älterer Personen dar. Hierfür gibt es aber eine sachliche Rechtfertigung: Der Anspruch auf Witwengeld ist eben nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Eheleute bzw. Lebenspartner ein bestimmtes Alter erreicht haben. Der Grund für die Versagung der Leistung liegt vielmehr darin, dass das Witwengeld eine Kompensation für die Unterstützung des Ehegatten bzw. Lebenspartners an der Lebensleistung der Beamtin bzw. des Beamten darstellt. Davon kann man eben nicht sprechen, wenn die Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft erst nach Beendigung der beruflichen Laufbahn der Beamtin bzw. des Beamten geschlossen wurde. So geht auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Beamtenversorgungsgesetz mit höherrangigem Recht, insbesondere Art. 3 und 6 Grundgesetz sowie Unionsrecht, vereinbar ist ({4}). Die Fraktion Die Linke vermengt in ihrem Antrag zwei beamtenrechtliche Bestimmungen zum Ausschluss vom Witwengeld. So fordert sie die Aufhebung der Regelung zur Nachheirat ({5}), begründet dies aber damit, dass die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe ({6}) eine Altersdiskriminierung darstelle. Ich empfehle einen Blick in einen Kommentar zum Beamtenrecht. Der Antrag ist folglich abzulehnen.

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Beamtentum in Deutschland hat eine lange Tradition. Als Vater des Berufsbeamtentums in seiner modernen Form gilt der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. von Preußen; König von 1713 bis 1740. Er verlangte von seinen Beamten, was heute als typisch preußische Tugenden gilt, nämlich treu, fleißig, unbestechlich, pünktlich, sparsam und genau zu sein. Sein Sohn Friedrich II. prägte als Erster den Begriff des Staatsdieners. Er betrachtete sich selbst als ersten Diener des Staates. Vielleicht hilft dieser Ausflug in die Geschichte, den Ursprung des gegenseitigen Dienst- und Treueverhältnisses besser zu verstehen, in dem Dienstherr und Beamte noch heute verbunden sind. Aus Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes ergibt sich das Alimentationsprinzip als einer der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums. Es verpflichtet den Dienstherrn, Beamten während des aktiven Dienstes und im Ruhestand einen angemessenen Lebensunterhalt zu zahlen. Aus § 14 des Bundesbesoldungsgesetzes und aus § 70 des Beamtenversorgungsgesetzes ergibt sich für den Gesetzgeber die Verpflichtung, die Bezüge der Beamten, Soldaten und Richter des Bundes regelmäßig an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse anzupassen. Gemeinsam beschließen heute alle Fraktionen des Deutschen Bundestages den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Besoldungs- und -versorgungsanpassung und werden damit ihrem gesetzlichen Auftrag einmal mehr gerecht. Mit dem Gesetzentwurf wird der Tarifabschluss für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vom 31. März 2012 auf die Beamtenbezüge übertragen. Allerdings wird die Erhöhung um 0,2 Prozentpunkte gegenüber den Erhöhungen für Tarifbeschäftigte reduziert. Der Differenzbetrag fließt in die Versorgungsrücklage des Bundes gemäß den Bestimmungen im Versorgungsreformgesetz 1998. Damit erbringen die Beamten für die Haushaltsjahre 2012 und 2013 einen Sparbeitrag von etwa 76 Millionen Euro. Die Erhöhung von insgesamt 5,7 Prozent der Bezüge wird in drei Schritten umgesetzt. Im ersten Schritt erfolgt rückwirkend zum 1. März 2012 eine Anhebung um 3,3 Prozent, zum 1. Januar 2013 eine weitere um 1,2 Prozent und zum 1. August 2013 dann die finale um 1,2 Prozent. Die Anwärterbezüge erhöhen sich zum 1. März 2012 um 50 Euro, zum 1. August 2013 nochmals, nämlich um 40 Euro. Angesichts der erfolgreichen Wachstums- und Konsolidierungspolitik der Koalition ist die Übertragung der Tarifverhandlungsergebnisse auf den Beamtenbereich mehr als gerechtfertigt. Mit ihrem Sparbeitrag für die Versorgungsrücklage des Bundes tragen die Beamten außerdem zur Sicherung der Finanzierungsgrundlage der Beamtenversorgung bei. Es ist erfreulich, dass wir dieses Gesetzesvorhaben fraktionsübergreifend beschließen können. Die mit dem Antrag der Fraktion Die Linke angestrebte Änderung der Gesetzeslage zum Witwengeld im Beamtenrecht lehnen wir hingegen ab. Die Ehe ist - auch nach dem Grundgesetz - ein schützenswertes Gut. Es ist legitim, ihrem Missbrauch zum finanziellen Vorteil vorzubeugen. Dazu dient unter anderem die betreffende Bestimmung des § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 des Beamtenversorgungsgesetzes. Wenn eine Ehe nur geschlossen wird, um die Witwenrente des Partners zu sichern, kann man gerechtfertigt von einer solchen Versorgungsehe ausgehen. Mit Altersdiskriminierung hat das nichts zu tun. Mit ihrem Antrag sprengt die LinksZu Protokoll gegebene Reden fraktion bei weitem den Rahmen, den das Alimentationsprinzip dem Gesetzgeber vorgibt.

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die zeit- und inhaltsgleiche Übernahme der Ergebnisse der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst begrüßen wir ausdrücklich. Für die Linke ist das eine Selbstverständlichkeit, bei der Bundesregierung ist man sich da leider nie sicher. Offensichtlich will die Bundesregierung aber ein Desaster wie beim Weihnachtsgeld vermeiden. Der massive Druck aus Gewerkschaften und Opposition war zu stark und der Vertrauensverlust unter den Beamtinnen und Beamten kaum wiedergutzumachen. Die andauernde Verärgerung in der Beamtenschaft wegen der beamtenrechtlichen Regelungen bei der Bundeswehrreform, den Zuständen bei der Bundespolizei und infolge der allgemeinen Arbeitsverdichtung in den Bundesbehörden erlaubt keine weiteren Konfliktpunkte. Inzwischen ist auch das Defizit an hochqualifizierten Arbeitskräften in der Bundesverwaltung unübersehbar. Etwaige Besoldungskürzungen würden bei der Fachkräftegewinnung kontraproduktiv wirken. Auch das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur angemessenen Alimentierung - W-Besoldung - dürfte die Bundesregierung zur zeit- und inhaltsgleichen Übernahme bewogen haben. Allerdings ist die Fortführung der Verminderung der Erhöhung der Bezüge um 0,2 Prozentpunkte für die Versorgungsrücklage, bei der in den letzten Jahren eingetretenen Verminderung des Besoldungs- und Versorgungsniveaus, so nicht mehr gerechtfertigt. Das Bundesbesoldungsgesetz erlaubte eine Verminderung der Kürzungen auch unter 0,2 Prozent im Falle geringer Anpassungen. Der DGB fordert deshalb eine Aussetzung der Kürzung für die beiden Erhöhungsschritte zum 1. Januar 2013 und 1. August 2013. Dem können wir uns nur anschließen. Nun zu unserem Antrag zur Abschaffung der gesetzlichen Vermutung der Versorgungsehe. Wie Sie wissen, ist nach aktueller Rechtslage das Witwengeld für die Fälle ausgeschlossen, in denen die Ehe erst nach dem Eintritt der Beamtin oder des Beamten in den Ruhestand geschlossen worden ist und/oder die Regelaltersgrenze bereits erreicht war. Das führt zur Situation, dass eine Eheschließung am Tag vor der der Pensionierung bzw. der Regelaltersgrenze dazu führt, dass Witwen oder Witwer alle Versorgungsrechte genießen können. Wird die Ehe allerdings einen Tag später geschlossen, sind Versorgungsansprüche paradoxerweise hinfällig. Diese Regelung beruht auf einem Gesellschaftsmodell, in dem Ehescheidungen und Zweit- oder Drittehen die Ausnahme waren und die Lebenserwartungen deutlich geringer ausfielen. Die Verhältnisse haben sich rasant verändert, und es ist keine Ausnahme, dass sogenannte Spätehen auch 20 Jahre und länger Bestand haben. Was früher absolut selten war, wird immer häufiger Realität. Neben der Verkennung gesellschaftlicher Realitäten würde eine Aufrechterhaltung der gesetzlichen Vermutung der Versorgungsehe bei Eheschließung und eingetragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Beamten nach dem Eintritt in den Ruhestand auch dem Altersdiskriminierungsverbot im Europarecht und letztlich auch dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes widersprechen. Dass CDU/CSU unserem Antrag im Innenausschuss nicht zustimmen konnte, ist Ihrem konservativen Bild von Familie und Ehe geschuldet. Das üblicherweise opportunistische Abstimmverhalten der FDP verwundert mich ebenfalls nicht. Völlig unklar ist mir hingegen, warum SPD und Grüne unseren Antrag abgelehnt haben. Ich sehe keine Hinderungsgründe, die Regelung für Hinterbliebene in diesem Punkt anzupassen. Weder wird die finanzielle Belastung immens steigen, noch ergeben sich rechtssystematische Probleme. Sie würden aber eine Gerechtigkeitslücke schließen. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag im Plenum zu!

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die unter dem Strich diesmal doch deutlich ausfallenden Anhebungen der Dienst- und Versorgungsbezüge im Bund begrüßen wir. Wir stehen zu der auch in § 14 BBesG einfachgesetzlich festgeschriebenen regelmäßigen Anpassung. Dort heißt es - daran soll hier gleich eingangs erinnert werden -: Die Besoldung wird entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und unter Berücksichtigung der mit den Dienstaufgaben verbundenen Verantwortung durch Gesetz regelmäßig angepasst. Die Amtsangemessenheit begrenzt den Gesetzgeber zwar bei der Festsetzung der Erhöhung, er hat aber einen weiten Gestaltungsspielraum. Die Eckdaten von Haushaltslage einerseits und allgemeiner Gesamtentwicklung bei Löhnen und Gehältern andererseits waren - trotz der andauernden, höchst angespannten Lage aufgrund der europäischen Finanzkrise mit ungewissem Ausgang - dazu angetan, eine auch im Vergleich zu vergleichsweise mäßigen Abschlüssen der Vorjahre deutlichere Runde der Übertragung der Ergebnisse der öffentlichen Tarifrunde auch für die Beamten, Richter und Soldaten im Bund abzuschließen. Das liegt auch daran, dass der Bund über eine im europäischen Vergleich nach diversen Maßnahmen der vergangenen Jahre vergleichsweise moderate Gesamtzahl von Beamten verfügt, die zudem bei einer im Vergleich längeren Gesamtarbeitszeit eine weiter wachsende Anzahl von Aufgaben zu erledigen hat. An dieser Stelle sollte erinnert werden, das das sogenannte Alimentationsprinzip für die Berufsbeamten seine Absicherung in Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes findet. Die besondere Funktion der Beamten in ihrer auf das Gemeinwohl verpflichteten Aufgabenerfüllung, die Bezogenheit der Versorgungsansprüche auf ein lebenslanges „commitment“ und die zahlreichen mit der BeZu Protokoll gegebene Reden amtenstellung einhergehenden Verpflichtungen prägen und tragen diese Sonderstellung. Mit den regelmäßigen Anpassungen an die Ergebnisse der Aushandlungen des öffentlichen Dienstes wird ein weiteres Auseinanderfallen der Bezüge der heute oftmals in einem Büro zusammenarbeitenden Beamten und öffentlichen Angestellten vermieden. Insoweit geht es mitnichten um dumpfe Tarifrituale; denn die öffentlich-rechtlichen Geldleistungen machen wie in der Privatwirtschaft auch einen zentralen Bestandteil der Freiheiten der Berufsbeamten aus, und diese sind unter anderem ebenso betroffen von Schwankungen wie etwa den Kaufkrafteinbußen aufgrund schleichender Inflation. Keinesfalls aber kann eine noch so üppige Anhebung der Dienst- und Versorgungsbezüge eine Politik für die Zukunftsfähigkeit des öffentlichen Dienstes auch im Bereich der Beamtenschaft ersetzen. Unsere Vorstellungen von staatlicher Steuerung beispielsweise in den Bereichen von Umwelt und Energie sind ohne eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung nicht zu haben. Neben der Finanzierbarkeit bürgernaher Dienstleistungen und dem Damoklesschwert der herannahenden Pensionierungswelle - vor allem auf Landesebene - für die Aufgabenerfüllung geht es hier vor allem darum, den öffentlichen Dienst als attraktives Tätigkeitsfeld zu erhalten. Die entsprechenden Stichworte wie der demografische Wandel, aber auch die sich unter anderem aufgrund veränderter Einstellungen der Beschäftigten verändernde Konkurrenzlage mit der Privatwirtschaft verlangen hier kontinuierliche Nachsteuerung. Eine konsequente Modernisierung umfasst Fragen der weiteren organisationellen Effektivierung, bei der beispielsweise das Laufbahnrecht, aber auch perspektivisch der genaue Umfang des Berufsbeamtentums selbst kritisch überprüft werden sollten. Begriffe wie Attraktivität des Berufsbildes und Fachkräftemangel sind bei der Bundesregierung erfreulicherweise angekommen, nur sind die Ansätze, hier mit anderen Methoden als monetären Anreizen zu Werke zu gehen, noch zu zaghaft. Es wird zu evaluieren sein, welchen Mehrwert zum Beispiel das Fachkräftegewinnungsgesetz gebracht hat. Auch Familienfreundlichkeit, Gesundheits- und Arbeitszeitmanagement, Fortbildungsperspektiven - all dies sind ausbaufähige Bereiche. Wir Grüne setzen auf einen starken öffentlichen Dienst. Die Beamtenschaft mit ihrer besonderen gesetzlichen Bindung und Verantwortung hat darin ihren festen Platz. In einem dynamischen Ganzen kommen auch auf die Beamten im Bund weitere Veränderungen zu. Die hervorgehobene Rolle der Beamtenschaft bei der Gewährleistung eines freiheitlichen, dem Gemeinwohl verpflichteten und vor allem zukunftsfähigen Gemeinwesens verdient besondere Wertschätzung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10145, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/9875 und 17/10058 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 20 b. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10144, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7027 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens ({0}) - Drucksache 17/7746 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 17/10158 Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Brandt Manuel Höferlin Wolfgang Wieland Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Angesichts einer sich stetig wandelnden Informationsgesellschaft und angesichts zunehmend grenzüberschreitender Bezüge bei der Datenübermittlung hat das Meldewesen stetig an Bedeutung gewonnen. Vor diesem Hintergrund ist die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angestrebte Vereinheitlichung der unterschiedlichen landesrechtlichen Vorschriften sowie die Einführung bundesweit gültiger technischer Standards dringend geboten. Wir wollen eine moderne Verwaltung. Wir wollen E-Government. Deshalb sind unterschiedliche landesrechtliche Vorschriften und unterschiedliche technische Standards in der Verwaltung nicht mehr zeitgemäß. Dieser Aufwand lohnt sich. Denn das Meldewesen ist gleichsam das „informationelle Rückgrat“ der Verwaltung, der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Wirtschaft. In mehr als 5 200 Melderegistern werden die Daten von rund 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgern vorgehalten, Daten, die die Behörden benötigen, zum Beispiel für die Berechnung der Rente oder des Elterngeldes. Das Melderegister ist zwar in erster Linie ein behördeninternes Register, das sowohl dem innerdienstliHelmut Brandt chen Gebrauch der Meldebehörden dienen als auch das Informationsinteresse anderer Behörden befriedigen soll. Es hat aber auch den Zweck, dem Informationsbedürfnis des privaten Bereichs, insbesondere der Wirtschaft, Rechnung zu tragen. Umso wichtiger ist es, dass der vorliegende Gesetzentwurf neben diesem Informationsinteresse auch dem Schutz des Einzelnen vor einem Missbrauch seiner Daten Rechnung trägt, indem er das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung bei der Melderegisterauskunft stärkt. Zukünftig kann jeder Bürger mittels der Onlineausweisfunktion des neuen Personalausweises, der Identifizierungsfunktion von De-Mail oder qualifizierter elektronischer Signatur auf elektronischem Wege Folgendes vornehmen oder beantragen: Anmeldung, Selbstauskunft, Meldebestätigung und Meldeauskunft. Im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommt dabei der Selbstauskunft gemäß §§ 10 ff. des Gesetzentwurfs eine besondere Bedeutung zu. Danach hat jede Person das Recht, zu erfahren, welche Daten der Behörde über sie vorliegen, woher die Daten stammen und wer die Daten erhalten hat. Eine wesentliche Erleichterung stellt hier die Möglichkeit eines Datenabrufs im elektronischen Verfahren dar. Leitlinie des vorliegenden Gesetzentwurfs ist neben dem Datenschutzgesetz auch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2006. Danach darf die Meldebehörde eine einfache Melderegisterauskunft nicht erteilen, wenn diese erkennbar für Zwecke der Direktwerbung begehrt wird und der Betroffene einer Weitergabe seiner Daten für solche Zwecke zuvor ausdrücklich widersprochen hat. Im Zuge des parlamentarischen Verfahrens haben wir deshalb den Schutz des Einzelnen vor einem Missbrauch seiner Daten zu Werbezwecken dahingehend gestärkt, dass künftig der Abruf melderechtlicher Daten für Zwecke der Werbung und des Adresshandels gemäß § 44 Abs. 4 des Gesetzentwurfs nur erfolgen darf, wenn der Zweck im Zuge der Anfrage angegeben wurde und wenn der Betroffene nicht zuvor widersprochen hat. Auf das Recht des Widerspruchs muss der Betroffene bei der Anmeldung sowie einmal jährlich durch ortsübliche Bekanntmachung hingewiesen werden. Eine weitere Änderung gegenüber unserem ersten Entwurf, die sich im Laufe der parlamentarischen Beratungen ergeben hat, betrifft die Anmeldepflicht von Bundeswehrsoldaten. Der erste Entwurf sah vor, neben Wehrpflichtigen künftig auch Zeit- und Berufssoldaten von der Meldepflicht zu befreien. Der Bundesrat hat diese Neuregelung kritisiert. Er befürchtet, dass diese Ausnahme für die Bundeswehrstandortkommunen nicht unerhebliche finanzielle Einbußen zur Folge hätte. Wir haben diese Sorge ernst genommen. Entgegen dem ersten Entwurf besteht gemäß § 27 Abs. 1 Ziff. 5 eine Ausnahme für Berufs- und Zeitsoldaten von der Meldepflicht künftig nur noch dann, wenn sie ihre Gemeinschaftsunterkunft oder eine andere dienstlich bereitgestellte Unterkunft für nicht länger als sechs Monate beziehen. Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass wir gerade durch die von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Änderungen im neuen Meldegesetz exakt die bisherige Rechtslage abbilden, die durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in der Vergangenheit immer wieder bestätigt worden ist. Um es klar zu sagen: Für die Soldaten ändert sich gar nichts. Dennoch stößt diese Regelung beim Bundeswehrverband auf heftige Kritik. Ich kann diese Kritik nicht so recht nachvollziehen. Da ein Soldat die Infrastruktur der Garnisonsstadt in gleicher Weise in Anspruch nimmt wie ein Soldat, der in einer privaten Wohnung lebt, ist die jetzt vorgesehene Regelung auch aus Gründen der angemessenen Behandlung der betroffenen Kommunen gerechtfertigt. Es gilt auch im Sinne der Gleichbehandlung: Vor und hinter der Kasernenmauer gilt das gleiche Recht. Wir verkennen nicht, dass der Soldatenberuf insofern mit bürokratischen Lasten verbunden ist. Das ist dem Soldatenberuf aber seit Jahrzehnten immanent und wird nicht erst durch das neue Melderecht herbeigeführt. Dennoch besteht seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bereitschaft, die jetzt geltende Rechtslage bis zum Inkraftreten des Gesetzentwurfes Ende 2014 noch einmal zu überprüfen. Im parlamentarischen Verfahren sind wir auch den Suchdiensten entgegengekommen und haben diesen einen erweiterten Zugang auf die in den Melderegistern gespeicherten Daten geschaffen. Die Suchdienste nehmen wichtige humanitäre Aufgaben wahr, für deren Erfüllung sie zwingend auf die Übermittlung von Daten aus den Melderegistern angewiesen sind. Typischerweise verfügen sie aber nur über lückenhafte oder zweifelhafte Angaben zu der gesuchten Person. Es bedurfte daher besonderer Regelungen und eines erweiterten Auskunftsrechts bei Anfragen im automatisierten Verfahren, damit eine gesuchte Person sicher identifiziert werden kann. Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung der Länder zustande gekommen ist, ist fachlich und politisch zu begrüßen. Ich bin überzeugt, dass er den technischen Herausforderungen und fachlichen Anforderungen unserer Zeit genügt und bitte Sie um Ihre Zustimmung.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute verabschieden wir in 2. und 3. Lesung das Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesens, das sogenannte Meldegesetz. Sicherlich wird es den ein oder anderen wundern, dass ich mich an dieser Stelle zu Wort melde, denn sonst beschäftige ich mich mit Themen der Gesundheits- und der Haushaltspolitik. Im Rahmen der Debatte über das Melderecht möchte ich mich auch nur auf einen einzigen konkreten Punkt konzentrieren. Und das sind die vorgeschriebenen Unterlagen zur Um- und Anmeldung bei einem Wohnungswechsel. Seit der Reform des Melderechtsrahmengesetzes aus dem Jahre 2002, mit dem der damalige Bundestag die erforderlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien im Meldewesen geregelt hat, sind unter der ÜberZu Protokoll gegebene Reden schrift „Bürokratieabbau“ einige Vorlagepflichten bei der An- und Ummeldung entfallen. So musste in den letzten zehn Jahren ein Bürger bei der An- und Ummeldung keine Bestätigung des Wohnungsgebers über seinen tatsächlichen Einzug beim zuständigen Meldeamt vorlegen. Dies hat vor allem in großen Städten wie Berlin oder Hamburg dazu geführt, das sich für Kriminelle erschreckende Möglichkeiten aufgetan haben. Niemand konnte mehr sicher sein, dass in seiner Wohnung, in der er lebt, nicht noch diverse andere Personen mit natürlich nicht positiven Absichten gemeldet waren. So ist es diverse Male vorgekommen, dass Polizeieinsatzkräfte an der Wohnungstür von völlig unbescholtenen Bürgern Einlass begehrten, um Personen habhaft zu werden, die in kriminelle Machenschaften verstrickt waren. In der Zeit von 2001 bis 2006 war ich die für das Meldewesen im Berliner Bezirk Neukölln zuständige Dezernentin. Aus der Praxis heraus war mir klar, dass wir diese gutgemeinte Entschlackung von bürokratischen Pflichten so schnell wie möglich rückgängig machen müssen. Nach vielen Versuchen über Bundesratsinitiativen und Ähnliches gelang es dann, 2009 die Änderung des Melderechts und die Vorlagepflicht der Eigentümerbestätigung in die Koalitionsvereinbarung zur Bildung dieser Regierung hineinzuverhandeln. In den letzten anderthalb Jahren haben sich Bund und Länder und der hier im Bundestag zuständige Innenausschuss intensiv mit der Reform des Melderechts beschäftigt und so nun auch die Eigentümerbestätigung wieder in den Pflichtkanon des Meldegesetzes genommen. Dies ist ein guter Tag für Deutschland, für die Sicherheit der Bürger, für den Schutz der eigenen Wohnung und für ein zukünftig korrektes Melderegister. Zunehmend hatten Bürgerinnen und Bürger ein unwohles Gefühl, waren Polizisten in ihrer Dienstausübung behindert. Das haben wir nun beseitigt, darüber freue ich mich.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist gut und richtig, dass durch die Fortentwicklung des Meldewesens Rechtseinheit in diesem Bereich durch bundesweit einheitliche Vorschriften und Standards geschaffen werden soll. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass keine neue Bundesdatei errichtet wird. Am 26. April 2012 haben wir im Plenum in erster Lesung den Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Meldewesens diskutiert. In der damaligen Debatte hatte ich gesagt, dass der Entwurf eine gute Beratungsgrundlage sei. Ich hatte auch einige Punkte angesprochen, über die man beraten müsse. Dazu gehörten die Ausnahmen von der Meldepflicht für Bundeswehrangehörige, die Vermieterbescheinigung, die Melderegisterauskünfte und die Weitergabe der Meldedaten an Dritte. Zu einer modernen Verwaltung gehört auch ein modernes Melderecht, es ist wichtig für das Funktionieren des öffentlichen Bereiches und die Erledigung öffentlicher Aufgaben. Beratungsbedarf gab es scheinbar innerhalb der Koalitionsfraktionen, aber nicht mit den Berichterstattern der Opposition. Ich hätte es begrüßt, wenn es zu diesem Gesetzentwurf einmal ein Berichterstattergespräch gegeben hätte. Offensichtlich hatten die Koalitionsfraktionen kein Interesse, über das Melderecht zu reden. In letzter Minute haben Sie im Ausschuss einen Änderungsantrag vorgelegt, der die positiven Ansätze des ursprünglichen Gesetzentwurfes ins Gegenteil verkehrt. Sie ändern durchaus wesentliche Punkte des Gesetzentwurfs. In dem ursprünglichen Entwurf wurden Zeit- und Berufssoldaten von der Meldepflicht ausgenommen, wenn sie in einer dienstlich bereitgestellten Gemeinschaftsunterkunft am Standort wohnen und eine Wohnung im Inland haben, in der sie gemeldet sind. Nun wollen Sie diese Neuregelung doch nicht mehr. Mit dem Änderungsantrag wollen Sie die Rechtslage, die in den 16 derzeit gültigen Landesmeldegesetzen besteht, doch beibehalten. Einzig Kommunen mit großen Standorten werden die Beibehaltung der Regelung begrüßen. Aber andere Stimmen kommen vom Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus, FDP, der die im Änderungsantrag vorgesehene Regelung für verfassungsrechtlich bedenklich hält, und vom Reservistenverband, der in einer Pressemitteilung diese angestrebte Regelung als melderechtlichen Unsinn bezeichnet. In der Pressemitteilung schreibt der Präsident des Reservistenverbandes, Roderich Kiesewetter, CDU-MdB: „Die neue Bundeswehr will modern und familienfreundlich sein. Dem widerspricht der jetzt vorliegende Änderungsentwurf. … Hier verbaut man sich eine wichtige Chance, die Attraktivität des Soldatenberufes zu steigern.“ Mit dem neuen Entwurf dränge man die betroffenen Soldaten dazu, ihren Lebensmittelpunkt immer wieder zu verlegen - ohne Rücksicht auf berufstätige Frauen und schulpflichtige Kinder, die auf ein stabiles Wohnumfeld angewiesen sind. Die Mitwirkung des Wohnungsgebers in § 19 wollen Sie, wie im Entwurf vorgesehen, wieder einführen. Diese Regelung galt bis 2002. Begründet wurde die Abschaffung damit, dass die Vermietermeldepflicht von den Bürgerinnen und Bürgern als lästig empfunden wurde, zu Verzögerungen im Meldeprozess geführt habe und nicht geeignet sei, Scheinanmeldungen zu verhindern. Nun führen Sie diese Vermieterbescheinigung wieder ein. Ob dieses Mittel tauglich ist, um Scheinanmeldungen zu verhindern, wie Sie behaupten, wird nicht nur von uns, sondern auch vom Datenschutzbeauftragten und Praktikern in den Meldebehörden kritisch gesehen. Das Melderecht verpflichtet jeden Bürger und jede Bürgerin, bestimmte Daten an die Meldebehörden zu geben. Dazu gehören der Familienname, frühere Namen, Vornamen, Geburtsdatum und Geburtsort, Staatsangehörigkeit, Adresse und andere Daten. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sicher sein, dass ihre Daten bei den Meldebehörden gut und sicher aufgehoben sind und nicht unbegründet an Dritte weitergegeben, dort gespeichert und gegebenenfalls weiterverwendet werden. Deshalb sollte es der Regelfall sein, dass es für die Weitergabe von Daten der Einwilligung des Betroffenen Zu Protokoll gegebene Reden bedarf. Die Nichtweitergabe der Daten sollte der Regelfall sein und nicht die Ausnahme. Eine solche Einwilligungslösung war im ursprünglichen Entwurf vorgesehen. Doch mit Ihrem Änderungsantrag schaffen Sie die Einwilligungslösung ab und sehen jetzt lediglich eine unzureichende Widerspruchslösung vor. Damit wird der Regelfall zur Ausnahme und die Ausnahme zur Regel. Das ist eine deutliche Verschlechterung des Datenschutzniveaus im Vergleich zum Ausgangsentwurf. Mit dem vorliegenden Änderungsantrag werden hinsichtlich der Verwendung von Daten aus Melderegisterauskünften die bisher geplanten Regelungen zur Zweckbindung sowie zum Widerspruch gegen die Verwendung für Werbung und Adresshandel völlig ausgehebelt. Sie wollen, dass der Widerspruch gegen die Verwendung für Werbung und Adresshandel nicht gelten soll, wenn „die Daten ausschließlich zur Bestätigung oder Berichtigung bereits vorhandener Daten verwendet werden“. Das macht die Regelung wirkungslos. Da man für die Melderegisterauskunft immer bereits vorhandene Daten benötigt, wird es sich stets um eine Bestätigung oder Berichtigung vorhandener Daten handeln. Das ist eine massive Schwächung des Datenschutzes. Diese Änderung bedeutet daher einen deutlichen Rückfall hinter die Regelungen der bisherigen Gesetzeslage. Jede Bürgerin und jeder Bürger muss mindestens einmal in seinem Leben seine Daten den Meldebehörden geben. Viele Bürgerinnen und Bürger machen das mehrfach in ihrem Leben. Deshalb sollten wir als Gesetzgeber und als Staat besonders sensibel mit diesen Daten umgehen. Wir sollten sie besonders sicher verwenden. Wir sollten sorgsam mit ihnen umgehen. Wir dürfen eine Weitergabe nur dann zulassen, wenn sie notwendig und ausreichend begründet ist. Die Bürgerinnen und Bürger vertrauen auf einen sensiblen Umgang mit ihren Daten und können das auch vom Staat erwarten. Deshalb haben wir den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im Innenausschuss abgelehnt; denn für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist eine Aufweichung des Datenschutzes und eine Umkehr von Regel und Ausnahme nicht hinnehmbar. Da Sie diese Änderungen aber unbedingt vornehmen wollen, lehnen wir auch den veränderten Gesetzentwurf ab. Ein Rückschritt in Sachen Datenschutz ist mit uns nicht machbar. Dem im Ausschuss gestellten Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen, nach dem auf die Speicherung des Doktortitels im Melderegister verzichtet wird, stimmen wir zu. Wir halten dieses Vorhaben für richtig; denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts ist der Doktortitel ein akademischer Grad und kein Namenszusatz oder Namensbestandteil. Er ist auch der einzige akademische Titel, der in den Personalausweis oder Reisepass eingetragen werden kann. Diese Regelung gibt es sonst nur in Österreich und Tschechien. In allen anderen Ländern der Welt ist diese Regelung unüblich. Der Verzicht auf die Angabe des Doktortitels in Melderegistern führt zu einer Entlastung der Meldebehörden und somit zum Bürokratieabbau. Mit dem Änderungsantrag haben Sie von den Regierungsfraktionen aus einem guten Gesetzentwurf ein schlechtes Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesens gemacht. Deshalb werden wir das Gesetz in der jetzigen Fassung ablehnen.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Heute geht es um die zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs zur Fortentwicklung des Meldewesens. In der ersten Lesung habe ich von der grundsätzlichen Notwendigkeit der Reform gesprochen. In diesem Punkt sind wir uns wohl alle einig: Es musste etwas getan werden im Nachgang zur Föderalismusreform. Und das ist uns auch gelungen. Wir haben uns stark dafür eingesetzt, dass ein einheitliches, praktikables Regelwerk entsteht, das auch den Möglichkeiten der Technik keine Hürden bereitet, ohne die verschiedenen kommunalen Strukturen mit den Neuerungen zu überfordern. Nun haben wir im Gesetzentwurf viele gute Regelungen gefunden und mit den Änderungsanträgen der Koalition dem Gesetzentwurf den letzten Schliff gegeben. Neben dem großen Ziel bundesweiter meldegesetzlicher Regelungen möchte ich besonders auf drei Punkte hinweisen, die mir besonders wichtig sind: Zunächst wird die Bestätigung des Mietverhältnisses durch den Vermieter als Voraussetzung für Anmeldungen wieder eingeführt. Das hat auch seinen guten Grund: Vermieter sollen nicht im Dunkeln tappen müssen, welche und wie viele Personen gerade die vermietete Wohnung vermeintlich bewohnen. Zustände, in denen über 20 Personen in einer kleinen Wohnung gemeldet sind, sind untragbar. Dass man damit diese Fälle nicht ausschließen kann, ist mir auch bewusst. Man kann aber die Hürde etwas höher hängen. Zweitens ist der Datenschutz auch im Meldegesetz ein elementares Thema. Uns ist es wichtig, dass das Datenschutzniveau auf der Höhe des Bundesdatenschutzgesetzes ist. Das Meldegesetz steht damit in Einklang mit dem Bundesdatenschutzgesetz. Ich möchte auch hier die Vorwürfe der Opposition zurückweisen, wir hätten die melderechtliche Lage der Bürgerinnen und Bürger verschlechtert. Durch die jährliche ortsübliche Bekanntmachung der Widerspruchsmöglichkeit kann der Betroffene auch realistischer Weise von diesem recht speziellen Gebiet Kenntnis erlangen und wird nicht dauernd mit lästigen Einwilligungsanfragen behelligt. Anstatt mit unbestimmten Rechtsbegriffen den Groll der Bürger und die Verunsicherung der Wirtschaft hervorzurufen, haben wir klare Tatbestände formuliert und bei Verstoß empfindliche Bußgelder vorgesehen. Ausnahmen vom Verbot der Verwendung zu Werbeund Adresshandelszwecken gelten - unter den bisherigen Voraussetzungen des Bundesdatenschutzgesetzes nur, wenn bei der Weitergabe der Adressen der Zweck angegeben wurde. Damit wird sichergestellt, dass nicht unter einem Vorwand Adressen aus Melderegistern erworben werden, um dann zu Werbezwecken oder zum Zwecke des Adresshandels weitergenutzt zu werden. Der Zu Protokoll gegebene Reden Weitergabe von Adressdaten zum Zwecke der Werbung und des Adresshandels kann jederzeit widersprochen werden. Die einfache Melderegisterauskunft erfolgt dann nicht. Damit hat der Bürger selbst das Heft des Handelns in der Hand. Er kann entscheiden und sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausüben. Dem Vorwurf der Sozialdemokraten, den Datenschutz nicht hinreichend berücksichtigt zu haben, begegne ich mit der Frage, warum die SPD bisher in den Ländern nicht selbst tätig geworden ist. Wer hätte in Ländern mit sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung sie gehindert, hier auf Landesebene vorzugehen? Sie haben es wohl aus gutem Grund nicht gemacht. Drittens komme ich nun zu der Frage nach der Meldepflicht von Soldaten. Bisher war es so geregelt, dass Berufs- und Zeitsoldaten sowie Beamte der Bundespolizei von der Meldepflicht ausgenommen sind, wenn sie aus dienstlichen Gründen für eine Dauer von bis zu sechs Monaten eine Gemeinschaftsunterkunft oder eine andere dienstlich bereitgestellte Unterkunft beziehen und sie für eine Wohnung im Inland gemeldet sind. Die Landesmeldegesetze sehen überwiegend vor, dass Beamte der Landespolizei von der Meldepflicht ausgenommen sind, unabhängig von der Dauer des Bezugs einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer anderen dienstlich bereitgestellten Unterkunft, wenn sie im Inland für eine Wohnung gemeldet sind. Der Kabinettsentwurf sieht eine Regelung vor, wie sie in den weitaus meisten Ländern für Vollzugsbeamte der Landespolizei gilt. In der Koalition haben wir uns darauf verständigt, eine einheitliche Regelung für Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit und Bundes- und Landespolizeibeamte im Vollzugsdienst zu finden. Wir haben uns entschlossen, die bisherige Regelung beizubehalten, wonach eine Befreiung von der Meldepflicht nur gilt, wenn die Unterkunft für nicht länger als sechs Monate bezogen wird. Kommunen mit Gemeinschaftsunterkünften der Bundeswehr oder der Polizei hätten durch eine zeitlich unbegrenzte Regelung erhebliche finanzielle Einbußen beim kommunalen Finanzausgleich zu befürchten. Zugleich nehmen die stationierten Soldaten kommunale Infrastruktur wie öffentlichen Nahverkehr - um nur ein Beispiel zu nennen - für sich in Anspruch, ohne dass sie in der Kommune gemeldet wären. Deshalb ist es gerechtfertigt, die Freiheit von der Meldepflicht zeitlich zu verkürzen. Und bevor jetzt wieder die Unkenrufe kommen: Eine Benachteiligung zur bestehenden Rechtslage ergibt sich aus der Änderung nicht, da in fast allen derzeit gültigen Landesmeldegesetzen eine solche Reglung enthalten ist. Mit der Pflicht zur Meldung wird nicht auch gleichzeitig der Lebensmittelpunkt bestimmt. Außerdem gibt es noch die Möglichkeit der Meldung eines Zweitwohnsitzes. Ich vertraue darauf, dass die Soldaten sich wie bisher mit der Meldepflicht arrangieren können und dass die Kommunen somit auch die Aufgaben der Selbstverwaltung bewältigen können. Abschließend möchte ich noch ein paar kleine, aber feine Änderungen vorstellen. Zunächst einmal haben wir die Möglichkeiten von Suchdiensten zum automatisierten Abruf von Meldedaten verbessert und erweitert. Somit kann den neuen Herausforderungen bei globalen Suchen begegnet werden. Jede geglückte Vermittlung hilft den Menschen, über die trennenden Katastrophen hinwegzukommen und wieder zueinanderzufinden. Suchdienste haben in Deutschland eine lange Tradition und haben heute noch große Bedeutung. Wir haben das Recht der betroffenen Person, einer automatisierten Melderegisterauskunft zu widersprechen, gestrichen. Bevor hier wieder das Geschrei aus der Opposition kommt: Die Entscheidung war richtig. Denn der einfachen Melderegisterauskunft kann - bei Vorliegen der Voraussetzungen - außer in den vorhin genannten Fällen nicht widersprochen werden. Nach dem Kabinettsentwurf sollte aber der elektronischen Form widersprochen werden können. Diese rückwärtsgewandte, rationalen Argumenten völlig verschlossene Haltung sind wir entgegengetreten und behandeln nun analoge und digitale Bearbeitung gleich. Dieses im Gesetz verankerte Hindernis für die Digitalisierung der Melderegister haben wir beseitigt. Lassen Sie mich zum Schluss auf den Antrag der Grünen eingehen. Deren einzige Sorge beim Melderecht ist, das Merkmal „Doktorgrad“ zu streichen. Hier haben sie wieder einen Spielplatz für ihre Personenstandsdebatte gefunden. Das ist mal Oppositionsarbeit an den Inhalten. Und auch diesmal lehne ich diese gezwungene Scheindiskussion ab.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit der Föderalismusreform 2006 fällt das Meldewesen in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes. Das neue Gesetz führt das bisherige Melderechtsrahmengesetz mit den Landesmeldegesetzen zusammen. Behauptet wird von der Bundesregierung, es diene der Fortentwicklung des Meldewesens. Wesentliches Instrument ist der länderübergreifende Onlinezugriff der Behörden auf die Daten der Meldebestände. Die Sicherheitsbehörden sollen ebenfalls länderübergreifend rund um die Uhr online auf die Meldedaten zugreifen können. Dazu sollen die Länder gegebenenfalls Abfrageportale schaffen. Meldedaten waren und sind ein begehrtes Objekt, bei Sicherheitsbehörden und Wirtschaft gleichermaßen. Frühere Überlegungen zielten auf ein zentrales Melderegister, am besten mit einer einheitlichen Identifikationsnummer für die Gemeldeten. Dazu wurde im letzten Entwurf unter Schäuble noch die Steuer-ID-Nummer eingesetzt. Mühsam und in langen Auseinandersetzungen wurden diese Pläne zurückgestutzt. Ein zentrales Register ist im vorliegenden Gesetzentwurf nicht mehr vorgesehen, wohl aber der automatisierte Zugriff auf die 5 200 Melderegister. Angesichts der technischen Entwicklung ist das fast so gut wie ein Zentralregister. Wollte man also das Meldewesen tatsächlich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger weiterentwickeln, müsste gerade angesichts des rasanten Fortschritts in der Datenverarbeitung und -nutzung und vor Zu Protokoll gegebene Reden allem der kommerziellen Nutzung umso schärfer auf Datensparsamkeit, Zweckbindung bei Abruf bzw. Weitergabe und Zugriffsberechtigungen geachtet werden. Das wäre eine Fortentwicklung des Meldewesens, die den Namen verdiente. Wird hier zu wenig reduziert, so wird andererseits bei den Auskunftsrechten über die Datenverwendung und bei den Einspruchsmöglichkeiten nicht in erforderlichem Umfang auf deren Erweiterung gesetzt. Nicht zu akzeptieren ist es, dass für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften die Meldebehörden als regelrechte Serviceeinrichtungen fungieren sollen, die auch die Daten der Angehörigen, die nicht Mitglied der entsprechenden Religionsgemeinschaft sind, übermitteln dürfen. Gruppenauskünfte sollen erteilt werden können mit mehr als 14 Grunddaten; das dabei zu berücksichtigende Interesse wird bei Wissenschaft und Forschung sowie der Gesundheitsvorsorge offensichtlich grundsätzlich vorausgesetzt. Angesichts der Kommerzialisierung auch des Wissenschaftsbereichs ist das ein datenschutzrechtlicher Treppenwitz. Schon die Erarbeitungs- und Beratungsphase des Gesetzes stand unter permanentem Druck der datennutzenden Lobbys. Das Gesetz hat versäumt, unüberschreitbare Grenzen zu formulieren, sodass die Furcht nicht unbegründet ist, dass eine Ausweitung der Verwendungsmöglichkeiten der Daten die andere jagen wird. Schon jetzt wird zum Beispiel die automatisierte Bonitätsprüfung bei Vertragsabschlüssen beim Abschluss von DSL-Verträgen oder Ähnlichem gefordert. Den kritischen Anmerkungen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit schließen wir uns an: Die Wiedereinführung der Mitwirkungspflicht der Vermieter bei An- und Abmeldung ist nicht begründet, das Festhalten an der Hotelmeldepflicht genauso wenig, zumal es sich dabei vermutlich um Polizeirecht handelt. Die Melderegisterauskünfte in den §§ 44 und 45 sind ungenügend geregelt, und das Widerspruchsrecht gegen Melderegisterauskünfte in besonderen Fällen - Parteien, Alters- und andere Jubiläen - sollte durch ein Einwilligungsrecht ersetzt werden ({0}). Für die Verwendung in Adressbüchern sollte ebenfalls eine Einwilligungslösung vorgeschrieben werden. Angesichts der Bedeutung der Meldedaten und der rasanten technischen Entwicklungen sind die Schutzinstrumente in diesem Gesetz, sowohl was ihren kommerziellen Nutzen als auch den Zugriff staatlicher Behörden betrifft, ungenügend ausgestaltet. Die absehbaren Versuche von Unternehmen, aber auch von Bundeswehr und Religionsgemeinschaften eine noch einfachere Meldedatennutzung zu erreichen bzw. Privilegierungen für die eigene Klientel durchzusetzen, werden zunehmen. In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung zugesagt, die finanziellen Auswirkungen auf die Länder und Kommunen darzustellen. Die Bundesregierung hat diese Zusage meines Wissens nicht eingehalten. Der Bundesrat hatte seine Bitte detailliert begründet: Das Bundesmeldegesetz in der vorliegenden Fassung hat direkte und indirekte finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte der Länder und der Kommunen. Der Umfang ist nirgends hinreichend dargestellt. Auch aus diesem Grund lehnt meine Fraktion diesen Gesetzentwurf ab.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dieses Gesetz, hinter dessen klangvoll-bürokratischem Namen sich nichts anderes verbirgt als das Bundesmeldegesetz, ist ein gutes Beispiel für das regierungsamtliche Stop-and-go mit mäßigem Blick für das Wesentliche, wie wir es hier seit Monaten bei allen Themen erleben: Entwurf, streiten und warten, Änderung des Entwurfs, hektischer Abschluss in halbgarem Zustand. Seit der Föderalismusreform I, die nun auch schon ein halbes Jahrzehnt zurückliegt, hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Meldewesen. Es tat sich lange nichts, dann kam im Herbst 2007 ein Entwurf, der liegen blieb. Nun hat diese Koalition letzten September einen Entwurf vorgelegt, der seinen gemessenen Gang durch den Bundesrat nahm und den wir in erster Lesung hier Ende April behandelt haben. Alles so weit entspannt, aber seit dieser Woche herrschte nun Hektik: Die Koalition legte kurzfristig einen Änderungsantrag vor, hatte keine Zeit mehr, die Gedanken der Datenschutzbeauftragten von Bund und Land Berlin zu prüfen und hat im Innenausschuss dann auch nicht mehr debattieren wollen. Die Eile war nun nicht so ganz geboten. Wer nachliest, stellt fest: Das Gesetz soll zum 1. Januar 2014 in Kraft treten. Genug Zeit wäre also gewesen. Genug Zeit, um die praktische Verbesserung des hochgeschätzten Berliner Datenschutzbeauftragten Dix zu verwirklichen, bei der Meldung eine Kontaktperson für Notfälle angeben zu können. Genug Zeit, um die Vorschläge des nicht minder geschätzten Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar zu berücksichtigen. Er hatte angeregt, auf die Hotelmeldepflicht zu verzichten, jene Vorratsdatenspeicherung, der auch die FDP freudig zustimmt, deren Wert für die Kriminalitätsbekämpfung aber zweifelhaft, jedenfalls erklärungsbedürftig bleibt. Peter Schaar hatte aber vor allem auf einen der großen Schwachpunkte in diesem Entwurf hingewiesen, nämlich die Melderegisterauskunft. Als er sie kommentierte war die Regelung für Adresshandel und Werbezwecke noch vergleichsweise in Ordnung, denn da war es das Modell opt-in, sprich: Der Meldepflichtige musste explizit zustimmen, dass seine Daten so verwendet werden dürfen. Das wurde mit dem Änderungsantrag nun ins glatte Gegenteil verkehrt. Nun soll man widersprechen müssen, also explizit seine Ablehnung erklären, dass irgendjemand die eigene Adresse weitergibt. Da hilft es auch nichts, dass der Adresshändler bei der Abfrage sagen muss, was er vorhat; denn davon kriege ich als Meldepflichtiger ja gar nichts mit. Das ist für jeden, der sich neu meldet, ärgerlich, und das wird in der Praxis eher zu mehr als zu weniger ungewollter Post führen. Es bedeutet auch, dass bei den Zu Protokoll gegebene Reden Altdaten, also den jetzt vorhandenen Meldedaten, kein Widerspruch vermerkt ist. Das ist wirklich ein Problem; denn das Melderegister dient ja vor allem amtlichen und hoheitlichen Zwecken und nicht als Arbeitserleichterung der Werbe- und Auskunfteibranche. Man hätte beim Modell opt-in bleiben müssen und eher noch überlegen, ob die Hürden für die allgemeine Auskunft nicht hätten höher werden müssen. Auskunfteien und Inkassounternehmen werden sich darüber freuen, auch der geänderte § 47 kommt ihnen gut zupass; jedenfalls haben sie diese Änderungen im Vorfeld gefordert. Bei den Koalitionsparteien rannte man da wohl offene Türen ein, Fragen des Datenschutzes haben sich den kommerziellen Interessen offenbar immer unterzuordnen. Zuletzt haben sich dann auch noch die kommunalen Kämmerer gegen die Interessen der Bundeswehrsoldaten durchgesetzt. Der Gesetzentwurf sah vor, dass Soldaten und Polizisten in Gemeinschaftsunterkünften keiner Meldepflicht unterliegen, sie hätten in der Heimat gemeldet bleiben können und dort dann auch keine Zweitwohnungsteuer zahlen müssen. Nun unterliegen sie wieder der alten schlechten Regel und Meldepflicht nach sechs Monaten. Die Einwände von Beauftragten haben es bei dieser Koalition wirklich schwer; das gilt nicht nur für den Datenschutzbeauftragten, sondern eben auch für den Wehrbeauftragten, der - zu Recht - eine Lösung zugunsten der Soldaten angemahnt hatte. Die Bundesregierung hat es also wieder einmal geschafft: Die Gelegenheit, die gröberen Mängel aus den existierenden Meldegesetzen auszubügeln, hat sie versäumt, und ihren eigenen Entwurf hat sie so weit verschlechtert, dass dem Prinzip Datenschutz wieder das Prinzip Datenschleuder vorgezogen wird. Schade drum.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10158, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7746 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans - Drucksache 17/9744 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir auch diese Reden zu Protokoll.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Stabilität und Sicherheit auf dem Balkan sind für die Bundesrepublik Deutschland von herausgehobenem Interesse. Die Kriege der 1990er-Jahre haben uns gezeigt, dass wir zu aktivem Handeln in unserer europäischen Nachbarschaft verpflichtet sind. Dass es uns damit ernst ist, zeigt sich auch in der langjährigen Präsenz der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Es ist auch in unserem mittelfristigen Interesse, den Menschen in den Staaten des westlichen Balkans eine Perspektive in der Europäischen Union aufzuzeigen. Nur durch Integration und Kooperation lassen sich die aus der Vergangenheit resultierenden Probleme überwinden, demokratische wie rechtsstaatliche Strukturen aufbauen und die wirtschaftliche Entwicklung fördern. Der Bundesregierung ist bewusst, dass die Menschen mit der Europäischen Union die Hoffnung verbinden, dass sich durch eine Mitgliedschaft ihr Leben spürbar verbessert. Trotz ihrer aktuellen Schwierigkeiten steht die Europäische Union für diese Menschen nach wie vor für Freiheit, Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Diese positive Grundhaltung gilt es zu nutzen. Das erfordert Sensibilität. Hoffnungen auf schnelle Ergebnisse und zügige Fortschritte führen nur zu Enttäuschung und Verärgerung. Auch wenn wir vereinfachend vom „Balkan“ sprechen, dürfen wir die Heterogenität dieser Region nicht ignorieren. Die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstadien sind ebenso unterschiedlich, wie die jeweiligen landestypischen Kulturen vielfältig sind. Alle der im Antrag der SPD genannten Staaten befinden sich somit in sehr unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Daher müssen wir auch jeden Staat individuell betrachten. Eine schnelle Aufnahme des gesamten westlichen Balkans ist daher weder hilfreich noch zielführend noch praktikabel - sie ist auch sachlich nicht gerechtfertigt. Erkennbare Anstrengungen aktueller und potenzieller Beitrittskandidaten gilt es zu honorieren; es gilt, Versäumnisse klar zu benennen und offensichtliches Fehlverhalten eindeutig zu kommentieren. Dementsprechend bemüht sich die Bundesregierung auch um die Förderung der an einem Beitritt zur Europäischen Union interessierten Staaten. Der Antrag der SPD wiederum deutet irrigerweise darauf hin, dass die Bundesregierung ihren Verpflichtungen hinsichtlich einer Integration der Staaten des westlichen Balkans in die Europäische Union nur schleppend oder unzureichend nachkäme. Dies ist unzutreffend: Wir stehen weiterhin zu dem auf dem Gipfel von Thessaloniki 2003 beschlossenen politischen Versprechen, dass der westliche Balkan ein integraler Bestandteil des vereinten Europas ist. Allerdings vertreten wir auch weiterhin das Prinzip von Fördern und Fordern: Nur wer seinen Verpflichtungen beispielsweise in Sachen Korruptionsbekämpfung oder beim Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen nachkommt, wer Kriminalität entschieden entgegentritt oder die Medienfreiheit garantiert, wer Kriegsverbrecher inhaftiert oder Minderheiten schützt, soll auch weitere Unterstützung auf seinem Weg in Richtung EU erhalten. Einen Automatismus darf es nicht geben. Das Tempo der Entwicklung wird also nicht nur in Brüssel oder Berlin, sondern in erster Linie in Belgrad, Podgorica, Skopje, Sarajevo, Tirana und Pristina bestimmt. Dass wir niemanden überfordern, zeigt sich am Beispiel Kroatiens: Zagreb hat den Weg erfolgreich beschritten und wird voraussichtlich am 1. Juli 2013 als 28. Mitglied in die Europäische Union aufgenommen. Ich merke aber an, dass die Herausforderungen, vor denen die derzeitigen und künftigen Beitrittskandidaten stehen, sehr groß sind. Serbien beispielsweise, offizieller Beitrittskandidat seit März 2012, steht vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Auch die Auseinandersetzung mit dem Kosovo wird dieses Land weiterhin beschäftigen. Montenegro wiederum muss noch entschiedener gegen Korruption und organisierte Kriminalität vorgehen. Die Anstrengungen Podgoricas wurden jüngst dadurch anerkannt, dass die EU mit ersten offiziellen Beitrittsverhandlungen beginnen wird. Im Falle Mazedoniens muss wiederum sehr diplomatisch vorgegangen werden. Der ungelöste Namensstreit mit Griechenland ist das zentrale Hindernis für eine Beitrittsperspektive zur EU und einer Mitgliedschaft in der NATO. Diplomatisches Vorgehen ist hier deshalb besonders angebracht, da Griechenland sich in einer sehr prekären Situation befindet. Vor dem Hintergrund wachsender antideutscher Ressentiments wäre insbesondere politischer Druck aus Berlin, den Namensstreit endlich beizulegen, wenig hilfreich. Das Kosovo wiederum wird derzeit nicht von allen Mitgliedern der EU anerkannt. Zu diesem Schritt können wir niemanden zwingen. Hier ist nur langfristige Überzeugungsarbeit erfolgversprechend. Auch in diesem Bereich ist die Bundesregierung seit langem engagiert. Ebenfalls belasten die kosovarisch-serbischen Beziehungen weitere Schritte hin zur Integration in die EU. Für diese beispielhaft genannten und alle anderen Staaten gilt zudem, dass sie ihre Volkswirtschaften den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpassen müssen. Die Bundesregierung ist sich somit ihrer Verantwortung in der Region bewusst. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen wird sie weiterhin Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Denn nur wer beiträgt, kann beitreten.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die europäische Perspektive, die die EU den Ländern des westlichen Balkans in der Erklärung des Europäischen Rats von Thessaloniki 2003 mit den Worten „Die Zukunft des westlichen Balkans liegt in Europa“ gab, wird nächstes Jahr mit dem Beitritt Kroatiens im Juli 2013 eine neue Form der Realität annehmen. Auch die anderen Staaten des westlichen Balkans sind auf dem Weg nach Europa. Die europäische Perspektive ist somit heute näher und konkreter denn je, allerdings ist sie nicht pauschal und ohne Bedingungen und Auflagen zu haben. Daher lehnen wir den Antrag der SPD ab. Die EU hat für alle Länder des westlichen Balkans einen Stabilisierungs-und Assoziierungsprozess, SAP, eingeleitet, der sie nach und nach enger an die EU heranführen soll. In den letzten Jahren waren etliche Fortschritte zu verzeichnen, wobei jeder Staat selbst Tiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt. Hier ergibt sich doch noch ein sehr differenziertes Bild. Als potenzielle Kandidaten gelten nach heutigem Stand Albanien sowie Bosnien und Herzegowina und das Kosovo. Was Albanien anbelangt, so hat, nachdem der Rat der EU letzten Dezember in den Schlüsselkriterien nur geringe Fortschritte verzeichnen konnte, die EU-Kommission erneut keine Empfehlung für den Kandidatenstatus ausgesprochen. Die EU hat Albanien daraufhin angehalten, seine Reformbemühungen zu intensivieren. Wir unterstützen diese Haltung der EU. Bosnien und Herzegowina muss insbesondere seine Verfassung in Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention bringen, damit endlich das Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen, SAA, in Kraft treten kann und die Grundlagen für einen fundierten Beitrittsantrag gelegt werden. Dies hat der Rat der EU gerade erst wieder in seinen jüngsten Schlussfolgerungen am 25. Juni bekräftigt. Für uns sind darüber hinaus substanzielle Fortschritte mit Blick auf die Verfassungsreform im Bereich Parlamentskammer und Präsidentschaft unablässige Voraussetzungen für das Inkrafttreten des SAAs und einen möglichen EU Beitritt. Was das Kosovo anbelangt, gilt, dass wir uns weiterhin insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption engagieren müssen, um die entsprechenden Reformen im Kosovo und die Arbeiten an einem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zu unterstützen. Auch was die Kandidatenländer Mazedonien, Montenegro und Serbien betrifft, so möchte ich nicht verhehlen, dass dort Fortschritte erzielt worden sind. Gleichwohl bestehen weiterhin Defizite. Auch hier gilt: Auch wenn diese Staaten auf ihrem Weg in die EU bereits weiter vorangeschritten sind, bestehen wir darauf, dass alle Auflagen und Verpflichtungen der EU erfüllt sind, ehe ein Beitritt erfolgt. In Bezug auf Mazedonien unterstützen wir daher den hochrangigen Dialog zur EU-Annäherung, der Reformen in allen Bereichen begleitet, solange die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aufgrund des Namenstreits durch Griechenland blockiert wird. Montenegro hat insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität noch etliche Reformen zu meistern. Daher begrüßen wir den Ansatz der EU-Kommission, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, wie vom Rat der EU erst vorgestern beschlossen, mit den Kapiteln „Justiz“ und „Rechtstaatlichkeit“ zu beginnen. Zu Protokoll gegebene Reden Auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien im Herbst dieses Jahres muss unserer Meinung nach insbesondere an weitere Fortschritte im Stabilisierungs-und Assoziierungsprozess sowie in den bilateralen Beziehungen zu Kosovo gebunden sein. Ferner werden wir den europapolitischen Kurs des neuen serbischen Präsidenten Nikolic genauestens verfolgen. Bleibt zu hoffen, dass er den Reformkurs seines Vorgängers fortsetzt. Letztendlich legen wir auch bei dem Beitrittsland Kroatien Wert darauf, dass die EU-Kommission ihr bisheriges Monitoring mit einem besonderen Fokus auf Rechtsstaatlichkeit bis zum voraussichtlichen EU-Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 fortsetzt. Mit dem Beitritt Kroatiens als dem ersten Land des westlichen Balkans wird eine Signalwirkung für die anderen Länder des westlichen Balkans ausgehen, die deren europäische Perspektive in greifbare Nähe rückt.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auf dem EU-Gipfel, zu dem sich die europäischen Staats- und Regierungschefs derzeit versammelt haben, wird es in erster Linie um Wege aus der Finanz- und Schuldenkrise gehen, die Europa so schwer beutelt. Doch zumindest eine erfreuliche Nachricht wird es wohl mit Sicherheit geben: die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Montenegro. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg des westlichen Balkans in Richtung Europa. Wir alle haben gesehen, welch ungeheure Reformdynamik durch Beitrittsverhandlungen entfaltet werden kann. Deshalb möchten wir mit unserem vorliegenden Antrag noch einmal deutlich machen: Deutschland und die EU müssen die Staaten des westlichen Balkans auf ihrem Weg der Annäherung an die EU ermutigen und unterstützen. Dies liegt in unserem ureigensten Interesse und erwächst auch aus einer historischen Verantwortung: Wie wahrscheinlich viele Menschen in Deutschland und Europa haben wir alle noch lebhaft die schrecklichen Konflikte der 1990er-Jahre in Erinnerung. Europa versagte damals auf tragische Weise - es konnte die jugoslawischen Bürgerkriege weder verhindern, eindämmen noch effektiv beenden. Dass nun Kroatien voraussichtlich im Sommer nächsten Jahres der EU beitreten wird, dass Montenegro, Mazedonien und endlich auch Serbien Beitrittskandidaten sind, muss uns angesichts der noch nicht lange zurückliegenden Vergangenheit voller Hass und Gewalt für die Zukunft optimistisch stimmen. Auch den anderen Staaten des westlichen Balkans - Albanien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo - hat die EU beim Gipfeltreffen von Thessaloniki 2003 eine europäische Perspektive zugesagt und dies seitdem auch immer wieder bekräftigt. Wir als SPD-Bundestagsfraktion stehen hinter diesem Versprechen. Niemand in unseren Reihen wird jedoch auf die Idee kommen, die Westbalkanstaaten durch eine rosa Brille zu betrachten. Vieles in der Region liegt im Argen, das muss deutlich gesagt werden, und das machen wir in unserem Antrag auch deutlich. Korruption und organisierte Kriminalität stellen ein ernsthaftes Problem dar. Noch immer gibt es Konfliktherde, die im Nachklang der Balkankriege teils offen, teils verdeckt schwelen. Die Beilegung regionaler Konflikte muss aber Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft sein, wie unser Antrag nachdrücklich festhält. Der Hass zwischen verschiedenen Ethnien und die Gefahr der Destabilisierung durch nationalistische, antieuropäische Kräfte sind noch keineswegs gebannt. Mit Ausnahme Kroatiens haben alle Staaten der Region noch einen harten und langen Weg bis zu einem möglichen EU-Beitritt vor sich. Ich möchte dafür nur einige Beispiele nennen. Große Sorgen macht uns der Zustand im Kosovo. Deshalb begrüßen wir die Pläne der EU-Kommission zur Durchführung einer Machbarkeitsstudie für ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen mit dem Kosovo. Trotz der jüngsten Fortschritte im Dialogprozess zwischen Serbien und dem Kosovo hinsichtlich der gemeinsamen Grenzverwaltung und dem Auftreten des Kosovo auf regionaler Ebene sind die Beziehung zwischen Serbien und dem Kosovo und insbesondere die Situation im Nordkosovo nach wie vor angespannt. So kommt es im Nordkosovo immer wieder zu Zusammenstößen an den Grenzübergängen. Deshalb ist es auch richtig, dass der Deutsche Bundestag den KFOR-Einsatz um ein weiteres Jahr verlängert hat. Eine seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten ernsthaft betriebene Unterstützung Serbiens und des Kosovo auf deren Weg in die EU ist aus meiner Sicht immer noch der beste Weg, beide Staaten zu ermutigen, aufeinander zuzugehen. Am Ende wird sich Serbien in der Statusfrage des Kosovo bewegen müssen. Das weiß man in Serbien, doch es wird dafür noch Zeit brauchen, die man den Menschen dort auch einräumen muss. Wer eine Anerkennung des Kosovo durch Serbien zur Vorbedingung von Beitrittsverhandlungen macht, verschärft das Problem, anstatt zu seiner Lösung beizutragen. Allerdings muss auch in Serbien jeder wissen: Wenn es um den Beitritt zur Europäischen Union geht, muss Serbien den Weg zur Anerkennung des Kosovo gehen. Aber diese Entscheidung muss am Ende des Beitrittsprozesses gelöst werden und nicht schon jetzt vor Beginn dieses Prozesses. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien ist wegen des Namensstreits mit Griechenland blockiert. Nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 5. Dezember 2011 muss die Bundesregierung jetzt prüfen, wie sie das Thema der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien erneut auf die Tagesordnung des Europäischen Rates bringen kann. Sich der griechischen Blockade in dieser Frage einfach zu ergeben, ist jedenfalls für mich und meine Fraktion nicht akzeptabel. Ebenso muss es mit Mazedoniens NATO-Beitritt vorangehen. Dass es beim NATO-Gipfel in Chicago in dieser Hinsicht keine Fortschritte gab, ist bedauerlich. Zu Protokoll gegebene Reden Albanien und Bosnien und Herzegowina sind von den Voraussetzungen für einen EU-Beitrittsprozess noch weit entfernt, doch auch dort kann wohl vor allem die EU-Perspektive positive Entwicklungen anstoßen und vorantreiben. Mit Blick auf Bosnien und Herzegowina möchte ich an dieser Stelle noch auf die Bedeutung des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, OHR, hinweisen. Die Pläne zur Verkleinerung sowie Verlagerung des Büros des Hohen Repräsentanten ins Ausland sind Ihnen bekannt. Ich halte eine Schwächung der Arbeitsmöglichkeiten des OHR für falsch, denn die sogenannten Bonn Powers des Hohen Repräsentanten sind nach wie vor ein Stützpfeiler der staatlichen Integrität von Bosnien und Herzegowina. Der Sonderbeauftragte der EU begleitet und unterstützt Bosnien und Herzegowina bei Reformprozessen und nimmt eine wichtige Brückenfunktion zur Europäischen Union wahr. Solange er jedoch keine dem OHR vergleichbaren Rechte besitzt und solange die fünf Ziele und zwei Bedingungen, 5+2, zur Schließung des OHR-Büros nicht erfüllt sind, ist der EU-Sonderbeauftragte eine wertvolle Ergänzung, aber keine ausreichende Alternative zum OHR. Eine weitere Herausforderung, die ich sehe, ist auch die Intensivierung der regionalen Kooperation der Westbalkanstaaten untereinander. Der Regional Cooperation Council, RCC, leistet hier als Nachfolger des Stabilitätspakts für Südosteuropa wichtige Arbeit und braucht weiterhin unsere volle Unterstützung. Voraussetzung für eine erfolgreiche regionale Zusammenarbeit ist, dass eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne einer friedlichen und gemeinsamen Zukunft stattfindet. Die Auslieferung von Kriegsverbrechern an das UNTribunal in Den Haag war ein Meilenstein für diese Aufarbeitung. Wenn aber in Kroatien, Serbien oder Bosnien und Herzegowina mancherorten Kriegsverbrecher noch immer als Helden gelten, schadet das dem Frieden und der guten Zusammenarbeit mit den Nachbarn. Hier müssen die politischen Eliten der jeweiligen Länder mutig vorangehen und die Saat pflegen, die die Präsidenten von Kroatien und Serbien, Ivo Josipovic und Boris Tadic, bereits ausgesät hatten. Es bleibt zu hoffen, dass der neue serbische Präsident Nikolic mit seinen harschen Äußerungen die noch zarten Pflanzen der Versöhnung nicht allzu leicht zertritt. Dazu muss er sich glaubhaft von seiner ultranationalistischen Vergangenheit lösen und unter Beweis stellen, dass es ihm mit der Kehrtwende Richtung Europa ernst ist. Dies gilt auch für die sozialistische Partei Serbiens unter Ivica Dacic, die mit Nikolics Partei die neue Regierung Serbiens bilden wird und Boris Tadic in die Opposition schickt. Dies ist für mich eher ein Schritt in die Vergangenheit als in die Zukunft. Neben politischen Herausforderungen hat der westliche Balkan große wirtschaftliche und soziale Probleme zu bewältigen, die den Alltag der Menschen vor Ort bestimmen. Verstärkt werden diese Probleme durch die seit Jahren andauernden Finanz- und Wirtschaftskrisen, denen die Region wenig entgegenzusetzen hat. Es braucht stabiles Wachstum und Investitionen. Eine Voraussetzung dafür sind vor allem stabile Rahmenbedingungen und eine klare EU-Beitrittsperspektive, auch um internationalen Investoren Perspektiven zu bieten. Soziale Faktoren dürfen in der Debatte um wirtschaftlichen Aufschwung für die Länder des westlichen Balkans nicht zu kurz kommen. Die Region hat mit zum Teil extrem hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen, insbesondere die dramatische Jugendarbeitslosigkeit stellt, wie andernorts in Europa, ein großes Problem dar. Das hohe Armutsniveau und mangelnde soziale Sicherung auf dem westlichen Balkan können für uns nicht hinnehmbar sein. Wie bereits gesagt, es bleibt noch viel zu tun. Das darf aber nicht dazu führen, dass seitens der EU die Beitrittsprozesse erlahmen. Dass mit Bulgarien und Rumänien „unfertige“ Länder der EU beigetreten seien, deren verfrühter Beitritt der EU geschadet habe, ist allenthalben zu hören und zu lesen. Das mag so sein. Daraus lässt sich meines Erachtens aber keine Begründung einer Erweiterungspause ableiten, wie sie viele gegenüber der Türkei und den Westbalkanstaaten am liebsten sähen. Wer eine Erweiterungspause will, muss dies offen und klar beschließen und begonnene Beitrittsprozesse stoppen. Das wäre dann auch die Verabschiedung von dem Versprechen, das wir den Westbalkanstaaten auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki gegeben haben. Eine solche Bankrotterklärung seitens der EU kann wohl niemand in diesem Hause wirklich wollen. Seien wir realistisch: Die Zusage einer europäischen Perspektive, die Verleihung eines Kandidatenstatus und auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sind noch lange kein Beitritt und auch keine Garantie dafür, dass sich in den entsprechenden Ländern alles schlagartig zum Guten wendet. Doch haben wir nicht oft genug erlebt, dass eine klare europäische Perspektive, das Streben in die EU, der Beitrittsprozess selbst die effektivsten Motoren für Stabilisierung und Reformen sind? Kroatien ist dafür ein deutliches Beispiel. Ein Entzug der europäischen Perspektive dagegen würde die Gefahr politischer und ökonomischer Regression bergen. Die Erfüllung klar definierter Kriterien und harte Verhandlungen sind selbstverständlich. Wer in die EU will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen. Von Anfang an habe ich das Vorhaben der EU-Kommission begrüßt, in zukünftigen Beitrittsverhandlungen die Kapitel 23 und 24 frühzeitig zu eröffnen und erst zum Abschluss der Verhandlungen hin zu schließen. Wir möchten, wie in unserem Antrag dargelegt, noch einen Schritt weitergehen: aus unserer Sicht macht es Sinn, über den Besitzstand des Kapitels 23, „Judikative und Grundrechte“, bereits vor dem Beginn offizieller Beitrittsverhandlungen mit Kandidatenländern ohne laufende Verhandlungen und Ländern, die einen Antrag auf Beitritt zur EU gestellt haben, zielgerichtete Vorverhandlungen zu führen. So könnten schon frühzeitig bessere Rahmenbedingungen für Reformen und für einen erfolgreichen Beitrittsprozess geschaffen werden. Politische Rabatte seitens der EU darf es gegenüber beitrittswilligen Ländern nicht geben. Gleichzeitig hat jedes beitrittswillige Land das Recht auf faire Verhandlungen. Der Erfüllung von Anfang an klar definierter Bedingungen müssen im Sinne der Glaubwürdigkeit der Zu Protokoll gegebene Reden EU auch klar definierte Fortschritte im Beitrittsprozess folgen. Es liegt in unserem eigensten Interesse, die EU als Raum von Freiheit, Demokratie, Frieden, Sicherheit und Wohlstand nicht für europäische Länder zu verschließen, die umgeben von EU-Mitgliedstaaten in unserer Mitte liegen. Gemeinsam mit ihnen sollten wir dafür eintreten, dass die Staaten des westlichen Balkans auf lange Sicht keine weißen Flecken auf der Landkarte der EU bleiben oder sich gar zu tragischen schwarzen Löchern in unserem Kontinent entwickeln. Denn wenn dies passieren würde, hätte die EU in dieser Region zum zweiten Mal in schändlicher Weise versagt.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Heute vor 23 Jahren hielt Slobodan Milosevic seine berüchtigte Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld. Heute vor elf Jahren wurde derselbe Slobodan Milosevic dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert. In den dazwischen liegenden zwölf Jahren mussten wir auf dem Balkan Krieg, Leid und ein Ausmaß an Verbrechen erleben, das wir in Europa nicht mehr für möglich gehalten haben. Dieses unsägliche Leid ist die direkte Folge eines verbrecherischen Missbrauchs von Geschichte. Einen derartigen Missbrauch hat es in Europa viel zu oft gegeben. Aber Europa hat nach der größten Katastrophe daraus gelernt und mit der europäischen Einigung seine Lehren umgesetzt. Auf diesem Weg wollen wir auch die Länder des westlichen Balkans mitnehmen. Ich gehe davon aus, dass die Kollegen der SPD den Titel ihres Antrages als Beschreibung der Realität verstehen. Denn die Staaten des westlichen Balkans haben eine ehrliche und faire europäische Perspektive. Die Fortschritte einzelner Länder allein in den letzten Monaten sprechen da wohl für sich: Verleihung des Kandidatenstatus an Serbien im März, der Beginn der Ratifizierung des kroatischen Beitritts und, ab morgen, der Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro. Das zeigt: Fortschritte sind möglich, und wo Länder Fortschritte machen, werden sie von der EU auch honoriert. Aber es gibt natürlich auch noch genug Probleme. Am schwierigsten für die europäische Glaubwürdigkeit halte ich den Fall Mazedonien. Denn hier hat ein Land wirklich Fortschritte gemacht und kommt trotzdem nicht weiter. Hier sehe ich auch die dringende Notwendigkeit, weiter auf Griechenland einzuwirken. Allerdings glaube ich kaum, dass wir hier mit Druck weiterkommen. Wir müssen aber nachdrücklich darauf hinweisen, dass gerade in der aktuellen Situation eine etwaige Destabilisierung in seiner direkten Nachbarschaft für Griechenland keineswegs wünschenswert sein kann. Ein zweiter Problemfall ist - und bleibt wahrscheinlich auch für geraume Zeit - Bosnien-Herzegowina. Hier lehne ich allerdings Ihre Forderung nach einer Stärkung des OHR ganz strikt und kategorisch ab. Die Zeit von Eingriffen des OHR ist endgültig abgelaufen; das müssen wir anerkennen. Zu glauben, man könne mehr als 15 Jahre nach dem Kriegsende und nach einer ganzen Reihe von demokratischen Wahlen immer noch quasidiktatorisch von außen Fortschritte erzwingen, ist grundfalsch. Wir müssen im Gegenteil viel mehr auf die Arbeit des EU-Repräsentanten setzen. Die EU muss dem Land klare, aber eben auch erreichbare Ziele setzen. Hier hat die EU in der Vergangenheit ja auch selber Fehler gemacht, wie etwa die gar nicht zu rechtfertigenden Vorgaben zur Polizeireform. Und ich glaube, wir sind uns einig, dass Herr Sörensen hier bislang einen sehr überzeugenden Job gemacht hat. Serbien hat im März den Kandidatenstatus bekommen. Und jetzt müssen wir sehen, was der neu gewählte Präsident Nikolic aus dieser Chance macht. Ich habe nach seiner Wahl dafür plädiert, ihn nach seinen heutigen Taten zu beurteilen; aber ich gebe gerne zu, dass einige seiner Reden nicht gerade optimistisch stimmen. Jede Relativierung des Völkermords in Srebrenica ist völlig unerträglich. Die Regierungsbildung ist immer noch nicht abgeschlossen. Im Kosovo ist es wieder zu Unruhen gekommen, und ich möchte den verletzten Soldaten auch bei dieser Gelegenheit meine besten Wünsche übermitteln. Eines ist völlig klar und völlig unverhandelbar: Serbien kann nur in die EU kommen, wenn der Konflikt mit Kosovo im gegenseitigen Einvernehmen geregelt ist. Das muss nicht zwingend eine völkerrechtliche Anerkennung sein. Es muss aber so weit von einem Geist der Versöhnung und guter Nachbarschaft getragen sein, dass wir begründet davon ausgehen können, dass bilaterale Schwierigkeiten nicht in die EU hineingetragen werden. Serbien kann nicht weiterhin Parallelstrukturen im Kosovo in der bisherigen Form aufrechterhalten. Die Verfassung des Kosovo, in Umsetzung des AhtisaariPlans, enthält genug Möglichkeiten für Kommunen mit mehrheitlich serbischer Bevölkerung, sich innerhalb des kosovarischen Staats als Serben zu organisieren und ihre eigenen Belange zu verwalten. Aber auch Kosovo muss noch erhebliche Fortschritte machen. Ich begrüße es, dass EULEX sich jetzt schlanker organisiert und auf die wesentlichen Probleme konzentriert. Und sosehr ich es natürlich auch begrüßen würde, dass alle EU-Staaten das Kosovo anerkennen, so glaube ich doch eher, dass der Weg umgekehrt verlaufen wird: Wenn Serbien und Kosovo bilateral zu einer Regelung kommen, dann werden auch die verbliebenen EUStaaten sich dem nicht mehr verschließen. Ich sehe durchaus die Gefahren, die auf dem Balkan durch europäische Untätigkeit entstehen können. Ich sehe aber auch die Gefahren, die durch zu große Ungeduld entstehen. Vieles in der Region muss noch wachsen und braucht auch Zeit zum Wachstum. Das gilt für rechtsstaatliche Strukturen, für wirtschaftliche Kooperation innerhalb der Region und auch für den Abbau von Feindbildern. Die EU sollte sich in den Ländern, in denen ein schneller Fortschritt des Beitrittsprozesses derzeit nicht möglich erscheint, darauf konzentrieren, kleine, aber für Zu Protokoll gegebene Reden die Masse der Bevölkerung sicht- und fühlbare Schritte anzubieten. Der Prozess zur Visafreiheit ist für mich immer noch vorbildhaft. Gerade im Bereich Wirtschaft und bei der engeren Anbindung der Länder an den EU-Binnenmarkt ist auch unterhalb formeller Mitgliedschaft vieles möglich. Hier wünsche ich mir etwas mehr Kreativität. Insgesamt bin ich sehr froh, dass wir uns in diesem Haus im Ziel der Heranführung des westlichen Balkans an die EU weitestgehend einig sind. Und ich halte diese grundsätzliche Einigkeit auch für ein wichtiges Signal an die Region, auch wenn wir wegen einzelner Punkte Ihrem Antrag heute nicht zustimmen können.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Um es vorneweg klarzustellen: Die Fraktion Die Linke tritt entschieden für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans ein. Der Ehrlichkeit und Fairness halber müssen wir dabei jedoch die Bedingungen und Zustände innerhalb der Europäischen Union und des westlichen Balkans sowie die Beziehungen zwischen beiden klar benennen. Die EU und ihre Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik tragen immer deutlicher die Züge eines imperialen Projekts, und an verschiedenen Stellen wird das innerhalb der EU und der ihr angegliederten Denkfabriken auch immer ehrlicher so benannt. Ein Imperium zeichnet sich dadurch aus, dass es keine klaren Grenzen hat, dass es den Geltungsbereich seines Rechts bis in eine weit entfernte Peripherie ausdehnt, während es die Entscheidungsgewalt im Zentrum konzentriert. Wenn wir uns den Geltungsbereich des Acquis Communautaire einerseits und die Bündelung politischer und ökonomischer Macht in Westeuropa und ganz besonders in Berlin auf der anderen Seite anschauen, dann müssen wir ganz klar von einer imperialen Struktur sprechen. Dasselbe gilt, wenn wir uns das EU-Grenzregime betrachten, das ja genau deshalb von so herausragender Relevanz ist, weil es diese Struktur auf den Punkt bringt. Durch Verbindungsbeamte, Rücknahmeabkommen, Partnerschaftsprogramme, die Zusammenarbeit mit Drittstaaten und Institutionen wie Frontex wurden die Grenzkontrolle und Flüchtlingsabwehr bis hinein in die Herkunfts- und Transitstaaten ausgelagert, in Gebiete, wo ein Grundrechteschutz oder ein Zugang zum europäischen Rechtssystem nicht existieren. Bereits in den Herkunftsstaaten versehen deutsche und europäische Beamte - und oft genug auch europäische Soldaten - ihren Dienst; dazwischen wurde ein Ring sogenannter sicherer Drittstaaten geschaffen, welche sich zu den willigen Erfüllungsgehilfen der EU haben machen lassen. Im Inneren liegt dann der Schengen-Raum, der bis heute nicht mit der Europäischen Union deckungsgleich ist, und im Zentrum die westeuropäischen Staaten, die mittlerweile immer öfter für sich in Anspruch nehmen, das Schengen-Abkommen temporär außer Kraft zu setzen. In der Peripherie herrscht der Ausnahmezustand, im Zentrum wird über diesen entschieden. Auch hier zeigt sich eindeutig die imperiale Struktur der EU. Vor diesem Hintergrund wird gegenwärtig immer deutlicher von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Europäischer Union und Demokratie gesprochen. Erinnern wir uns an die Referenden zum Vertrag von Lissabon: Man hat die Iren so lange abstimmen lassen, bis das für Berlin und Brüssel richtige Ergebnis herauskam. Ähnliches geschah nun in Griechenland. Und sogenannte technokratische Regierungen werden innerhalb der EU weiter zunehmen, weil es eigentlich nur noch Aufgabe der Regierungen ist, Entscheidungen aus Berlin und Brüssel gegen den Willen der Bevölkerung durchzustellen. Diese Art der Politik hat den Beitrittsprozess bislang wesentlich geprägt und wurde darin weiterentwickelt. Man hat dabei ganz offen versucht, in Wahlen einzugreifen, indem Entscheidungen über den Beitrittsprozess oder Visaliberalisierungen kurz vor Wahlen gelegt wurden, um die sogenannten proeuropäischen Kräfte zu unterstützen. Gleichzeitig wurde in Westeuropa hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand recht deutlich gesagt, dass es eine tatsächliche Beitrittsperspektive für einige der betreffenden Staaten nicht geben wird. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer ehrlichen und fairen europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans grundsätzlich richtig; allein: Sie ist verlogen. Betrachten wir nur einmal Serbien und das Kosovo, wo nicht einmal unter den westeuropäischen Staaten Einigkeit besteht, ob es sich um einen Staat oder zwei Staaten handelt. Deutsche Soldaten waren hier in den letzten Monaten auf täglicher Basis damit beschäftigt, die Verwaltungsgrenze zwischen Serbien und dem Nordkosovo militärisch gegen die ansässige Bevölkerung durchzusetzen, sie gaben Schüsse ab und wurden selbst verwundet. In Bosnien und Herzegowina hingegen sind Soldaten der EU bis heute damit beschäftigt, das Auseinanderbrechen eines künstlichen Gebildes hinauszuzögern. Während deutsche Soldaten auf dem Balkan wieder mit Gewalt Grenzen ziehen und der deutsche Diplomat Ischinger - von der Regierung unwidersprochen - fordert, Deutschland solle die Rolle des „gutmütigen Hegemons“ einnehmen, kommen Sie mit diesem Antrag, der sich neben falschen Versprechungen vor allem durch den erhobenen Zeigefinger auszeichnet, der an die Regierungen des westlichen Balkans gerichtet ist. Das Versprechen von Thessaloniki soll erneuert werden, um dort neue Sparprogramme, die Privatisierung und Liberalisierung weiter voranzutreiben. Kein Wort verlieren Sie zu den sozialen Folgen dieser Politik, zu der wachsenden Verarmung einer breiten Bevölkerungsmehrheit. Sie reden von Fortschritten bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und meinen damit die weitere Entrechtung, die Unterwerfung der Bevölkerungen und Regierungen unter das Diktat Berlins und Brüssels. Wenn die Bevölkerungen des westlichen Balkans den Beitritt wirklich wollen und sie die Kriterien im gleichen Ausmaß erfüllen wie die Mitgliedstaaten, dann müssen sie auch aufgenommen werden. Bevor wir dies aber ins Zentrum unserer Forderungen an die EU stellen, halten wir einen Abzug der Truppen aus Bosnien und dem Kosovo für notwendig. Bevor wir eine weitere Erweiterung der EU wirklich begrüßen können, wäre ihre Neugründung als demokratisches und soziales Projekt wünZu Protokoll gegebene Reden schenswert - im Interesse der Bevölkerungen innerhalb der EU und derer, die beitreten wollen.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In einem Jahr wird Kroatien der Europäischen Union als 28. Mitgliedstaat beitreten. Das ist eine gute Nachricht, in dreifacher Hinsicht. Der Beitritt zeigt erstens, dass die europäische Perspektive für die Staaten des westlichen Balkans Realität wird. Der Beitrittsprozess hat zweitens gezeigt, welche enorme Transformationskraft ein Beitrittsprozess freisetzen kann. Schließlich hat die Europäische Union mit dem Beitrittsprozess Kroatiens bewiesen, dass sie aus den Fehlern, die bei vergangenen Beitrittsrunden gemacht wurden, gelernt hat. Zur Beitrittsperspektive der Staaten des westlichen Balkans. Ich begrüße ausdrücklich, dass die SPD unserem Beispiel folgt und einen umfassenden Antrag zur europäischen Perspektive der Staaten des westlichen Balkans vorlegt. Ich bin froh, dass in diesem Haus eine breite Mehrheit die europäische Perspektive des westlichen Balkans unterstützt. Nach den Kriegen der 90erJahre und der Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens ist es unsere moralische Pflicht, eine Wiederholung dieser schrecklichen Ereignisse zu verhindern. Stabilität und die positiven Entwicklungen der letzten Jahre würden wir durch eine Abkehr von der europäischen Perspektive leichtfertig aufs Spiel setzen. Die Europäische Union muss auf dem westlichen Balkan beweisen, dass sie auch innerhalb Europas in der Lage ist, Demokratie, Stabilität und Wohlstand zu etablieren. Ohne die Integration des westlichen Balkans, der völlig von EU-Mitgliedstaaten umgeben ist, bliebe die historische Errungenschaft „Europäische Union“ unvollendet. Die Transformationskraft, die die Beitrittsprozesse auslösen, ist beeindruckend. Das hat Kroatien gezeigt. Kroatien wird bis zum endgültigen Beitritt in einem Jahr auch weiter beweisen müssen, dass der Reformwille nicht nachlässt, Reformzusagen eingehalten werden und die Implementierung der neuen Gesetze vorangetrieben wird. Die Transformationskraft zeigen aber auch die Entwicklungen in den anderen Staaten des westlichen Balkans. Montenegro hat gezeigt, dass es willens ist, schwierige Hürden zu nehmen. Montenegro hat die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen erfüllt. Den Start der Verhandlungen am morgigen Freitag hat sich Montenegro damit redlich verdient. Das heißt natürlich nicht, dass Montenegro die Bedingungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union erfüllt; das muss es aber auch noch nicht. Montenegro geht morgen an den Start, nachdem es das Training und alle medizinischen Tests erfolgreich absolviert hat. Beitreten wird Montenegro aber erst, wenn es auf der Zielgeraden angekommen ist und die Ziellinie überquert hat, also wenn alle notwendigen Reformen umgesetzt und alle Anforderungen für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt sind. Auch Serbien hat in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht und hat im Frühjahr den offiziellen Kandidatenstatus erhalten. Dies war nur möglich, weil Serbien vollständig mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zusammengearbeitet hat. Das hat zuletzt die Auslieferung Ratko Mladics und Goran Hadzics bewiesen. Und das war zweitens nur möglich - und wird in Zukunft auch nur möglich sein -, weil Serbien den Dialog mit dem Kosovo wieder aufgenommen hat. Der nächste Schritt wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sein. Aus unserer Sicht sind dafür weitere glaubwürdige Fortschritte im Dialogprozess mit dem Kosovo und Fortschritte beim Abbau der Parallelstrukturen im Nordkosovo absolut notwendig. Und eins muss auch ganz deutlich gesagt werden: Ohne völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo wird Serbien der Europäischen Union nicht beitreten können. Dieses Bekenntnis suche ich im Antrag der SPD vergeblich. Wir müssen unmissverständlich klarstellen, dass die Unabhängigkeit des Kosovo in den bestehenden Grenzen nicht verhandelbar ist. Grenzverschiebungen zur Herstellung ethnischer Homogenität laufen dem Prinzip der demokratischen Gesellschaft zuwider. Sie bergen zudem das unüberschaubare Risiko in sich, in einer Kettenreaktion schwere Krisen in den unvollendeten Staaten des Westbalkans hervorzurufen. Daher müssen wir uns in einer Frage einig sein: Auf dem Westbalkan darf es keine Grenzverschiebungen mehr geben. Schließlich möchte ich noch etwas zu den Beitrittsprozessen an sich sagen: Nach den Beitritten Bulgariens und Rumäniens hat sich die Europäische Union auf neue Grundsätze bei der Erweiterung der Europäischen Union geeinigt. Danach bestimmen die Ergebnisse der Reformen das individuelle Tempo des Beitrittsprozesses in einem Land. Mit dem Beitritt müssen die Kopenhagener Kriterien erfüllt sein. Die Europäische Kommission darf dabei nicht nur die Umsetzung der Reformen überprüfen. Sie muss auch bis zum Ende schauen, ob die Reformen auch implementiert werden. Das tut sie übrigens gerade bei Kroatien. Bis zum endgültigen Beitritt legt sie noch zwei weitere Monitoringberichte vor. Schwierige Fragen wie die Reform der Verwaltung und Justiz sowie die Bekämpfung der Korruption sollen frühzeitig behandelt werden. Es ist daher folgerichtig und begrüßenswert, dass in den Beitrittsverhandlungen mit Montenegro das Kapitel 23 gleich zu Beginn geöffnet wird und während der gesamten Verhandlungen geöffnet bleiben soll. Diese Grundsätze und eine strikte Konditionalität in allen Phasen der Verhandlungen sind Grundlage für erfolgreiche Beitrittsverhandlungen. Diese harte Konditionalisierung ist richtig, sie stellt den westlichen Balkan aber auch vor ein großes Problem. Die Staaten werden nicht gleichzeitig am Ziel - also in der EU - ankommen. Kroatien ist schon da, Montenegro startet, Serbien wird bald die Verfolgung aufnehmen. Wann das Kosovo, wann Bosnien und Herzegowina an den Start gehen, ist noch völlig offen. Die Aufnahme der Verhandlungen mit Mazedonien sind auf nicht absehbare Zeit durch den Namensstreit mit Griechenland blockiert. In dieser Ungleichzeitigkeit steckt aber eine große Gefahr. Daher gilt es, parallel zu den künftigen Beitrittsverhandlungen auch Wege und Formen zu finden, das Kosovo und Bosnien und HerzegoZu Protokoll gegebene Reden wina nicht zurückzulassen. Wir müssen diese Staaten mitnehmen. Die ungleichzeitige europäische Integration darf nicht die Isolierung anderer Staaten bedeuten. In dieser Frage sind wir dem westlichen Balkan noch Antworten schuldig. Antworten und Engagement sind wir vor allem Bosnien schuldig. Die Europäische Union trägt eine besondere Verantwortung für Bosnien und Herzegowina und die Überwindung der unvollendeten Verfasstheit von Bosnien und Herzegowina. Für die Beitrittsprozesse der Staaten des westlichen Balkans sind aus meiner Sicht weitere Bedingungen unerlässlich: Die völkerrechtliche Anerkennung der Staaten des Westbalkans in den heutigen Grenzen habe ich bereits erwähnt. Außerdem müssen mit Abschluss der Verhandlungen alle bilateralen Konflikte gelöst oder wie im Fall Kroatien und Slowenien einer Lösung zugeführt sein. Neben den gutnachbarschaftlichen Beziehungen muss schließlich ausgeschlossen werden können, dass EU-Beitritte „verspäteter“ Staaten des Westbalkans durch bereits beigetretene Staaten blockiert werden können. Abschließend möchte ich noch zwei Punkte ansprechen: Die Frage der Minderheiten spielt auf dem gesamten westlichen Balkan eine wichtige Rolle. Ich denke dabei vor allem an die schwierige Situation der Roma. Sie leben vielerorts unter Umständen, die Menschen nicht würdig sind. Sie sehen sich Diskriminierung ausgesetzt, ihnen werden noch immer soziale und wirtschaftliche Rechte vorenthalten. Diese Probleme müssen die Staaten des westlichen Balkans so schnell wie möglich angehen. Ungarn hat während seiner Ratspräsidentschaft einen Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma vorgelegt. Die EU muss diesen guten Ansatz konsequent weiterverfolgen und auch die Staaten des westlichen Balkans frühzeitig einbeziehen. Das Zweite ist die Umweltfrage im Beitrittsprozess: Wir Grüne setzen uns seit jeher dafür ein, dass der Zustand der Umwelt, hohe Umweltstandards und vor allem deren Einhaltung eine gewichtige Rolle in Beitrittsverhandlungen spielen. Engagement in Bezug auf Natur und natürliche Ressourcen ist dabei nicht einfach nur ein Selbstzweck, sondern auch eine Frage der Selbstbehauptung gegen mangelnde Korruptionsbekämpfung in künftigen EU-Staaten. Es gibt kaum einen anderen Bereich, der mit Korruption so eng verbunden ist wie Umweltverschmutzung oder Raubbau an der Natur, sei es bei Bauvorhaben, Infrastrukturprojekten oder der öffentlichen Vergabe. Wenn wir Korruption als eine der großen Herausforderungen auf dem westlichen Balkan bekämpfen wollen, dann brauchen wir gute und hohe Umweltstandards und Reformen, die die Einhaltung dieser Standards auch sicherstellen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9744 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Täterverantwortung - Drucksache 17/1466 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/10164 Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Jörg van Essen Jerzy Montag Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Heinrich, mir graut vor dir“ - so wendet sich in einer berühmten Passage in Goethes Faust Margarete angstvoll an den von ihr so geliebten Heinrich. Es geht hierbei um Angst, um latente Aggressionen, um Auseinandersetzungen in einem Nähe- und Beziehungsgeflecht. Es geht um genau die Situationen, für den der heute zur Schlussabstimmung stehende Gesetzentwurf zur Stärkung der Täterverantwortung ein neues Instrument zur Verfügung stellen soll. Er knüpft an Strukturen an, bei denen Gewalt aus einem Beziehungsgeflecht entspringt, dort, wo Täter und Opfer in einer räumlichen und emotionalen Nähe zueinander stehen oder gestanden haben und es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen kommt. Zumeist sind die Beschuldigten dabei Männer. Es geht dabei um Nähebeziehungen, die bei den Tätern immer wieder Aggressionen und Gewalt hervorrufen. Es geht um Situationen, in denen Frauen vor ihren Männern, vor deren willkürlichen, gegen sie gerichteten Gewaltakten Angst haben müssen. So flüchten jährlich rund 45 000 physisch, sexuell oder psychisch misshandelte Frauen mit ihren Kindern in eines der etwa 400 Frauenhäuser oder in ähnliche Zufluchtsorte. Die Dunkelziffer ist dabei sehr hoch. Oftmals werden die Taten nicht angezeigt, gemeldet oder verbleiben im familiären und privaten Umfeld, aus Scham, Angst oder weil die Beziehung trotz der Gewalt fortbestehen bleibt. Die Frage ist, wie wir darauf reagieren. Wir können weiter hauptsächlich an den Symptomen ansetzen und allein mit strafrechtlichen Sanktionen reagieren oder versuchen, die Ursachen konsequent mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu bekämpfen - präventiv wie repressiv. Es kann uns allen nur daran gelegen sein, dafür zu sorgen, dass Gewalt in solchen Nähebeziehungen nicht mehr stattfindet. Strafen allein können dabei nur bedingt helfen. Einen Beitrag dazu liefert der vorliegende Gesetzentwurf zur Stärkung der Täterverantwortung. Ziel ist es, die Handlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaften und Gerichte im leichten und mittleren Kriminalitätsbereich zu erweitern, dort, wo Gewalt in einem Geflecht von häuslicher Nähe eine immer wiederkehrende Spirale ist, dort, wo Täter und Opfer in einer räumlichen und emotionalen Nähe zueinander stehen oder gestanden haben. Ziel ist es, diese Gewalt in den Griff zu bekommen. Daher setzt das Gesetz sinnvollerweise an zwei Stellen an: Erstens sieht es vor, die Einstellung durch Erteilung einer Weisung, an einem Trainingsprogramm teilzunehmen, in § 153 a StPO zu ermöglichen, und zweitens ist geplant, eine Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt durch die Erteilung der Anweisung, an einem Täterprogramm teilzunehmen, in § 59 a Abs. 2 StGB vorzunehmen. In der gängigen Kommentierung zur Strafprozessordnung von Lutz Meyer-Großner heißt es zum Hintergrund der Einstellungen nach § 153 a StPO: „Es handelt sich um ein zweckmäßiges vereinfachtes Erledigungsverfahren im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität mit Beschleunigungs- und Entlastungseffekt, um verurteilungslose Friedensstiftung in diesem Bereich ohne Verzicht auf Sanktionen, aber ohne Strafe oder Vorbestraftsein.“ ({0}) Genau das wollen wir doch erreichen: die nachhaltige Befriedung des häuslichen familiären Lebensbereichs. Gleichzeitig sollen aber die Sanktionen dem Opfer zeigen, dass der Beschuldigte etwas tun muss, also nicht sanktionslos bleibt. Täterarbeit ist Gewaltprävention und damit im Interesse des Opfers. Oftmals sind die Täter aber offenbar nicht in der Lage, sich freiwillig ihre Situation einzugestehen und selbst Maßnahmen einzuleiten, die eine Verhaltensänderung bewirken könnten. Häufig scheint ihnen die Einsicht zu fehlen, und sie verleugnen und verdrängen ihre Gewalttaten. Daher sind Geldauflagen oder die Verhängung von Geldstrafen oder Geldbußen unter Umständen nicht sehr erfolgversprechend. Der Täter kauft sich von seiner Schuld frei oder bezahlt seine Strafe. Eine Änderung seiner Wahrnehmung oder seines Verhaltens wird dadurch häufig aber nicht erreicht. Folge ist, dass sich das Opfer weiterhin der Gewalttätigkeit des Täters ausgesetzt sieht und die Justiz sich weiterhin mit dem Täter befassen muss. Mit den vorgesehenen Ergänzungen in der Strafprozessordnung sowie im Strafgesetzbuch werden die Täter durch justizielle Weisungen im Rahmen von Ermittlungsoder Strafverfahren daher zukünftig gezwungen, an einem Täterprogramm teilzunehmen. Dadurch wird den Tätern ermöglicht, Einsicht in das Unrecht zu gewinnen, die Ursachen des gewalttätigen Handelns zu erkennen und eine Änderung des Verhaltens zu erarbeiten. Durch die justiziell erzwungen Maßnahmen wird aber auch der Motivationsdruck der Täter, an einem solchen Täterprogramm teilzunehmen, erhöht: Bei der vorläufigen Einstellung des Verfahrens - §153 a StPO - besteht der Motivationsdruck des Täters, ein Strafverfahren und eine Strafe zu vermeiden. Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt - § 59 a StGB besteht der Motivationsdruck, dass die Strafe ansonsten vollstreckt wird. Der Täter soll im Rahmen eines Trainingsprogramms die in ihm aufkommende Aggression frühzeitig erkennen, sie beherrschen und diese Gewalt kontrollieren lernen. Er soll die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und zur Selbstkontrolle vermittelt bekommen. Eine längerfristige und nachhaltige Einwirkung auf die Lebens- und Verhaltensweisen des Täters kommt dem Opfer zugute und soll eine Befriedung der gewaltgeprägten Beziehung zwischen Täter und Opfer erreichen. Dies gilt aber nicht nur für Täter häuslicher Gewalt. Vielmehr sollen im Interesse eines effektiven Opferschutzes diese Möglichkeiten nicht nur auf diese Bereiche beschränkt bleiben, sondern auch auf andere Fälle angewendet werden können, in denen sich die Täterprogramme als geeignet erweisen. Die dafür im Gesetzentwurf vorgesehene Frist beträgt ein Jahr. Die Abweichung von der sonst in § 153 a StPO vorgesehenen Frist von sechs Monaten zur Erfüllung von Auflagen und Weisungen - mit Ausnahme der Unterhaltspflichtverletzungen, für die aus anderen Gründen eine Jahresfrist gilt - ist deshalb sinnvoll, weil nur so eine dauerhafte und nachhaltige Verhaltensänderung beim Täter möglich ist. Die von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ 2007 erarbeiteten bundesweiten Qualitätsstandards sehen vor, dass der Täter mindestens ein sechsmonatiges Täterprogramm durchlaufen sollte. Diesem halbjährlichen Programm geht ein Aufnahmeverfahren voraus, und es schließt sich ein sogenannter Follow-up an. Mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Möglichkeiten erweitern wir den Handlungsspielraum der Staatsanwaltschaften und Gerichte, um angemessen, effektiv, zielgenau, nachhaltig und individuell auf die Persönlichkeit des Täters und auf sein strafbares Verhalten regieren zu können. Dabei werden die Gerichte die Beziehungen zwischen Opfer und Täter und auch die Belange des Opfers gewichten müssen. Denn eines ist auch klar: Die Täter begehen strafrechtlich relevante Gewalttaten. Und Strafrecht hat auch die Funktion der Sühne - und Genugtuung für die Opfer. Sühne und Genugtuung können aber auch aus Sicht des Opfers dadurch erfolgen, dass der Täter ein solches Täterprogramm ernsthaft und für eine längere Dauer durchlaufen muss und mit dem Ziel abschließt, künftig keine Gewalt mehr gegen das Opfer oder andere Menschen zu verüben. Auf der anderen Seite bedeutet dieses Trainingsprogramm für die Täter aber auch eine letzte Chance, eine Änderung ihrer Einsicht und ihres Verhalten herbeizuführen, bevor der Täter bestraft und vorbestraft sein wird. Zu Protokoll gegebene Reden Lassen Sie uns mit dem Gesetz die Ursachen bekämpfen in der Hoffnung, dass die Täterprogramme erfolgreich verlaufen und helfen, Gewalt zu verhindern.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das moderne Strafrecht ist stärker von dem Ziel der Verbrechensvorbeugung geprägt als von dem Ziel der Sühne für die begangene Tat und der Wiederherstellung der Rechtsordnung. Dies sind zweifellos zentrale Funktionen des Strafrechtes. Die Verbrechensvorbeugung hat jedoch für die Sicherheit und für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung eine überragende Bedeutung. Wenn es gar nicht erst zu einer Straftat kommt, kommt es auch nicht zu einer Störung der Rechtsordnung. Zweifellos hat die Strafandrohung eine abschreckende und damit eine präventive Wirkung. Dies gilt sowohl im generalpräventiven Sinn als auch im konkreten Fall für einen potenziellen Täter, der eine bestimmte Tat begehen will. Dazu gehört aber, dass die Strafverfolgung effektiv ist. Durch den Gesetzestext allein lässt sich der Täter nicht beeindrucken. Aber auch wenn beides zusammen kommt, die Strafandrohung und die Gefahr des Entdecktwerdens, werden viele Täter von ihren Taten dennoch nicht abgehalten. Das haben wir bei der Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität erfahren müssen. Solche Straftaten können kaum durch Strafandrohung, sondern vielmehr durch die vorzeitige Aufdeckung von Anschlagsplänen verhindert werden, also durch präventive Maßnahmen. Prävention ist deshalb die wichtigste Aufgabe in der Bekämpfung von Straftaten. Genau diesem Ziel widmet sich der vorliegende Gesetzentwurf. Darin geht es um die Verbesserung der sogenannten Täterarbeit. Durch entsprechende Programme sollen, wie es in der Begründung des Entwurfs heißt, „Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderungen auf Täterseite“ bewirkt werden. Der Täter soll dazu angemahnt werden, Verantwortung für seine Tat zu übernehmen und mehr Selbstkontrolle einzuüben. Dies soll im Rahmen von Ermittlungs- und Strafverfahren durch die Teilnahme an entsprechenden Programmen - in der Regel sind dies soziale Trainingskurse mit bester Besetzung - erreicht werden. Dadurch soll der Täter die Fähigkeit erlangen, sich künftig nicht gewaltbereit, sondern kontrolliert und gewaltfrei in einer Konfliktsituation zu verhalten. Dies gilt insbesondere im häuslichen Bereich und richtet sich in der Regel an Männer. Das Problem „Häusliche Gewalt“ darf nicht unterschätzt werden. Gewalt in den eigenen vier Wänden hat es immer gegeben. Sie war aber nicht so häufig. Oft allerdings haben sich Frauen ihrem Schicksal ergeben. Inzwischen jedoch gehört die Gewalt im häuslichen Bereich für viele Frauen und Kinder zum Alltag. Jährlich suchen 45 000 sexuell und psychisch misshandelte Frauen in den 600 Frauenhäusern Zuflucht. Dazu gehört eine große Dunkelziffer, da längst nicht alle Gewalttaten gemeldet werden. In den letzten zwanzig Jahren wurden Trainingsprogramme entwickelt, um die gewalttätigen und gewaltbereiten Männer zu einer Veränderung ihres Verhaltens zu bringen. Wird diese Veränderung erreicht, haben solche Maßnahmen eine viel größere Wirkung als zum Beispiel eine Geldstrafe, wie sie in solchen Fällen insbesondere bei Ersttätern üblich ist. Oft auch trifft die Geldstrafe nicht nur den Täter, sondern auch das Opfer, weil weniger Geld in der Haushaltskasse ist. Durch das vorgenannte Trainingsprogramm kann daher aus mehrfachem Grund ein besserer Opferschutz erlangt werden. Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Verbesserung und die Erweiterung der Möglichkeiten, Straftäter über staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Weisungen im Rahmen von Ermittlungs- bzw. Strafverfahren qualifizierten Täterprogrammen zuzuweisen. Deshalb ist eine Ausweitung der Auflagen im Rahmen einer Einstellung nach § 153 a StPO und eine Ausweitung der Auflagen im Rahmen einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 a StGB vorgesehen. Dabei geht es um die Teilnahme an einem oben beschriebenen Täterprogramm. Unter diesem Täterprogramm wird ein „Unterstützungs- und Beratungsangebot zur Verhaltensänderung für gewalttätige Männer“ verstanden. Für eine solche „Täterarbeit“ ist nach den Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit häusliche Gewalt“ ein längerer Zeitraum, als die im § 153 a StPO vorgesehenen 6 Monaten notwendig. Daher wird diese Frist auf ein Jahr verlängert. Darüber hinaus wird der Katalog bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 a StGB um die Möglichkeit der Weisung, an einem Täterprogramm teilzunehmen, ergänzt. Außerdem wird in § 153 a ein neuer Abs. 4 eingeführt. Es handelt sich dabei um eine Regelung für die Weitergabe personenbezogener Daten aus dem Strafverfahren, die nicht den Beschuldigten betreffen. Diese Daten dürfen an die mit der Durchführung des Programmes zur Änderung gewalttätigen Verhaltens befasste Stelle nur übermittelt werden, „soweit die betroffenen Personen in die Übermittlung eingewilligt haben.“ Allerdings ist auch auf die Kritik an dem Gesetzentwurf hinzuweisen. Man kann durchaus die Auffassung vertreten, dass ein Regelungsbedürfnis nicht besteht. Soweit es nämlich im Rahmen häuslicher Gewalt zu erheblichen Straftaten kommt, wird eine Sanktionierung durch eine Auflage nach § 153 a, StPO, eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, nicht schuldangemessen sein. Soweit eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, ist eine Therapieeinweisung jetzt schon möglich. Außerdem verweist die Kritik darauf, dass für die vorgesehene Täterarbeit bundesweit nicht genügend Fachkräfte vorhanden sein werden. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass bereits jetzt schon in § 153 a, Abs. 1, Satz 1, Satz 2, Nr. 5 StPO die Möglichkeit vorgesehen ist, dem Beschuldigten die Bemühungen um einen Täter-Opfer-Ausgleich aufzuerlegen. Die Übermittlung von Daten, die nicht den Beschuldigten betreffen, nur mit Einwilligung der betroffenen Personen ist kaum praktikabel. Dadurch könnten die Erfolgsaussichten des Programms verringert werden. In Zu Protokoll gegebene Reden jedem Fall muss es möglich sein, einen Tatvorgang, bei dem naturgemäß auch das Opfer beteiligt gewesen ist, ohne Rücksicht auf die Interessen des Opfers an die Therapiestelle weiterzugeben. Der Gesetzeswortlaut ist insoweit unklar. Alles in allem gesehen handelt es sich hier jedoch um einen Gesetzentwurf, der in der Praxis erprobt werden sollte. Es ist davon auszugehen, dass tatsächlich eine Verbesserung im Verhalten der Täter erreicht werden kann. Insofern ist dem Gesetzentwurf trotz der beschriebenen Bedenken zuzustimmen.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Häusliche Gewalt, insbesondere Gewalt gegen Frauen und Kinder, ist nach wie vor an der Tagesordnung in vielen Haushalten - auch in Deutschland. Sexuelle Übergriffe, psychische Folter oder körperliche Misshandlungen: Es ist die Aufgabe von uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern, für einen umfassenden Rechtsrahmen beim Thema Opferschutz zu sorgen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen bei sämtlichen Straftaten eng an der Seite der Opfer. Der rheinland-pfälzische Vorschlag zur Stärkung der Täterverantwortung passierte am 5. März 2010 den Bundesrat und wurde am 7. April 2011 von uns in erster Lesung diskutiert. Wir begrüßen die Vorlage des Gesetzentwurfes zu diesem wichtigen Thema sehr. Die vorgesehenen Gesetzesänderungen dienen dem vorbeugenden Opferschutz und der Verhinderung von Kriminalität, indem die meist männlichen Gewalttäter stärker in die Verantwortung genommen werden. Der Gesetzentwurf trägt vor allem dem besonderen Schutzbedürfnis weiblicher Opfer Rechnung. Staatsanwältinnen und Staatsanwälten sowie Richterinnen und Richtern soll es künftig möglich sein, dem Straftäter bzw. der Straftäterin die Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs für die Dauer von bis zu einem Jahr aufzugeben. Ziel dieser Kurse ist es, Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen bei den Straftätern zu erreichen, um diese durch die Stärkung der Selbstkontrolle von der Wiederholung solcher Taten abzuhalten. Insbesondere die Auseinandersetzung der Täterinnen und Täter mit ihrer Gewaltbereitschaft muss das zentrale Element der Trainingskurse sein. Haftstrafen oder Geldstrafen führen nicht zwangsläufig zu einer kritischen und konstruktiven Auseinandersetzung der Täterinnen und Täter mit ihrem eigenen Verhalten. Die sogenannten Täterprogramme setzen genau hier an, indem sie in individuellen Gesprächen und Gruppensitzungen die Betroffenen mit ihrem Gewaltverhalten konfrontieren. Um vor allem Ersttäterinnen und Ersttäter davor zu bewahren, weitere Straftaten zu begehen, stellen die Trainingsprogramme eine wichtige Möglichkeit dar. So können Täterinnen und Täter von Beginn an von weiteren Straftaten abgehalten werden. Hierbei gilt es, ein Abgleiten in verfestigte kriminelle Strukturen zu verhindern. Nach § 153 a Strafprozessordnung kann die Staatsanwaltschaft auch heute schon bei einem Vergehen vorläufig von der Erhebung einer öffentlichen Klage absehen und stattdessen dem/der Beschuldigten Auflagen und Weisungen, beispielsweise spezielle Trainings, erteilen. Gemäß Strafprozessordnung muss eine Weisung innerhalb der vorgesehenen Sechsmonatsfrist erfüllt sein. Dieser Zeitrahmen ist jedoch mit Blick auf die Qualitätsstandards der BAG „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ kaum zu realisieren. Straftäterinnen und Straftäter benötigen einen ausreichend langen Prozess zur Änderung des sozialen Verhaltens. Der zeitliche Prozess der Kurse mit Vorbereitungen und Aufnahmeverfahren, Follow-upTerminen usw. war in der bisherigen Kürze wenig vielversprechend. Diese Zeit muss aber gewährleistet sein, denn ein strukturiertes und professionell durchgeführtes Programm benötigt in der Regel länger als sechs Monate. Der nun vorgelegte Entwurf sieht einen deutlich längeren Zeitraum von bis zu einem Jahr vor. Der Katalog der Auflagen und Weisungen in § 153 a Abs. 1 StPO soll um die Möglichkeit der Teilnahme an einem Täterprogramm erweitert und die Frist um sechs Monate verlängert werden. Ein sinnvoller Vorschlag, den wir gerne unterstützen, ebenso wie die künftige Möglichkeit, auch bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt die Teilnahme von Trainings anzuordnen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt darüber hinaus, dass der schon feststehende Fachbegriff „Täterprogramm“ durch den Begriff „sozialer Trainingskurs“ ersetzt wird. Damit stimmen wir der Gegenäußerung der Bundesregierung zu. Zudem halten wir es im Sinne der Opfer für eine wichtige Regelung, eine gesetzliche Grundlage für die Übermittlung von personenbezogenen Daten zu schaffen, um dadurch der das Training durchführenden Stelle die Möglichkeit zu eröffnen, die Akten über den Sachverhalt einsehen zu können. Die ist ein wichtiger Punkt, da so einer Verharmlosung der Täterin und des Täters entgegengewirkt werden kann. Täterinnen und Täter können in Zukunft bei ihrer Teilnahme an einem Trainingskurs ihr Verhalten nicht harmloser darstellen, als es eigentlich war. Möglichen Bagatellisierungstendenzen der Beschuldigten wird somit von Beginn an entgegengewirkt. Wichtig für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es aber hier, dass die Daten nur an die mit sozialen Trainingskursen betrauten Stellen übermittelt werden dürfen, sofern die betroffenen Personen der Übermittlung zugestimmt haben. Der Schutz der persönlichen Daten muss auch hier an erster Stelle stehen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wichtige Änderungen zur Stärkung der Täterverantwortung übernommen. Im Sinne des Opferschutzes stimmen meine Fraktion und ich den Gesetzesänderungen gerne zu.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit der heutigen zweiten und dritten Beratung zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Stärkung der Täterverantwortung schließen wir eine Initiative aus den Ländern ab, die zu einer Verbesserung der Möglichkeiten führt, Straftäter über staatsanwaltliche oder gerichtliche Weisungen qualifizierten Täterprogrammen zuzuweisen. Zu Protokoll gegebene Reden Zu begrüßen sind die Änderungsvorschläge des Bundesministeriums der Justiz. Zum einen wird vorgeschlagen, den vorgesehenen Begriff „Täterprogramm“ durch den Begriff „sozialer Trainingskurs“ zu ersetzen. Dieser neue Begriff bringt den Sinn und Zweck des Gesetzentwurfs besser zum Ausdruck, da sich - wie die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu Recht kritisiert - mit Blick auf noch nicht verurteilte Personen in einer Gesetzesnorm die Bezeichnung „Täter“ verbietet. Zum anderen sind die Änderungen, die in einem neuen Abs. 4 des § 153 a StPO eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Übermittlung von personenbezogenen Daten an die aufgrund einer Weisung mit einem sozialen Trainingskurs befassten Stelle schaffen, sehr zu begrüßen. Das Akteneinsichtsrecht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für personenbezogene inhaltliche Daten des Täters in den Projekten der Täterarbeit ist notwendig. Die Kenntnis des Trainers über den Sachverhalt und die Hintergründe des Täters sind für eine wirksame Therapie erforderlich. Es wird jedoch der Umfang der Datenübermittlung auf das Nötigste begrenzt. Durch eine Bezugnahme auf die vergleichbare Regelung beim Täter-Opfer-Ausgleich wird sichergestellt, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten, die nicht den Beschuldigten betreffen, nur bei Einwilligung der betroffenen Personen zulässig ist. Damit wird den Interessen dieser Personen, insbesondere der Opfer, Rechnung getragen. Es wird sichergestellt, dass personenbezogene Daten, die gerade bei Gewaltproblemen in sozialen Näheverhältnissen sehr sensibler Natur sein können, nur mit Einwilligung der betroffenen Personen übermittelt werden. Diese Informationen werden in der Regel nur an private Stellen weitergeleitet, die mit der Durchführung des sozialen Trainingskurses befasst sind. Die nun vorgeschlagenen Änderungen beseitigen die letzten Schwachpunkte des Entwurfs und garantieren somit den Erfolg dieser Initiative.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Koalition hat sich den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Stärkung der Täterverantwortung zu eigen gemacht, und deshalb debattieren wir ihn heute zum zweiten Mal. Was den Konsens anbelangt, auf den wir uns berufen können, so hat sich seit der ersten Lesung nichts geändert: Wir sind uns einig darin, dass häusliche Gewalt ein sehr ernst zu nehmendes Problem ist. Wir sind uns auch einig darin, dass die Täterverantwortung gestärkt und vor allem die Präventionsarbeit verbessert werden muss. Wir sind uns ebenso darin einig, dass Täterprogramme ein guter Ansatz sind, zu Verhaltensänderungen beizutragen, und dass häusliche Gewalt gesellschaftlich geächtet werden muss. Wir müssen aber auch konstatieren, dass häusliche Gewalt noch immer allzu häufig als Kavaliersdelikt gilt und die Dunkelziffer hoch ist. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar. Für das Jahr 2011 hat das Bundeskriminalamt erstmals ausgewiesen, welche von den insgesamt 662 Menschen, die Opfer von Mord und Totschlag wurden, mit dem Täter verwandt waren. 26,9 Prozent der Täter waren aktuelle oder ehemalige Lebenspartner der Opfer, in zwei Dritteln dieser Fälle waren Opfer und Täter zur Tatzeit verheiratet ({0}). Eine Studie des Familienministeriums besagt, dass hierzulande jede vierte Frau zwischen 16 und 85 Jahren Erfahrungen mit häuslicher Gewalt machen musste. Das ist eine erschreckend hohe Zahl, hinter der sich Leid, Demütigung, Hilflosigkeit und viel zu viel Gleichgültigkeit verbirgt. Von häuslicher Gewalt Betroffenen muss schnell und unbürokratisch geholfen werden. Aber was passiert beispielsweise im Hinblick auf Frauenhäuser? Die Linke fordert eine bundesweit einheitliche Finanzierung der Frauenhäuser und einen ungehinderten Zugang für alle betroffenen Frauen und deren Kinder, unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft. Täterprogramme sind notwendig und wichtig, aber die Opfer sollten nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn der Rechtsanspruch auf eine Zufluchtsmöglichkeit in allen Fällen von Gewalt als freiwillige Leistung gewährt wird, führt dies, auch wegen der Steuerpolitik der Regierung, zulasten der Kommunen, häufig zu weitreichenden Kürzungen und damit zur Einschränkung von Schutz- und Hilfsmöglichkeiten. Unser Problem mit dem Gesetzentwurf bleibt weiterhin ein rechtspolitisches. Unser Problem ist die Fortschreibung des strafrechtlichen Deals, wie er durch die Verlängerung der Frist in § 153 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StPO vorgeschlagen wird. Wir wollen eben nicht die Legalisierung des Deals, sondern dessen gesetzliches Verbot für alle nicht geringfügigen Straftaten. Worum geht es genau? Wir sind uns einig, dass häusliche Gewalt keine geringfügige Straftat ist. Warum wollen Sie dann aber die Ausweitung einer bereits bestehenden Dealregelung? Wenn wir uns einig sind, dass in Fällen häuslicher Gewalt zum Opferschutz und zur Prävention Täterprogramme durchzuführen sind mit dem Ziel, Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderungen vorzunehmen, dann ist nicht nachvollziehbar, dass bei Teilnahme an solchen Programmen das Verfahren eingestellt wird. Das heißt doch nichts anderes als: Du darfst prügeln, und wenn du danach ein Täterprogramm besuchst, dann stellen wir das Strafverfahren ein. - Das ist und es bleibt ein Skandal. Solange der Deal im Strafrecht als probates Mittel angesehen wird, können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Dem Gesetzentwurf hätte es ebenso gut zu Gesicht gestanden, wenn er umfassender gewesen wäre und gleichzeitig sicherstellen würde, dass genügend gute Täterprojekte vorhanden sind. Häufig ist es doch so, dass es keine Therapieplätze gibt und die Prävention und der Opferschutz auch daran scheitern. Allein eine Festschreibung in der StPO führt nicht dazu, dass genügend Täterprogramme vorhanden sind, und das erscheint uns zumindest als ein mindestens ebenso großes Problem. Wir fordern ein umfassendes Konzept im Umgang mit häuslicher Gewalt. Sie ist kein Kavaliersdelikt und muss Zu Protokoll gegebene Reden geächtet werden. Die Ausfinanzierung von Frauenhäusern und die Bereitstellung von Täterprogrammen sind notwendige Maßnahmen, die auch unterstreichen würden, dass wir es mit unserem Anliegen ernst meinen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Aufnahme von Programmen zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens in die Weisungskataloge des § 153 a StPO und des § 59 a StGB ist eine längst überfällige Öffnung hin zu einem modernen Strafrecht. Gerade bei gewalttätigem Verhalten können Programme, die sich mit pädagogisch-therapeutischen Ansätzen der Reduktion von Agressionspotenzialen nähern, erfolgreich einen wesentlichen Beitrag zum zukünftigen Opferschutz leisten. Der Intention des Gesetzentwurfs des Bundesrates stimmen wir zu. Natürlich kann dies jedoch nur der Anfang einer Reform des Sanktionenrechts sein, in welcher sich das deutsche Strafrecht zu den Vorteilen der Diversion bekennt und zielführende Konzepte als Ersatz oder Vorstufe für Geld- oder Freiheitsstrafen vorlegt. Begrüßenswert ist ebenfalls, dass die Koalitionsfraktionen sich in ihrem im Ausschuss vorgelegten Änderungsantrag von dem Begriff des Täterprogramms entfernen, dessen Verwendung sich im Zusammenhang mit nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten verbietet. Es ist ihnen aber nicht gelungen, einen Begriff zu wählen, der das Ziel dieses Gesetzentwurfs, nämlich die Prävention von gewalttätigem Verhalten, deutlich macht. Der von der Koalition als Ersatz für „Täterprogramme“ vorgeschlagene Begriff des sozialen Trainingskurses orientiert sich an der im Jugendstrafrecht bereits eingeführten Weisung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG. Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts, der sich im Begriff des sozialen Trainingskurses widerspiegelt, ist jedoch im Erwachsenenstrafrecht fehl am Platze. Im Sanktionenrecht für Erwachsene geht es nicht darum, mithilfe eines sozialen Trainings Erziehungsdefizite von erwachsenen Delinquenten auszugleichen. Vielmehr soll die Weisung explizit auf ein Programm zielen, welches ein gewaltzentriertes und konfrontatives Unterstützungs- und Beratungsangebot zur Veränderung des gewalttätigen Verhaltens von Beschuldigten bietet, um so zukünftige Gewalt zu verhindern. Die Gewähr dieser Inhalte bietet der Begriff des sozialen Trainingskurses jedoch gerade nicht. Deshalb haben wir in unserem im Ausschuss vorgelegten Änderungsantrag vorgeschlagen, den Begriff des Täterprogramms nicht gegen den des sozialen Trainingsprogramms, sondern gegen den Begriff des Programms zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens auszutauschen. Nur so wird die Zielsetzung der Weisung - nämlich gerade die Gewaltprävention insbesondere im häuslichen Bereich - zur Genüge deutlich gemacht. Wir stimmen ausdrücklich der Forderung der Bundesregierung zu, den Gesetzentwurf dahin gehend zu ändern, dass personenbezogene Daten im Rahmen des § 155 b StPO mit Einwilligung des Beschuldigten an die mit der Durchführung solcher Programme zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens befassten Stelle weitergegeben werden können. Die für ein erfolgreiches Programm zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens notwendige Hintergrundinformationen zum Sachverhalt dürfen nur mit Einwilligung des Sanktionierten weitergegeben werden, gerade weil die weiterzugebenden Daten teilweise hochsensibel und persönlich sind. Leider bleibt der Vorschlag der Koalition im Bereich der Fristenregelung des § 153 a StPO hinter dem Erforderlichen zurück. Gerade in Fällen der Weisung der Wiedergutmachung des verursachten Schadens oder der Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung löst die gesetzliche Frist von höchstens sechs Monaten bei vielen Beschuldigten eine erhebliche Überforderung aus. In unserem Änderungsantrag haben wir aus diesem Grund eine Angleichung der Frist zur Erfüllung aller Weisungen an die für die Weisung der Leistung von Unterhaltszahlungen gegebene Frist von zwölf Monaten gefordert. Diesem sinnvollen und notwendigen Signal an die Beschuldigten hat sich die Bundesregierung leider verwehrt. Der Schritt der Bundesregierung hin zur Öffnung des Sanktionenrecht gegenüber der Diversion ist begrüßenswert. Leider ist die Umsetzung hinter dem Notwendigen zurückgeblieben. Unsere Änderungsanträge lehnen Sie ab. Wir werden uns deshalb zum Gesetzentwurf des Bundesrates enthalten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10164, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1466 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto rückwirkend ab 1997 ermöglichen - Drucksache 17/10094 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum System der menschenverachtenden und menschenvernichtenden Politik des Naziregimes gehörte auch die Einrichtung von Ghettos, in dem vor allem jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen zusammengepfercht wurden. Einen dramatischen Einblick in das Warschauer Ghetto gab uns in diesem Jahr im Deutschen Bundestag Marcel Reich-Ranicki mit seiner Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Eine ganze Reihe von Frauen und Männern, die den Naziterror und die Ghettozeit überlebt haben, leben noch heute hochbetagt unter uns. Sie waren damals als Kinder in die Ghettos verbracht worden. Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, ZRBG, verabschiedet. Damit sollten Arbeitsleistungen von Verfolgten in den vom Dritten Reich eingerichteten Ghettos als „Beschäftigung“ gewertet werden, für die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen sind. Damit wurde fraktionsübergreifend entschieden, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, um die in einem Ghetto ausgeübte Tätigkeit rentenrechtlich als Beitragszeit zu berücksichtigen. In der Folge dieses Gesetzes wurden aus aller Welt mehr als 70 000 entsprechende Anträge gestellt, davon etwa 30 000 aus Israel und mehr als 10 000 aus den USA und Kanada. Weitere 1 000 Anträge gingen nicht sofort, sondern erst Jahre später bei den deutschen Rentenversicherungsträgern ein. Wenn ein Antrag bis Mitte 2003 gestellt wurde, sollten die Ansprüche von monatlich meist 100 bis 300 Euro rückwirkend ab Juli 1997 ausgezahlt werden. In der ersten Antragswelle bis 2009 wurden allerdings rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt, weil nach dem Vortrag der Antragsteller die gesetzlichen Voraussetzungen des ZRBG nicht nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden konnten. Das Gesetz sieht nach seinem Wortlaut vor, dass eine Rentenzahlung für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, nur bezahlt wird, wenn die Beschäftigung „aus eigenem Willensentschluss“ zustande gekommen ist und „gegen Entgelt“ ausgeübt wurde und sich das Ghetto in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war. Hintergrund dieser Voraussetzungen war es, eine Abgrenzung zur Zwangsarbeit herzustellen, die gesondert zu entschädigen ist. Rückblickend muss man sagen, dass die in den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes praktizierte restriktive Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der „Freiwilligkeit“ und „Entgeltlichkeit“ viel zu spät korrigiert worden ist. Erst mit den grundlegenden Urteilen vom 2. und 3. Juni 2009 haben die Rentensenate des Bundessozialgerichts neue, einfachere Leitlinien zur Auslegung dieser beiden Kriterien aufgestellt und die Kriterien im Lichte der Verhältnisse in den Ghettos ausgelegt. Vorausgegangen waren Untersuchungen über die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Ghettos. Damit konnten die hohen Ablehnungsquoten für die Zukunft vermieden werden; und es wurde sichergestellt, dass die eigentliche Zielsetzung, nämlich den im Ghetto Beschäftigten eine gesetzliche Rente zuzusprechen, nicht ins Leere läuft. Das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto ist damit zu einer wichtigen Grundlage geworden, die Menschen, die in den Ghettos arbeiten und um ihr Überleben kämpfen mussten, in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Im Sinne der neuen Rechtsprechung hat die Deutsche Rentenversicherung alle im Juni 2009 noch offenen Verfahren bearbeitet. Alle Anträge, die zuvor abgelehnt worden sind, wurden von Amts wegen erneut aufgegriffen und überprüft, ohne dass es eines neuen Antrags oder der Meldung durch den oder die Betroffenen bedurfte. Die zuständigen Träger der Deutschen Rentenversicherung haben sich direkt mit den Betroffenen in Verbindung gesetzt, wobei sich die Bearbeitungsreihenfolge nach den Geburtsjahrgängen der Betroffenen richtete. Insgesamt wurden 56 753 Anträge überprüft, wobei bei knapp 7 200 Fällen festgestellt werden musste, dass der Bezug zum ZRBG fehlt. Von den verbleibenden 49 600 Fällen wurden rund 25 000 mit positivem Bewilligungsbescheid abgeschlossen. 3 000 Anträge wurden abgelehnt. Etwa 22 000 Anträge konnten leider nicht mit einem Bescheid abgeschlossen werden, weil die Betroffenen zum Beispiel verstorben und die Rechtsnachfolger nicht ermittelt werden konnten, rund 7 000 Fälle, weil es aufgrund der Prüfung zu keinem anderen Ergebnis kam und der ursprüngliche Ablehnungsbescheid weiter Geltung behielt, 4 200 Fälle, oder weil die Überprüfung bereits an der Kontaktaufnahme mit den Betroffenen scheiterte, 10 000 Fälle. Von diesen gemäß dem Urteil des Bundessozialgerichts vom Juni 2009 überprüften und bewilligten 25 000 Anträgen waren 3 500 wegen der Rechtsbehelfsbelehrung noch offene Fälle, für die Rente ab Juli 1997 gezahlt werden konnte. Für die restlichen 21 500 Betroffenen wurde die Rückwirkung auf vier Jahre bis 2005 gerechnet. Insgesamt wurde ein Rentenvolumen von über 441 Millionen Euro nachgezahlt, davon 54 Millionen Euro an Zinsen. Die laufenden monatlichen Rentenzahlungen belaufen sich auf rund 5 Millionen Euro. Für die bis Juni 2009 bestandskräftig abgelehnten Anträge wurde der im Sozialrecht für diese Fälle geltende § 44 SGB X herangezogen, der generell eine Rückwirkung auf vier Jahre vorsieht. Diese Begrenzung soll die Rentenversicherung vor beitragssatzrelevanten unvorhergesehenen Ansprüchen schützen und für längere Vergangenheitszeiträume Rechtsfrieden schaffen. Es ist damit eine allgemein gültige Regelung im deutschen Sozialrecht. Nach § 44 Abs. 1 SGB X hat jeder einen Anspruch auf erneute Überprüfung, wenn sich ein früherer Bescheid zu seinen Ungunsten als rechtswidrig erweist. In Abs. 4 der Vorschrift ist ferner geregelt, dass die Verwaltung die Leistung für vier Jahre zurück zu erbringen hat, Zu Protokoll gegebene Reden Peter Weiß ({0}) wenn wegen der falschen Entscheidung Sozialleistungen zu Unrecht nicht gezahlt worden sind. Die Betroffenen fordern allerdings abweichend von dieser allgemein gültigen Regelung eine Rückwirkung bis 1997, wie dies in § 3 Abs. 1 ZRBG für bis zum 30. Juni 2003 gestellte Anträge vorgesehen ist, und haben dazu teilweise den Klageweg beschritten. Die Anwendung der Vierjahresfrist haben der 5. und der 13. Senat des Bundessozialgerichts in der Vergangenheit in mehreren Fällen entschieden, zuletzt in einem Urteil vom Februar 2012, dessen Begründung seit Mai 2012 vorliegt. Bei denen, deren Anträge schon einmal bindend abgelehnt worden waren, wurde die Vierjahresfrist angewendet, die das Sozialrecht gemäß § 44 SGB X vorsieht, der eine materiell-rechtliche Einschränkung für nachträglich zu erbringende Sozialleistungen vorsieht. Im Gegensatz zu § 100 Abs. IV SGB VI, der als Sonderregelung zu § 44 SGB X die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte im Bereich des SGB VI regelt, haben die Rentenversicherungsträger damit bereits die günstigere Regelung angewandt. So wird nach § 44 SGB X eine rückwirkende Leistungserbringung nicht wie bei § 100 Abs. IV SGB VI quasi ausgeschlossen, sondern auf einen maximalen Zeitraum von vier Jahren begrenzt. Hintergrund dieser Regelung ist der Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen an einer möglichst vollständigen Erbringung der ihm zu Unrecht vorenthaltenen Sozialleistungen und dem Interesse der Solidargemeinschaft an einer Eingrenzung der Zeiträume und damit der Kalkulierbarkeit der finanziellen Belastungen. In der jetzt kürzlich erschienenen Urteilsbegründung des 13. Senats wird im Gesamtzusammenhang auch darauf hingewiesen, dass die Berechtigten, die die Rente ab 2005 erhalten, einen höheren Zugangsfaktor zugerechnet erhalten, also höhere Rentenzuschläge bekommen als bei einem Rentenbeginn im Jahr 1997. Diese Rentenzuschläge resultieren aus den Zuschlägen für jeden Monat, den die Rente nach dem 65. Lebensjahr nicht bezogen wurde. Dadurch kann ein um 45 Prozent höherer Rentenbezug ausbezahlt werden, als er sich bei einem Rentenbezug bereits ab 1997 ergeben würde. Im Hinblick auf die Lebenserwartung der Betroffenen steht damit die Frage im Raum, ob es nun sinnvoller ist, weniger monatliche Rente für mehr Jahre zu erhalten oder mehr Rente für weniger Jahre, die aber auch in Zukunft in dieser Höhe monatlich bezahlt wird. Deshalb rate ich uns dazu, keinen Prinzipienstreit zu führen über die Fragen der Rückwirkung. Für die Betroffenen ist doch wesentlich, dass sie aktuell eine angemessene Rentenzahlung erhalten. Dank dem höherem Zugangsfaktor kann auch bei nur vierjähriger Rückwirkung eine insgesamt sogar höhere Rentenleistung begründet werden. Finanziell wird in der Regel also kaum eine Schlechterstellung bewirkt. Hinzu kommt, dass die Berechtigten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto neben einer Ghettorente eine einmalige Anerkennungsleistung von 2 000 Euro vom Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen nach der Anerkennungsrichtlinie vom 1. Oktober 2007 erhalten. Diese Richtlinie ist ursprünglich 2007 als Alternative zur Ghettorente geschaffen worden, nachdem rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt worden waren. Die Anerkennungsleistung wird aber seit der Änderung der Richtlinie im Juli 2011 zusätzlich zu der Ghettorente bezahlt. Anträge auf diese Anerkennungsleistung können unbefristet gestellt werden. Nun wird unter anderem vorgeschlagen, denjenigen, für die die vierjährige Rückwirkung gilt, eine weitere Einmalleistung zu gewähren. Dies birgt die Schwierigkeit, dass dadurch alle Fälle, die von vornherein positiv beschieden worden sind, schlechter gestellt würden, ebenso diejenigen, die ihre Anträge erst später gestellt haben, und es würden somit neue Ungerechtigkeiten hervorgerufen. Hinzu kommt, dass auch die Höhe der Einmalleistung nicht bestimmbar ist. Wählt man eine pauschalierte Einmalzahlung, würde man außer Acht lassen, dass die derzeitigen monatlichen Renten sehr unterschiedlich sind. So gibt es Rentnerinnen und Rentner, die lediglich 25 Euro Ghettorente erhalten, aber auch solche, die über 300 Euro erhalten. Ein einheitlicher Einmalbetrag wäre hier wohl kaum nachvollziehbar. Bei individualisierten Lösungsvorschlägen oder Wahlrechtmöglichkeiten stellt sich das Problem der Einzelberechnung, des bürokratischen Aufwandes im Verhältnis zum Nutzen; denn es ist rechnerisch durchaus denkbar, dass sich für einige Betroffene auch eine schlechtere als die derzeitige Lösung ergeben könnte. Rentenmathematisch führt die derzeitige Rechtslage für einen Großteil der Fallgruppen bereits zu einer in der Gesamtschau ausgeglichenen Lösung, indem der versicherungsmathematische Ausgleich für diejenige Gruppe, die unter § 44 SGB X fällt, durch den erhöhten Zugangsfaktor inklusive zusätzlichen Zinsen für den späteren Rentenbeginn die verlorenen Jahre ab Juli 1997 ausgleicht. Weitere Änderungen würden wahrscheinlich wieder zu neuen Benachteiligungen oder ungewollten Verschiebungen führen. Wir sollten in den Ausschussberatungen diese Gesichtspunkte nochmals gemeinsam genau prüfen und beraten. Und wir sollten dabei beachten, dass es nicht nur um die richtige Rentensystematik oder Prinzipienreiterei geht; es geht darum, Menschen, die durch das Naziregime ins Ghetto gezwungen wurden, ein Stück Gerechtigkeit durch eine Rentenleistung widerfahren zu lassen.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erst vor einigen Monaten, am 26. Januar dieses Jahres, haben wir die Probleme bei der rückwirkenden Auszahlung der Renten nach dem ZRBG - Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto - hier im Haus beraten. Anlass war ein Antrag der Fraktion Die Linke, der für alle fristgerecht gestellten Anträge nach dem ZRBG die Zahlung einer Rente, wie im Gesetz vorgesehen, ab 1997 fordert. Zu Protokoll gegebene Reden Im Januar hatten wir noch gehofft, dass die für den 7. und 8. Februar 2012 angekündigten Urteile des Bundessozialgerichts die gängige Rechtsanwendung nicht bestätigen, wonach zunächst bindend abgelehnte Anträge und die, die nach Urteilen des BSG aus dem Jahr 2009 überprüft wurden, erst ab 2005 und nicht bereits ab 1997 gezahlt werden dürfen. Leider ist es anders gekommen. Ein politisches Eingreifen hat sich damit aber keineswegs erübrigt, sondern ergibt sich gerade auch aus den Urteilsbegründungen. Die beiden Urteile des BSG haben die gängige Rechtsanwendung bestätigt, was der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers aber widerspricht. Daher legen wir heute unseren Antrag „Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto rückwirkend ab 1997 ermöglichen“ vor, der den Betroffenen helfen soll, ihre Ansprüche tatsächlich zum frühestmöglichen Zeitpunkt geltend zu machen. Tun wir nichts, bleibt es bei der paradoxen Situation, dass nur ein kleiner Teil der Berechtigten trotz fristgerechter Antragstellung in den Genuss einer Rente ab 1997 kommt: Rund 21 500 Personen erhalten ihre Rente erst ab dem Jahr 2005 und nur rund 3 500 ab dem Jahr 1997. Die Gewährung der sogenannten Ghettorente ergänzt das bestehende Entschädigungsrecht nach Zwangsarbeit und ist damit Teil deutscher Wiedergutmachung nach dem Terror der Nationalsozialisten. Das im Jahr 2002 verkündete ZRBG regelt die Voraussetzungen. Leistungen werden bei rechtzeitiger Antragstellung ab 1997 gewährt, dem Beginn der „Ghettorechtsprechung“. Wer bis zum 30. Juni 2003 einen Antrag auf Ghettorente gestellt hat, soll, unabhängig vom Zeitpunkt der tatsächlichen Bewilligung, ab 1997 auch Leistungen erhalten. Leider führten die folgenden Anträge auf eine Rente nach dem ZRGB in den allermeisten Fällen zu einer Ablehnung. Insbesondere die in der gesetzlichen Rentenversicherung geltenden Kriterien der „Freiwilligkeit“ sowie der „Entgeltlichkeit“ waren kaum zu erfüllen. Erst im Jahr 2009 lockerte das BSG die Auslegung. Noch zuvor war am 1. Oktober 2007 vor dem Hintergrund der sehr hohen Ablehnungsquote der Anträge nach dem ZRBG eine Richtlinie der Bundesregierung erlassen worden. Seitdem können Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes, die sich zwangsweise in einem Ghetto im nationalsozialistischen Einflussgebiet aufhielten, eine einmalige Leistung in Höhe von 2 000 Euro erhalten, wenn für diese Arbeit keine Leistung im Rahmen der Entschädigung nach Zwangsarbeit gezahlt wurde. Im Nachgang zu den Urteilen des BSG von 2009 hat die Deutsche Rentenversicherung eine Überprüfung der abgelehnten Anträge vorgenommen, die weitgehend abgeschlossen ist. Mehrere Tausende Berechtigte erhalten nun Renten nach dem ZRBG. Darunter befinden sich viele, deren Anträge vor der Änderung der Rechtsprechung bereits einmal bindend abgelehnt worden waren. Genau hier liegt der wunde Punkt: Für diese Antragsteller begannen die Rentenzahlungen nicht rückwirkend zum 1. Juli 1997, wie dies § 3 Abs. 1 ZRBG für bis zum 30. Juni 2003 gestellte Anträge vorsieht. Vielmehr haben die Rentenversicherungsträger die Renten erst ab 1. Januar 2005 gezahlt, wenn aufgrund der neuen Rechtsprechung im Jahr 2009 überprüft wurde. Insofern kam § 44 SGB X zur Anwendung. Nach dessen Abs. 1 hat jeder einen Anspruch auf erneute Überprüfung, wenn sich ein früherer Bescheid zu seinen Ungunsten als rechtswidrig erweist. In Abs. 4 der Vorschrift ist darüber hinaus festgelegt, dass dann Leistungen für vier Jahre rückwirkend zu erbringen sind. Genau diese Praxis bestätigte das BSG im Februar dieses Jahres. Das Urteil des 13. Senats des BSG sieht die Prinzipien der Wiedergutmachung durch die Begrenzung der rückwirkenden Auszahlung auf vier Jahre nach § 44 Abs. 4 SGB X nicht verletzt, soweit die Verfahren bestandskräftig waren, weil es sich um renten- bzw. sozialversicherungsrechtliche Belange handelt. Ein Sonderstatus wird daher für das ZRBG nicht anerkannt. Zum anderen weist der Senat auf die Wirkung des erhöhten Zugangsfaktors hin, der bei einem zeitlichen Aufschub des Rentenbeginns den Zahlbetrag steigert und somit einen Teilausgleich für den späteren Beginn der Rentenauszahlung bietet. Der erhöhte Zugangsfaktor honoriert über einen Zuschlag von monatlich 0,5 Prozent den aufgeschobenen Ruhestand. Honoriert wird der spätere Rentenzugang, weil sich dadurch die Rentenbezugsdauer und damit der Gesamtrentenzahlbetrag verringert. Er wirkt in die Zukunft, was bedeutet: Er wirkt sich nur positiv aus bei einer hohen, fernen Lebenserwartung. Ein Versicherter des Jahrgangs 1920 mit einer durchschnittlichen Rente, für den ein erhöhter Zugangsfaktor ab dem Jahr 2005 zum Tragen kommt, fährt schlechter als bei einem rückwirkenden Rentenbeginn ab 1997 trotz eines entsprechend niedrigeren Zugangsfaktors - und das selbst bis zu einem Lebensalter von 95 Jahren. Der höhere Zugangsfaktor kann die von 1997 bis 2005 entgangenen Rentenzahlungen nicht ausgleichen. Der 13. Senat macht darüber hinaus in seiner Urteilsbegründung deutlich, dass die Gewährung des erhöhten Zugangsfaktors für seine Entscheidung nicht relevant ist. Dies ist wichtig, weil vor allem seitens der CDU/ CSU immer wieder auf dessen ausgleichenden Effekt hingewiesen wurde. Eine Verknüpfung von Zugangsfaktor und eingeschränkter Rückwirkung erscheint uns vor dem Hintergrund des dargestellten Resultats jedoch äußerst unbefriedigend. Schließlich wurde der Rentenbeginn von den Betroffenen nicht freiwillig aufgeschoben, sondern der Aufschub ist Ausdruck der unklaren Rechtslage, die mit der Umsetzung des ZRBG einherging. Es hat sieben Jahre gedauert, bis das BSG mit seiner Rechtsprechung zur Ghettorente Klarheit bei der Anwendung des ZRBG für die Rentenversicherungsträger schaffen konnte. Darüber hinaus hatten die Betroffenen kaum Einfluss darauf, zu welchem Zeitpunkt die Ablehnung ihrer Anträge bindend wurde. Dies wiederum hing vor allem vom Arbeitsaufkommen bei den zuständigen Gerichten ab und davon, in welcher Reihenfolge die Verfahren abgearbeitet wurden. Damit blieb es also eher dem Zufall überlassen, welche Verfahren noch offen und Zu Protokoll gegebene Reden welche schon bindend entschieden waren - keine gute Grundlage für die Gleichbehandlung der Antragsteller. Der ebenfalls entscheidende 5. Senat des BSG weist zudem darauf hin, dass eine weitere Rechtsfortbildung, wie beispielsweise bei der Nichtanwendung des § 306 Abs. 1 SGB VI für Bestandsrentner geschehen, zur Verwirklichung der Ziele des ZRBG hier an ihre Grenzen stößt. Daher sei auch die Anwendung der Rechtsvorschriften im Sinne des § 44 Abs. 4 SGB X unumgänglich. Alles Weitere müsse nun der Gesetzgeber selbst in die Hand nehmen. Hierzu führt der 5. Senat aus: „Die nachträgliche Anordnung der Nichtanwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X im hier maßgeblichen Zusammenhang ist daher allein Sache des Gesetzgebers; die Rechtsprechung ist hierzu nicht befugt, auch wenn der Senat dieses Ergebnis für wünschenswert hielte.“ Genau dieses wünschenswerte Ergebnis sollte unser Ziel sein, um dem letzten Kapitel der Wiedergutmachung zu einem würdigen Abschluss zu verhelfen. Mit der Überprüfung der zunächst abgelehnten Anträge durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung seit 2009 hat sich herausgestellt, dass mittlerweile circa 7 000 Antragssteller verstorben sind und zu vielen Tausend - trotz erheblicher Bemühungen - kein Kontakt mehr hergestellt werden konnte. Diese Zahlen unterstreichen die besondere Dringlichkeit für eine abschließende und zufriedenstellende Lösung. Daher fordern wir mit dem gemeinsamen Antrag von Grünen und SPD die Bundesregierung zum Handeln auf. Trotz einiger Bedenken und Schwierigkeiten - das Wohl der Berechtigten muss der Maßstab unserer Politik sein. Dabei schlagen wir zwei Lösungswege vor: Erstens. Für ehemalige Ghettoinsassen wird bei fristgerecht gestellten, aber zunächst bestandskräftig abgelehnten und erst nach 2009 bewilligten Rentenanträgen aus dem ZRBG eine rückwirkende Auszahlung der Rente ab dem 1. Juli 1997 ermöglicht. Zweitens. Alternativ ist - bei Verzicht auf die Verlängerung der Rückwirkung eine Änderung der „Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war ({0})“ vom 20. Dezember 2011 vorzunehmen, sodass der Betrag, der sich aus der Summe der monatlichen Rentenzahlungen bei einem Rentenbeginn ab dem Jahr 1997 ergeben hätte, als Kapitalzahlung zu gewähren ist. Unser Antrag unterscheidet sich in seiner Zielrichtung nicht von dem der Linken, wir eröffnen aber eine Alternative zu der rentenrechtlichen Lösung. Bei der rentenrechtlichen Regelung ist klar, dass diese einen hohen Verwaltungs- und Vermittlungsaufwand mit sich bringt, weil auch eine Rentenneuberechnung notwendig wäre. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass zudem der Zugangsfaktor durch den früheren Rentenzugang geringer ausfiele: Die Menschen erhielten zwar für einen längeren Zeitraum rückwirkend Rentennachzahlungen, die zukünftigen Rentenleistungen fielen allerdings geringer aus. Ob diese dem Prinzip der Rentenversicherung entsprechende Regelung wirklich dem Rechtsfrieden dient, lasse ich einmal dahingestellt. Der andere Weg über die „Anerkennungsrichtlinie“ ist daher nicht nur der schnellere, sondern in meinen Augen auch der bessere: Es wäre lediglich ein Kabinettsbeschluss notwendig, und eine Kapitalzahlung könnte den entstandenen finanziellen Schaden bei den Betroffenen beheben. Wir haben in den vergangenen Wochen Gespräche mit allen im Bundestag vertretenen Fraktionen geführt. Alle waren sich einig darüber, dass durch die Einschränkung der Nachzahlung eine schwer zu begründende Ungleichbehandlung entstanden ist, die nur schwer mit den Zielen der Wiedergutmachungspolitik zu versöhnen ist. Unser gemeinsames Ziel war zunächst, Lösungsmöglichkeiten zu sondieren. Oberste Priorität sollten dabei Regelungen haben, die eine schnelle und möglichst unbürokratische Lösung herbeiführen könnten. Die Koalitionsfraktionen bezogen aber zu den diskutierten Lösungsvorschlägen keine eindeutige Stellung. Der vorliegende Antrag steht allerdings unseres Erachtens der Fortführung unseres Dialogs nicht entgegen. Dabei wünschen wir uns aber Impulse in Richtung einer Lösung des Problems. Bisher hat vor allem die CDU/CSU den Bedenken große Aufmerksamkeit geschenkt, ohne erkennen zu lassen, ob sie das Problem tatsächlich aus der Welt räumen will. Das ZRBG gehört zwar zum Rentenrecht, stellt unseres Erachtens aber eine Sonderregelung dar; dies liegt in der besonderen historischen Konstellation und den extremen Bedingungen begründet, unter denen die Verfolgten in den Ghettos der Nationalsozialisten zu leiden hatten. Daher ist unser Ziel, der ursprünglichen Intention des ZRBG, eine Lücke im Recht der Wiedergutmachung für alle Ghettoüberlebenden zu schließen, zum Durchbruch zu verhelfen; denn wie sich der Sachverhalt jetzt darstellt, werden verursacht durch den langen Klärungsprozess nicht alle Betroffenen tatsächlich gleich behandelt.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Deutsche Bundestag war, ist und bleibt sich seiner Verantwortung für die Bewältigung aller Folgen des nationalsozialistischen Regimes bewusst. Die Art und Weise, wie wir in den letzten Jahren etwa Fragen der Wiedergutmachung debattiert haben, belegt meines Erachtens auch sehr deutlich, dass sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag der besonderen Sensibilität dieser Themen bewusst sind. In einer Stellungnahme vor wenigen Monaten habe ich deshalb meine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass der Bundestag bei der Frage der Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto „wie in der Vergangenheit auf einer sehr breiten - ich hoffe einstimmigen - Basis agieren wird.“ Es ist bedauerlich, dass die bisher geführten Gespräche der Berichterstatter untereinander und mit den Fachleuten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nicht zu dieser Einstimmigkeit führen. Das ist insbesondere deswegen bedauerlich, weil wir im Grunde uns alle einig sind. Niemand hier in diesem Hause ist bereit, eine Benachteiligung früherer Ghettoinsassen hinzunehmen. Zu Protokoll gegebene Reden Unsere unterschiedlichen Vorschläge beruhen auf unterschiedlichen Schlüssen im Hinblick auf die Rechtssystematik unseres Rentensystems. Erlittenem Unrecht mit den Möglichkeiten unseres deutschen Rentenrechts zu begegnen, ist schwierig, Einzelfallgerechtigkeit auf diesem Wege zu erreichen, gänzlich unmöglich. Das war übrigens der Grund, weswegen ich mich auch schon beizeiten für meine Fraktion eher skeptisch gegenüber der rentenrechtlichen Lösung geäußert hatte. Dennoch haben wir gemeinsam im Jahr 2002 - einstimmig - diesen Weg beschritten. Da die praktische Umsetzung durch die Rentenversicherungsträger und Sozialgerichte nicht im Sinne unserer damaligen Vorstellungen erfolgte, hieß es nachzujustieren. Dies ist in mehrfacher Hinsicht erfolgt: erstens in Form der seit 2007 geltenden „Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war“. Sie gewährt Anerkennungsleistungen, die Rentenzahlungen je nach Fallgestaltung ersetzen oder auch ergänzen. Zweitens in Form grundlegender Urteile des Bundessozialgerichts, die 2009 eine bis dahin äußerst restriktive Auslegung der rentenrechtlichen Voraussetzungen ersetzt haben. In der Folge wurden alle bis dahin abgelehnten Rentenanträge von Amts wegen erneut überprüft. Da ein großer Teil der zuvor abgelehnten Anträge danach positiv beschieden wurde, stellte und stellt sich die Frage einer verlängerten Rückwirkung, also die Frage, ob in diesen Fällen eine rückwirkende Auszahlung der Rente ab dem 1. Juli 1997 möglich sein soll. Wir haben diese Frage in den letzten Wochen sehr intensiv diskutiert und anhand von verschiedenen Annahmen auch ganz konkret in den finanziellen Auswirkungen betrachtet. Dabei war insbesondere auch zu berücksichtigen, dass für erst später gewährte Rentenzahlungen Zuschläge von 6 Prozent pro Jahr zu berücksichtigen sind - und zwar für die Nichtbezugszeit seit 1997. Dadurch können deutlich höhere Rentenzahlbeträge festgestellt werden. Je nach Geburtsjahr und Geschlecht oder mit Blick auf eventuelle Hinterbliebenenrenten gibt es einen Streubereich der zu erwartenden rentenrechtlichen Gesamtleistung. Ob die verlängerte Rückwirkung oder der spätere Zahlungsbeginn mit Zuschlägen im Einzelfall zu besseren Ergebnissen führt, hängt sehr stark von den individuellen Verhältnissen ab. Eine Verlängerung der Rückwirkung erscheint danach jedenfalls nicht zwingend. Mit Blick auf die bei einer Verlängerung der Rückwirkung erforderlichen Rentenneuberechnungen und Rentenzahlungsverrechnungen ist vielmehr davon auszugehen, dass hier neue Ungerechtigkeiten geschaffen würden. Jedenfalls wäre dieser Weg den Betroffenen schwer zu vermitteln. Das ist auch der Grund, weswegen SPD und Grüne in ihrem Antrag gleich die Alternative mit einer Ausweitung der Anerkennungsleistungen benennen. Eine „Richtlinie über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit im Ghetto, die keine Zwangsarbeit war“, gibt es - wie erwähnt - ja bereits. Und diese Richtlinie ist erst im Dezember 2011 genau in diesem Sinne geändert worden. Seitdem gibt es die Möglichkeit der rückwirkenden Anerkennungsleistung auch zusätzlich zur Rente. Diese Leistung in der Form nun so auszuweiten, wie es die Antragsteller vorschlagen, führte ebenfalls zu komplizierten Verrechnungen zwischen laufenden Rentenzahlungen und einmaligen Kapitalauszahlungen, deren Ergebnis sicher keineswegs im Interesse jedes Empfängers liegen würde. Schon deshalb rate ich davon ab. Im Bewusstsein dieser sehr komplizierten Materie sage ich zu, nach wie vor an der Suche nach einem breiten Konsens bei der sorgfältigen Abwägung mitzuwirken. Den Antrag in der vorliegenden Form vermag ich indes nicht zu unterstützen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vor einem halben Jahr hat die Linke einen Antrag eingebracht, der fordert, dass die Renten für NS-Opfer, die im Ghetto geschuftet haben, rückwirkend ab 1997 ausbezahlt werden sollen. So hatte es der Bundestag vor fast zehn Jahren beschlossen, so wurde es aber nicht umgesetzt. Verantwortlich dafür waren zu enge Auslegungen in der Gesetzesanwendung. Sie kennen die Stichwörter: Die Arbeit im Ghetto erbrachte nur dann Rentenansprüche, wenn sie freiwillig erfolgte und es ein Entgelt gab. Das haben die Rentenversicherungsträger nach unseren heutigen Maßstäben geprüft, anstatt nach den konkreten Bedingungen im Ghetto. Folge war die massenhafte Ablehnung von Rentenanträgen, bis der Bundesgerichtshof endlich ein verbindliches Urteil fällte, um das geradezurücken. Das war 2009, und weil es im Sozialrecht eine maximale Rückwirkungszeit von vier Jahren gibt, erhalten die allermeisten NS-Opfer ihre Rente erst mit Wirkung ab 2005 - und nicht schon ab 1997, wie es der Bundestag einmal einstimmig beschlossen hatte. Anders ausgedrückt: Weil es auf unserer Seite - bei den Rententrägern, den Gerichten und auch im Parlament - Fehler gegeben hat, müssen die NS-Opfer auf einen Teil der zugesagten Gelder verzichten. Tausende sind schon gestorben, ohne je einen Cent Rente erhalten zu haben. Um gutzumachen, was noch gutzumachen geht, hat die Linke, wie erwähnt, vor einem halben Jahr einen Antrag eingebracht. Jetzt ziehen Grüne und SPD mit einem eigenen Antrag nach, der inhaltlich nichts anderes fordert. Einerseits freut es mich, dass sie unsere Stoßrichtung teilen, andererseits frage ich mich, warum sie ihr eigenes Süppchen kochen müssen. Aber immerhin: Wichtig für die Linke ist, dass die noch lebenden ehemaligen Ghettoinsassen schnellstmöglich kriegen, was wir ihnen zugesagt hatten - wohlgemerkt, was wir alle ihnen zugesagt hatten. Das gilt auch für CDU, CSU und FDP, die damals ebenfalls für das Ghettorentengesetz gestimmt haben und jetzt so tun, als gehe sie das nichts mehr an. Seit Monaten verzögern die Regierungsfraktionen im Ausschuss die Beratung unseres Antrags, laden erst zu Berichterstattergesprächen ein und dann wieder aus, um am Ende zu erklären, sie würden die Hände in den Schoß legen und sähen keinen Handlungsbedarf. Zu Protokoll gegebene Reden Das ist wirklich beschämend und zeigt, wie diese Parteien mit NS-Opfern umgehen, wenn es keine starke Lobby gibt, die sich für sie starkmacht. In den letzten Wochen wurde viel mit Zahlen jongliert. Um das einmal auf den Punkt zu bringen: Wir sprechen hier von etwas über 20 000 NS-Opfern, denen bisher siebeneinhalb Jahre Rentenzahlungen vorenthalten worden sind. Die Union hat, hinter den Kulissen, argumentiert, es brauche keine Nachzahlung, weil ja durch den späteren Rentenbeginn der Zugangsfaktor erhöht worden sei, die monatlichen Zahlungen also höher ausfallen. Das stimmt, ist aber kein Argument gegen unseren Antrag. Das können Sie leicht nachrechnen. Selbst die Deutsche Rentenversicherung geht davon aus, dass die Betroffenen, wenn unser Antrag verabschiedet würde, eine Nachzahlung von im Durchschnitt 7 000 Euro erhalten würden. Selbst wenn, was wir nicht wollen, auf eine Günstigerklausel verzichtet würde: Für die hochbetagten Leute sind diese 7 000 Euro unter Umständen entscheidend, um sich einen Rollstuhl zu kaufen, ihre Wohnung behindertengerecht umzubauen, eine Kur oder auch eine letzte Reise in ihre alte Heimat zu finanzieren. Es ist schlicht und einfach unrecht, ihnen dieses Geld vorzuenthalten. Ich habe schon gesagt: Für die Linke ist wichtig, dass die NS-Opfer schnellstmöglich zu ihrem Recht kommen. Ob das mithilfe unseres Antrags oder des SPD-GrünenAntrags, ob mit Variante A oder B passiert, ist für uns zweitrangig. Den Kollegen von den anderen Oppositionsfraktionen muss man aber schon vorwerfen, dass sie ihren Antrag erst jetzt, unmittelbar vor der Sommerpause einreichen. Das verzögert den ganzen Entscheidungsprozess mindestens bis zum Herbst, womöglich bis zum Winter. Bis dahin werden wieder einige Hundert der betroffenen NS-Opfer versterben. Ich appelliere deswegen an alle hier im Haus: Provozieren Sie keine weiteren Verzögerungen!

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom Deutschen Bundestag beschlossen, und so sollte der 20. Juni 2002 eigentlich ein guter Tag für ehemalige Ghettoarbeiterinnen und -arbeiter sein. An diesem Tag, also vor fast genau zehn Jahren, hat das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto seine Gültigkeit erlangt. Rot-Grün wollte mit dem ZRBG eine Lücke in der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts schließen. Eine Lücke, die das Bundessozialgericht im Jahr 1997 aufzeigte, als es die in einem Ghetto ausgeübten Beschäftigungen als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannte. Es gewährt denjenigen Wiedergutmachung in Form von Rentenzahlungen, die sich zwangsweise in einem Ghetto aufhielten und deren Beschäftigung „aus freiem Willensentschluss zustande gekommen ist“ und „gegen Entgelt ausgeübt wurde“. Leider war die Umsetzung des Gesetzes in den letzten zehn Jahren nicht so, wie wir alle uns das vorgestellt haben. So hatten über 20 000 Betroffene zunächst gar keinen Anspruch, ihn dann zwar erhalten, aber nur rückwirkend ab 2005 und nicht, wie von der Politik versprochen, ab 1997. Als wir im Januar die letzte Plenumsdebatte zu diesem Thema hatten, standen die Urteile des BSG kurz bevor. Nun müssen wir konstatieren, dass das BSG in seinen Urteilen vom 7./8. Februar 2012 die Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X und damit auch die Praxis der Deutschen Rentenversicherung bestätigt hat. Das bedeutet, dass bei diesen Anträgen, die zwar rechtswidrig, aber trotzdem rechtswirksam abgewiesen wurden, Renten nur rückwirkend bis zum Jahr 2005 gezahlt werden müssen. Das führt einmal mehr dazu, dass dieses Gesetz nicht so wirkt, wie alle Beteiligten damals und wir alle heute hier es uns gewünscht haben. Das müssen wir als Gesetzgeber korrigieren, denn die Betroffenen erwarten zu Recht, dass wir unser politisches Versprechen halten. Das Heft des Handelns liegt bei uns! Mit unserem Antrag schlagen wir zwei Lösungswege vor. Der erste ist innerhalb des Rentenrechts. Diese wäre die wünschenswerteste und auf den ersten Blick naheliegendste Option, ist allerdings nicht ganz einfach umzusetzen. Das „Problem“ ist, dass mit dem späteren Beginn des Bezugs der Rente auch eine höhere Rente einhergeht, weil der sogenannte Zuschlagsfaktor berücksichtigt wird, der eigentlich dazu eingeführt wurde, ein späteres Renteneintrittsalter zu belohnen. Dieser erhöht die Rente um 6 Prozentpunkte pro Jahr späteren Rentenbezugs. Für die Ghettorenten bedeutet das, dass bei einem Rentenbezug ab 31. Dezember 2004 statt ab 1. Juli 1997 die Rente also um 45 Prozent höher ist oder umgekehrt: Würden wir die Renten rückwirkend bereits ab 1. Juli 1997 zahlen, müsste die monatliche Rente um 45 Prozent verringert werden. Das wäre den Betroffenen nur schwer zu erklären. Obwohl auch hier Lösungen denkbar wären, die um eine Verringerung der Rente herumkommen, ist das möglicherweise aber nicht der beste Weg. Deswegen schlagen wir zweitens als Alternative zu einer rentenrechtlichen Lösung eine Lösung durch eine einmalige Kapitalzahlung vor, durch die die Benachteiligung ausgeglichen wird. Zu beachten ist dabei, dass die Benachteiligung umso größer ist, je älter die Betroffenen sind. Für Personen, die 1997 gerade 65 Jahre waren, bewirkt der Zuschlagsfaktor, dass bei einem Beginn des Rentenbezugs ab 2005 die höhere Rente die kürzere Bezugsdauer bei durchschnittlicher Lebenserwartung ausgleicht. Das wäre bei Personen der Fall, die 1932 geboren, also als Kinder im Ghetto gearbeitet haben. Bei Älteren ist aber die Restlebenserwartung deutlich kürzer, sodass die höhere Rente den späteren Rentenbezug nicht ausgleicht. Der Weg über eine Einmalzahlung scheint mir persönlich die unbürokratischste und zielführendste Möglichkeit zu sein, den berechtigten Ansprüchen der Betroffenen gerecht zu werden. Sie könnte an die bereits bestehende Möglichkeit der finanziellen Anerkennungsleistung für die Beschäftigung in einem Ghetto anknüpfen, die über das ZRBG in Verbindung mit den entsprechenden rentenrechtlichen Vorschriften hinausgeht, die es mit den Anerkennungsrichtlinien vom 1. Oktober 2007 und 20. Dezember 2011 ja bereits gibt. Zu Protokoll gegebene Reden Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom Deutschen Bundestag beschlossen. In seiner praktischen Anwendung hat das Gesetz lange nicht zu den vom Gesetzgeber gewünschten Ergebnissen geführt. Das haben alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen erkannt. Und auch der Wille, hier zu einer befriedenden Lösung im Sinne der Betroffenen zu kommen, ist bei all diesen Fraktionen erkennbar. Nur: Eine Lösung gibt es immer noch nicht! Es darf nicht sein, dass wir das Versprechen, das wir den Ghettoarbeiterinnen und -arbeitern gegeben haben, nicht erfüllen! Deswegen appelliere ich noch einmal eindringlich an die Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen: Denken Sie noch einmal nach und verweigern Sie sich einer Lösung nicht! Das Beste wäre, wenn wir gemeinsam mit allen Fraktionen eine Lösung als Gesetzgeber beschließen würden. Ich würde mir wünschen, dass 2012 das Jahr wird, in dem der Deutsche Bundestag einstimmig die notwendigen rechtlichen und politischen Schritte beschließt, um die berechtigten Ansprüche der Betroffenen nun endlich zu befriedigen. Wir haben dafür zwei Lösungswege aufgezeigt, sind aber für weitere Lösungen und Gespräche offen. Wir fordern Sie auf: Denken Sie noch einmal nach! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10094 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Also ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Philipp Mißfelder, Peter Beyer, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Dr. Rainer Stinner, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 25 Jahre Reagan-Rede vor dem Brandenburger Tor - „Mr. Gorbatchev, tear down this wall!“ - Deutschland sagt „Danke!“ für die Unterstützung der USA bei der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung - Drucksache 17/9952 Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am 12. Juni 1987 sagte Ronald Reagan, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, vor 25 000 Zuschauern diese legendären Worte. Er forderte den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow auf, das Tor zu öffnen und die Mauer niederzureißen. Dafür erntete der US-Präsident viel Kritik. Viele in Ost und West sehen ihn bis heute als einen „Kalten Krieger“. Es ist heute an der Zeit, diese Rede und die Verdienste, die sich Ronald Reagan und das amerikanische Volk für die Überwindung der deutschen Teilung und für das Ende des Kalten Krieges erworben haben, zu ehren. Beim Amtsantritt Reagans war die Sowjetunion dabei, mit der Einführung von Mittelstreckenraketen vom neuen Typ SS-20 die Kräftebalance zwischen dem freien Westen und dem Block kommunistischer Diktaturen zu ihren Gunsten zu verschieben. Es war Kanzler Helmut Schmidt, der auf die sich abzeichnende bedrohliche Entwicklung aufmerksam machte und den sogenannten Nachrüstungsbeschluss der NATO herbeiführte: Auf dem Boden der Bundesrepublik sollten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper des Typus Pershing und Cruise Missile stationiert werden, um das zur Abschreckung notwendige Gleichgewicht wiederherzustellen. Daraufhin entstand eine Friedensbewegung, die mit Friedensmärschen, Sitzblockaden, Menschenketten, Kongressen und Symposien gegen diese Nachrüstung mobil machte. Während einer der großen Demonstrationen im Bonner Hofgarten am 22. Oktober 1983, so berichtete Bundeskanzler Helmut Kohl später, sei er über den vielen Tausenden von Demonstranten im Hubschrauber gekreist. Dabei habe er sich die Frage gestellt: Machst du auch wirklich alles richtig? Ist die Nachrüstung wirklich erforderlich? Die Geschichte hat ihm und allen, die damals am Doppelbeschluss festhielten, recht gegeben. Bei den Bundestagswahlen 1983 erreichte die CDU/CSU mit Helmut Kohl an der Spitze unerwartete 48,8 Prozent der Zweitstimmen. Die Wähler hatten die Politik des Kanzlers bestätigt und legitimiert. Konsequent begann Helmut Kohl nach diesem Wahlsieg in enger Abstimmung mit Ronald Reagan die Umsetzung des NATODoppelbeschlusses. Ein letzter Versuch des wirtschaftlich wankenden kommunistischen Blocks, die USA von Europa zu trennen und die Hegemonie über den europäischen Kontinent zu gewinnen, war gescheitert. Spätestens ab Mitte der 80er-Jahre gab es für die Kreml-Führung keine Alternative mehr dazu, das eigene System umfassend zu reformieren. Die SED-Führung reagierte auf ihre Weise auf Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion. Berühmt geworden ist der Ausspruch des SED-Chefideologen Kurt Hager im Interview mit dem „Stern“ am 20. März 1987: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Neben der ideologischen Verkrustung des DDR-Politbüros traten seit 1986 in der bundesdeutschen Politik aber immer mehr Stimmen auf, welche die DDR völkerrechtlich anerkennen, das Einheitsgebot aus dem Grundgesetz streichen und einen Friedensvertrag abschließen wollten. Kernstück dieser Bestrebung war das gehört zur historischen Wahrheit - das sogenannte Ideologiepapier zwischen SED und SPD, das gemeinsam von der SPD-Grundwertekommission und der Delegation der Akademie für Gesellschaftspolitik des ZK der SED erarbeitet wurde und den Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ trug. Der zentrale Satz dieses Papiers vom 3. August 1987 lautet: „Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, daß ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, daß beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.“ Angesichts dieser Tendenzen sagte der damalige amerikanische Botschafter in Deutschland, John Kornblum, vor wenigen Wochen bei einer Veranstaltung in Berlin: „Da schrillten bei uns natürlich die Alarmglocken.“ Berichte über die Annäherungen beider deutscher Staaten, die in der Konsequenz die Herauslösung der Bundesrepublik aus der NATO bedeuten könnten, riefen in Washington Unruhe hervor. Es verfestigte sich die Überzeugung, dass die USA ihre Gestaltungshoheit im Verbund mit den anderen drei Siegermächten des Zweiten Weltkrieges unverändert wahrnehmen müssten. Deshalb musste ein symbolträchtiger Ort für eine klare Aussage gefunden werden. Am 12. Juni 1987 war es so weit. US-Präsident Ronald Reagan sprach vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor und forderte KPdSU-Chef Gorbatschow demonstrativ auf, die Berliner Mauer zu öffnen. Es war dies ein unglaublicher Vorgang, weil der Status quo, in dem sich viele Deutsche eingerichtet hatten, vom mächtigsten Mann der Welt plötzlich infrage gestellt wurde. Was viele als Utopie abtaten, wurde nur zwei Jahre später Wirklichkeit. Die Mauer, die das kommunistische SED-Regime durch Berlin gezogen hatte, fiel. Die Chancen, die dank der mutigen Menschen in der DDR und dank der Politik von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gemeinsam mit Michail Gorbatschow und anderen entstanden waren, führten so zur neuen Einheit Deutschlands und Europas. Einen wichtigen Baustein hierzu hatte Reagan mit seiner Rede gelegt. Deshalb ist hier auch der geeignete Anlass, dem amerikanischen Volk und vielen Amerikanern, ob in Zivil oder als Militär, dafür zu danken, dass sie in Deutschland gearbeitet haben, dass sie hier stationiert waren, dass sie für unsere Freiheit mit eingestanden haben und zu Botschaftern Deutschlands in den USA wurden. Auch nach dem Abzug amerikanischer Soldaten aus vielen Städten und Regionen, der dieses Jahr beginnt, werden wir voller Dankbarkeit ihr Andenken bewahren. Wie sehr sich Amerika und seine Präsidenten in das kollektive deutsche Bewusstsein eingeprägt haben, zeigt ein weiteres Ereignis, das wir kommendes Jahr begehen werden. Am 26. Juni 2013 jährt sich zum 50. Mal die berühmte Rede John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“ vor dem Schöneberger Rathaus. Die Geschichte hat gezeigt: Unsere amerikanischen Freunde haben über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass die Einheit Deutschlands in Freiheit gelingen konnte. Dafür sind wir dankbar. Dieser Beistand ist uns auch für die Zukunft Verpflichtung. Die transatlantischen Beziehungen sind ein entscheidender Pfeiler der deutschen Außenpolitik. Neben dem kulturellen und gesellschaftlichen Wertekonsens und der gemeinsamen Sicherheitspolitik sind es die wirtschaftlichen Verflechtungen der europäischen und amerikanischen Wirtschaftsräume - vor allem durch Handel und wechselseitige Direktinvestitionen von Unternehmen -,welche die Partnerschaft Deutschlands und Europas mit den Vereinigten Staaten von Amerika prägen. Wir wollen die transatlantische Werte- und Wirtschaftspartnerschaft konsequent weiterentwickeln. Dafür steht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesem Monat gedenken wir zweier historischer Ereignisse, die für das Ende der SED-Herrschaft und den Fall der Mauer von entscheidender Bedeutung sind: Am 17. Juni 1953 fand der Volksaufstand in Ostberlin und der DDR statt. An diesem Tag manifestierte sich zum ersten Mal der Freiheitswille der Menschen in Ostdeutschland, die das SED-Regime ablehnten. Auch wenn es danach noch Jahrzehnte dauern sollte, bis sich dieser Freiheitswille gegen die Unterdrückung Bahn brechen konnte, begehen wir den 17. Juni heute völlig zu Recht als nationalen Gedenktag. Am 12. Juni 1987 hielt Ronald Reagan seine historische Rede vor dem Brandenburger Tor, in der er Michail Gorbatschow aufforderte, das Brandenburger Tor zu öffnen und die Mauer niederzureißen. Dass dies nur zwei Jahre später Wirklichkeit wurde, ist mehr als ein bloßer Zufall. Es unterstreicht vielmehr den immensen Beitrag, den sowohl diese Rede als auch das gesamte politische Wirken Ronald Reagans für die Überwindung der Teilung Deutschlands geleistet haben. Reagan war der festen Überzeugung, dass die westliche Staatengemeinschaft aufgrund der ihren politischen Systemen zugrunde liegenden Werte - Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft - dem Sowjetblock auf Dauer überlegen sein würde. Nichts verdeutlicht seine visionäre Kraft besser als ein Satz gegen Ende seiner Rede: „Die Mauer wird der Freiheit nicht standhalten können.“ Mit diesen Worten nahm Reagan die historischen Ereignisse im Herbst 1989 vorweg. Er hat früher als andere erkannt, dass in Europa die Zeit für die Idee der Freiheit angebrochen war. An seiner Botschaft hielt Reagan gegen alle Widerstände, die zur damaligen Zeit beträchtlich waren, fest. Die von vielen als zu konfrontativ empfundene Politik Reagans stieß teilweise auf heftige Ablehnung. Erinnert sei nur daran, dass die damalige Rede - die wir heute als Meilenstein würdigen - von heftigen Demonstrationen begleitet war. Die damaligen Reagan-Gegner forderten insbesondere, der Sowjetunion stärker entgegenzukommen, um damit die deutsche Wiedervereinigung auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Dies zeigt: Das Eintreten für die deutsche Einheit war vor 1989 eben keine Selbstverständlichkeit. Noch etwas wird bei heutiger Betrachtung der Reagan-Rede deutlich: Der Niedergang des Kommunismus und die Wiedervereinigung Deutschlands waren Zu Protokoll gegebene Reden keineswegs Selbstläufer. Sie waren vielmehr das Ergebnis kluger, vorausschauender und mutiger Politik großer Staatsmänner, die das übergeordnete Ziel - die Überwindung der Teilung Europas - nie aus den Augen verloren haben. Um die Wiederherstellung der nationalen Einheit wurde im damaligen Westdeutschland heftig gerungen. Hier wird der Gegensatz zwischen den politischen Kräften, die im Vertrauen auf eigene Stärken die Abgrenzung zur Sowjetunion nicht gescheut haben, und jenen, die auf Wandel durch Annäherung gesetzt haben, besonders deutlich. Zur historischen Wahrheit gehört, dass die Deutschlandpolitik der SPD über weite Strecken darin bestand, vom Ziel der Wiedervereinigung schrittweise abzurücken und den Status quo hinzunehmen. CDU und CSU hingegen gehörten stets zu den entschiedensten Verfechtern der deutschen Einheit. Ohne Staatsmänner wie Ronald Reagan, George Bush und Helmut Kohl sowie Michail Gorbatschow hätte sich die Wiedervereinigung nicht in diesem zeitlichen Rahmen und nicht auf diese Weise vollzogen, wie es der Fall war. Sie haben den Boden für die Freiheit und Einheit ganz Deutschlands mit bereitet. Die deutsche Wiedervereinigung wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung vonseiten der USA und ohne die Einbettung in die Europäische Union. Daran wird deutlich, welch fundamentale Bedeutung das transatlantische Bündnis und die europäische Integration für Deutschland haben. Diese beiden tragenden Säulen der deutschen Außenpolitik müssen weiter gestärkt werden. Eine enge transatlantische Zusammenarbeit ist - auch unter veränderten internationalen Vorzeichen - heute so notwendig wie zur Amtszeit Ronald Reagans: Mit Blick auf den Aufstieg neuer Machtzentren in Asien, Lateinamerika und Afrika ist die transatlantische Partnerschaft die beste Gewähr dafür, westliche Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch künftig zu wahren. Das politische Erbe Ronald Reagans sollte für uns Auftrag sein, das Streben nach Freiheit in anderen Teilen der Welt nachdrücklich zu unterstützen. Dies gilt derzeit vor allem für die arabische Welt, deren Gesellschaften heute um politische Selbstbestimmung kämpfen. Gerade weil es lange Zeit dauern kann, bis das Streben eines Volkes nach Freiheit gegenüber staatlicher Unterdrückung voll zum Tragen kommt, kann politische Führung der Geschichte eine entscheidende Wendung geben. Diese Impulse können durchaus auch von außen kommen, wie wir an der Rede Reagans sehen. Umso wichtiger ist es, dass wir den arabischen Gesellschaften bei ihrem Freiheitsstreben nach Kräften helfen. Es geht um Rechtsstaatlichkeit und demokratische Strukturen, um den Aufbau von Zivilgesellschaften und um die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn wir den vor 25 Jahren vor dem Brandenburger Tor formulierten Appell als Auftrag für unsere heutige Politik verstehen, dann führen wir das Erbe Ronald Reagans fort, für den die Idee der Freiheit die zentrale Bezugsgröße in seinem politischen Wirken war.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben es heute mit einem Antrag der Regierungskoalition zu tun, der Passagen enthält, denen man nicht widersprechen kann. Zwar wird man etwas misstrauisch bei der Wortwahl im Titel der Antrags, wo es heißt: „Deutschland sagt ‚Danke!‘ für die Unterstützung der USA bei der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung“, weil das so klingt, als ginge gleich der Vorhang auf zu einer Fernsehshow mit Benefizcharakter. Aber prinzipiell möchte man sich einem Ausdruck von Dankbarkeit nicht verweigern: gegenüber der Schutzmacht Amerika, die tatsächlich viel zum Schutz Berlins und auf dem Weg zur deutschen Vereinigung beigetragen hat. Allerdings kann die SPD-Fraktion wohl dem Dank, aber nicht dem Antrag zustimmen. Und das hat folgende Gründe: Der Koalitionsantrag zerfällt in zwei Teile: in einen ideologie- und pathosschwangeren Feststellungsteil und in einen armseligen, ja im wahrsten Sinne des Wortes nichtssagenden Forderungsteil. „Geschichtsklitterung“ ist noch ein Euphemismus für die Zusammenfassung des Kalten Krieges und seiner Überwindung, die wir da geboten kriegen: Demnach hat Deutschland den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung in erster Linie den Vereinigten Staaten und der Inspiration von Präsident Reagan mit seiner Rede vom 12. Juni 1987 zu verdanken. Geholfen haben dann noch die NATO, Helmut Kohl sowie der - ich zitiere - maßgebliche Einfluss liberaler Außenpolitiker wie Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher. Lobend erwähnt werden die Schlussakte von Helsinki und Walter Scheels Rolle bei dem ganzen Prozess, verschwiegen aber wird, dass ausgerechnet die CDU/CSU wegen der gleichberechtigten Teilnahme der DDR am Ende gegen die Unterzeichnung gestimmt hat. Willy Brandt, dessen neue Ost- und Deutschlandpolitik den Weg zum Helsinki-Prozess erst geebnet hatte, wird in einem einzigen Satz erwähnt. Helmut Schmidt, während dessen Amtszeit als Bundeskanzler die Schlussakte unterzeichnet wurde, wird unterschlagen. Aber richtig empörend ist, dass zwei Akteure praktisch ausgeblendet werden: die Menschen in der ehemaligen DDR und in Osteuropa, deren Bürgerbewegungen das Ende der östlichen Regime herbeigeführt haben, und Michail Gorbatschow mit seiner Rolle, ohne dessen mutigen Reformkurs mit Glasnost und Perestroika und ohne dessen ebenso mutige Zustimmung zur deutschen Vereinigung diese historische Zäsur gar nicht oder nur mit erheblichen Opfern hätte stattfinden können. Ich frage mich: Was für ein Geschichtsverständnis haben eigentlich die Autoren des Antrages, also die Kollegen Mißfelder, Beyer und Wegner von der CDU/CSU sowie Leibrecht, Stinner und Brüderle von der FDP? Auf jeden Fall eines, das schon im 19. Jahrhundert als veraltet galt, nämlich eines, wo Männer Geschichte machen und wo Geschichte nicht etwa gesellschaftlichen Bewegungen und Veränderungen folgt und von den Menschen selbst geprägt wird! Zu Protokoll gegebene Reden Der Antrag erweckt die falsche Vorstellung, am 12. Juni 1987 habe Ronald Reagan Gorbatschow aufgefordert, die Mauer niederzureißen, und zweieinhalb Jahre später sei der sowjetische Generalsekretär dieser Aufforderung endlich gefolgt. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Das Prophetische an Ronald Reagans Rede fiel erst viel später auf, als die Mauer tatsächlich bereits gefallen war. Gar nicht so positiv war die Reaktion auf seine konkreten Vorschläge vom 12. Juni 1987, nämlich Westberlin zu einem Luftdrehkreuz zu machen und als Ort für Konferenzen über Menschenrechte und Rüstungskontrolle zu nutzen, Sommeraustauschprogramme mit jungen Ostberlinern zu veranstalten oder sogar die Olympischen Spiele nach West- und Ostberlin zu holen. Neun Monate später überprüfte der „Spiegel“, was aus diesen Vorschlägen geworden ist, und kam zu dem Ergebnis: „Ronald Reagans Berlin-Initiative vom Juni vorigen Jahres erweist sich als Flop - mit womöglich schädlichen Folgen.“ Der „Spiegel“-Artikel stellt die These auf, Reagans Vorstoß verfolgte das Ziel, „die Russen weltweit vorzuführen und in die Defensive zu treiben - in Afghanistan wie an der Mauer in Berlin“, und er vermutet, das sei auch eine Antwort auf Rechtskonservative in der CDU/CSU, die Kritik an der atomaren Abrüstung übten, und auf den „glücklos agierenden CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen“, der bei den westlichen Alliierten als „ungeschickt und vorlaut“ gelte. So ist das manchmal bei historischen Reden: Die Geschichte muss sich erst einmal auf sie zubewegen, um die historische Aura zu übertragen, und dann verdient das Prädikat des Historischen auch nur ein einziger Satz, herausgebrochen aus einer halbstündigen Rede, die keineswegs von allen - wir haben es gehört - auf Begeisterung stieß. Eines steht fest: Zu dem schwallenden Pathos, das den Koalitionsantrag von A bis Z durchzieht, gibt es keine hinreichende Begründung. Richtig peinlich wird es in dem Antrag aber erst bei den drei Forderungen an die Bundesregierung. Diese solle gemeinsam mit dem Land Berlin Reagan herausragend ehren, heißt es da. Aber das ist längst passiert: Seit 1992 ist Präsident Reagan Ehrenbürger von Berlin, die höchste Ehrung, die die Stadt vergeben kann. Das berühmte Zitat ist im Treppenaufgang des Berliner U-Bahnhofs „Brandenburger Tor“ zu lesen. Und vor zwei Wochen sind zwei weitere herausragende Ehrungen dazugekommen. Vor dem Axel-Springer-Haus in der Zimmerstraße wurde eine bronzene Gedenktafel mit dem Reagan-Zitat in die Erde eingelassen. Im Entwurf vorgestellt wurde eine weitere Gedenktafel, die am Platz des 18. März beim Brandenburger Tor demnächst aufgestellt werden soll. Es bleibt insofern schleierhaft, was dann noch fehlt; aber dazu schweigt sich der Antrag aus. Die zweite Forderung, gemeinsam mit den Bundesländern weiterhin den Sieg der Freiheit und die historische Rolle der USA hochzuhalten, ist an Allgemeinheit kaum mehr zu überbieten; es sei denn, man liest noch die dritte Forderung, die da lautet, „die transatlantische Partnerschaft in allen Bereichen weiterhin engagiert zu fördern“. Nichts, aber auch gar nichts Konkretes ist den Antragstellern dazu eingefallen. Die Bundesregierung soll einfach irgendetwas machen. Nein! Dieser Antrag wird die transatlantische Zusammenarbeit, die wir hoch achten, pflegen und jeden Tag mit Leben zu erfüllen suchen, nicht nach vorne bringen. Ich sage voraus: Er wird im günstigsten Fall zu einem Zitatensteinbruch für Kabarettisten werden, am wahrscheinlichsten aber sofort in Vergessenheit geraten, was für die Autoren vielleicht noch am vorteilhaftesten wäre.

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

„Herr Gorbatschow, öffnen Sie das Tor! Reißen Sie diese Mauer nieder!“ war und ist das Bekenntnis der USA zur uneingeschränkten Solidarität mit Deutschland. Am 25. Jahrestag von Präsident Reagans Rede vor dem Brandenburger Tor wollen wir Ronald Reagan ehrend gedenken, an seine besonderen politischen Verdienste, seinen Mut und seinen unerschütterlichen Glauben an die deutsche Einigung erinnern und dem amerikanischen Volk für seine Unterstützung danken. Neben der europäischen Integration bildet das transatlantische Verhältnis, die freundschaftlichen Beziehungen Deutschlands und Europas zu den Vereinigten Staaten von Amerika, den zweiten Pfeiler der deutschen Außenpolitik. Ohne die Unterstützung unserer amerikanischen Freunde gäbe es heute weder ein geeintes Deutschland noch ein geeintes Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem die USA, die für neues Vertrauen in die Menschen warben und sich maßgeblich für den Wiederaufbau eingesetzt haben; man denke nur an den Marshallplan, der vor 65 Jahren initiiert wurde und bis in die heutige Zeit hinein als herausragendes Modell für wirtschaftliche Zusammenarbeit gilt. Deutschland hat auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten bauen können, dies haben amerikanische Präsidenten immer wieder deutlich gemacht. Präsident John F. Kennedy hat sich vor allem mit seiner Rede vor dem Rathaus Schöneberg am 26. Juni 1963 mit den Berlinern und dem deutschen Volk identifiziert und sich damit seinen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis geschaffen. 24 Jahre später inspirierte Präsident Reagan die Berliner und die Demokratiebewegungen durch seinen unbeirrten Glauben an Freiheit. In seiner Rede anlässlich des 750. Jubiläums Berlins am 12. Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor betonte Präsident Ronald Reagan nicht nur seine starke Verbundenheit mit unserer heutigen Hauptstadt. Vielmehr erklärte er vor den Berlinern, den Deutschen, den Alliierten, aber auch vor der Weltöffentlichkeit - gerichtet an die kommunistischen Regime im Osten Europas - , dass er sich mit der europäischen Teilung nicht abfinden würde. Bewegt durch eine tiefgehende Verbundenheit zum deutschen Volk und seinen unbeirrten Wunsch nach weltweiter Freiheit entwickelte er die Worte Kennedys Zu Protokoll gegebene Reden weiter: „Every man is a German. … Every man is a Berliner“. Dem deutschen Volk sicherte Ronald Reagan seine resolute Unterstützung bei der Überwindung der deutsch-deutschen Teilung zu. Präsident Reagan gehörte zu den wenigen Politikern seiner Zeit, die entschieden waren, alles zu sagen und zu tun, das zur Überwindung der Unfreiheit in der DDR und der Sowjetunion notwendig erschien. Er war überzeugt, dass durch gute diplomatische Beziehungen und vertrauensbildende Zusammenarbeit das Misstrauen überwunden und somit ein Ende der Konfrontation erzielt werden könne. Obwohl Ronald Reagan der UdSSR ablehnend gegenüberstand, waren seine Beziehungen zu Gorbatschow gut. Nicht zuletzt diese persönliche Beziehung zwischen zwei Staatsmännern hat einen wichtigen Beitrag zur Aufhebung der gewaltsamen Teilung geleistet. Es ist klar, dass die Überwindung der deutschen Teilung ohne Bürgerrechtsbewegungen, ohne den Einsatz mutiger Menschen, ohne Demonstrationen, ohne das Bekenntnis „Wir sind ein Volk“ undenkbar gewesen wäre. Doch sollten wir nicht vergessen, dass sich ganz besonders unsere amerikanischen Freunde für uns eingesetzt und unsere Freiheit verteidigt haben. Präsident Reagan argumentierte gegen den politischen Zeitgeist seines Umfelds und trat seinen unzähligen Kritikern mit Mut und Entschlossenheit entgegen. Es sollte seine Politik „Frieden durch Stärke“ sein, die zur Überwindung der territorialen und politischen Teilung Europas, zum Fall der UdSSR führen sollte. Deutschland ist dem 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zu großem Dank verpflichtet, weil er bis zum Ende an ein vereinigtes Deutschland glaubte, er seinen Skeptikern keine Zugeständnisse machte und dem Kommunismus mit seltener Standhaftigkeit entgegentrat. Und Ronald Reagans unerschütterlicher Glauben an den Sieg der Freiheit ist auch heute noch von hoher Aktualität. Denn leider erleben wir direkt vor unserer Haustür immer noch Unfreiheit und politische Repression - zum Beispiel in Weißrussland, der Ukraine und ganz aktuell auch in Russland. Hier sollten wir konsequent für Freiheit und liberale Grundrechte einstehen. Dass sich das lohnt, zeigen nicht nur der Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung, sondern aktuell auch die Umbrüche im arabischen Raum. Wer hätte vor zwei Jahren geglaubt, dass die Menschen in vielen arabischen Staaten mutig gegen ihre autoritären Machthaber aufbegehren? Der arabische Frühling lehrt uns, dass wir nicht aufhören sollten, mutig und visionär zu denken, wie Ronald Reagan es getan hat.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Um es gleich vorweg zu sagen - und ich gebe zu, dass ich das im Herbst 1989 noch anders gesehen habe -: Ich bin sehr froh, dass 1989 die Berliner Mauer eingerissen wurde und die Teilung Deutschlands und Europas überwunden werden konnte. Doch zu danken haben wir das nun wirklich nicht Ronald Reagan, dem kalten Krieger aus Bel Air, dem Nobelviertel von Los Angeles, sondern Frau Krause und Herrn Lehmann aus Leipzig und Ostberlin. Die Menschen in der DDR hatten einen Staat satt, der sie daran hinderte, eine Weltanschauung auch durch Anschauung der Welt entwickeln zu können. Wir verdanken das ebenso Herrn Kowalski aus Poznan, wie Frau Kovacs aus Budapest, denen es ähnlich ging. Diese Menschen gilt es zu ehren, wenn wir uns an das Ende der Teilung Europas erinnern. Ich habe mich schon gefragt, wie Sie jetzt auf die Idee kamen, nun dem verstorbenen Ronald Reagan die Würdigung einer Freitagnachmittagsdebatte vor dem dürftig besetzten Auditorium des Bundestages zuteilwerden zu lassen. Und ich habe die Antwort der „Bild“-Zeitung entnommen. Natürlich: Nachdem der Springer-Verlag und seine Medien ausgiebig die Reagan-Rede feierten, mussten jetzt CDU/CSU und FDP nachziehen. Erinnern wir uns doch mal an 1987: Berlin feierte in beiden Hälften der Stadt sein 750-jähriges Jubiläum. Mit dem 1985 ins Amt gekommenen Generalsekretär der KPdSU, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, zeichnete sich eine Entspannungsphase ab. Auf Einladung von Bundeskanzler Helmut Kohl plante der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, seinen Besuch in Bonn. Ronald Reagan hingegen war der Präsident, der wie kaum ein zweiter den Kalten Krieg wieder anheizte. Erinnern Sie sich noch an seine Sprache? „Reich des Bösen“ nannte er die UdSSR. Und: „Meine amerikanischen Mitbürger, es freut mich, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterschrieben habe, das Russland dauerhaft für vogelfrei erklärt. Wir beginnen in fünf Minuten mit der Bombardierung.“ hielt er für einen gelungenen Mikrofontest. Ich bitte Sie! Das im Jahr 1984, in Europa waren gerade neue Atomraketen aufgestellt worden, der Weltfrieden hing am seidenen Faden. Aber es blieb nicht bei Worten: Das „Star Wars“-Programm SDI war eine milliardenteure weltraumgestützte Raketenabwehr, die von Ronald Reagan auf den Weg gebracht wurde und die die Welt mehr als einmal an den Rand eines Atomkrieges brachte. Nein, Ronald Reagan war kein Präsident, der in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin auf ungeteilte Zustimmung stieß - im Gegenteil! Während seines Besuchs demonstrierten 50 000 Berlinerinnen und Berliner. Kreuzberg war hermetisch abgeriegelt. Dazu sagte Reagan in seiner hier von CDU/CSU und FDP zur Würdigung vorgeschlagenen Rede, abweichend vom Manuskript, dass diejenigen, die hier in Berlin gegen ihn demonstrieren, wohl Herrschaftsverhältnisse wie im anderen Teil der Stadt wollten. Man könnte auch sagen: „Geht doch rüber!“ Kurz vor Reagans Rede wurde ein Mauer-Graffito „Reagan go home“, das im Hintergrund des Holzgestells angebracht worden war, übermalt in „Welcome Reagan 1987“. Zu Protokoll gegebene Reden Vor 25 000 ihm zugeneigten Berlinerinnen, Berlinern und in Berlin stationierten US-Amerikanerinnen und -Amerikanern sprach er dann am Brandenburger Tor, einem Ort, den John Kornblum persönlich mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR abgeklärt hatte, ohne Einwände, wie es heißt. Reagan schlug hier schließlich dem Chef der KPdSU, Gorbatschow, vor, er möge die Mauer einreißen. Reagan sagte dies gegen die Überzeugungen in seiner Administration; sein Außenministerium versuchte noch bis zuletzt ihn von diesen Worten abzuhalten. Aber der Präsident mochte eben einfache und dramatische Worte, wie sein Redenschreiber sagte. Sie sagen in Ihrem Antrag dazu: „Was viele als Utopie abtaten, wurde nur zwei Jahre später Wirklichkeit. Die Mauer … fiel.“ So einfach ist das. Reagan sprach, und die Mauer war weg. Die Mauer ist aber gar nicht gefallen, sondern wurde eingerissen, nicht von Reagan, nicht von Papst Johannes Paul II. und nicht von der CDU/CSU und der FDP im Bonner Wasserwerk. Sie wurden doch in Wirklichkeit alle am 9. November 1989 von der Entschlossenheit der Ostberliner überrascht, die einer konfusen DDR-Regierung das Heft des Handelns aus der Hand nahmen. Ich weiß nicht, ob der vierzigste Präsident der Vereinigten Staaten für die Rolle taugt, die Sie ihm hier posthum zuschanzen wollen. Letztlich geht es Ihnen, so vermute ich, darum, ihm eine weitere öffentliche Ehrung zukommen zu lassen. Dabei ist er schon Ehrenbürger unserer Hauptstadt, und Gedenktafeln gibt es auch. Nun noch mehr? Ich finde, dagegen gibt es gute Gründe. Reagan hat neben seiner konfrontativen Außenpolitik mit seiner verfehlten Wirtschaftspolitik, den Reaganomics, einen riesigen Schuldenberg hinterlassen; er hat den Sozialstaat in den USA dramatisch abgebaut; er hat das Wort „Aids“ zum ersten Mal in den Mund genommen, als bereits fast 10 000 Amerikanerinnen und Amerikaner an der Immunschwäche gestorben waren. Kurz: Er hat einer Politik das Wort geredet, die selbst anständigen Konservativen die Schamesröte ins Gesicht steigen ließ. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Er überhöht die Rede Reagans und verkleinert damit den Anteil der Lehmanns und Krauses, von Kowalski und Kovacs, die sich zwei Jahre danach das Recht nahmen, für sich und ihre Kinder auf die Straße zu gehen und das Ende von Systemen einzuläuten, über die die Zeit längst hinweggegangen war.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nun hatte die Koalition den Jahrestag der ReaganRede vor dem Brandenburger Tor schon in der letzten Sitzungswoche verpasst. Ihr Antrag datierte vom 12. Juni, just diesem Jahrestag. Die Debatte sollte zwei Tage später stattfinden und fiel dann aus. Jetzt hinkt der Antrag Wochen hinterher und ist zur Gestaltung dieses Tages schlicht überholt. Mit den Forderungen werden im übrigen offene Türen eingerannt und die Begründung ist Geschichtsklitterung à la CDU: Große Männer machen Geschichte, allen voran Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir dieser Klippschule für Junge Unionisten zustimmen werden. Eine zusätzliche Ehrung für den verstorbenen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan ist nicht notwendig. Es gab eine Ehrung zum Jahrestag am Pariser Platz, von ihm geschenkte Texas-Gäule stehen als Standbild in der Clayallee, neben dem Springer-Verlag wurde eine Gedenkplatte enthüllt, und last but not least ist er Ehrenbürger der Stadt Berlin. Dies ist die höchste Ehrung überhaupt, die diese Stadt zu vergeben hat. Die Berlinerinnen und Berliner wissen genau, wem sie die Freiheit des westlichen Teiles ihrer Stadt zu verdanken haben. An erster Stelle gilt ihre Dankbarkeit daher John F. Kennedy und Lucius D. Clay, dem Vater der Luftbrücke. Es ist auch unvergessen, wie spät sich der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nach dem Mauerbau in der Stadt sehen ließ. Konsequenterweise musste die Umbenennung des Kaiserdamms in Konrad-Adenauer-Damm aufgrund anhaltender Bürgerproteste rückgängig gemacht werden. Erst ein neu geschaffener Platz konnte nach ihm benannt werden. Ebenso unvergessen ist der Goebbels-GorbatschowVergleich von Helmut Kohl. Anders als dieser Altkanzler haben die Menschen in Ostberlin sehr wohl die Chance gesehen, die seine Politik der Perestroika bot. Seinen Namen haben sie bei Demonstrationen gerufen, nicht den von Ronald Reagan. Eine Bedeutung von Reagans Rede für die friedliche Revolution in der DDR oder den Fall der Mauer lässt sich nicht nachweisen. Die Bürgerbewegung in der DDR war auch immer eine Friedensbewegung. Von daher verbot sich jede Bezugnahme auf den erklärten Sternenkrieger Ronald Reagan, der vom biblischen Armageddon, der Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse, fabulierte und die sogenannten Contras in Lateinamerika ebenso bewaffnete wie die Islamisten in Afghanistan. Von daher war es nicht verwunderlich, dass der Reagan-Besuch vor allem wegen der Proteste gegen diese Politik der Konfrontation in Erinnerung geblieben ist - vom sogenannten Lappen-Krieg gegen Transparente an Hauswänden bis zur Totalabriegelung eines ganzen Bezirkes, Kreuzbergs, am helllichten Tage. Die Menschheit war letztlich froh, dass sie die Amtszeit dieses US-Präsidenten überlebte. Bei dieser Freude sollten wir es belassen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9952. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Imkerei vor der Agro-Gentechnik schützen - Drucksache 17/9985 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir die Reden zu Protokoll.

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit 1996 wird weltweit über 1 Milliarde genetisch veränderte Pflanzen angebaut, und bis zum heutigen Tage ist kein einziger Schadensfall weltweit bekannt, weder bei einem Menschen, noch bei einem Tier oder etwa der Umwelt. Um es ganz klar an den Anfang zu stellen: Das Wohl der Menschen in unserem Land liegt uns ganz besonders am Herzen. Wir nehmen die Sorgen und Ängste der Menschen sehr ernst. Das gilt für die Bewertung aller modernen Technologien gleichermaßen. Oberstes Prinzip bei der Anwendung ist und bleibt die Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt. Der Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen steht stets unter dem Vorbehalt, dass Sicherheit, Wahlfreiheit und Transparenz auf allen Ebenen - etwa bei der Entwicklung und Zulassung - gesichert bleiben. In erster Linie tragen Informationsdefizite oder absichtlich herbeigeführte Irritationen zu einer starken Verunsicherung der Konsumenten bei. Sie halten auch keiner wissenschaftlichen Begründung stand. In vielen Ländern der Welt werden gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut. Zufällige Beimengen von GV-Pollen in Lebensmitteln, wie zum Beispiel Honig, sind somit kaum auszuschließen. In Deutschland ist lediglich auf 10 Hektar Fläche der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zulässig. Das wichtige Lebensmittel Honig wird zu 80 Prozent importiert. Die Imker in Deutschland liefern etwa 20 Prozent des nationalen Honigverzehrs, rund 90 000 Tonnen werden aus Argentinien, Mexiko, Brasilien, Uruguay und Kanada eingeführt. Pollen ist kein Fremdstoff und keine Verunreinigung von Honig, sondern ein normaler Bestandteil dieses Produkts. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass weder Pollen von Bt-Mais MON810 noch der einer Bt-Maissorte, die drei verschiedene Bt-Proteine bildet, eine schädliche Wirkung auf Larvenstadien der Bienen zeigte. Ein Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, vom Oktober letzten Jahres bestätigt, dass Pollen aus MON810 sicher sind. Im Übrigen: Deutschland scheint zurzeit der einzige EU-Mitgliedstaat zu sein, der Honig auf gentechnisch veränderte Pollen untersucht. Pollen im Honig stellen einen unvermeidbaren und rein zufälligen Bestandteil dar. Analysen zeigen, dass dieser Anteil bei gerade einmal 0,1 bis 0,5 Prozent liegt. In dem vom EuGH entschiedenen Fall lag der Anteil der MON810-DNA in Relation zur Gesamt-Mais-DNA bei nur 4,1 Prozent - und das, obwohl der Bienenstock nur circa 500 Meter entfernt vom GV-Maisfeld lag. Insgesamt entspricht der GV-Pollenanteil damit 0,0041 Prozent des Honigs! Zum Vergleich: Der gültige - für die Kennzeichnung maßgebliche - Schwellenwert für GVO in Lebensmitteln liegt bei 0,9 Prozent. Nach den geltenden Vorschriften ist Honig, der nicht zugelassene GV-Pollen enthält, nicht verkehrsfähig. Was der vorliegende Antrag jedoch unerwähnt lässt, ist die Tatsache, dass nach dem Gentechnikgesetz ein verschuldensunabhängiger Schadenersatzanspruch für die Imker besteht. Nach unserer Rechtsordnung ist der Einsatz von Gentechnik grundsätzlich zugelassen und soll auch möglich bleiben. Über Schutzvorkehrungen wie Abstandsvorschriften von etwa 10 Kilometern darf nicht faktisch ein Verbot des Umgangs mit zum Inverkehrbringen zugelassenen GVO bewirkt werden. Das hat auch der Bayerische VGH so festgestellt; denn sonst würde auch die Forschung mit GVO, die der Allgemeinheit dient, unmöglich gemacht. Folglich brauchen wir Maßgaben, die der neuen Rechtsprechung des EuGH zu GVO in Honig Rechnung tragen und einen verantwortungsvollen Umgang mit grüner Gentechnik ermöglichen. Diesen Rahmen kann nicht die Rechtsprechung setzen; hier sind wir selbst als Gesetzgeber gefragt. Sinnvoll wäre die Zulassung der - wie bereits erwähnt - ungefährlichen GVO-Bestandteile im Honig. Außerdem spricht der hohe Anteil der Honigimporte dafür, auch die Einführung eines Schwellenwertes für GVO im Honig zu prüfen. Nulltoleranz macht hier - ebenso wie bei anderen Lebensmitteln - in einer Welt mit globalen Handelsströmen keinen Sinn. Dieses Konzept für einen praktikablen und sicheren Umgang mit GVO im Honig müsste ergänzt werden durch eine passende Prozesskennzeichnung der Produkte; denn Transparenz und Wahlfreiheit sind zentrale Bestandteile unserer Politik. Leider haben wir in diesem Punkt aber noch mit enormem Widerstand auf europäischer Ebene zu kämpfen. Der vorliegende Antrag macht abermals deutlich: Die grüne Gentechnik ist in Deutschland und Europa ein stark umstrittenes Thema. Die grüne Gentechnik allein kann die globalen Herausforderungen, wie die Sicherung der Welternährung bei wachsender Weltbevölkerung und gleichzeitig rückläufiger Anbaufläche, nicht lösen. Jedoch kann die grüne Gentechnik einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der genetischen Eigenschaften einer Pflanze leisten, und sie kann unter anderem auch helfen, Pflanzen unter kritischen Anbaubedingungen, Kälte, Hitze, schwierige Böden, anbauen zu können. Es ist bewiesen, dass der Einsatz von GVO die landwirtschaftliche Produktivität erhöht und zugleich den wirtschaftlichen Wert landwirtschaftlicher Produkte, aufgrund der höheren Qualität pflanzlicher Nahrungsund Futtermittel, steigert. 117 Millionen Landwirte, vorwiegend kleiner Betriebe, nutzen bereits die Vorzüge gentechnisch veränderter Pflanzen. Die Zulassung gentechnisch veränderter Organismen soll sich daher an der wissenschaftsbasierten Abwägung zwischen Chancen und Risiken ausrichten. Ideologische Versuche, ganze Technologien in Deutschland zu verhindern, schwächen den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bereits im November 2007 hatte der Bundesrat die Bundesregierung mit seinem Beschluss Drucksache 563/07 aufgefordert, „... mit einer Verordnung schnellstmöglich sicherzustellen, dass auch die Belange der Imkerei beim Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen angemessen berücksichtigt werden. Der Geltungsbereich der vorliegenden Verordnung schließt die Imkerei nicht ein. Die Koexistenz beinhaltet jedoch nicht nur das Nebeneinander des GVO-Anbaus und konventioneller Pflanzen, sondern auch des GVO-Anbaus und der Imkerei. Hierfür sind gesonderte Regelungen erforderlich.“ Doch bis heute ist nichts passiert. Nach wie vor müssen sich Imker durch den Anbau von gentechnisch verändertem Mais in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sehen. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen gentechnikfreie Lebensmittel. Aber Imker, die in der Nähe eines Gentech-Maisfeldes arbeiten, laufen große Gefahr, dass sich gentechnisch veränderte Bestandteile im Honig nachweisen lassen. Denn Bienen halten sich nicht an Sicherheitsabstände und haben einen Flugradius von über 5 Kilometern. Eine Untersuchung des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts Freiburg von Anfang Juni zeigte, dass viele aus den USA stammende Honigsorten mit gentechnisch verändertem Soja verunreinigt sind, teilweise auch mit nicht zugelassenem Gentechnikraps. In den USA ist der GVO-Anbau weit verbreitet. Aber auch wenn bei uns derzeit nicht kommerziell angebaut wird, kann das Problem sehr bald auch hier wieder akut werden. Honig, der mit gentechnisch veränderten Pollen verunreinigt wurde, ist nicht verkehrsfähig. Dies hat der Europäische Gerichtshof, EuGH, im September letzten Jahres entschieden. Auch geringe Spuren von MON810 führen dazu, dass der Honig nicht mehr verkauft werden darf. Denn der Gentechnikmais MON810 hat keine Zulassung zu Lebensmittelzwecken. Mit dem Urteil steht fest, dass Imker einen Anspruch auf Entschädigung haben, wenn ihr Honig mit gentechnisch veränderten Pollen verunreinigt wurde, die nicht als Lebensmittel zugelassen sind. Dies war der Fall des Imkers Bablok, der in seinem Honig GVO-Spuren aus einem staatlichen Versuchsanbau des Freistaats Bayern mit MON810 fand und daraufhin seine gesamte Ernte vernichten musste. Er zog vor Gericht und verklagte den Freistaat Bayern auf Schadenersatz. Wegen ungeklärter Fragen europäischen Rechts legte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dem EuGH 2009 einige Punkte zur Entscheidung vor. Dieser entschied im Sinne der Imker und Verbraucher, die Gentechnik in Lebensmitteln überwiegend ablehnen. Anschließend musste der bayerische Gerichtshof darüber entscheiden, ob auch Schutzansprüche bestehen. Aber diese lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof am 27. März 2012 ab: Imker sollen keinen Rechtsanspruch auf Schutzvorkehrungen haben, wenn auf Feldern in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Bienenstände gentechnisch veränderte Pflanzen zum Anbau kommen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Es kann nicht sein, dass der GVO-Anbau auf dem Rücken der Imker ausgetragen wird. Die Imker haben ein Recht auf Schutz. Die Belange der Bienenwirtschaft müssen endlich berücksichtigt werden. Wir werden diese Frage ausführlich im Ausschuss diskutieren müssen.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Imkerei hat eine jahrhundertelange Tradition und ist für die Landwirtschaft aufgrund ihrer Bestäubungsleistung von großer Bedeutung. Die Biene gilt als das produktivste Haustier des Menschen, und die Produkte der Imkerei genießen bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine große Wertschätzung. Ob gesunder und leckerer Honig oder Gelée Royale für die Ernährung oder Pollenerzeugnisse für die Kosmetik, die Imker, ihre Schützlinge und ihre Produkte genießen großes Vertrauen. Der deutsche Honig gilt zu Recht als absolutes Qualitätsprodukt. Viele Imker betreiben die Haltung von Bienen leidenschaftlich als Hobby. Diesen, aber auch den Berufsimkern bringen wir mit der Wertschätzung ihrer Produkte und ihrer Dienstleistungen für Gartenbau und Landwirtschaft unsere Anerkennung entgegen. Trotz alledem stehen die Imker und ihre Bienenvölker unter immensem Druck. In diesem Winter hatten viele Imker große Überwinterungsverluste bei ihren Völkern zu beklagen, teilweise bis zum Komplettverlust. Die Untersuchungen der Bieneninstitute, federführend dabei das Fachzentrum Bienen und Imkerei in Mayen, und des Deutschen Bienenmonitorings zeigen durchschnittliche Verluste von bis zu 25 Prozent der Bienenvölker im vergangenen Winter. Diese sind regional noch wesentlich höher ausgefallen. Die Verluste sind vergleichbar mit den ebenso schweren Verlusten in den Wintern 2005/06 und 2007/08. Die überwältigende Mehrzahl der Bienenwissenschaftler ist sich einig, dass die hohen Überwinterungsverluste auf den zunehmenden Befall der Bienenvölker durch die Varroamilbe und damit einhergehende Infektionen durch Viren zurückzuführen sind. Diese Zahlen machen deutlich, dass unsere Imker vor großen Herausforderungen stehen. Derartige Verluste können insbesondere viele Hobbyimker nicht kompensieren. Angesichts dieser äußerst besorgniserregenden Entwicklung und des existenziellen Mangels an geeigneten, effektiven und handhabbaren Therapeutika wirkt es wie ein Hohn, dass die Fraktion Die Linke einen Antrag mit dem Titel „Imkerei vor der Agro-Gentechnik schützen“ vorgelegt hat. Sie hat das Thema verfehlt! Was hilft einem Imker, der seine Völker durch die Varroamilbe verloren hat, eine Änderung des GentechnikZu Protokoll gegebene Reden gesetzes? Wenn mein Hund krank ist, würde mir doch auch keiner raten, einen neuen Personalausweis zu beantragen. Das ist völlig absurd. Auch das zweite Problem der Imkerei wird dadurch nicht gelöst. Bienen finden in einigen Regionen zu wenig Nahrung. Wir brauchen mehr Blütenpflanzen in unserer Landschaft. In einem Punkt hat der Antrag meiner geschätzten Kollegin Tackmann jedoch recht: Das unsägliche Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Verkehrsfähigkeit von Honig, Az C442/09, in der Rechtssache Bablok macht rechtliche Änderungen notwendig. In seinem Urteil legte der Gerichtshof dar, dass Pollen nur dann als gentechnisch veränderter Organismus, GVO, eingestuft werden, wenn sie einen „Organismus“ im Sinne der Richtlinie und der Verordnung, das heißt eine „biologische Einheit, die fähig ist“, „sich zu vermehren“ oder „genetisches Material zu übertragen, darstellen. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass ein Stoff wie der Pollen einer genetisch veränderten Maissorte, der seine Fortpflanzungsfähigkeit verloren hat und in keiner Weise fähig ist, in ihm enthaltenes genetisches Material zu übertragen, nicht mehr von dem Begriff GVO erfasst wird. Weiter sieht das Gericht die Notwendigkeit der Zulassung von Pollen als Lebensmittel und begründet dies damit, dass Pollen eine Zutat im Honig sei. Genau dies ist falsch. Tomaten auf der Pizza sind eine Zutat, der Pollen im Honig jedoch nicht; denn niemand tut ihn absichtlich hinein. Es gibt keinen natürlichen Honig ohne Pollen. Die Interpretation von Pollen als Zutat durch das EuGH hat beträchtliche Auswirkungen auf die gesamte Honigwirtschaft, von der Produktion über die Lieferund Vermarktungskette bis hin zur Verarbeitung. Die Hauptlieferländer für den europäischen Honigmarkt sind Argentinien, Mexiko, China, Chile, Indien und Brasilien; alle diese Länder bauen GV-Pflanzen an. In diesen Ländern sind vorwiegend kleine und mittelgroße bäuerliche Imkerbetriebe betroffen, welche aufgrund des großflächigen Anbaus von GV-Pflanzen in ihren Ländern den wichtigsten Exportmarkt die EU verlieren könnten. Sehr viele der Imkereien werden gezielt von Fair Trade oder anderen Entwicklungsprojekten gefördert. Alle diese Imker und Projekte sind jetzt gefährdet. Sie können weder die GVO-Freiheit ihrer Produkte garantieren noch die hohen Analysekosten tragen. Die Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher werden immens steigen, obwohl sich die Qualität des Honigs in keiner Weise ändert. Honig ist und bleibt ein leckeres, gesundes, hochqualitatives Lebensmittel. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss unbedingt Rechtssicherheit für Imker, Landwirte und den Honighandel hergestellt werden. Auf europäischer Ebene ist es geboten, die Honigrichtlinie und abgeleitete Rechtsvorschriften so zu ergänzen, dass die negativen Auswirkungen des EuGH-Urteils rückgängig gemacht und Pollen als integraler Bestandteil und nicht als Zutat von Honig klassifiziert wird. Ich bin mir bewusst, dass rund um die grüne Gentechnik noch Unbehagen bei einigen Imkern besteht. Wir müssen alle gemeinsam darüber nachdenken, wie wir in dieser Frage zu sachgerechten und für alle akzeptablen Lösungen kommen können.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind Hersteller von Sportschuhen. Neben Ihnen produziert jemand Autolacke. Eines Tages kommt es dazu, dass Farbspitzer der Autolacke auf einer zur Auslieferung bereitstehenden Turnschuhpalette landen. Ein Gericht verbietet Ihnen nun, diese beschmutzten Turnschuhe zu verkaufen. Sollte bewiesen werden, dass die Farbenmanufaktur Ihres Nachbarn Schuld an der Sauerei ist, dann muss er Ihnen den entstandenen Schaden bezahlen. Ein weiteres Gericht sagt aber auch, dass Sie keinen Anspruch darauf haben, vor Farbklecksen geschützt zu werden. Der Nachbar kann also fröhlich mit Farbe umherspritzen, ohne einen Sicherheitsabstand zu Ihren Schuhpaletten einzuhalten oder eine Trennwand aufzubauen. Klingt paradox? Ist es auch. Aber es ist trotzdem wahr. Was in dem Sprachbild der Schuh, ist in der Realität der Honig. Was in der Geschichte der Autolack, sind Gentech-Pollen, Pollen vom Monsanto-Mais MON810. Und die unglaubliche Geschichte geht so: Am 6. September 2011 urteilte der Europäische Gerichtshof, dass die Verkehrsfähigkeit von Honig durch Verunreinigungen mit Pollen des gentechnisch veränderten Mais MON810 beeinträchtigt wird. Auf gut Deutsch: Er darf nicht verkauft, sondern muss als Müll entsorgt werden. Hintergrund: Dieser Mais hat in der EU zwar eine Lebensmittelzulassung, jedoch nicht für Honig. Darum dürfen auch keine MON810-Spuren im Honig sein. Darüber hinaus besitzt MON810 eine EU-Anbauzulassung. In der Bundesrepublik ist sein Anbau jedoch verboten. Die Linksfraktion wird dafür kämpfen, dass das auch so bleibt. Zurück zum Honig: Am 27. März 2012 urteilte nun der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dass Imkerinnen und Imker keinen Anspruch auf Schutzmaßnahmen gegen die Verunreinigung ihres Honigs durch den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen haben. Gleichzeitig wurde bestätigt, dass durch Pollen des gentechnisch veränderten Mais MON810 verunreinigter Honig nicht verkauft werden darf. Um im Bild der Eingangsgeschichte zu bleiben: Die Lackhersteller dürfen weiter fröhlich mit der Farbe hantieren, ohne Vorkehrungen zu treffen, dass die Schuhe des Nachbarn nicht verschmutzt werden. Die betroffenen Imkerinnen und Imker sind zwar gegen das widersinnige Urteil vor das Bundesverwaltungsgericht gezogen, aber dessen Entscheidung steht noch aus. Hier sieht die Linke dringenden Handlungsbedarf des Gesetzgebers, um diese aberwitzige Benachteiligung der Imkerinnen und Imker gegenüber dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zu beenden, und zwar rechtssicher. Mit diesem Antrag stellt sich die Linksfraktion klar auf die Seite der Imkerei und gegen die Profiteure der Agrogentechnik. Uns sind die Interessen der Bienen und ihrer Halterinnen und Halter deutlich wichtiger als die Interessen der mächtigen Agrarkonzerne und ihrer Genlabore. Zu Protokoll gegebene Reden Wir wissen natürlich, dass zur Verbesserung der Schutzrechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern, der gentechnikfreien Landwirtschaft und der Imkerei eigentlich viel umfangreichere Änderungen im nationalen und europäischen Gentechnikrecht nötig wären. Doch diese mehrfach angekündigte große Novelle zum Gentechnikgesetz wird von dieser Koalition wohl nicht mehr kommen, eine gute sowieso nicht. Daher fordern wir als die dringendste Sofortmaßnahme, den Schutz der Imkerei im Gentechnikrecht wirksam zu verbessern. Weitere Änderungen bleiben trotzdem notwendig. Die paradoxe Situation, dass verunreinigter Honig nicht verkauft werden darf, wenn die transgene Pflanze keine Lebensmittelzulassung für Honig hat, gleichzeitig jedoch kein Rechtsanspruch auf den Schutz vor Verunreinigung besteht, muss durch den Gesetzgeber unverzüglich beseitigt werden, also durch den Deutschen Bundestag; denn er hat eine besondere Sorgfaltspflicht und ist neben dem Verursacherprinzip auch dem Vorsorgegedanken verpflichtet. Was wäre die Alternative? Womöglich eine Verpflichtung der Bienen, den gentechnisch veränderten Mais zu meiden, oder der Imkerinnen und Imker, vor dem Anbau einer nicht als Lebensmittel zugelassenen Gentech-Pflanze ausweichen zu müssen? Wir halten diese Alternativen für absurd und sehen das Prinzip wie beim Gewaltschutzgesetz: Der Verursacher muss gehen, nicht das Opfer. Übersetzt: Nicht der potenziell geschädigte Imker oder die Imkerin muss der Gefahr ausweichen, sondern der Gefahrenverursacher - also der Gentech-Bauer - muss das Risiko vermeiden. Das ist so bestechend logisch, dass man unserem Antrag nur zustimmen kann.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie bei kaum einem anderen Wirtschaftszweig wird anhand der Probleme der Imkerei aufgrund der Gefahr von Verunreinigungen mit Gentech-Pollen deutlich, dass eine Koexistenz zwischen Landwirtschaft mit und ohne Gentechnik in der Praxis nicht funktionieren kann. Das hat jüngst auch Ernst-Ludwig Winnacker, der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bestätigt. Bienen fliegen gezielt über mehrere Kilometer zu ihren Futterquellen. Das „Honig-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs von 2011 hat die Bedeutung dieser Frage wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Zwar haben wir in Deutschland gegenwärtig keinen Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen. Wenn es aber in Zukunft je dazu kommen sollte, sind weite Schutzabstände zwischen Feldern mit gentechnisch veränderten Pflanzen und den Bienenstöcken der einzige praktikable Weg, den deutschen Honig frei von unerwünschten gentechnischen Verunreinigungen zu halten. Die Bundesregierung darf sich dieser Einsicht nicht länger verschließen. Kanadische Imker und Imkerinnen haben aufgrund der flächendeckenden Kontamination ihres Honigs durch Genrapspollen bereits den europäischen Absatzmarkt weitgehend eingebüßt, ähnliches droht vielen Honigproduzenten und Produzentinnen in Lateinamerika durch den großflächigen Anbau von Gensoja. Ein Anbau von Gentech-Pflanzen ohne ausreichende Mindestabstände würde auch bei uns das Aus für viele kleine und mittelständische Berufs- und Hobbyimker und Hobbyimkerinnen bedeuten. Ein mittelständischer Berufsimker, der gentechnikfrei wirtschaften möchte, hätte durch den kommerziellen Anbau von Gentech-Pflanzen Kosten von bis zu 15 000 Euro pro Jahr für Analysen zu Verschmutzungen durch Gentech-Pollen zu tragen. Wer würde den Imker und Imkerinnen diesen existenzgefährdenden Schaden ersetzen? Die Imker und Imkerinnen bestehen zu Recht darauf, dass ihre Produkte genauso gut vor gentechnischen Verunreinigungen geschützt sein müssen wie andere Lebensmittel auch. Doch seit Jahren werden die berechtigten Schutzansprüche der Imkerei in Bezug auf Schäden durch die Gentechnik juristisch weitgehend ignoriert und ausgeblendet. Auch hier muss endlich das Verursacherprinzip gesetzlich klar umgesetzt werden und der Schadenverursacher haften. Hersteller und Anbauer von GVO müssen endlich zur Begleichung solcher Folgeschäden durch Gentechnik herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht Leipzig haben klar das Vorsorgeprinzip, den Schutzanspruch von Imkerei, Landwirtschaft und Verbrauchern und Verbraucherinnen und damit die absolute Nulltoleranz gegenüber nicht zugelassenen GVO bestätigt. Das sind wichtige Signale. Die Nulltoleranz sichert Verbraucherrechte, Wahlfreiheit und die Existenz der gentechnikfreien Land- und Lebensmittelwirtschaft. Denn gerade für viele kleine und mittlere Unternehmen ist eine Aufweichung der Nulltoleranz ein echter Bärendienst. Sie müssten künftig teure quantitative Analysen statt deutlich günstigerer Ja-Nein-Analysen durchführen. Damit würden der gentechnikfreien Wirtschaft weitere bürokratische und finanzielle Belastungen aufgebürdet. Und was kommt nach dem Fall der Nulltoleranz für Futtermittel und der Nulltoleranz für Lebensmittel? Wird dann auch die Nulltoleranz bei Saatgut infrage gestellt? Das wäre das absehbare und sichere Ende der gentechnikfreien Landwirtschaft und damit auch der Wahlfreiheit, weil sich diese Verunreinigungen über Auskreuzung ausbreiten. Natürlich freuen wir uns, dass Ministerin Aigner unserer Forderung, die GVO-Nulltoleranz bei Lebensmitteln zu erhalten, folgen will. Aber wo war Frau Aigner im letzten Jahr, als die Nulltoleranz bei Futtermitteln mit Zustimmung Deutschlands aufgehoben wurde? Einsatz für Sicherheit? Leider völlige Fehlanzeige. Verbraucher und Verbraucherinnen müssen auch in Zukunft die Freiheit und die Möglichkeit haben, sich gegen Gentechnik zu entscheiden. Dazu braucht es die Nulltoleranz, aber keine Lizenz für die flächendeckende Verunreinigung von Lebensmitteln. Jetzt muss die Ministerin auch endlich konsequent handeln und vorangehen! Wir brauchen endlich bundeseinheitliche Schutzabstände zwischen Bienenständen und Gentech-Feldern - und hier reden wir über 5 Kilometer und mehr, nicht nur über ein paar wenige Hundert Meter. Selbstverständlich muss dabei Bestandsschutz für bestehende Bienenstände gelten. Wie ernst es Ministerin Aigner mit dem Schutz von Landwirtschaft, Imkerei und Verbrauchern und VerbrauZu Protokoll gegebene Reden cherinnen ist, muss sie in den kommenden Monaten beweisen, wenn Zulassungsentscheidungen auf EU-Ebene anstehen. Denn bislang hat die Bundesregierung noch keinen einzigen Antrag auf Zulassung von GVO abgelehnt. Hier erwarten wir nicht nur laute Ansagen der Ministerin, sondern klares Handeln - in Berlin und Brüssel. Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung; denn jetzt ist die Zeit, endlich klare Regelungen zu treffen, statt weiter Katz und Maus zu spielen, wie es die Koalition bisher in dieser Frage gemacht hat. Bei einer Novellierung des Gentechnikgesetzes kommt es allerdings auf eine sorgfältige und umfassende Umsetzung statt eines Schnellschusses an. Die Festlegung ausreichend großer, bundesweit einheitlicher Mindestabstände in der Gentechnik-Pflanzenerzeugungsverordnung muss als Schlüsselelement zügig und deshalb zeitlich vor der aufwendigeren Änderung des Gentechnikgesetzes erfolgen. Wir erwarten von der Bundesregierung jetzt neben der Novellierung des Gentechnikgesetzes im Sinne des Schutzes von Umwelt, Verbrauchern und Verbraucherinnen und Imkerei folgende Schritte: die Umsetzung der Forderung des Bundesrates vom 30. November 2007, wonach die Imkerei endlich bei der Gentechnik-Pflanzenerzeugungsordnung berücksichtigt werden muss, verbindliche Informationspflichten für GVO-Anbauer gegenüber den im Flugradiusbereich aktiven Imkereien, bei den Ländern auf flächendeckende Kontrollen zur Einhaltung der Meldepflicht von Freisetzungen von GVO für das Standortregister zu drängen und die Voraussetzungen zu schaffen, damit Verstöße gegen die Meldepflicht wirkungsvoll sanktioniert werden, Einführung von Regelungen, die dem Verursacherprinzip auch bei indirekt durch den GVO-Anbau bedingten Schäden und Kosten Rechnung tragen. Wer etwas zum Schutz der Imkerei, der Bienen, Honig- wie Wildbienen, und der Hummeln und damit eines wesentlichen Teils unserer Ökosysteme beitragen will, darf aber nicht bei der Frage der Agrogentechnik stehen bleiben. Blütenmangel in unseren Agrarlandschaften, Pestizidbelastungen, insbesondere durch Neonicotinoide, sind Alarmzeichen, die uns nachdenklich machen müssen. Im Gegensatz zur Blockadehaltung der Bundesregierung und des Deutschen Bauernverbandes gegen das Greening der EU-Agrarpolitik haben die Imkerverbände erkannt, dass der aktuelle Kurs der Landwirtschaftspolitik nicht zukunftsfähig ist. Ich empfehle die Lektüre der aktuellen „Berliner Erklärung“ der Imkerverbände mit konkreten Forderungen und Vorschlägen dazu, wie die Landwirtschaft bienenfreundlicher gemacht werden kann. Auch das EEG muss bei den Fördervoraussetzungen und der Vergütung so verbessert werden, dass der Anbau von bienenfreundlichen Kulturen und Zwischensaaten wirtschaftlich attraktiv wird. Stirbt die Biene, stirbt der Mensch! Bienenfreundliche Agrarpolitik ist daher immer auch menschenfreundliche Agrarpolitik. Dazu gehört auch der Schutz der Imkerei vor den Gefahren der Agrogentechnik, damit Honig ein sauberes Naturprodukt bleibt. Frau Ministerin Aigner, es ist höchste Zeit. Handeln Sie jetzt!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9985 an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Basiskonto schaffen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann - Drucksachen 17/9398, 17/8312, 17/9798 Buchstabe a und e Berichterstattung: Abgeordnete Peter Aumer Holger Krestel Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein Leben ohne Konto ist für uns heute eigentlich unvorstellbar. Im täglichen Leben wird es für Lohn- und Gehaltszahlungen, finanzielle Leistungen des Staates wie Kindergeld, Elterngeld, Arbeitslosengeld und BAföG, aber auch zur Begleichung von Rechnungen für Miete, Strom, Wasser, Einkäufe und vieles mehr benötigt. Heute werden eine Vielzahl von Geschäften des Alltags unbar über das Konto oder eine Kreditkarte getätigt; die Bargeldzahlung wurde in vielen Bereichen abgelöst. In Deutschland wurden allein im Jahr 2010 Güter mit einem Volumen von 144 Milliarden Euro über kartengestützte Zahlungsverfahren umgesetzt. Das sind rund 38 Prozent des Gesamtumsatzes. Aber auch das Bargeld für den täglichen Bedarf stammt meist aus einem Geldautomaten einer Bank, bei der wir ein Girokonto haben. Für einen Großteil der Bürger in unserem Land sind diese Vorteile heute selbstverständlich. Das Girokonto ermöglicht es uns, am gesellschaftlichen und modernen wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Jedoch gibt es in Deutschland immer noch Menschen, die kein Girokonto besitzen. Schätzungen gehen von einem hohen sechsstelligen Wert aus. Für diese kontolosen Personen ist es oft unmöglich, am gesellschaftlichen Leben, am Wirtschaftsleben und oftmals auch am Arbeitsleben teilzuhaben. Die Barauszahlung, wie zum Beispiel vom Lohn, als auch die Barbezahlung, zum Beispiel der Miete, gestalten sich oft sehr schwierig und sind mit einem vermehrten zeitlichen, personellen und finanziellen Aufwand verbunden. Auch für staatliche Stellen ist die Barauszahlung finanzieller Leistungen ungleich höher, da sie jeden Vorgang individuell bearbeiten müssen. Gerade im Hinblick auf die fortschreitende Harmonisierung des europäischen Zahlungsraums durch die neue SEPA-Verordnung, deren Umsetzung wir heute in erster Lesung im Plenum behandeln, werden Kontolose in Zukunft von dieser Verbesserung nicht profitieren können. Darüber hinaus haben wir auch ein Interesse, dass Zahlungen über Bankkonten abgewickelt werden. So lassen sich Betrugs- und Geldwäschefälle leichter aufdecken. Zur Beseitigung dieses Missstandes erarbeitete der Zentrale Kreditausschuss - heute die Deutsche Kreditwirtschaft - eine Empfehlung zum Girokonto für jedermann. Diese Empfehlungen wurden aber bisher unzureichend umgesetzt. Im aktuellen Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann vom 27. Dezember 2011 kommt man zu dem Ergebnis, dass trotz eines weiteren Anstiegs der Girokonten für jedermann weiterhin überzeugende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Kontolosigkeit in Deutschland ein ernstzunehmendes Problem ist. Auf europäischer Ebene führte die Kommission hierzu bereits eine Folgenabschätzung durch. Im Juli letzten Jahres sprach sich auch der zuständige Binnenmarktkommissar Michel Barnier für die Einführung eines Basiskontos für alle Bürgerinnen und Bürger aus. Im Mai dieses Jahres forderte auch der Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments die Einführung eines Kontos für alle Bürger. Aufgrund dieser fortschreitenden Entwicklungen erwarten wir einen Gesetzentwurf der Kommission noch bis Ende dieses Jahres. Im Allgemeinen begrüße ich diese Entwicklungen auf europäischer Ebene. Die gesetzliche Verankerung eines Basiskontos für jedermann allein stellt allerdings kein Allheilmittel dar, welches das Problem der Kontolosigkeit löst. Dies haben Erfahrungen in anderen Ländern sowie Bundesländern mit entsprechenden Sparkassengesetzen gezeigt. Ziel muss es daher sein, die Betroffenen besser aufzuklären. Wir benötigen effiziente Verfahren, um dem Betroffenen die Chance auf eine Kontoeröffnung zu bieten, ohne ihn auf den aufwendigen Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten verweisen zu müssen. Die Koalitionsfraktionen sind sich daher einig, dass der Zugang der kontolosen Verbraucher zu den kostenlosen Schlichtungsverfahren der Verbände der Kreditwirtschaft, in denen die Kontoverweigerung durch einen unabhängigen Schlichter überprüft werden kann, ein in Deutschland bewährtes Instrument darstellt. Für die Betroffenen beinhaltet ein solches Verfahren deutliche Vorteile. Im Gegensatz zu einem Klageverfahren ist es deutlich günstiger, einfacher, bürokratiearm und ohne juristische Fachkenntnisse zu meistern. Viele Betroffene sind jedoch nur mangelhaft über diese Möglichkeit durch die Kreditinstitute informiert, auch wenn die Zahlen belegen, dass ein solches Schlichtungsverfahren in den meisten Fällen zum Erfolg führt. Deswegen wollen wir dieses Verfahren verbessern. Kreditinstitute sollen daher zukünftig zu einem Bescheid bei Ablehnung eines Kontoantrags in Textform und zu einem Hinweis auf die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens verpflichtet werden. Die verpflichtende Einführung würde die Kunden über die Gründe der Ablehnung informieren und eine Schlichtung in deutlich mehr Fällen ermöglichen. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf mit diesen Vorschlägen vorzulegen. Die Möglichkeit des Schlichtungsverfahrens in Zusammenhang mit der verbindlichen Abgabe eines Ablehnungsbescheids stellt für alle Beteiligten die kosten- und zeitgünstigste Variante dar. Bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene sollte auch eine solche Lösung berücksichtigt werden. In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung unseres Antrags.

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Teilhabe am modernen gesellschaftlichen Leben wird heute anders bewertet als noch vor 40 Jahren. Wer heutzutage kein Konto besitzt, ist in seiner Teilhabe eingeschränkt. Kontolosigkeit begrenzt die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Betroffenen. Aus dem Bericht der Bundesregierung geht hervor, dass die Zahl der von den Banken auf Guthabenbasis angebotenen Girokonten für jedermann von 1,9 Millionen in 2005 auf 2,6 Millionen in 2010 gestiegen sind. Wenn aber über eine halbe Million Bürger keinen Zugang zu einem Basiskonto erhält, dann ist das ein unmöglicher Zustand und ein ernstzunehmendes Problem. Seit 1995 haben wir den Banken Empfehlungen an die Hand gegeben. 2006 haben wir den Kreditinstituten ein Maßnahmenpaket empfohlen, 2008 noch einmal. Dabei hat die Bundesregierung auch sehr deutlich gemacht, dass, sollten die Banken den Empfehlungen nicht folgen, eine gesetzliche Regelung eingeführt wird. Bisher wurde keine einzige der Empfehlungen umgesetzt. Die Chance zur Selbstregulierung wurde vertan. Das ist für uns inakzeptabel. Aber vor allem ist es inakzeptabel für die Verbraucher und Verbraucherinnen, die ohne Konto dastehen. Und darum handeln wir. Zu Protokoll gegebene Reden Ganz klar brauchen Banken in einer sozialen Marktwirtschaft Freiräume, aber Regulierung ist immer an der Stelle nötig, wo es der Markt nicht selber schafft oder wie in diesem Fall nicht will. Aus diesem Grund wollen wir das Basiskonto für jedermann. In diesem Punkt sind wir uns sogar mit der Opposition einig. Nur wollen wir eine Regelung auf europäischer Ebene. Denn es bringt nichts, wenn wir in den nächsten Wochen und Monaten eine Regelung finden, die dann kurze Zeit später wieder hinfällig ist, weil die Europäische Kommission dann eine entsprechende Lösung verabschiedet. Davon haben die Verbraucherinnen und Verbraucher nichts. Nein, wir wollen eine langfristige Lösung und keine Schnellschüsse, die übermorgen verpufft sind. Daher lehnen wir auch die Anträge der Opposition ab. Unser Antrag sieht neben der Einführung eines EUweiten Basiskontos noch Neuerungen für das Schlichtungsverfahren vor: Wir wollen einfache, zügige und kostengünstige Streitschlichtungsverfahren. Mit Blick auf Kreditinstitute, die nicht an derartigen Verfahren teilnehmen, fordern wir die Bundesregierung auf, eine gesetzliche Regelung zu schaffen. In den Fällen soll das gesetzlich vorgesehene Schlichtungsverfahren bei der Deutschen Bundesbank durch eine Änderung des Unterlassungsklagengesetzes erweitert werden. Verbrauchern soll die Ablehnung einer Kontoeröffnung seitens der Kreditinstitute schriftlich mitgeteilt werden, und sie müssen über den Anspruch auf ein Schlichtungsverfahren informiert werden. Die Bundesregierung wird aufgefordert, hierzu eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Immer noch viel zu viele Verbraucher ohne Basiskonto nehmen das Schlichtungsverfahren nicht in Anspruch, weil sie weder wissen, dass es existiert, noch missen, dass es für sie kostenlos ist. 2011 haben etwa 5 200 Verbraucher an einem solchen Verfahren im Bankensektor teilgenommen. Bedenkt man die Zahl derer, die ohne Konto dastehen, ist es eine viel zu geringe Zahl. Daher fordern wir eine bessere Informationspolitik zu den Zugangsmöglichkeiten zu einem Schlichtungsverfahren seitens der Auszahlungsstellen für Sozialleistungen. Ein Schlichter wird, wenn er den Auftrag erhalten hat, für den Verbraucher kostenlos feststellen, ob die Ablehnung rechtskonform ist. Mit der Normierung des Schlichtungsverfahrens schaffen wir rechtliche Klarheit für diejenigen, denen die Eröffnung eines Girokontos verwehrt wird. Wie sehen die weiteren Schritte aus? Die Europäische Kommission hat bereits die Absicht geäußert, noch für 2012 eine Regelung bezüglich eines Basiskontos vorzulegen. Dies begrüßen wir. Weiterhin fordern wir die Bundesregierung auf, der zügigen Umsetzung dieses Vorhabens Nachdruck zu verleihen. Jedem Verbraucher muss die Möglichkeit gegeben werden, ein Konto zu eröffnen - und dies natürlich auch zu einem angemessen Preis. Daher werden wir auch in Zukunft sehr genau beobachten, inwieweit die Banken ihren Verpflichtungen gerecht werden. Eine Weisheit besagt: „Der Markt basiert auf Eigennutz. Drum gibt es den Verbraucherschutz.“ Diesem Ausspruch lassen wir Taten folgen.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute diskutieren wir den mittlerweile sechsten Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann und einen Antrag der Koalitionsfraktionen. In ihrem Bericht soll die Bundesregierung die Fortschritte bei der Umsetzung der Selbstverpflichtung der deutschen Kreditwirtschaft in Sachen Girokonto für jedermann darstellen. Denn seit 1995 haben sich die Banken in Deutschland verpflichtet, grundsätzlich jedem, der ein Girokonto eröffnen will, das auch zu ermöglichen. So weit die Theorie. Auf 67 Seiten des Berichts der Bundesregierung vom Dezember 2011 steht dagegen, wie die Realität in Deutschland aussieht: Die Selbstverpflichtung der deutschen Kreditwirtschaft ist gescheitert. Immer noch gibt es Hunderttausende Menschen in Deutschland, denen ein Girokonto verweigert wird, obwohl sie schon eine Odyssee zwischen den Filialen der verschiedenen Kreditinstitute hinter sich gebracht haben und immer wieder abgewiesen wurden, und die schließlich gesetzwidrig das Konto einer nahestehenden Person für eigene Zahlungszwecke verwenden müssen. Für die SPD-Fraktion ist das schlicht ein Skandal und ein Umstand, bei dem jetzt endlich der Gesetzgeber gefordert ist. Wir wollen, dass die Banken in Deutschland die gesetzliche Pflicht haben, kontolosen Kunden auf Antrag ein Girokonto auf Guthabenbasis zu angemessenen Kosten einzurichten, sofern dies im Einzelfall nicht unzumutbar ist. Ein Girokonto gehört zum verfassungsrechtlichen Existenzminium. Denn mittlerweile ist es fast unstrittig, dass mehr zur staatlichen Daseinsvorsorge gehört, als den Betroffenen Geld für Miete und Essen bereitzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass der Staat die Rahmenbedingungen dafür schaffen muss, die der Bürger als Mindestvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein benötigt. Zusammengefasst haben die Richter das in dem Satz: Der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen. Früher wurde in diesem Zusammenhang über die Höhe des Sozialhilfesatzes, den Steuerfreibetrag und den Kindergeldanspruch diskutiert. Heute schaffen Städte Sozialtickets, damit sich sozial Schwächere in der Stadt bewegen können. Es gibt Kulturtickets für 3 Euro, damit Empfänger von Arbeitslosengeld II ein klassisches Konzert besuchen können oder mit den Kindern ins Puppentheater gehen können. Bei einem Girokonto gilt das aber alles offensichtlich nicht. Dabei gehört ein Konto heute zweifelsohne dazu, um am modernen Leben teilzuhaben. Heinz Rühmann Zu Protokoll gegebene Reden sang einst: „Der Freitag ist mein Freudentag, da überreicht man mir den schwer verdienten Wochenlohn im Tütchen aus Papier.“ Aber die klassische Lohntüte gibt es nicht mehr. Wie soll man ohne Girokonto eine Wohnung und einen Arbeitsplatz finden und Steuern zahlen, Mobilfunkverträge abschließen oder Internetgeschäfte tätigen? Ein Girokonto ist eine Grundvoraussetzung zur individuellen Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialen Leben und als solcher unverzichtbarer Bestandteil der Daseinsvorsorge. Solange es nicht glasklar geregelt ist, dass jedermann einen Anspruch auf ein Girokonto hat, haben wir hier eine offene Flanke. Für die SPD ist die Frage nach dem Girokonto für jedermann damit gelebte Sozialpolitik. Als Zwischenlösung wurde im Jahr 2010 das Pfändungsschutzkonto, P-Konto, geschaffen. Damit bleibt den Menschen das pfändungsfreie Existenzminimum von derzeit 1 028,89 Euro automatisch erhalten. Aber auch diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Entgegen der Absicht des Gesetzgebers, P-Konto-Inhaber nicht stärker zu belasten als Inhaber eines gewöhnlichen Girokontos, ist bei einer Vielzahl von Bankinstituten die Kontoführung nach Umwandlung in ein P-Konto deutlich teurer als beim Girokonto. Die Kosten belaufen sich auf bis zu 25 Euro im Monat, und das, obwohl die Menschen sowieso schon wenig Geld haben. Das ist Abzocke! Und vor allem: Wer noch nicht einmal ein Girokonto hat, dem nützt der Anspruch auf seine Umwandlung in ein P-Konto auch nichts. Ein Komplex, der bisher viel zu wenig beleuchtet wurde, sind die Kosten, die dem Staat dadurch entstehen, dass Banken Kontos verweigern. Allein die Bundesagentur für Arbeit beziffert die jährlichen Bürokratiekosten auf 11 Millionen Euro! Diese Kosten entstehen der Agentur, wenn sie mit der Post Zahlungsanweisungen zur Verrechnung vornehmen muss. Das waren allein im Jahr 2011 circa 11 Millionen Vorgänge. Ein unglaublicher bürokratischer Aufwand, der vermeidbar wäre, wenn sich die schwarz-gelbe Koalition hier endlich bewegen würde. Die Koalitionsfraktionen gehen dagegen weiter den Banken auf den Leim. Anders ist der Antrag, den wir heute abschließend beraten, nicht zu verstehen. Denn er ist absolut unzureichend und wird dem Problem in keiner Weise gerecht. Bei Schwarz-Gelb herrscht offensichtlich die Auffassung, Banken zu Verträgen zu zwingen, sei mit einer freien Marktwirtschaft nicht vereinbar. Aber was ist denn das für eine Vorstellung von Marktwirtschaft, die nur eine Seite, nämlich die der Banken, in Blick hat? Weder wird endlich eine gesetzliche Verpflichtung der Banken gefordert, noch werden - wozu sich die Banken eigentlich längst verpflichtet haben die Schlichtungssprüche der Schiedsstellen als verbindlich vorgeschrieben. Das ist viel zu wenig. Selbst die EU-Kommission sieht Handlungsbedarf. Binnenmarktkommissar Barnier hat unlängst eine Initiative für eine gesetzliche Verpflichtung der Banken angekündigt. Es gibt aber keinen Grund, jetzt auf die EU zu warten. Wir wissen nicht, wie der Vorschlag ausgestaltet ist, und wir wissen nicht, wann er endgültig auf dem Tisch liegt. Das kann noch sehr lange Zeit dauern. Auch andere europäische Staaten wie Belgien und Frankreich haben eigene Regelungen, Deutschland steht dagegen weiter im Abseits. Die SPD will hier endlich Abhilfe schaffen. Deshalb haben wir ein eigenes Konzept vorgelegt, mit dem wir das Problem endlich lösen können, damit nicht im siebenten Bericht der Bundesregierung wieder steht, dass das Girokonto für Jedermann nach wie vor nicht funktioniert. Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnen wir ab.

Holger Krestel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004205, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Was die Opposition in sieben Jahren rot-grüner Koalition und in elf Jahren mit einem sozialdemokratischen Finanzminister nicht auf die Beine gestellt bekommen haben, schließen wir nach wenigen Monaten konzentrierter, sachbezogener Arbeit ab. Darin, dass ein Girokonto im Hinblick auf die heutige Geschäftswelt zur Teilhabe an der Gesellschaft und dem alltäglichen Leben notwendig ist und dass Bürgern, denen ein Zugang zu einem Konto unfreiwillig verwehrt bleibt, benachteiligt werden, sind wir uns in diesem Hause ja einig. Der Ansatz, wie wir diesem Problem beikommen können, unterscheidet uns aber von der Opposition. Eine alleinige gesetzliche Verpflichtung kann kein Allheilmittel sein. Wir haben während unserer Antragsberatung alle betroffenen Seiten mit einbezogen. Sowohl Verbraucher als auch private und öffentliche Banken wurden angehört und ein gesunder Konsens gefunden, mit dem den Beteiligten geholfen und den Anbietern hoffentlich nicht geschadet ist. Im Rahmen der auf europäischer Ebene laufenden Verhandlungen fordern wir die Bundesregierung daher auf, sich dafür einzusetzen, dass den deutschen Bürgern ein Zugang zu einem Basiskonto auf Guthabenbasis ermöglicht wird. Da einem Verbraucher ein Anspruch auf etwas aber nichts nützt, wenn er diesen nicht kennt oder durchsetzen kann, fördern wir des Weiteren den Zugang zu dem kostenlosen Schlichtungsverfahren der Verbände der Kreditwirtschaft. In diesen bewährten Verfahren wird durch einen unabhängigen Schlichter zwischen Verbrauchern und Instituten vermittelt, und die veröffentlichten Zahlen belegen, dass den Kunden im Regelfall zu einem Konto verholfen werden kann. Dies ist für den einfachen Bürger zugänglicher und mit weniger bürokratischem Aufwand verbunden als ein Verfahren vor einem ordentlichen Gericht. Darum setzen wir auf eine klare Kommunikation und Aufklärung - unter anderem durch Träger von Sozialleistungen, aber auch durch die Banken selbst. Die Institute sollen daher verpflichtet werden, Ablehnungen eines Kontowunschs stets in Textform auszuweisen und auf die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens hinzuweisen. Mit einer schriftlich festgehaltenen Ablehnung wird das dann folgende Verfahren enorm erleichtert und auch andere Formalitäten wie zum Beispiel der Nachweis beim Träger von Sozialleistungen, dass man sich um ein Konto bemüht, werden für den Verbraucher vereinfacht. Zu Protokoll gegebene Reden Personen, die aufgrund von offensichtlichem Eigenverschulden kein Konto erhalten, weil sie sich zum Beispiel dem Personal in der Filiale gegenüber untragbar verhalten, werden allerdings weiterhin keiner Bank zugemutet werden! Ebenso sehen wir, dass eine Bank entweder ein Unternehmen oder eine Genossenschaft ist, welche beide am Ende des Jahres wenigstens mit einer schwarzen Null unter der Bilanz dastehen möchten. Daher wird es ihnen auch weiterhin gestattet sein, ein angemessenes Entgelt für die Kontoführung zu berechnen. Dies ist auch notwendig, um einer Ungleichbehandlung von Banken nach Regionen zuvorzukommen und zu verhindern, dass Filialen in dann für das Geschäft ungünstigen Gebieten geschlossen werden, obwohl sie dort dringend gebraucht werden. Die Koalition hat hier einen sehr verbraucherfreundlichen und an der Realität orientierten Entwurf, der klare Lösungswege ebnet, vorgelegt. Das ist etwas, was kein sozialdemokratischer Finanzminister in elf und keine grüne Verbraucherschutzministerin in vier Jahren geschafft haben. Ich bitte Sie daher, diesen Antrag zu unterstützen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit Jahren diskutieren wir über die Einführung eines Girokontos für jedermann. Immerhin berichtet die Bundesregierung auch auf unseren Druck und den von Sozialverbänden hin seit 2002 in der Regel im zweijährigen Abstand über den Stand der Umsetzung der Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses. Der uns hier vorliegende Bericht erfasst ausnahmsweise einen dreijährigen Zeitraum bis zum 31. Dezember 2011, wodurch die Auswirkungen der Reform des Kontopfändungsschutzes berücksichtigt werden konnten. Mit dem Pfändungsschutzkonto, kurz P-Konto, versuchte die Bundesregierung, das Problem, der Blockierung von Girokonten durch Pfändungsmaßnahmen, anzugehen. Doch löst das P-Konto nicht das Problem der Kontolosigkeit. Was sagt uns der vorliegende Bericht? Er gibt in den ersten Teilen eine statistische Übersicht über die zahlenmäßige Entwicklung der „Girokonten für jedermann“ ({0}), einschließlich Kontokündigungen, -ablehnungen und Beschwerdeverfahren sowie der P-Konten bis Juni 2011. Zu den Kontolosen in Deutschland wird auf eine Studie der Europäischen Kommission verwiesen, wonach im Juli 2010 in Deutschland rund 670 000 Menschen der über 18-Jährigen ohne Konto waren. Das sind Menschen, die nicht überschuldet sein müssen, lediglich kontolos. Wenn man sich allerdings die Schätzungen des Instituts für Finanzdienstleistungen, iff, anschaut, will das so recht nicht ins Bild passen. Denn laut iff haben sich allein rund eine halbe Million überschuldete kontolose Menschen freiwillig an eine Schuldnerberatung gewandt. Dies legt nahe, dass die Dunkelziffer bei den Kontolosen deutlich höher ausfallen dürfte. Die Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses „Girokonto für jedermann“ stammt bereits aus dem Jahr 1995 und wurde als Selbstverpflichtung ohne Bindungswirkung an die Mitgliedsinstitute, das heißt die einzelnen Bankenverbände, abgegeben. Sie erfolgte vor allem auf Druck der Sozialverbände. Seitdem war genügend Zeit, um seitens des Gesetzgebers aktiv zu werden. Doch wir müssen feststellen: Bisher ist so gut wie nichts passiert. Der nun schnell zurechtgezimmerte Antrag der Regierungskoalition, der den bereits seit längerem vorliegenden Anträgen der Oppositionsfraktionen kürzlich beigelegt worden ist, ist wahrlich kein Glanzstück. Und der Idee eines Girokontos für jedermann wird er keineswegs gerecht. Hinter der Idee steht, Bürgerinnen und Bürgern ohne Girokonto einen Neuzugang zum bargeldlosen Zahlungsverkehr und hierdurch die Teilnahme am Wirtschaftsleben zu ermöglichen. Mit dem Antrag machen es sich die Koalitionsfraktionen zu einfach. Ihr jetziger Vorschlag besteht nur darin, die Banken stärker in die Pflicht zu nehmen, indem sie über die bestehende Möglichkeit von Schlichtungsverfahren zu informieren haben. Das mag dann vielleicht als Folge mehr Schlichtungsverfahren geben. Denn Betroffene erfahren dann nicht erst auf Anfrage hin bei sozialen Beratungsstellen von dieser Möglichkeit, sofern sie sich überhaupt an eine solche wenden. Daraus gleich einen verbesserten Zugang zum Basiskonto und Rechtssicherheit für von Kontolosigkeit Betroffene herzuleiten, ist blauäugig. Daneben ist die Schlichtungsaufgabe verbandsabhängig eingebettet. Das heißt, sie ist beim Verband der Bank angesiedelt. Ein unabhängiger Ombudsmann kann bei Nichteinigung auch noch hinzugezogen werden; sein Urteil ist aber von keiner bindenden Wirkung. Das wird den Betroffenen also wenig nützen. Eine Lösung des Problems der Kontolosigkeit ist damit also immer noch nicht in Sicht. Um endlich Rechtssicherheit und Bürgernähe in die Praxis umzusetzen, braucht es eine gesetzliche Verankerung eines Rechtsanspruchs. Aber was hier als „Zugang zu einem Basiskonto“ lose umrissen wird, ist nichts als ein unverbindlicher Appell. In der Praxis taugt dies gar nichts. Das hat die über 15 Jahre dauernde Selbstverpflichtung gezeigt. Die Verankerung eines individuell einklagbaren Rechts auf ein Girokonto hingegen schafft Verbindlichkeit. Es ermöglicht die Teilnahme am Geldsystem und ist nicht zuletzt nach den Grundsätzen der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern möglich und sinnvoll, weil normativ geboten - Stichwort Existenzminimum. Zudem kann bei einem rechtlichen Anspruch der Gesetzgeber Bedingungen festlegen und Leistungen definieren, zum Beispiel dass das Konto kostenlos und erschwinglich für jedermann ist, und er kann festlegen, welche Funktionen es beinhalten soll, beispielsweise ein Girokonto mit Dispokreditfunktion statt eines reinen Basiskontos. Zum Schluss möchte ich festhalte: Der Versuch der Bundesregierung, das Thema Girokonto für jedermann ohne Debatte im Bundestag einfach so abzubügeln, wird dem immens wichtigen Anliegen der Idee eines Girokontos für jedermann keineswegs gerecht. Wir erwarten von der Regierung, dass sie das noch einmal vernünftig diskutiert. Auch fordern wir eine Überarbeitung des Antrags der Koalitionsfraktionen; denn dieser bietet keine Lösung, er verschiebt lediglich das Problem. Gegenüber unserem Anliegen, einen Rechtsanspruch für ein Girokonto zu verankern, ist er weit entfernt. Zudem leuchtet Zu Protokoll gegebene Reden es überhaupt nicht ein, weiteres Handeln auf die lange Bank einer möglichen Regelung auf europäischer Ebene zu schieben und Kompetenzen aus der Hand zu geben. Wir hoffen inständig, dass sich die Bundesregierung diesem wichtigen Thema noch einmal mit entsprechender Sensibilität widmen wird, sodass eine Lösung im Interesse der betroffenen Bürgerinnen und Bürger herauskommt.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ohne Konto ist das Leben teuer, unbequem und oft stigmatisierend. Trotz einer anders lautenden Selbstverpflichtung der Kreditwirtschaft machen Hochrechnungen der Europäischen Kommission zufolge über 600 000 Menschen in Deutschland täglich diese Erfahrung. Telefon- und Internetanschluss, die monatliche Überweisung vom Arbeitgeber, der Kindergeldstelle, das Einkaufen im Internet oder der Stromabschlag ohne Bankverbindung ist dies alles entweder unmöglich oder nur durch aufwendige, teure und nicht selten stigmatisierende alternative Wege wie Bareinzahlungen oder Fremdkontonutzung möglich. Dieses Problem wird erfreulicherweise auch von der schwarz-gelben Koalition erkannt. Völlig richtig beschreiben Union und FDP in ihrem Antrag das Konto als Bindeglied zum Wirtschaftskreislauf und als Teil der gewöhnlichen Lebensführung und stellen die Probleme der Kontolosigkeit für die Betroffenen und ihr Umfeld zutreffend dar. Leider folgen aus diesen Feststellungen keine Taten. Der guten und klaren Problemanalyse folgen verschwurbelte Windungen und Drehungen, die eigentlich nur eines sagen: Die Probleme der Kontolosen sind Schwarz-Gelb den Ärger mit den Banken nicht wert. Dabei liegen die volkswirtschaftlichen Kosten der Kontolosigkeit wesentlich höher als die Kosten einer Versorgung mit Konten. Statt einen Gesetzentwurf für ein Recht auf ein Konto auf Guthabenbasis vorzulegen oder wenigstens der Bundesregierung einen entsprechenden Arbeitsauftrag zu erteilen, versteckt sich die Koalition hinter Brüssel und gibt vor, auf eine europäische Regelung zu warten. Das Verhalten der Bundesregierung ist zynisch; denn sie zweifelt in diesem Bereich die gesetzgeberische Kompetenz der EU an. Statt sich der grünen Forderung nach einem Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis anzuschließen, steht die Koalition lediglich europäischen Initiativen „aufgeschlossen gegenüber“ und will die Kontolosen mit einem Recht auf eine Ablehnung ihres Antrages auf Kontoeröffnung in Textform und mit verbesserter Information über die Schlichtungsverfahren der Kreditwirtschaft abspeisen. Auch diese Minimalforderungen werden im Antrag noch eingeschränkt und abgeschwächt - immer im Sinne der Banken. Der vorliegende Antrag zeigt deutlich worin der Unterschied zwischen Opposition und Koalition besteht: Wir wollen, dass alle Menschen am Wirtschaftsleben teilhaben können und dass auch arme Menschen unter fairen Bedingungen Zugang zu Bankgeschäften haben, und zwar mit einem gesetzlichen Anspruch und nicht als Bittsteller und Bittstellerinnen. Und wir wollen gleiche Bedingungen für alle Kreditinstitute. Es ist nicht fair, dass lediglich einige Sparkassen durch die Reglungen in den Landessparkassengesetzen einem Kontrahierungszwangs unterliegen und ihre Wettbewerber alles tun, um sich unliebsame Kunden vom Hals zu halten. Sie stehen aufseiten der Banken und verschanzen sich hinter dem Hinweis auf eine europäische Regelung, die die Bundesregierung nach allem, was man aus Brüssel hört, nach Kräften hintertreibt. Ich hätte nach der ersten Lesung der Oppositionsanträge zum Konto für jedermann mehr von der Union erwartet als diesen lauen und halbgaren Antrag. Wir werden weiter für ein Recht auf ein Basiskonto kämpfen. Für uns ist die Debatte mit dem heutigen Tag nicht vorbei. Ein „Konto für jedermann“ ist aber für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Teilnahme am modernen Wirtschaftsleben im 21. Jahrhundert unverzichtbar. Selbst der Gesetzgeber sieht das so, vergleiche nur § 47 SGB I, wonach der Regelfall die unbare Auszahlung von Geldleistungen ist. Die Zahl der kontolosen Verbraucher ist nach wie vor hoch, circa 670 000 Personen in Deutschland. Lediglich in acht Bundesländern sind die Sparkassen landesgesetzlich verpflichtet, neuen Bankkunden ein Girokonto auf Guthabenbasis zur Verfügung zu stellen. Mit Ausnahme des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands, DSGV, lehnen die Verbände der Kreditwirtschaft unverändert jede verbindliche Regelung von Guthabenkonten ab. Es kann nicht sein, dass den öffentlichen Kreditinstituten die alleinige Last aufgetragen wird. Eine gesetzliche Regelung, Kontrahierungszwang, die dem Verbraucher unter Ausschluss von Unzumutbarkeitsgründen ein subjektives Recht auf ein Girokonto einräumt, ist verfassungsrechtlich zulässig, so die wohl herrschende Meinung. Das Verhalten der Bundesregierung ist zynisch. Auf nationaler Ebene verweist man darauf, eine europäische Gesetzgebung abzuwarten. „Jedenfalls kann aufgrund der sich abzeichnenden europäischen Regelung ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf auf nationaler Ebene gegenwärtig nicht bejaht werden.“ Auf der europäischen Ebene vertritt die Bundesregierung ihre Zweifel an einer Gesetzgebungskompetenz der EU. Das ist sogar in der Sache begründet, denn es ist fraglich, ob ein hinreichender, grenzüberschreitender Kontomarkt für elementare Teilhabe besteht. Jedenfalls wird es kurzfristig keinen Rechtsakt der Kommission geben, sodass die Bundesregierung bzw. der Bundestag gefordert ist, national tätig zu werden. Lediglich sollen Kreditinstitute dann, wenn der Antrag auf Eröffnung eines Basiskontos verweigert wird, gesetzlich verpflichtet werden, die Ablehnung schriftlich zu begründen. Damit wird Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht wirklich geholfen, zwischen Kunde und Kreditwirtschaft gibt es kein Geschäftsverhältnis auf Augenhöhe, Schlichtungsverfahren sind nicht verbindlich. Kontolosigkeit führt zu volkswirtschaftlichen Mehrkosten, die erheblich höher liegen als eine Versorgung Zu Protokoll gegebene Reden mit Konten. Selbst die Bundesagentur für Arbeit empfiehlt eine gesetzliche Regelung. Bei der Übermittlung von Leistungen nach ALG I oder II sowie Kindergeld entstanden im Jahr 2011 durch Kontolosigkeit Entgelte in Höhe von mehr als 10 Millionen Euro. Studien haben gezeigt, dass Kontolosigkeit die Verweildauer in Überschuldungssituationen fördert. Gebühreneingrenzung, Belastung der finanziell Schwächsten durch Gebühren von monatlich über 20 Euro für ein nicht voll ausgestattetes Girokonto, Internetnutzung, dürfen nicht sein.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9798. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache 17/8312 unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9398 mit dem Titel „Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Basiskonto schaffen“. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit ambitionierten Verbrauchsgrenzwerten die Ölabhängigkeit verringern - Drucksache 17/10108 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unser Verkehrsminister Peter Ramsauer rief vor einigen Jahren die Automobilindustrie dazu auf, in die Entwicklung alternativer Antriebe - insbesondere in die Elektroautoentwicklung - zu investieren. Er sagte konkret, ich zitiere: „Wer jetzt nicht investiert, verschläft die Zukunft.“ Und investiert haben wir in den letzten Jahren - damit meine ich, Politik und Industrie haben nicht verschlafen, wir haben und werden auch weiterhin in unsere Zukunft investieren. Von politischer Seite geben wir die Impulse, die Anschübe und Vorgaben und die Industrie tut ihren Teil dazu. Innovation ist in unser aller Sinne, und damit stehen wir weltweit immer noch mit an der Spitze. Bei der Reduktion des Verbrauchs fossiler Energien sowie des Ausstoßes von Treibhausgasemissionen ist der Verkehrssektor nur ein Teil von vielen. Aber auch er muss seinen Beitrag leisten. Im Koalitionsvertrag haben wir uns verpflichtet, eine breit angelegte und technologieoffene Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie zu entwickeln. Diese soll alle alternativen Technologien und Energieträger berücksichtigen. Die Bedeutung dieser Strategie wird sogar noch einmal im Energiekonzept der Bundesregierung von 2010 unterstrichen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist auch schon tätig geworden und hat unter anderem unter Koordination der Deutschen EnergieAgentur GmbH, dena, vier Institute mit einer Voruntersuchung beauftragt: das Deutsche Biomasse Forschungs Zentrum, DBFZ, das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg, ifeu, Ludwig-BölkowSystemtechnik, LBST, sowie die ProgTrans AG. Diesen Vorentwurf, den Sie auch auf den Internetseiten des BMVBS finden, empfehle ich allen als Lektüre, und ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung die darin gemachten Vorschläge sorgfältig prüfen und dann entsprechend angehen wird, wenn sie das nicht sogar schon tut. Auf Basis konkreter energie- und klimapolitischer Ziele sollen Maßnahmen bzw. Steuerungsinstrumente definiert werden. Dabei steht dann eine Vielzahl fiskalischer bzw. förderpolitischer sowie ordnungsrechtlicher Instrumente zur Verfügung. Wir haben uns bisher hauptsächlich auf den Pkw-Verkehr konzentriert, müssen das aber selbstverständlich auch auf die anderen Verkehrsarten ausweiten. Dennoch werden wir das nicht so wie die Grünen machen. Wir sind wirtschaftsfreundlich und verlangen den Unternehmen und den Entwicklern nicht Dinge ab, die technisch und wirtschaftspolitisch unrealistisch sind. Die Koalition verfolgt zudem schon seit langem eine technologiefreundliche und technologieoffene Politik, die für den Fortschritt unerlässlich ist. Aber, wenn man sich viele andere Ihrer Anträge und Gesetzesentwürfe so anschaut, kann man das von Ihnen nicht sagen kann. Im Gegenteil: Sie sind ja geradezu technikfeindlich! Aber zurück zum Thema: Der Straßenverkehr verursacht momentan noch etwa ein Fünftel aller deutschen CO2-Emissionen, und das muss reduziert werden - ganz klar. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung im Deutschen Bundestag geht davon aus, dass Elektromobilität die Zukunftstechnologie in diesem Bereich sein wird. Aber richtig klimafreundlich ist Elektromobilität erst dann, wenn hauptsächlich erneuerbare Energie dafür zum Einsatz kommt. In seinem Positionspapier „Perspektiven für eine nachhaltige Mobilität - Mobilität für die Zukunft sicherstellen“ hat der Beirat im April 2011 darauf hingewiesen, dass Klimawandel, demografischer Wandel und Endlichkeit der fossilen Ressourcen, die weltweite Zunahme des Energiebedarfs sowie die Belastung durch Luftverschmutzung und Lärmbelästigung in den Städten Politik und Wirtschaft vor eine historische Herausforderung stellen. Ziel ist es, dass Mobilität auch in Zukunft für alle zugänglich und bezahlbar ist, wobei wir davon ausgehen können, dass sich dieser Sektor extrem wandeln wird. Die Bundesregierung ist auf dem besten Weg, trotz aller Krisen. Es gilt somit, die bestehenden Antriebe und Entwicklungen weiter zu verbessern und auch Anreize beim Hersteller und Endverbraucher zu schaffen, darin zu investieren. Diese können steuerlicher Art sein, aber auch die Bereitstellung einer guten Infrastruktur. Und zuallererst will ein Autokäufer von guten Produkten überzeugt werden. Es gibt bereits batterieelektrische Fahrzeuge, BEV, wobei die Speichermedien leider noch nicht optimal sind, Plug-in-Hybridfahrzeuge, PHEV, sowie einige wasserstoffbetriebene Brennstoffzellenfahrzeuge, FCEV. Der Fortschritt geht mit raschen Schritten voran. Und in ebensolchen Schritten werden die Produkte immer umweltfreundlicher werden! Der Wettbewerb und eine gewisse Anreizförderung werden das schon machen. Der Verkehr verbraucht in Deutschland rund 30 Prozent der gesamten Endenergie. Seit 1960 hat sich der Energieverbrauch des Verkehrssektors verdreifacht, seit 2000 ist er wieder leicht rückläufig. Wie ich schon sagte, es ist ganz klar, dass auch der Verkehrssektor einen Beitrag zur Energiewende leisten muss. Aus diesem Grund ist es Ziel der Bundesregierung den Endenergieverbrauch im Verkehr gegenüber 2005 um 10 Prozent bis 2020 und um 40 Prozent bis 2050 zu senken und damit maßgeblich zur CO2-Einsparung beizutragen. Das Ziel „Weg vom Öl“ und somit auch weg von einer Abhängigkeit von Energieimporten, kann ich eigentlich nur unterstützen. Das sollte dann aber auch für die anderen Importe gelten, wie zum Beispiel Gas. Ausgehend von der Endlichkeit fossiler Ressourcen wird sich die globale Energieversorgung langfristig auf erneuerbare Energien umstellen. Da der größte Teil davon als Elektrizität bereitstehen wird - Windenergie, Wasserkraft, Photovoltaik, Geothermie und solarthermische Kraftwerke -, wird langfristig auch der Verkehrssektor elektrifiziert werden müssen. Neue Technologien eröffnen uns neue Wege: Und genau diese Wege gehen wir.

Steffen Bilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag der Grünen, die Ölabhängigkeit durch ambitionierte Verbrauchergrenzwerte zu verringern, ist selbst sehr ambitioniert: Durch diese Aufforderung an die Bundesregierung soll nichts weniger als die deutsche Automobilindustrie - im Übrigen gegen deren erklärten Willen - gerettet, Automobilität bezahlbar sowie massiv Umwelt und Klima geschont werden. Um mit dem Lobenswerten anzufangen: Ich begrüße es sehr, dass sich die Grünen über all diese Fragen Gedanken machen. Gerade Themen wie bezahlbare Automobilität und Technologieneutralität sind Grundpfeiler der Verkehrspolitik der Union. Als direkt gewählter Abgeordneter des Bundestagswahlkreises Ludwigsburg freue ich mich natürlich auch darüber, dass ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis so gelobt wird. Bosch ist nicht nur ein erfolgreicher Autozulieferer und eine sehr innovative Firma, sondern auch ein ausgezeichneter Arbeitgeber. Eine kleine Anmerkung dazu kann ich mir aber nicht verkneifen. Die Robert Bosch GmbH aus Gerlingen ist nicht einer der weltweit größten Automotive-Zulieferer, sondern der größte. Nun zu den Inhalten der Aufforderung an die Bundesregierung. Als Christdemokrat vertrete ich die Maxime: So viel Staat wie nötig und so wenig Staat wie möglich. Dieser Antrag scheint mir in die zweite Kategorie zu gehören. Natürlich geht kein Weg daran vorbei, den CO2Ausstoß unserer Autos weiter zu begrenzen. Dafür gibt es auch gute Gründe: Der Verkehrssektor, der etwas weniger als ein Fünftel unserer Emissionen verursacht, muss einen fairen Beitrag zum Klimaschutz erbringen. Wer das unter Umweltgesichtspunkten nicht versteht, dem sei gesagt, dass es auch wirtschaftlich anders nicht geht. Denn Reduktionsleistungen, die der Verkehr nicht erbringt, müssen andere, stärker regulierte Sektoren mit erbringen. Das können wir unserer energieintensiven Industrie nicht antun. Klar ist auch, dass der weit überwiegende Teil der Verkehrsemissionen - 95 Prozent davon - im Straßenverkehr entsteht. Verbrauch und Emissionen unserer Autos müssen also weiter gesenkt werden. Aber die deutsche Autoindustrie lebt ja nicht auf einer Insel der Glückseligen. Sie muss im weltweiten harten Wettbewerb bestehen und hat deshalb ein ureigenes Interesse daran, die Grenzwerte zu senken. Gerade bei steigenden Ölpreisen werden verbrauchsarme Fahrzeuge ein hervorstechendes Verkaufsmerkmal. Ich halte deshalb wenig von Zwangsbeglückungen der Industrie und extremen staatlichen Vorgaben, um technische Innovationen auf Teufel komm raus zu erzwingen. Außerdem sind CO2-Reduktionen beim Auto auch unter Verbraucherschutzgesichtspunkten wichtig. Automobilität muss weiter bezahlbar bleiben; da sind wir uns mit den Grünen ja einig. Sparsamere Fahrzeuge bedeuten eine geringere Spritrechnung für Fahrer. Man muss ja gar nicht die Greenpeace-Rechnung unterstützen, wonach Flottengrenzwert für 2020 von 95 Gramm pro Kilometer durchschnittlichen Autofahrern eine jährliche Ersparnis von über 400 Euro bei den Spritkosten bringt. Aber Anfang des Monats - per Pressemitteilung am 7. Juni - hat sich auch der in dieser Hinsicht völlig unverdächtige ADAC aus Gründen des Verbraucherschutzes für die strikte Beibehaltung des 95-Gramm-Flottenziels ausgesprochen. Aus dem gleichen Grund plädiert der ADAC auch dafür, nach 2020 weitere feste Flottengrenzwerte festzulegen, und dazu wird es sicherlich auch kommen. Aber diese Flottengrenzwerte sollten eben realistisch sein. Sonst nützen sie weder den Verbrauchern - wegen teurerer Fahrzeuge - noch der Industrie und somit erst recht nicht dem Standort Deutschland. Gleich an erster Stelle fordert der Antrag die Herabsetzung des vor gerade drei Jahren beschlossenen Flottenziels von 95 auf Zu Protokoll gegebene Reden 70 Gramm pro Kilometer. Wem 95 Gramm pro Kilometer nichts sagen: Es bedeutet, dass die Autos, die ein Hersteller verkaufen darf, im Durchschnitt nicht über 4 Liter Benzin auf 100 Kilometer verbrauchen dürfen. Jeder kann sich vorstellen, wie dieser Grenzwert vor allem BMW, Audi, Daimler und Porsche, die nun mal auf leistungsfähigere Fahrzeuge spezialisiert sind und Hunderttausenden Leuten Lohn und Brot geben, natürlich schon unter Druck setzt. Auch wir wollen das lange geltende 95-Gramm-Ziel nicht aufweichen. Aber in dieser Situation 70 Gramm zu fordern, also im technischen und wirtschaftlichen Grenzbereich einfach europaweit das 3-Liter-Auto zum Durchschnitt machen zu wollen, das ist für Daimler und Co sicherlich nicht förderlich und nutzt am Ende in Deutschland niemandem. Es sieht so aus, dass die entsprechende EU-Richtlinie 443 aus 2009, die das 95-Gramm-Ziel festlegt, nicht - oder zumindest nicht richtig - gelesen wurde. Dort kann man sehen, dass das „Überprüfungsverfahren“, Review, das jetzt in Brüssel läuft, nach Art. 13 Abs. 5 wörtlich zum Ziel hat, „Modalitäten festzulegen um bis zum Jahr 2020 ein langfristiges Ziel von 95 g CO2/pro Kilometer auf kosteneffiziente Weise zu erreichen“. Die Verordnung schließt die Forderung der Grünen, unter 95 Gramm zu gehen, also von vornherein aus, und das mit gutem Grund. Was dann die Forderung betrifft, 2025 - also nicht einmal eine Fahrzeuggeneration später als 2020 - mit 50 Gramm pro Kilometer das 2-Liter-Auto zum europäischen Durchschnitt machen zu wollen: Es lässt mich an Ihrem Realitätssinn zweifeln. Danach ist Ihr Antrag dann überraschenderweise wieder gnädiger. Zwar wird mit 35 Gramm bis 2040 das 1,5-Liter-Auto gefordert, aber für die Reduktion werden der Industrie dann immerhin großzügige 15 Jahre Zeit gelassen. Eine Sache verkennen die Grünen übrigens völlig bei ihrer Fixierung auf den CO2-Ausstoß am Auspuff: Angesichts der immer niedrigeren Emissionen beim Fahren sind Auspuffgase ein zunehmend schlechterer Indikator für die Umweltfreundlichkeit von Fahrzeugen. Die Emissionen der Vorkette - also in der Fahrzeugherstellung und Energieproduktion - gewinnen immer mehr an Gewicht. Deshalb steigen in der EU die Bedenken, die Fahrzeugemissionen weiterhin nur mittels der Auspuffgase - Stichwort: Tailpipe Emissions - zu berechnen. Die Grenzwerte der Zukunft - sosehr wir sie brauchen und auch aus Verbraucherschutzsicht für notwendig halten - werden nicht mehr nur am Auspuffgas zu messen sein. Jetzt diese Grenzwerte festlegen zu wollen - in völliger Unkenntnis dessen, was der Industrie in 2025 tatsächlich zuzumuten ist, bei dem berechtigten Zweifel, ob Auspuffgase dann überhaupt noch die optimale Berechnungsgrundlage sind -, lehnen wir ab.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Endlichkeit fossiler Brennstoffe und damit einhergehend die Verknappung von Öl sind die Preistreiber an den Tankstellen. Aber nicht allein die Preistreiberei zwingt zum Umdenken - weg vom Öl -; es ist auch der CO2-Ausstoß. Der Straßenverkehr verursacht rund 18 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland. Wenn wir die Versprechungen zum Klimaschutz einhalten und das 2-Grad-Ziel bei der Erderwärmung erreichen wollen, müssen die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2050 gegenüber 2005 um 90 Prozent reduziert werden. Für den deutschen Straßenverkehr heißt das: Die CO2-Emissionen aller zugelassener Pkw, circa 41 Millionen, müssten von 188 Gramm ({0}) auf gut 20 Gramm pro Kilometer gedrosselt werden, entsprechend einem Gesamtflottenverbrauch von lediglich 0,9 Liter Benzin pro 100 Kilometer. Seit 1990 sinken die CO2-Emissionen in Deutschland. Trotz aller technischen Neuerungen ist es aber nicht gelungen, den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid im Straßenverkehr zu verringern. Bei diesen Zahlen ist nachvollziehbar, dass der Ruf nach dem Null-Emissions-Auto lauter wird. Das kann aber nur das Elektrofahrzeug sein, betankt mit regenerativem Strom. Die Weichen für die Elektromobilität wurden noch zu Zeiten der Großen Koalition mit der Verabschiedung des Nationalen Entwicklungsplans Elektromobilität, den Modellregionen und im Anschluss mit den Schaufenstern gestellt. Der Weg zu einer CO2-freien Mobilität ist aber noch ein weiter, und die herkömmlichen Antriebstechnologien können schon jetzt ihren Beitrag dazu leisten durch höhere Einspritzdrücke, Motor-Downsizing, Leichtlaufreifen oder Aerodynamikoptimierung, die zu weniger Verbrauch und damit zu niedrigen CO2-Emissionen führen. Ein Steuerungsinstrument ist die CO2-Begrenzung. Im Jahr 2009 haben sich Europäisches Parlament und Rat gemeinsam mit den europäischen Automobilherstellern auf die Festsetzung von Emissionsnormen für neue Pkw geeinigt. Die Verordnung legt einen Emissionsdurchschnitt von 130 Gramm CO2 pro Kilometer fest. Ab 2020 muss dieser Wert auf 95 Gramm CO2 pro Kilometer gesenkt werden. Jetzt kommen neue Pläne aus Brüssel, zum einen die Empfehlungen der sogenannten CARS-21-Gruppe, einer Runde führender Vertreter der Automobilindustrie und der EU-Länder. Sie legen nahe, zur Unterstützung eines neuen Aufschwungs die Obergrenzen aufzuweichen. Der Bericht sagt deutlich, dass die Reduzierung der CO2Emissionen technisch machbar ist und sogar mit weniger Kosten verbunden, dass man aber andere Faktoren wie verbesserte Fahrausbildung einbeziehen sollte. Nicht nur der ADAC und der VCD lehnen den Vorschlag ab. Heftige Wellen schlägt der neue Richtlinienentwurf von EU-Klimakommissarin Hedegaard, der am 11. Juli offiziell vorgelegt werden soll. Der Entwurf sieht vor, dass die Neuwagenflotte der europäischen Hersteller ab 2015 nicht mehr als 130 Gramm, ab 2020 höchstens 95 Gramm CO2 je Kilometer ausstoßen darf. Der Grenzwert von 95 Gramm ist nicht neu, dass PS-starke und daher schwere Autos mehr CO2 ausstoßen dürfen als kleine Modelle, auch nicht. Neu ist die Frage: Wie viel mehr? Zu Protokoll gegebene Reden In dem Berechnungsverfahren, das Basis für den Grenzwert ist, gibt es eine Gleichung mit dem Faktor a: eine Zahl, die festlegt, in welchem Umfang Autos, die schwerer als das Durchschnittsmodell in der EU sind, mehr Schadstoffe als 95 Gramm ausstoßen dürfen. Wie groß Faktor a künftig sein soll, ist nun die heftig umstrittene Frage. Nach den Vorstellungen von Kommissarin Hedegaard soll der Faktor deutlich verringert werden, von 0,045 auf 0,0296 - ein Vorschlag, der die EU-Kommission, die Mitgliedsländer und die Autobranche spaltet. Die SPD steht dazu, dass der Verkehr seinen Teil zur CO2-Verringerung leisten muss. Grenzwerte alleine reichen aber nicht aus. Wir müssen Anreize setzen, damit die Wirtschaft innovative Lösungen entwickelt und erfolgreich am Markt etabliert. Eine solche Innovationspolitik sichert die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungspotenziale in Deutschland. Sie sollte technologieoffen sein, Wirtschaft und Industrie nicht auf bestimmte Technologien festlegen. Ich teile die Position der Grünen: „Ambitionierte Verbrauchsgrenzwerte bieten ökologische, aber auch handfeste ökonomische Vorteile für die Industrie, denn sie schaffen Planungssicherheit, sie belohnen die innovativsten Hersteller und erschweren den Marktzugang für Hersteller mit weniger effizienten Fahrzeugen. Ein technologieneutraler CO2-Grenzwert ist zudem der beste Anreiz für technologische Vielfalt in der Konkurrenz um die Antriebskonzepte von morgen.“ Ambitionierte Grenzwerte dürfen jedoch nicht strangulieren. Sie führen sonst ins Leere und vor allem zu Wettbewerbsverzerrung. Schon jetzt sind die deutschen Automobilkonzerne unverhältnismäßig stark gefordert, um die gültigen Grenzwerte zu erreichen. Deutschland, Marktführer bei den Premiummarken, wäre, sollte sich der Hedegaard-Plan durchsetzen, im Wettbewerbsnachteil gegenüber der europäischen Konkurrenz. Am Ende könnte das dazu führen, dass sich Konkurrenten aus Italien oder Frankreich die Entwicklung von Elektroautos vorerst sparen, da sie die Grenzwerte auch so erreichen. Ein weiterer Nachteil für die deutsche Automobilindustrie wäre, wenn die Kommission den Bonus für Elektroautos streichen würde, wie es in der Presse berichtet wird. Wer soll dann noch in Forschung und Entwicklung investieren? Was die Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie angeht, ist die Bundesregierung nach wie vor ein sektorspezifisches Energie- und Klimakonzept für die Bereiche Verkehr und Gebäude schuldig. Verkehrsminister Ramsauer hatte im Januar 2010 ein solches Papier angekündigt. Seit über zwei Jahren wird nichts geliefert. Wie im Dritten Bericht der Nationalen Plattform Elektromobilität gefordert, ist es nun an der Bundesregierung, eine Strategie vorzulegen, wie die Markteinführung und Marktdurchdringung von Null-EmissionsFahrzeugen in den nächsten Jahren angestoßen werden kann. Es wird viel Geld für Forschung ausgegeben, aber wenig Engagement entwickelt, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, um das Ziel von 1 Million Elektroautos bis 2020 und eine CO2-freie Mobilität zu erreichen. Ich bin gespannt, wie sich die Bundesregierung zu diesen Punkten im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung positionieren wird.

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Erreichen der EU-Klimaziele ist auch für die christlich-liberale Koalition fester Bestandteil ihrer Politik. Aber wir müssen bei der Erreichung dieser Ziele - wie die Reduzierung des CO2-Ausstoßes im Verkehr mit Augenmaß vorgehen und müssen bei allen Maßnahmen im Hinterkopf haben, dass sie unserem wachsenden Mobilitätsbedürfnis gerecht werden und alle Verkehrsträger gleichermaßen stärkt und nicht einen einseitig belastet. Für uns soll jeder die freie Wahl haben, welchen Verkehrsträger er wann benutzen möchte. Ich vermisse dies immer bei Ihnen, sehr geehrte Kollegen von den Grünen. Mir kommen beinahe die Tränen, wenn ich in Ihrem Antrag lese, dass Sie sich darüber Sorgen machen, dass im Jahr 2020 der Preis für einen Liter Diesel 2,50 Euro betragen könnte. Erinnern Sie sich doch daran, dass Sie bereits 1998 einen Benzinpreis von 5 D-Mark gefordert haben. Ihre Anträge sind immer sehr unausgewogen, manchmal so wie dieser sogar scheinheilig und wirtschaftsfeindlich. Ihr erklärtes Ziel ist Autofahren unattraktiv zu machen. Wir müssen als Wirtschafts- und Mobilitätsstandort die globale Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Deutschland agiert nicht im luftleeren Raum. Ich warne vor einer zwanghaften Verschärfung und Ausweitung von ökologischen Steuerungsinstrumenten. Die bisherigen Lenkungsinstrumente, die an Emissionen und am Energieverbrauch anknüpfen, sind etabliert. Für den Straßenverkehr sind dies die Kfz-Steuer, die Energiesteuer - ehemalige Mineralölsteuer - sowie Herstellernormen für CO2 bei Pkw und leichten Nutzfahrzeugen. Womit wir auch beim konkreten Anliegen ihres Antrags sind! Die Europäische Kommission überarbeitet gerade die EU-Verordnung zu den CO2-Grenzwerten für Pkw. Eine Veröffentlichung ist für den kommenden Monat geplant. Die Überarbeitung der CO2-Grenzwerte war gesetzlich verpflichtend geworden, nachdem eine EUVerordnung im Jahr 2009 festgelegt hatte, dass neue Pkw in der EU ab 2015 im Durchschnitt nicht mehr als 130 Gramm CO2 pro Kilometer ausstoßen dürfen. Die deutsche Automobilindustrie muss sich vor dieser Überarbeitung auch gar nicht fürchten. Denn anders als es Bündnis 90/Die Grünen immer behauptet, sind die deutschen Hersteller weltweit sehr gut aufgestellt. Zum einen wurde der Kraftstoffverbrauch seit 1990 um 40 Prozent gesenkt. Die klassischen Schadstoffemissionen beim Pkw konnten sogar im gleichen Zeitraum um 98 Prozent verringert werden. Das sind sehr gute Nachrichten und zeigen einmal mehr auf, dass die Instrumente funktionieren, ohne dass die Industrie einseitig belastet wird. Beim CO2-Ausstoß lagen die deutschen Zu Protokoll gegebene Reden Hersteller im Februar 2012 mit einem Wert von 142,5 Gramm CO2 pro Kilometer erstmals unter dem Wert ausländischer Hersteller: 143 Gramm CO2 pro Kilometer. Vor fünf Jahren war der durchschnittliche Ausstoß deutscher Modelle noch bei 170 Gramm CO2 pro Kilometer. Sie fordern in ihrem Antrag, dass für 2020 ein Flottengrenzwert von 70 Gramm CO2 pro Kilometer festgelegt werden soll. Die entsprechende EU-Richtlinie 443 von 2009 schreibt aber für das Überprüfungsverfahren nach Art. 13 Abs. 5 wörtlich vor, „Modalitäten festzulegen, um bis zum Jahr 2020 ein langfristiges Ziel von 95 Gramm CO2 pro Kilometer auf kosteneffiziente Weise zu erreichen“. Die Verordnung schließt Ihre Forderung, unter 95 Gramm zu gehen, also von vorneherein aus. Demnach läuft eine zentrale Forderung ihres Antrags ins Leere. Ihrer Forderung nach einer schlüssigen Strategie für Null-Emissionsfahrzeuge ist die Bundesregierung doch bereits nachgekommen. Die Bundesregierung hat mit ihrem Regierungsprogramm zur Elektromobilität einen klaren Fahrplan für Nullemissionsfahrzeuge vorgelegt. Der neuste Fortschrittsbericht der Nationalen Plattform Elektromobilität bestätigt das Engagement der Bundesregierung. Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Sie wollen mit Ihrem Antrag auf Biegen und Brechen die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsstandortes mindern und damit auch Arbeitsplätze vernichten. Wir wollen ein abgestimmtes Maßnahmenpaket, das sowohl die Belange des Klima- und Verbraucherschutzes wie auch die der Industrie berücksichtigt und weiteres Wachstum und damit auch Arbeitsplätze sichert. Wir lehnen daher Ihren Antrag ab.

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der vorliegende Antrag der Grünen macht einige richtige Feststellungen zum Rohstoffverbrauch im Individualverkehr. Da Öl ein begrenzer Rohstoff ist, ist wichtig und richtig, den eingeschlagenen Weg der Verringerung des Kraftstoffverbrauchs konsequent weiterzugehen. Die Festlegung von strengeren CO2-Grenzwerten baut den notwendigen Druck auf die Industrie auf, sparsamere Fahrzeuge zu entwickeln. Denn die Verringerung des CO2-Ausstoßes wird nur über eine Verringerung des verbrannten Treibstoffs erreicht. Die Festlegung von Grenzwerten beim CO2-Ausstoß ist insofern das richtige Mittel der Wahl, da es der Automobilindustrie überlässt, wie sie diese Ziele erreicht. Dadurch entsteht ein Wettbewerb zwischen den Technologien um Wirtschaftlichkeit, Alltagstauglichkeit und, am wichtigsten, um Akzeptanz bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Die Beispiele von Katalysator und Rußpartikelfilter, deren Einführung in Deutschland gesetzlich erzwungen werden musste, zeigen, dass sich in der Automobilindustrie auf Basis von Freiwilligkeit leider wenig bewegt. Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen nach strengeren Grenzwerten und fordert die Bundesregierung auf, diese auch auf der europäischen Ebene zu vertreten, statt Lobbying für die deutschen Autokonzerne zu betreiben. Subventionsforderungen der Industrie in Sachen Elektromobilität weisen wir in diesem Zusammenhang zurück. Eine effektive Strategie zur Verringerung der Ölabhängigkeit muss vielmehr alle Technologiepfade vom Hybridantrieb bis Pflanzenöl berücksichtigen. Gerade bei den nachwachsenden Rohstoffen schlummert ein Potenzial, das noch lange nicht gehoben ist und in den letzten Jahren zunehmend vernachlässigt wurde. Weitere Subventionen oder Steuererleichterungen auf der Verbraucherseite halten wir allerdings sehr wohl für vorstellbar. Gerade für Bezieher kleiner Einkommen ist selbst der Wechsel auf einen kraftstoffsparenden Kleinwagen ein finanzielles Hindernis, das die Verbreitung solcher Fahrzeuge hemmt. Eine Strategie zur Vermeidung von Treibhausemissionen und Ölabhängigkeit, die lediglich auf den motorisierten Individualverkehr abzielt, greift allerdings aus unserer Sicht entschieden zu kurz. Durch Erneuerung des Fahrzeugbestandes im Individualverkehr allein sind die gesteckten Ziele auch kaum zu erreichen. Deshalb muss die Förderung des öffentlichen Personenverkehrs ein integraler Bestandteil aller Bestrebungen zur Senkung des Ausstoßes von Treibhausgasen sein. Ein preislich wie zeitlich attraktives Fernzugangebot kann einen Großteil des Kerosin verschlingenden Inlandsflugverkehrs ersetzen - Frankreich macht es vor. Ein ordentlich mit den Zentren verzahnter und in der Fläche breit aufgestellter Schienenpersonennahverkehr kann noch einen weitaus größeren Anteil des Pendelverkehrs aufnehmen, als es heute der Fall ist. Hier liegen die größten Potenziale zur Einsparung von Rohstoffen und Emissionen, allerdings fehlt dieser Koalition der politische Wille zur Umsetzung.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Fast 40 Jahre nach der ersten Ölkrise hängt Deutsch- land immer noch am Öltropf. Rund ein Drittel der hier- zulande verbrauchten Energie basiert nach wie vor auf dem endlichen und kostbaren Energieträger Erdöl. Ohne Öl bewegt sich in diesem Lande buchstäblich fast nichts - jedenfalls auf unseren Straßen; ohne Öl würde auch jede dritte Wohnung kalt bleiben. Unser Wohlstand basiert unverändert auf einem viel zu hohen Ölkonsum. Dabei ist Deutschland bei der Deckung seines Rohölbe- darfs zu 98 Prozent auf Importe angewiesen. Wir hängen am Öltropf wie der Junkie an der Nadel. Die hohe Importabhängigkeit macht unsere Volks- wirtschaft verwundbar für steigende Rohölpreise. Die jüngste Preisrallye hat die deutschen Ölimporte allein 2011 um 15 Milliarden Euro verteuert. Es gilt der Grundsatz: Ein Preisanstieg von 10 Dollar je Barrel lässt die deutsche Ölrechnung jährlich um 5 Milliarden Euro ansteigen. Zu Protokoll gegebene Reden Wir müssen also aus klima-, energie-, aber auch aus wirtschaftspolitischen Gründen unsere Ölabhängigkeit drastisch reduzieren, um unsere Volkswirtschaft gegen steigende Ölpreise möglichst immun zu machen. 46 Mil- lionen Tonnen und damit fast die Hälfte des deutschen Rohölbedarfs wird als Kraftstoff von den Verbrennungs- motoren unserer Pkw, Lkw und sonstigen Fahrzeuge verbraucht. Wir wissen, dass das Ölfördermaximum, der Peak Oil, bei konventionellem Öl bereits überschritten wurde. Das Ergebnis dieser epochalen Wende werden mittelfristig eskalierende Preise auf dem Rohölmarkt sein; da sollten wir uns von den gerade gesunkenen Preisen an der Tankstelle nicht täuschen lassen. Vor diesem Hintergrund ist unser Antrag für strenge Verbrauchsgrenzwerte zu verstehen. Betrachten wir rückblickend den Einsatz von Umwelt- und Verkehrs- politikern auf diesem Gebiet, dann müssen wir feststel- len, dass am Anfang große Ziele formuliert wurden und am Ende die Autolobby obsiegte und allenfalls lasche Kompromisse herauskamen. Deutschland steht regelmäßig auf der Bremse, wenn in Brüssel strenge Verbrauchsgrenzwerte für Pkw und Kleinlaster auf der Tagesordnung stehen. So war es, als sich in den 90er-Jahren die damalige Umweltministerin Angela Merkel im EU-Umweltministerrat für einen Ziel- wert von 120 Gramm CO2 je Kilometer im Jahr 2005 einsetzte. Doch statt klare und verbindliche Grenzwerte gesetzlich zu verankern, hat man sich damals von der deutschen Automobilindustrie und seiner Vorfeldorgani- sation VDA regelmäßig einlullen lassen und hat sich ge- gen jede Vernunft auf eine windelweiche „freiwillige Selbstverpflichtung“ eingelassen. Doch die deutsche Autoindustrie hat ihre Versprechen von damals gebro- chen und das selbstgesteckte Ziel von durchschnittlich 140 Gramm CO2 je Kilometer bei Neuwagen bis 2008 klar verfehlt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass freiwillige Selbstverpflichtungen klare gesetzliche Regelungen nicht ersetzen können, dann haben die deut- sche Autoindustrie und der VDA dies eindrucksvoll be- stätigt. Bei der Festlegung der Grenzwerte für 2015 hat Frau Merkel dann auf Wunsch des VDA eine Verwässerung der Grenzwerte durch ein „Phasing In“, durch die Aner- kennung zusätzlicher Maßnahmen wie den Einsatz von Biokraftstoffen oder „innovativer Maßnahmen“ durch- gesetzt. Erstaunlicherweise hätte es das alles gar nicht bedurft; denn zum Beispiel Volkswagen hat jetzt selbst angekündigt, die ursprünglich angesetzten 120 Gramm konzernweit zu erreichen. Dieses Trauerspiel darf sich bei der Durchsetzung ambitionierter Verbrauchsgrenzwerte für 2020 nicht wiederholen. Wir müssen Herstellern jetzt klare Grenz- werte vorgeben, und angesichts der technologischen Fortschritte auf dem Gebiet der Verbrauchsreduzierung bin ich optimistisch, dass die Autoindustrie bis 2020 ei- nen Grenzwert von 70 Gramm CO2 je Kilometer errei- chen kann. Übrigens sollten wir nicht nur die Autohersteller im Blick haben; nicht minder gewichtig ist die Entwicklung bei der Zulieferindustrie. So hält Bosch, ein Zulieferer, der bei Spritspartechnik für Ver- brennungsmotoren führend ist, einen Grenzwert von 70 Gramm CO2 je Kilometer in 2025 für umsetzbar. Auch das vom VDA gerne ins Feld geführte „Premi- umsegment“, das deutsche Hersteller angeblich daran hindere, strenge Grenzwerte umzusetzen, dient in Wahr- heit nur als Schutzbehauptung. Nun will ich an dieser Stelle keinesfalls für Dinosaurier des Autozeitalters wie Sport Utility Vehicles die Werbetrommel rühren, aber wenn es schon so ein Modell sein soll, dann gibt es auch hier mittlerweile entsprechend sparsame Fahrzeuge mit Plug-in-Hybriden, womit belegt ist: Auch große Modelle können auf Spritdiät gesetzt werden, wenn die richtige Spartechnologie eingesetzt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak- tionen, ich hoffe natürlich insbesondere auf Ihre Zustim- mung zu unserem Antrag, da er auch ein äußerst wirk- sames Instrument gegen steigende Spritpreise ist. Immer wenn die Preise an den Tankstellen steigen und die Schlagzeilen in bestimmten Blättern immer fetter wer- den, setzt in Ihren Reihen hektischer Aktionismus ein. Dann werden in bester Stammtischmanier schnelle Lösungen gefordert. Es wird der Ruf nach einer „Ben- zinpreisbremse“ laut oder noch besser: Der Staat soll gefälligst gegen die steigenden Rohölpreise mit einer höheren Pendlerpauschale anstinken. - Wir alle hier wissen: Diese Instrumente sind so wirksam wie weiße Salbe. Statt über Preiskosmetik bei den Kraftstoffpreisen zu reden, müssen wir endlich wirksame Instrumente in den Mittelpunkt der Diskussion rücken. An vorderer Stelle stehen schärfere Verbrauchsgrenzwerte für Pkw. Mit Blick auf den von der EU-Kommission für das Jahr 2020 diskutierten neuen CO2-Grenzwert von 95 Gramm je Kilometer brauchen wir jetzt anspruchsvollere Ziele. Unser Antrag weist mit einem Grenzwert von 70 Gramm CO2 je Kilometer den richtigen Weg. Wer dauerhaft und wirksam etwas gegen hohe Sprit- preise machen will, wer die Klimaziele erreichen und die Ölabhängigkeit reduzieren will, der muss jetzt für strenge Verbrauchsgrenzwerte stimmen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine breite Zustimmung für unseren Antrag.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10108 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein- verstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren - Drucksachen 17/8882, 17/9842 - Vizepräsidentin Petra Pau Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Björn Sänger b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Lothar Binding ({1}), Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Regulierungslücken auf den Warenderivatemärkten schließen - Finanzspekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln unterbinden - Drucksache 17/10093 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir die Reden zu Protokoll.

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die existenzielle Bedeutung der ausreichenden Versorgung von Volkswirtschaften mit Rohstoffen aller Art liegt auf der Hand; es handelt sich um eine ganz zentrale Frage für den wirtschaftlichen Erfolg auch unserer an Ressourcen armen, aber hoch entwickelten Volkswirtschaft. Genauso ist es eine elementare Voraussetzung für den Erfolg und Aufstieg von Entwicklungs- und Schwellenländern. Daher hat die Rohstoffversorgung immer auch eine außen- wie entwicklungs- und wirtschaftspolitische Dimension. Aber auch darüber hinaus hat sich der Handel mit Rohstoffen enorm über den Versorgungsaspekt hinweg weiterentwickelt. Die Rohstofftermingeschäfte und Derivatgeschäfte haben sich vervielfacht, wobei diese zum einen selbstverständlich ihre Berechtigung haben zur Absicherung von Preisrisiken. Aber zum anderen müssen wir eine zunehmende Finanzialisierung des Rohstoffmarkts beobachten. Nicht nur die steigende Nachfrage nach Rohstoffen führt marktkonform zu Preissteigerungen; vielmehr treten Finanzakteure aufgrund renditeträchtiger Anlagemöglichkeiten auch zunehmend spekulativ und mit kurzfristiger Perspektive auf den Märkten auf, um von kurzfristigen Preisbewegungen zu profitieren. Insofern sind die zunehmenden Preisschwankungen auch spekulationsbedingt. Die Volumina der Termingeschäfte übersteigen das Bruttosozialprodukt inzwischen um ein Vielfaches; die Steigerungen sind abenteuerlich mit den Folgen für die Schwankungsanfälligkeiten und für die Preisentwicklung auf den betroffenen Rohstoffmärkten. Hier gilt es zu handeln und diese negativen Effekte der Preisvolatilitäten und Marktverwerfungen einzudämmen. Als Finanzpolitiker beschäftigen wir uns heute deshalb abschließend mit einem Antrag, der in der Unionsfraktion auf der Grundlage unserer Diskussionen auf einem Fraktionskongress im Frühjahr entstanden ist und der die europaweite Umsetzung der G-20-Beschlüsse zur effizienten Regulierung der Rohstoffterminmärkte beinhaltet. Was genau ist nun zu tun? Lassen Sie mich dazu nur einige zentrale Punkte unseres Antrags herausgreifen. Zunächst ist das zentrale Moment und der entscheidende Ansatzpunkt die Erhöhung der Transparenz auf den Märkten. Hierzu müssen Rohstoffderivatepositionen gemeldet und veröffentlichet werden, um den Einfluss von Investorengruppen und Handelsstrategien auf die Preisbildung beurteilen zu können. Wir unterstützen die im Rahmen der Überarbeitung der MiFID-Richtlinie auf europäischer Ebene vorgeschlagenen Maßnahmen zu Melderegistern ausdrücklich. Wir benötigen des Weiteren striktere Marktmissbrauchsregeln für Rohstoffderivate. Diese sollen im Rahmen der Überarbeitung der Marktmissbrauchsrichtlinie mit erfasst werden, um so missbräuchlichen Spekulationsgeschäften einen Riegel vorzuschieben. Natürlich müssen diese Regeln auch durchgesetzt werden. Dazu bedarf es einer effektiven Aufsicht mit wirksamen Informations- und Eingriffsrechten, zum Beispiel auch Positionslimits. Es müssen gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer geschaffen und ein effektiver Informationsaustausch zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden sichergestellt werden. All dies kann nur auf europäischer Ebene erfolgen; die Überarbeitung der MiFiD-Richtlinie soll dazu genutzt werden. Nationale Alleingänge helfen hier selbstredend nicht weiter. Natürlich darf man die legitimen Absicherungsinteressen der Realwirtschaft auch nicht aus dem Auge verlieren. Termingeschäfte dürfen nicht per se verteufelt werden. Jedoch gibt es einen klaren Handlungsbedarf, gegen Fehlentwicklungen auf den Märkten vorzugehen. Unser Antrag ist die geeignete Grundlage für die nun folgenden europäischen Maßnahmen. Zur Kritik der Opposition in den Ausschussberatungen, die Elemente unseres Antrags seien unzureichend, lassen Sie mich nur feststellen: Es ist natürlich leicht, immer mehr zu fordern; das ist gewissermaßen auch Aufgabe der Opposition in der parlamentarischen Auseinandersetzung. Ich komme noch einmal ausdrücklich zum Beispiel der strikten Positionslimits. Hier fordern die Kollegen der Sozialdemokraten in ihrem Änderungsantrag auch deutlichere und sehr spezifische Festlegungen. Aber alle Maßnahmen sind in unserem Antrag bereits ausdrücklich behandelt. Wir wollen damit die Bundesregierung in ihren Verhandlungen auf europäischer Ebene zur Überarbeitung der MiFID-Richtlinie unterstützen und ihre Verhandlungsposition stärken, um die auf G-20-Ebene vereinbarten Maßnahmen jetzt auf europäischer Ebene umzusetzen. Dabei ist es im Hinblick auf die bevorstehenden Verhandlungen sicher ratsam, flexible Regelungen zu ermöglichen und die Forderungen deshalb in dieser Form zu fassen. Einen zentralen Bereich dürfen wir auch nicht vergessen, auf den ich bewusst noch einmal den Fokus lenken möchte; das ist der Bereich der Agrarrohstoffe. Es ist unerträglich, dass mit Lebensmitteln spekuliert wird und so Preise für lebensnotwendige Nahrungsmittel auch spekulationsbedingt steigen. Hier treten wir für zusätzliche und strengere Regulierungsmaßnahmen ein und unterstützen damit die parallelen Bemühungen unserer Kollegen aus dem Entwicklungshilfe- und dem Landwirtschaftsbereich. Die Ernährungssicherheit und die Bekämpfung von Spekulation sind für uns alle wichtige Ziele unserer Politik und auch ethische Verpflichtung. In dieser Debatte muss ich natürlich auch noch ein paar Worte zum aktuellen Thema Finanztransaktionsteuer verlieren. Die Opposition hat bei den Beratungen unseres Antrags gefordert, die Regulierung der Rohstoffderivatemärkte unbedingt mit der Einführung der Finanztransaktionsteuer zu verknüpfen. Hierzu möchte ich noch einmal betonen, dass wir dies nicht für sachgerecht halten. Dies sind zwei voneinander unabhängige, wenn auch sich ergänzende Regelungsbereiche. Nichtsdestotrotz setzt sich die Bundesregierung international und jetzt auf europäischer Ebene gegenüber der Kommission dafür ein, mit einer Koalition der Willigen hier zur Einführung einer solchen Steuer zu kommen. Ich will an dieser Stelle also ausdrücklich betonen, dass ich es unabhängig vom Thema dieses Antrags grundsätzlich sehr begrüße, dass Regierung und Opposition in ihrem Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung in dieser Woche zu einer Einigung gekommen sind, die die Einführung der Transaktionsteuer einschließt, und dass wir den für Europa so zentralen Fiskalpakt einvernehmlich verabschieden werden. Die Bundesregierung hat den hierzu vereinbarten Antrag an die Europäische Kommission zur verstärkten Zusammenarbeit zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer inzwischen auf den Weg gebracht. Abschließend stelle ich fest: Mit dem vorliegenden Antrag treten die Koalitionsfraktionen für eine effektive Regulierung der Rohstoffderivatemärkte ein, aber für eine mit Augenmaß, für eine Regulierung, die einerseits Spekulationen eindämmt, aber andererseits auch Raum für notwendige Absicherungsgeschäfte lässt und die der Regierung einen wirksamen Handlungsauftrag für die Verhandlungen auf europäischer Ebene gibt. Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung für den Koalitionsantrag.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Nahrungsmittelkrise 2007/2008 und die Ölpreisschocks 2008 haben uns in erschreckender Weise vor Augen geführt, welche Gefahr von völlig unregulierten Finanzmärkten ausgehen kann. Tatsächlich mussten wir vor vier Jahren feststellen, dass häufig nicht mehr der Produzent oder Käufer den Preis eines Rohstoffs bestimmt, sondern stattdessen irgendein Finanzmarktakteur in New York, London oder Frankfurt. Gut, kann man einwenden: Ohne die Finanzmärkte funktioniert heute nichts mehr. Frau Merkel erinnert uns inzwischen ja fast jeden Tag daran, dass man auch politische Entscheidungen inzwischen nicht mehr ohne das Einverständnis der Märkte treffen kann. Diese Beschränkung auf eine marktkonforme Demokratie darf nicht Wirklichkeit werden. Die Märkte können sich irren, und Herdenverhalten auf den Finanzmärkten führt dazu, dass die Preise für Öl und Grundnahrungsmittel heute extrem fallen, um morgen umso stärker zu steigen. Diese Preisschwankungen haben Konsequenzen, die zerstörerisch wirken. Denn das Problem ist ja nicht, dass wir es auf den Rohstoffmärkten nur mit irgendwelchen Fehlallokationen und einer völlig absurden Preisfindung zu tun haben. Das wirkliche Problem ist, dass die zunehmende Volatilität und die extremen Preisspitzen auf den Rohstoffmärkten gerade für große Teile der Entwicklungsländer katastrophale Folgen haben, die inzwischen sogar zu Hungerrevolten und politischen Unruhen geführt haben. Denn für die rund 2 Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern, die den größten Teil ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel ausgeben müssen, bedeuten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln gravierende Einschränkungen bis hin zu Erkrankung und Tod. Eine weitere Wirkung dieser ungezügelten Märkte, die von den Vertretern der Regierungskoalition ja anscheinend überhaupt nicht ernst genommen wird, ist die Tatsache, dass die negativen Auswirkungen der Finanzspekulationen mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln längst auch bei vielen Industrie- und Nahrungsmittelunternehmen angekommen sind. Schon seit einiger Zeit wenden sich doch unterschiedliche Wirtschaftsvertreter an die Politik, um auf das Problem der Rohstoffspekulation hinzuweisen. Ich zitiere: Bis Ende des Jahres muss die Politik etwas gegen die Spekulation auf den Rohstoffmärkten getan haben. Sonst wird das Geschäft sehr schwierig, und in manchen Ländern werden sich die Menschen keine Nahrungsmittel mehr leisten können. Diese Warnung kommt nicht von Oxfam oder Misereor. Sie kommt von Hubert Weber, Chef des EuropaKaffeegeschäfts beim weltweit zweitgrößten Nahrungsmittelhersteller Kraft Foods. Das war nicht gestern oder vor einigen Wochen. Diese Warnung ist über ein Jahr alt! Es ist ein Trauerspiel, dass sich die Regierungsfraktionen in ihrem Antrag, der ja auch heute abgestimmt werden soll, immer noch nicht zu klaren Regulierungsschritten durchringen konnten, um der Finanzspekulation endlich einen Riegel vorzuschieben. Das Muster, nach welchem sie vorgehen, kennen wir schon. Anstatt sich mit klaren Forderungen deutlich gegen Nahrungsmittelspekulation zu positionieren, verstecken sie sich wieder und wieder hinter akademischen Scheindebatten. Auf der einen Seite sagen sie, dass sie die Spekulation auf den Rohstoffderivatemärkten regulieren wollen. Auf der anderen Seite hören wir immer wieder von ihnen, dass die Finanzspekulation auf den Terminmärkten gar kein Problem darstellen, da Spekulation auf den Warenderivatemärkten überhaupt gar keinen Einfluss auf die Rohstoffpreise habe. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, was gilt denn nun? Was wollen Sie hier beschließen, und für welche konkreten Schritte soll sich die Bundesregierung denn auf der europäischen Ebene einsetzen? Angesichts der bedeutenden Rolle deutscher Finanzinstitute auf den globalen Warenterminmärkten trägt Deutschland eine besondere Verantwortung, sich Zu Protokoll gegebene Reden mit den Folgen exzessiver Spekulation ernsthaft auseinanderzusetzen. Und im Rahmen der Reformen der Richtlinie bzw. Verordnung über Märkte und Finanzinstrumente - MiFID/MiFIR - haben wir jetzt nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, effektive Regeln zur Eindämmung von Spekulation an den Warenterminmärkten einzufordern. Die Reformvorschläge liegen auf dem Tisch und werden derzeit auf der Europäischen Ebene verhandelt. Die Zeit aber drängt, und die Gefahr, dass der jetzige Vorschlag noch einseitig verwässert wird, ist groß. Viele der über 2 000 Änderungsanträge im Europäischen Parlament, insbesondere von Vertretern der Liberalen und Konservativen, lesen sich so, als kämen sie direkt aus der Feder der Finanzlobby, die sich teilweise mit Händen und Füßen gegen eine effektive Regulierung der Warenderivatemärkte, insbesondere gegen Positionslimits, wehrt. Aus Positionslimits, wie sie auch von der G 20 vereinbart wurden, werden da plötzlich schwammige Forderungen nach einem bloßen Positionsmanagement oder nach unklar definierten Positionskontrollen. Wenn wir die Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulation aber wirklich beenden wollen, ist es unerlässlich, dass der gesamte Bundestag hier eine eindeutige Position bezieht. Deswegen haben wir als SPD-Fraktion für die heutige Abstimmung einen eigenen Antrag eingebracht. Lassen Sie mich die wichtigsten Punkte noch einmal aufgreifen. Erstens ist es unerlässlich, dass wir endlich klare und im Voraus festgelegte Positionslimits einführen, um nicht nur geordnete Preisbildungs- und Abrechnungsbedingungen zu garantieren, sondern vor allem auch exzessive Finanzspekulation mit gravierenden Folgen für die soziale und ökonomische Stabilität zu verhindern. Zweitens ist es wichtig, dem begründeten Absicherungsinteresse von Produzenten und Industrieunternehmen Rechnung zu tragen. Dies ist aber nur möglich, wenn man schon bei der Regulierung eindeutig festlegt, was man unter realwirtschaftlichen Absicherungsgeschäften, das heißt unter sogenannten Bona-fide-Gegengeschäften versteht. Nur wenn dies klar gefasst ist, kann man auch sicherstellen, dass Ausnahmeregelungen nicht als Schlupfloch für reine Finanzspekulationen missbraucht werden. Drittens setzen wir uns dafür ein, dass Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulation auch über den Hochfrequenzhandel unterbunden wird. Hierfür ist es wichtig, effektive Mindesthaltefristen einzuführen, um extreme Effekte ohne ökonomischen Vorteil frühzeitig auszuschließen und riskante Ansteckungseffekte auf andere Märkte einzuschränken. Es ist doch völlig klar: Wer in Sekundenbruchteilen virtuelle Weizensäcke mehrfach kauft und verkauft, ist in der Regel nicht an der Ware, sondern vor allem an einem Arbitragegewinn interessiert, der weder dem Bauern noch dem Konsumenten zugutekommt. Viertens ist es ebenso völlig klar, dass die Transparenz - und damit meine ich die verbindlichen Informations- und Meldepflichten - derzeit überhaupt nicht ausreichend ist, um alle Akteure an den Warenderivatemärkten auch effektiv zu regulieren. Vieles passiert noch im Schatten und außerhalb regulierter Börsen. Das muss sich ändern, und daher ist auch wirklich darauf zu achten, dass die Meldepflichten auch von allen Akteuren eingehalten werden, die sich derzeit noch unbehelligt an der Spekulation mit Rohstoffen beteiligen, ohne von irgendeinem Aufseher kontrolliert zu werden. Schließlich wird Finanzspekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln nur dann effektiv unterbunden werden können, wenn die zuständigen Aufseher die richtigen Informationen, Mittel und personelle Ausstattung erhalten. Daher ist es aus unserer Sicht notwendig, auch die zuständige EU-Wertpapierbehörde ESMA entsprechend zu stärken und gegebenenfalls mit notwendigen Eingriffsbefugnissen auszustatten. Denn ohne eine einheitliche Wettbewerbs- und Regulierungssituation wird es nicht gelingen, alle notwendigen Regulierungslücken zu schließen. Dies zeigt sich immer wieder und gilt aus unserer Sicht insbesondere auch für die komplexen Geschäftsmodelle auf den Warenderivatemärkten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, heute sollen wir ja auch über Ihren Antrag abstimmen. Als wir uns in der ersten Lesung vor einigen Monaten damit zum ersten Mal beschäftigt haben, habe ich ja schon gesagt, dass wir Ihren Antrag als völlig unzureichend beurteilen, da die Bundesregierung im Forderungsteil weniger zum Handeln als vielmehr zum Prüfen aufgefordert wird. Das ist deutlich zu wenig und wird unsere Zustimmung deshalb nicht finden. Ich weiß, dass Sie immer wieder betont haben, wie wichtig Ihnen das Thema ist. Und Ihr Antrag trägt ja auch die Überschrift „Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren“. Ich denke, dass das, was wir in unserem Antrag vorgeschlagen haben, den Weg zu einer gezielten Regulierung zeigt. Denn unser Antrag hält sich nicht bei allgemeinen Prüfaufträgen auf, sondern versucht, die von der Verwässerung bedrohten wichtigen Punkte in der entsprechenden EU-Richtlinie im Sinne einer effektiven Regulierung zu verteidigen und zu konkretisieren. Dies ist ja notwendig, da erste Regulierungsschritte bei den Warenderivatemärkten nicht im luftleeren Raum und irgendwann beschlossen werden, sondern wahrscheinlich schon Anfang Juli in Brüssel. Geben Sie sich daher einen Ruck und stimmen Sie unserem Antrag zu, damit die Bundesregierung ein klares Votum des Deutschen Bundestages für die Verhandlungen auf europäischer Ebene und gegen Finanzspekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln hat.

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nahrungsmittel sind als unmittelbare Lebensgrundlage besondere Güter. Es gilt, die elementare Bedeutung der Rohstoffversorgung auch für die deutsche Wirtschaft ausdrücklich hervorzuheben. Rohstoffe sind Grundlage für jede Form des Wirtschaftens und für Wohlstand. Jedoch sind an den weltweiten Rohstoffmärkten seit einigen Jahren erhebliche Preisschwankungen zu verZu Protokoll gegebene Reden zeichnen. In Bezug auf die elementare Bedeutung von Rohstoffen können Preissteigerungen vor allem in den Entwicklungsländern zu gravierenden Einschränkungen führen. Dabei gilt es, die Faktoren für Preisschwankungen richtig zu erkennen und zu bewerten. Preisschwankungen hat es bei Rohstoffen immer schon gegeben, weil Rohstoffmärkte von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden. So wird das Preisniveau wegen der absehbaren Entwicklungen bei den fundamentalen Faktoren ({0}) langfristig steigen. Aber auch Rohstofftermingeschäfte gewinnen zunehmend an Bedeutung und haben Auswirkungen auf die Preisbildung. Dabei stellen sie wichtige Instrumente zur Absicherung von Preisrisiken sowohl für Produzenten als auch für Unternehmen der Realwirtschaft im Rahmen des eigenen Risikomanagements dar. Allerdings birgt diese Art der Absicherung auch bestimmte Risiken und Missbrauchsszenarien, die es einzudämmen gilt. Unsere Aufmerksamkeit muss sich insofern - gemessen an der elementaren Bedeutung von Rohstoffen - auf das Thema Spekulation mit Rohstoffen, Rohstoffderivate und Rohstofftermingeschäfte richten; denn gerade hier gilt es, Risiken und Nutzen in eine angemessene Balance zu bringen. Die Volatilität von Nahrungsmittelpreisen spielt dabei eine große Rolle. Die Möglichkeit der Realwirtschaft, sich gegen Preisrisiken abzusichern, muss bei der Finanzmarktregulierung jedoch auch angemessen berücksichtigt werden. Die Finanzinvestoren, die auf diesen Märkten unterwegs sind, werden benötigt; denn irgendjemand muss das Risiko übernehmen. Unternehmen der Realwirtschaft sind darauf angewiesen, dass ihnen für ihre Absicherungsgeschäfte Gegenparteien in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Daher sind Marktteilnehmer und Investoren, die Risikopositionen eingehen, für einen funktionsfähigen Rohstoffderivatemarkt erforderlich und aus Sicht realwirtschaftlicher Unternehmen grundsätzlich von Vorteil. Allerdings dürfen spekulative Geschäfte mit Rohstoffderivaten nicht das Marktgeschehen dominieren, indem sie beispielsweise zu spekulativ bedingten Preisschwankungen auf den Rohstoffmärkten führen. Ich denke, die Zeit ist reif, dass die Finanzpolitik sich mit diesem Thema beschäftigt und sich für konstruktive Lösungsansätze einsetzt. Insofern unterstütze ich sie und bin von den Maßnahmen überzeugt, für Transparenz auf den Terminmärkten zu sorgen und den Aufsichtsbehörden wirksame Instrumentarien wie sogenannte Position Limits zur Verfügung zu stellen. Allein so kann Marktverwerfungen und marktmissbräuchlichem Verhalten auf den Rohstoffterminmärkten begegnet werden. Um Fehlentwicklungen an den Rohstoffmärkten vorzubeugen, ist eine gezielte und wirksame Regulierung des Rohstoffterminhandels erforderlich. Welche Möglichkeiten stehen uns offen? Wir sprechen uns für die Maßnahmen aus, mit denen wir die Fehlentwicklungen in den Griff bekommen können. Die Transparenz ist dabei ein überaus wichtiges Instrument. Wir müssen wissen, was am Rohstoffmarkt überhaupt passiert. Wir müssen weg von den Vermutungen, auf die wir uns allein berufen können, weil diese Art von Geschäften intransparent abgewickelt werden. Ich fordere eindringlich mehr Transparenz, um eine Wechselwirkung zwischen Rohstofftermin- und Rohstoffkassamärkten besser zu erkennen und einschätzen zu können. Dabei ist es wichtig, international abgestimmte Lösungsansätze zu entwickeln, um die wichtigen internationalen Handelsplätze und Marktakteure zu erreichen. Was brauchen wir dafür? Wir brauchen Meldepflichten und Plattformen, über die diese Geschäfte abgewickelt werden. Wir wollen verstärkte Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden bei allen Märkten, um einen Überblick zu haben, wie sich der Markt entwickelt, und Fehlentwicklungen vorzubeugen und zielgerichtet zu unterbinden. Wir brauchen aber auch strengere Regeln für Rohstoffderivategeschäfte, damit wir nicht in Risikosituationen hineingeraten. Die Einhaltung dieser Regeln muss von einer Aufsicht überwacht werden. Die Aufsicht ist eine wichtige Instanz bei der Gegensteuerung von Missbrauch. Dafür werden der Aufsicht auch Eingriffsintrumentarien verliehen. Die Aufsicht muss eingreifen können. Sie muss sagen können: „Geschäfte in dieser Höhe erlauben wir nicht“ - sogenannte Positionslimits - oder: „Wir untersagen missbräuchliche Geschäfte“ - zum Beispiel Insiderhandel. Allerdings darf kein komplettes Verbot von Rohstoffderivategeschäften ausgesprochen werden. In Anbetracht des wirtschaftlichen Nutzens, im Hinblick auf die Absicherung darf ein komplettes Verbot schlichtweg nicht zu den Instrumentarien der Aufsicht gehören. Darüber hinaus soll keine Finanzialisierung der Rohstoffmärkte stattfinden. Es darf keine Preisregulierung stattfinden. Die Rohstoffmärkte sollen von den natürlichen Preisschwankungen getrieben werden, einen realwirtschaftlichen Hintergrund haben und von den bereits erwähnten natürlichen Faktoren beeinflusst werden. Eine Finanzialisierung kann die Schwankungen verstärken. Und ich lehne es entschieden ab, Preisschwankungen weiter zunehmen zu lassen. Was wir nicht wollen, sind also entsprechende Preisobergrenzen; denn wenn man im Bereich der Landwirtschaft Preisobergrenzen einführt, muss auch so etwas wie ein Mindestpreis eingeführt werden. Einen solchen Eingriff in den Markt wird es für uns nicht geben. Ich glaube, wir sind uns in der Stoßrichtung einig, dass etwas getan werden muss und man verlässliche Lösungen finden muss. Insgesamt begrüßen wir die Maßnahmen von Transparenz und Missbrauchsvorbeugung sehr. Daher bin ich überzeugt, dass wir uns bereits auf einer zufriedenstellenden Zielgeraden befinden. Zu Protokoll gegebene Reden

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Koalition hat heute einen Antrag vorgelegt, der vom Titel her vielversprechend klingt: Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren. Doch von gezielten Maßnahmen keine Spur in Ihrem Antrag. Stattdessen finden sich darin nur vage Formulierungen, die kaum über Aufsichts- und Transparenzforderungen hinausgehen. Sie fordern in Ihrem Antrag keine verbindlichen Positionslimits. Sie wollen Pensionsfonds oder Hedgefonds nicht den Zugang zu Rohstoffderivaten verwehren. Und Sie wollen auch nicht den außerbörslichen Derivatehandel abschaffen. Dabei wäre mit diesen drei gezielten Maßnahmen, die die Linke bereits im Januar 2011 in einem Antrag gefordert hat, viel gewonnen. Wir brauchen dringend Obergrenzen für die Anzahl gehaltener Positionen auf den Rohstoffmärkten. Nur so können die übertrieben hohen Kapitalzuflüsse auf ein gesundes Maß zurückgefahren und die Zahl von Spekulanten ohne wirkliches Interesse an dem tatsächlichen Kauf der Rohstoffe gesenkt werden. Sie behaupten immer wieder, dadurch wäre die Liquidität der Märkte gefährdet, doch das Gegenteil ist der Fall: Die Gefahr der Blasenbildung durch das schädliche Übermaß von Kapital wird gebannt! Brauchen wir Rohstoffderivate als Kapitalanlage? Es heißt wieder, die Kunden wünschen solche Anlagemöglichkeiten. Fragen Sie doch mal die Leute auf der Straße, ob sie ihre Alterssicherung auf Kosten anderer - derer, die ohnehin schon zu den Ärmsten der Welt gehören - anlegen wollen. „Wir wollen eine sichere Anlage“, werden sie Ihnen antworten. Doch nicht mal Sicherheit bieten diese Anlagen, weil es eine Unzahl von Akteuren und Unmengen von Kapital gibt, die die massiven Preisschwankungen ja gerade erst ermöglicht haben. Auch der Handel außerhalb der Börse, der sogenannte OTC-Handel, und der ausschließlich computergesteuerte Hochfrequenzhandel bieten keinerlei Sicherheit, sondern stellen eine Gefahr für das Allgemeinwohl dar, wenn Pensionsfonds und Lebensversicherungen durch rapide Preisverluste mal eben verzockt werden. Warenterminmärkte mögen ja - sofern vernünftig reguliert - zur Preisfindung beitragen, aber der außerbörsliche Handel tut dies nicht. Er ist völlig unkontrolliert und besonders anfällig für Manipulationen. Mittlerweile hat er mindestens das siebenfache Volumen der Warenterminmärkte erreicht. Umso dringlicher ist es, hier aktiv zu werden. Dieser Schattenmarkt sollte schlichtweg abgeschafft werden, denn er übernimmt keine andere Funktion im Marktgeschehen als Preistreiberei. Was in Ihrem Antrag besonders auffällt, ist Ihre sprachliche Verengung auf Rohstoffe. Es wird schlicht ausgeblendet, dass es sich dabei auch konkret um Nahrungsmittel handelt. Worte wie Grundnahrungsmittel oder Agrarrohstoffe scheinen Sie jedoch gezielt zu umschiffen. Nennen Sie doch bitte die Dinge beim Namen! Das Geschäft mit dem Hunger steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses; denn es ist ein entscheidender Unterschied, ob ich auf steigende Weizenpreise wette oder auf Silber. Und besonders strikte Regulierungsmaßnahmen für Agrarrohstoffe fordern ja auch einige Kollegen in der Koalition. Doch in Ihrem Antrag nehmen Sie diese richtungsweisende Unterscheidung kaum vor - einmalig erwähnen Sie auch nur den Begriff Agrarderivate, für die Sie zusätzliche Maßnahmen prüfen wollen. Dabei haben wir das Thema seit geraumer Zeit auf dem Tisch. Es gibt konkrete Vorschläge, wie man Nahrungsmittelspekulationen bekämpfen kann. Deshalb gilt es, aktiv zu werden. Jede Minute, die wir zögern, bedeutet weiter steigende Preise durch Zockerei mit Nahrungsmitteln und damit noch mehr Hungernde auf der Welt. Man gewinnt den Eindruck, bei Ihrem Antrag handelt es sich um einen unverbindlichen Scheinantrag. Sie tun mit Ihrem Antrag nichts dafür, exzessive Spekulation mit Rohstoffen, insbesondere mit Nahrungsmitteln, konkret einzudämmen. Ihre Vorschläge - anders kann man diese zaghaften Forderungen gar nicht bezeichnen - entpuppen sich als ein besonders lahmer Versuch, die Auswüchse exzessiver Spekulation auf den weltweiten Hunger minimal abzumildern - hinter Ihrem selbstgesteckten Ziel einer tatsächlichen Regulierung der Rohstoffmärkte bleiben Sie jedoch meilenweit zurück. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Noch kurz zum SPD-Antrag: Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass Sie von der SPD auf verbindliche Regulierung setzen. Doch ob Agrarrohstoffderivate überhaupt als Kapitalanlage dienen sollten, stellen Sie leider nicht zur Diskussion. Statt dem außerbörslichen Handel sowie dem Hochfrequenzhandel beispielsweise eine generelle Absage zu erteilen, folgen Sie den gegenwärtigen EU-Kommissionsvorschlägen, die mit der Schaffung von organisierten Handelssystemen - den Organized Trading Facilities - eine institutionelle Parallelstruktur zur Börse, wie sie gegenwärtig der OTC-Handel darstellt, erhalten wollen. Das ist der falsche Weg die Zockerei mit Rohstoffen effektiv zu bekämpfen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir Grüne sind der Auffassung, dass an den Warenterminmärkten dringlicher Handlungsbedarf besteht. Viel spricht dafür, dass der Zufluss neuer Investitionsmilliarden in die Märkte für Rohstoffderivate sowohl Preise als auch ihre Schwankungen stark nach oben treibt - und zwar losgelöst von den eigentlichen Angebots- und Nachfragedaten. Die schwersten Auswirkungen zeigen sich in den ärmsten Ländern: Dort haben die Menschen schlicht kein Geld, mehr für Nahrungsmittel zu bezahlen. Auch von stärkeren Preisschwankungen ist der Süden besonders stark betroffen. Investitionsentscheidungen hängen auch dort von Planungssicherheit bei den Preisen ab, die im Gegensatz zum Norden nicht abgesichert werden können. Investitionen in die Landwirtschaft unterbleiben - zulasten der lokalen Bevölkerung und Wertschöpfung. Wir Grüne leiten aus diesem Befund den Leitsatz „Mit Essen spielt man nicht!“ ab, an dem wir unsere Regulierungsvorschläge konsequent ausrichten. Denn angesichts der skizzierten desaströsen Auswirkungen auf Zu Protokoll gegebene Reden den Hunger in der Welt betrachten wir die Regulierung der Agrarmärkte auch und vor allem als ethische Frage. Vor diesem Hintergrund halten wir es für richtig, in diesem Bereich auch mit Verboten für Fonds, Banken und Investoren spekulative Anlagemilliarden aus den entsprechenden Finanzmärkten zu ziehen. Sie von der Koalition haben das abgelehnt. Ihr Antrag beschränkt sich jetzt folgerichtig darauf, für „Agrarderivate zusätzliche und strengere Regulierungsmaßnahmen zu prüfen“. Weitere Prüfungen sind hier fehl am Platz. Erst vor wenigen Tagen hat die Landesbank Baden-Württemberg ihren Ausstieg aus Investitionen in Agrarrohstoffe erklärt, zuvor ist die Deka-Bank aus diesem Segment ausgestiegen. Während Sie hier weiter prüfen wollen, ist man in einigen Banken also ausnahmsweise schon weiter. Und das will viel heißen. Aber nicht nur die Menschen im Süden, auch Industrie, Mittelstand und Verbraucher bei uns sind stark betroffen, zum Beispiel von einem überhöhten Ölpreis. Eine Studie im Auftrag der grünen Bundestagsfraktion kam zum Ergebnis, dass allein für spekulationsgetriebene höhere Ölpreise die Deutschen jährlich mit etwa fünf Milliarden Euro mehr beim Tanken belastet werden. Das zeigt: Eine konsequente Regulierung der Rohstoffmärkte ist im Interesse nahezu aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Und deshalb ist es fahrlässig, dass Sie von der Koalition in Ihrem Antrag getroffene sinnvolle Vereinbarungen der G 20 wieder aufmachen: Die G 20 in Cannes haben im November 2011 strenge Ex-ante-Positionslimits beschlossen. Das ist auch wichtig und sinnvoll: Ohne Positionslimits ist angesichts des großen Investitionshungers der Kapitalsammelstellen, krisenbedingter Verunsicherung, gestiegener Inflationserwartung, niedriger Zinsen und Liquidität im Übermaß der weitere milliardenschwere Zustrom in die neue Anlageklasse Rohstoffe zu erwarten - mit den skizzierten zu befürchtenden Negativauswirkungen auf Preise und Volatilitäten. Erfahrungen in anderen Märkten zeigen auch, dass die Sorge, durch Limits werde Liquidität zu stark beschränkt, unbegründet sind. Liquide Märkte und Limits sind miteinander vereinbar. Umso unverständlicher, dass Sie im Begründungsteil Ihres Antrags „Alternativen zu starren Ex-ante-Limits“ einfordern. Aus dem Europäischen Parlament wissen wir, dass das hier auch kein Versehen war, sondern dass die deutsche Bundesregierung mit dem Aufweichen an dieser Stelle leider ernst meint. Weiter fordern Sie, „den legitimen Absicherungsinteressen der Realwirtschaft angemessen Rechnung zu tragen“. Nach meinem Dafürhalten machen Sie das Einfallstor für gefährliches Lobbying und Verwässerung der Regulierungen, wie sie auf europäischer Ebene derzeit diskutiert werden, gefährlich weit auf: Wer die Debatte zum Beispiel in den USA oder auch bei uns aufmerksam verfolgt hat, weiß, wie gern vermeintliche Interessen der Realwirtschaft vorgeschoben werden, um in Wahrheit allein die Interessen der Finanzwirtschaft zu verteidigen und sinnvolle Regulierungen zu verhindern. Wenn Sie hier nicht klarmachen, was Sie konkret meinen, dann befördern Sie, dass es nachher weicher wird, als eigentlich gedacht, und dann sind die Überschriften und Schlagworte, die Sie hier liefern, nicht viel wert. Der SPD-Antrag, den wir heute ja auch beraten, ist hier klar, greift die laufende Diskussion auf EU-Ebene auf und zeigt, wie mit dem Problem der Ausnahmen umgegangen werden kann, ohne dass wir ein Einfallstor für Umgehung und Gestaltung schaffen. Denn eines ist klar: Ausweichreaktionen müssen durch eine enge und zielgenaue Fassung von Ausnahmen unbedingt verhindert werden, wenn die Preise nicht länger durch opake Märkte verzerrt bleiben und echte und effektive Interventionsmöglichkeiten geschaffen werden sollen. Den Koalitionsantrag werden wir aus den genannten Gründen ablehnen, dem SPD-Antrag stimmen wir zu.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 29 a. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9842, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8882 anzunehmen. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 29 b: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10093. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Roth ({0}), René Röspel, Dr. Sascha Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine Generation frei von Aids/HIV bis 2015 - Anstrengungen verstärken und Zusagen in der Entwicklungspolitik einhalten - Drucksache 17/10096 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir die Reden zu Protokoll.

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

HIV/Aids ist nach wie vor eine furchtbare Geißel der Menschheit. In vielen Teilen der Erde ist die Krankheit geradezu eine Plage biblischen Ausmaßes, um mit „altertümlichen Worten“ eine brandaktuelle Katastrophe - die Pest unserer Zeit - zu beschreiben. 30 Millionen Menschen weltweit sind der Epidemie bereits zum Opfer gefallen. Sabine Weiss ({0}) Schätzungsweise 34 Millionen Menschen sind weltweit mit dem Virus infiziert; ein Großteil von ihnen lebt in Entwicklungsländern. Die Hauptlast der tückischen Krankheit trägt Afrika südlich der Sahara, wo fast 23 Millionen Menschen mit dem HI-Virus leben. Es gibt einzelne Länder in Subsahara-Afrika, in denen mehr als 20 Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 49 Jahren infiziert sind. Diese tückische Krankheit zerstört: Sie zerstört die Leben der Betroffenen. Sie zerstört aber auch häufig die Leben der Familien der Betroffenen. Weltweit haben mehr als 16 Millionen Kinder zwischen 0 und 17 Jahren einen Elternteil oder beide Eltern aufgrund der Immunschwächekrankheit verloren. Kinder können nicht zur Schule gehen, weil sie ihre Angehörigen pflegen oder Geld verdienen müssen, um die sozialen Folgen der Krankheit abzumildern. Sie zerstört in Ländern mit sehr hohen Infektionsraten auch die Entwicklungs- und Wirtschaftschancen, weil von HIV/Aids häufig besonders junge Menschen in ihrem produktivsten Alter betroffen sind. Die Immunschwächekrankheit ist damit ein nicht zu unterschätzendes Armutsrisiko für ganze Gesellschaften. Neben der menschlichen Tragödie, die HIV/ Aids über jede einzelne betroffene Familie bringt, ist sie in vielen Ländern Afrikas südlich der Sahara somit auch eine gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Katastrophe, die die Entwicklung der Länder entscheidend hemmt. Auch wenn es mittlerweile Behandlungsmöglichkeiten und Therapien gibt, die das Leben mit der Immunschwäche erleichtern, so gibt es immer noch keine Heilung. Es ist daher gut und richtig, dass wir uns heute im Plenum des Deutschen Bundestages mit diesem wichtigen Thema beschäftigen. Das Gesicht der Krankheit wird immer weiblicher. Frauen tragen die Hauptlast der Epidemie. Sie pflegen kranke Angehörige, kümmern sich um Aidswaisen und sind zudem auch noch einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt. In Subsahara-Afrika sind mittlerweile mehr als doppelt so viele junge Frauen wie junge Männer in der Altersgruppe von 15 bis 24 Jahren mit HIV infiziert. Für Frauen ist es häufig besonders schwer, sich vor einer Ansteckung zu schützen, denn viele Männer verweigern den Gebrauch von Kondomen. Oft sind Frauen und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt. Viele Frauen können in Bezug auf Verhütung und Sexualität kein selbstbestimmtes Leben führen. Aus dem häufig eingeschränkten Zugang zu Bildung resultiert dann auch noch ein geringes Wissen über sexuell übertragbare Krankheiten und den Schutz vor Ansteckung. Frauen sind besonders gefährdet, sich mit der tückischen Immunschwächekrankheit anzustecken. Bei all unseren Bestrebungen im Kampf gegen HIV/Aids muss daher ein zentrales Augenmerk auf Frauen und Mädchen liegen. In der letzten Sitzungswoche habe ich als Sprecherin des Parlamentarischen Beirates der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung eine Sitzung zum Thema Verhütungsmittel geleitet. Dort wurde eine Auswahl von am Bedarf und an der Situation angepassten Verhütungsmitteln präsentiert - unter anderem auch das Kondom für die Frau. Ich gebe an dieser Stelle zu, dass das Kondom für die Frau bei mir - und nicht nur bei mir - erst einmal ungläubige Blicke hervorgerufen hat, da es doch ein bisschen an eine kleine Plastiktüte erinnert. Aber der Hintergrund ist leider bitter ernst: Männer verweigern sich Kondomen, und daher werden Präventionsmaßnahmen benötigt, die Frauen selbstbestimmt verwenden können und das Frauenkondom ist eine dieser Präventionsmaßnahmen. Das Problem ist bislang jedoch noch, dass Kondome für die Frau um ein Vielfaches teurer sind als Männerkondome und die Akzeptanz noch steigerungswürdig ist. Aber es wird daran gearbeitet und geforscht, die Frauenkondome noch benutzerfreundlicher und mit einem höheren Tragekomfort auszugestalten. Solange es keine Heilung bei und keine Impfstoffe gegen HIV/Aids gibt, sind Prävention und Infektionsvorbeugung die wichtigste Waffe im Kampf gegen die Epidemie. Richtigerweise liegt daher ein Schwerpunkt der deutschen Unterstützung auf der Prävention. Dazu gehören Präventionsmittel, die Frauen selbstbestimmt und oft sogar ohne das Wissen der Männer anwenden können. Es gibt mittlerweile mehrere Produktpartnerschaften, die es sich zum Ziel gemacht haben, Mikrobizide zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Frauen eigenverantwortlich vor einer Ansteckung schützen können. Geforscht wird derzeit an Cremes oder monatlichen Vaginalringen, die den Frauen endlich eine eigene Präventionsmaßnahme im Kampf gegen eine Ansteckung an die Hand geben würde. Zur Prävention gehört natürlich auch die Aufklärung über Sexualität, sexuell übertragbare Krankheiten und den Schutz vor Ansteckung. Nur wer weiß, wie man sich anstecken kann und welche Maßnahmen gegen eine Ansteckung helfen, kann sich schützen. In erfolgreichen Aufklärungsstrategien müssen Männer wie Frauen und Jungen wie Mädchen eingebunden sein. Nur mit der Einbeziehung von Männern und Jungen werden sich beispielsweise die Akzeptanz und der Gebrauch von Kondomen für Männer steigern lassen. Ich brauche an dieser Stelle nicht zu betonen, dass das Männerkondom eines der preisgünstigsten und effektivsten Instrumente gegen eine Ansteckung ist. Erfolgreiche Aufklärung hat individuelle Verhaltensänderungen wie beispielsweise den Gebrauch von Kondomen zur Folge. Aufklärung kann ein sehr hartes Stück Arbeit sein, wenn sie tradierte Verhaltensweisen aufbrechen muss. Fatale Mythen, wie in Afrika, wo es Männer gibt, die glauben, dass Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau sie von ihrer Aidserkrankung heilt, können Aufklärung noch zusätzlich erschweren. Deutschland gehört weltweit zu den größten Gebern im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit HIV/Aids und hat sich verpflichtet, von 2008 bis 2015 mindestens 4 Milliarden Euro für die Bekämpfung von HIV, Malaria, Tuberkulose und für die benötigte Stärkung von Gesundheitssystemen bereitzustellen. Neben bilateralen Auszahlungen zur Bekämpfung von HIV/Aids ist Deutschland mit 200 Millionen Euro jährlich der viertZu Protokoll gegebene Reden Sabine Weiss ({1}) größte Geber des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria; rund die Hälfte der Beiträge an den Globalen Fonds kommen der HIV/Aids-Bekämpfung zugute. Zudem unterstützt Deutschland unter anderem UNAids, die EU und die Weltgesundheitsorganisation bei der HIV/Aids-Bekämpfung. Die International Planned Parenthood Federation, IPPF, die sich für eine Stärkung der sexuellen und reproduktiven Rechte einsetzt, erhielt insgesamt 4,9 Millionen Euro im Jahr 2010. In den letzten Jahren hat es gute Erfolge bei der HIV/ Aids-Bekämpfung gegeben. So ist die Zahl der HIVNeuinfektionen und der mit der Epidemie zusammenhängenden Todesfälle auf dem niedrigsten Stand seit dem Höhepunkt der Aids-Katastrophe. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind aber nach wie vor groß. Bislang hat über die Hälfte der Menschen, die eine Therapie benötigen, keinen Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten. Jedes Jahr infizieren sich immer noch 390 000 Neugeborene durch die Übertragung des HI-Virus der eigenen Mutter. Durch die mütterliche Einnahme von antiretroviralen Medikamenten kann das Übertragungsrisiko auf bis zu 2 Prozent gesenkt werden. Jeden Tag infizieren sich mehr als 7 000 Menschen neu, und täglich sterben fast 5 000 Menschen an der Erkrankung. Es ist also noch ein sehr weiter Weg bis zur Vision „Null HIV-Neuinfektionen, null Diskriminierung und null Todesfälle durch Aids“ der Vereinten Nation. Aber auch bis zu Erreichung des Universal Access, der bis 2015 weltweit allen von HIV betroffenen Menschen universellen Zugang zu Prävention, Behandlung, Versorgung und Pflege ermöglichen soll, gibt es noch einige Herausforderungen anzugehen. Ich bin in der Regel keine Freundin der brachialen Ausdrücke, aber diese heimtückische Krankheit gehört ausgerottet. Es wäre ein Segen für die Menschheit, wenn es irgendwann gelingen könnte, dass dieser furchtbare Virus vom Angesicht der Erde verschwindet und die Vision der Vereinten Nationen „Null Ansteckung, null Diskriminierung und null Todesfälle“ wahr würde. Auch wenn der Weg lang ist, so können wir dieser Vision durch gute und erfolgreiche Prävention und Aufklärung, eine für alle zugängliche Behandlung und Versorgung der Betroffenen sowie durch Forschung jedes Jahr vielleicht ein bisschen näher kommen. Deutschland stellt sich dabei seiner Verantwortung im Kampf gegen die HIV/Aids-Epidemie und wird dies auch weiterhin tun.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Weltfrauentag in diesem Jahr haben sich viele von Ihnen, wie ich auch, für die Kampagne „In9monaten.de“ gemeinsam fotografieren lassen, um ihre Zustimmung, ihre Solidarität und ihre Unterstützung für die Ziele dieser Kampagne zu zeigen, und zwar Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen. Wir, die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, haben mit diesem Antrag die Aufgabe übernommen, von der Bundesregierung die notwendigen Schritte zu fordern, mit denen sie ihre eingegangenen Verpflichtungen im Kampf gegen Aids und für eine Generation frei von Aids erfüllen kann und muss. Ich bin daher besonders froh, dass auch Frau Pfeiffer, Frau Daub und die Vorsitzende des AWZ, Frau Wöhrl, ihre Unterstützung für die Kampagne und die Ziele demonstriert haben; denn so können wir uns der Unterstützung dieses Antrags auch durch die Koalition sicher sein. Die erste Generation frei von Aids wird es Ihnen danken. Eine Unterstützung durch das ganze Haus wäre auch ein starkes Signal an die im nächsten Monat in Washington stattfindende 19. Welt-Aids-Konferenz, dass sich Deutschland seiner Verantwortung bewusst und bereit zum Handeln ist. Es gibt Erfolge zu verzeichnen. Sowohl die Zahl der HIV-Neuinfektionen als auch die mit Aids zusammenhängenden Todesfälle sind auf das niedrigste Niveau seit dem Höhepunkt der Epidemie gefallen. Den Angaben von UNAIDS zufolge gab es im Jahr 2010 zwischen 2,4 und 2,9 Millionen Neuinfizierte, wovon circa 390 000 Kinder waren. Etwa 1,8 Millionen Menschen starben an Aids bzw. an damit in Zusammenhang stehenden Krankheiten. 90 Prozent der Kinder werden durch die Mutter mit dem HI-Virus infiziert, etwa während der Geburt oder später über die Muttermilch. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Viele Mütter wissen nichts von ihrer Erkrankung, das heißt, sie wurden nicht getestet. Oder sie wurden nicht über das notwendige Verhalten aufgeklärt. Häufig hat auch keine Behandlung stattgefunden, weil es kein ausreichendes Gesundheitssystem oder keinen Zugang zu den notwendigen Medikamenten gab. Wird die Mutter nicht behandelt, steckt sich eins von drei Kindern an. 2009 lebten weltweit 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren mit HIV/Aids, 90 Prozent davon in den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. International hatte man sich zur Schaffung eines „Universal Access“, also eines universellen Zugangs zu Prävention, Behandlung, Betreuung und Unterstützung für alle Menschen bis 2010 verpflichtet. Trotz herausragender Anstrengungen wie der Arbeit des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria wurde dieses Ziel nicht erreicht, auch weil Minister Niebel dem GFATM immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft. Deshalb ist es lebensnotwendig, die Anstrengungen zu verstärken. Bis zum Jahr 2010 sollten auch mindestens 80 Prozent aller HIV-infizierten Schwangeren Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Erreicht wurde dieses Ziel nur in vier Ländern: Botswana, Namibia, Swasiland und Südafrika. Trotz einiger Fortschritte in den anderen Ländern erhielten 2009 nur 53 Prozent aller HIV-positiven Frauen Medikamente und medizinische Versorgung. Zu Protokoll gegebene Reden Karin Roth ({0}) Nur wenn Frauen auch wissen, ob sie infiziert sind, kann eine Virusübertragung auf das Kind verhindert werden. 2009 hatten jedoch nur 26 Prozent aller Schwangeren in den Entwicklungsländern Zugang zu HIV-Tests. Wir müssen die Mutter-Kind-Übertragung stoppen, wenn wir eine erste Generation frei von Aids ermöglichen wollen. Zu diesem Ziel hat sich auch die Bundesregierung im Jahr 2011 auf der UN-Generalversammlung erneut verpflichtet, dann aber, wie bei allen internationalen Verpflichtungen in Bezug auf Gesundheit in den Entwicklungsländern, den vollmundigen Ankündigungen keine Taten folgen lassen. Eine neuere Studie in Südafrika zeigte, dass die Sterblichkeitsrate von Säuglingen, die innerhalb der ersten zwölf Wochen behandelt werden, um 75 Prozent gesenkt werden konnte. Abgesehen von der Tatsache, dass nur 28 Prozent der Kinder eine notwendige Therapie bekommen, gibt es viele Medikamente nicht in kinderfreundlichen Darreichungsformen oder aber sie müssen gekühlt werden, was in armen Ländern ein Problem darstellt. Dazu ist weitere Forschung zwingend notwendig. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dem Ziel einer aidsfreien Generation zu verpflichten und künftige Programme an diesem Ziel konsequent auszurichten, ohne den übrigen Einsatz gegen HIV/Aids zu schmälern. Eine aidsfreie Generation muss zum Leitbild des Handelns des Entwicklungsministeriums werden. Die Bundesregierung muss der Verhinderung von Neuinfektionen bei Kindern und der Zukunftsvision einer aidsfreien Generation einen zentralen Stellenwert in ihrer neuen HIV/Aids-Strategie einräumen. Ebenso muss diese Vision in der „Strategie Globale Gesundheit“, die zurzeit von der Bundesregierung erarbeitet wird, als vorrangiges Ziel verankert werden. Alle Anstrengungen zur Umsetzung der Zielvorgaben für die Bekämpfung von HIV, die im Rahmen der Vereinten Nationen für das Jahr 2015 vereinbart wurden, müssen verstärkt werden. Hierfür ist eine Anhebung der Mittel für die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens notwendig. Um dieses Ziel zu erreichen, fordern wir die Bundesregierung auf, die ODA-anrechenbaren Mittel jährlich um etwa 1 Milliarde Euro zu steigern. Es ist möglich, einen großen Schritt im Kampf gegen HIV/Aids zu machen, aber das vorhandene Zeitfenster ist nicht allzu groß. Deswegen muss jetzt gehandelt werden. Von Kofi Annan stammt der Ausspruch: „Am Ende wird die Geschichte uns nicht an dem, was wir sagen, messen, sondern an dem, was wir tun.“ Was zu tun ist, steht in dem Antrag der SPD, dessen Inhalte auch von den Koalitionären unterstützt werden, wie unser gemeinsames Foto vom Frauentag in diesem Jahr zeigt.

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit muss ich heute ohne konziliante Vorrede mit deutlicher Kritik an Ihrem Antrag beginnen: Es ist nicht ungewöhnlich, dass vor der parlamentarischen Sommerpause des Bundestages schnell noch Anträge mit heißer Nadel gestrickt werden. Dass diese jedoch handwerklich und inhaltlich ungenügend vorbereitet werden, ist gerade bei diesem wichtigen Thema mehr als bedauerlich. Dass man als Opposition die Bundesregierung um des Kritisierens willen kritisiert - bitte; geschenkt. Aber es ist eine Frechheit, der Bundesregierung und dem BMZ zu unterstellen, internationale Verpflichtungen gerade in Bezug auf die Gesundheit in Entwicklungsländern nicht einzuhalten. Wenn ich mir die Bilanz der Entwicklungszusammenarbeit unter Dirk Niebel anschaue, dann muss ich sagen: Wir haben in den drei Jahren nachweislich mehr erreicht, als die Vorgängerregierungen mit Ministerin Wieczorek-Zeul, die viele Jahre mehr Zeit hatten; elf Jahre, um genau zu sein! Die Muskoka-Initiative ist ein Beispiel aus unserer Erfolgsbilanz. Deutschland stellt zusätzlich 400 Millionen Euro im Zeitraum von 2011 bis 2015 zur Verbesserung der Kinder- und Müttergesundheit zur Verfügung. Das BMZ räumt den Zielen der Initiative hohe politische Priorität ein, bezieht Akteure aus Zivilgesellschaft und Privatsektor als wichtige Partner aktiv ein und legt in der Umsetzung besonderen Wert auf die Bereiche Aufklärung, Bildung und Ausbildung von Gesundheitspersonal, das im Bereich Geburtshilfe tätig ist. In Kürze wird das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Positionspapier „Deutschlands Beitrag zur nachhaltigen Eindämmung von HIV“ vorstellen. Spätestens nach der Lektüre dieses Dokuments werden Sie sehen, dass die meisten Ihrer Forderungen im Antrag überflüssig, da bereits erfüllt sind. Dass Ihre Forderung nach der Beteiligung der Zivilgesellschaft vor Ort teilweise bereits erfüllt und in allen Ländern der deutschen EZ angestrebt ist, habe ich am Beispiel Muskoka bereits angerissen. Die Aufforderung, die Gesundheitsministerien der Partnerländer in der Umsetzung der WHO-Empfehlungen zu unterstützen, ist oftmals sogar übererfüllt: Bilaterale Programme arbeiten auf allen Ebenen der Partnerländer, von der Regierungsberatung bis hin zur Umsetzung auf Gemeindeebene - Mehrebenenansatz -, und fördern die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen und des Privatsektors in die nationale HIVPolitik. Durch eine geeignete Kombination von Interventionen und Instrumenten fördern sie die HIV-Prävention, verknüpfen diese mit anderen Gesundheitsdienstleistungen - zum Beispiel im Bereich reproduktiver und sexueller Gesundheit - und stärken Gesundheitssysteme für einen verbesserten Zugang zu Diagnostik, Tests, Medikamenten und zu qualitätsgesicherter Behandlung. Zu Protokoll gegebene Reden Der Aufruf an die Bundesregierung, sich für stark HIV-gefährdete Gruppen stärker einzusetzen, ist bereits vor Ihrem Antrag gehört worden. Zwei Beispiele: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt zum Beispiel in Nepal die Implementierung und Ausweitung des nationalen Methadonprogramms komplementär zu einem Zuschuss des GFATM, der die laufenden Kosten des Substitutionsprogramms trägt. Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen werden im Bereich der Substitutionsbehandlung beraten, die Ausbildung von Personal für die medizinische und psychosoziale Betreuung unterstützt und ein Überweisungsund Referenzsystem zu relevanten Gesundheitsdiensten und anderen Unterstützungsleistungen eingeführt. In der Ukraine werden Männer, die Sex mit Männern haben, stigmatisiert und diskriminiert. Dies behindert risikominimierendes Verhalten sowie den Zugang zu gesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen. Mit deutscher Unterstützung vermitteln Initiativgruppen von Männern, die Sex mit Männern haben, differenziertes Wissen über schwules Leben, schwule Identität und Safer Sex sowie Techniken zum Umgang mit Diskriminierung und Stigmatisierung. Darüber hinaus wurden Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter darin geschult, tabuisierte Themen wie Sexualität und Safer Sex ohne Vorbehalte anzusprechen und zu diskutieren. Wenig überraschend wird einmal mehr die Forderung nach der Verdopplung der Mittel für den Global Fund auf 400 Millionen Euro pro Jahr formuliert. Wir unterstützen die Arbeit des Global Fund, das wissen Sie. Frau Roth, wenn ich Ihre heutige Pressemitteilung zum Global Fund lese, muss ich reagieren! Zu keiner Zeit hatte Minister Niebel eine Blockadehaltung gegenüber dem Global Fund! Die einzige Blockadehaltung, die der Minister dankenswerterweise hat, ist die Blockadehaltung gegenüber Korruption. Nachdem alle Vorwürfe aufgeklärt und die richtigen Wege beschritten wurden, sind selbstverständlich die zugesagten Mittel an den GFATM ausgezahlt worden. Und jetzt die Forderung nach einer Verdopplung der Mittel! - Erlauben Sie mir den Hinweis, dass alleine das Gesetz verbietet, dass die Bundesregierung eine Gelddruckmaschine im Keller hat. Aber auch inhaltlich positionieren wir Liberale uns hier anders. Wie Sie wissen, streben wir den weiteren Aufwuchs an bilateralen Mitteln auch im Gesundheitsbereich der Entwicklungszusammenarbeit an. Darüber hinaus muss ich Ihren Blick auch über den Tellerrand des Einzelplans 23 hinaus auf die Chancen einer nachhaltigen Effizienzverbesserung der EZ im Gesundheitsbereich lenken: Die Bundesregierung beteiligt sich aktiv am Reformprozess der WHO und dem Bemühen, die Entwicklungspolitik gerade im Bereich der Gesundheit stringenter und effizienter zu machen und durch die Abschaffung von Doppel- oder gar Mehrfachstrukturen die vorhandenen Mittel noch zielführender zum Einsatz zu bringen. In einem globalen Themengebiet erwarte ich auch eine globale Betrachtung der Herausforderungen und Lösungsansätze. Diese Erwartung erfüllt das BMZ. Deutschland wird sich auch in Zukunft an internationalen Initiativen zur besseren Abstimmung und Verzahnung der Maßnahmen im Gesundheitsbereich beteiligen und zum Beispiel als Gründungsmitglied die International Health Partnership, IHP+, aktiv voranbringen. Liebe Kollegen und Kolleginnen der SPD, einige Ihrer Forderungen könnten wir mit bestem Wissen und Gewissen mittragen, die Ausweitung der Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften im Rahmen des Programms „Vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten“ des BMBF zum Beispiel. Frau Roth, hier sind wir ja sogar fraktionsübergreifend im Parlamentarischen Beirat der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung aktiv gewesen und haben uns bei Ministerin Schavan eben hierfür eingesetzt. Auch in dem Ansinnen, die Verknüpfung von Maßnahmen unter dem Stichwort Sexuelle und Reproduktive Gesundheit und Rechte, SRGR, und HIV-Prävention politisch, konzeptionell und finanziell in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu stärken und Kinder und Jugendliche stärker zu berücksichtigen, finden Sie in uns Gleichgesinnte. Umso betrüblicher finde ich, dass der eine oder andere richtige Ansatz in Ihrer Tour d’Horizon durch - gefühlt - alle Forderungen der letzten drei Jahre komplett untergeht. Ich verstehe das Instrument des Antrags an die Bundesregierung als Möglichkeit, Verbesserungen zu fordern, Vorschläge zu machen und ja, auch sachlich zu kritisieren. Ihr Antrag ist jedoch eine wunderbare Beweisführung für die Korrektheit der Annahme, dass Qualität über Quantität geht. Das Anforderungsprofil für einen Antrag heißt doch nicht „wie viele Forderungen schaffe ich“! Von sage und schreibe 30 ({0}) Forderungen gehen zehn am Thema völlig vorbei, viele andere sind bereits erfüllt. Die wenigen, die wir mittragen könnten, werden durch die Masse der unnötigen Forderungen nahezu erschlagen. Werte Kollegen, lassen Sie uns bitte in diesem so elementaren Bereich der Entwicklungszusammenarbeit wieder zu Sachlichkeit, Fachwissen und konstruktivem parlamentarischen Dialog zurückkehren.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Titel des vorliegenden Antrags besteht aus zwei Teilen. „Für eine Generation frei von Aids/HIV bis 2015 Anstrengungen verstärken“, diesem Teil kann ich mich voll und ganz anschließen. Den zweiten Teil „Zusagen in der Entwicklungspolitik einhalten“ finde ich als Titel eines SPD-Antrags schon ziemlich scheinheilig. Denn die SPD hat in Regierungsverantwortung bewiesen, dass sie ihre Versprechen ebenso wie die jetzige Regierungskoalition bricht. Die Grünen sind da auch nicht besser. Auch unter Rot-Grün gab es keine substanziellen Schritte Richtung 0,7-Prozent-Ziel. Das sind leider die Fakten. Zu Protokoll gegebene Reden Wir haben 2010 einen Bundestagsantrag mit dem Titel „Steigerung der Entwicklungshilfequote auf 0,7 Prozent gesetzlich festlegen“ eingebracht. Die Koalitionsfraktionen haben ihn genauso abgelehnt wie die SPD. Die Grünen haben sich enthalten. Wären sie unserer Initiative damals gefolgt und hätten einer gesetzlichen verpflichtenden jährlichen Steigerung der Entwicklungshilfequote nach britischem Vorbild zugestimmt, würde Deutschland tatsächlich bis 2015 sein 40 Jahre altes Versprechen an die Entwicklungsländer endlich einhalten. Deshalb ist es heuchlerisch, wenn Rot-Grün und Schwarz-Gelb sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Sie alle haben es verbockt. Das Ziel, bis 2015 eine Generation frei von Aids/HIV zu machen, unterstützen wir selbstverständlich uneingeschränkt. Auch die im Antrag vorgenommene Analyse der aktuellen Situation bezüglich der globalen Verbreitung von Aids/HIV ist zutreffend und umfassend. Hier und da merkt man allerdings ein wenig, dass er noch auf den letzten Drücker vor der Sommerpause zusammengeschustert wurde. Wie eine aidsfreie Generation „Leitbild und Grundelement für die weltweite Verwirklichung … wirtschaftlichen Wohlstands“ werden soll, erschließt sich mir jedenfalls auch nach mehrfachem Lesen nicht. Zahlreiche der erhobenen Forderungen sind richtig und wichtig: Der deutsche Beitrag an den Globalen Fonds muss als eigenständiger Haushaltstitel auf 400 Millionen Euro verdoppelt werden. Bilaterale Handelsabkommen der Europäischen Union dürfen den Zugang zu erschwinglichen Generikamedikamenten für Entwicklungs- und Schwellenländer nicht erschweren oder gar verhindern. Die Linke fordert diese Punkte ebenfalls, schon seit langem. So haben wir nahezu wortgleich in unserem Antrag „Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen - Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermöglichen“ bereits 2011 die Bundesregierung aufgefordert, öffentlich finanzierte Forschungsinstitute in Deutschland zu verpflichten, eigene Patente auf HIV/Aids-Produkte dem von UNITAID initiierten Patentpool MPP zur Verfügung zu stellen. Es ist prima, wenn die SPD dieses Anliegen nun auch unterstützt. Als dringlichste Aufgabe müssen wir die Übertragung von Aids/HIV von der Mutter zum Kind bekämpfen; das steht außer Frage. Doch ich möchte an dieser Stelle auch auf einen weiteren wichtigen Bereich aufmerksam machen: Wie die Globale Kommission für Drogenpolitik der Vereinten Nationen vor wenigen Tagen mitteilte, ist Drogengebrauch heute weltweit für etwa ein Drittel aller Aidsneuinfektionen verantwortlich - ausgenommen im südlichen Afrika. Die „Zeit“ fasst das heute folgendermaßen zusammen: „Je härter die Drogenpolitik, desto höher das Aidsrisiko. … Weniger Verbote und Strafen könnten weltweit die HIV-Neuinfektionen senken.“ In der Schweiz ist die Zahl der HIV-Infektionen unter Drogenabhängigen von 68 Prozent auf 5 Prozent gesunken, seit es saubere Spritzen und Heroin auf Rezept vom Staat gibt. Wenn dieser Erfolg sich bei dem Drittel der weltweiten Neuinfektionen durch Drogenkonsum wiederholen ließe, wäre das ein gewaltiger Fortschritt. Deshalb mein Appell an SPD, CDU/CSU und FDP: Erkennen Sie endlich die Zeichen der Zeit und revidieren Sie endlich ihr dogmatisches Verhältnis zur Drogenpolitik! Auch für die Aids/HIV-Bekämpfung weltweit wäre dies ein wichtiges positives Signal.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die internationale Staatengemeinschaft hat sich vor gut einem Jahr beim hochrangigen Treffen der Vereinten Nationen zu HIV/Aids in New York verpflichtet, bis 2015 die Mutter-Kind-Übertragungen zu stoppen und den Anteil der sexuellen Übertragungen zu halbieren. Auch Deutschland steht hier in der Verantwortung, seinen Beitrag zu leisten, insbesondere finanziell. Denn wir müssen heute investieren, um die Zukunft von morgen gestalten zu können! Das ursprüngliche Ziel der Weltgemeinschaft, bis 2010 universellen Zugang zu Prävention, Therapie, Betreuung und Unterstützung zu ermöglichen, wurde bereits weit verfehlt und hat damit Millionen von Menschen das Leben gekostet. Gerade beim Thema der Mutter-Kind-Übertragung ist der Zugang zu antiretroviralen Medikamenten, HIVTests und Präventionsmitteln entscheidend. 90 Prozent aller HIV-infizierten Kinder infizieren sich über ihre Mutter mit dem Virus, meist bei der Geburt oder über die Muttermilch. Durch die Gabe von antiretroviralen Medikamenten an die HIV-positiven Mütter könnte die Zahl der jährlich 400 000 Neugeborenen, die sich mit HIV/ Aids infizieren, drastisch gesenkt werden. UNAIDS, das gemeinsame Programm der Vereinten Nationen zu HIV/ Aids, dokumentiert allerdings, dass nicht einmal die Hälfte der therapiebedürftigen HIV-Infizierten entsprechende Medikamente erhält. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mehrheit der Abgeordneten hier im Deutschen Bundestag und die gesamte grüne Bundestagsfraktion haben sich zum 0,7Prozent-Ziel bekannt und den entwicklungspolitischen Konsens unterschrieben. Mit einigen von Ihnen habe ich gemeinsam Transparente vor dem Deutschen Bundestag hochgehalten und mit Unterschriften die Kampagne des Aktionsbündnisses gegen Aids „Bis 2015 - Babys ohne HIV!“ offiziell unterstützt. Diese Bekenntnisse müssen sich endlich auch für die Betroffenen in konkrete Politik umsetzen. Der Antrag der SPD-Fraktion enthält viele wichtige Forderungen, die wir nicht nur gerne mittragen wollen, sondern auch selbst in unseren Anträgen schon gefordert haben. Allerdings haben wir Grünen im Rahmen der Haushaltsberatungen entsprechend dem entwicklungspolitischen Konsens, das 0,7-Prozent-Ziel umzusetzen, klare finanzielle Aussagen zu einzelnen Titeln getroffen, die sich nicht ganz mit den Forderungen des uns vorliegenden Antrags decken. Auch an anderen Stellen des Antrags sehen wir noch Diskussionsbedarf. So ist beispielsweise die Forderung, HIV/Aids prioritär im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung zu berücksichtigen, angesichts eines Forschungsdefizits im Zu Protokoll gegebene Reden Bereich der vernachlässigten Krankheiten einschließlich Tuberkulose und Malaria und insbesondere der vernachlässigten Aspekte von HIV/Aids noch einmal zu überprüfen. Auch in Bezug auf die Lizenzpolitik stellt sich in Deutschland bis dato nicht die Frage, ob öffentlich finanzierte Forschungsinstitute komplette Patente auf ein fertig entwickeltes HIV/Aids-Medikament oder Produkt besitzen. Forschungsinstitute geben vielmehr Patenteigentum an Erfindungen weiter, beispielsweise aus der Grundlagenforschung, die noch kein fertiges Produkt darstellen. Die Forderungen im Sinne einer gerechten Lizenzpolitik müssen also weitergehen, um es zu ermöglichen, Medikamente, Impfstoffe und andere medizinische Produkte, die auf öffentlich finanzierter Forschungsförderung beruhen, für Menschen in ärmeren Ländern leichter zugänglich zu machen. Dazu kann beispielsweise die Aufnahme sozialer Kriterien im Sinne einer gerechten Lizenzpolitik bei Verträgen - zum Beispiel zwischen Hochschulen oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Unternehmen - einen wichtigen Beitrag leisten. Ich begrüße es aber sehr, dass meine Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion das Thema HIV/Aids und insbesondere auch die Mutter-Kind-Übertragung auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gesetzt haben. Im Rahmen der Beratungen in den Ausschüssen werden wir noch einmal zu den einzelnen Punkten diskutieren und damit auch diesem wichtigen Thema mehr Raum geben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldstrategie 2020 Nachhaltige Waldbewirtschaftung - eine gesellschaftliche Chance und Herausforderung - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Harald Ebner, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldstrategie 2020 Nachhaltige Waldbewirtschaftung - eine gesellschaftliche Chance und Herausforderung - Drucksachen 17/7292, 17/7667, 17/8915 Berichterstattung: Abgeordnete Cajus Caesar Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm Wir nehmen auch hier die Reden zu Protokoll.

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Waldstrategie 2020 ist von großer Bedeutung. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat mit dieser Waldstrategie etwas Zukunftsweisendes auf den Weg gebracht. Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass schon im Vorfeld der Formulierung möglichst viele gesellschaftliche Gruppen mit einbezogen wurden. Wir, die Union, wollen den Dialog mit den Menschen. Wir wollen Waldbesitzer, Förster, Holzindustrie, Naturschutzverbände, Heimatvereine und vor allem die vor Ort arbeitenden und lebenden Menschen mit einbeziehen. Dies ist uns mit der Waldstrategie 2020 in besonderer Weise gelungen. Durch die hervorragende Arbeit unserer Waldbesitzer und Förster genießen wir weltweit Vorbildfunktion. Unser Wald bietet uns drei Säulen der Nachhaltigkeit: einen umwelt- und klimafreundlichen Rohstoff Holz, Sozial- und Erholungsfunktionen für die Menschen sowie einen Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten. 2013 ist das Jahr, in dem die nachhaltige deutsche Forstwirtschaft ihr 300-jähriges Jubiläum feiert. Hans Carl von Carlowitz aus Freiberg, Sachsen, prägte bereits 1730 den Begriff der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit kennzeichnet danach die Bewirtschaftungsweise eines Waldes. Entscheidend ist, dass immer nur so viel Holz entnommen wird, wie nachwachsen kann. Der Ursprung des Nachhaltigkeitsbegriffs ist demnach auf den Bereich Forst zurückzuführen. Nirgends wird Nachhaltigkeit so gut begreifbar wie in unserem Wald. Vor 300 Jahren waren es die Forstleute, die diesen Begriff zu einem entwickelten, der heute in aller Munde ist. Modern wie nie. Die naturnahe nachhaltige Bewirtschaftung unseres Waldes bedeutet zudem Wertschöpfung vor Ort im ländlichen Raum, bedeutet für viele Einkommen. So haben wir in der Forst- und Holzindustrie mehr Arbeitsplätze zu verzeichnen als etwa in der Automobilindustrie. Wir als Union erkennen diese Bedeutung. Mit der Waldstrategie 2020 setzen wir die Rahmenbedingungen für Wertschöpfung vor Ort im ländlichen Raum, für einen umweltfreundlichen und nachhaltig erzeugten Rohstoff Holz, der sich stark wachsender Bedeutung erfreut. Weitere Flächenstilllegungen im Wald lehnen wir seitens der Union ab. Es wäre geradezu fahrlässig, auf diesen umweltfreundlich erzeugten Rohstoff zu verzichten, dafür aber Importe in Kauf zunehmen, die oftmals aus nicht nachhaltiger Bewirtschaftung stammen. Sie wissen, dass jedes Jahr etwa 11 Millionen Hektar Urwald zerstört werden. Dies entspricht der gesamten Waldfläche Deutschlands. Davon wird nur etwa die Hälfte wieder aufgeforstet. Diese Zerstörung wollen wir seitens der Union nicht und werden europaweit und international alles daransetzen, die Waldzerstörung einzudämmen und nur noch Holz aus nachhaltiger Bewirtschaftung zu verwenden. Wir wollen Wald mit nachhaltiger Bewirtschaftung erhalten. Waldzerstörung lehnen wir ab. Der Bundesverband der Säge- und Holzindustrie, BSHD, weist zu Recht darauf hin, dass die Experten einen Fehlbedarf an Holzbiomasse in 2030 von jährlich 30 Millionen Kubikmetern in Deutschland und rund 250 Millionen Kubikmetern in der EU prognostizieren. Darauf reagiert die Waldstrategie zu Recht: Wir wollen keine weiteren Nutzungsverzichte, sondern naturnahe Bewirtschaftung. Wir wollen eine ausgewogene Baumartenwahl in Mischbeständen und keine Totalverteufelung des Nadelholzes. Fachkundige wissen genau, dass wir mehr Mischbestände mit einem ausreichenden Nadelholzanteil teilweise als Zeitmischung benötigen. So haben Douglasie und Küstentanne etwa den drei- bis vierfachen Zuwachs einer Eiche. Zu verurteilen ist ausdrücklich die Vorgehensweise von Greenpeace, die in einem bayerischen Wald 600 Nadelbaumsetzlinge der Baumart Douglasie geklaut und durch Buchen ersetzt haben. Diese illegale Aktion zeigt, dass Ideologien, Sachbeschädigung und Diebstahl nicht die richtige Vorgehensweise sind. Wir wollen standortgerechten Anbau, wir wollen eine Vielfalt an Baumarten, dabei aber auch dem Nadelholz den Anteil einräumen, den wir auch vor dem Hintergrund des Rohstoffbedarfs, unter Berücksichtigung der Bewältigung der Energiewende, benötigen. Ich darf in diesem Zusammenhang aber auch ausdrücklich darauf verweisen, dass die Zusammenarbeit mit dem Naturschutzbund, NABU, der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, SDW, dem Bund Deutscher Forstleute, BDF, der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzer, AGDW, dem Deutschen Forstwirtschaftsrat, DFR, der Arbeitsgemeinschaft der Rohholzverbraucher, AGR, und dem Bund für Heimat und Umwelt, BHU, sowie den Waldbauern von hoher Qualität geprägt war. Dafür sagen wir seitens der Union Danke schön. An dieser Stelle ist es Zeit, auch ganz persönlichen Dank an die eingebundenen Vereine, Verbände und Personen zu richten. Der Rohstoff Holz erfreut sich wachsender Bedeutung. Dies kann uns nur recht sein, weil er umweltfreundlich erzeugt wird. Er bietet im Vergleich zu seinen Mitbewerbern große Vorteile, da er Wirtschaftlichkeit und Umweltfreundlichkeit in hervorragender Art und Weise miteinander verbindet. Wir wollen importunabhängiger werden, Ressourcen schonen und auf die Kosten für Bürger und Wirtschaft achten. Dies sind die Ziele der Waldstrategie 2020. Holz ist eine der zukunftsträchtigsten und wertvollsten Ressourcen auf dem Weltmarkt. Wir wollen auch die Energiewende schaffen. Holz ist klimafreundlich und ein gigantischer CO2-Speicher. Jedes Holzprodukt bindet das klimaschädliche CO2 in Form von Kohlenstoff über seine gesamte Lebensdauer. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass energieintensive Baustoffe wie Stahl oder Beton durch den nachwachsenden Rohstoff Holz ersetzt werden können, was zusätzlich eine CO2-Reduktion bedeutet. „Ein Einschlagstopp bringt keine Vorteile, nicht einmal für die Natur“, erklärt Dr. Denny Ohnesorge, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Rohholzverbraucher e. V., AGR. Viele Flächen schaffen durch eine naturnahe Bewirtschaftung sogar eine höhere Artenvielfalt als stillgelegte Flächen. So besagt eine Untersuchung der Universität Potsdam, dass der Nationalpark Hainich/Thüringer Wald 30 Pflanzenarten aufzeigte, im angrenzenden bewirtschafteten Wald aber 40 Pflanzenarten zu verzeichnen waren. Für die durchschnittliche Anzahl der Käferarten ergab eine vergleichbare Untersuchung 145 Arten im Nationalpark Hainich/Thüringer Wald rund 170 Arten im Wirtschaftswald. Wichtig ist uns ein Miteinander von Wald und Wild. So gilt es, die Wildbestände so zu regulieren, dass eine natürliche Verjüngung aller Hauptbaumarten ohne Zaun möglich wird. Die Abschlusspläne sind flexibler zu gestalten und sollen mehr auf die Örtlichkeit ausgerichtet werden, um Verbissschäden zu vermeiden. Wir, die Union, setzen auf eine vorausschauende Bewirtschaftung. Viele Menschen in unseren Regionen leben vom Holz. Hier wollen wir die politischen Rahmenbedingungen richtig setzen, damit es zu einer Vernetzung von ökonomischen und ökologischen Zielen kommt. Der Einsatz qualifizierten Forstfachpersonals trägt im Wesentlichen dazu bei, diese Ziele zu erreichen. Das haben auch die Experten aus den verschiedensten Bereichen bei der Anhörung bestätigt. Mit der Waldstrategie 2020 sind wir auf dem richtigen Weg.

Petra Crone (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wer die Nachrichten der letzten Wochen gezielt nach Wald- und Jagdthemen durchforstet, wird schnell fündig; die Themenpalette ist breit. Fotofallen für Wildtiere im Wald werden zum datenschutzrechtlichen Problem. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilt, dass Grundstückseigentümer nicht verpflichtet werden dürfen, die Jagd auf eigenem Grund und Boden zu dulden und verurteilt Deutschland zu einer Entschädigungszahlung an den Kläger. Nennenswerte Fortschritte zum Schutz der Wälder weltweit bleiben beim Rio+20-Gipfel aus, so das einhellige Echo der Kommentatoren. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, SRU, fordert in seinem aktuellen Umweltgutachten die Einführung ökologischer Mindeststandards für die gesamte Waldfläche Deutschlands. Philipp zu Guttenberg, Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände, attestiert dem Beratungsgremium der Bundesregierung daraufhin fehlende fachliche Substanz und vermisst den „neutralen forstwirtschaftlichen Sachverstand“. Die deutsche Holzwirtschaft vermeldet, dass ihr das Holz ausgeht, weil immer mehr Deutsche zu Hause den Rohstoff verZu Protokoll gegebene Reden brennen. Die Bayerischen Staatsforsten lenken nach monatelangen Greenpeace-Protesten ein und stoppen den Einschlag in sehr alte Buchen- und Eichenwaldbestände. Der Streit um den Nationalpark im Teutoburger Wald in meinem Heimatland NRW geht unvermindert und mit verhärteten Fronten weiter. Ich werde an dieser Stelle aufhören, obwohl ich noch viele weitere Waldthemen benennen könnte. Die „Waldstrategie 2020“ trägt keine Schuld an den benannten Schlagzeilen und Problemen. Schlimmer wiegt aber: Sie trägt auch nichts zu deren Lösung bei! Die Bundesregierung hat mit der „Waldstrategie 2020“ ein mutloses Konzept für die Waldpolitik vorgelegt. In den drei Jahren Erarbeitungszeit blieb der Ehrgeiz auf der Strecke, nach Lösungen für ein ganzheitliches Waldkonzept zu suchen. Den ökonomischen, ökologischen und sozialen Funktionen von Wald wird die Waldstrategie der Bundesregierung nicht gerecht. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP verstecken sich hinter wachsweichen Formulierungen und lassen damit unsere Wälder im Stich. Auf der Höhe der Zeit zu sein, bedeutet bei den Koalitionsfraktionen vor allem Stillstand, zum Beispiel bei den Naturschutzanforderungen für die Waldbewirtschaftung im Bundeswaldgesetz. Diese stammen mehrheitlich immer noch aus dem Jahr 1975. Änderungsbedarf für die Herausforderungen in 2012? Fehlanzeige. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich weiterhin für eine ordnungsgemäße, naturnahe und nachhaltige Bewirtschaftungsweise ein, die endlich im Bundeswaldgesetz definiert werden muss. Unsere Vorschläge hierzu sind im Antrag „Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künftige Generationen“ aus 2010 gemacht. Außerdem müssen endlich ausreichend Flächen für eine natürliche Entwicklung der Wälder ausgewiesen werden. 5 Prozent der Waldfläche in Deutschland sind nicht zu viel; denn: Nur wer zu Hause seine Schularbeiten erledigt hat, kann international für den Erhalt der Urwälder eintreten. Die Anhörung Anfang Februar hat die enormen Potenziale des Themas Wald aufgezeigt. Vor allem die Ausführungen unseres benannten Sachverständigen Dr. Georg Winkel zum Diskussionsprozess bei forstlichen Entscheidungen haben mich beeindruckt. Der Wissenschaftlicher vom Institut für Forst- und Umweltpolitik in Freiburg sprach über die Formen direkter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen und erwähnte Möglichkeiten der einfachen Eingaberechte der Bürger für Handeln im öffentlichen Wald, wie sie in den USA üblich sind. Das Produkt Holz ist sehr begehrt. Vor allem der Energieholzmarkt nimmt stetig zu. Viel zu wenig wird aber auf die Verwendung von langlebigen Holzprodukten hingearbeitet. So ist zum Beispiel die Holzbauweise in Ländern wie den USA, Österreich und Schweden sehr viel weiter verbreitet als in Deutschland. Wir wollen mehr Holz verarbeiten als verheizen. Energieintensive Bauträger müssen deshalb auf den Subventionsprüfstand. Ein modernes Bundeswaldgesetz darf nicht den aktuellen Stand des Wissens über ökologische und ökonomische Zusammenhänge im Wald und in der Forstwirtschaft ignorieren. Es muss die Erkenntnisse aus diesem Gebiet aufgreifen und ihnen einen allgemeingültigen rechtlichen Rahmen geben. Es sollte Antworten finden auch auf Probleme durch Naturnutzer im Wald, die in den vergangenen Jahren in Erscheinung getreten sind wie beispielsweise Motocrosser, Geocacher oder Slackliner. Die SPD-Bundestagsfraktion steht zu einer zeitgemäßen und naturnahen Jagd, die sich an ökologischen Prinzipien ausrichtet und den Erfordernissen des Tierschutzes gerecht wird. Bleihaltige Munition soll bundesweit nicht mehr erlaubt sein. Auch in punkto Jagd sind die Ausführungen in der „Waldstrategie 2020“ mehr als dürftig. Dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmen wir zu.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die am letzten Wochenende zu Ende gegangene Konferenz Rio+20 hat auf globaler Ebene herausgearbeitet, dass Klimawandel, der Erhalt der Biodiversität, die Stärkung der Nachhaltigkeit der Wirtschaft uns vor große Herausforderungen stellt. Zur Umsetzung dieser Ziele haben wir uns auch in Deutschland verpflichtet. Die Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030 legt technisch-wissenschaftliche Grundlagen für die Vision einer biobasierten Wirtschaft. Es gilt, neue Technologien zu entwickeln, um die vorhandenen Ressourcen effizienter zu nutzen, unsere natürlichen Lebensräume zu bewahren und verstärkt nachwachsende Rohstoffe in allen Bereichen einzusetzen. Auch wenn diese Ziele in ihrer Bedeutung gleichrangig sind, so bergen die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung ein erhebliches Konfliktpotenzial. Holz ist der bedeutendste nachwachsende Rohstoff in Deutschland. Unsere Wälder sind Standort der Holzproduktion, sie dienen gleichzeitig der Erholung und sind Lebensraum für viele heimische Tiere und Pflanzen. Die Waldstrategie 2020 der Bundesregierung, über die wir heute erneut diskutieren, hat sich die Aufgabe gestellt, die Ansprüche an den Wald, die im Naturschutz, in der Produktion von Holz und in der Naherholung liegen, in Einklang zu bringen. Sie ist eine gute Basis für die künftige Forstpolitik. Darin waren sich die Sachverständigen aus Forstverwaltung und Forstwirtschaft, Naturschutz und Wissenschaft bei einer Anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Bundestages weitgehend einig. Die Waldstrategie benennt die Anforderungen an den Wald sowie die widerstreitenden Interessen und baut dadurch Brücken zwischen den verschiedenen Interessengruppen. Bereits seit langer Zeit sind sich in Deutschland Waldbesitzer, Politik und Gesellschaft bewusst, dass nur eine ausgewogene, nachhaltige Nutzung unserer Wälder ihren Bestand und ihre Nutzbarkeit langfristig sichert. Zu Protokoll gegebene Reden Der Begriff Nachhaltigkeit ist von der Forstwirtschaft geprägt worden. Nachhaltigkeit bedeutet die gleichwertige Berücksichtigung der Anliegen von Ökonomie, Ökologie und Sozialverträglichkeit. Diesen Anliegen müssen wir im Rahmen der Waldstrategie gerecht werden. Das Cluster „Forst und Holz“ hat in Deutschland eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Es ist Grundlage für mehr als eine Million Arbeitsplätze, die erheblich zur Stärkung der Wirtschaftskraft ländlicher Räume beitragen. Dies müssen wir bei all unseren Entscheidungen im Blick haben. Die Waldstrategie ist eine eigenständige Strategie der Bundesregierung. Sie steht gleichberechtigt neben der Biodiversitätsstrategie. Sie weist Wege, die wirtschaftliche Nutzung der Wälder in der Holzproduktion mit den Zielen des Naturschutzes zu vereinbaren. Nach aktuellen Schätzungen sind bereits heute rund zwei Drittel der deutschen Waldfläche mindestens einer Schutzgebietskategorie nach Bundesnaturschutzgesetz, den Landeswaldgesetzen, der europäischen FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie, Natura 2000, zugeordnet. Der Artenrückgang im Wald ist nach den Angaben des BfN geringer als in allen anderen Biotopen, bewirtschaftete Wälder haben einen größeren Artenreichtum als nicht bewirtschaftete Wälder. Die letzte Bundeswaldinventur hat der multifunktionalen Forstwirtschaft ein gutes Zeugnis ausgestellt. Gleichwohl gilt: Hotspots der Artenvielfalt müssen geschützt werden, aber großflächiger Nutzungsverzicht ist nicht sinnvoll. Flächenstilllegungen stehen den Anstrengungen entgegen, den Beitrag der Forst- und Holzwirtschaft zum Klimaschutz zu sichern und weiter zu steigern. Pläne der baden-württembergischen Landesregierung, großflächig Wälder des Nordschwarzwaldes aus der Nutzung zu nehmen, schwächen die Wirtschaftskraft im ländlichen Raum, ohne besondere Naturschutzleistungen zu erbringen. Dies ist nicht nachhaltig. Der Rohstoff Holz hat hervorragende Werkstoffeigenschaften, die seinen Einsatz in sehr vielen Wirtschaftsbereichen ermöglicht. Daher wird der Bedarf am Rohstoff Holz weiter steigen. Holz aus heimischer Produktion erfüllt alle Kriterien einer nachhaltigen und umweltverträglichen Produktion. Die Forstwirtschaft steht vor der Herausforderung, Ziele des Naturschutzes bei der Baumartenwahl unter den sich ändernden klimatischen Bedingungen mit den Nutzungsanforderungen in Einklang zu bringen. Bereits jetzt zeichnet sich ein erheblicher Mangel am derzeit überwiegend genutzten Nadelholz ab. Der im Hinblick auf die natürliche Vegetation betriebene Umbau unserer Wälder verstärkt diesen Trend dramatisch. 70 Prozent der jungen Waldbestände sind Laubwälder. Es ist somit absehbar, dass heimischen Sägewerken und damit der Bauwirtschaft das Nadelrohholz ausgehen wird. Die Möglichkeiten, Laubholz als Alternative zum Nadelholz zu verwenden, sind aufgrund der unterschiedlichen Werkstoffeigenschaften stark eingeschränkt. Daher muss vermehrt darauf geachtet werden, dass der Anteil an Nadelholz in Mischwäldern erhalten und vergrößert wird. Die Waldstrategie legt zu Recht das Hauptaugenmerk darauf, langfristig eine Eigenversorgung mit den erforderlichen Holzarten sicherzustellen, ohne die Ziele der Nationalen Biodiversitätsstrategie aus den Augen zu verlieren. Die Fichte, die in vielen Regionen heimisch und der „Brotbaum“ der Forstwirtschaft ist, darf daher nicht verteufelt werden. Im Hinblick auf die Erfordernisse der Nutzung sind im Mischwald in einem für die Biodiversität annehmbaren Rahmen Anteile nichtheimischer, standortgerechter Baumarten wie Douglasie oder Robinie zu akzeptieren. Der zehnprozentige Anteil von Douglasien im FSC-zertifizierten Freiburger Stadtwald könnte als Vorbild dienen. Nichtheimische Baumarten können von der heimischen Insektenfauna zumeist nicht genutzt werden und sind deshalb in ihrem Anteil zu begrenzen. Dem Schutz der ökologisch bedeutenden Buchenwälder wird bereits durch die Bonner Thesen zum „Naturerbe Buchenwälder“ in ausreichendem Maße Rechnung getragen. Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Waldstrategie 2020, die von der Bundesregierung vorgelegt wurde und von vielen Verbänden mitgetragen und mitgestaltet worden ist, eine gute Strategie für die Zukunft unserer Wälder haben. Deutschland ist eines der wenigen Länder weltweit, in denen neue Wälder entstehen. Wir müssen die aufgeworfenen Problemfelder in Verbindung mit den Ergebnissen der Bundeswaldinventur im nächsten Jahr in konkrete Forschungsziele und Handlungsanweisungen umsetzen. Alternative Nutzungsmöglichkeiten für Laubholz, Klimaanpassung und die Koexistenz von Waldnutzung und Biotopschutz sind dafür drei wichtige Beispiele. Die Arbeit an der Zukunft unserer Wälder hat erst begonnen.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Über die Waldstrategie 2020 ist viel gesprochen worden. Lange mussten wir auf sie warten. Ihre Veröffentlichung wurde mehrfach verschoben. Beinahe war das UN-Jahr des Waldes 2011 vorbei, da legte die Bundesregierung ihre Waldstrategie dann doch vor. Am 8. Februar 2012 hat sich der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in einer Anhörung intensiv mit der Waldstrategie befasst. Von den Sachverständigen gab es Kritik und Lob für die Vorlage, wobei sich das Hauptlob darauf beschränkte, dass sie überhaupt vorgelegt wurde. Aber viel entscheidender ist, wie die Bundesregierung nun handelt. Wie das geschriebene Wort zur konkreten Tat wird. Die Linksfraktion hatte bereits im Juli 2011 ihre Anforderungen an eine zukunftsfähige und nachhaltige Waldstrategie veröffentlicht, nachzulesen auf meiner Homepage. Aus Sicht der Bundestagsfraktion Die Linke war die Erarbeitung einer Waldstrategie 2020 überfällig. Mit dem Ergebnis waren wir nur bedingt einverstanden. Es wäre notwendig gewesen, die vielfältigen Anforderungen an den Wald und die damit verbundenen Zielkonflikte in einem konzeptionellen Papier zu benennen. Mehrheitsfähige Lösungswege hätten aufgezeigt werden müssen. Wer ist für die Umsetzung dieser Strategien verZu Protokoll gegebene Reden antwortlich? Wie können sie finanziert werden? Die Linksfraktion fordert klare Antworten auf diese Fragen. In der Analyse schneidet das Papier aus dem Hause Aigner noch ganz gut ab. Bei der Suche nach Lösungen bleibt es jedoch hinter den Notwendigkeiten deutlich zurück. Gerne verweist die Bundesregierung auf die Verantwortung von Dritten, anstatt selbst aktiv zu werden. Fazit: Ministerin Aigner hat ein nett zu lesendes, aber harmloses Papier vorgelegt. Das ist angesichts der großen Herausforderungen allerdings zu wenig. Dabei hatte sich die Bundesregierung für die Erarbeitung einer wirklich guten Waldstrategie genug Zeit genommen. In den Jahren 2008 bis 2011 wurden auf den Symposien fast alle relevanten Themen angesprochen, die nach Meinung der Linken in einer solchen Strategie behandelt werden müssen. Dazu gehören beispielsweise Holzmobilisierung, Biodiversität, Forschung, Jagd, energetische und stoffliche Holznutzung, Klimawandel, Erholungsfunktion des Waldes, Totholz, Stilllegungsflächen als ökologische Refugien etc. Gerade die Frage, wie viel Holz zur Produktion von Wärme und Strom genutzt werden kann, ohne den Wald zu übernutzen, ist sehr spannend und hätte im Kontext der gerade laufenden 3. Bundeswaldinventur auch strategisch beantwortet werden müssen. Denn das Thema ist konfliktreich - das bestätigte der Sachverständigenrat für Umweltfragen aktuell in seinem Umweltgutachten: „Es besteht die Gefahr, dass sich hierbei die Ansprüche der kommerziellen Holzproduktion auf Kosten anderer Ziele durchsetzen.“ Die Linke diskutiert diese und weitere Fragen gerade im Rahmen unseres Projekts „PLAN B“ als Projekt für einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft intensiv mit vielen Interessierten, die einen grünen Kapitalismus auch nicht für die richtige Antwort auf die regionalen und globalen Probleme halten. Ich lade alle dazu ein, sich unter www.plan-b-mitmachen.de an diesen spannenden Debatten zu beteiligen. Doch zurück zur Waldstrategie 2020: Die jetzt vorliegende Regierungsvision des Zukunftswalds hat einige kritische Diskussionen der vergangenen Jahre aufgegriffen. Sie benennt Handlungsfelder und macht den einen oder anderen Lösungsvorschlag - einige Fragen zur Biodiversität, zur Rolle des Schalenwilds, wie Hirsche oder Wildschweine, im Wald und der Jagd oder zum Klimawandel sind irgendwie angesprochen. Aber es bleibt ein dringender Verbesserungsbedarf. Wichtige visionäre Lösungsansätze fehlen. Wo die Bundesregierung selbst Verantwortung übernehmen müsste, bleibt es bei vagen Aussagen, oder es wird auf andere verwiesen. So fordert Schwarz-Gelb beispielsweise die Akteurinnen und Akteure vor Ort auf, ein Leitbild Jagd zu entwickeln. Doch eine Überarbeitung des Bundeswald- oder des Bundesjagdgesetzes lehnt die Koalition ab. Dabei wäre beides im Sinne einer naturnahen Waldbewirtschaftung dringend notwendig. In meiner Rede zur ersten Lesung am 11. November 2011 wies ich auf drei zentrale Schwachpunkte der Waldstrategie 2020 hin. Erstens. Es fehlt der Verweis auf die ungenügende Bezahlung vieler in der Forstwirtschaft Beschäftigten. Sie leisten eine körperlich schwere und ungemein wichtige Arbeit. Gleichzeitig haben sie ein enorm hohes Unfallrisiko. Deshalb brauen wir einen gesetzlichen Mindestlohn - auch in der Forstwirtschaft. Zweitens. Es fehlt das Bekenntnis, dass der steigende Holzbedarf - den die Bundesregierung in der Waldstrategie beschreibt - nur dann in geordnete Bahnen gelenkt werden kann, wenn es sozial-ökologische Mindeststandards der Waldbewirtschaftung gibt. Die Waldwirtschaft soll auch bei steigenden Nutzungsansprüchen nachhaltig bleiben können Das fordert der SRU in seinem aktuellen Gutachten. Die Standards müssen im Bundeswaldgesetz festgeschrieben werden, was die Linksfraktion seit Jahren fordert. Drittens. Es fehlen Vorschläge zur Regulation der regional zu hohen Schalenwildbestände. Ob es dazu gesetzlicher Änderungen oder nur einer konsequenteren Gesetzesanwendung bedarf, da gehen die Meinungen bei Sachverständigen aus Umwelt, Forst oder Jagd sehr weit auseinander. Der SRU schreibt dazu: „Daneben sind die gesetzlichen Grundlagen für eine Verbesserung der Situation größtenteils bereits vorhanden und nur in wenigen, aber entscheidenden Punkten ergänzungsbedürftig. Neben einem verbesserten Vollzug bestehender Gesetze ist eine Anpassung der Jagdpraxis an die ökologischen Verhältnisse und den Waldzustand nötig.“ Fakt ist: Der Waldumbau hin zu naturnahen klimaplastischen Mischbeständen gelingt nur mit angepassten Wilddichten. Wir müssen endlich den Wald als Ökosystem verstehen, damit Forstleute, Jägerschaft, Landwirtschaft und Bodeneigentümer an einem Strang und in dieselbe Richtung ziehen. Für die Linksfraktion ist klar: Die Debatte über den Zukunftswald ist mit der Vorlage der Waldstrategie weder wirklich vorangebracht noch beendet worden. Wir müssen weiter diskutieren, beispielsweise über Wiedervernetzungen von Waldgebieten oder über die Ausgestaltung des Waldklimafonds. Wir werden im Bundestag weiter für eine naturnahe Waldbewirtschaftung streiten. Dem Entschließungsantrag der grünen Fraktion stimmen wir zu.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine Strategie sollte das Ziel und den Weg dorthin beschreiben. Und es sollte die Absicht dahinter stehen, das Ziel auch zu erreichen. Eine gute Waldstrategie 2020 für dieses Land sollte aber noch weiteren Ansprüchen genügen. Sie sollte mit den anderen Strategien, so zum Beispiel mit der Nachhaltigkeitsstrategie, der Biodiversitätsstrategie und der Biomassestrategie, kohärent sein. Schaut man sich die Waldstrategie 2020 der Bundesregierung an, stellt man fest, dass sie diesen Ansprüchen nicht gerecht wird. Ein gutes Ziel reicht nicht, wenn der Weg voller Löcher und Fallstricke ist. Die Bundesregierung kann mit ihrer Waldstrategie nicht verdecken, dass waldpolitisch seit Jahren weitgehend Stillstand herrscht, wenn man einmal von der Miniwaldgesetzänderung vor zwei Jahren absieht. Das Zu Protokoll gegebene Reden war in der Großen Koalition so und ist bei SchwarzGelb nicht anders. Es wird Zeit, dass dieser Stillstand durch waldpolitische und holzwirtschaftliche Tatkraft abgelöst wird. Eigentlich müsste die Bundesregierung angesichts der Maßnahmenlosigkeit ihrer Waldstrategie nunmehr ein umfassendes forstwirtschaftliches Programm vorlegen, um die Schwerpunkte zur Umsetzung der Strategie mit Planungs- und Finanzierungsinstrumenten zu untersetzen. Das wäre dringend nötig; denn die Prognosen, dass bis 2020 eine Holzlücke von über 30 Millionen Kubikmetern droht, sind ernst zu nehmen. Und die derzeitige planlose Form des Ausbaus der energetischen Holznutzung müsste dringend gestoppt werden. Aber mit einem solchen Programm, mit dem die Koalition auf diese Herausforderung reagiert und zum Beispiel für zukunftsfähige Wälder und mehr Rohstoff- und Energieeffizienz bei der Holzverwertung sorgt, ist leider in keiner Weise zu rechnen. Es reicht für eine Strategie nicht, Probleme zu analysieren. Es müssen Lösungswege beschrieben werden. Doch die Bundesregierung übt sich in Schönrednerei. So wird der Wald-Wild-Konflikt kleingeredet, anstatt das Jagdgesetz und die landwirtschaftliche Praxis auf den Prüfstand zu stellen. Waldverträgliche Wilddichten sind nicht zu erzielen, wenn einer die Verantwortung auf den andern schiebt. Regeln, die der Sache nicht dienlich sind, müssen geändert werden. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Doch der drückt sich und knickt vor der Jagdlobby ein. Eine Waldstrategie für Deutschland - eine, die hält, was sie verspricht - ist nötig. Angesichts der Bedeutung des Walds für den globalen Klimaschutz und für Arbeit und Beschäftigung, um nur zwei der vielen wichtigen Funktionen das Walds zu nennen, reicht es nicht aus, wenn sich nur Deutschland eine Waldstrategie gibt. Wir brauchen auch eine europäische und eine globale Waldstrategie, die die bestehenden Primärwälder schützt, eine nachhaltige Bewirtschaftung der forstwirtschaftlich genutzten Wälder durchsetzt und für eine Wiederbewaldung waldarmer, devastierter und verödeter Regionen sorgt. Aber in der EU tut sich waldpolitisch bisher leider wenig. Dabei ist die fehlende Kompetenz der EU in forstpolitischen Fragen zweifellos ein Hemmschuh für eine europäische Waldpolitik. Aber es gibt Handlungsoptionen, die sofort angegangen werden könnten, zum Beispiel die Einführung verpflichtender Nachhaltigkeitskriterien für den Handel mit und die Verwertung von Holz und Holzprodukten auf nationaler, europäischer und langfristig auch auf internationaler Ebene. Dass derzeit - nicht nur mit EU-Staaten, sondern auch mit weiteren europäischen Staaten - über ein verbindliches Abkommen über Wälder in Europa, über eine europäische Waldkonvention, verhandelt wird, ist zumindest eine Chance für eine europaweit bessere Waldpolitik. Wie schwierig es ist, eine globale Waldpolitik zu erreichen, dürfte angesichts des Scheiterns der Rio+20Konferenz keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Dabei wären Walderhalt und mehr Wald weltweit sehr wichtig, um die Probleme des Klimawandels und des Verlusts an biologischer Vielfalt zu lösen. Dass Deutschland dabei in Bezug auf Waldbauthemen eine hohe Kompetenz einzubringen hat, das wird trotz aller Auseinandersetzungen über den richtigen waldbaulichen Weg niemand bestreiten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/8915. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 17/7292 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7667. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Johannes Kahrs, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern - Drucksache 17/10097 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst möchte ich allen sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen dafür danken, dass wir hier heute die Gelegenheit dazu haben, über ihren Antrag „Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern“ zu sprechen. Inhaltlich ist die Auseinandersetzung mit den ewig gleichen Thesen der Genossen - wie bei allen sozialdemokratischen Anträgen - zwar ermüdend und intellektuell reizlos, doch bietet dieser Tagesordnungspunkt uns ein Forum, die Leistungen der Koalition auf diesem Gebiet hervorzuheben und ihre Verdienste entsprechend zu würdigen. Bitte lassen Sie mich zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen, um einer Legendenbildung vorzubeugen: Schon 1999 führte die damalige rot-grüne Bundesregierung die Tonnagesteuer ein, sodass die Reeder nicht den tatsächlichen Gewinn versteuern müssen, sondern lediglich einen Pauschalbetrag abführen müssen. 2003 wurde dann das Maritime Bündnis geschlossen. Der Staat subventionierte die Lohnzusatzkosten der Seeleute, die auf deutschen Schiffen beschäftigt waren. Außerdem verpflichtete sich die Regierung, bürokratische Hürden bei der Ausbildung von Seeleuten abzubauen. Die Parteien, Bund, Küstenländer, VDR und Verdi wollten damit die Ausflaggung stoppen sowie Beschäftigung und Ausbildung fördern. Auf der Fünften Nationalen Maritimen Konferenz im Dezember 2006 haben die deutschen Reeder zugesagt, den Schiffsbestand unter deutscher Flagge bis Ende 2008 auf 500 zu erhöhen, und in Aussicht gestellt, bei gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen diesen Bestand bis 2009/2010 auf 600 zu erhöhen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Dies war angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise aus Sicht der Bundesregierung nachvollziehbar. Genauso nachvollziehbar ist aber, dass die Bundesregierung am 7. Juli 2010 die Schifffahrtsförderung auf 28,7 Millionen Euro für das Haushaltsjahr 2011 reduziert hat. In Anbetracht der dringend erforderlichen Konsolidierung des Bundeshaushalts waren und sind auch solche Sparmaßnahmen erforderlich, die für die betroffenen Menschen und Branchen schmerzhaft sind. Dies gilt auch für die Schifffahrtsförderung. Dennoch ist für uns völlig klar, dass das Maritime Bündnis durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Bündnispartner dazu beigetragen hat und auch in Zukunft dazu beitragen wird, die politischen und administrativen Rahmenbedingungen in Deutschland so zu gestalten, dass die deutsche maritime Wirtschaft ihre Führungsrolle unter marktwirtschaftlichen Bedingungen international festigen und ausbauen kann. So wird der maritime Standort Deutschland gestärkt: Beschäftigung, Wertschöpfung und Ausbildung werden gesichert. Schon im November 2011 hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages beschlossen, den Einsatz für den Finanzbeitrag an die Seeschifffahrt im Haushaltsjahr 2012 um 29,1 Millionen Euro auf 57,8 Millionen Euro zu erhöhen. Diese Ausgaben wurden in voller Höhe qualifiziert gesperrt. Flankierend wurde ein Entschließungsantrag beschlossen, der die Aufhebung der qualifizierten Sperre mit der Maßgabe versieht, dass die deutschen Reeder einen Eigenbetrag in gleicher Höhe, mindestens aber 30 Millionen Euro jährlich leisten. Im Februar 2012 entsperrte der Haushaltsausschuss Mittel in Höhe von 28,7 Millionen Euro. Damit wurde die Bewilligungsbehörde grundsätzlich in die Lage versetzt, neben der Ausbildungsförderung für 2012 noch offene Altfälle aus der Ausbildungs- und Beschäftigungsförderung aus den Förderprogrammen 2011 abwickeln zu können. Seit dem 21. Juni liegt dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages ein Antrag zur Entsperrung der vollständigen Mittel aus dem Titel „Finanzbeitrag an die Seeschifffahrt“ vor. Grundlage für die Entsperrung ist ein Konzept für eine sachgerechte und rechtssichere Fortführung des Maritimen Bündnisses. Es sieht vor, Ausbildung und Beschäftigung im Seeverkehr mit 57,8 Millionen Euro aus Bundesmitteln zu fördern. Zusammen mit dem Eigenbeitrag der Reeder in Höhe von mindestens 30 Millionen Euro, der über Ausflaggungsgebühren und einen Fonds eingenommen wird, können somit künftig rund 90 Millionen Euro für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schifffahrtsstandortes eingesetzt werden. Ich denke, dass diese Lösung durchaus interessengerecht ist. Deutsche Seeleute sind für deutsche Reedereien nicht nur Kostenfaktoren, sondern auch besonders engagierte und verantwortungsbewusste Mitarbeiter. Insofern ist - gerade vor dem Hintergrund der Tonnagebesteuerung - ein Eigenbeitrag der Reeder nur recht und billig. Das Verfahren für die Einführung der Ausflaggungsgebühren ist nahezu abgeschlossen: Die Ressortabstimmung der neuen Gebührenverordnung für Amtshandlungen des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie ist abgeschlossen, sodass einem Inkrafttreten nichts mehr im Wege steht. Bis Ende Juli 2012 wird nach derzeitigem Stand der Dinge eine ressortabgestimmte Formulierungshilfe für die rechtssichere Gestaltung eines Fondsmodells vorliegen. Das diesem Fonds zugrunde liegende Modell basiert auf folgendem Grundgedanken: Zunächst wird mit der Verpflichtung zur Ausbildung eine Primärpflicht der Reeder festgelegt. Bei Nichterfüllung der Primärpflicht kommt eine Ausgleichszahlung der ausflaggenden Reeder an eine gemeinnützige Einrichtung, die vom Verband Deutscher Reeder errichtet wird, als Sekundärpflicht in Betracht. Damit sollen Nachteile ausgeglichen werden, die dem Schifffahrtsstandort Deutschland durch die Ausflaggung entstehen. Im Interesse des Schifffahrtsstandortes Deutschland streben wir ein Inkrafttreten dieser Lösung zum 1. Januar 2013 an. Damit erfüllen wir die Forderungen der deutschen Reeder und der maritimen Branche und können ab 2013 mit den Mitteln des Bundes und der Reeder knapp 90 Millionen Euro für Ausbildung und Beschäftigung aufbringen. Die nun eingeleiteten Maßnahmen bilden die Grundlage für die zukünftige erfolgreiche Ausgestaltung des Maritimen Bündnisses. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben Wort gehalten und sind der verlässliche Partner der maritimen Wirtschaft, die mit knapp 400 000 Beschäftigten einer der bedeutendsten wirtschaftlichen Branchen in Deutschland ist. Dies, meine Damen und Herren von der SPD, zeigt, dass wir schon gehandelt haben, während sie noch Anträge schreiben.

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde den Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion mit dem Titel „Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern“ gerne um den Zusatz ergänzen wollen: durch die erfolgreiche Arbeit der Regierungsfraktionen von CDU/ CSU und FDP. Um es kurz zu sagen: Sie fordern lauthals ein, und wir liefern durch konstruktive Arbeit mit Verbänden und Sozialpartnern im Rahmen des Maritimen Bündnisses. Zu Protokoll gegebene Reden Die von der SPD formulierten Aufforderungen an die Bundesregierungen haben einige, wenn auch nicht alle, Herausforderungen, denen sich die Maritime Wirtschaft gegenübersieht, skizziert. Es ist erfreulich, zu sehen, dass auch in Teilen der Opposition Überlegungen reifen, sich um die deutsche Flagge und den Schifffahrtsstandort Deutschland bemühen zu wollen. Auch wenn der Antrag der SPD keine neuen Lösungsvorschläge zutage fördert als die, die ohnehin durch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen auf den Weg gebracht sind, begrüße ich den Antrag, der unseren politischen Weg größtenteils wiedergibt. Es schadet nicht, wenn auch die Opposition damit indirekt unsere Arbeit würdigt. Herzlichen Dank schon einmal dafür. Ich darf Ihnen mitteilen, dass die Branche mit ihren über 400.000 Beschäftigten in Deutschland durch den Einsatz der Koalitionsfraktionen und des Maritimen Koordinators der Bundesregierung unbesorgt sein kann. Wir haben das Maritime Bündnis nach intensiven und konstruktiven Gesprächen mit allen Beteiligten auf eine neue Grundlage gestellt und den erforderlichen Gegebenheiten angepasst. Die Voraussetzungen für zunehmend mehr Schiffe unter deutscher Flagge werden damit geschaffen. Es ist ein wichtiges Bündnisziel, der Ausflaggungen deutscher Schiffe wirksam entgegenzuwirken, um Arbeitsplätze in der Branche zu sichern. Das dürfte den Reedern nun deutlich leichterfallen. Insofern bedarf es auch keiner Verabredung neuer Bündnisziele, wie die geschätzten Kolleginnen und Kollegen der SPD es verlangen. Neue Bündnisvereinbarungen mit dem Ziel, Ausflaggungen entgegenzuwirken, sind überflüssig. Die Reeder dürften im Hinblick auf die sogenannte Tonnagesteuer ein wohlverstandenes Eigeninteresse haben, Ausflaggungen zu verhindern; denn um diesem steuerlichen Vorteil nutzen zu können, dürfen nur 40 Prozent der Schiffe eines deutschen Reeders keine EU-Flagge führen. Um es an dieser Stelle im Hinblick auf das prominente und medienwirksame Beispiel der „MS Deutschland“ deutlich zu sagen: Ein Schiff auszuflaggen und die Schuldigen in der Politik suchen zu wollen, das war und ist nicht zu akzeptieren. Allerdings sind solche Ausflüchte glücklicherweise Einzelfälle. Die deutsche Reederschaft hat, vertreten durch den Verband Deutscher Reeder, in den letzten Monaten die enge Kooperation mit uns gesucht und mit dafür Sorge getragen, dass wir nun das Maritime Bündnis modernisieren. Lassen Sie mich die Maßnahmen im Einzelnen erläutern: Die Schifffahrtsförderung des Bundes bleibt mit dem gestrigen Beschluss des Haushaltsausschusses zur Freigabe des Finanzbeitrags für die Seeschifffahrt auch im Jahr 2012 mit 57,8 Millionen Euro auf dem hohen Niveau der Vorjahre. Damit sichert die Bundesregierung Beschäftigung in der maritimen Branche und schafft zugleich die Grundlage, um die im Maritimen Bündnis verabredeten Vereinbarungen erfüllen zu können. Die Reeder in Deutschland hatten unter dieser Maßgabe zugesagt, einen Eigenbeitrag in Höhe von mindestens 30 Millionen Euro leisten zu wollen, um letztlich jährlich knapp 90 Millionen Euro für das Maritime Bündnis zu gewährleisten, die für die Beschäftigungssicherung und die Ausbildung in der Seeschifffahrt eingesetzt werden können. Der Eigenbeitrag der Reeder wird sich zukünftig aus zwei Einnahmequellen ergeben: Einerseits passt die Bundesregierung mit dem aktuellen Entwurf der Gebührenverordnung zur Erteilung der Ausflaggungsgenehmigungen die Gebührensätze so an, dass die Ausflaggung auch die realen Kosten deckten und der gegenüberstehende wirtschaftliche Vorteil einkalkuliert wird, den die Reeder mit dem auszuflaggenden Schiff erhalten. Dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages liegt der aktuelle Entwurf einer neuen Gebührenverordnung für Amtshandlungen des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie, BSH, vor. Aus den Gebühren der Ausflaggungen erwarten wir Einnahmen von 10 Millionen Euro, die auch dem Zweck des Maritimen Bündnisses zugeführt werden. Die zweite Einnahmequelle des Eigenbeitrags der Reeder hat zugegebenermaßen mehr Zeit in Anspruch genommen, als alle Beteiligten erhofft hatten. Doch auch bei dem zu entwickelnden sogenannten Fondsmodell hat die Bundesregierung nun einen Regelungsvorschlag zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes vorgelegt, der die Reeder zur Primärpflicht der Ausbildung im Falle des Flaggenwechsels verpflichtet. Für die Dauer der Ausflaggungsgenehmigung müssen die Reeder verbindlich zusagen, zusätzlich eine weitere Person pro auszuflaggendem Schiff ausbilden. Sollten die Reeder dieser Pflicht nicht nachkommen können, ist ein Ausgleichsbeitrag in einen Fonds zu entrichten, der beim Verband Deutscher Reeder, VDR, angesiedelt ist. Nach derzeitigen Einschätzungen dürfen wir hier mit Einnahmen in Höhe von 20 Millionen Euro rechnen, die ausschließlich der Finanzierung der qualitativ hochwertigen Ausbildung auf den Schiffen mit Bundes- oder EUFlagge dienen. Mit diesen Maßnahmen, die nun parlamentarisch auf den Weg gebracht werden, erfüllen wir die Forderungen der deutschen Reeder und der maritimen Branche und können ab 2013 mit den Mitteln des Bundes und der Reeder knapp 90 Millionen Euro für Ausbildung und Beschäftigung aufbringen. Die nun eingeleiteten Maßnahmen bilden die Grundlage für die zukünftige erfolgreiche Ausgestaltung des Maritimen Bündnisses. Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass im Haushaltsplan des Bundesverkehrsministeriums, der im Kabinett der Bundesregierung gestern vorgestellt wurde, nun der halbierte Förderansatz angestrebt wird. Diesen Umstand werden wir nicht akzeptieren. wir als Koalitionsabgeordnete werden darauf hinwirken, die Förderung für Beschäftigung und Ausbildung in der Seeschifffahrt auf hohem Niveau bei 57,8 Millionen Euro fortzuführen. Damit folgen wir auch den Aussagen des Bundesfinanzministeriums, das in der Begründung für die Mittelfreigabe der Schifffahrtsförderung 2012 argumentiert, dass damit eine - ich zitiere -: „verlässliche Perspektive für die Schifffahrtsförderung 2013 ({0})“ gegeben ist. Der Haushaltsausschuss hatte im November des vergangenen Jahres den Finanzbeitrag des Bundes daran Zu Protokoll gegebene Reden geknüpft, dass der von den deutschen Reedern zugesicherte Eigenbeitrag zur Ausgestaltung des Bündnisses auf eine rechtssichere und tragfähige Grundlage gestellt wird. Mit der Anpassung der Kostenverordnung bei Ausflaggungen und dem von der Bundesregierung nun ebenfalls vorgelegten Vorschlag zur Sicherung des Eigenbeitrags der Reeder werden diese Anforderungen erfüllt. Die Reeder haben auf der Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Reeder, VDR, im Dezember 2011 diesem Eigenbeitrag unter der Voraussetzung zugestimmt, dass die Bundesfördermittel auf 57,8 Millionen Euro zu erhöhen sind. Die Bundesregierung muss ihrerseits die im Rahmen des Maritimen Bündnisses gemachten Zusagen einhalten. Ich sichere Ihnen jedoch zu, dass die Koalitionsabgeordneten von CDU, CSU und FDP im parlamentarischen Verfahren dafür Sorge tragen werden, die Mittel des Bundes in Höhe von 57,8 Millionen Euro auch für das Jahr 2013 zu sichern. Wir sind sehr optimistisch, auch in den nächsten Haushaltsjahren den Finanzbeitrag des Bundes für die Seeschifffahrt auf dem jetzigen Stand halten zu können. Sie sehen: Die Koalition liefert. Die von uns bereits auf den Weg gebrachten Forderungen im Antrag der SPD lassen den Schluss zu, dass die Damen und Herren von der SPD unsere Initiativen in diesem Hohen Haus mittragen und ihnen zustimmen werden. Auch hierfür möchte ich mich bereits jetzt bedanken.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Seit Monaten bereitet die Regierungskoalition den Rückzug aus der Schifffahrtsförderung des Bundes vor. Erst wurden die Hilfen für Ausbildung und Beschäftigung im Bundeshaushalt zusammengestrichen und erst nach massiven Protesten von Sozialpartnern, Wirtschaft, Küstenländern und auch der SPD unwillig wieder aufgestockt. Nun sollen die Ausfälle, die sich aus der Kürzung der Fördermittel im Bundeshaushalt ergeben, nach dem Willen der Bundesregierung künftig von den Reedereien in Deutschland ausgeglichen werden. Sie werden in der Zukunft mit einem Eigenbeitrag in Höhe von 30 Millionen Euro zur Kasse gebeten. Schwarz-Gelb stellt die Maschinen auf Stopp: Die Bundesregierung will die Übereinkunft nicht in der bisherigen Form weiterführen, sondern wesentliche Teile der bisherigen Hilfen einstellen. Das ist das Ende des bisherigen Modells einer Solidargemeinschaft, das auf SPD-Initiative bei den Nationalen Maritimen Konferenzen ins Leben gerufen wurde und sich in den vergangenen zehn Jahren grundsätzlich bewährt hat. Doch selbst bei dem Versuch, die Schifffahrtsförderung in Deutschland in ihrem Sinne neu zu ordnen, fährt die Regierungskoalition auf Grund. Ein Prüfbericht vom Bundesverkehrsministerium und vom Koordinator der Bundesregierung für die maritime Wirtschaft zeigt: Bisher ist es der Regierungskoalition nicht gelungen, einen verlässlichen, verfassungssicheren Rahmen für die Schifffahrtsförderung zu schaffen - weder über ein Gebührenmodell noch über eine öffentlich-rechtliche Fondslösung. Und daran, so müssen Union und FDP selbst einräumen, wird sich auch bis 2013 nichts ändern. Die Jahre 2012 und 2013 will die Koalition denn auch als „Übergangsjahre“ gestalten. Wenn die Bundesregierung das bisherige Modell der Schifffahrtsförderung neu strukturieren will, darf dies nicht zulasten von Ausbildung und Beschäftigung in der Branche gehen. Die jetzige Planungsunsicherheit belastet die maritime Branche in einer Situation, in der sie ohnehin stark von der Krise der Schiffsfinanzierung getroffen ist. Die Schifffahrt und die maritime Wirtschaft gehören zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in unserem Land, die wesentlich zu Deutschlands Rolle als Exportnation beitragen. Rund 400 000 Menschen sind in der Branche beschäftigt. Doch anstatt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die maritime Wirtschaft die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise abfedern kann, agieren Union und FDP nach dem Motto: mit voller Kraft rückwärts. Dabei hat gerade die konsequente Förderung im Rahmen des Maritimen Bündnisses dazu beigetragen, dass Deutschland über eine wettbewerbs- und leistungsfähige Handelsflotte verfügt - ein Joker im harten globalen Wettbewerb. Mit dem Maritimen Bündnis haben Bund, Küstenländer und die Sozialpartner sich zusammen in ein Boot gesetzt, um den Schifffahrtsstandort Deutschland zu stärken und Arbeitsplätze im Land zu halten: Der Bund hat Zusagen zur Senkung der Lohnnebenkosten für den Betrieb deutscher Handelsschiffe im internationalen Verkehr gemacht. Im Gegenzug haben sich die Reeder verpflichtet, einer weiteren Ausflaggung von Schiffen entgegenzuwirken - das gemeinsame Ziel immer in Sicht: das seemännische Know-how an Bord und an Land zu sichern und wieder eine positive Perspektive für den Seemannsberuf zu schaffen. Richtig ist, dass es in den vergangenen Jahren nie gelungen ist, das zwischen Bund und Sozialpartnern vereinbarte Ziel einer Rückflaggung von mindestens 600 Handelsschiffen zu erreichen - aber die jetzige Bundesregierung hat auch nichts dafür getan. Im Gegenteil: Wenn sie mit ihrer Politik das Maritime Bündnis immer wieder infrage stellt, kann sie nicht erwarten, dass die Wirtschaft ihrerseits die Verabredungen ernst nimmt. Ein verlässlicher Bündnispartner sieht anders aus. Diese Erfahrung müssen die Reedereien gerade wieder aufs Neue machen. Die Krise der Schiffsfinanzierung hat die Branche fest im Griff. Deutschland drohe der Abstieg aus dem Kreis der führenden Schifffahrtsnationen, warnen Experten. Andere Nationen könnten mit staatlicher Unterstützung in den Aufbau ihrer Handelsflotte investieren. Doch die Bundesregierung bleibt bei ihrer Haltung: Spezielle Maßnahmen zur Abmilderung der finanziellen Krise der Reedereien wird es nicht geben. Da passt es ins Bild, dass sie die Hilfen für Ausbildung und Beschäftigung austrocknen will. Die jetzige Krisenwelle wird so als Erstes diejenigen treffen, die ganz vorne im Boot sitzen: die Beschäftigten. Schon jetzt befürchten Experten, dass etliche Reedereien das komZu Protokoll gegebene Reden mende Krisenjahr nicht überstehen werden. Wenn nun die Unterstützungsleistungen wegbrechen, verschärft dies die ohnehin sehr angespannte Lage. Mit ihrer Politik gefährdet die Bundesregierung massiv Arbeitsplätze und schadet dem Standort Deutschland. Wenn die Regierungskoalition die Schifffahrtsförderung umstellen will, dann muss sie auch dafür Sorge tragen, dass bei diesem Kurswechsel nicht am Ende die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Bord gehen. Sie ist aufgefordert, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Maritime Bündnis eine neue, verlässliche Grundlage erhält und weiterhin dazu beiträgt, Jobs zu sichern und die Zahl der Ausbildungsplätze zu erhöhen. Als SPD-Bundestagsfraktion fahren wir mit dem Antrag „Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern“ auf klarem Kurs. Wir fordern die Koalition auf, zur Realisierung des zugesagten Eigenbeitrags der deutschen Reederschaft rasch ein verfassungsrechtlich tragfähiges Fondsmodell zu entwickeln, an den Hilfen für Ausbildung und Beschäftigung auf dem Niveau von 2010 festzuhalten und gemeinsam mit den Sozialpartnern neue Bündnisziele zu verabreden, um den Anteil von Handelsschiffen unter deutscher Flagge deutlich zu erhöhen und den Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland endlich zu stoppen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, Sie sind jetzt dringend aufgefordert, das Steuer herumzureißen; sonst laufen Sie nicht erst bei der Nationalen Maritimen Konferenz im April 2013 in Kiel auf Grund.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der parlamentarische Betrieb hält ja so manche unerwartete Überraschung parat. Wenn man denkt, schon alles erlebt zu haben, so geschieht manchmal doch wieder etwas Neues, bei dem man sich verwundert die Augen reiben muss. Insbesondere die Sozialdemokraten outen sich dabei als ganz besondere Spezialisten. So oder so ähnlich ging es mir, als ich Anfang der Woche Ihren Antrag auf dem Tisch hatte, und das, obwohl weder Karneval noch der 1. April war. Monatelang hört man von Ihnen nicht einen einzigen Vorschlag dazu, wie man das Maritime Bündnis zukunftsfest gestalten kann. Nachdem letzte Woche die Koalition jetzt ein umfassendes und verfassungsrechtlich sauberes Konzept auf den Tisch gelegt hat, schreiben Sie dieses weitestgehend einfach ab und meinen, dieses als Ihre eigene Forderung einbringen zu müssen. Das nenne ich schon ein wenig frech. Im Gegensatz zur SPD handelt diese Koalition im Sinne des maritimen Standortes Deutschland. Erst gestern hat der Haushaltsausschuss die zweite Hälfte der Schifffahrtsbeihilfe entsperrt. Damit geben wir der maritimen Wirtschaft ein positives Signal und Planungssicherheit. Zum 1. Juli werden wir dann die Gebührenverordnung für Amtshandlungen des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie so ändern, dass wir über die Ausflaggungsgenehmigung weitere 10 Millionen Euro für das Maritime Bündnis generieren. In wenigen Wochen wird es dann einen ressortabgestimmten Bericht zu einem privatwirtschaftlichen Fondsmodell geben, das zum 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft treten wird. Damit werden weitere 20 Millionen Euro für die Ausbildungsförderung gesammelt. Wenn dann zukünftig auch noch das Ausfahren der Patente unter die Ausbildungsförderung fällt, haben wir für die maritime Ausbildung und die Schifffahrtförderung in Gänze mehr getan als jede andere Bundesregierung zuvor. Sie sehen, dass wir unsere Hausaufgaben gemacht haben und unserer Verantwortung gerecht werden. Sie müssen also unsere Ideen zukünftig nicht mehr abschreiben, sondern dürfen staunend zuschauen. Ich lade Sie herzlich ein, mitzumachen, und bin gespannt darauf, wie Sie sich die weiteren Beratungen zu Ihrem Antrag so vorstellen.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Barbuda ist 161 Quadratkilometer groß, relativ flach und hat nur etwa 1 500 Einwohner. Barbuda und Antigua bilden zusammen einen gemeinsamen Staat. Der Staat verfügt zwar über wenig Ressourcen, aber im Jahr 2005 über eine Flotte von 981 Schiffen mit einer Größe von über 7 Millionen Bruttoregistertonnen. 853 davon stammten aus Deutschland, denn es ist billig, unter dieser Flagge zu fahren. Das Schiffsregister des Inselstaates in der Karibik wird übrigens im nordwestdeutschen Oldenburg geführt. „Das muss geändert werden“, sagte sich im Jahr 2003 die Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Ein Maritimes Bündnis wurde geschmiedet. Die Reeder sagten der Bundesregierung, den Küstenländern und den Gewerkschaften zu: Wenn ihr uns von den Kosten entlastet, dann werden wir 600 von den insgesamt rund 4 000 Schiffen wieder unter deutscher Flagge fahren lassen. Seither greift der Staat den Reedern bei den Aufwendungen für die Ausbildung und den Lohnnebenkosten Jahr für Jahr mit bis zu 50 Millionen Euro unter die Arme. Nun fahren aber weniger Schiffe denn je unter deutscher Flagge. Aktuell sind es 491. Als im vergangenen Jahr die Bundesregierung die Reeder an ihre Zusage erinnerte und ankündigte, sie werde die Zuschüsse halbieren, kam es auf der Nationalen Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven zum Krach. Die Reeder drohten damit, noch mehr Schiffe auszuflaggen. Im März 2012 einigte man sich schließlich. Die Zuschüsse wurden auf 58 Millionen Euro aufgestockt. Die Reeder sagten zu, ebenfalls 20 Millionen Euro über einen Fonds und zusätzlich 10 Millionen Euro beizusteuern, die über eine Erhöhung von Ausflaggungsgebühren zusammenkommen sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich finde es wichtig, dass wir wissen, wie dieses neue Bündnis entstanden ist. Wir unterstützen es ja, dass wir Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze auf See erhalten. Wir brauchen gut ausgebildete Seeleute. Wir wollen aber auch erreichen, dass sie dann auch zu vernünftigen Zu Protokoll gegebene Reden Bedingungen ihre Arbeit auf den Schiffen machen können. Darum ist die zentrale Forderung der Linken an den Bündnispartner Reedereien: Ihr habt zugesagt, 600 Schiffe wieder unter die deutsche Flagge zu holen, die Belegschaften nach dem hier geltenden Seerecht zu behandeln, die Besetzungsvorschiften einzuhalten und die Tariflöhne zu bezahlen. Diese Selbstverpflichtung als Versprechen reicht nicht aus. Das lehren uns die vergangenen zehn Jahre. Wir verlangen einen verbindlichen Stufenplan mit dem Ziel, schnellstmöglich die Zahl 600 zu erreichen. In dem Konflikt um die Verpflichtungen aus dem Maritimen Bündnis wurde übrigens die Tonnagesteuer von keiner Bundesregierung je infrage gestellt. Die sichert den Reedereien weitgehende Steuervorteile, weil sie nicht gewinnbezogenen Steuerzahlen, sondern einen pauschalen Betrag entrichten, der sich nach Größe des Schiffsladeraums richtet. Damit sind dem Staat in den letzten acht Jahren rund 5 Milliarden Euro Steuern entgangen. Diese Begünstigung sei international durchaus üblich, andere Länder würden ähnliche Zugeständnisse machen, heißt es zur Begründung. Stimmt, doch dieser Dumpingwettlauf muss gestoppt werden. Wohin Steuerdumpingwettbewerb führen kann, zeigt uns das Beispiel Griechenland. Die griechischen Reeder zahlen überhaupt keine Steuern. Die Putschgenerale sicherten ihnen 1967 die Profite. Auch im demokratischen Griechenland sind diese Steuerprivilegien nie aufgehoben worden. Fast die Hälfte der EU-Handelsflotte fährt heute unter griechischer Flagge. 175 Milliarden Dollar sind allein in den letzten zehn Jahren dem Staat verloren gegangen. Alexis Tsipras, der Vorsitzende unserer griechischen Schwesterpartei Syriza, fordert ein Ende dieses Steuerunrechts zulasten des griechischen Staates. Aber zurück zum Antrag der SPD. Darin wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es gesetzlicher Regelungen bedarf, um die zugesagten Reederbeiträge in Höhe von insgesamt 30 Millionen Euro überhaupt eintreiben zu können. Das muss schnell passieren, um die Mittel für Ausbildung und Beschäftigung einsetzen zu können. Und dass endlich das Seearbeitsübereinkommen ratifiziert werden muss, haben Sie ja noch einmal aufgenommen. Das hatten wir bei der Bearbeitung des Antrags der Linksfraktion bereits diskutiert. Aber in der Tat, bis heute ist die Bundesregierung trotz ihrer Ankündigung, die Seearbeitsbedingungen neu regeln zu wollen, dem nicht nachgekommen. Es wird Zeit. Die Reedereien müssen entsprechend ihrer Erträge zur Kasse gebeten werden. Vernünftige Ausbildungsund Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in der Seeschifffahrt sollten für eine große Exportnation selbstverständlich sein. Es ist ein Skandal, dass hierfür aufwendig Bündnisse mit Finanzspritzen geschmiedet werden müssen - und dann auch noch ohne Verbindlichkeit bei den Gegenleistungen! Wir fordern menschliche Arbeitsbedingungen in der Seeschifffahrt. Das internationale Seearbeitsübereinkommen muss endlich ratifiziert werden.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit dem vorliegenden Antrag der SPD debattieren wir zum dritten Mal innerhalb von knapp über einem Jahr die Entwicklung der maritimen Wirtschaft in Deutschland. Die maritime Branche ist größer, als viele oft glauben: 380 000 Beschäftigte in der gesamten Bundesrepublik, davon circa 20 000 bis 22 000 in Reedereien an Land sowie ein Umsatz von circa 50 Milliarden Euro pro Jahr. Außerdem haben deutsche Reeder die größte Containerschiffsflotte der Welt. Die maritime Wirtschaft in Deutschland ist nicht nur von bedeutendem Interesse für die Küstenländer. Eine der größten Containerreedereien der Welt hat zum Beispiel ihren Sitz in München, auch die größten Betriebe in der maritimen Zulieferindustrie sitzen in Bayern, Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen. Deswegen muss die gesamte Republik ein Interesse daran haben, dass es der Branche gut geht. Es gab Jahre des fast unglaublichen Booms, die deutsche Flotte wurde immer größer und einflussreicher. Das alles war durchaus beeindruckend und sicher auch ein Grund, warum die Branche ein eigenes Bündnis mit der Bundesregierung und weiteren Beteiligten bekam. Vor rund drei Jahren hat die maritime Wirtschaft aufgrund der weltweiten Finanzkrise einen deutlichen Einbruch erlitten, der noch immer anhält. An der Krise hat die Branche keine Schuld. Aber wir alle können uns fragen, welchen Anteil die bestehenden Regeln daran haben. Hier will ich nur das Stichwort Tonnagesteuer nennen, welches ja einmal der Ausgangspunkt des Bündnisses war. Die spezielle deutsche Ausgestaltung hat Schiffsfonds als Steuersparmodell sehr attraktiv für Anleger gemacht. Fondshäuser haben zusammen mit Banken Schiffsfonds aufgelegt. Damit konnten Reedereien viel Geld einsammeln - aber auch zum Teil zu viele Schiffe bestellen, die sie jetzt nicht mehr brauchen und auch nicht mehr bezahlen können. Wenn wir über die Zukunft des Maritimen Bündnisses reden, müssen wir also auch über die Tonnagesteuer reden. Nachdem die Branche schon in Schwierigkeiten war, hat die Bundesregierung mitten in der Krise Kürzungen der Schifffahrtsbeihilfen verkündet. Groß war der Aufschrei bei den Reedern - und so wurde der Wegfall der Beihilfen für 2012 wieder aufgehoben. Dafür zahlen die Reeder für jedes ausgeflaggte Schiff eine Gebühr sowie einen Eigenbeitrag in einen Fördertopf. Doch diese Mischung aus einem Fonds- sowie einem Gebührenmodell ist rechtlich noch nicht abgesichert. Seit Monaten wird jetzt nach einer Lösung gesucht, aber die Bundesregierung kann bisher nicht liefern. Bisher gibt es keine Rechts- und Planungssicherheit für die Seeverkehrswirtschaft. Die deutsche Flagge ist eine Qualitätsflagge und hat einen guten Ruf zu verteidigen. Das heißt allerdings nicht, dass man sich auf dem Stand vom letzten oder gar vorletzten Jahrhundert ausruhen darf: Deutschland muss mit gutem Beispiel vorangehen und sich als Dienstleister sehen für die Reeder; das heißt: einfache Verwaltungswege, gute Erreichbarkeit, Aufräumen mit der überbordenden Bürokratie bei der Eintragung eines Zu Protokoll gegebene Reden Schiffes ins Flaggenregister. Heute müssen 13 Behörden von Bund und Ländern angesteuert werden. Das ist eindeutig zu viel, und vieles ist noch nicht mit modernen Verwaltungsverfahren gelöst. So ist es immer noch ein Anachronismus, dass neu angeheuerte Seeleute persönlich zum Seemannsamt müssen, eine Einrichtung der Bundesländer. Deren Öffnungszeiten richten sich nach den Erfordernissen der Verwaltung und nicht nach denen der Seeleute. Bei anderen Flaggen wird das Seemannsregister längst vom Kapitän geführt. Bereits vor über einem Jahr hat die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion geantwortet, dass künftig die Registrierung für das deutsche Flaggenregister gebündelt unter www.deutsche-flagge.de vorgenommen werden könne. Aber das funktioniert immer noch nicht. Auf der Internetseite steht nach wie vor: „Die Seite befindet sich noch im Aufbau“. Wenn sich Reeder trotz Verpflichtungen aus dem Maritimen Bündnis dazu entscheiden, nicht mehr unter der deutschen Flagge zu fahren, muss dies als Warnsignal verstanden werden. Nicht nur das prestigeträchtige Fernsehkreuzfahrtschiff „MS Deutschland“, sondern auch weitere Schiffe haben die deutsche Flagge eingeholt und fahren jetzt unter der europäischen Flagge von Malta oder der von Liberia. Die Rahmenbedingungen für den Schifffahrtsstandort Deutschland sind die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite müssen sich auch die Reeder an die geschlossenen Vereinbarungen halten. Die Herausforderungen an die Schifffahrt sind seit Beginn der Krise im Jahr 2008 nicht weniger geworden: Überkapazitäten der Flotten und damit ruinöser Wettbewerb um Fracht, Einfahren von Verlusten durch niedrige Charterraten, Rückgang der Finanzierungsmöglichkeiten. All dies sind Beispiele für die derzeitig angespannte Marktsituation in der internationalen Frachtschifffahrt. Es ist jedoch zu beobachten: Die Reedereibranche hält weiterhin am Standort Deutschland fest, Abwanderungstendenzen, über die Flaggenwahl hinaus, waren bisher kaum Thema. Dies begrüßen wir. Wichtige Gründe, warum die Reeder sich weiterhin an den Standort Deutschland binden, sind: Die Seeschifffahrt kann in Deutschland auf eine lange Tradition zurückblicken sowie auf gut ausgebildete Fachkräfte zurückgreifen. Dieses Potenzial muss weiter genutzt werden, um die Schifffahrt und die gesamte maritime Wirtschaft wieder auf stabile Beine zu stellen oder, um in der Schifffahrtssprache zu bleiben, um wieder in ruhigeres Fahrwasser zu steuern. Damit der Standort Deutschland in der internationalen Seeschifffahrt weiterhin zukunfts- und krisenfest gestaltet werden kann, muss das Maritime Bündnis neue Impulse bekommen. Bereits seit längerer Zeit sind die Bündnispartner trotz gemeinsamer Verabredungen immer wieder ausgeschert. Dies hilft keinem der Bündnispartner, am wenigsten ist dies hilfreich für die Beschäftigten der maritimen Wirtschaft. Wir erwarten daher Nachbesserungen durch die Bundesregierung: Die Beiträge für die Seeschifffahrt müssen wieder angehoben werden. Das neue Fondsmodell, das zusammen mit den Reedern beschlossen worden ist, muss zügig rechtlich abgesichert werden, damit es umgesetzt werden kann. Die Bedingungen, um unter der deutschen Flagge zu fahren, müssen dringend verbessert werden. Reedern muss durch rasches Umsetzen einer Entbürokratisierung unter die Arme gegriffen werden. Schließlich müssen wir uns aber auch die Tonnagesteuer noch einmal genau ansehen, damit wir nicht wieder eine solche Blase zulassen, die Reeder und Anleger um ihr Geld und Banken in Schieflage bringt. Damit ist nicht nur dem maritimen Standort Deutschland geholfen, sondern vor allem auch den vielen Beschäftigten der Branche.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Albert Rupprecht ({1}), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann ({2}), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken - Drucksachen 17/8788, 17/10082 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Peter Röhlinger Dr. Petra Sitte Krista Sager Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Haben Sie schon einmal von der asiatischen Tigermücke gehört? Wenn nicht, dann wird es langsam Zeit. Denn diese Mücke mit den weißen Streifen auf Beinen und Rücken breitet sich in Europa zunehmend aus. So vermeldeten im April dieses Jahres zahlreiche Medien, dass britische Wissenschaftler der Universität Liverpool auf Basis ihrer Klimamodelle davon ausgehen, dass sich das Klima in Europa in den kommenden Jahrzehnten so verändert, dass diese nicht einheimische Mückenart in vielen Regionen Europas gute Lebensbedingungen vorfinden wird. Die Wissenschaftler kommen weiter zu dem Schluss, dass sich die Tigermücke schon jetzt in Italien festgesetzt hat. Warum muss uns diese Meldung aufhorchen lassen? Die Tigermücke ist Überträger von Dengue-Fieber, einer tropischen Krankheit. Noch stellt die Verbreitung neuer Mückenarten für uns in Europa keine Gefahr dar. Wissenschaftler schließen jedoch eine zukünftige Gefährdung nicht aus. Die „Mitbringsel“ der Stechmücken, also die tropischen Krankheiten, müssen jedoch unser Interesse wecken. Zu den tropischen Krankheiten zählen auch die sogenannten vernachlässigten und armutsassoziierten Erkrankungen, und daran leiden schon heute weltweit mehr als 1 Milliarde Menschen. Die Thematik Tropische Krankheiten trägt für uns also zwei Komponenten in sich: Erstens handelt es sich um ein aktuell drängendes Problem in Schwellen- und Entwicklungsländern, und zweitens führt uns die zunehmende Verbreitung von nicht einheimischen Stechmücken in Europa vor Augen, dass das Thema zukünftig auch uns selbst betreffen könnte. Wir müssen also auch im ureigensten Interesse handeln. Die Herausforderung ist zweifellos enorm. Nicht umsonst betitelt man diese tropischen Krankheiten als „vernachlässigt“ und „armutsassoziiert“. Der Terminus „vernachlässigt“ impliziert, dass sich zu wenig um die Erforschung und Behandlungsmöglichkeiten dieser Krankheiten gekümmert wird, und die Bezeichnung „armutsassoziiert“ drückt aus, dass es vor allen Dingen die Armen und Ärmsten in Entwicklungs- und Schwellenländern trifft. Als Forschungspolitiker widmen wir uns naturgemäß in erster Linie der Dimension „vernachlässigt“ dieses umfassenden Problems. Forschende Pharmafirmen tun in diesem Bereich sehr wenig, weil die betroffenen Menschen sich die Medikamente nicht leisten können und somit kein rentabler Markt vorhanden ist. Wo unternehmerisches Engagement trotz großer Nachfrage bzw. Dringlichkeit fehlt, sind staatliche Initiativen gefragt. Denn hier geht es um Menschenleben. Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst und haben deshalb das Förderkonzept des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zu vernachlässigten Krankheiten sehr begrüßt. Der heute zur Abstimmung stehende Antrag der christlich-liberalen Koalition knüpft an dieses Konzept an, weil die Ansätze der Bundesregierung zur Bekämpfung von Krankheiten wie der Afrikanischen Schlafkrankheit, Chagas oder dem Dengue-Fieber genau in die richtige Richtung gehen. Das Ziel ist klar: Wir brauchen wirksame, anwendungsfreundliche und gleichzeitig erschwingliche Präventions- und Therapieverfahren zur Bekämpfung dieser Krankheiten. Einen Königsweg gibt es nicht. Deshalb unterstützen wir das Bundesministerium für Bildung und Forschung darin, auf unterschiedliche Strategien zu setzen und diese in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. So ist es einerseits richtig, die nationale Forschungsförderung in diesem Bereich zu stärken. Andererseits ist es genauso wichtig, die europäische Dimension im Blick zu haben und die Initiative European and Developing Countries Clinical Trials Partnership, EDCTP, zu unterstützen. Des Weiteren ist es in meinen Augen von großer Bedeutung, auch neue Wege in der Forschungsförderung zu gehen. Deshalb begrüßen wir als christlich-liberale Koalition ausdrücklich die erstmalige Förderung von sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften, PDPs, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Für die deutsche Förderkultur stellt die PDP-Förderung einen neuen Weg dar, und deshalb ist es für mich die natürlichste Sache der Welt, dass man nicht gleich in die Vollen geht. So finde ich die Vorwürfe der Oppositionsparteien unredlich, dass die Bundesregierung das Thema PDP-Förderung zu zaghaft angegangen sei. Ich sage Ihnen ganz klar: Ich bin froh, dass die Bundesregierung in die PDP-Förderung eingestiegen ist, und die 22 Millionen Euro für die erste, vierjährige Förderperiode sind ein guter Anfang. Dass uns diese Zahl auf lange Sicht und auch im internationalen Vergleich nicht zufriedenstellen kann, daraus mache ich keinen Hehl. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass nach einer positiven Evaluierung der laufenden Förderung die Mittel für eine Folgeförderperiode aufgestockt werden. Schon jetzt darüber zu spekulieren, ist allerdings zu früh. Diese Art der Forschungsförderung muss sich bewähren und verwertbare Ergebnisse liefern! Ich habe keine Zweifel, dass die 22 Millionen Euro zum Wohle der betroffenen Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern gut angelegt wurden. Darüber hinaus ist das deutsche Engagement sehr breit gefächert und kann nicht nur an einer Zahl bzw. einer Maßnahme festgemacht werden. Zusammengenommen investieren wir über 80 Millionen Euro in diesem Bereich, eine Summe, die sich sehen lassen kann. Darüber hinaus müssen wir über eine gute Kommunikation zur Bewusstseinsschärfung der Bevölkerung zu diesem Thema beitragen, damit jedem klar wird, dass wir auch in Zukunft Geld in diesen Forschungsansatz investieren müssen, und zwar mit steigender Tendenz. Für viele unserer Kollegen und Kolleginnen und für die Mehrzahl der Bürger sind die vernachlässigten tropischen Krankheiten böhmische Dörfer und weit, weit weg von Deutschland. Deshalb müssen wir für dieses Anliegen werben, werben und nochmals werben. Wir sollten gezielt kommunizieren, welche Projekte im Rahmen der PDP-Förderung unterstützt werden und welche Erfolge damit erzielt werden. Die Auswahl der zu fördernden PDPs liegt zwar erst etwas mehr als ein halbes Jahr zurück, aber es lohnt sich schon jetzt, einen genaueren Blick auf die mit unserer Förderung angestoßenen Projekte zu werfen. Bis 2015 werden drei PDPs in ihrer Forschungsarbeit vonseiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unterstützt. Es handelt sich dabei um Drugs for Neglected Diseases, DNDi, die European Vaccine Initiative, EVI, und die Foundation for Innovative New Diagnostics, FIND. DNDi wird als einer der Ausschreibungsgewinner seit Dezember 2011 mit 8 Millionen Euro gefördert und widZu Protokoll gegebene Reden met sich in seiner Forschungsarbeit der Medikamentenentwicklung für die Schlafkrankheit, die Leishmaniose, der Chagas-Krankheit und der Behandlung für die KoInfektion von Wurmerkrankungen wie Onchozerkose bzw. Elephantiasis mit dem Augenwurm, auch bekannt unter der Bezeichnung Loa-Loa. Am Beispiel der Leishmaniose, übrigens eine durch Parasiten hervorgerufene Infektionskrankheit, mit der sich jedes Jahr etwa 400 000 Menschen infizieren, wird schnell klar, worum es primär geht. Es geht um bessere und günstigere Therapien. DNDi arbeitet im Rahmen der BMBF-Förderung unter anderem an einer günstigeren Kombinationstherapie für Leishmaniose in Ostafrika für sehr kranke Patienten bzw. einer Therapie, die sich für die Behandlung von vielen Patienten in kurzer Zeit eignet. Dies war beispielsweise im Sudan 2010 nötig, als die Krankheit wieder ausbrach. Dazu werden zurzeit klinische Studien von DNDi in Zusammenarbeit mit der Universität Khartum im Sudan und der London School of Hygiene and Tropical Medicine, LSHTM, in Großbritannien durchgeführt. Finanziert werden durch das BMBF die klinischen Phasen II und III. Zudem soll ein neuer Wirkstoffkandidat für eine sichere, orale und kurze Behandlung aller Formen der viszeralen Leishmaniose weiterentwickelt werden. Weiterhin wird die European Vaccine Initiative für die Entwicklung eines Malariaimpfstoffes für Schwangere gefördert. Genauer gesagt, hat die EVI zusammen mit dem Institut national de la santé et de la recherche médicale aus Frankreich das PRIMALVAC-Projekt initiiert, das sich zum Ziel gesetzt hat, einen Impfstoff gegen eine mit einer Schwangerschaft einhergehenden Malaria - Pregnancy Associated Malaria, PAM - zu entwickeln. Das Projekt wird kofinanziert mit einer Förderung vom BMBF in Höhe von circa 4,4 Millionen Euro. Als dritte Ausschreibungsgewinnerin wird die Foundation for Innovative New Diagnostics, FIND, für die Entwicklung einer Diagnoseplattform für vier parasitäre Erkrankungen - Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Malaria - finanziell gefördert. FIND setzt die Gelder der Förderinitiative des BMBF zur Weiterentwicklung der molekularbiologischen Detektionstechnologie LAMP - Loop-Mediated Isothermal Amplification - ein, damit diese in den betreffenden Endemiegebieten vor Ort - also patientennah - eingesetzt werden kann. Gegenwärtig liegen die Schwerpunkte der Testentwicklung auf Methoden zum Nachweis und zur Kontrolle der Therapieeffizienz von Infektionen durch Leishmania-Parasiten, dem schnellen sowie empfindlichen Nachweis von Erregern der ChagasKrankheit bei Kindern infizierter Mütter, einem Hochdurchsatzsystem zum Screening großer Populationen auf Malariaerreger in Gebieten mit fallender Zahl von Neuinfektionen und einem Bestätigungstest zur Diagnose der Afrikanischen Schlafkrankheit mittels einer einfachen Blutprobe. Übrigens arbeiten die Forscher von FIND hier auch eng mit DNDi zusammen, da Forschung und Entwicklung für die Diagnose und Behandlung der Krankheiten natürlich eng miteinander verknüpft sind. Wie man sieht, bezieht sich die Förderung des BMBF sehr stark auf vorklinische und klinische Studien. Dies hat seinen guten Grund; denn klinische Studien sind teuer, und mit der Finanzierung steht und fällt oft eine solche Medikamentenentwicklung in einem vernachlässigten Forschungsbereich. Weil die Entwicklung von Medikamenten generell sehr teuer ist, ist mehr Geld natürlich immer wünschenswert, gerade bei einem so hehren Ziel. Aber wir können auch hier nicht losgelöst von den Rahmendaten des Bundeshaushalts agieren. Deshalb lautet mein Appell an alle Kollegen im Forschungsausschuss: Lassen Sie uns gemeinsam für die Fortschreibung der aktuellen Maßnahmen in Verbindung mit einem maßvollen Aufwuchs in den nächsten Jahren werben. Dies wird mit Blick auf die Auswirkungen der Schuldenbremse auf unseren Haushalt sicherlich eine schwierige, aber nicht unmögliche Arbeit. Packen wir sie also an!

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie ich bereits in meiner zu Protokoll gegebenen Rede bei der ersten Beratung des vorliegenden Antrags moniert habe, ist es - trotz der grundsätzlichen Berücksichtigung von vernachlässigten Krankheiten im parlamentarischen Raum - sehr bedauerlich, dass die jeweiligen Reden zu den entsprechenden Anträgen stets zu Protokoll gegeben worden sind. Ich stelle das redliche Engagement einzelner Fürstreiter dieses Themenkomplexes aufseiten der Koalitionsfraktionen nicht infrage, aber es kommen mir doch erhebliche Zweifel, ob das Engagement dieser einzelnen MdBs von ihren jeweiligen Fraktionen als Feigenblatt genutzt wird, um die tatsächlich geringe Wertschätzung für dieses Thema in den angesprochenen Fraktionen eventuell zu kaschieren. Eine ehrliche und engagierte Auseinandersetzung mit diesem Thema sollte einen offenen Austausch im Plenum zur Grundlage haben. Wie bereits in meiner vorangegangen Rede erwähnt, sehe ich - im Sinne einer aufrichtigen Wertschätzung der Betroffenen - dies als ein wichtiges Zeichen zu einem klaren Bekenntnis des Deutschen Bundestages hinsichtlich dieses Themas. Wie schon in den Beratungen des Antrags im Plenum vom März dieses Jahres sowie in der Sitzung des Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung deutlich wurde, bewegen sich alle parlamentarischen Initiativen - und mit ihnen jegliche staatlich gesteuerten Versuche, die vernachlässigten Krankheiten in den Entwicklungsländern zu bekämpfen - im Spannungsfeld zwischen Ohnmacht im Angesicht der Größe der zu bewältigenden Aufgabe und blindem Aktionismus - ohne dass allerdings ein Antrag eine Grenze überschreitet, wenngleich im Fall der Fraktion Die Linke einige utopische Forderungen enthalten sind. Es gilt demnach, eine Politik mit Augenmaß voranzutreiben, die sich am Machbaren orientiert und dennoch nicht vor den Herausforderungen kapituliert, die ausgewogene Forderungen stellt - insbesondere in Bezug auf eine finanzielle Ausgestaltung von Fördermaßnahmen. Ebenfalls ist es unabdingbar, dass zielgerichtete staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der vernachläsZu Protokoll gegebene Reden sigten Krankheiten nur dann erfolgversprechend sein können, wenn sie eine kontinuierliche und vor allem verlässliche Finanzierung der PDPs als Basis vorweisen können. Denn Forschungsprozesse im Rahmen der ({0})Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten - nicht nur der vernachlässigten Krankheiten - sind häufig unsichere bzw. unstete und demnach nur schwer planbare Prozesse, die sich nicht immer an den Zeithorizonten von Haushaltsjahren ausrichten lassen. Um so wichtiger ist es, wenn sich die involvierten Forscherteams auf eine verlässliche Finanzierung stützen können. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Verstetigung der Forschungsbemühungen jenseits einer reinen Projektförderung. Die Frage ist, ob das Ziel nicht besser über eine institutionelle Lösung erreicht werden kann. Denn Fachexpertise lässt sich am besten lokal bündeln und nicht in 27 Einrichtungen an sieben Standorten, wie es derzeit durch die Gründung eines entsprechenden „Deutschen Zentrums für Infektionsforschung“ durch das BMBF geplant ist. Eine effektive und zielgerichtete Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten darf sich nicht nur auf die Weiterentwicklung von Wirkstoffen beschränken, sondern muss auch stets den potenziellen Empfänger bzw. die Situation in den Zielländern im Blick behalten. Auch wenn ein Wirkstoff erfolgreich alle Phasen einer klinischen Erprobung bestanden hat, so bleibt er doch letztlich wirkungslos, wenn er nicht den Weg zum Patienten findet. Daher bedarf es stets der begleitenden CapacityBuilding-Maßnahmen in den Zielländern, um die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen und nachhaltigen Behandlung der Betroffenen sicherzustellen. Diese Erkenntnis hat sich offenbar auch aufseiten der Koalitionsfraktionen durchgesetzt, wie aus den Forderungen 12 und 13 des Koaltionsantrags deutlich wird. Wir halten diese Intention für grundsätzlich richtig und erstrebenswert, doch darf eine solche begleitende Maßnahme nicht auf Kosten der PDP-Förderung gehen. Der ohnehin schon bescheidene Haushaltstitel für diese Förderung sollte nicht noch durch die Unterstützung von Capacity-Building-Maßnahmen geschmälert werden, zumal dies in den originären Aufgabenbereich des BMZ fällt. Vielmehr möchten wir an dieser Stelle eine koordinierte Zusammenarbeit beider Ressorts anregen, in der sich beide Häuser in ihrer Arbeit ergänzen und sich dennoch auf ihren originären Zuständigkeitsbereich konzentrieren: Das BMBF sollte sich auf eine verstetigte Förderung und Finanzierung von erfolgversprechenden Wirkstoffen fokussieren, die flankierenden Maßnahmen im Capaciy-Building-Bereich hingegen sind aus dem Etat des BMZ zu bestreiten. Damit ein solcher Förderansatz auch langfristig erfolgreich sein kann, bedarf es natürlich einer engen Abstimmung zwischen beiden Häusern. In einer funktionierenden Koalition sollte eine Koordination dieser Art wohl kein Problem darstellen. Mit Enttäuschung ist festzustellen, dass die Regierungsfraktionen die Gelegenheit zur Klarstellung der vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion monierten Passagen in ihrem Antrag im Rahmen der Ausschusssitzung nicht genutzt haben. Gerne hätten wir etwa mehr erfahren zu dem im Antrag stehenden Zielkonflikt, einerseits ein ausgewogenes Verhältnis von Grundlagenforschung und produktorientierter Forschung anzustreben und andererseits eine bedarfsorientierte Entwicklung von Medikamenten in den Vordergrund zu stellen. Eine Klarstellung in dieser Hinsicht hätte nicht nur einen positiven Beitrag zur Konsistenz der eigenen Aussagen gebracht, sondern hätte zudem einen Hinweis hinsichtlich der programmatischen Ausrichtung des Förderprogramms gegeben. Dies wäre nicht nur für die Opposition von Interesse, sondern auch für potenzielle Antragsteller. Ebenfalls ist immer noch unklar, was Gegenstand der unter Punkt 16 des Antrags geforderten „positiven Evaluation“ sein soll, die als Grundlage für das weitere förderpolitische Handeln des Gesetzgebers herangezogen werden soll. Aus den zwei vorangegangen Punkten wird ein weiteres Mal deutlich, dass ein zielgerichteter Diskurs im parlamentarischen Raum den offenen und freien Gedankenaustausch über das gesprochene Wort braucht: nicht nur im Ausschuss, sondern auch im Plenum! Vielleicht erkennt die Union vor diesem Hintergrund an, dass eine offene Aussprache im Plenum - statt die Beiträge zu Protokoll zu geben - nicht nur der Wertschätzung des Themas selbst, sondern auch der Qualität der jeweiligen Anträge dienlich ist.

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Diskussion im Ausschuss über dieses Thema hat viel Übereinstimmung erkennen lassen. Das ist sehr erfreulich. Über 1 Milliarde Menschen, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern, leidet an sogenannten vernachlässigten tropischen Erkrankungen oder an Krankheiten, die mit Armut zusammenhängen. Wir möchten zur Verbesserung der Situation dieser Menschen unseren Beitrag leisten, und wir unterstützen die Maßnahmen, die die Bundesregierung in dieser Richtung unternimmt. Dabei ist klar, dass Forschung und Produktentwicklung zur Behandlung solcher Erkrankungen einen Teilaspekt in einem größeren Zusammenhang darstellen. Es geht hier um die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen. Bei Erkrankungen, deren Ursache Armut ist oder die Armut zur Folge haben, helfen nicht nur Medikamente. Hier spielen der Zugang zu sauberem Wasser, die hygienischen Verhältnisse, Aufklärung und Prävention und die dafür notwendige Infrastruktur eine große Rolle. Das sind wichtige Themen, die allerdings in diesem Antrag nicht im Mittelpunkt stehen. Bei der Förderung der Produktentwicklungspartnerschaften - PDPs -, der wichtigsten Maßnahme in diesem Antrag, geht es um Medikamente. Die Pharmaindustrie konzentriert sich auf Medikamente, mit denen sich Gewinne erzielen lassen. Wenn wir Politiker erreichen wollen, dass auch vernachlässigte Krankheiten erforscht und Behandlungen ermöglicht werden, wo keine Gewinne zu erwarten sind, dann müssen wir Anreize schaffen. Das BMBF schafft solche Anreize, indem es Zu Protokoll gegebene Reden die Entwicklung von Produkten zur Prävention, Diagnose und Behandlung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten fördert und unterstützt mit bis zu 28 Millionen Euro in den Jahren 2011 bis 2014. Dass die Bundesregierung in diesen Zeiten so viel Geld locker macht, um kranken Menschen in armen Ländern zu helfen, verdient Anerkennung. Auch darf die Opposition an dieser Stelle ruhig zur Kenntnis nehmen, dass wir Liberalen hier nicht etwa die Pharmaindustrie unterstützen, sondern dass wir uns für Menschen einsetzen, die sich Medikamente nicht leisten können. Die PDP sind aber auch unter anderen Gesichtspunkten ausgesprochen interessante und vielversprechende Kooperationsprojekte. Denn neben der produktbezogenen, anwendungsorientierten Forschung, die sie leisten, bilden sie auch Wissenschaftler und medizinisches Personal vor Ort aus, fördern damit den Wissenstransfer in die Schwellen- und Entwicklungsländer und tragen zur Verbesserung der Forschungsinfrastruktur dort bei. Dass alle Fraktionen PDP begrüßen und ihre Förderung unterstützen, darüber freue ich mich. Ich denke, dies ist ein richtiger und erfolgversprechender Weg. Die Organisationen, die jetzt gefördert werden, entwickeln Medikamente gegen die Afrikanische Schlafkrankheit, die viszerale Leishmaniose, die ChagasKrankheit und gegen Wurmerkrankungen - Drugs for Neglected Diseases initiative, DNDi -, eine Diagnoseplattform für die vier parasitären Erkrankungen Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Malaria - Foundation for Innovative New Diagnostics, FIND - und einen Malariaimpfstoff für Schwangere - European Vaccine Initiative, EVI -. So haben wir berechtigte Hoffnung, dass in absehbarer Zeit Medikamente und Impfstoffe für die Betroffenen nicht nur zur Verfügung stehen, sondern auch für sie erreichbar und zugänglich sind. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Ein anderes Problem möchte ich noch ansprechen. HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose, die sogenannten Großen Drei mit hohen Erkrankungsraten, werden von der Weltgesundheitsorganisation, WHO, bekanntlich nicht zu den 17 vernachlässigten Tropenkrankheiten gezählt. Sie stehen aber zweifellos im Zusammenhang mit Armut, und sie verlaufen gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern sehr oft tödlich. Wir sollten durchaus darüber nachdenken, ob in Zukunft auch PDP im Hinblick auf die „Großen Drei“ gefördert werden könnten. Die Max-Planck-Gesellschaft erforscht in einem südafrikanischen Partnerinstitut Tuberkulose; auch dies ist ein wegweisendes Projekt. Wir hoffen, dass andere Forschungsorganisationen diesem guten Beispiel folgen werden. Sie sehen: Wir fördern und unterstützen viele gute Ansätze. Deshalb können wir uns sehr gut vorstellen, dass auch die Oppositionsfraktionen unseren Antrag unterstützen. Wir würden uns freuen.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der vorliegende Antrag der Koalition ist zweifelsohne gut gemeint. Vernachlässigte Krankheiten treffen rund 1 Milliarde Menschen, das heißt jeden siebten Erdbewohner. Diese untragbare Situation zu verbessern, sollte vordringlichste Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sein. Für die Menschheit im 21. Jahrhundert ist es ein Armutszeugnis, dass so viele Menschen mit ihren Leiden schlicht alleingelassen werden. Betroffen sind natürlich vor allem die Menschen im globalen Süden. Sie haben nicht genügend Geld und bekommen deshalb nicht die erforderliche Medizin. Leider sind die im Koalitionsantrag erhobenen Forderungen nicht geeignet, daran grundsätzlich etwas zu ändern. Vieles bleibt schwammig, die entscheidenden Punkte fehlen. Aus der in weiten Teilen richtigen Analyse der heutigen Situation zieht die Koalition nicht die logischen Schlussfolgerungen. So heißt es zwar im Antragstext, das wirtschaftliche Interesse von Pharmaunternehmen an der Erforschung und Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten sei eher gering. Das ist zwar etwas verharmlosend, aber von der Tendenz her richtig. Konsequente Lösungsansätze für diese Problematik bleibt der Antrag aber schuldig. Dabei zeigt alleine dieser Teilaspekt das ganze Versagen des pharmazeutischen Markts und die unbedingte Notwendigkeit, hier schnell und grundsätzlich Veränderungen herbeizuführen. Die Faktenlage spricht für sich: Aus Profitinteresse konzentriert die Pharmaindustrie ihre Wirkstoffforschung vor allem auf Krankheiten, bei denen ein fertiges Medikament in den Industrieländern großen Absatz verspricht. Nur 10 Prozent der globalen Forschungsausgaben beziehen sich auf Krankheiten, die 90 Prozent zur globalen Krankheitslast beitragen. Gleichzeitig investieren pharmazeutische Firmen mehr als doppelt so viel in Marketingmaßnahmen als in die Forschung selbst. Zusätzlich fließt ein beträchtlicher Teil der Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen in Produkte, die kaum einen oder keinen therapeutischen Zusatznutzen im Vergleich zu bereits bestehenden Produkten haben. Wellnessmedizin für die zahlungskräftigen Industrieländer statt lebensrettende Medikamente für die finanzschwachen Entwicklungsländer. Menschenleben zählen offensichtlich im kapitalistischen Wirtschaftssystem weniger als Profitmaximierung. Das ist des Pudels Kern. Kein Wunder allerdings, dass die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition dies nicht wahrhaben wollen. Es würde ihr Weltbild wohl nachhaltig schädigen. In das hohe Loblied auf das Förderkonzept der Bundesregierung „Vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten“ können wir nicht einstimmen. Mit einem Fördervolumen von etwa 18 bis 20 Millionen Euro in 2010 liegt Deutschland im Vergleich mit anderen Industriestaaten weit abgeschlagen. Selbst Schwellenländer wie Südafrika investieren proportional zur Wirtschaftskraft mehr in die Forschung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten. Zu Protokoll gegebene Reden Die Linke spricht sich aus für eine umfassendere Förderung von gemeinsamen internationalen Non-ProfitOrganisationen, bestehend aus Pharmakonzernen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften. Wir müssen die öffentliche Forschung und das von UNITAID initiierte Konzept der Patentpools massiv stärken und ausbauen. Wenn klinische Forschung öffentlich gefördert wird, müssen Open-Access-Veröffentlichungen die Ergebnisse der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung stellen. In Open-Data-Lösungen liegt die Zukunft der Forschung, nicht im veralteten Patentrecht. Das Konzept der sozialen Verantwortung in der Lizenzpolitik, das sogenannte Equitable Licensing, ist auf dem Weg dahin ein großer Fortschritt. Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, endlich einen Gesetzentwurf in Anlehnung an das italienische Modell des AIFA-Fund vorzulegen. Dieser erhebt eine Abgabe auf die jährlichen auf Ärzte bezogenen Marketingausgaben von Pharmafirmen in der Höhe von 5 Prozent. Die Einnahmen fließen exklusiv in die öffentliche Forschung für vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten. Es gibt absolut kein einziges vernünftiges Argument gegen diese Maßnahme. Die Wahrheit ist: Die Bundesregierung will sich nicht mit der Pharmalobby anlegen, nicht einmal in diesem eher kleinen Punkt. Abschließend möchte ich noch einmal ganz deutlich sagen: Vernachlässigte Krankheiten sind armutsbedingte Krankheiten. Wer weltweit das Menschenrecht auf Gesundheit durchsetzen möchte, muss den globalen Wohlstand gerechter umverteilen. Daran führt kein Weg vorbei. Die Linke ist und bleibt die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag die bereit ist, diesen Weg einzuschlagen.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Über 1 Milliarde Menschen leidet weltweit an den sogenannten vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten. Wir sprechen also heute über ein Thema, das ein Siebtel der Weltbevölkerung betrifft. Es ist daher mehr als bedauerlich, dass wir diesen Punkt erneut mit einer Protokollrede abhandeln, anstatt das Thema einmal ordentlich mit Redezeit auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen. Anders sah es da bei der Weltgesundheitsversammlung der WHO im Mai dieses Jahres aus. Eines der zentralen Themen war der Abschlussbericht der Consultative Expert Working Group on Research and Development, CEWG, mit seiner Empfehlung zu einer internationalen Forschungskonvention. Ziel einer solchen Konvention wäre es, die weltweiten Forschungsanstrengungen im Bereich der vernachlässigten und armutsbedingten Krankheiten zu koordinieren und verbindlich zu regeln - und dies auch im Rahmen konkreter finanzieller Verpflichtungen. „Finanzielle Verpflichtung“ ist auch ein gutes Stichwort in Bezug auf den Antrag der Koalition. Leider wird dieser zentrale Punkt im Antrag stark vernachlässigt. Zwar fordert die Koalition sehr richtig, die Forschungsanstrengungen im Bereich der vernachlässigten Krankheiten wie auch im Bereich von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose zu intensivieren, allerdings ist dies schwerlich möglich ohne konkrete finanzielle Zusagen. Ungenau zeigt sich der Antrag auch in Bezug auf die Einbeziehung von Forschungsanstrengungen zu HIV/ Aids und Tuberkulose in das Instrument der Produktentwicklungspartnerschaften ({0}). Hier gilt es aber genau zu differenzieren, um Forschungsungleichgewichte zu vermeiden und gerade den Bedürfnissen der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern gerecht zu werden. Ein zentrales Defizit im Bereich der HIV/ Aids-Medikamentenentwicklung sind beispielsweise Medikamente für Kinder. Während Kinder in den Industrienationen kaum von der tödlichen Infektionskrankheit betroffen sind, leben die 2,5 Millionen betroffenen Kinder vornehmlich in Ländern mit geringen oder mittleren Einkommen. Dementsprechend gibt es auch kaum kindergerechte Medikamente, und daher gilt es insbesondere, die vernachlässigten Aspekte der Prävention, Diagnose und Behandlung von HIV/Aids gezielt in solch eine Forschungsförderung aufzunehmen, wie wir es auch in unserem eigenen Antrag gefordert haben, und nicht nur allgemein, wie Sie es getan haben. Leider spart der vorliegende Antrag auch den Aspekt des „geistigen Eigentums“ aus. Dabei ist gerade dieser zentral in der Debatte um die Verbesserung der Gesundheitssituation in Entwicklungs- und Schwellenländern. 1,7 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu essenziellen Medikamenten. So führen unter anderem hohe Medikamentenpreise dazu, dass sich viele Menschen auch bereits existierende Medikamente nicht leisten können. Ein untragbarer Zustand zulasten von Millionen von Menschen. Mit der Doha-Erklärung von 2001 wurde versucht, gerade dahingehend das Menschenrecht auf Gesundheit zu stärken und den Zugang zu Medikamenten durch sogenannte TRIPS-Flexibilitäten zu fördern. Hier wäre ein eindeutiges Bekenntnis der Koalition nötig gewesen, um ein klares Signal gegen das andauernde Unterwandern der international vereinbarten Standards zu geistigen Eigentumsrechten in Freihandelsverträgen zu setzen. Wir begrüßen zwar die grundsätzliche positive Zielsetzung des Antrags und unterstützen auch einige der Forderungen, aber, wie gerade erläutert, bleibt der Antrag leider weit hinter seinen Möglichkeiten und verfehlt es, klare Forderungen unter anderem in Bezug auf Finanzierung und geistige Eigentumsrechte zu formulieren. Wir lehnen daher den Antrag und somit auch die Beschlussempfehlung ab.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10082 die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8788. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exzellente Lehrerbildung überall sichern Pädagogische Berufe aufwerten - Drucksache 17/10100 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Haushaltsausschuss Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einer der Grundsteine für eine erfolgreiche Bildungsbiografie wird in der Schule gelegt. Dabei hängt die Qualität des gesamten Bildungssystems entscheidend von der Qualifikation der Lehrerschaft ab, und die jungen Menschen, die sich für einen Einstieg in den Lehrerberuf entscheiden, müssen die Qualität der Aus- und Weiterbildung stetig steigern und sich den neuen Erfordernissen anpassen. Die Qualität schulischer Bildungsangebote zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass Kinder und Jugendliche im Schulunterricht entsprechend ihren Begabungen, ihren Stärken und Schwächen gefördert werden. Lehrkräfte nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein, wenn es darum geht, jungen Menschen bestmögliche schulische Bildung zukommen zu lassen. Sie vermitteln darüber hinaus nicht nur Wissen, sie prägen den Lebensweg junger Menschen entscheidend mit. Sie müssen daher pädagogisch, methodisch, fachdidaktisch und persönlich befähigt sein, positiv und motivierend zu wirken. Die Anforderungen an den Lehrerberuf wachsen stetig. Besonders in den vergangenen Jahren hat sich das Anforderungsprofil an die Lehrerschaft gewandelt. Verschiedene internationale und nationale Vergleichsstudien haben die enormen Herausforderungen beschrieben, denen Lehrerinnen und Lehrer heute gegenüberstehen. Insbesondere die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen in Verbindung mit den Herausforderungen der Integration sowie die verstärkt differenzierten Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft machen eine Anpassung der Lehrerausbildung an die aktuellen Entwicklungen erforderlich. Eine weitere Herausforderung liegt in der Zusammensetzung der Lehrerschaft: In den nächsten Jahren werden uns bundesweit vor allem in den sogenannten Mangelfächern Lehrkräfte fehlen, obwohl zunächst aufgrund der demografischen Entwicklung der Schülerschaft keine großen Lücken bei der Personaleinstellung entstehen. Bedenkt man jedoch die Anforderungen an eine Qualitätssteigerung und Quantitätssteigerung, wie zum Beispiel die Verbesserung der methodischen Lernvermittlung und Fachdidaktik, der Schüler-LehrkraftRelation und der Anpassung an die gegebenen Herausforderungen, ergibt sich ein voraussichtlicher Mehrbedarf von jährlich 30 000 Lehrkräften bis zum Jahr 2020. Um mehr Lehrkräfte zu gewinnen, muss der Lehrerberuf so ausgestaltet sein, dass sich mehr Abiturienten für ein Lehramtsstudium entscheiden. Der Lehrerberuf muss für junge Menschen wieder attraktiv werden. Hinzu kommt, dass über die Hälfte der heute tätigen Lehrerinnen und Lehrer älter als 50 Jahre sind und auf ihre Pensionierung zusteuern. Die unter Vierzigjährigen bilden mit 27 Prozent hingegen eine relativ kleine Gruppe. Unter 30 Jahre sind lediglich 6 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer. Eine ältere Lehrerschaft bedeutet zwar nicht automatisch einen Verlust an Unterrichtsqualität, doch eine gut durchmischte Zusammensetzung in der Altersstruktur der Lehrer verstärkt auch den Erfahrungs- und Kompetenzaustausch. Auch erfährt der Lehrerberuf bedauerlicherweise nicht genug gesellschaftliche Anerkennung und zieht auch aus diesem Grund nicht genug geeignete Studierende zu einem Lehramtsstudium an die Universitäten. Zusätzlich sind angehende Lehrerinnen und Lehrer oft nicht ausreichend auf das Berufsbild vorbereitet, was sich auf die Qualität des Unterrichts auswirken kann. Ebenso sind viele der jetzigen fachlich guten Lehrer nicht auf die neuen Herausforderungen vorbereitet, die im Schulalltag auftreten. So empfindet auch über die Hälfte der Lehrerschaft den Beruf heute als anspruchsvoller und anstrengender als noch vor fünf Jahren. Schließlich bleibt die begrenzte Mobilität von Lehramtsstudierenden und aktiv tätigen Lehrkräften zwischen den einzelnen Bundesländern ein Problem, das es zu bewältigen gilt. Durch die nach wie vor uneinheitliche Anerkennung von Studienleistungen und Abschlüssen der verschiedenen Bundesländer existieren unnötige Hemmnisse, die einen konstruktiven bundesweiten Austausch didaktischer und fachlicher Expertise innerhalb der Lehrerschaft erschweren. Daher sollte es auch Ziel der Politik sein, die Mobilität angehender und aktiver Lehrer zu fördern. Dies im Einklang mit dem föderalen Bildungssystem zu gestalten, ist Herausforderung und Chance zugleich. Dem Wandel des Anforderungsprofils des Lehrerberufs muss die Bildungspolitik Rechnung tragen. Die kontinuierliche Verbesserung Deutschlands im PISA-Ranking spricht zwar dafür, dass in den Schulen vieles gut läuft, aber es gibt Verbesserungsbedarf, und wir dürfen uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen. Daher müssen auch Strukturen und Inhalte der Lehrerbildung überprüft und verbessert werden, sei es im fachlichen, didaktischen oder auch im methodischen Bereich. Für eine Verbesserung der Lehrerbildung bedarf es daher eines Anstoßes, der die Öffentlichkeit und die Lehrer der Zukunft für die Notwendigkeit exzellenter Lehrerbildung sensibilisiert. Ein solcher erster Schritt und Impuls kann - wie bei den Hochschulen bereits bewiesen - in einer Exzellenzinitiative liegen. Die von uns auf den Weg gebrachte Qualitätsoffensive Lehrerbildung hat zum Ziel, die Lehrerausbildung und -weiterbildung fortzuentwickeln. Universitäre Initiativen, die in einem Wettbewerb bewertet und gefördert werden, setzen nachhaltige Impulse - Impulse da22540 Marcus Weinberg ({0}) für, die Bedeutung der Lehrerbildung an Hochschulen aufzuwerten und sie aus der Nische ins Zentrum der universitären Profilbildung zu rücken. So soll ein Qualitätsschub in Forschung und Lehre erreicht und die Lehrerbildung in ihrer ganzen Breite weiterentwickelt werden. Wie soll dies vonstattengehen? Die Exzellenzinitiative soll im Rahmen eines Wettbewerbs stattfinden. Dabei können einzelne Hochschulen oder Hochschulen im Verbund Zukunftskonzepte einreichen, die eine praxisorientiere und forschungs- bzw. evidenzbasierte Lehrerbildung zum Inhalt haben. Die Auswahl erfolgt anhand verschiedener Kriterien wie dem aktuellen Stand der Forschung oder klarer Berufsfeldorientierung. Ebenso soll das Konzept die Fachdidaktik stärken und damit einhergehend eine fundierte Wissensbasis für die angehenden Lehrer schaffen. Die Bewertung erfolgt durch eine externe Jury. Die ausgewählten Hochschulen können für fünf oder zehn Jahre gefördert werden und sollten sich dazu verpflichten, das Konzept nach Auslauf der Förderphase institutionell zu sichern. Die ausgewählten Konzepte werden so zu Leuchttürmen der Lehrerbildung und können als solche flächendeckend wahrgenommen werden. In einer Anhörung im Bildungsausschuss des Bundestages in dieser Woche begrüßten alle befragten Experten die von uns als Koalition eingebrachte Exzellenzinitiative Lehrerbildung. Nachdem 15 Jahre über eine Reform und eine Weiterentwicklung der Lehrerausbildung diskutiert wurden, wurde nun vor allem gelobt, dass diese Offensive endlich der konsequente Schritt in die richtige Richtung sei, der das Problem anpacke. Einige der Experten bestätigten zudem, dass gerade von einem Leuchtturmprojekt wie dieser Exzellenzinitiative für die Lehrerbildung eine Impulskraft für die gesamte Schullandschaft ausgehen wird. Die Qualität wird sich auch in der Breite ausdehnen, denn ein derartiges Projekt hat Modellcharakter, weil es Standards setzt. Es funktioniert nach einem Ansteckungsprinzip, da es zu neuen Wegen inspiriert und darüber hinaus Kooperationen und Vernetzungen zwischen den Universitäten ermöglicht. Eine Ausschüttung der Fördermittel für das Programm mit der Gießkanne - wie es die Kollegen in dem vorliegenden Antrag der Kollegen der Linken fordern - lehnten die meisten der Sachverständigen jedoch ab. Wenn an Universitäten eingespart werden müsse, geschieht das nicht selten zulasten des Studiengangs Lehramt. Eine breite Finanzierung ohne Zielrichtung könnte dazu führen, dass die Mittel versickern und damit wirkungslos bleiben. Zukünftig sollen vielmehr Universitäten, die ein innovatives Forschungskonzept für die Lehrerausbildung vorlegen, mit der Förderung in die Lage versetzt werden, die Ausbildung an der Einrichtung zu institutionalisieren. Die Konzepte sollen zunächst für fünf Jahre bis zehn Jahre mit dem langfristigen Ziel einer dauerhaften institutionellen Förderung gefördert werden. Einer der Hauptdiskussionspunkte war darüber hinaus der oft unzureichende Praxisbezug des Studiums. Gerade die jetzt vorgesehene Exzellenzinitiative betont die Praxisorientierung während des Studiums. Auch eine enge Zusammenarbeit der unterschiedlichen Institutionen ist unter Umständen eine von vielen möglichen Lösungen, um der Praxisorientierung im Studium das richtige Gewicht zu verleihen. Lehrerinnen und Lehrer müssen vor allen Dingen schon bereits während der ersten Phase der Ausbildung ein Gefühl dafür bekommen, was der Lehrerberuf bedeutet und welche Anforderungen im Schulalltag bestehen. Wir wollen sehr gute Schüler, sehr gute Lehrer, sehr gute Bildung. Mit der Exzellenzinitiative für Lehrerbildung kommen wir diesem Ziel wieder ein Stück näher. Die Bildungsrepublik Deutschland nimmt langsam Gestalt an.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bereits am 14. Juni haben wir zu einem Antrag der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der Lehrerausbildung“ umfangreiche Reden zu Protokoll gegeben. Am 25. Juni hat dann ein intensives Fachgespräch mit Experten über Qualität und Verbesserung der Lehrerausbildung in Deutschland im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung stattgefunden. Jetzt, drei Tage später, geben wir erneut eine Debatte zu Protokoll, die sich mit dem Antrag der Linkspartei mit dem Titel „Exzellente Lehrerbildung überall sichern - Pädagogische Berufe aufwerten“ befasst. Weil diese Als-ob-Debatte über zu Protokoll gegebene Texte nur einen begrenzten parlamentarischen Reiz hat, will ich auf grundsätzliche Aspekte der Lehrerbildung und spezielle Fragen ihrer Aus- und Weiterbildung nicht näher eingehen. Ich verweise hierzu auf meinen umfassenden Textbeitrag im Protokoll des Deutschen Bundestag vom 14. Juni 2012, Drucksache 17/184, Seiten 22031 bis 22034. Deshalb folgen nur einige kurze Bemerkungen zum Antrag der Linkspartei. Erstens. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass die Linkspartei einen solchen Antrag einbringt, damit wir ein breites parlamentarisches Spektrum an Analyse, politischer Bewertung und Initiativen zu diesem zentralen Thema der Bildungspolitik im Bundestag haben. Auch die SPD-Bundestagsfraktion bereitet hierzu einen Antrag vor, den wir zu einem geeigneten Zeitpunkt in den Bundestag einbringen werden, nämlich im Lichte der weiteren Beratungen in der Kultusministerkonferenz und der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz. Sie alle in den einschlägigen Fachkreisen des Bundestages wissen, dass schon sehr detaillierte Vorarbeiten geleistet werden, um zu einem gemeinsamen Konzept für eine wettbewerblich angelegte Förderinitiative zur Lehrerbildung zu kommen. Das Verdienstvolle am Antrag der Linkspartei ist, dass er sich im Gegensatz zu CDU/CSU und FDP nicht darauf beschränkt, die Vorarbeiten aus der einschlägigen KMK-Arbeitsgruppe weitgehend abzuschreiben, sondern eigene Akzente in die Debatte einzubringen. Zweitens. Die Linkspartei spricht sich in ihrem Antrag gegen die Auslobung eines Exzellenzwettbewerbs in Zu Protokoll gegebene Reden der Lehrerbildung aus. Des Weiteren stellt die Linkspartei fest, dass ein bundesweiter Qualitätswettbewerb, der einige wenige sogenannte Leuchtturmprojekte fördert, eine flächendeckende, hochqualitative Lehrerausbildung nicht gewährleisten kann. Hierzu einige Kommentierungen: Es ist natürlich richtig, dass ein bundesweiter Qualitätswettbewerb nicht automatisch flächendeckende, hochqualitative Lehrerausbildung gewährleisten kann, aber ein solcher bundesweiter Qualitätswettbewerb kann dazu einen wesentlichen Impuls geben und einen nachhaltigen Beitrag leisten. Deshalb unterstützen wir auch die Initiative von Bund und Ländern, hier in einem Wettbewerbsverfahren eine große Zahl der aktuell 120 Hochschulen, an denen in Deutschland Lehrerausbildung stattfindet, bei der Verwirklichung neuer Ideen zu stimulieren und zu unterstützen. Wir sehen uns auch durch die Experten in dem Fachgespräch des Bildungsausschusses darin bestätigt, dass sich ein solcher bundesweiter Qualitätswettbewerb keineswegs an dem Exzellenzwettbewerb der universitären Spitzenforschung orientieren sollte. Sie alle wissen, dass bei dieser Exzellenzinitiative tatsächlich, wenn Sie zum Beispiel die Förderlinie der Spitzenuniversitäten nehmen, in der dritten Runde nur 11 sogenannte Leuchttürme aus allen deutschen Hochschulen gefördert werden und sich diese dann auch noch auf 6 von 16 Bundesländern konzentrieren. Auch wenn die Verteilung bei den Graduiertenkollegs und Exzellenzclustern etwas breiter gefasst ist, kann dieses dennoch nicht das Förderprinzip für eine Initiative zur Verbesserung der Lehrerbildung sein. Tatsächlich brauchen wir eine Verbesserung der Lehrerbildung in allen Bundesländern und an deutlich mehr Hochschulen, die dann in Kooperation miteinander und auch als Anreiz für die Lehrerausbildung in den jeweiligen Bundesländern breit und nachhaltig gefördert werden. Organisatorisches Vorbild hierfür sollte der „Qualitätspakt Lehre“ sein, der sicherstellte, dass alle Bundesländer an diesem Programm partizipieren konnten und der gleichzeitig so angelegt war, dass es auch eine Bestenauswahl unter den eingereichten Anträgen je Bundesland und auch über die Bundesländer hinweg gegeben hat. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Den bisher vorgelegten Antrag der Fraktionen von CDU/ CSU und FDP unterstützen wir nicht, weil er unklar bleibt in der Förderstruktur und der Sicherstellung der Beteiligung aller Bundesländer an einer solchen Initiative. Den Antrag der Linkspartei werden wir genauso wenig unterstützen, weil er sich einmal mehr grundsätzlich gegen einen gemeinsam von Bund und Ländern organisierten Wettbewerb in der Lehrerbildung wendet und stattdessen eine wettbewerbsfreie Förderung der Lehramtsstudiengänge an sämtlichen Hochschulen in Deutschland fordert. Drittens. Der Antrag der Linken beinhaltet in der Analyse wie in den wesentlichen Zielsetzung einer Qualitätsoffensive sehr viel Richtiges, das sich auch deckt mit den Ausführungen, die von sozialdemokratischer Seite in der kürzlich zu Protokoll gegebenen Debatte angesprochen worden sind. Ich unterstütze die Aussagen zum schrittweisen Aufbau einer schulstufenbezogenen Lehrerausbildung aus entwicklungspsychologischen, aus pädagogischen wie auch aus unterichtspraktischen und schulorganisatorischen Gründen. Die Hinweise der Linkspartei, dass schon aus Gründen der Mobilität von Lehrerinnen und Lehrern eine Schularten übergreifende Lehrerausbildung geboten ist, sind richtig. Auch den Hinweis auf den Reformprozess hin zu einer inklusiven Schule für alle teilen wir. Viertens. Die Linkspartei fordert die Bundesregierung auf, zusammen mit der Kultusministerkonferenz und außerparlamentarischen Akteuren zu prüfen, wie die Berufseinstiegsphase nach dem an der Praxis orientierten Lehramtsstudium neu gestaltet werden kann. Genauso sollte allerdings durch die Kultusministerkonferenz geprüft werden, wie die Lehramtsausbildung in Form eines Bachelor-/Masterstudiengangs so gestaltet werden kann, dass nach einem Bachelorabschluss der Anspruch besteht, das Studium über einen Masterstudienplatz zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen und sich dann in die Lehrerlaufbahn zu begeben. Darüber hinaus sollte man auch dafür sorgen, dass nach einem Bachelorabschluss über den Lehramtsabschluss hinaus auch die Anschlussfähigkeit zu anderen pädagogischen Berufen mit besteht, die außerhalb von Schule zum Beispiel in der Erwachsenenbildung, im Bildungsmanagement oder anderen pädagogischen Berufen liegen könnten. Denn die Zwangsläufigkeit, dass aus einem Einstieg in die erste Phase der Lehrerausbildung über den Bachelor zwangsläufig nur die zweite Phase der Lehrerausbildung über den Master folgen kann, muss weder der richtige Weg für den ursprünglich am Lehramt Interessierten noch für die Kinder und Jugendlichen sein, denen möglicherweise auch ungeeignete wie letztlich unmotivierte Pädagogen gegenübertreten würden. Hier durch intensive Praxisphasen und Beratung dafür zu sorgen, dass eine schulpädagogische Ausbildung keine Eindimensionalität hat - quasi bis zum bitteren Ende -, sondern auch Alternativabschlüsse ermöglicht, wird ein wichtiger Teil eines solchen neustrukturierten Lehramtsstudiengangs sein müssen. Fünftens. Dass die Linkspartei in ihrem Antrag dafür wirbt, dass Bund und Länder durch geeignete Maßnahmen allen pädagogischen Berufen in der Gesellschaft wieder Anerkennung und Ansehen verschaffen, wird von der SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich unterstützt. Auch der Hinweis, dass nicht nur Lehrerinnen und Lehrer eine verantwortungsvolle Tätigkeit ausüben, sondern auch die übrigen pädagogischen Berufe, ist vollkommen richtig und kann gar nicht häufig genug betont werden.

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn wir uns heute über die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern unterhalten, so sollte am Beginn die Erkenntnis stehen, dass der Erfolg einer guten Bildungsund Sozialpolitik auch von der Umsetzung durch motivierte, gut aus- und fortgebildete Lehrerinnen und Lehrern abhängt. Wir wissen, dass dieser Beruf von hohen fachlichen Erwartungen genauso geprägt ist wie von eiZu Protokoll gegebene Reden ner immens hohen Verantwortung für junge Menschen. Deshalb sollte aus meiner Sicht am Beginn einer solchen Debatte hervorgehoben werden: Lehrerinnen und Lehrern muss für ihre Arbeit die notwendige Wertschätzung entgegengebracht werden. Vor diesem Hintergrund müssen wir in Zukunft mehr junge Menschen für den Beruf des Lehrers bzw. der Lehrerin begeistern. Bis 2020 werden in Deutschland durchschnittlich 28 000 Lehrerinnen und Lehrer pro Jahr benötigt. Den wachsenden Bedarf infolge des Generationswechsels werden wir nur durch Begeisterung für den Lehrerberuf stillen können. Diese Begeisterung kann jedoch nur geweckt werden, wenn Ausbildung und Arbeitsbedingungen attraktiv sind. Dieses allgemeine Bekenntnis und die ausgedrückte Wertschätzung müssen sich auch in konkreten Maßnahmen zur Unterstützung der Lehrerbildung niederschlagen. Denn der Lehrerberuf ist heute vielfältigen Anforderungen ausgesetzt, die nur unzureichend in der Ausund Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern abgebildet werden. Ich möchte einige davon beispielhaft nennen. Hier ist sicherlich an erster Stelle der Umgang mit heterogenen Schülergruppen zu nennen. Dies betrifft alle Schulformen und Schulstandorte; denn die Schülerschaft stellt an jedem Standort enorme Anforderungen an das Unterrichten. Insbesondere die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wird den Alltag an Schulen in dieser Hinsicht positiv verändern und zugleich große Anforderungen im Umgang mit heterogenen Lerngruppen an Lehrerinnen und Lehrer stellen. Hier wird das immer wieder gebrauchte Wort der individuellen Förderung weiter an Gewicht gewinnen. Für Lehrerinnen und Lehrer wird es zukünftig auch stärker darauf ankommen, den komplexen Anforderungen der Arbeit mit jungen Menschen durch eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit anderen Professionen zu begegnen. Schulsozialarbeiter - 3 000 von ihnen konnten auf Druck der SPD seit dem vergangenen Jahr bundesseitig gefördert werden -, Sonderpädagogen, insbesondere im Feld der Inklusion, und weitere Berufsgruppen kümmern sich nicht nur um die gleiche Zielgruppe, sondern sind auch in die Zusammenarbeit im schulischen Alltag zu integrieren. Eine weitere große Herausforderung wird in der Gestaltung des rhythmisierten Schulalltags in der Ganztagsschule liegen. Die Eltern wählen bewusst häufiger die Ganztagsschule und haben zu Recht hohe Erwartungen an deren Qualität. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen, und manche Schwierigkeiten, die den Alltag des Lehrerberufs beeinflussen, werden derzeit weder in der ersten noch in der zweiten Ausbildungsphase bearbeitet. Dazu gehören Fragen wie: Wie wird der Elternabend gestaltet? Wie ist mit Disziplinproblemen umzugehen? Wie ist unerwarteten Krisen zu begegnen? Auf diese vielfältige Realität muss Lehrerausbildung zukünftig besser vorbereiten. Der viel zitierte Praxisschock resultiert insbesondere aus der Tatsache, dass die schulische Praxis im Studium nicht ausführlich genug und auch zu spät thematisiert wird. Insofern liegt eine der wichtigsten Herausforderungen darin, die Ausbildungsphasen im Lehrerberuf aufeinander zu beziehen und stärker sowie frühzeitiger mit der schulischen Praxis zu verbinden. Dies ist eine Aufgabe für die erste Ausbildungsphase. So einfach es klingen mag, aber gute Lehre an Schulen setzt gute Lehre an den Hochschulen, die Lehrerinnen und Lehrer ausbilden, voraus. Auf die Qualität der Lehre an den Hochschulen insgesamt und im Besonderen in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern muss hohe Aufmerksamkeit gelegt werden. Einmal im Beruf angekommen, ändern sich der Alltag und das Anforderungsprofil für Lehrerinnen und Lehrer beständig. Daher ist es wichtig, die Fortbildung auf dem besten Niveau von Methodik und Didaktik ausreichend ausgestattet und kontinuierlich anbieten zu können. Hierfür sind die Länder zuständig. Dennoch hat der Bund seinerseits im Rahmen seiner Rolle als Zuwendungsgeber die Möglichkeit, finanzielle Zuwendungen an Hochschulen mit Zielen zu verbinden. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft, Hochschulen für die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern, insbesondere im Bereich von Pädagogik und Didaktik, zu öffnen und damit auch den beständigen Austausch zwischen Wissenschaft und Forschung an den Hochschulen einerseits und schulischer Praxis andererseits zu fördern. Dies scheint insbesondere mit Blick auf die eingeleiteten und ständig zu evaluierenden Maßnahmen der Qualitätssicherung von größer werdender Bedeutung zu sein. Sie sind ein Beispiel dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnis und schulische Praxis in einem engen Zusammenhang stehen. Nicht zuletzt ist zu beachten, dass die Bildungsforschung den Bedarf in zentralen Feldern der Forschung über Lehre, Qualität und Unterricht weiterhin in den Blick nimmt. Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Antrag „Förderung der Bildungsforschung vorantreiben“ bereits einen konkreten Vorschlag gemacht, die Unterrichts- und Lehrerforschung auszuweiten. Wertschätzung, qualitativ hochwertige Erst- und Fortbildung sowie die Verknüpfung von Forschung und Praxis sind entscheidende Stichworte für eine zeitgemäße Lehrerbildung, und zwar an allen Hochschulen, die Lehrer ausbilden, und nicht nur an wenigen mit Exzellenzstatus.

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft wird maßgeblich von der Bildungspolitik beeinflusst und getragen. Bildung ist somit das Fundament unserer Gesellschaft. Demzufolge sind wir verpflichtet, eine exzellente Qualität des Bildungssystems der Bundesrepublik Deutschland zu garantieren. Nur so können wir die verschiedenen Fortschritte in den unterschiedlichen Bereichen, wie zum Beispiel Wirtschaft und Soziales, innerhalb der Gesellschaft gewährleisten. Durch die zunehmende Internationalisierung und den damit verbundenen neuen Herausforderungen muss die Zu Protokoll gegebene Reden Bildungsrepublik Deutschland sich im stetigen Wandel der Globalisierung gegenüber den anderen Ländern behaupten können. Aus diesem Grund müssen wir stetig daran arbeiten, die Qualität des gesamten Bildungssystems zu verbessern. Selbstverständlich dürfen wir in dem angestrebten Verbesserungsprozess die Hauptakteure, nämlich die Ausbilder und Ausbilderinnen, Lehrer und Lehrerinnen sowie die Dozenten nicht vergessen. All diesen Personen kommt eine besondere Rolle zu, da sie innerhalb des Wandlungsprozesses eine Schlüsselrolle einnehmen. Die Bildungspolitik ist die bedeutsamste soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Darum müssen wir uns dafür einsetzen, die besten Kindergärten, die besten Schulen und Hochschulen zu etablieren, um Deutschland eine exzellente Zukunft gewährleisten zu können. Doch die weitere Entwicklung unseres Bildungssystems muss zunächst drei gesellschaftliche Herausforderungen meistern: Zum einen den demografischen Wandel, zum anderen die Inklusion und letztlich die Digitalisierung. Betrachtet man die drei genannten Herausforderungen im Einzelnen, so wird klar, dass der demografische Wandel als Schlüsselrolle innerhalb der Qualitätsverbesserung des deutschen Bildungssystems fungiert. Ein wichtiger Schritt dabei ist es, die Motivation der jungen Lehrkräfte zu fördern. Dies setzt jedoch voraus, dass die Ausbildungsbedingungen für potenzielle junge Lehrkörper einer Reform unterzogen und an die aktuell vorherrschende Zeit angepasst werden. Kurz, die Ausbildungsbedingungen sind veraltet und müssen dringend verbessert werden. Die Konsequenz im Falle der Nichtumsetzung dieser Forderung wird verheerend sein; denn schon heute kämpfen die Schulen mit der Überalterung der Lehrkräfte. So sind aktuell beinahe 50 Prozent der Lehrer und Lehrerinnen über 50 Jahre und älter. Die Ursache liegt maßgeblich an der Dauer der Hochschulausbildung sowie an dem momentan forcierten Einstellungsstopp. Letzteres wird auf den demografischen Wandel zurückgeführt. Auch die Inklusion stellt eine Herausforderung dar. Die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen stellt die Schulen, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Schülerinnen und Schüler vor neue Aufgaben. Im Folgenden bedeutet das, dass die Lerngruppen künftig heterogen sind, vonseiten der Schulen individuelle Förderungen angeboten werden müssen sowie eine Anpassung der pädagogischen Unterstützungsleistungen durchgeführt werden muss. Insgesamt ist es notwendig, eine Neugestaltung der Lehrerausbildung sowie der Schulorganisation vorzunehmen. Demzufolge stehen die Schulen in der Pflicht, sich an die Förderbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler anzupassen und folglich die Lehrerinnen und Lehrer hinreichend auszubilden. Nur so kann die Inklusion funktionieren. Die Digitalisierung erfordert ebenfalls eine umfangreiche Erneuerung. Konkret bedeutet dies, dass die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer sich an der heutigen Bildungstechnologieentwicklung orientieren muss. Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderung darf und kann die Ausbildung junger, dynamischer Lehrkräfte nicht in dem festgefahrenen Reglement bleiben, sondern sie benötigt Raum zur Veränderung. Nur so können potenzielle neue Lehrkräfte ausreichend motiviert werden und eine qualitativ hochwertige Ausbildung absolvieren, um im Umkehrschluss den ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern mit gutem Beispiel voranzugehen und diese zur Leistung zu motivieren. Doch die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer führt in der Bildungsrepublik eher ein Randdasein. Noch schlimmer: Sie wurde jahrzehntelang in der öffentlichen Wahrnehmung und Platzierung an den Hochschulen vernachlässigt. Angesichts der Herausforderungen einer sich entwickelnden Wissensgesellschaft, des drohenden Fachkräftemangels sowie des demografischen Wandels ist dieser Zustand nicht länger hinnehmbar. Es ist allseits bekannt, dass gute Lehrer den Grundpfeiler eines gelingenden Bildungssystems darstellen. Folglich verdient ihr Engagement die höchste gesellschaftliche Anerkennung, nicht zuletzt durch den Aspekt der Qualität; denn die Qualität im Klassenzimmer wird maßgeblich durch die Qualität der Lehrerausbildung bestimmt. Demnach kann nur ein exzellenter Unterricht mit exzellenten Lehrerinnen und Lehrern das Ziel sein. Doch nach wie vor bleibt dieses Ziel unerreicht, da die Lehrerausbildung in Deutschland noch immer stark vernachlässigt wird. Die verloren gegangene Anerkennung und Wertschätzung des Lehrerberufs muss wiederhergestellt werden. Deutschland ist eine Bildungsrepublik. Die Bildung ist unser Kapital. Darum müssen wir uns künftig darauf verständigen, die besten Abiturienten für ein Lehramtsstudium zu gewinnen und sie zu motivieren, den Lehrerberuf zu erlernen. Letztlich liegt das auch in unserem Interesse, da der wissenschaftliche Nachwuchs auf diesem Wege gesichert wird. Jedoch ist es mir auch wichtig, die Perspektive weiter zu öffnen; denn nicht nur die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer bedarf einer verstärkten Aufmerksamkeit und konkreter Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung, sondern auch ganz entscheidend die der Erzieherinnen und Erzieher. Daher erinnere ich an die Wichtigkeit des Bund-Länder-Programms zum Aufbau von Leuchttürmen in der Lehrerbildung. Für die Zukunft ist es wünschenswert, die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher mit einem ähnlichen Programm zu unterstützen. Wenn die Bildungsrepublik Deutschland wieder Erfolg erzielen möchte, dann gilt es, die Qualität der Ausbildung von potenziellen neuen Lehrerinnen und Lehrern zu stärken und weiter voranzubringen. Die Lehrerausbildung darf künftig nicht mehr wie das fünfte Rad am Wagen der Fachwissenschaften wahrgenommen werden. Zahlreiche Studien belegen, dass die Qualität des Unterrichts ein entscheidender Faktor nicht nur für das Kompetenzniveau darstellt, sondern auch für die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern. Insgesamt möchte ich noch einmal betonen, dass wir auf dem richtigen Weg sind und trotz aller Kritik schon Zu Protokoll gegebene Reden viel erreicht haben und den ersten Schritt in die richtige Richtung gegangen sind. So haben wir unter anderem die Exzellenzinitiative weiter fortgeführt, das Problem der Aufrüstung der Studienplatzkapazitäten ernst genommen und mithilfe des Hochschulpakts weiter ausgebaut. Auch wurde die Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen erleichtert, indem qualifizierte Migranten einen Rechtsanspruch auf die Anerkennung sowie auf weitere Anpassungs- oder Nachqualifizierungsmaßnahmen haben. Auf diese Art wird auch dem drohenden Fachkräftemangel vorgebeugt.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Koalition hat einen Wettbewerb um die beste Lehrerausbildung ausgerufen. Der soll nun richten, was in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern in den letzten Jahrzehnten immer mehr ins Hintertreffen gekommen ist. Das ist nicht wirklich verwunderlich angesichts der permanenten Unterfinanzierung der Hochschulen und der immer stärkeren Orientierung der Hochschulen auf die Einwerbung von Drittmitteln für Forschung und Lehre. Lehrerbildung war und ist nicht drittmittelfähig, bringt kein Geld. An mancher Hochschule wurde die Lehrerausbildung immer mehr das berühmte fünfte Rad am Wagen, es wurden ganze Lehrbereiche abgebaut, Lehramtsstudierende wurden in andere Fachstudiengänge eingeordnet, dort aber lernen sie zwar fachliches Wissen für ihr jeweiliges Unterrichtsfach, aber nicht unbedingt das, was sie an den Schulen brauchen. Auch die Umstellung des Lehramtsstudiums auf das Bachelor-/Mastersystem war kein Geniestreich, sondern sie hat die Defizite und negativen Entwicklungen eher verstärkt. Fachdidaktisches Wissen blieb an einigen Hochschulen immer mehr außen vor, und zunehmend wurde das pädagogische Fachwissen, das den Beruf des Lehrers, der Lehrerin wesentlich ausmacht, erst in der zweiten Phase der Lehrerausbildung erlernt. Diese Befunde sind nicht neu, wir kennen sie mindestens seit zwei Jahrzehnten, und so wird es hohe Zeit, endlich gegenzusteuern. Das soll nun nach dem Willen der Koalition durch einen Exzellenzwettbewerb geschehen. Auch wenn nach Aussage des Staatssekretärs gestern in der Fragestunde anders als bei der anderen Exzellenzinitiative ein Drittel der Hochschulen vom Wettbewerb profitieren soll, bleiben zwei Drittel außen vor. Wir brauchen aber in allen Hochschulen, die Lehramtsstudiengänge anbieten, eine exzellente Lehrerausbildung, damit alle Schulen und alle Schülerinnen und Schüler davon profitieren können. Mit einem solchen Wettbewerb, wie ihn die Koalition ausgerufen hat, steht zu befürchten, dass die Schere zwischen guter und weniger guter Ausbildung weiter auseinandergeht, dass ganze Generationen von Lehramtsstudierenden abgehängt werden und in ihrem Studium auch in den nächsten Jahren eben nicht die nötigen professionellen Voraussetzungen für ihre berufliche Tätigkeit erhalten werden. Angehende Lehrerinnen und Lehrer von Hochschulen, die eben keine durch den Wettbewerb sanktionierte Anerkennung einer exzellenten Ausbildung aufweisen können, werden dann vorrangig in Ländern eine Anstellung bekommen, die nicht so viel zahlen können wie die reichen Länder, während an Exzellenzhochschulen ausgebildete Lehrkräfte eben von den besser situierten Ländern mit Kusshand genommen werden. So mutet es denn schon eigentümlich an, und man fragt sich, ob es gnadenlose Ahnungslosigkeit ist oder bodenlose Überheblichkeit, wenn mein Kollege Florian Hahn aus Bayern völlig abenteuerlich in seiner Rede der vergangenen Woche mutmaßt, dass die unterschiedlichen Lehrerausbildungen für die unterschiedlichen PISA-Ergebnisse in den einzelnen Bundesländern verantwortlich seien. Hat er vielleicht schon einmal etwas von den unterschiedlichen sozialen Hintergründen von Familien gehört und ihre Auswirkungen auf die Bildungsergebnisse von Kindern und Jugendlichen? Das kann man tatsächlich in den PISA-Studien nachlesen. Das andere nicht! Guter, professioneller Unterricht und ein gutes Schulklima sind aber schon eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Bildung. Aber guter zeitgemäßer Unterricht kann heute weder mit dem Handwerkszeug des vergangenen Jahrhunderts überall gewährleistet werden noch mit den Defiziten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in die Lehramtsausbildung eingeschlichen haben. Darum haben wir unseren weitergehenden Antrag heute eingereicht und hoffen, dass die einseitige Orientierung auf einen Exzellenzwettbewerb durch viele mit den Ländern abgestimmte und zwischen den Ländern koordinierte Maßnahmen an allen Hochschulen, die eine Lehramtsausbildung anbieten, verändert werden kann. Dabei konzentrieren wir uns auf drei grundsätzliche Forderungen: Erstens. Wir wollen eine Qualitätsoffensive in der Lehramtsausbildung, in der die von der Kultusministerkonferenz entwickelten Qualitätsstandards an allen Hochschulen und allen Lehramtsstudiengängen von Anfang an implementiert werden. Wir wollen erreichen, dass pädagogisches Professionswissen einen weit höheren Stellenwert erhält und das gesamte Studium in allen seinen Bestandteilen auf den pädagogischen Beruf ausgerichtet wird. Dazu gehören für uns die aktuellen Ergebnisse der Bildungswissenschaften ebenso wie sozialpädagogische, psychologische, diagnostische Fähigkeiten, die Fähigkeit im Umgang mit heterogenen Lerngruppen und die Umsetzung von inklusiver Bildung, aber auch eine deutlich stärkere Praxisorientierung und Praxiserfahrung von Anfang an. Wir wollen, dass die schulartenorientierte Ausbildung abgeschafft und durch eine schulstufenbezogene Ausbildung ersetzt wird. Dafür gibt es vor allem pädagogische Begründungen, aber auch die größere Mobilität für den Einsatz von Lehrenden zwischen den unterschiedlichen Schulformen und zwischen den Ländern gebietet eine solche Entwicklung. Zudem muss das Auseinanderdriften der Lehramtsausbildung zwischen den Ländern und in Bezug auf unterschiedliche Schulformen Zu Protokoll gegebene Reden beendet werden. Es ist doch nicht erklärbar, warum Grundschullehrerinnen mit einer kürzeren Ausbildung auskommen sollen als beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer am Gymnasium. Auch die bisherige zweite Phase der Lehrerausbildung bedarf einer Überprüfung. Weiterhin hat die Anhörung der Experten am vergangenen Montag im Bundestag bestätigt, dass die Stufung der Lehramtsausbildung in Bachelor und Master überdacht werden muss, weil mit dem Bachelor kein berufsqualifizierender Abschluss erreicht werden kann. Zweitens. Wir wollen, dass der Hochschulpakt zu Bereitstellung von zusätzlichen Studienplätzen auf 600 000 Plätze deutlich aufgestockt wird und darunter ein beträchtlicher Anteil für Lehramtsstudienplätze reserviert wird. Wer sich in ein gestuftes Studium mit Bachelor und Master eingeschrieben hat, soll ein Recht auf den Masterstudiengang haben. Drittens. Bildung ist ein umfassender Prozess, und wenngleich die Schule darin eine zentrale Rolle spielt, findet sie nicht nur in der Schule statt. Pädagogische Berufe gibt es also nicht nur an Schulen, und auch in Schulen werden in der Zukunft noch stärker unterschiedliche pädagogische Professionen zusammenarbeiten müssen. Darum ist es uns wichtig, dass nicht nur der Beruf des Lehrers oder der Lehrerin deutlich aufgewertet wird und mehr gesellschaftliche Achtung erhält, sondern alle pädagogischen Berufe von der frühkindlichen Bildung bis zur Weiterbildung, von der Musikschulpädagogin bis zum Sozialarbeiter. Wir hoffen, dass unser Antrag weiter zum Nachdenken anregt und vor allem in der Koalition zu einem Umdenken führt. Wir freuen uns auf die Beratung in den Ausschüssen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist offenkundig, dass es einen großen Reformbedarf bei der Lehrerbildung gibt. Das hat nicht zuletzt das öffentliche Fachgespräch im Bildungsausschuss des Bundestags am 25. Juni gezeigt. Eine Modernisierung der Lehrerbildung ist überfällig, die geplante Bund-Länder-Initiative muss daher ein Erfolg werden. Alle Kinder und Jugendlichen brauchen Lehrerinnen und Lehrer mit starken fachlichen, ({0})didaktischen, pädagogischen, diagnostischen, methodischen und psychologischen Kompetenzen. Eine moderne Lehrerausbildung muss Pädagoginnen und Pädagogen auf die neuen großen gesellschaftlichen Herausforderungen vorbereiten. Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer, die individuell fördern, mit heterogenen Lerngruppen professionell umgehen sowie Inklusion und Integration umsetzen können. Über die notwendigen Ziele einer Reform der Lehrerausbildung scheint sich zwischen den Fraktionen zunehmend Einigkeit zu entwickeln. Das zeigt auch der Antrag der Fraktion Die Linke, bei dem - bezogen auf die Ausbildungsziele angehender Lehrkräfte - vieles zu begrüßen ist und von uns geteilt wird. Allerdings wird in dem Antrag der Aspekt der Fort- und Weiterbildung leider gänzlich ausgeblendet. Niemand kann und darf warten, bis es zu einem kompletten Austausch der Lehrkräfte gekommen ist. Fort- und Weiterbildung müssen gleichrangig zur Ausbildung von Lehrkräften gesehen werden. Bei allen interfraktionellen Gemeinsamkeiten der Ziele ist im Fachgespräch des Bildungsausschuss einmal mehr offenkundig geworden, dass weder Bundesregierung noch die Regierungsfraktionen ein klares Konzept für die Verbesserung der Lehrerbildung und ihre angekündigte Exzellenzinitiative haben. Von der Qualitätsmessung über das konkrete Wettbewerbs- und Auswahlverfahren bis hin zur Etatisierung gibt es zahlreiche Fragezeichen. Wenig aufschlussreich ist auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage unserer Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, mit dem Titel Programm zur Verbesserung der Lehrerbildung. Ministerin Schavan bleibt Antworten schuldig zu Zielrichtung, Umfang, Kosten und Start einer Bund-Länder-Qualitätsoffensive Lehrerbildung. 16 der 29 Fragen sind gar nur mit dem Satz beantwortet, man befinde sich mit den Ländern in Verhandlungen. Es gibt also derzeit mehr Unklarheit als Klarheit über das Programm. Diese dünne Antwort des BMBF steht im krassen Gegensatz zu den Details, die Ministerin Schavan medial bereits im Frühjahr präsentiert hat. Da ist von 10 bis 16 „Zukunftskonzepten“ die Rede, von einer Fördersumme von jeweils 16 Millionen Euro im Jahr für eine einzelne Hochschule und auch davon, dass die Initiative bei einer Laufzeit von zehn Jahren mit insgesamt 500 Millionen Euro unterlegt werden soll. Anstatt Verwirrspielchen und Desinformation zu betreiben, muss zügig ein konsensfähiges Konzept für eine Bund-LänderInitiative Lehrerbildung auf den Tisch. Dabei sollte sich Schwarz-Gelb weder begrifflich noch methodisch auf die Exzellenzinitiative beziehen, sondern eher den Qualitätspakt Lehre zum Vorbild nehmen. Auf diese Weise ließe sich echte Breitenwirkung statt Leuchtturmcharakter erreichen. Ebenso falsch wie eine isolierte Exzellenzinitiative ist die Forderung der Fraktion Die Linke, mit der geplanten Qualitätsoffensive Lehrerausbildung alle Hochschulen auf einmal zu bedenken. Statt eines wenig zielgenauen Gießkannenprinzips brauchen wir eine breit angelegte und wirksame Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Das bedeutet, dass eine Förderung daran gekoppelt werden sollte, ob eine Hochschule ein schlüssiges, für förderfähig befundenes Konzept vorlegt, wie sie die Lehrerbildung vor Ort verbessern will - so wie es unter anderem der Sachverständige der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW, während des Fachgesprächs im Bildungsausschuss skizziert hat. Ein Förderprogramm von Bund und Ländern zur Verbesserung der Lehrerbildung sollte gute Beispiele unterstützen, die dann Impulse für die Verbesserung der Lehrerbildung an anderen Hochschulen auslösen. Solch ein weitreichendes Programm, das Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften letztlich an allen Hochschulen in Bewegung bringen hilft, hat unsere Unterstützung. Zu Protokoll gegebene Reden

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Auch hier wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Republiken Sudan und Südsudan stabilisieren - Drucksache 17/10095 Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem zweiten fraktionsübergreifenden Antrag zu Sudan und Südsudan setzt der Deutsche Bundestag heute ein wichtiges Zeichen. Ich begrüße es sehr, dass wir heute nach dem Antrag vom März 2010 ({0}) erneut interfraktionell unser Engagement in dieser wichtigen Region Afrikas demonstrieren und mit unserem Antrag das Engagement Deutschlands für den Frieden im Sudan und im Südsudan aufzeigen. Aus unserem Anstoß wurde damals auch ein gemeinsamer Antrag mit den geschätzten Kollegen der SPD, FDP und den Grünen, der mit zur Grundlage des intensiven Engagements Deutschlands für den Frieden wurde, insbesondere in den Zeiten, als wir noch um die friedliche Trennung des Sudan bangten. Der Südsudan ist am 9. Juli 2011 als 193. Staat der Völkergemeinschaft beigetreten. Die Trennung verlief friedlich. Bedauerlicherweise hat sich die Lage in den letzten Monaten wieder verschlechtert. Unser neuer interfraktioneller Antrag kommt daher genau zur rechten Zeit; denn in den letzten Wochen und Monaten gab es erneut Krieg und Gewalt, mussten Kinder vor Bombenangriffen fliehen, leiden Menschen Hunger, erleben die Menschen Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz und vielfach überleben sie nicht. Noch vor wenigen Wochen gab es erbitterte Kämpfe zwischen den Truppen beider Länder, zwischen Rebellen und Milizen um die Ölinstallationen in Heglig, in Darfur, in Südkordofan und Blue Nile. Ein umfassender Krieg zwischen Sudan und Südsudan musste befürchtet werden. Die Grenzprobleme zwischen Nord- und Südsudan, die Aufteilung der Öleinnahmen und die AbyeiFrage sind immer noch ungelöst. Dazu kommt die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in beiden Ländern. Aufgrund der weggefallenen Öleinnahmen ist die Inflation in Nord- und Südsudan mittlerweile auf bis zu 80 Prozent angestiegen. In Khartoum nimmt die Arbeitslosigkeit zu, im Südsudan grassieren Hunger und Armut. Grundnahrungsmittel für die arme Bevölkerung beider Länder werden für die meisten Menschen unerschwinglich. Der Entwicklungsprozess ist nahezu völlig zum Stillstand gekommen. Die Afrikanische Union hat sich bei der Lösung des Konflikts zwischen Nord- und Südsudan hohen Respekt verschafft. Besonders das African Union High-Level Implementation Panel on Sudan, AUHIP, mit Vermittler Thabo Mbeki drängt auf tragfähige Lösungen. Die afrikanischen Vermittler riefen mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - auch auf deutsche Initiative hin die Konfliktparteien ultimativ auf, sich ernsthaft und konstruktiv an Friedensgesprächen zu beteiligen. Ich begrüße an dieser Stelle ausdrücklich das unermüdliche Engagement der erwähnten Institutionen, um die Verhandlungen in Addis Abeba wieder aufzunehmen. Wir hören von dort, dass sich die Konfliktparteien grundsätzlich auf eine Demilitarisierung des Grenzgebietes zwischen Sudan und Südsudan geeinigt haben. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Weitere Schritte hin zum Frieden und zum Ausgleich zwischen beiden Ländern müssen jedoch unmittelbar folgen. Dabei ist auch der Deutsche Bundestag gefragt, sein Engagement für Frieden und Sicherheit zu verstärken. Unser Ansatz der vernetzten Sicherheit und Entwicklung muss weiter ausgebaut werden. Die Missionen der Vereinten Nationen im Sudan müssen zum Erfolg führen und die Durchsetzung der Menschenrechte in beiden Ländern müssen unterstützt werden. Wir können unsere Partnerschaft mit Afrika auch und gerade am Beispiel Sudan beweisen. Mit unserem Antrag setzt der Deutsche Bundestag auf einen friedlichen Ausgleich zwischen Nord- und Südsudan. Wir sollten auch weiterhin die Afrikanische Union bei ihren Friedensbemühungen unterstützen. Die Bundesregierung hat bisher sehr gute Arbeit geleistet. Diese muss weitergeführt werden. Das Länderkonzept der Bundesregierung für den Sudan bildete eine gute Grundlage für die kritische Zeit nach der Trennung des Südsudan von Khartoum. Die Lage hat sich inzwischen spürbar verändert. Hier gilt es, jetzt für beide Länder entsprechende konzeptionelle Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln, die eine angemessene Reaktion auf die Veränderungen in Nord und Süd erlauben. Frieden, Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung müssen unter Einhaltung der Menschenrechte vorangebracht werden. Mitspracherechte für alle Sudanesen, eine demokratische Öffnung, Transparenz in der Regierungsführung sind Schritte, die umgehend eingefordert werden müssen. Sie haben sicher ebenso mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, dass der Staatspräsident des Südsudans, Salva Kiir Mayardit, von seinen ehemaligen und derzeitigen Ministern sage und schreibe vier Milliarden Dollar zurückgefordert hat, die diese unterschlagen haben sollen. Hier gilt es genau hinzuschauen, wenn wir auch mit deutschen Geldern beim Aufbau des Südsudan helfen wollen. Bei der Umsetzung dieser Forderungen leisten die deutschen Soldaten und Polizisten in den Missionen der Vereinten Nationen UNMISS und UNAMID einen wesentlichen Beitrag. Sie kennen Art und Umfang des deutschen Engagements, das eng mit unseren internationalen Partnern abgestimmt wurde. Wir haben die Mandate hier im Bundestag mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Es ist gut, dass der Bundestag in dieser Frage geschlossen dafür eintritt, dass in der Region nachhaltig Frieden und Entwicklung vorangebracht wird. An dieser Stelle möchte ich den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten, die dort unter extrem schwierigen Bedingungen ihre Aufgaben erfüllen, Dank und Anerkennung aussprechen. Die Kollegen, die den Südsudan bereist haben, wissen, unter welchen Entbehrungen und Unwägbarkeiten unsere Soldaten dort ihren Dienst tun. Dies verdient unseren Respekt. Dies gilt in gleicher Weise für die engagierten Mitarbeiter von Entwicklungshilfeorganisationen, humanitären und Nichtregierungsorganisationen, die unter schwierigsten Bedingungen vor Ort tätig sind. UNMISS im Südsudan und UNAMID in Darfur müssen weiter unterstützt und ihre Aufgaben erfolgreich umgesetzt werden. Wenn - wie beabsichtigt - die VNÜberwachung der demilitarisierten Grenzzone zwischen Nord- und Südsudan eingerichtet wird, sollten wir uns einer Beteiligung nicht verweigern. Solche Einsätze stärken das Mandat der Vereinten Nationen und leisten einen maßgeblichen Beitrag zum Frieden in Afrika. Sie sollten auch zum Markenzeichen für erfolgreiche deutsche Streitkräfteeinsätze im Dienste des Friedens werden. Bei den kleinen erkennbaren Fortschritten in der Entwicklung des Sudans und des Südsudans dürfen wir unsere Augen vor elementaren Menschenrechtsverletzungen nicht verschließen. Wir hören von der Zerstörung von Kirchen in Khartoum, der Verhaftung von Demonstranten und Oppositionellen, von der Zensur von Medien. Diese Missstände werden wir weiterhin entschieden anprangern. Wir hören von massiver Korruption und einem nach wie vor stockenden Verfassungsprozess im Südsudan. Die Trennung wurde erreicht, nun muss immer wieder auch den Entscheidungsträgern für die Entwicklung des Landes ihre Verantwortung verdeutlicht werden. An das Leid der Zivilbevölkerung in den Provinzen Darfur, Südkordofan und Blue Nile werden wir erinnern, solange die Probleme nicht gelöst sind. Rebellen und Regierung müssen die Kampfhandlungen sofort einstellen und Hilfsorganisationen umfassenden humanitären Zugang gewähren. Sudan und Südsudan müssen einen Frieden miteinander begründen und auf jegliche Gewaltanwendung verzichten. Beide Länder sind aufeinander angewiesen. Ihr Ausgleich ist wichtig für Stabilität und Prosperität in der gesamten Region am Horn von Afrika. Wir setzen uns für einen gerechten Ausgleich zwischen Khartoum und Juba ein: in der Frage der Produktion und der Aufteilung der Ölressourcen, bei der Bestimmung der Grenzen zwischen Nord und Süd, in Fragen des Aufenthaltsrechts von Nord- und Südsudanesen im jeweils anderen Staatsterritorium. Wir fordern von dieser Stelle die Verantwortlichen der sudanesischen, und der südsudanesischen Regierung sowie die Führer der SPLM in diesen Gebieten auf, sofort die Waffen niederzulegen und die Vermittlung der Afrikanischen Union anzunehmen. In der umstrittenen Provinz Abyei ist es der Mission der Vereinten Nationen UNISFA gelungen, Kämpfe zwischen Nord und Süd zu verhindern. Khartoum und Juba haben in einem unlängst unterzeichneten Abkommen dem Truppenabzug, einer gemeinsamen Verwaltung und einem Krisenlösungsmechanismus zugestimmt. Diese Vereinbarung gilt es jetzt tatsächlich umzusetzen. Hier haben wir ein Beispiel, das auch in anderen Krisenregionen Afrikas Vorbild sein kann. In Darfur geht es um die Implementierung des DohaFriedensabkommens. Keiner Konfliktpartei darf es erlaubt werden, den Friedensprozess für eigenes Hegemonialstreben zu missbrauchen. Was in Europa großes Thema ist, gilt auch im Sudan. Konkrete Aufbaumaßnahmen müssen den Prozess begleiten. Dem Aufbau des Südsudan und der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sowie der Stärkung der Zivilgesellschaft widmet die Bundesregierung besondere Aufmerksamkeit. Das entwicklungspolitische Engagement Deutschlands sollte insbesondere die Lage der zivilen Bevölkerung verbessern. Der Aufbau einer Wasserversorgung auch in der Fläche im Südsudan, der Aufbau funktionierender Verwaltungsstrukturen und die Entwaffnung und Demobilisierung von Exkombattanten zählen nach wie vor zu den Schwerpunkten der Entwicklungshilfe der Bundesregierung. Wir dürfen aber auch den Wiederaufbau in Darfur und in den anderen Landesteilen Sudans nicht vergessen. Viele Rebellengruppen stehen Gewehr bei Fuß und warten bis heute noch vergeblich auf eine Friedensdividende. Das von UNAMID erarbeitete Rahmenabkommen für den Friedensprozess in Darfur verdient durch konkrete Hilfsmaßnahmen vor Ort unterstützt zu werden. In Darfur müssen wieder Bedingungen herrschen, die es den Menschen erlauben, die Flüchtlingslager zu verlassen und in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückzukehren. Dazu gehört die Überführung von humanitärer Hilfe in Wiederaufbaumaßnahmen, in den Aufbau von Schulen, Straßen, Gesundheitseinrichtungen und die Förderung von Handel und Gewerbe, aber natürlich auch die Stärkung von Menschenrechten, von Gerechtigkeit, Partizipation und Freiheit. Diese Forderungen gelten auch für den Ostsudan und - wenn die Kämpfe zum Stillstand gekommen sind auch für die Provinzen Südkordofan und Blue Nile. Auch wenn sich die Früchte nicht immer sofort erkennen lassen, dürfen wir nicht aufhören, uns für Frieden, Demokratie und Menschenrechte im Sudan und im Südsudan einzusetzen. Wir müssen den Friedensprozess in beiden Ländern stärker unterstützen und diesen in absehbarer Zeit zu einem guten Ende zu bringen. Die Menschen im Sudan und im Südsudan sind kriegsmüde. Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Er ist ein Zeichen unseres Einsatzes für den Zu Protokoll gegebene Reden Frieden und Ausgleich und den wichtigen Teil unseres Engagements für die Republiken Sudan und Südsudan.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In dieser Legislaturperiode standen die Republiken Sudan und Südsudan bereits mehrmals auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Als wir vor ziemlich genau einem Jahr das Mandat für die United Nations Mission in the Republic of South Sudan, UNMISS, verabschiedet haben, wussten wir zwar, dass der Südsudan eine schwierige Ausgangslage haben würde. Nichtsdestotrotz haben wir unsere Hoffnung auf eine positive und dynamische Entwicklung in der jungen Republik sowie auf eine stabile Beziehung zu dem neuen Nachbarstaat Sudan nicht aufgegeben. Im April dieses Jahres konnte ich den Südsudan besuchen, um mir selbst ein Bild der Situation zu machen. In meiner Rede möchte ich mich deshalb auf den Südsudan konzentrieren, um Ihnen meinen Eindruck von der Lage vor Ort zu schildern. Und ich möchte gleich vorwegnehmen: Obwohl ich durch Berichte im Vorfeld bereits auf die verheerende Situation im Südsudan vorbereitet war, hat die Realität meine Erwartungen noch weiter gedämpft und meine Hoffnung aus dem Juli 2011 im Grunde zunichtegemacht. Im Rahmen meiner Reise habe ich Gespräche mit Repräsentanten von UNMISS, Soldaten der Bundeswehr, der Polizei, Vertretern der südsudanesischen Regierung sowie mit Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen geführt. Der Konflikt mit dem Sudan sowie die innerstaatlichen ethnischen Konflikte waren die beherrschenden Themen. Gerade in den Gesprächen mit südsudanesischen Politikern bekam ich das Gefühl, dass daneben die dringende Notwendigkeit einer ökonomischen Entwicklung des Südsudans in den Hintergrund gerät. Der Verzicht auf 98 Prozent der Staatseinnahmen aus dem Ölverkauf wurde unisono als besser bezeichnet, als sich vom Sudan bei der Durchleitung des Öls bestehlen zu lassen. Die verheerenden Folgen dieser Politik wurden ausgeblendet. Für mich stellt die fehlende wirtschaftliche Entwicklung, die Unfähigkeit der Regierung, dies zu ändern, und die daraus resultierende Perspektivlosigkeit der Südsudanesen das Hauptproblem des Landes dar. In den internationalen Medien taucht die Region meist nur auf, wenn es Tote und Verwundete gibt. Über die anderen Probleme wird meist nur am Rande berichtet. Ich begrüße es deswegen sehr, dass wir heute einen Antrag debattieren, der sich auf zwölf Seiten intensiv mit der Situation vor Ort beschäftigt und Möglichkeiten aufzeigt, wie die Bundesregierung, aber auch die internationale Staatengemeinschaft den Südsudan und den Sudan effektiver unterstützen kann. Dafür möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen im federführenden Auswärtigen Ausschuss bedanken. Die Kämpfe zwischen dem Sudan und dem Südsudan sind in den vergangenen Monaten immer wieder eskaliert. Während meiner Reise kam es zu einer Zuspitzung im Konflikt um das umstrittene Ölfeld Heglig und zur Bombardierung der Stadt Bentiu durch den Sudan. Die UN-Mission UNMISS leistet trotz der schwierigen Situation jedoch sehr gute Arbeit. Ich habe hochmotivierte Soldaten, Polizisten und zivile Mitarbeiter getroffen. Ihnen möchte ich für ihr Engagement aufrichtig danken. Ihre Arbeit unter diesen schwierigen Bedingungen verdient unser aller Anerkennung. Trotz der großen Leistung der UNMISS-Kräfte ist die Mission im Verhältnis zu den immensen Herausforderungen zu klein und vor allem nicht mobil genug. Die Mission hat demzufolge keine Möglichkeit, in der Fläche wirkungsvoll präsent zu sein. Besonders verheerend stellt sich die Situation der südsudanesischen Polizei dar, die ich Ihnen kurz schildern möchte. Unter Begleitung eines deutschen Polizisten habe ich in Juba eine Polizeistation sowie die dortige Kriminalpolizei besucht. Die Arbeitsbedingungen bzw. die Ausstattung der Polizisten kann nur als unzureichend beschrieben werden. Es fehlt an den grundlegendsten Ressourcen, wie zum Beispiel Fahrzeugen oder Funkgeräten, um gegen Kriminalität vorgehen zu können, geschweige denn Ermittlungen anstellen zu können. Dies trägt zu einer sehr niedrigen Arbeitsmoral und einem hohen Korruptionsaufkommen unter den südsudanesischen Polizisten bei. Die Haftbedingungen in der Polizeistation, insbesondere die Zustände in den Arrestzellen, sind katastrophal. Auch in unseren Debatten liegt der Fokus oft auf der Armee. Eine zumindest einigermaßen funktionierende Polizei wäre aber für die Menschen vor Ort mindestens genauso wichtig. Davon sind aber die Einrichtungen, die ich dort besucht habe, meilenweit entfernt. Die internationale Staatengemeinschaft muss dem dringend mehr Aufmerksamkeit widmen. Wir verabschieden heute den zweiten interfraktionellen Antrag in dieser Legislaturperiode, der sich mit dem Sudan bzw. Südsudan beschäftigt. Für mich ist es wichtig, dass wir dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung setzen und der Region Beachtung schenken. Auch mit unserer Unterstützung wurde der Südsudan zu einem unabhängigen Staat und zum 193. Mitglied der Vereinten Nationen. Jetzt gilt es, unser Engagement fortzusetzen und dem Sudan und Südsudan noch stärker unter die Arme zu greifen. Unser Ziel ist es, dass in Zukunft zwei Nachbarstaaten entstehen, deren staatliche und wirtschaftliche Entwicklung nachhaltige Erfolge zeigt und die sich in einer stabilen Beziehung zueinander befinden. Unser interfraktioneller Antrag ist hierfür ein weiterer wichtiger Schritt.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zuallererst möchte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass es gelungen ist, einen interfraktionellen Antrag zur äußerst schwierigen und komplexen Situation zwischen Sudan und Südsudan zu verabreden. Ausdrücklich möchte ich mich bei allen Beteiligten dafür bedanken. Das ist, wie ich glaube, ein sehr wichtiges, aber auch notwendiges Signal an alle, die die Menschen im Sudan und Südsudan unterstützen wollen, und für die Menschen dort selbst. Gerade jetzt ist es richtig und wichtig, diese Region wieder in das Bewusstsein der Menschen zu rufen und in Zu Protokoll gegebene Reden das Zentrum der politischen Debatte zu rücken, das nicht zuletzt deshalb, weil der Konflikt sich in den vergangenen Wochen immer weiter verschärft hat. Die Situation ist immer noch sehr kritisch und anfällig. Am 10. April eskalierten die militärischen Auseinandersetzungen, und die Intensität der Auseinandersetzungen bewog viele Beobachter dazu, bereits von kriegerischen Verhältnissen zu sprechen. Die Gründe dafür sind komplex und werden in unserem gemeinsamen Antrag ausführlich dargestellt. Ein Hauptproblem ist, dass über den künftigen Status der sudanesischen Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan keine Entscheidungen in Sicht sind. Offen sind weiterhin die Aufteilung der Einnahmen aus den Öl-Ressourcen sowie der genaue Grenzverlauf zwischen Nord und Süd. Das humanitäre Leid der Bevölkerung, insbesondere in den Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan, nimmt als Folge der gewalttätigen Auseinandersetzungen über diese Fragen stetig zu. Nach Angaben des UNHCR sind circa 185 000 Flüchtlinge aus Südkordofan und Blauer Nil nach Südsudan und Äthiopien geflohen. Mehr als 400 000 Personen sind vertrieben worden. Aufgrund andauernder bewaffneter Konflikte sowie Nahrungsmittel- und Wasserknappheit können Flüchtlinge den Sudan nicht verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Zugang zu den umkämpften Regionen ist internationalen humanitären Organisationen durch die sudanesische Regierung bisher untersagt. Aufrufen der Vereinten Nationen, der Afrika-nischen Union und der Arabischen Liga, den humanitären Zugang zu gewähren, ist die sudanesische Regierung bisher nicht nachgekommen. Vor diesem Hintergrund verdient die Lage im Sudan und der Region dringende verstärkte Aufmerksamkeit. In dieser sehr schwierigen Situation ist es notwendig, die Bundesregierung aufzurufen, die Resolution 2046 ({0}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 2. Mai 2012 und den Friedensfahrplan der Afrikanischen Union zur Lösung der Konflikte zwischen Sudan und Südsudan tatkräftig mit allen Mitteln zu unterstützen. Auch ist es richtig und wichtig, dass wir gemeinsam die Bundesregierung aufrufen, sich im VN-Sicherheitsrat weiterhin für robuste und der jeweiligen Situation angemessene Mandate starkzumachen, um ein flexibles Eingreifen der VN-Friedensmissionen vor Ort zu ermöglichen. Ohne hierbei die Richtigkeit dieser Forderung oder den Antrag als Ganzes infrage stellen zu wollen, wäre es natürlich wünschenswert gewesen, die Rolle Deutschlands in diesem Zusammenhang etwas intensiver und konkreter zu diskutieren. Aus Sicht der SPD-Fraktion ist unser friedens- und sicherheitspolitisches Engagement im Südsudan deutlich verbesserungsfähig und -würdig. Die momentane Laptop Botschaft in Juba mit einem Botschafter, einer eigentlich schon pensionierten Verwaltungskraft, einer deutschen Ortskraft und zwei Fahrern ist unangemessen und entspricht unter keinen Umständen den zur Unabhängigkeit gemachten Zusagen. Insbesondere den immer wieder aus dem Parlament zu Recht eingeforderten Möglichkeiten und Notwendigkeiten aktiver Krisenprävention bzw. Konfliktbearbeitung kann damit nicht entsprochen werden. Von besonderer Bedeutung ist es, dass unser gemeinsamer Antrag Sudan und Südsudan als zwei eigenständige souveräne Staaten mit einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik behandelt und eine dementsprechende Analyse der Lage, aber auch angemessene Forderungen enthält. Das klingt zwar ein Jahr nach dem vollzogenen Schritt selbstverständlich, hat aber leider immer noch nicht durchgehend Eingang gefunden in die alltägliche Praxis des Regierungshandelns. So ist es bedeutsam und nicht überflüssig, dass wir gemeinsam mit der Regierungskoalition dazu aufrufen, dass auch die Bundesrepublik eine eigenständige Politik gegenüber den zwei UN-Mitgliedsländern Südsudan und Sudan umsetzen und dafür differenzierte Konzepte und Strategien erarbeiten sollte. Wichtig ist zudem die von vielen NGOs formulierte Forderung, gemeinsam mit unseren EU-Partnern ein kohärentes Regionalkonzept für den Umgang mit Sudan und Südsudan zu entwickeln, das auch die unterschiedlichen Rollen und Interessen der Länder in der Region beachtet, auf die Stabilisierung der Region abzielt sowie die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten angesichts schwacher staatlicher Strukturen berücksichtigt. Alle diese Forderungen und Aktivitäten sind richtig, und es gilt, sie weiterzuverfolgen, wo doch gerade die Auseinandersetzungen zwischen Nord- und Südsudan, die humanitäre sowie die menschenrechtlich desaströse Lage ein gemeinsames Handeln erfordern. Aber machen wir uns nichts vor: Unser Antrag kann nur ein erster kleiner Schritt sein, wenn die Bundesregierung diesen denn überhaupt zu gehen bereit ist. Ich hoffe das im Geiste unseres gemeinsamen Vorgehens sehr. Abgesehen von unserem derzeitigen Antrag sollten wir bei einer weiteren Eskalation der Situation aber auch über weitreichende Maßnahmen nachdenken. Es wäre überlegenswert, UNMISS nicht nur im Landesinneren, sondern gerade auch in den Grenzregionen einzusetzen. Denn es ist unübersehbar, dass sich die Situation seit der Mandatsentscheidung dramatisch verändert hat. Ist seinerzeit dieses Mandat auf der Grundlage der Entwicklung friedlicher Beziehungen verabschiedet worden, so muss es bei der Verlängerung darum gehen, das Mandat den veränderten Bedingungen anzupassen und die dafür nötigen Mittel bereitzustellen. Wir fordern die Bundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrates dringend auf, sich nachdrücklich für eine solche Veränderung einzusetzen. Auch über den Einsatz von Sanktionsmechanismen muss weiter nachgedacht werden. Wir sollten bei einer Verschlimmerung der Lage und bei fehlender Zusammenarbeit bei der Deeskalation und Krisenbewältigung durch die Eliten von Sudan und Südsudan in Erwägung ziehen, deren Reisefreiheit einzuschränken. Damit könnte man die Verantwortlichen persönlich treffen und zu Verhandlungen bewegen, insbesondere wenn deren Familien sich im Ausland aufhalten, etwa in Uganda oder Australien. Zu überlegen ist zudem, hochrangige Delegationsreisen in die EU einzuschränken, solange es keine substanziellen Verhandlungen zwischen Sudan und Zu Protokoll gegebene Reden Südsudan gibt. All das sollte im Fall einer weiteren Eskalation angedacht werden, auch um auf die Regierungen der Republik Sudan und des Südsudan einzuwirken, die Kultur der Straflosigkeit zu beenden, Prozesse gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher zu eröffnen, laufende Verfahren des IStGH zu unterstützen und mit dem IStGH zusammenzuarbeiten. Es ist ein gutes politische Signal, dass uns dieser interfraktionelle Antrag gelungen ist. Jetzt ist es an der Bundesregierung, die Forderungen aus diesem bereits zweiten interfraktionellen Antrag nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch umzusetzen. Ich hoffe, sie wird uns nicht enttäuschen; wir werden jedenfalls sehr intensiv darüber wachen, dass das passiert, damit der Druck der Bundesregierung, der EU und der VN so bald wie möglich zu einem nachhaltigen Frieden in der Region führt, dass die Möglichkeiten des Staatsaufbaus insbesondere im Südsudan genutzt werden können. Wir wissen, dass dies ein schwieriger Weg ist, der nicht von außen allein gegangen werden kann. Deshalb sollten die Anstrengungen auch darauf gerichtet sein, vorhandene zivilgesellschaftliche Strukturen in beiden Staaten zu stärken, mit den Regionalorganisationen und der AU zusammenzuarbeiten, sie zu ermutigen, regionale Prozesse zur Friedensentwicklung und -stabilisierung in „African Ownership“ zu entwickeln und umzusetzen, und sie dabei nachhaltig zu unterstützen.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die dramatischen Ereignisse nach der Teilung von Sudan und Südsudan haben uns erschüttert. Die vergangenen Monate haben gar befürchten lassen, dass sich die Auseinandersetzung vollends entfesseln könnte. Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass wir heute, mit Ausnahme der Linken, einen gemeinsamen Antrag auf der Basis des Koalitionsantrags beschließen. Ich freue mich, dass wir in konstruktiven Gesprächen zügig eine Einigung finden konnten. Es ist wichtig, dass der Bundestag ein geschlossenes und somit entschlossenes Signal an die Beteiligten im Sudan und Südsudan sendet. Ich möchte mich auch bei der Zivilgesellschaft - den NGOs - bedanken, die vor Ort, in Veranstaltungen hierzulande und gemeinsam mit den Abgeordneten dieses Hauses den schwierigen Entwicklungen im Sudan und Südsudan unermüdlich zu entgegnen versucht. Wir alle fordern die Konfliktparteien auf, den gerade erst wieder aufgenommenen Verhandlungen eine echte Chance zu geben. Die verbliebenen Fragen des umfassenden Friedensabkommens müssen gelöst werden; denn das humanitäre Leid der Bevölkerung, insbesondere in den Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan, ist unermesslich und nimmt weiter zu. Nach Angaben von UNHCR sind circa 185 000 Flüchtlinge aus Südkordofan und Blauer Nil nach Südsudan und Äthiopien geflohen. Mehr als 400 000 Personen sind vertrieben worden. Die Zahlen steigen stündlich. Der Zugang zu den umkämpften Regionen war internationalen humanitären Organisationen durch die sudanesische Regierung bisher untersagt. Die gestrigen Meldungen lassen jedoch hoffen; denn es scheint so, dass die sudanesische Regierung im Zuge der Wiederaufnahme der Verhandlungen den Aufrufen der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und des UN-Sicherheitsrats nachgekommen und nun endlich doch bereit ist, den geforderten humanitären Zugang zu gewähren. Gleichzeitig jedoch erreichen uns besorgniserregende Nachrichten über die Niederschlagung von Protesten in Khartoum. Politische Unfreiheit und die düstere ökonomische Lage, verschärft durch die im Zuge des Konflikts fehlenden Öleinnahmen, bringen die meist jungen Menschen auf die Straße. Ich warne die Regierung des Sudan davor, die für den morgigen Freitag angekündigte Großdemonstration niederzuschlagen. Die Unterdrückung von Demonstrationen ist ganz sicher der falsche Weg. Deutschland unterstützt im Rahmen des Sudan-Konzepts die Vermittlungsbemühungen des African Union High-Level Implementation Panel, AUHIP, unter Leitung von Thabo Mbeki. Wir setzen uns für einen verstärkten politischen Dialog zwischen Sudan und Südsudan, die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit sowie die Durchführung von Sicherheitssektorreformen in beiden sudanesischen Staaten ein. Deutsche Soldaten in den VN-Friedensmissionen UNMISS und UNAMID leisten hier anerkannte Beiträge zur Stabilisierung der Lage in beiden Staaten. An dieser Stelle will ich die Kritik von Amnesty International wiedergeben, das China, der Ukraine und dem Sudan vorwirft, die internen Konflikte im Südsudan mit Waffenlieferungen weiter anzuheizen. Die ohnehin schon angespannte Situation in der Region braucht internationale Unterstützung, die sich für einen friedlichen Ausgang einsetzt - und die diesen nicht zusätzlich erschwert. Im Südsudan selbst liegt der Fokus auf dem Aufbau staatlicher Strukturen und Institutionen. Es ist wichtig, die Führung im Südsudan eindringlich an die Verantwortung gegenüber ihren Bürgern, egal welcher ethnischer Zugehörigkeit, zu erinnern. Denn nötige politische und administrative Strukturen, die für eine Bereitstellung öffentlicher Leistungen nötig wären, fehlen nach wie vor. So bleibt eine Friedensdividende auch für die Bevölkerung im Südsudan bisher aus. Hier muss sich der eine oder andere - auch hierzulande - an die eigene Nase fassen. Das Gut-Böse-Schema passt hier schon lange nicht mehr - und es war noch nie ratsam. Der Schlüssel zur langfristigen Stabilisierung der Lage liegt, wie bereits angedeutet, im politischen Prozess. UNAMID, UNMISS und UNISFA sind wichtige, aber keine ausreichenden Beiträge der internationalen Gemeinschaft, um die Menschen zu schützen und dauerhaften Frieden zu fördern. Alle drei Missionen können nur erfolgreich sein, wenn sie auf einen tragfähigen Waffenstillstand sowie einen umfassenden Friedensprozess aufbauen können. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU und VN, insbesondere im Dialog mit der Zu Protokoll gegebene Reden AU, für die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie für Sudan und Südsudan einzusetzen, die Wege zur politischen Lösung der Darfur-Krise mit einschließt und die vollständige Umsetzung des umfassenden Friedensabkommens sicherstellt. Seit Jahren begleiten die Bundesregierung und das Parlament Sudan und - seit dem vergangenen Jahr Südsudan. Das Engagement in den verschiedensten Bereichen findet sich auch im Sudan-Konzept wieder, auf dessen Basis wir den Weg der Zusammenarbeit fortsetzen wollen. Es muss nun aber an die Realität angepasst werden. Wir haben zwei Staaten und eine Reihe von ungelösten Problemen zwischen und innerhalb von Sudan und Südsudan, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Situation in Darfur sagen. Nach wie vor sind dort circa 2 Millionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. In den vergangenen Monaten gab es neue Auseinandersetzungen. Mit anderen Worten, die Sicherheits- und Menschenrechtslage in Darfur ist unverändert schlecht. Es ist daher wichtig, dass wir die Situation in Darfur aufgrund der Konfliktlage zwischen den beiden Staaten nicht aus den Augen verlieren. Das mag aufgrund der komplexen Gemengelage und der trüben Aussichten in beiden Fällen nicht immer leicht fallen. Doch sind wir es den Menschen schuldig, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und unermüdlich nach neuen Lösungswegen zu suchen.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Lage in Sudan und Südsudan ist ernst. Über die vergangenen Monate hat sie sich dramatisch zugespitzt, und beide Staaten stehen am Abgrund eines Krieges, eines Krieges, der leider fast schon absehbar war und der durch eine andere Politik hätte verhindert werden können! Über die Lagebeschreibung sind wir uns immerhin alle weitestgehend einig. Der ungewöhnlich ausführliche Feststellungsteil des vorliegenden Antrags von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ist in großen Teilen durchaus zutreffend, beschreibt die komplexe Lage und suggeriert das Bild von relativer Ausgewogenheit. So werden Fehler, Versäumnisse und Herausforderungen des Sudan und Südsudan gleichermaßen beschrieben. Was ich aber vermisse, ist das Eingeständnis des eigenen Versagens. Diese Ehrlichkeit hätte Ihnen, werte Antragsteller, als Ausgangspunkt Ihres Antrags gut zu Gesicht gestanden. Auch nur so hätte dieser Antrag der Auftakt für eine echte Wende in der deutschen SudanPolitik sein können. Was wir hier rund um diesen Antrag erleben, ist eine Posse, die mit reichlich Skurrilitäten nicht gerade sparsam umgeht. Zunächst bringt die Koalition diesen Antrag alleine ein - sichtbar mit heißer Nadel gestrickt: Schaut man sich den Forderungsteil einmal genauer an, so geht es hier um nichts weiter als eine Reproduktion und Bekräftigung dessen, was auch schon in der Anfang Mai vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 2046 ({0}) steht, einer Resolution, an der die Bundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrates selber beteiligt war und zu der sie selbst in ihrer Antwort auf unsere jüngste Kleine Anfrage sagt - ich zitiere: „Die Bundesregierung unterstützt die Resolution 2046 ({1}) … und die darin enthaltenen Maßnahmen.“ Ja, wenn dem so ist, wofür brauchen Sie denn dann diesen Antrag noch? Ich verrate es Ihnen: Sie trauen mit Recht - der eigenen Regierung nicht zu, aus den schweren Fehlern der Vergangenheit zu lernen, ihre teils fahrlässige Untätigkeit zu überwinden und nun angemessen auf die Situation zu reagieren. Dann wird es immer abenteuerlicher: SPD und Grüne betteln in der ersten Lesung förmlich um eine Beteiligung an diesem Antrag, den sie gleichzeitig kritisieren. Ihr Wunsch wurde ihnen von der Koalition gnädig erfüllt. Es soll ein Signal der Geschlossenheit des Bundestages entstehen, wobei nicht einmal der Versuch unternommen wurde, die Linke mit einzubinden. Wir wissen, warum. Eine ehrliche Analyse würde ergeben, dass es unverantwortlich war, entscheidende Fragen wie die des Grenzverlaufs, des Status der umstrittenen Provinzen Abyei, Blauer Nil und Südkordofan, der Schuldenaufteilung und -tilgung, des Status der Flüchtlinge, der Staatsbürgerschaftsfrage und der Entwaffnung und Demilitarisierung, nicht vor der Unabhängigkeit des Südsudan vor einem Jahr zu klären. Zudem wird fortgesetzt - auch im Forderungsteil Ihres Antrags - einseitig Stellung für den Südsudan bezogen. Die Auswertung der Antwort auf unsere Kleine Anfrage unterstreicht: Während die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Süden deutlich ausgebaut werden soll, wird diese nach wie vor für den Norden ausgeschlossen - sowohl bilateral wie auch multilateral über die Europäische Union. Das sind nichts anderes als Sanktionen, und - wie so häufig - leidet darunter vor allem die einfache Bevölkerung und nicht das Regime. Für die Schuldenfrage präferiert die Bundesregierung die sogenannte Zero Option. Das bedeutet: Komplette Schuldenübernahme durch den Sudan bei gleichzeitigem Erhalt von Ausgleichszahlungen vom Süden. Ein Schuldenerlass soll dann nur über die HIPC-Initiative des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank möglich sein. Das aber bringt strenge Auflagen und einen tiefgreifenden Eingriff in die sudanesische Politik mit sich. Wir kennen das schon vom inakzeptablen Auftreten der Troika in Griechenland. Es ist eine Bankrotterklärung und zeugt nicht gerade von Einfallsreichtum, wenn Sie nun von der Koalition einmütig mit SPD und Grünen hier nichts als einen Ausbau ihrer bisher schon gescheiterten Politik fordern, also im Kern eine Ausweitung der bisher völlig wirkungslosen UN-Militärmissionen und die Erteilung eines Blankoschecks für robuste Mandate. Den Auslandseinsatz der Bundeswehr im Rahmen des UNMISSMandats lehnen wir ab und fordern den sofortigen Abzug aller deutschen Soldaten. Die Linke fordert die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sudan, eine Ausweitung des deutschen Engagements in Zu Protokoll gegebene Reden den Bereichen ziviler Friedensdienst, Förderung der ländlichen Entwicklung und die Unterstützung einer raschen Verhandlungslösung über alle noch strittigen Fragen zwischen beiden Staaten. Kurzum: Die Linke lehnt ein Weiter-so und damit auch diesen Antrag ab.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Lage zwischen Sudan und Südsudan hat sich wieder dramatisch zugespitzt. Mit den jüngsten Kämpfen um die ölreiche Region Heglig ist eine neue Eskalationsstufe erreicht. Knapp ein Jahr nach der friedlichen Abspaltung des Südsudan drohen beide Länder wieder in einen Krieg abzugleiten. Das dürfen wir nicht zulassen. Deshalb ist es richtig, dass wir heute mit dem neuen, nach einigen Veränderungen von uns, die die Koalition aufgenommen hat - jetzt breit getragenen interfraktionellen Antrag zum Sudan und Südsudan ein gemeinsames Zeichen setzen. Das erwartet die Sudan-Community der Zivilgesellschaft von uns völlig zu Recht. Deshalb steht meine Fraktion hinter dem Antrag und wird ihm heute zustimmen. Der Antrag soll ein Weckruf sein in Richtung Sudan und Südsudan, dass sie ihre Konflikte endlich friedlich lösen und den Friedensaufbau voranbringen, aber auch in Richtung der Bundesregierung und der internationalen Gemeinschaft: Wir wollen sie nach unserem interfraktionellen Antrag von 2010 noch einmal daran erinnern, dass sie weiter im Wort stehen, die Lösung der Konflikte und ihrer Ursachen intensiv zu unterstützen. Der Weckruf kommt keine Minute zu früh. In den ölreichen Regionen Abyei und Heglig, über die NubaBerge bis hin zur Provinz Blauer Nil flammen immer wieder brutale Kämpfe zwischen Kräften des Nord- und Südsudan auf, weil trotz klarer Vereinbarung im CPA der Grenzverlauf und die Aufteilung des Öls noch immer ungeklärt sind, die Volksabstimmungen in Abyei, Südkordofan und Blauer Nil einfach nicht stattfinden und die Entwaffnung der Kämpfer deshalb scheitert. Hier geschehen schwerste Menschenrechtsverbrechen: Tod, Vergewaltigungen und Vertreibung. Selbst „Ärzte ohne Grenzen“ hat keinen humanitären Zugang. Zehntausende Flüchtlinge suchen Schutz im Südsudan. Viele verdursten mittlerweile, weil oft die nötigen Mittel zur Versorgung der vielen kleinen Flüchtlingscamps fehlen. Diese Kämpfe müssen endlich beendet werden. Der humanitäre Zugang muss sichergestellt werden. Beide Seiten müssen zurück an den Verhandlungstisch, um die offen gebliebenen Fragen des CPA schnell zu lösen, so wie es zuletzt die AU und der VN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 2046 klipp und klar verlangt haben. Die alte Kriegslogik muss endlich aus den Köpfen. Der Nordsudan muss die Eigenständigkeit des Südens uneingeschränkt anerkennen und im Südsudan muss die alte Denke enden, der Konflikt sei nur durch einen Regime-Change in Khartum zu lösen. Was wir dazu jetzt dringend brauchen, ist ein international gestützter Prozess im Geiste des CPA, der nicht bloß die Restanten, sondern auch künftige Herausforderungen wie Rüstungskontrolle, Streitkräfteabbau und vertrauensbildende Maßnahmen auf den Weg bringt. Beide Seiten stecken große Teile ihrer Ölrenten in die Aufrüstung und befeuern so die Gewaltspirale. Deshalb schlagen wir die Einrichtung einer regionalen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit vor, die durch gegenseitige Rüstungskontrolle die Wiederaufnahme der Ölexporte über den Sudan befördern kann, die seit Januar ausgesetzt sind. Das sollten Sie von der Bundesregierung bei der anstehenden Mandatsverlängerung der Friedensmission UNMISS im Sicherheitsrat auf den Tisch legen. Gleichzeitig brauchen wir aber auch dringend neue Strategien, die den Reformprozess im Südsudan und im Sudan für mehr Menschenrechtsschutz, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Mitbestimmung in Gang bringen. Denn auch hier stehen die Zeichen schlecht. Reformen gab es bislang keine, und der sozioökonomische Druck hat gefährlich zugenommen. Im Südsudan heizen Korruption und blutige Verteilungskonflikte wie in Jonglei die Konflikte an. Die geradezu suizidale Strategie des Südsudan, die Ölexporte in den Sudan zu stoppen, bringt den Kessel bald zum Bersten. Seither fehlen rund 98 Prozent der Staatseinnahmen. Hier ist nicht nur die Regierung in Juba, sondern hier sind auch Sie von der Bundesregierung in der Verantwortung. Soll der Friedensaufbau eine Chance haben, dann müssen Sie diesen viel systematischer unterstützen. Sie müssen im Sicherheitsrat dazu beitragen, dass UNMISS endlich voll einsatzfähig ist. Hier fehlt noch immer jeder vierte Mitarbeiter, bei der Polizei sogar jeder zweite. Wir brauchen auch dringend eine institutionalisierte Koordination zwischen UNMIS, UNISFA und UNAMID. Und Sie müssen auch endlich die Ergebnisse der Erkundungsmission des BMZ und der GIZ von 2011 umsetzen. Wir brauchen dringend gemeinsame Länderstrategien für Südsudan und für Sudan, die auch die GIZ und KfW binden. Es spricht schon Bände, dass ausgerechnet die Ergebnisse der Mission des BMZ und der GIZ als Verschlusssache in der Schreibtischschublade verschwinden. Das ist das Gegenteil einer kohärenten ressortübergreifenden Politik. Ich bedaure es deshalb sehr, dass wir in diesem Punkt keine Einigung im Antrag erzielen konnten. Zur Frage der Kohärenz der deutschen Politik gehört es auch, dass Deutschland noch immer nur mit einer Laptop-Botschaft in Juba vertreten ist. Wenn wir das Personal nicht erheblich aufstocken, so wie es zum Beispiel die Niederländer geschafft haben, dann bekommt Deutschland keine koordinierte Unterstützung für den Friedensaufbau hin - ganz abgesehen von dem verheerenden politischen Signal an die Regierung in Juba. Ähnlich dramatisch ist die Lage auch im Sudan. Auch hier steigt der Druck wegen des Ölembargos aus dem Süden, der schlechten Wirtschaftslage mit 30 Prozent Inflation und des politischen Reformstillstands. Die Kürzungen von Brot- und Benzinsubventionen treiben immer mehr Menschen auf die Straße. Einige fordern bereits ofZu Protokoll gegebene Reden Kerstin Müller ({0}) fen den Abtritt des Baschir-Regimes. Sie wollen einen arabischen Frühling auch im Sudan. Wir müssen aufpassen, dass wir morgen nicht vor einem zweiten Syrien im Sudan stehen. Wie sein Freund Assad versucht auch Baschir, die Proteste mit Gewalt zu ersticken, bislang noch überwiegend mit Tränengas und Schlagstöcken. Doch Darfur sollte uns Warnung genug sein: Es geht auch anders. Baschir ist zu allen Verbrechen bereit, wenn es um seinen Machterhalt geht. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass wir auch Reformprozesse im Sudan viel energischer einfordern und konkrete Unterstützung anbieten. Aber ich sage auch ganz klar: Wir dürfen dabei den Haftbefehl des IStGH gegen Baschir nicht ignorieren. Ich hoffe sehr, dass der Antrag heute, ähnlich wie 2010, die Bundesregierung wachrüttelt und zu einer Kursänderung bewegt. Die Menschen im Sudan hoffen auf die deutsche Unterstützung. Enttäuschen wir sie nicht!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10095. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begleitung der Verordnung ({0}) Nr. 260/2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 924/2009 ({2}) - Drucksache 17/10038 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir auch hier die Reden zu Protokoll.

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute wird über das Begleitgesetz zur Umsetzung der SEPA-Verordnung in deutsches Recht diskutiert. SEPA schafft einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum; die Umsetzung ist eines der wichtigsten Gesetze der letzten Jahre zur Harmonisierung des europäischen Binnenmarkts für Zahlungsdienstleistungen. Die SEPA-Verordnung ist ein essenzieller Bestandteil zur weiteren Integration in der Europäischen Union. Zahlungssysteme sollen damit an die Wirklichkeit grenzüberschreitende Zahlungsströme angepasst werden. Einheitliche Regelungen auf europäischer Ebene sind gerade im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung bargeldloser Zahlungen, wie Überweisungen und Lastschriften, hier sinnvoll. Die Europäische Kommission legte mit ihrem Verordnungsvorschlag vom 16. Dezember 2010, in dem sie die neuen technischen Vorschriften für Überweisungen und Lastschriften vorgibt, den Grundstein zur Vereinheitlichung des Zahlungsverkehrs innerhalb der Euro-Zone und der gesamten Europäischen Union. Ziel der Verordnung ist es, inländische und grenzüberschreitende Zahlungen innerhalb Europas einfacher, schneller und damit effizienter zu machen. Dieser Gesetzentwurf stellte einen wichtigen Schritt zu einer reibungslosen Umstellung der bisherigen Zahlungsverfahren der Überweisung und Lastschrift auf die entsprechenden und sogenannten SEPA-Verfahren dar. Die Verordnung beendet damit das kostenintensive Nebeneinander von inländischen Zahlungsverkehrsprodukten. SEPA wird zu einer Vereinfachung und Vergünstigung für die Verbraucher und die Industrie führen. Für Unternehmen, die ihren Kunden die Bezahlung per Überweisung oder Lastschrift anbieten, ist die SEPA-Verordnung mit einer technischen Umstellung, die bis zum 1. Februar 2014 vorgenommen werden muss, verbunden. Durch diese Umstellung wird eine vollautomatisierte Verarbeitung des Zahlungsprozesses ermöglicht. Darüber hinaus müssen Unternehmen künftig bei Vertragsabschlüssen nach dem 1. Februar 2014 sogenannte SEPA-Mandate verwenden. Bisher erteilte Einzugsermächtigungen werden aufgrund der Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken automatisch auf SEPA-Mandate umgestellt. Durch die Kontinuitätsregelung der Verordnung ist die weitere Gültigkeit der bisher erteilten Mandate sichergestellt. Unternehmen können daher auf die Neueinholung von SEPA-Mandaten für Kunden, die bisher per Lastschrift bezahlt haben, verzichten. Dies ist auch ein wichtiger Punkt für unsere Vereine, die weiterhin mit den bereits erteilten Einzugsermächtigungen ihre Beiträge einziehen könnnen. Der Vorschlag der Kommission enthielt jedoch einige Regelungsbereiche, die nicht unseren Vorstellungen entsprachen. Wir, die Koalitionsfraktionen, forderten daher mit unserem Antrag „Den Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreundlich gestalten“ vom 11. Mai 2011 die Bundesregierung auf, sich für die Lösung der spezifischen Umstellungsprobleme, die sich in Deutschland als größtem Zahlungsmarkt innerhalb der Europäischen Union und als größtem Nutzer des Lastschriftverfahrens ergeben, einzusetzen. Der Bundesregierung ist es bei den schwierigen Verhandlungen auf europäischer Ebene gelungen, sich mit nahezu allen Forderungen der christlich-liberalen Koalition durchzusetzen. Die Trilog-Verhandlungen haben dabei ebenfalls gezeigt, dass sich kein anderes Mitgliedsland so vehement für die Verbraucher- und Endnutzerinteressen eingesetzt hat wie Deutschland - und das mit großem Erfolg! Aufgrund dessen konnten die automatische Mandatsmigration nach Art. 7 der Verordnung, das befristete An22554 bieten von Konvertierungsdienstleistungen nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung und die Weiternutzung des Elektronischen Lastschriftverfahrens für eine Übergangszeit nach Art. 16 Abs. 4 der Verordnung in den Rechtsakt aufgenommen werden. Nach dem Abschluss der Trilog-Verhandlungen ist die europäische SEPA-Verordnung schließlich am 31. März 2012 in Kraft getreten. Überweisungen und Lastschriften müssen nun ab dem 1. Februar 2014 einheitlich rechtlichen und technischen Anforderungen im europäischen Zahlungsraum genügen. Ab diesem Zeitpunkt sind entsprechende bargeldlose Zahlungen grundsätzlich nur noch im Wege der SEPA-Überweisung und -Lastschrift möglich. Zur Flankierung der Implementierung der SEPA-Verordnung in Deutschland veröffentlichte das Bundeskabinett am 25. April 2012 den Entwurf des SEPA-Begleitgesetzes, über den wir heute diskutieren. Mit diesem sollen die durch nationale Regelungen ausfüllungsbedürftigen Normen der Verordnung ergänzt werden, wie zum Beispiel die Festlegung der zuständigen Behörde, Bußgeldtatbestände und Schlichtungsverfahren. Zudem soll mit diesem Gesetzesvorschlag von einzelnen optionalen Übergangsbestimmungen Gebrauch gemacht werden. Privatkunden erhalten somit die Möglichkeit, die ihnen geläufige Kontonummer und Bankleitzahl bis zum 1. Februar 2016 weiter zu verwenden. Banken und Sparkassen dürfen ihren Privatkunden bis zu diesem Zeitpunkt für Inlandszahlungen Konvertierungsdienstleistungen für Kontokennungen kostenlos zur Verfügung stellen. Hierbei handelt es sich um Programme, die die wie üblich eingegebene Kontonummer und Bankleitzahl „im Hintergrund“ in das neue IBANFormat umwandeln. Kundinnen und Kunden bemerken von dieser Umwandlung nichts. Ab dem 1. Februar 2016 gilt ausschließlich die internationale Kontokennung IBAN ({0}). Im Bereich des in Deutschland vorherrschenden Elektronischen Lastschriftverfahrens wird es aufgrund des Verhandlungserfolgs der Bundesregierung ebenfalls zu einer Übergangsbestimmung kommen. Aufgrund dieser Sonderregelung kann das ELV bis zum 1. Februar 2016 weitergeführt werden. Ohne diese Sonderregelung des SEPA-Begleitgesetzes müsste das Elektronische Lastschriftverfahren zum 1. Februar 2014 eingestellt werden. Die Umstellung auf die neuen SEPA-Produkte ist für alle Verbraucher kostenlos. EC- und Kreditkarten werden beim turnusgemäßen Kartenaustausch mit der neuen IBAN-Kennzeichnung versehen. Durch diese Regelungen soll eine für die Verbraucher und Endnutzer interessensgerechte und reibungslose Umstellung der bisherigen nationalen Zahlungsinstrumente auf die neuen SEPA-Zahlungsinstrumente sichergestellt sein. Für eine effektive Umsetzung wird es ebenfalls auf eine rechtzeitige und verbraucherfreundliche IT-Unterstützung ankommen. Neben diesen gesetzgeberischen Maßnahmen ist die Bundesregierung zusammen mit der Deutschen Bundesbank im Rahmen des Deutschen SEPA-Rats im regen Austausch mit Vertretern der Anbieter- und Endnutzerseite. Ziel ist es dabei, die Informationslage sowie die Kommunikation zwischen den beteiligten Parteien zu verbessern. Wieder einmal hat sich gezeigt, dass sich der Einsatz der Regierungskoalitionen der CDU/CSU und FDP bezahlt gemacht hat. Wir konnten für unsere Bürgerinnen und Bürger sowie für unsere Unternehmen einen deutlichen Erfolg bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene erreichen. Mit dem SEPA-Begleitgesetz setzen wir diese Verordnung in deutsches Recht um und machen damit den Weg für einen einheitliche Europäischen Zahlungsraum frei.

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Am 31. März 2012 ist die europäische SEPA-Verordnung in Kraft getreten, die einheitliche rechtliche und technische Anforderungen für Lastschriften und für den einheitlichen europäischen Zahlungsraum vorschreibt. Zum 1. Februar 2014 heißt es deshalb Abschied nehmen von altbewährten deutschen Überweisungs- und Lastschriftverfahren. Fortan werden solche Zahlungen grundsätzlich nur gemäß den entsprechenden SEPAStandards möglich sein. Eine an sich sinnvolle Neuerung, mit der sich jedoch viele Menschen in Deutschland noch nicht so recht anfreunden konnten. Erfahrungsgemäß brauchen solche Umstellungen ihre Zeit. Wir beraten heute in erster Lesung das SEPA-Begleitgesetz, mit dem Deutschland von einzelnen Übergangsbestimmungen der EU-Verordnung Gebrauch macht, die im Zuge der Verhandlungen des vergangenen Jahres zwischen Berlin und Brüssel vereinbart werden konnten. Noch einmal: Das Ziel, einen einheitlichen Eurozahlungsraum anzustreben, ist richtig. Gleichzeitig muss uns allen aber daran gelegen sein, die SEPA-Umstellung für die Menschen in Deutschland so komfortabel und verbraucherfreundlich wie möglich zu gestalten. Dazu leistet das Begleitgesetz einen Beitrag, auch wenn wir alle uns gewünscht hätten, dass die Bundesregierung es geschafft hätte, im Ringen mit den europäischen Partnern weiter gehendende Zugeständnisse zu erzielen. Der bisherige Weg zum SEPA-Zahlungsraum war - freundlich ausgedrückt - holprig. Das gesamte Vorhaben stieß in der Bevölkerung auf massiven Gegenwind. Vor allem angesichts der gravierenden Befürchtungen unserer Vereine, die Umstellung auf SEPA könne es notwendig machen, sämtliche Einzugsermächtigungen neu einholen zu müssen. Das konnten wir abwenden, und das ist auch gut so. Zeitweise konnte einem SEPA wie ein ungeliebtes Stiefkind vorkommen. Ich denke da zum Beispiel an den Vorsitzenden des Europaaussschusses, den CDU-Kollegen Krichbaum, der SEPA in der Ausschusssitzung am 11. Mai 2011 als „größten Schwachsinn aller Zeiten“ bezeichnete, während seine Fraktion zeitgleich von einem „wichtigen Baustein für einen harmonisierten Binnenmarkt“ sprach. Ich sage ganz klar: Das war billig, populistisch und nicht im Sinne einer vernünftigen Debatte, die auch von dosierter Kritik an den richtigen Zu Protokoll gegebene Reden Stellen lebt. Deshalb zurück zur Sache und zu den Fortschritten, die konkret erzielt werden konnten und die mit dem Begleitgesetz umgesetzt werden: Privatkunden steht die Möglichkeit offen, ihre alte, wohlvertraute Kontonummer und Bankleitzahl bis zum 1. Februar 2016 weiter zu verwenden. Banken und Sparkassen können Privatkunden bis dahin kostenlose Konvertierungsdienstleistungen anbieten, um Kontokennungen für Inlandszahlungen bequem und ohne Aufwand für den Kunden in das neue IBAN-Format umwandeln. Ab dem 1. Februar 2016 gilt dann ausschließlich die internationale Kontokennung IBAN, International Bank Account Number. Auch wird das in Deutschland bewährte elektronische Lastschriftverfahren aufgrund einer Sonderregelung bis zu diesem Stichtag weitergeführt werden können. Wir hätten uns hier mehr gewünscht aber immerhin. Mit der fraktionsübergreifenden, gemeinsamen Erklärung „Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreundlich gestalten“, konnten wir, so meine ich, ein wichtiges Signal setzen, um den spezifischen deutschen Interessen im SEPA-Prozess mehr Nachdruck zu verleihen. In den Übergangsregelungen des Begleitgesetzes finden sich diese Signale wieder. Überdies beinhaltet das Gesetz technische Regelungen, deren Umsetzung die SEPA-Verordnung vorschreibt. So gilt es seitens des Gesetzgebers, Behörden zu benennen, die die Einhaltung der Verordnung überwachen sollen, und Sanktionen festzulegen, wenn dagegen verstoßen wird. In Deutschland wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht für die Überwachung zuständig sein. Zudem müssen angemessene und wirksame außergerichtliche Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren geschaffen werden, was durch Ergänzung des Schlichtungsverfahrens nach § 14 Unterlassungsklagengesetz geschieht. Und schließlich müssen bundesgesetzliche Regeln dort angepasst werden, wo sie explizit auf im Inland anzusiedelnde Konten abgestellt sind, was der Idee des freien Zahlungsverkehrs im einheitlichen Euro-Zahlungsraum widerspricht. Wenn uns SEPA etwas gelehrt hat, dann, dass sich auch hier das ursprünglich in die Kräfte des Markts gesetzte Vertrauen nicht ausgezahlt hat. Dass überhaupt eine EU-Verordnung zur Vereinheitlichung des Zahlungsmarkts bei Lastschriften und Überweisungen notwendig wurde, war der Tatsache geschuldet, dass sich die im Vorfeld herrschenden Hoffnungen auf einen marktgesteuerten Prozess nicht annähernd erfüllt haben. Dabei war es die europäische Bankenindustrie selbst, die diesen Prozess über den European Payments Council angestoßen hatte. Es ist schade, dass gerade die Branchen, in denen sich die positiven Auswirkungen der Vereinfachungen besonders bemerkbar machen dürften, ein wenig in Deckung gegangen sind, nachdem der Ball im Spielfeld der nationalen Politik lag. Insofern finde ich es richtig, dass die betroffenen Wirtschaftszweige seit dem vergangenen Jahr auch über den nationalen SEPA-Rat die Möglichkeit haben, an der erfolgreichen Vermittlung der anstehenden Änderungen mitzuwirken. Ein Beispiel: Ein Grund für die Furcht vor SEPA war die - mitunter ziemlich überzeichnete - Debatte um die 22-stellige IBAN als vereinheitlichter Kontonummer, die mit der Umsetzung von SEPA obligatorisch wird, einmal abgesehen davon, dass auch „IBAN, die Schreckliche“ sich zu einem Großteil aus der bekannten Zahlenkombination von Kontonummer und Bankleitzahl zusammensetzt und lediglich vier Stellen hinzukommen. Dabei handelt es sich um einen Ländercode und eine zweistellige Prüfziffer, die es beispielsweise erlauben sollte, Fehlbuchungen schneller zu identifizieren und zu vermeiden. Auch das sind Vorteile, die in der öffentlichen Debatte zu wenig beachtet wurden. Hier können wir mithilfe der am Markt aktiven Akteure tatsächlich auch das öffentliche Bild geraderücken. Vor diesem Hintergrund können wir die mit dem Begleitgesetz umzusetzenden Fortschritte als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen. Die Diskussionen um die SEPA-Lastschriften und Überweisungen sollten wir als Anstoß für einen Lernprozess nutzen; denn auf dem Weg zum einheitlichen Euro-Zahlungsraum warten weitere Etappen, wenn es um Karten-, Internet- und Mobilzahlungen geht. Das hat uns auch die Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen Grünbuch der EU-Kommission gezeigt. Die SPDBundestagsfraktion wird sich auch auf diesem Gebiet für verbraucherfreundliche Lösungen einsetzen. Wir sind gespannt, welche Schritte die Bundesregierung auf diesem Weg einzuschlagen gedenkt.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im letzten Jahr haben wir der Regierung für ihre Verhandlungen in Brüssel aufgegeben, bei der Verordnung über die Vereinheitlichung des europäischen Lastschriftund Überweisungsverkehr auf dreierlei zu achten. Erstens sollte sie auf eine lange Frist hinwirken. Nötig war ein komfortabler Zeitraum für die Überführung des gewachsenen deutschen Zahlungsverkehrs unter das Regime des europäischen Rechts. Zweitens sollte das deutsche Lastschriftverfahren als typisch deutsches Gewächs erhalten bleiben. Drittens sollte das hohe Schutzniveau gewahrt bleiben, das unsere Rechtsprechung für die Nutzer des deutschen Lastschriftverkehrs entwickelt hat. Das war nötig, damit die Ablösung des über Vertragsrecht gewachsenen Lastschriftverkehrs durch einen gesetzlichen Rahmen nicht scheitert. Unsere Vorgaben, so muss man sagen, haben erfreulicherweise guten Niederschlag in der nun vorliegenden Verordnung gefunden. Die Regierung hat auftragsgemäß eine lange Übergangsfrist für das elektronische Lastschriftverfahren erreicht und schöpft diese auch in ihrem Entwurf des Begleitgesetzes bestmöglich aus. Bis zum 1. Februar 2016 ist nun Zeit. Das gibt der Branche Zeit, für die Akzeptanz ihrer neuen SEPA-Produkte zu sorgen und Alternativen zum elektronischen Lastschriftverkehr zu entwickeln. Das ist sinnvoll, stärkt die Akzeptanz von SEPA und sorgt für eine reibungslose Umstellung. Auch unser wichtigster Punkt wurde umgesetzt, die Zu Protokoll gegebene Reden Beibehaltung des von der Rechtsprechung entwickelten Schutzniveaus. Die Rückgabe von Lastschriften ist für die Verbraucher in langen Fristen und gebührenfrei möglich. Wir wollten nicht, dass über den europäischen Umweg dieses Schutzniveau abgeschafft wird. Gleichwohl bleiben Änderungen am Entwurf der Regierung zu überlegen und im folgenden Verfahren auf ihren Nutzen und mögliche Kosten abzuwägen. Eines dieser Probleme könnte für die Nutzung von Lastschriften im Internet entstehen. Es besteht die Gefahr, dass ab 2014 nur noch papiergebundene Lastschriftmandate erteilt werden können. Das beeinträchtigt den über das Internet stattfindenden Geschäftsverkehr, weil Verbraucher auf Kreditkarten und andere Zahlungsdienstleister ausweichen werden. Es kann sein, dass wir hier durch Aufweichung des Schriftformerfordernisses nachbessern müssen, um den Verbrauchern Wahlfreiheit zu erhalten. Auch die Baugruben auf den anderen kleinen Baustellen werden wir gemeinsam zuschütten. Nach der Sommerpause werden wir das Gesetz in den Ausschüssen beraten und zu einer guten und rechtssicheren Lösung kommen.

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist ohne Zweifel sinnvoll, einen einheitlichen EuroZahlungsverkehrsraum zu schaffen. Indem man bargeldlose Zahlungsverfahren in den Teilnehmerländern standardisiert, soll es für Bankkunden keine Unterschiede mehr zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen geben. In der Tat: Dies wäre gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Es fällt mir gewiss nicht leicht, die Bundesregierung zu loben. Aber sie hat auf europäischer Ebene erreicht, dass verbraucherschutzrelevante Übergangsregelungen festgeschrieben wurden: erstens für die Weiternutzung des in Deutschland weit verbreiteten und gut funktionierenden elektronischen Lastschriftverfahrens und zweitens für die Zurverfügungstellung kostenloser Konvertierungsleistungen bezüglich Kontokennungen, damit bisherige Kontonummern für Inlandszahlungen weitergenutzt werden können. Die Übergangszeit endet am 1. Februar 2016. Das bedingungslose Rückgaberecht für Abbuchungen vom eigenen Konto durch Lastschrift war uns ebenfalls wichtig. Genauso wichtig war, dass bei bestehenden Einzugsermächtigungen die Neueinholung von Mandaten in vollem Umfang vermieden wird. Ich begrüße auch, dass von Übergangsbestimmungen für sogenannte alternative Lastschriftverfahren, nationale Nischenprodukte mit einem Marktanteil von weniger als 10 Prozent, kein Gebrauch gemacht wird. Schließlich kann man erleichtert sein, dass uns der sogenannte BIC, ein international standardisierter Bank Identifier Code, wohl nur bis 2014 erhalten bleibt. Dies sorgt für Vereinfachung im Zahlungsverkehr. Vereinfachung und Gleichklang sind wünschenswert. Ein harmonisierter Zahlungsverkehrsbinnenmarkt, also eine Nivellierung, darf aber nicht zu einem Abwärtswettlauf beitragen. Die deutsche elektronische Lastschrift, um einen Punkt herauszunehmen, ist technisch ausgereift, kostengünstig und effektiv. Sie darf nicht einfach kaputtnivelliert werden. Gleichwohl wollen wir keine nationalen Inseln schaffen, sondern eine Harmonisierung, diese jedoch auf verbraucherfreundlichem, hohem Niveau. Was Sie nicht verhindern konnten, ist „IBAN, die Schreckliche“. Es wird befürchtet, dass Bankkunden mit der 22-stelligen europäischen Kontonummer IBAN schnell überfordert sind. Denn die Zahlen- und Buchstabenflut ist fehleranfällig. Dies könnte gerade für ältere Menschen zum Problem werden. Eines ist klar: Unfreiwillig falsche Angaben dürfen nicht automatisch zulasten des Verbrauchers gehen. Das ist der Linken wichtig. Aber IBAN ist gar nicht so schrecklich: Durch die genormte IBAN können weltweit auf gleiche Weise das Konto, die Bank und das Land eines Zahlungsempfängers ermittelt werden. Bisher gibt es einen verbraucherfeindlichen Flickenteppich an Verschlüsselungsarten der Banken. Manche Länder haben separate Bankleitzahlen, in anderen ist die Bankkennung in der Kontonummer enthalten. Ich prognostiziere: Es kommt zu einem Gewöhnungsprozess, der nicht besonders dramatisch verlaufen wird. Dramatisch für die Verbraucher ist jedoch das herrschende Informationsdefizit. Dadurch wurden die Menschen erst richtig verunsichert. So entstand auch diese Abscheu vor der neuen Kontonummer. SEPA-Verfahren werden bislang nicht nur mäßig nachgefragt. Was hinter SEPA steckt, ist schlichtweg kaum bekannt. Hier rächt es sich nun, dass Verbraucherverbände nicht frühzeitig in den gesamten SEPA-Prozess mit eingebunden wurden. Immerhin sitzen sie nun im neu geschaffenen SEPA-Rat. Die Informationskampagne von Bundesregierung und Kreditwirtschaft kommt aber viel zu spät. Das haben Sie gründlich verschlafen. Die Augen verschließen dürfen wir auch nicht vor der Situation der kleineren Geldinstitute: In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass kleine Geldinstitute technisch bisher schlechter für das SEPA-Verfahren gerüstet waren als zum Beispiel die großen Privatbanken. Die Linke setzt sich dafür ein, dass kleinere Institute bei der SEPAUmstellung nicht benachteiligt werden. Unser Augenmerk muss gleichfalls darauf liegen, dass die SEPA-Umstellung reibungslos und rechtssicher verläuft. Und noch wichtiger ist: Die Umstellung muss für die Verbraucher tatsächlich kostenfrei sein. Das Ziel des Begleitgesetzes soll eine für den Verbraucher - ich zitiere - „interessengerechte Umstellung“ der bisherigen Verfahren sein. „Interessengerecht“ bedeutet für mich: einfach, effektiv, sicher, umfassend gesetzlich geregelt und vor allem ohne zusätzliche Kosten. Im Gesetzentwurf steht beispielsweise ({0}): „Ein Zahlungsdienstleister darf vom Zahlungsdienstnutzer keine direkt oder indirekt mit der Konvertierungsdienstleistung verknüpften zusätzlichen Entgelte oder sonstige Entgelte erheben.“ Das sehe auch ich so. Zu Protokoll gegebene Reden Nur, wie wollen Sie mögliche indirekte Entgelte, die auf Kunden überwälzt werden, erkennen und unterbinden? Eine geplante Marktanalyse für Lastschriften und Überweisungen reicht bei Weitem nicht aus. Kann man dann durch Aufsicht und Kontrolle versteckte Kostenerhöhungen vermeiden? Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, soll als national zuständige Behörde überwachen, ob die Zahlungsdienstleister ihre Pflichten bei der Umstellung einhalten. Doch neben den Pflichten gibt es einige Regelungen, die von den Kreditinstituten nur freiwillig umzusetzen sind. Die Prüfungsberichtsverordnung wird zugleich dahingehend geändert, dass bei Kreditinstituten der Abschlussprüfer, zum Beispiel ein Wirtschaftsprüfer, beurteilen soll, ob die vom Kreditinstitut getroffenen internen Vorkehrungen den Anforderungen der SEPA-Verordnung entsprechen ({1}). Insgesamt ist fraglich, ob, auf welcher Grundlage und wie genau zum Beispiel indirekte Entgelte überhaupt aufgedeckt werden können. Es ist auch fraglich, ob das Zusammenwirken und der Austausch zwischen Abschlussprüfern und BaFin reibungslos funktioniert und damit erfolgversprechend ist. Meiner Meinung nach herrscht hier noch viel Unklarheit. Das Bundesfinanzministerium schreibt auf seiner Website ausdrücklich: „Die SEPA-Umstellung ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher kostenlos.“ Die Linke nimmt Sie beim Wort. Wenn Sie tatsächlich Ihre Aussage ernst meinen, müssen Sie als Erstes das Problem mit dem Benachrichtigungsgeld lösen: Anfallende Gebühren für eine nicht eingelöste Lastschrift können Verbraucher von den Banken zurückfordern. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden. Mit Einführung der europaweit gültigen SEPA-Lastschrift ab Juli 2012 - mit dann neuen Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei den Geldinstituten - dürfen die Banken solche Gebühren aber wieder erheben. Der Bundesgerichtshof hat sich in seinem Urteil schon auf die neuen Regeln bezogen und erklärt, dass für die Benachrichtigung bei SEPA-Lastschriften generell ein angemessenes Entgelt vereinbart werden kann. Wie hoch eine angemessene Gebühr sein darf, ließ der BGH hingegen offen. Hieran sehen Sie aber: Ruckzuck sitzen Verbraucher wieder auf zusätzlichen Kosten. Das geht nicht. Tun Sie schnell etwas dagegen! Drei weitere Dinge wurden aus linker und verbraucherschutzpolitischer Sicht bislang zu wenig berücksichtigt: Es fehlen zum Einen explizite Hinweise auf Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Datenschutzaspekte fallen uns hier zu oft unter den Tisch. Zum Anderen fand der Bereich „Schutzmaßnahmen gegen Betrug“ zu wenig Beachtung. Genau hier hätte den Menschen auch Angst vor SEPA genommen werden können. Schließlich muss man sicherlich noch einmal genauer über spezielle SEPA-Lösungen für den Onlinehandel nachdenken. Wie der gesamte SEPA-Prozess abläuft, werden wir abwarten müssen. Es steht offen, ob alles so problemlos umgesetzt werden kann, wie es derzeit noch geplant ist. Vieles ist vom freiwilligen Mitwirken der Kreditwirtschaft abhängig. Die deutsche Kreditwirtschaft, als Interessenvertretung der kreditwirtschaftlichen Spitzenverbände, kann im Zuge der Umstellung gegenüber ihren Mitgliedsinstituten allerdings nur Empfehlungen aussprechen. Den einzelnen Zahlungsdienstleistern steht es nach der gesetzlichen Regelung zum Beispiel frei, ob sie Konvertierungsdienstleistungen anbieten. Selbst die BaFin erhält nach dem schon genannten § 7 b keine zusätzlichen Aufsichtskompetenzen bezüglich spezifischer Konvertierungsdienstleistungen. Reicht das wirklich aus? Wir brauchen doch für alle geltende Regelungen und eine umfassende Aufsicht darüber, ob und vor allem wie jedes Institut die Änderungen im Einzelnen umsetzt. Dies dient dem Schutz der Verbraucher und einer einheitlichen, konsistenten SEPA-Umsetzung in Deutschland. Die Vergangenheit lehrt: Selbstverpflichtungen der Kreditbranche sind kaum etwas wert. Wir müssen aufpassen, dass die deutsche Kreditwirtschaft das Regelwerk nicht bewusst anders und verbraucherunfreundlicher interpretiert als andere nationale Kreditwirtschaften oder als im Verordnungstext vorgesehen. Auch wenn Einiges bereits konkret geregelt ist, ist von unserer Warte aus Vorsicht angebracht. Die Kreditbranche wird mit der Einführung von SEPA, nachdem die - finanziell gesehen - günstigen Umstellungen abgeschlossen sind, auf mittlere Sicht Effizienzgewinne in Milliardenhöhe verbuchen können. Das prognostiziert auch die EU-Kommission. Ich fordere: Sorgen Sie dafür, dass diese nicht einfach einbehalten, sondern an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden! Die Linke achtet weiterhin darauf, dass Verbraucherinteressen nicht im Zuge einer EU-weiten Harmonisierung geopfert werden. Deshalb dürfen auch Kosten für die Kreditwirtschaft weder direkt noch indirekt auf die Verbraucher überwälzt werden; Gewinne müssen weitergegeben oder zugunsten der Verbraucher verwendet werden.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Am 31. März 2012 trat die Verordnung ({0}) Nr. 260/ 2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 924/2009, kurz: SEPA-Verordnung, in Kraft. Dadurch werden im europäischen Wirtschaftsraum die Zahlverfahren Lastschrift und Überweisung harmonisiert. Die inländischen Überweisungs- und Lastschriftverfahren sind ab dem 1. Februar 2014 grundsätzlich abzuschalten. Bargeldlose Zahlungen sollen ab diesem Zeitpunkt nur noch im Wege der SEPA-Überweisungsund SEPA-Lastschriftverfahren unter Verwendung der internationalen Kontokennung IBAN, International Bank Account Number, möglich sein. Das Ziel, den europäischen Zahlungsverkehr durch einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum im Sinne einer HarmoniZu Protokoll gegebene Reden sierung des europäischen Binnenmarktes zu vereinfachen, haben wir Grünen stets befürwortet und unterstützt. Berechtigterweise machte der Deutsche Bundestag jedoch im Mai des letzten Jahres deutlich, dass der Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission für eine SEPA-Verordnung vom 16. Dezember 2010 in manchen Regelungsbereichen unseren nationalen Vorstellungen nicht entsprach. Auch wenn sich die grüne Bundestagsfraktion damals über das Verfahren enttäuscht zeigte, weil die Koalitionsfraktionen es nicht für nötig erachteten, den Versuch einer interfraktionellen Entschließung zu unternehmen, so zeigte die Debatte das gemeinsame Anliegen aller Fraktionen deutlich: den Übergang zum europäischen Zahlungsverkehr rechtssicher und reibungslos, kurzum so verbraucherfreundlich wie nur möglich zu gestalten. Heute wissen wir, dass der zwischen Europäischem Parlament, Rat und Kommission erzielte Kompromiss diesem Anliegen in großen Teilen Rechnung trägt. Erfreulicherweise konnten grüne Kernforderungen zu zentralen Themen wie Verbraucherschutz, Rechtssicherheit und Effizienz verankert werden. Auf grüne Initiative hin nahm die Kommission beispielsweise die Absicht in den Verordnungstext auf, bis zum 1. November 2012 im Rahmen der Zahlungsdiensterichtlinie gegebenenfalls einen Vorschlag zur europaweiten gesetzlichen Verankerung eines bedingungslosen Erstattungsrechts vorzulegen. Außerdem gestattet die SEPA-Verordnung dem nationalen Gesetzgeber in einigen Bereichen optionale Übergangsbestimmungen, mittels derer die Anwendung der SEPA-Verordnung auf den 1. Februar 2016 verschoben werden kann. Das von der Bundesregierung eingebrachte SEPA-Begleitgesetz, das wir heute beraten, macht von einzelnen Übergangsregelungen Gebrauch. So wird den Zahlungsdienstleistern gestattet, Zahlungsdienstnutzern, soweit diese Verbraucher sind, für Inlandszahlungen Konvertierungsdienstleistungen zur Verfügung zu stellen, die es den Zahlungsdienstnutzern ermöglichen, die bisherigen inländischen Kontokennungen auch weiterhin zu nutzen. Dafür hatten wir Grünen uns auf der europäischen Ebene eingesetzt. Das bedeutet, dass Verbraucherinnen und Verbraucher die ihnen geläufige Kontonummer und Bankleitzahl statt der Zahlungskontonummer IBAN bis zum 1. Februar 2016 weiter verwenden können. Für eine solche Dienstleistung dürfen die Zahlungsdienstleister vom Zahlungsdienstnutzer keine direkten oder indirekten Entgelte erheben. Wir sollten in den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen überprüfen, ob der Begriff „Inlandszahlungen“ in § 7 b im Entwurf des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes möglicherweise einer Präzisierung bedarf. Der Bundesrat weist in seiner Stellungnahme darauf hin, dass Inlandszahlungen im Sinne einer verbraucherfreundlichen Auslegung neben Überweisungen und Daueraufträgen auch Lastschriften und insbesondere Einzugsermächtigungen umfassen sollten und es deshalb einer zweifelsfreien Definition bedürfe. Im Übrigen ist es im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher positiv, dass im Begleitgesetz darauf verzichtet wird, von der Übergangsbestimmung in Art. 16 Abs. 6 SEPA-Verordnung Gebrauch zu machen, wonach Mitgliedstaaten die Anforderungen betreffend der Übermittlung der BIC, Business Identifier Code, für Inlandszahlungen bis 1. Februar 2016 verschieben können. Es wäre doch widersinnig, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher bei inländischen Zahlungen gegebenenfalls die komplizierte BIC bis 1. Februar 2016 angeben müssten, um dann auf die BIC verzichten zu können. Darüber hinaus ist zu begrüßen, dass das SEPABegleitgesetz von der in der SEPA-Verordnung vorgesehenen Möglichkeit einer Sonderregelung Gebrauch macht, das elektronische Lastschriftverfahren bis zum 1. Februar 2016 weiterzuführen. Seit Beginn der Debatte um den europäischen Zahlungsverkehrsraum machen wir uns dafür stark, dass kostengünstige und bewährte Zahlungsverkehrsprodukte im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher weiterhin Bestand haben können. Insofern war es ein Erfolg, dass erreicht werden konnte, dass das bewährte kartengestützte und kostengünstige elektronische Lastschriftverfahren weitergenutzt werden kann, bis ein vergleichbares europäisches Produkt am Markt angeboten wird. Nun muss dieser gewonnene Zeitraum allerdings auch tatsächlich genutzt werden. Deshalb ist es zu begrüßen, dass in der Begründung zu § 7 c im Entwurf des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes klargestellt wird, dass es die Aufgabe der betroffenen Wirtschaftskreise und insbesondere der deutschen Kreditwirtschaft ist, die Entwicklung eines solchen Produkts aktiv voranzutreiben. Diese ausdrückliche Aufforderung scheint auch notwendig, da von den betroffenen Verbänden teilweise zu hören ist, dass die Unterstützung seitens der deutschen Kreditwirtschaft bei der Entwicklung eines dem elektronischen Lastschriftverfahren vergleichbaren Nachfolgeproduktes zu wünschen übrig lässt. Abschließend bleibt zu sagen, dass es einzelne Punkte gibt, die wir im Rahmen der Beratungen diskutieren müssen - als Stichwort sei die Frage nach einem internetfähigen SEPA-Lastschriftmandat zu nennen. Insgesamt ist es unser Ziel, eine interessensgerechte, insbesondere verbraucherfreundliche Umstellung der bisherigen nationalen Zahlungsverfahren auf die SEPAZahlungsverfahren sicherzustellen. Es ist mir außerdem ein besonderes Anliegen, an dieser Stelle nochmals hervorzuheben, dass es eine evident wichtige Aufgabe der Kreditwirtschaft sowie aller beteiligten Verbände ist, die Verbraucherinnen und Verbraucher mittels einer geeigneten Öffentlichkeitsarbeit zu informieren und sie nicht mit den bevorstehenden Umstellungen auf SEPA allein zu lassen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10038 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sehen das auch so. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Daniela Wagner, Marieluise Vizepräsidentin Petra Pau Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vergabekriterien für Sportgroßveranstaltungen fortentwickeln - Menschen- und Bürgerrechte bei Sportgroßveranstaltungen stärker berücksichtigen - Drucksache 17/9982 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Alle Jahre wieder schaut die Welt bei der Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen gespannt auf den weißen Umschlag mit dem Gewinner der Austragung. In einem langjährigen Verfahren haben sich zuvor mehrere Städte oder Staaten um die Ausrichtung beworben. Die Prozedur der Vergabe ist zum Teil undurchsichtig und schwer nachvollziehbar. Die Tragweite der Entscheidung ist nicht allein eine Angelegenheit des Sports. Sie hat auch eine politische Bedeutung. Politische Führer in aller Welt wissen um die Begeisterung für den Sport und die Macht der Bilder. Manche wollen diese für sich und ihr Land nutzen. Es ist der Wunsch, vor einem Milliardenpublikum über mehrere Wochen ein möglichst positives Image des Landes zeigen zu können - eine Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit, die man kaum anders erreichen kann. Gleichermaßen wissen die internationalen Sportverbände, wie viel dies den politischen Führern - im wahrsten Sinne des Wortes wert ist. Doch wenn wir diese Erkenntnis haben, warum nutzen wir sie nicht gemeinsam für politische Veränderungen? Genau diese grundsätzliche Frage, inwiefern Sport und Politik miteinander verbunden sind, wird mit dem vorliegenden Antrag thematisiert. Als Peking am 13. Juli 2001 den Zuschlag des Internationalen Olympischen Komitees, IOC, für die Sommerspiele 2008 erhielt, hatten wir die Hoffnung, dass sich im Reich der Mitte etwas an der Situation der Tibeter, bei der Akzeptanz von Behinderungen oder bei der Meinungs- und Pressefreiheit positiv verändert. Eine spürbare Veränderung hat es aber leider nur in geringem Umfang gegeben. Heute Abend spielt unsere Nationalmannschaft um den Einzug ins Finale der Fußballeuropameisterschaft. Gastgeber sind erstmals Polen und die Ukraine. Bei der Vergabe an die Ukraine, mit der damaligen Regierungschefin Julija Timoschenko, waren wir alle zuversichtlich, dass die Ukraine - genauso erfolgreich wie Polen den Weg zu Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gehen kann. Mittlerweile sitzt Julia Timoschenko im Gefängnis. Im Vorfeld der EM hat der Fall der inhaftierten ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin für Aufsehen gesorgt, zeichnete dieser Fall doch ein eher unerfreuliches Bild eines Landes, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anscheinend kaum noch vorhanden sind. Gerade beim Fußball loben wir häufig die Kraft von Fair Play, Respekt, Integration und Offenheit. Dieses Bild ist mit der augenblicklichen politischen Situation der Ukraine nicht vereinbar. Trotzdem ist es richtig, dass die Bundeskanzlerin die deutsche Nationalmannschaft in Kiew unterstützt. Sollte unser Team heute Abend ins Finale einziehen, wird Angela Merkel vor Ort die Gelegenheit nutzen und auf das Unrecht im Umgang mit der ukrainischen Opposition aufmerksam machen. Die Bundeskanzlerin fährt aus Anerkennung der sportlichen Leistung unserer Nationalmannschaft in die Ukraine, nicht um das dortige Regime zu unterstützen. Kritik und mahnende Worte würden auch der Führung der UEFA und dem Präsidenten Platini gut zu Gesicht stehen. Wer wie die Ukraine zur europäischen Familie gehören will - das war ja das Ziel der freiwilligen Bewerbung um die Austragung der Europameisterschaft -, muss auch das Ziel haben, die Werte und Prinzipien unserer europäischen Gemeinschaft zu verinnerlichen. Auf eine ähnliche Konstellation treffen wir in zwei Jahren in Belarus. Der autokratisch herrschende und nicht wenig eitle weißrussische Präsident Lukaschenko, auch als letzter Diktator Europas bezeichnet, ist bekanntlich ein Eishockeynarr. Wenn sein Land die Eishockeyweltmeisterschaft 2014 austragen darf, wird die internationale Staatengemeinschaft genau darauf achten müssen, inwieweit sich Rechtstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und echte demokratische Prinzipien in dem nur zwei Flugstunden von Deutschland entfernten Land verbessert haben. Solange Demonstranten konsequent eingesperrt werden, können weder die Politik noch die Sportverbände tatenlos zusehen. Die nächste Chance zur gesellschaftlichen Einmischung erhalten FIFA und IOC, wenn 2018 in Russland und 2022 in Katar der Ball rollt und 2014 in Sotschi die Biathleten über die Loipen spurten. Pressefreiheit und politische Mitbestimmung der Opposition stehen dann dem russischen Wunsch nach medialer Selbstdarstellung gegenüber. Ebenso wird sich das arabische Emirat Katar überlegen müssen, ob homosexuelle oder unverschleierte Fußballfans in Stadien und im Land sicher sind. Es bleibt abzuwarten, ob die FIFA diese und andere kritische Themen in Moskau und in Doha frühzeitig anspricht. Die eben genannten Beispiele für die Vergaben an China, Russland, Katar, Ukraine und Weißrussland werfen die Frage auf: Was sind geeignete Kriterien für Vergaben von Sportgroßveranstaltungen? Wir, die Politik, fordern selbstverständlich Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Menschenrechte sowie der Presse- und Meinungsfreiheit ein. Aus Sicht des Sports geht es primär um Kriterien wie geeignete Sportstätten, ein angemessenes Umfeld für die Sportler, Infrastruktur sowie eine nachhaltige und wirtschaftliche Entwicklung der Region. Lassen sich diese Kriterien verbinden? Stehen sie in einem Widerspruch zueinander? Und welchen Einfluss kann und sollte die Politik auf die autonomen Entscheidungsprozesse in den internationalen Sportverbänden nehmen? Oder stimmt das Argument, dass gerade mit der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen an solche Länder eher Verbesserungen herbeigeführt wer22560 den können? Ist es richtig, dass wir, die westlich geprägten Demokratien, selbstverständlich unsere eigenen Grundsätze und Werte als Maßstab für die ganze Welt als gegeben voraussetzen? Dürfen wir das? Unstreitig ist: Die Sportverbände genießen Autonomie. Das widerspricht jedoch nicht dem Gedanken, dass sie bei der Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen demokratische Prinzipien, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte einfordern können und müssen. Es existiert der leise Vorwurf, dass die großen Sportverbände nicht die Kraft zur Demokratisierung haben, weil sie vielleicht selbst nicht vollständig demokratisch strukturiert sind. Diesem Vorwurf können die Verbände nur durch aktives Tun entgegenwirken. Welche Chancen, welche Kraft und welches Veränderungspotenzial Sportgroßveranstaltungen mit sich bringen, haben die Australier im Jahr 2000 bewiesen, als die Aborigine Cathy Freeman das olympische Feuer entzündete. Als Botschafterin ihres Volkes, der Ureinwohner Australiens, machte sie die Weltöffentlichkeit auf die Unterdrückung aufmerksam - ein gewolltes, nachhaltiges, starkes und selbstbewusstes Zeichen der Versöhnung Australiens in die ganze Welt. Pierre de Coubertin hat die Olympischen Spiele der Neuzeit erfunden. Es soll ein Treffen der Jugend der Welt sein und der Völkerverständigung dienen. Doch längst ist aus diesem Gedanken mehr geworden. Wenn die großen Verbände IOC, FIFA und UEFA eine ihrer Veranstaltungen vergeben, dann machen sie damit nicht nur ein Geschäft, sondern auch Politik. Deshalb ist die Intention des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen nachvollziehbar. Dennoch sind die einzelnen Forderungen im Antrag im Detail zu diskutieren. Wesentliche Forderungen an die Bundesregierung wurden bereits umgesetzt oder sind nicht umsetzbar. Ebenfalls sollten wir erörtern, wie es sein kann, dass Bündnis 90/Die Grünen in diesem Antrag die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen nach höchsten ökologischen Standards einfordern, aber die Olympischen Winterspiele 2018 in München abgelehnt haben, die diese Kriterien erfüllt hätten. Wir werden diese Punkte ausführlich im Sportausschuss beraten.

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dieser Tage ist die Fußballeuropameisterschaft in Polen und der Ukraine in aller Munde. Im Vorfeld hatten wir eine wichtige Diskussion um Menschenrechte in der Ukraine und über den dortigen Umgang mit politischen Gegnerinnen und Gegnern. Ich denke, es war gut und richtig, wie sich die Europäische Kommission, Regierungen und Parlamentarier europaweit positioniert haben, indem sie sagten: Wir werden nicht in die Ukraine reisen und das Regime aufwerten. Auch Mitglieder der Bundesregierung haben hier ein wichtiges Zeichen gesetzt. Umso befremdlicher finde ich, dass der Bundesinnenminister und neuerdings auch die Kanzlerin diese Phalanx durchbrechen: Sie wollen im Falle von Spielen mit deutscher Beteiligung in der Ukraine ebenfalls dorthin reisen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten meinen, hierzu müssen sich Herr Minister Friedrich und die Bundeskanzlerin äußern. Warum gilt heute nicht mehr, was gestern noch galt? Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat in ihrem Antrag einige interessante Punkte angesprochen. Wir werden uns im Sportausschuss noch intensiver damit befassen; daher möchte ich an dieser Stelle nur einige Bemerkungen machen. Wir hatten bereits mit Bündnis 90/ Die Grünen einen Antrag vorgelegt, der sich mit einem ganz konkreten Fall bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen befasste: die Eishockeyweltmeisterschaft 2014 in Weißrussland. In all diesen Fällen bewegen wir uns in einem Spannungsfeld zwischen der wichtigen und richtigen Autonomie des Sports und den Anforderungen, die eine moderne Gesellschaft berechtigterweise an ihre Sportverbände stellt. Um es zu betonen: Wir stehen weiterhin für die Autonomie des Sports ein. Denn gerade wir in Deutschland wissen, was es bedeutet, wenn die Politik den Sport instrumentalisiert und für Ideologien missbraucht. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, wie der Grundsatz der Autonomie missbraucht wird, um dann manch dubiose und zum Teil kriminelle Praxis in Sportverbänden zu rechtfertigen. Wenn für die Vergabe von internationalen Meisterschaften vorab vom Verband Millionenbeträge gefordert werden, wenn ohne intransparente, ja sogar korrupte Praktiken eine Bewerbung von vorneherein aussichtslos ist, wenn ein ehrenamtlich tätiger Funktionär plötzlich dreistellige Millionenbeträge einstreicht, dann hat dies nichts mehr mit der Autonomie des Sports zu tun. Zusammen mit dem Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, und den Sportfachverbänden müssen wir Regelungen entwickeln, um hier verantwortliches Handeln sicherzustellen, ohne den Grundsatz der Autonomie zu gefährden. Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, der im Antrag der Grünen erwähnt wird: die Steuerbefreiung bei internationalen Sportveranstaltungen. Sowohl für die Olympischen Spiele wie auch für die Fußballwelt- und Fußballeuropameisterschaften sowie die UEFA-Cup-Finalspiele muss der Ausrichter Steuerbefreiung garantieren. Hier setzen das Internationale Olympische Komitee, IOC, die FIFA und die UEFA ihre Monopolstellung - meines Erachtens in ungebührlicher Art und Weise - ein, um ihren kommerziellen Gewinn zu maximieren. Bei einem wirtschaftlichen Unternehmen ist das Streben nach Profitmaximierung verständlich, zumal die Allgemeinheit durch Steuern ihren Anteil erhält. Doch IOC, FIFA und UEFA gelten als gemeinnützig. Deutschland hat bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen viele Jahre keine Befreiung von der Steuerpflicht garantieren wollen. Das Ergebnis war, dass die UEFA lieber in maroden Stadien ihre Finale ausspielen ließ - und wir in Deutschland fast anderthalb Jahrzehnte keine Finalspiele mehr ausrichten konnten. Zu Protokoll gegebene Reden Ich meine, hier muss es zu einem gemeinsamen Handeln der EU kommen: Das Gegeneinanderausspielen muss aufhören. Wenn die EU-Staaten beschließen, dass eine Steuerbefreiung nicht mehr infrage kommt, wird es bestimmt nicht lange dauern, bis die UEFA einlenken wird. Denn in den EU-Staaten wird das meiste Geld mit Fußballfernsehrechten verdient. Insofern wird man es sich nicht erlauben können, hier grundsätzlich keine Finalspiele mehr abzuhalten. Ich bin froh, dass wir das Thema Besteuerung von Sportgroßveranstaltungen im Sportausschuss mit Sachverständigen diskutieren werden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin ein glühender Anhänger der völkerverbindenden Idee und Kraft des Sports. Aber: Sport ist auch ein kommerzielles Produkt geworden. Mit Sport und insbesondere dem Fußball werden Milliardenbeträge verdient. Dem muss die Politik Rechnung tragen, und auch die Sportverbände müssen sich der Diskussion stellen, dass nicht mehr alles nur noch den hehren Idealen des Pierre de Coubertin folgt. Schließlich möchte ich noch konkreter auf einige Punkte in ihrem Antrag eingehen: Was generell auffällt, ist, dass Sie wieder einmal viele Punkte miteinander verbinden, die vielleicht besser in getrennten Anträgen aufgeführt worden wären. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich durchaus Sympathien für die Forderung habe, sich nicht weiter von den großen Verbänden gängeln zu lassen und auf sämtliche Steuereinnahmen zu verzichten. Aber hier bedarf es einer mit den anderen EU-Staaten koordinierten Vorgehensweise, sonst wird das nichts. Ich finde, dieses Thema ist so wichtig, dass man ihm durchaus einen eigenständigen Antrag hätte widmen können. Außerdem fordern Sie im fünften Spiegelstrich, die ausführenden Verbände sollten die Einhaltung von menschen- und bürgerrechtlichen sowie ökologischen Standards überprüfen. Wenn ich das einmal konkret an der laufenden Europameisterschaft festmachen darf: Wie stellen Sie sich das vor? Soll der ukrainische Verband die Einhaltung der Menschenrechte in der Ukraine überprüfen? Oder meinen Sie die UEFA? Sollen Herr Platini und seine Mannschaft die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte überprüfen? Und bei der WM in Katar dann Herr Blatter? Mir ist ja bekannt, dass Herr Blatter davon träumt, den Friedensnobelpreis zu erhalten. Aber ich denke, da überfordern und überhöhen Sie diese Organisationen. Ich kann Ihnen nur das neue Buch von Herrn Kistner zur FIFA empfehlen. Nach der Lektüre werden Sie meine Einstellung besser nachvollziehen können. Noch ein Wort zur Fußballeuropameisterschaft: Ich denke, wir haben hier sehr gute und beherzte Auftritte und Aussagen von Nationalspielern zu Menschen- und Bürgerrechten in einzelnen Gastgeberländern gehört. An diesen Beispielen sieht man, wie der Sport in wichtigen ethischen Fragen Position beziehen kann und nicht sprachlos bleiben muss.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sportgroßveranstaltungen ermöglichen es Sportlern aus der ganzen Welt, ihrem Sport, der heute meist auch Beruf ist, vor einem breiten Publikum nachzugehen. Wenn in diesem Zusammenhang oft auch von der Kommerzialisierung des Sports die Rede ist, so sollten wir nicht vergessen, dass es gerade diese Kommerzialisierung ist, die die heute herrschende Professionalität gefördert hat und es sehr vielen Sportlern ermöglicht, ihrer Leidenschaft, dem Sport, nachzugehen und gleichzeitig davon leben zu können. Und doch ist der Sport nicht bloßer Broterwerb einiger weniger. Er begeistert viele, bringt Fremde einander näher und schafft Gemeinsamkeiten. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns als Liberale über jede Sportveranstaltung, ob sie besonders groß und aufwendig organisiert ist wie die Fußballeuropameisterschaft 2012 oder ob es sich um das städtische Sportfest mit begeisterten Sportfreunden aller Altersklassen und vielen ehrenamtlichen Helfern handelt. Jedes freiwillige Zusammentreffen dieser Art definiert auch unsere Gesellschaft. Deshalb können wir nicht zusehen, wie hier vonseiten unserer wohlmeinenden grünen Freunde versucht wird, Sportveranstaltungen einer Bürokratendiktatur zu unterwerfen und sie der eigenen ideologischen Utopie anzupassen. Es ist keine Neuigkeit, dass in der Ukraine in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit andere Zustände bestehen als hierzulande. Dies kann man auch mit Recht kritisieren. Jedoch: Nur dank einer Veranstaltung wie der Fußball-EM stehen die Probleme dort jetzt auch im Fokus einer breiten Öffentlichkeit. Daraus entstehen dann der auch von Ihnen herbeigesehnte gesellschaftliche Diskurs und die hohe mediale Aufmerksamkeit, zum Beispiel für den Fall Timoschenko. Und welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus? Die EM dürfte in einem Land wie der Ukraine gar nicht stattfinden. Das ist doch absurd! Natürlich versucht die Regierung einer Nation, die ein solches Fest ausrichtet, sich im besten Licht zu zeigen. Das ist selbstverständlich. Doch sollten Sie nicht vergessen, dass Sportgroßereignisse weder politisch noch medial im luftleeren Raum stattfinden. Dafür haben wir doch die Medien, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken und offen publizieren. Sie dürfen auch nicht erwarten, dass sich durch eine Sportveranstaltung wie die Olympischen Spiele 2008 die politischen Verhältnisse in einem Land schlagartig ändern. Das sind Fantastereien, denen Sie sich da hingeben! Natürlich kann eine Sportveranstaltung einen Impuls geben, und das tut sie auch, aber es ist letzten Endes auch nur Sport und die öffentliche Darstellung. Hier gibt es meiner Meinung nach keinen konkreten Regulierungsbedarf. Wenn sich ein Verband wie der IOC entschließt, eine Veranstaltung an ein bestimmtes Land zu vergeben, dann respektieren wir das. Sie gehen mit dem Begriff der Autonomie des Sports um, als wäre er bloße Makulatur. Wir respektieren diese Autonomie. Es besteht seitens der Zu Protokoll gegebene Reden Joachim Günther ({0}) Regierung auch gar kein Bedarf, sich in derartige Verfahren einzumischen. Sie kritisieren, dass autoritäre Staaten Sportgroßveranstaltungen zu ihren eigenen Zwecken genutzt haben und dass das auch zukünftig zu befürchten ist. Doch Sie kritisieren dies nur, weil deren Ziele den Ihren diametral entgegenstehen. Und so versuchen Sie den Sport für Ihre Zwecke, die Gutmenschelei und die grüne Verblendung einer großen Zahl von Menschen, zu instrumentalisieren. Lassen wir den Sport Sport sein. Ermöglichen wir es unseren jungen und älteren Sportlern aus aller Welt auch weiterhin, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen. Dass sie in diesem Zusammenhang auch frei ihre Meinung sagen können, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass dies von unseren Athleten, die für Themen wie Menschenrechte und Demokratie sensibilisiert sind, auch wahrgenommen wird, hat uns Philipp Lahm gezeigt. Oder nehmen wir das Beispiel Peking, wo erst durch die Olympischen Spiele die Behinderten ihren Platz in der Gesellschaft fanden. Vorher wurden sie vom Land schlicht negiert. Wenn wir unsere Werte verteidigen wollen, dann geht das nicht, indem man diejenigen, die sie noch nicht teilen, isoliert, sondern nur, indem man ihnen die Möglichkeit gibt, unsere Werte kennen und schätzen zu lernen. Boykotte sind dabei nicht zielführend. So können wir versuchen, Vorbilder zu sein. Aber unsere Oberlehrer sollten wir zu Hause lassen.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

„Um einander zu achten, muss man sich zunächst kennen“! Dieses Zitat geht zurück auf den Begründer der modernen Olympischen Spiele, Baron Pierre de Coubertin. Es spiegelt wider, worum es bei Sportveranstaltungen geht, egal ob bei internationalen Sportgroßveranstaltungen oder Sportfesten des örtlichen Sportvereins. Menschen unterschiedlicher Herkunft lernen sich kennen, respektieren die sportliche Leistung der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, und zusammen mit Zuschauerinnen und Zuschauern teilen alle die Freude am gemeinsamen Sporterleben. In der Vergangenheit gab es verstärkt Proteste, wenn es um die Vergabe von sportlichen Großereignissen ging. Am 13. Juli 2001 erhielt Peking den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele 2008. Daraufhin gab es viel Kritik, insbesondere an der Menschenrechtssituation, dem TibetKonflikt und den Umweltzerstörungen in China. Haile Gebrselassi, der bis letztes Jahr den Weltrekord im Marathon hielt, hat beispielsweise seine Teilnahme am Marathon in Peking wegen der schlechten Luft abgesagt. Dies hat er im Nachhinein jedoch bereut, da die Verhältnisse besser waren als erwartet. Überhaupt muss man heute feststellen, dass die Olympischen und insbesondere die Paralympischen Spiele auch positive Impulse für China gebracht haben. Vorher waren Menschen mit Behinderungen in China unsichtbar. Hier hat es einen ersten Schritt in die richtige Richtung gegeben, und auch wenn es ein langer Weg ist, so hat in der Gesellschaft ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Die Paralympischen Spiele haben China und der Welt gezeigt, was Menschen mit Behinderungen zu leisten im Stande sind. Nach der Vergabe der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele an Peking gab es jedoch noch weitere Anlässe zu Kritik an den großen Sportorganisationen wie IOC und FIFA. Die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2014 werden im russischen Sotschi stattfinden, und die Eishockey-WM 2014 ist nach Belarus vergeben. Auslöser der Proteste sind hier vor allem die Menschenrechtslage in Belarus und die Umweltbedingungen in Sotschi. Es ist auch schwer zu verstehen, dass Olympische und Paralympische Winterspiele in einer Sommerresidenz am Schwarzen Meer ausgetragen werden sollen. Es würde schließlich auch niemand auf die Idee kommen, Winterspiele in Nizza durchzuführen, und das liegt immerhin auf dem gleichen Breitengrad wie Sotschi. Die Kritik ist also durchaus berechtigt, und die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht. Ich denke, Boykotte von Sportveranstaltungen sind kontraproduktiv und schaden in erster Linie dem Sport und den Sportlerinnen und Sportlern. Es besteht heute eine nahezu einhellige Auffassung, dass die großen Boykotte der Olympischen Spiele von Moskau 1980 und Los Angeles 1984 negative Folgen hatten; sie waren falsch. Der Sport kann nicht in die Haftung der Politik genommen werden, und in Bezug auf Peking 2008 hat selbst der Dalai Lama einen Boykott abgelehnt, da dieser das chinesische Volk getroffen hätte und nicht die Regierung, mit der der Konflikt eigentlich bestand. Man kann nicht ernsthaft erwarten, dass durch eine Sportveranstaltung, auch wenn es sich um die Olympischen und Paralympischen Spiele handelt, ein seit mehr als 50 Jahren bestehender Konflikt wie die Tibet-Frage, gelöst werden kann. Hier würde man den Sport überfrachten, und davor möchte ich warnen. Auch Jacques Rogge, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, sagte im März 2008 bei der Entzündung der olympischen Flamme: „Die olympischen Spiele sind eine Kraft für das Gute. Sie sind ein Katalysator für Wandel, nicht ein Allheilmittel für alle Übel“. Diese positive Kraft für das Gute muss man nutzen. Ein positives Beispiel der Vergangenheit sind die Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul. Dieses Ereignis hat dazu beigetragen, dass sich Südkorea der Welt öffnete. Man muss bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen entscheiden, ob man ein Land isolieren will oder mit den Mitteln des Sports ein Dialog angeregt werden kann. Ich bin für den zweiten Weg! Natürlich kann Sport nicht völlig losgelöst von der Politik betrachtet werden. Das hat schon das Viertelfinale der aktuellen Fußball-EM zwischen Deutschland und Griechenland gezeigt. Die Medien haben die gesamte Euro-Krise auf dieses Spiel projiziert. Der Kanzlerin wurde sogar empfohlen, im Falle eines Erfolgs der deutschen Mannschaft nur verhalten zu jubeln. Das geht meiner Meinung nach zu weit. Dennoch können sich die internationalen SportZu Protokoll gegebene Reden organisationen nicht auf den Standpunkt zurückziehen, Sport und Politik müsse man strikt trennen. Die Entwicklung von Vergabekriterien für Sportgroßveranstaltungen, wie in dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen, ist ein guter Anfang. Es ist wichtig, dass es einheitliche Kriterien gibt, die transparent und nachvollziehbar sind. In einem solchen Katalog müssen ökologische Kriterien enthalten sein. Es ist nicht hinnehmbar, dass für die Austragung einer solchen Veranstaltung die Natur dauerhaft zerstört wird. Eingriffe, die irreversibel sind, müssen durch positive Projekte an anderer Stelle kompensiert werden. Es müssen soziale Kriterien enthalten sein; denn es kann nicht sein, dass es für die Realisierung einer Bewerbung oder die Durchführung der Sportveranstaltung zu Kürzungen bei sozialen Projekten kommt. In Anlehnung an die Waffenruhe, die während der Olympischen Spiele in der Antike herrschte, müssen Sportveranstaltungen auch in einem friedlichen und stabilen Umfeld stattfinden. Es ist wichtig, die Lage in einem Land zumindest für einen gewissen Zeitraum einschätzen zu können; denn die Vergabe einer Sportgroßveranstaltung erfolgt zumeist einige Jahre früher. In einem solchen Kriterienkatalog muss selbstverständlich auch die Menschenrechtslage in den potenziellen Austragungsorten eine Rolle spielen. Es müssen Mindeststandards eingehalten werden, und diese Einhaltung muss auch öffentlich dokumentiert werden und nachvollziehbar sein. Eine solche Bewertung vorzunehmen, ist für die internationalen Sportorganisationen durchaus zumutbar. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, das richtige Maß zu finden. Menschenrechte werden unterschiedlich interpretiert und ausgelegt. Wenn man die Latte hier zu hoch legt, dann könnten wohl in keinem Land bedenkenlos Sportveranstaltungen ausgetragen werden. Es würde wohl keinen Aufschrei geben, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika den Zuschlag für die Austragung einer Weltmeisterschaft oder der Olympischen und Paralympischen Spiele bekommen würden. Bei genauerem Hinsehen muss man aber feststellen, dass in über 30 Staaten noch die Todesstrafe durch das Gesetz zulässig ist und es ein höchst fragwürdiges Gefangenenlager auf Guantánamo gibt. Es ist die ständige Aufgabe der Politik, sich für die Einhaltung und Verbesserung der Menschenrechte einzusetzen. Der Sport kann hier nur temporär einen Beitrag leisten und Probleme öffentlich machen, lösen kann er sie sicherlich nicht. Ein Kriterienkatalog ist aber auch deshalb sinnvoll, da Länder, die diese Punkte noch nicht umfänglich erfüllen, möglicherweise animiert werden, die Verhältnisse im eigenen Interesse anzupacken und zu verbessern. Notwendig in einem solchen Katalog ist meiner Meinung nach auch eine Begrenzung der Kosten zur Durchführung von Sportereignissen. Eine solche Kostendeckelung muss sich sowohl auf das Bewerbungsverfahren als auch die Austragung der Sportveranstaltung beziehen. Schließlich müssen auch die Abstimmungsmodalitäten der Sportorganisationen transparent und nachvollziehbar sein; denn auch der beste Kriterienkatalog wäre wirkungslos, wenn seine Beachtung nicht überprüfbar wäre. Wir unterstützen den Antrag, auch wenn man einige Punkte ergänzen könnte und insbesondere die Menschenrechtsfrage sehr differenziert betrachten muss. Vielleicht können wir auch gemeinsam noch einige Ergänzungen entwickeln. Durch diesen Antrag wird eine Debatte angestoßen, und die Probleme werden ausdrücklich benannt. Ein sportlicher Dialog kann für alle Beteiligten sehr fruchtbar sein. Auf diese Weise lernen sich Menschen auch kennen und achten.

Viola Cramon-Taubadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004025, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit dem vorliegenden Antrag zum Verhältnis von Sportgroßveranstaltungen und Menschenrechten betreten wir politisches Neuland. Es wird zum ersten Mal im parlamentarischen Bereich ein wirkungsvoller Versuch gemacht, einen modernen Lösungsweg zu skizzieren. Wir setzen uns für eine Lösung ein, die sowohl der großen Bedeutung von Sportgroßveranstaltungen Rechnung trägt als auch der Universalität der Menschenrechte zu stärkerer Geltung verhelfen möchte. Ganz bewusst haben wir unseren Antrag vor dem Hintergrund der Fußballeuropameisterschaft in Polen und der Ukraine eingebracht. Besonders die politische Situation in der Ukraine steht in den letzten Monaten im Fokus von Politik und Öffentlichkeit. Es gibt in der Ukraine undemokratische Zustände in einigen Bereichen. Wir müssen zahlreiche Fälle von politisch motivierter Justiz feststellen. Daher lehnen wir einen Fußballtourismus der Politik zugunsten von Präsident Janukowitsch ab. Wir setzen auf deutliche und vernehmliche Kritik statt auf Fanklatscherei auf der Ehrentribüne. Lassen Sie mich zu den sportpolitischen Aspekten unseres Antrages kommen. Wir müssen in den letzten Jahren eine Häufung von umstrittenen Vergaben von Sportgroßveranstaltungen feststellen. Ich sehe drei Gründe für diese Entwicklung: Erstens ist grundsätzlich die Zahl derjenigen Länder gestiegen, die sich um die Ausrichtung von Sportgroßveranstaltungen bewerben. Es sind neue Länder auf der sportpolitischen Bildfläche erschienen, ich nenne Südafrika, China, Brasilien. In Katar wird 2022 die Fußballweltmeisterschaft stattfinden, was kaum jemand außerhalb des Weltfußballverbandes, FIFA, nachvollziehen kann. Zweitens ist mit Vergabeentscheidungen auch immer wieder das Thema Korruption verbunden. Eine Sportveranstaltung in dieser Größenordnung wird eben häufig nicht allein nach Geeignetheit des Bewerbers vergeben, sondern es fließt Geld im verborgenen Bereich. Das Internationale Olympische Komitee, IOC, und der Weltfußballverband sind besonders betroffen von Vorwürfen, Indizien und sogar gerichtsfesten Fakten. In der Schweiz hat ein Gericht festgestellt, dass von 1989 bis 2001 mindestens 140 Millionen Schweizer Franken als Schmiergeld im internationalen Sport geflossen sind. Obwohl auch meine Fraktion für die Autonomie des Sports ist, werden wir unsere Augen nicht vor diesen strafrechtsrelevanten Fehlentwicklungen verschließen. Der Sport Zu Protokoll gegebene Reden darf nicht weiter von korrupten Funktionären als Deckmantel für Bereicherung benutzt werden. Wir verschließen unsere Augen auch nicht, wenn es ein IOC bis heute nicht schafft, den teilnehmenden Sportlerinnen und Sportlern bei Olympia das Recht auf Meinungsäußerung zu gewähren. Es gibt leider nach wie vor einen Art. 51 der IOC-Charta, der Sportlerinnen und Sportlern mit Ausschluss von Olympia bedroht, wenn sie sich politisch äußern. Da sehen wir Grüne die vordemokratische Haltung des IOC ganz kritisch. Ich sage Ihnen schon jetzt voraus: Wenn es in dieser Frage nicht schnellstens zu einer Demokratisierung der IOCRegeln kommt, dann werden wir in etwas mehr als einem Jahr bei den Olympischen Spielen in Sotschi die nächste Debatte um die eingeschränkte Meinungsfreiheit von Sportlerinnen und Sportlern haben. Drittens ist der Fokus der Öffentlichkeit bei Sportgroßereignissen immer stärker auf Menschenrechtsverstöße und Fehlentwicklungen wie Umweltzerstörung und Kostensteigerungen gerichtet. Nichtregierungsorganisationen und Umweltschutzverbände sind an dieser Stelle als glaubwürdige Kritiker dieser Entwicklung zu nennen, da sie - oftmals mit wissenschaftlicher Expertise gestützt - ein weltweites Forum und internationale Aufmerksamkeit nutzen können. Ich nenne aber auch lokale Organisationen und Vereine, die ihre kritische Haltung und ihren Protest gegen autoritäre Politik formulieren und dafür auch Repressionen riskieren. Ich konnte mir in den vergangenen Monaten vor Ort in Sotschi mehrfach ein genaues Bild machen und stehe in einem engen Kontakt zu einigen Organisationen. Aus grüner Sicht wollen wir einen gangbaren Weg aufzeigen, um zu einer vernünftigen Weiterentwicklung zu kommen. Um es ganz deutlich zu sagen: Es geht uns nicht um einen grundsätzlichen Boykott von Sportveranstaltungen. Unser Lösungsvorschlag bedeutet: Es sollte auf internationaler Ebene eine Konvention ausgearbeitet werden, in der Sport, Politik und Nichtregierungsorganisationen einen Kriterienkatalog aufstellen, an dem sich Sportgroßveranstaltungen zukünftig messen lassen sollten. Ich möchte den Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, aber auch mitgliederstarke Sportverbände wie den Deutschen Fußball-Bund, DFB, ausdrücklich ermuntern, sich bei diesem Vorhaben einzubringen. Lassen sie mich kurz den weiteren parlamentarischen Zeitplan unseres Antrages skizzieren. Die Beratungen werden kein parlamentarischer Schnellschuss sein. Ausdrücklich behalten wir Grüne uns vor, eine öffentliche Anhörung zu diesem Antrag durchzuführen. Es wäre auch für die weitgehend positionslose Regierungskoalition eine gute Gelegenheit, einmal Farbe in ihrer bisher verwaisten Sportpolitik zu bekennen. Ich weiß, dass es auch bei einigen Kolleginnen und Kollegen aus den schwarzgelben Reihen großes Unbehagen gibt, wenn Sportgroßveranstaltungen in Staaten stattfinden, in denen Menschen- und Bürgerrechte nicht viel zählen. Daher mein Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antrag zu oder legen Sie einen eigenen Vorschlag vor.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9982 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Damit ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes ({0}) - Drucksache 17/10039 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nicht immer, aber immer öfter fallen sie im Straßenverkehr auf, Fahrzeuge mit Elektroantrieb, in den acht Modellregionen, wie zum Beispiel im Raum Rhein-Main nahe meinem hessischen Wahlkreis oder hier in Berlin. Fast täglich komme ich an den ersten Strom-„Zapfsäulen“ vorbei. Erste Fahrzeugflotten bei Vermietern, zum Beispiel der Bahn, und beim Carsharing sind schon umgerüstet. Auch wenn diese Fortschritte natürlich noch auf die urbanen Zentren begrenzt sind und noch längst nicht die Fläche erreicht haben, so zeigen sie doch, dass es vorangeht mit der Elektromobilität. Ausgehend von heute 1 500 zugelassenen Fahrzeugen sind die Ziele in den kommenden Jahren zugegeben äußerst ehrgeizig. Gleichzeitig erhält ein einzelnes Segment eine derartige Aufmerksamkeit nur selten. Die Koalition hat dazu auf Grundlage ihres Koalitionsvertrages das neue „Regierungsprogramm Elektromobilität“ aufgelegt und fördert die Einführung von Elektroautos in verschiedenen Bereichen, bei der Forschung bei Speicherbatterien, Antriebstechnologien, Leichtbautechnik, Brennstoffzellen, beim Ausbau der Versorgungsnetze, im öffentlichen Personennahverkehr mit Hybridbussen wie zum Beispiel in Stuttgart und vieles mehr. Bundesregierung und Industrie fördern mit knapp 2 Milliarden Euro die Nationale Plattform Elektromobilität. Über 200 Projekte deutschlandweit werden mit 130 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket II unterstützt. Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Nationale Innovationsprogramm mit der Forschung zu Wasserstoff- und Brennstoffzellenprojekten. Erst in der letzten Woche wurde der dritte Fortschrittsbericht der Nationalen Plattform vorgelegt, der die Fortschritte aufzeigt. Ein langer ambitionierter Weg, ich sagte es, aber wir sind schon gut vorangekommen auf dem Weg zum erklärten Ziel, Deutschland zum Leitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität zu entwickeln. Einen steuerrechtlichen Baustein der Maßnahmen wollen wir heute als zentralen Bestandteil des sogenannten Verkehrsteueränderungsgesetzes hinzufügen. Ich begrüße, dass wir die Kfz-Steuerbefreiung für reine Elektro-Personenkraftwagen von derzeit fünf auf zehn Jahre erweitern und so den Anreiz neben den nichtmonetären Vorteilen für die Käufer verstärken, die sich für ein noch deutlich teureres Elektroauto entscheiden. So wird ein wichtiges Signal gesetzt, denn praktisch ist damit ein Elektroauto für seine durchschnittliche Lebensdauer von der Kfz-Steuer befreit. Dies ist ein zusätzlicher Anreiz für die umweltbewussten Kraftfahrer, die sich auf die neue Technologie einlassen. Wichtig ist auch die Erweiterung der Förderung auf andere Elektrofahrzeuge wie Kleinfahrzeuge und Quads. Gerade bei diesen Fahrzeugen, die keine Pkw sind und deshalb bisher nicht erfasst wurden, gab es zuvor Unsicherheiten und eine Zurückhaltung bei den Käufern, wie ich aus persönlichen Gesprächen mit interessierten Bürgern weiß. Jetzt sind diese Kleinfahrzeuge mit dabei bei der Förderung. Auf diese Klarstellung haben viele Käufer gewartet. Auch dies ist ein wichtiges Signal für ein sehr entwicklungsfähiges Fahrzeugsegment. Weitere Verbesserungen bietet der Regierungsentwurf auch beim Verwaltungsaufwand: So kann der Erfüllungsaufwand reduziert werden, indem die verkehrsrechtlichen Feststellungen hinsichtlich Fahrzeugklassen und Aufbauarten nun aus Gründen der Vereinfachung auch kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Zwecken dienen, sofern dies nicht zu umweltpolitisch kontraproduktiven Effekten führt. Also: Einmal prüfen, zweimal Daten anwenden - eine zweckdienliche Lösung. Zudem entfallen so Vorführungen, Nachprüfungen bei den Finanzämtern, Rechtsstreitigkeiten werden vermieden, und, um ein praktisches Beispiel zu nennen, vor allem kleinen Gewerbetreibenden mit ihren Pick-ups, die bisher hier Probleme hatten, wird so geholfen. Dies sind nur die steuerrechtlichen Bausteine eines umfassenden Programms für mehr saubere und umweltfreundliche Fahrzeuge auf unseren Straßen. Ich bin überzeugt, dass die Maßnahmen dieses Gesetzes für alle Fraktionen gute Vorschläge für zügige und konstruktive Beratungen im Finanzausschuss darstellen.

Bettina Kudla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004084, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Versicherungsmarkt hat eine wichtige Stabilisierungsfunktion für die Wirtschaft, da er Risiken, denen die Bürger und auch Unternehmen ausgesetzt sind, absichert. Der Abschluss von Versicherungen, abgesehen von einzelnen Ausnahmen gemäß § 6 Abs. 2 Versicherungsteuergesetz, wird mit einer Versicherungsteuer von 19 Prozent belastet. Das Aufkommen der Versicherungsteuer betrug im Jahre 2011 rund 10,8 Milliarden Euro. Die Versicherungsteuer trägt dabei maßgeblich zu den Einnahmen der öffentlichen Haushalte bei. Für den Verbraucher - sprich den Bürger - ist es wichtig, Klarheit zu haben, welche Versicherungsgeschäfte versteuert werden. Dies schafft mehr Steuergerechtigkeit und trägt der Entwicklung des Versicherungsmarkts Rechnung, da häufig mehrere Versicherungen in Form von Versicherungspaketen abgeschlossen werden. Die Bundesregierung legt nun eine Änderung des Versicherungsteuergesetzes vor, mit der sowohl Bürokratie abgebaut als auch ein Beitrag zur Steuervereinfachung geleistet werden soll. Dies sichert den öffentlichen Haushalten das Aufkommen und führt zu einer Vereinfachung bei der Erhebung der Versicherungsteuer. Anlass der Änderung des Versicherungsteuergesetzes ist eine Vielzahl von offenen Fragen, die in der Verwaltungspraxis festgestellt wurden. Ziel des Gesetzes soll es ferner sein, zu vermeiden, dass der Steuerpflichtige oder das Versicherungsunternehmen Umgehungstatbestände konstruiert, die dem Fiskus Einnahmen entziehen. Die Bundesregierung hat das Ziel, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, weiter intensiv am Bürokratieabbau zu arbeiten. Sicherlich stöhnen Bürger und Unternehmer häufig unter zu viel Bürokratie. Dies mag in vielen Fällen auch tatsächlich so sein. Andererseits braucht ein gut funktionierender Staat klare gesetzliche Regelungen und vor allem eine eindeutige Umsetzung von gesetzlichen Regelungen. Andererseits kann es nicht Ziel sein, Erbsen zu zählen. Daher ist es zu begrüßen, dass die Gesetzesänderung eine Verdoppelung der Schwellenwerte für die vierteljährliche Abgabe der Steueranmeldung enthält - von 3 000 auf 6 000 Euro. Dies führt zum Abbau von Bürokratie. Das Gesetz verfolgt ferner das Ziel, einzelne Versicherungstatbestände eindeutiger im Hinblick auf den Steuersatz und die Bemessungsgrundlage zu regeln, insbesondere bei sogenannten Versicherungspaketen. Das Ziel der beleglosen Steuererklärung wird durch die Einräumung der Möglichkeit der Abgabe einer elektronischen Steuerklärung weiter vorangetrieben. Durch diese Regelung wird laut Prognosen des Bundesfinanzministeriums der Erfüllungsaufwand um 370 000 Euro verringert. Die Einräumung der Möglichkeit eines jährlichen Anmeldezeitraums stärkt die Wettbewerbsfähigkeit kleiner Versicherungsunternehmen. In Anbetracht der Neuausrichtung der Agrarpolitik und im Vergleich zu anderen Möglichkeiten der EUNachbarstaaten sollte man bei dem Thema Mehrgefahrenversicherung die Naturereignisse mit hoher Schadensintensität überprüfen. Auch bedarf die Übergangsvorschrift in § 12 einer genaueren Betrachtung hinsichtlich möglicher Rückwirkungen. Zu den Ausnahmen in dem Versicherungsteuergesetz sei angemerkt, dass die Klarstellung hinsichtlich der Einbeziehung der Beiträge zu sämtlichen Pflegeversicherungen in den Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 Nr. 5 Versicherungsteuergesetz zu begrüßen ist. Hiermit wird eine von der Praxis seit langem benötigte RechtsZu Protokoll gegebene Reden klarheit hergestellt, die auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten positiv zu bewerten ist. Die Resonanz auf den Gesetzentwurf ist gut, sowohl der Gesamtverband der Versicherer als auch der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßen in ihrer Stellungnahme die Gesetzesänderung. Die Bundesregierung bringt die Dinge voran, die Bundesregierung ist auf einem guten Weg.

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir behandeln heute in erster Lesung ein „Doppelgesetz“, also ein Gesetz, das aus zwei - ganz verschiedenen - Teilen besteht. Wir haben dort zunächst die Änderung der Versicherungsteuer im Blick. Was will das Bundesministerium der Finanzen mit dieser Änderung erreichen? Da heißt es in der Problembeschreibung des Gesetzentwurfs recht harmlos, in den letzten Jahren verstärke sich in der Versicherungswirtschaft der Trend zum strukturellen sowie produktbezogenen Wandel mit jeweils negativen Folgen für das Versicherungsteueraufkommen. - Und dieser Erosion will die Bundesregierung entgegenwirken. Dies wird im Einzelnen genau zu überprüfen sein. Unter anderem werden wir uns dabei mit der Frage der Versicherungspakete auseinandersetzen müssen. Hierzu gibt es bereits weitreichende Kritik aus der Versicherungswirtschaft, die wir ernst nehmen und mit der wir uns in einer Anhörung auch auseinandersetzen werden. Zur Beseitigung der bisherigen Streitanfälligkeit der Besteuerung von Versicherungspaketen sollen Abweichungen von der Regelbesteuerung nur dann Anwendung finden, wenn rechtlich selbstständige Verträge in diesen Paketen zusammengefasst werden. Dort, wo dies nicht der Fall ist, soll die Steuerfreiheit auch für einen eigentlich steuerfreien Teil, wie etwa eine Krankenversicherung, entfallen. Man wird damit rechnen müssen, dass eine solche Änderung in der Praxis zur Folge hat, dass solche Pakete entweder teurer werden oder nicht mehr angeboten werden. Es muss dann nur klar sein, dass dies auch politisch gewollt ist. Welche tatsächlichen monetären Folgen die Änderung hat und wie die Versicherungskonzerne auf die Änderung reagieren werden, dies muss zunächst festgestellt werden, bevor der Vorschlag endgültig bewertet werden kann. Hingegen ist die politische Bewertung des zweiten Teils des Gesetzentwurfes deutlich einfacher. Die Regierung möchte den Förderzeitraum für reine Elektropersonenkraftwagen von fünf auf zukünftig zehn Jahre erhöhen. Zuzüglich soll die Förderung auch auf andere reine Elektrofahrzeuge ausgedehnt werden. Und diese Steuerbefreiung soll nun dazu führen, dass wir die Energiewende schaffen? Diese Steuerbefreiung soll die Benzinautos von der Straße verdrängen und durch Elektroautos ersetzen? Diese Steuerbefreiung soll dafür sorgen, dass deutsche Hersteller wirtschaftlich gefördert werden? Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, da sollten Sie Ihre Regierung aber noch ein bisschen motivieren! Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Sachverständigen auch zu diesem Teil sicher einiges zu sagen haben werden. Dies werden wir mit Freude abwarten, um dann entsprechend zu handeln.

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes werden wir Änderungen des Versicherung- und des Kraftfahrzeugsteuerrechts vornehmen. In der Versicherungswirtschaft hat sich in den letzten Jahren der Trend zum strukturellen sowie produktbezogenen Wandel verstärkt. Die Konsequenzen waren negative Folgen für das Steueraufkommen. Die Bundesregierung hat sich jetzt entschlossen, dem aus fiskalischer Sicht entgegenzuwirken. Aufgrund entsprechender Forderungen des Bundesrechnungshofs wurde die Rechtsund Fachaufsicht seit 2001 intensiviert. Dazu haben die Erfahrungen mit der bundeseigenen Verwaltung der Versicherungsteuer gezeigt, dass das Versicherungsteuergesetz ergänzt und präzisiert werden muss, um den Vollzug, die Rechtsanwendung bzw. die Erfüllung von Informationspflichten insgesamt zu erleichtern. Die Bundesregierung will mit der Neuregelung des Versicherungsteuergesetzes unter anderem bei Kfz-Haftpflichtversicherungen von der Regelung eines fiktiven Versicherungsentgelts absehen. Stattdessen werden die im Schadenfall verwirklichten Selbstbehalte als Versicherungsentgelt erfasst. Im Wesentlichen soll das vorliegende Gesetz das Versicherungssteueraufkommen sichern und mehr Rechtssicherheit schaffen. Dies liegt im Interesse aller Beteiligten, insbesondere im Interesse der Steuerentrichtungspflichtigen, die die Steuer für Rechnung des Steuerschuldners abzuführen haben und im Fall einer nachträglichen Beanstandung oftmals vor dem Problem stehen, die Steuerschuldner nicht nachbelasten zu können. Des Weiteren soll mit der Gesetzesnovelle eine Vielzahl von Problemen, die in der Praxis aufgetreten sind, beseitigt und mehr Rechtssicherheit schaffen werden. Ein weiterer wichtiger Punkt dieses Gesetzesvorhabens ist die Förderung der Elektromobilität. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, Deutschland zum Leitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität zu entwickeln. Dazu hat sie am 18. Mai 2011 das „Regierungsprogramm Elektromobilität“ verabschiedet. Als Baustein dieses Regierungsprogramms sollen mit diesem Gesetz die finanziellen Anreize zur Anschaffung eines umweltfreundlichen, aber bisher noch teuren Elektrofahrzeugs erhöht werden. Dazu soll die derzeit auf Personenkraftwagen mit reinem Elektroantrieb beschränkte fünfjährige Kraftfahrzeugsteuerbefreiung auf insgesamt zehn Jahre und alle Fahrzeugarten ausgedehnt werden, sofern diese rein elektrisch angetrieben werden, das heißt gespeist aus mechanischen oder elektrochemischen Energiespeichern. Zu Protokoll gegebene Reden Mit diesen Neuregelungen sind alle Fahrzeuge begünstigt, die vom 18. Mai 2011 bis zum 31. Dezember 2015 erstmals zum Verkehr zugelassen werden. Fahrzeuge, die im Folgezeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Dezember 2020 erstmals zugelassen werden, erhalten wieder eine Steuerbefreiung über fünf Jahre. Darüber hinaus soll mit dem Gesetz zukünftig die Feststellung der kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Fahrzeugklassen und Aufbauarten zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage vereinfacht werden. Für verschiedene Gruppen von Fahrzeugen sah das Kraftfahrzeugsteuerrecht bisher unterschiedliche Tarife vor. Die Anwendung der mitunter rein kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Abgrenzungskriterien bei der Zuordnung des Fahrzeugs führt regelmäßig zu Schwierigkeiten, da sie von verkehrsrechtlichen Fahrzeugklassifizierungen abweicht. Zudem ist sie mit erhöhtem Erfüllungsaufwand verbunden, denn Fahrzeuge müssen gegebenenfalls zur Feststellung der steuerlichen Bemessungsgrundlage bei der für die Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer zuständigen Behörde vor Ort vorgeführt und vermessen werden. Die Praxis zeigte aber, dass das Abweichen der steuerrechtlichen von der verkehrsrechtlichen Einstufung von Fahrzeugen für die betroffenen Steuerpflichtigen oft nicht nachvollziehbar war. Zukünftig soll die verkehrsrechtliche Klassifizierung der Fahrzeuge für kraftfahrzeugsteuerliche Zwecke grundsätzlich übernommen werden. Zudem soll dieses Gesetz eine erhebliche Erleichterung für die Versicherer bringen, da diese ihre Steuerdaten demnächst in elektronischer Form an die Finanzbehörden übermitteln können. Mit diesem Gesetz wird das Rad nicht neu erfunden. Es aktualisiert aber das Versicherungsteuergesetz und passt es den heutigen Gegebenheiten an. Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz das Versicherungsteueraufkommen stabilisieren und für größere Rechtssicherheit sorgen. Zudem soll mit der Steuerbefreiung für Elektromobile die Förderung der Elektromobilität erweitert und die Steuerbefreiung für reine Elektro-Pkw von fünf auf zehn Jahre verlängert werden. Ob der Markt der Elektro-Pkw damit einen neuen Impuls bekommt und dieses Gesetz ein Zeichen des Bürokratieabbaus und der angestrebten Steuervereinfachung ist, werden wir im weiteren parlamentarischen Prozess genau prüfen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen zwei Bereiche geregelt werden, zum einen das Versicherungsteuergesetz, zum anderen das Kraftfahrzeugsteuergesetz. Während bei ersterem lediglich Anpassungen - Präzisierungen und Ergänzungen - nötig sind, um dem Trend in der Versicherungsbranche sowie Forderungen des Bundesrechnungshofes gerecht zu werden, findet sich der eigentlich interessantere Part im zweiten Teil, und zwar in den vorgeschlagenen Änderungen des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Und hier liegt der Hase im Pfeffer, wie es so schön heißt. Hier will die Bundesregierung nämlich die bereits bestehende Begünstigung für Elektropersonenkraftwagen ausdehnen. Konkret soll der Förderzeitraum auf zehn Jahre verdoppelt werden. Die Steuerbefreiung soll für Fahrzeuge gewährt werden, die in der Zeit vom 18. Mai 2011 bis 31. Dezember 2015 erstmals zugelassen werden. Nach 2015 soll die Steuerbefreiung für reine E-Fahrzeuge für fünf Jahre fortgeführt werden - bei erstmaliger Zulassung vom 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2020. Die Förderung soll nicht mehr nur auf reine ElektroPkw beschränkt, sondern auf andere reine E-Fahrzeuge erweitert werden. Grundlage für diese Maßnahme ist das Regierungsprogramm „Elektromobilität“ vom 18. Mai 2011. Betrachten wir die derzeitige Lage bei E-Autos, müssen wir feststellen, dass heutzutage in Deutschland gerade einmal 4 000 dieser Fahrzeuge fahren. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden erst 1 478 E-Fahrzeuge zugelassen, darunter 681 von Privatleuten. Und wenn man die Subventionen für den Bereich E-Autos betrachtet, wird einem schwindelig. So wurden laut Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage drei elektrische Fahrzeuge der Firma Porsche mit 2,8 Millionen Euro gefördert. Das zeigt uns doch nur eins: Elektrofahrzeuge können nur ein Nischenprodukt sein, sie werden aber nicht die verkehrs- und klimapolitischen Herausforderungen der Zukunft lösen. Und auch die wenigen deutschen Hybridfahrzeuge erfüllen nicht die Erwartungen in Sachen Verbrauchsreduktion; außerdem sind sie alle im Luxussegment angesiedelt und daher für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht erschwinglich. Doch die Bundesregierung spricht immer noch von einem Erfolg und schwärmt von der Marktführerschaft Deutschlands im Bereich E-Autos. Kritik, wie zum Beispiel vom Direktor des Center Automotive Research, CAR, der Universität Duisburg, Ferdinand Dudenhöffer, der sagt, man könne froh sein, bis 2020 rund 10 Prozent, also 100 000 E-Fahrzeuge, des Zieles von 1 Million Elektrofahrzeuge zu erreichen, scheint an der Bundesregierung vorbeizugehen. Dass im Jahr 2030 dann 6 Millionen Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein sollen, erscheint aus heutiger Sicht mehr als unrealistisch. Wir konstatieren: Der Bereich E-Autos ist wichtig im Rahmen der Energie- und Verkehrswende, aber er ist nur ein Nischenbereich oder besser gesagt ein Baustein unter vielen, um die Energiewende zu meistern. Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass sie Subventionsforderungen aus der Industrie widerstehen kann bzw. diese im Vorfeld hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Analyse besser untersucht. Auch fordere ich die Bundesregierung auf, die sozialverträgliche Senkung des Klimagas- und Schadstoffaustausches des Individualverkehrs und damit eine größere Unabhängigkeit vom Erdöl in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken. Notwendig bei der Verkehrs- und Energiewende ist - das zeigt die Erfahrung - die Berücksichtigung des gesamten Verkehrssystems inklusive des öffentlichen Personennahverkehrs sowie der verschiedenen Technologiepfade. Denn es ist der falsche Weg, die Zu Protokoll gegebene Reden Fahrzeugindustrie mit Milliarden zu fördern und zeitgleich gegen eine Verschärfung der Grenzwerte für CO2 und Feinstaub im Abgas vorzugehen. Deutsche Autos sind nach wie vor die größten Klimasünder und Spritsäufer in Europa. Wir brauchen endlich ein Umdenken in der Industrie. Die Geschichte des Katalysators und des Rußfilters, deren Einführung hierzulande gesetzlich erzwungen werden mussten, zeigen: Klare rechtliche Vorgaben sind die besten Innovationstreiber. Also werte Bundesregierung, unterstützen Sie die EU-Kommission bei scharfen Grenzwerten! Wir halten eine strikte CO2-Obergrenze bei Neufahrzeugen von 95 Gramm bis 2020 für vernünftig und auch realistisch. Auch brauchen wir dringend eine stärkere Erforschung und Förderung der Verkehrswende. Nicht nur andere Autos, sondern vor allem der Umstieg auf umweltfreundlichere öffentliche Verkehrsträger muss Gegenstand der Förderung sein. Sie müssen eine deutlich stärkere Rolle bekommen. Wir setzen uns für eine klimapolitisch motivierte Änderung der Kfz-Steuer ein. Dabei ist eine vollständige Umstellung der Kfz-Steuer auf den CO2-Austoß, flankiert durch Zu- und Abschläge entsprechend der Emissionsklassen, notwendig. Nur so wird uns die Energiewende insgesamt gelingen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2020 1 Million Elektroautos auf die Straße zu bringen. Dieses Ziel ist richtig und muss beherzt angegangen werden. Leider muss man aber befürchten, dass die Bundesregierung dieses Ziel so schnell wieder aufgegeben hat, wie es formuliert wurde. Vor über einem Jahr hat die Bundesregierung stolz und mit großem Getöse das Regierungsprogramm Elektromobilität vorgelegt und darin auch konkrete Schritte skizziert, um die Zukunftstechnologie in Deutschland weiter zu fördern. So wurde angekündigt, die Kfz-Steuer nicht nur für reine Elektro-Pkw zu erlassen, sondern auch Hybride und leichte Nutzfahrzeuge steuerlich zu begünstigen. Mehr als ein Jahr hat die Regierung nun gebraucht, um diesen recht simplen Schritt nun auch zu gehen, und doch ist es nur ein halber Schritt geworden. Faktisch soll nur die bestehende Steuervergünstigung für reine Elektromobile von fünf auf zehn Jahre verlängert werden. Dazu kommen nun auch leichte Pkw, also etwa dreirädrige Fahrzeuge, und auch leichte Nutzfahrzeuge mit reinem Elektroantrieb in den Genuss der KfzSteuerbefreiung. Das ist zu begrüßen, tröstet jedoch nicht darüber hinweg, dass die Regierung ihre zentrale Ankündigung nicht umsetzt. Denn klipp und klar stand im Regierungsprogramm geschrieben: In Zukunft sollen alle bis zum 31.12.2015 erstmals zugelassenen Pkw, Nutzfahrzeuge und Leichtfahrzeuge, die … technologieneutral einen kombinierten CO2-Typprüfwert unter 50 g/km nachweisen ({0}), für einen verlän- gerten Zeitraum von zehn Jahren von der Steuer befreit werden. Genau diese Ankündigung wird aber nun komplett ignoriert. Die Steuerbefreiung gilt weiterhin nur für reine Elektrofahrzeuge. Das ist fatal, denn Plug-In-Hybride bieten die Mög- lichkeit, rasch CO2-Emissionen zu senken und erneuer- baren Strom in den Straßenverkehr einzuführen. Sie sind im besonderen Maße für ländliche Räume geeignet, um etwa rein elektrisch bis zum nächsten Bahnhalt zu fahren und die Fahrzeuge dann auf einem Park-and-ride-Park- platz wieder aufzuladen. Diese Fahrzeugkategorie, die es ermöglicht, 90 Prozent aller Fahrten elektrisch zu fahren, ohne ein Reichweitenproblem wie reine Elektro- autos zu haben, darf in der Förderstrategie der Bundes- regierung nicht fehlen. Warum die Bundesregierung hinter ihren Ankündi- gungen zurückbleibt, ist nicht klar. Wir werden uns auf jeden Fall dafür einsetzen, dass die Regierung ihre An- kündigung doch noch erfüllt. Denn wenn die Regierung bei dieser Gesetzesänderung bleibt, kommen wir dem Ziel, Deutschland zum Leitanbieter und Leitmarkt für klimafreundliche und zukunftsträchtige Elektromobilität zu entwickeln, nicht sehr viel weiter, und das, obwohl im Prinzip allen klar ist, dass der Verkehr auf der Basis er- neuerbarer Energien neu organisiert werden muss. Nur wer mit umweltverträglichen Autos auf dem internatio- nalen Markt präsent ist, hat wirtschaftlich eine Zukunft und bleibt wettbewerbsfähig. Mit der Änderung des Versicherungsteuergesetzes nehmen Sie sich auf ungewöhnliche Weise einer elitären Klientel an: den Großkunden mit eigener Fahrzeug- flotte. Sie argumentieren, „dem Trend zum strukturellen sowie produktbezogenen Wandel mit jeweils negativen Folgen für das Versicherungsaufkommen … aus fiskali- scher Sicht“ entgegenwirken zu wollen: ein Ziel, das diese Bundesregierung selbst nicht so ganz zu überzeu- gen vermag. Immerhin streben Sie zum Beispiel bei der kalten Progression weiterhin Steuerausfälle in der Grö- ßenordnung von 6 Milliarden Euro an. Im vorliegenden Gesetzentwurf bedienen Sie sich aus der steuerlichen Trickkiste. Sie ziehen verwirklichte Selbstbehalte in die steuerliche Bemessungsgrundlage. Dass der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung Selbstbehalte nicht zum Versicherungsentgelt rechnet, scheint Ihnen entgangen zu sein. Sie werden in den Beratungen Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/10039 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe denTagesordnungspunkt 40 a bis c auf: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Vizepräsidentin Petra Pau Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels - Drucksache 17/7316, 17/7368 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 17/10165 Berichterstattung: Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker Marlene Rupprecht ({1}) Nicole Bracht-Bendt Jörn Wunderlich Monika Lazar b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl, Marlene Rupprecht ({3}), Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels korrekt ratifizieren - Deutsches Recht wirksam anpassen - Drucksachen 17/8156, 17/10165 Berichterstattung: Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker Marlene Rupprecht ({4}) Nicole Bracht-Bendt Jörn Wunderlich Monika Lazar c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz erweitern - Drucksachen 17/3747, 17/9195 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Angelika Graf ({6}) Annette Groth Volker Beck ({7}) Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zum Übereinkommen des Europarates vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels tritt Deutschland nun endlich dem Übereinkommen bei. Deutschland hat sich als wichtiger Mitgliedstaat des Europarates aktiv für das Zustandekommen der Konvention eingesetzt und hat schon sehr früh das Übereinkommen gezeichnet. Mit dem Beitritt signalisieren wir ausdrücklich die Notwendigkeit einer umfassenden völkerrechtlichen Übereinkunft, Menschenhandel in all seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen und alles daranzusetzen, ihm langfristig die Grundlage zu entziehen. Im Hauptfokus des Übereinkommens stehen erstmalig der Schutz und die Unterstützung der Opfer dieses schweren Verbrechens gegen die Menschenwürde. Menschenhandel in all seinen Formen ist eines der schwersten Verbrechen. Jährlich sind etwa 2,5 Millionen Menschen betroffen, sie werden ausgebeutet und wie Ware behandelt. Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung - eine wesentliche Form des Menschenhandels - betrifft überwiegend Frauen und Mädchen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Wir wissen, dass mitten in unserem Land skrupellose Menschenhändler mit der Ware Mensch ihr Geld machen. Erst gestern hat uns eine Meldung aus den USA aufgeschreckt: Dort konnten in den letzten Tagen 100 Zuhälter in einer groß angelegten Aktion des FBI aufgespürt und 79 Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren befreit werden; insgesamt konnten seit 2003 über 220 Kinder gerettet werden. Das zeigt, wie sehr dieses furchtbare Verbrechen selbst in zivilisierten Gesellschaften verbreitet ist. Dieses Verbrechen müssen wir bekämpfen, und dazu gibt uns die Europaratskonvention in ihrem gesamten Geltungsbereich, der sowohl Herkunftsals auch Zielländer des Menschenhandels - umfasst, ein wichtiges Instrumentarium an die Hand. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme ausgeführt, dass unsere Gesetze und Maßnahmen den Anforderungen der Konvention bereits genügen und wir ohne weitere Gesetzesänderungen die Ratifizierung beschließen können. Auch der Bundesrat hat sich über die Parteigrenzen hinweg dieser Auffassung einstimmig angeschlossen. Vonseiten der Länder besteht also kein Wunsch nach weiteren gesetzlichen Änderungen. Wir haben uns der Auffassung angeschlossen, dass es keinen zwingenden gesetzlichen Handlungsbedarf gibt und dass einem zügigen Beitritt Deutschland nichts im Weg steht. Inzwischen sind 36 von 47 Mitgliedstaaten des Europarates dem Übereinkommen beigetreten, wir sollten unserem Ansehen nicht schaden, indem wir unseren Beitritt weiter hinauszögern. Der Beitritt zur Konvention hat für Opfer von Menschenhandel in Deutschland auch ohne weitere gesetzliche Änderung ihren Wert. Zur Kontrolle der Umsetzung hat die Konvention einen effektiven und unabhängigen Mechanismus eingesetzt, dem sich Deutschland in Zukunft ebenfalls stellen muss. Er beinhaltet zum einen eine unabhängige Expertengruppe, GRETA - Group of Experts on Trafficking in Human Beings, die einen periodischen Bericht über die Vertragsparteien vorlegt, zum anderen einen Ausschuss der Vertragsparteien, der aufgrundlage des Berichts und der Äußerung der betroffenen Vertragspartei Empfehlungen aussprechen kann. Dem Anliegen des SPD-Antrags, die Arbeit der Expertengruppe GRETA für die Kontrolle der Umsetzung des Übereinkommens und die fortlaufende Evaluierung der getroffenen Maßnahmen der Vertragsstaaten intensiv zu nutzen, kann auch nur dann entsprochen werden, wenn Deutschland schnell die Ratifizierung abschließt und damit dem GRETA-Mechanismus unterliegt. Trotzdem plädiere ich dafür, dass wir die Vorschläge und Forderungen der Sachverständigen, die in der Anhörung aus ihren Erfahrungen aus der Praxis berichtet haben, auf der Tagesordnung stehenlassen. Die anstehende Umsetzung der EU-Richtlinie zum Menschenhandel bietet dazu den passenden Anlass. Dabei erscheinen mir zwei Punkte besonders wichtig: Zum einen geht es um das Aufenthaltsrecht der Opfer aus Drittstaaten. Uns geht es ja neben dem Schutz der Opfer darum, die Geschäftsmodelle der Täter zu durchkreuzen, ihnen das Handwerk zu legen. Wir wollen, dass die Frauen aussagen. Dazu brauchen sie die nötige Zeit, sich von ihrem Trauma zu erholen, sich zu stabilisieren und Vertrauen zu fassen. In dem Zusammenhang begrüße ich auch die kürzlich zur Anpassung des EU-Visakodexes aufgenommene Verlängerung der Bedenk- und Stabilisierungsfrist von einem auf drei Monate, womit die Ausreisefrist im Interesse der Opfer von Menschenhandel und illegaler Beschäftigung verlängert wurde. Dies bedeutet schon mal eine erhebliche Verbesserung für die Opfer von Menschenhandel in einer sensiblen Phase, und es entlastet sie in ihrem meist traumatisierten Zustand durch Entschärfung des Zeitdrucks. Ich halte ein Aufenthaltsrecht nach dem italienischen Vorbild für durchaus überlegenswert. Das italienische Modell wurde im Übrigen auch von den meisten Sachverständigen in der Anhörung am 19. März befürwortet. Maßgeblich bei diesem Modell ist, dass die Frauen nicht zwingend als Zeuginnen gegen die Täter aussagen müssen. Sie können ohne Druck zur Ruhe kommen und in garantierter Sicherheit überlegen, ob sie eine gerichtliche Aussage machen wollen oder nicht. Aus der Praxis ist bekannt, dass sich in der Regel durch eine Bedenkzeit die Aussagebereitschaft und Aussagefähigkeit von traumatisierten Frauen erhöht. Im Übrigen könnten Strafverteidiger der Täter in Deutschland nicht mehr behaupten, die Betroffene würde nur aussagen, um sich einen Aufenthaltstitel zu erschleichen Diese, die Glaubwürdigkeit der Opfer sehr belastende Strategie der Verteidiger wäre nicht mehr tragfähig, wenn alle Opfer von Menschenhandel - unabhängig von ihrer Aussage - einen Aufenthaltstitel erhalten. Die zeitliche Entkoppelung von Aussage und Aufenthaltstitel hat in diesem Zusammenhang zum Ziel, dass deutlich mehr Opfer glaubwürdige Aussagen machen und es zu deutlich mehr Verurteilungen kommen würde. Dies war auch einhellige Meinung der Sachverständigen in der Anhörung. Die EU hat das Modell ausgewertet, ein von vielen befürchteter Missbrauch konnte nicht festgestellt werden. In Italien wurde das Kontingent von einigen Tausend Betroffenen pro Jahr bei weitem nicht ausgeschöpft. Bei uns würde es sich, da die Opfergruppen aus den Ost-EU-Ländern ohnehin Freizügigkeit genießen, lediglich um eine überschaubare Zahl, vor allem aus Afrika und hier insbesondere Nigeria handeln. Laut BKA-Lagebericht 2010 waren von 610 ermittelten Opfern des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung 62 aus Afrika, davon 46 aus Nigeria. Alle anderen kamen fast ausschließlich aus den osteuropäischen Ländern. Gerade an die Frauen aus Nigeria - so Solwodi und Vertreter von Beratungsstellen - ist sehr schwer heranzukommen. Sie fühlen sich oftmals mit einem Voodoo-Zauber aus ihrer Heimat belegt, sind voller Angst, und es erfordert große Sensibilität und viel Zeit, bis überhaupt ein Zugang zu ihnen gefunden werden kann und sie eine Aussage machen. Schiebt man sie in ihre Heimat ab, beginnt für sie der Teufelskreis von vorn; denn sie haben noch nicht das Geld eingebracht, was sie ihren Händlern einbringen sollten, und die Schulden für die Reise in den Westen sind auch noch nicht bezahlt. So bleiben sie oftmals in den Fängen der Menschenhändler. Zum anderen müssen wir den Zusammenhang mit dem Prostitutionsgesetz in den Blick nehmen. Laut Lagebericht des BKA haben sich die Herkunftsländer von Tätern und Opfern sowie die Ausbeutungsmechanismen stark verändert. Die EU-Osterweiterung in Zusammenhang mit dem Prostitutionsgesetz von 2001 hat - so haben es uns auch Schwester Lea Ackermann von Solwodi und Heidi Rall vom BKA eindringlich geschildert - zu einer Verschlechterung der Situation von Zwangsprostituierten gekommen. Über die Hälfte der Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung stammten 2010 aus den osteuropäischen Staaten, vor allem aus Rumänien und Bulgarien. Meist stammen sie aus ethnischen Minderheiten, haben eine sehr schlechte Bildung und meist bereits eine hohe Gewalterfahrung. Die meisten sind unter 21 Jahre alt, viele geben an, mit der Prostitution einverstanden zu sein. Erfahrungsgemäß werden sie von den Tätern aber über die tatsächlichen Umstände getäuscht und gezielt in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht. Die Frauen arbeiten unter besonders entwürdigenden und gesundheitsgefährdenden Bedingungen, sie haben kaum eine Chance, diesen sklavenähnlichen Zuständen zu entkommen. Da insbesondere die Kontrollmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden stark eingeschränkt sind, werden immer weniger Fälle aufgedeckt. Die Täter können unbehelligt weitermachen, die Opfer haben keine Chance, zu entkommen. Besonders besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang das vermehrte Auftreten besonders extremer Erscheinungsformen und Auswüchse in der Prostitution wie zum Beispiel FlatrateBordelle und Gang-Bang-Veranstaltungen. Gegen diese zunehmende Brutalisierung im Prostitutionsgewerbe und gegen die Zustände, die die Ausbeutung von Frauen so leicht machen, müssen wir als Gesetzgeber unbedingt etwas tun. Schon 2007 kam die Bundesregierung in ihrem Bericht zu den Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes zu dem Ergebnis, dass es mehr rechtliche Instrumentarien zur Kontrolle und Vorbeugung krimineller Begleiterscheinungen geben müsse. Mit einem Beschluss des Bundesrates und einem Beschluss der Innenministerkonferenz vom November 2010 liegen auch von einer breiten Mehrheit der Länder getragene Aufforderungen nach besseren und effektiveren rechtlichen Instrumentarien, insbesondere des Gaststätten-, des Gewerbe-, Polizei- und Ordnungsrechts zum Zu Protokoll gegebene Reden Schutz der dort tätigen Personen vor. Vor allem die Erlaubnispflicht für Bordelle, die Überprüfung der Betreiber, eine verpflichtende Registrierung und Gesundheitsuntersuchung für die Prostituierten, die ihnen ein vertrauliches Gespräch mit einem Arzt ermöglicht, halte ich für unverzichtbar. Auch die sogenannte Freierbestrafung muss diskutiert werden. Zudem müssen wir dafür sorgen, dass es flächendeckend bessere Ausstiegsangebote für Prostituierte gibt. Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte zu den guten Unterstützerstrukturen in Deutschland sagen: Wir haben im Bereich des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gute langjährig aufgebaute Unterstützungsangebote und Vernetzungs- und Koordinierungsstrukturen auf kommunaler sowie auf Landes- und Bundesebene. Die 49 Fachberatungsstellen in den 16 Ländern sind alle Mitglied im KOK, bundesweit tätiger Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt gegen Frauen im Migrationskreis. Sie sind ein wichtiges Mitglied in der Bund-Länder-AG Frauenhandel, die ein zentrales Steuerungs- und Koordinierungselement auf Bundesebene ist. Ich möchte diese Arbeit, bei der auch die vielen Nichtregierungsorganisationen zusammenwirken, ausdrücklich loben. Sie alle zusammen leisten großartige Arbeit, und ich hoffe, dass sie jetzt mit der Umsetzung der Konvention noch weiter und spezialisierter ausgebaut werden kann und dass auch insbesondere die Finanzierung des KOK durch das BMFSFJ fortbestehen wird.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist eine erschütternde Wahrheit, dass es auch heute noch Menschenhandel in Europa gibt. Der Handel mit der „Ware Mensch“ gilt nach Drogen- und Waffenhandel als die drittgrößte Einnahmequelle der organisierten Kriminalität. Der Jahresumsatz des weltweiten Menschenhandels wird auf 30 Milliarden Dollar geschätzt. Das US-Außenministerium hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass weltweit 27 Millionen Menschen unter sklavenartigen Verhältnissen leben müssen. Deutschland gehört laut diesem US-Bericht zu den 33 Ländern auf der Welt, welche die Standards der USA zum Schutz von Opfern des Menschenhandels erfüllen. Trotzdem gilt Deutschland als Herkunfts-, Transit- und Zielland des internationalen Menschenhandels. Verlässliche Zahlen über das wahre Ausmaß des Menschenhandels gibt es kaum. Das BKA hat im Jahr 2010 zwar „nur“ 610 Menschen in Deutschland als Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung identifiziert und konnte auch nur 470 Ermittlungsverfahren in diesem Bereich abschließen. Europol geht aber davon aus, dass in Europa mehrere Hunderttausend Opfer von Menschenhandel, also moderne Sklaven leben. Die Vereinten Nationen schätzen, dass es allein in deutschen Bordellen rund 200 000 Zwangsprostituierte gibt. Viele dieser Frauen könnten Opfer von Menschenhändlern sein. Die meisten Opfer werden nach ihrer Verschleppung sexuell ausgebeutet. Viele werden auch zur Zwangsarbeit missbraucht. Daneben gelten Zwangsverheiratung, Betteltätigkeiten und Organhandel als Motive für den Menschenhandel. Die Vereinten Nationen erschufen im Jahr 2000 mit dem sogenannten „Palermo-Protokoll“ das erste völkerrechtliche Übereinkommen, das explizit auf den Kampf gegen Menschenhandel abzielt. Das „Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels“ vom 16. Mai 2005, das wir heute in Deutschland ratifizieren, ergänzt dieses Übereinkommen und entwickelt es auf europäischer Ebene weiter. Mit seinem umfassenden Ansatz geht das Übereinkommen weiter als alle existierenden völkerrechtlich bindenden Instrumente in diesem Bereich. Damit können Frauen, Kinder und auch Männer in Europa besser vor Gewalt, Verschleppung und Ausbeutung geschützt werden. Angesichts der menschenverachtenden Verbrechen, die im Rahmen des Menschenhandels geschehen, besteht parteiübergreifende Einigkeit darüber, dass die Ratifizierung dieses Übereinkommens ein absolut notwendiger und richtiger Schritt ist. Eine weitere Frage ist nun, ob durch die Ratifizierung dieses Übereinkommens für Deutschland rechtspolitischer Handlungsbedarf entsteht. Der Bundesrat hat die Ratifizierung des Übereinkommens als ein starkes Signal gegen den Menschenhandel begrüßt. In der Stellungnahme vom 23. September 2011 haben die Bundesländer allerdings darauf hingewiesen, dass die gesetzgeberischen Pflichten, die aus dem Übereinkommen des Europarates erwachsen, in Deutschland bereits durch unser geltendes nationales Recht abgedeckt werden. Ursache dafür sind ein Beschluss der EU vom Juli 2002 und eine EU-Richtlinie vom April 2004. Diese wurden in Deutschland bereits in nationales Recht umgesetzt. Auf der Ebene der 27 EU-Staaten wurden bereits die meisten Vorgaben erfüllt, die das Übereinkommen des Europarates auf Ebene der 47 Mitgliedstaaten des Europarates einfordert. Daher sind sowohl der Bundesrat als auch die Bundesregierung der Auffassung, dass die Vorgaben des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels in Deutschland bereits erfüllt sind. Die Bundesregierung prüft zurzeit aber noch, inwieweit die neue EU-Richtlinie vom April 2011, die ebenfalls dem Kampf gegen den Menschenhandel dient, Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber auslöst. Spätestens nach der Umsetzung dieser Richtlinie wird Deutschland alle Vorgaben des Übereinkommens des Europarates erfüllen. Zunächst sollte man die juristische Überprüfung der neuen Richtlinie von 2011 abwarten, bevor man vorschnell Rechtsanpassungen fordert, wie das die SPD mit ihrem Antrag tut. Die Tatsache, dass die SPD auf eine Aussprache zu ihrem Antrag verzichtet hat, lässt vermuten, dass man sich auch in der SPD bewusst ist, dass solche schwammigen Forderungen schnell als Effekthascherei durschaut werden. Über den Kern des Problems sind wir uns in Deutschland und Europa einig. Der Menschenhandel muss mit Zu Protokoll gegebene Reden allen Mitteln bekämpft werden. Die Bundesregierung hat hier zuletzt mit der Einführung des bundesweiten Hilfetelefons für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, einen wichtigen Beitrag geleistet. Ab 2013 können alle Opfer von Gewalt unter einer speziellen Telefonnummer anonym und in ihrer Muttersprache Hilfe und Rat erhalten. Auch Zeugen können sich hier anonym melden. Vor allem richtet sich das Angebot an Frauen, die dann an die Behörden oder Einrichtungen in ihrer Umgebung weitergeleitet werden und dort Schutz finden. Dennoch gibt es auch im deutschen Rechtssystem einige Punkte, die angepasst werden müssen. So haben wir in Deutschland dank Rot-Grün seit 2002 eines der liberalsten Prostitutionsgesetze der Welt. Dadurch ist ein großer und weitgehend legaler Markt für Prostitution entstanden, der den Menschenhändlern ideale Bedingungen bietet. Eine Studie der Universität Göttingen hat nun empirisch nachgewiesen, dass diese rot-grüne Liberalisierung der Prostitution in Deutschland einen massiven Zuwachs des Menschhandels verursacht hat. Das Ziel der früheren rot-grünen Bundesregierung, die Schaffung verlässlicher Arbeitsbedingungen für Prostituierte, wurde völlig verfehlt. Nicht einmal 1 Prozent der Prostituierten hat heute einen Arbeitsvertrag, geschweige denn eine Krankenversicherung. Stattdessen ist bei uns heute die Prostitution 60-mal höher als in Schweden, wo die Prostitution verboten ist. Gleichzeitig verzeichnet Deutschland 62-mal so viele Opfer von Menschenhandel wie Schweden. Um den Menschenhandel besser bekämpfen zu können, hat das Land Bayern 2005 einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, mit dem neue Tatbestände gegen die sexuelle Ausbeutung von Opfern des Menschenhandels eingeführt werden sollten. Wie in Schweden sollten die Freier zumindest im Falle von Zwangsprostitution strafrechtlich verfolgt werden können. Der Strafrahmen für das Verbringen von Kindern in die Prostitution sollte von 2 auf 15 Jahre erhöht werden auch um eine Aussetzung der Strafe auf Bewährung zu verhindern. Schließlich sollte die Rechtslage, wie sie vor der Liberalisierung bestanden hat, wieder eingeführt werden. Auf diese Weise würden die Strafverfolgungsbehörden wieder bessere Ermittlungsansätze erhalten. Der Gesetzentwurf ist jedoch der Diskontinuität unterfallen. 2006 wurde er erneut eingebracht, hat dann im Bundesrat aber keine Mehrheit gefunden. Dennoch wurden in der Zwischenzeit einige Maßnahmen des bayerischen Gesetzentwurfs umgesetzt, so die Einführung einer Kronzeugenregelung und die Neufassung der Regelung zur Telekommunikationsüberwachung. Das rot-grüne Prostitutionsgesetz ist in der Praxis gescheitert. Anstatt den Frauen zu helfen, hat das Gesetz der Ausbeutung einen legalen Deckmantel verschafft. Deshalb muss die Fehlentscheidung so schnell als möglich korrigiert werden. So kann der Kampf gegen Menschenhandel und Sklaverei effektiver geführt werden.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich, dass Deutschland endlich das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifiziert. Erst kürzlich ist die deutsche Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom Ministerrat gerügt worden, weil Deutschland immer noch nicht ratifiziert hat. Die Ratifizierung noch vor der Sommerpause begrüße ich somit sehr, wenn wir als SPD-Fraktion auch noch Nachbesserungsbedarf im Zuge einer korrekten Umsetzung zum Wohl der Opfer sehen. Menschenhandel ist eine der schwersten Straftaten weltweit. Die Opfer, häufig Frauen und Kinder, erleiden schwerwiegende Verletzungen ihrer Menschenrechte. Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Jugendliche unter schlimmen Bedingungen beschäftigt und Kinder zum Betteln genötigt. Sie werden mit falschen Versprechungen in fremde Länder gelockt und gezielt ausgebeutet. Als Kinderbeauftragte bestürzt mich besonders das Ausmaß der Verletzung von Kinderrechten. Vielen jungen Menschen wird durch diese Verbrechen das ganze Leben zerstört. Hier wird mit der Ausbeutung von Menschen ein äußerst gewinnbringendes Geschäft im Bereich der organisierten Kriminalität betrieben. Zwangsprostitution, Zwangsarbeit und wirtschaftliche Ausbeutung finden grenzüberschreitend statt. Eine wirksame Bekämpfung kann also nur gelingen, wenn sie international abgestimmt ist. Insofern begrüße ich den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels, der die Ziele des Übereinkommens, nämlich die engere Zusammenarbeit aller Vertragsstaaten, strafrechtliche Verbesserungen sowie die Überwachung der Umsetzung, unterstützt. Der Entwurf geht aber nicht weit genug. Die SPDFraktion hat den Änderungsbedarf, wie er auch übereinstimmend von Fachleuten in Fachgesprächen benannt wurde, aufgezeigt. Leider werden diese wichtigen Punkte mit dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung jetzt noch nicht aufgegriffen. Wir hoffen, dass die Nachbesserungen bald kommen. So erfordert die Bekämpfung und Vermeidung von Menschenhandel einen ganzheitlichen und integrierten Ansatz. Neben den strafrechtlichen Regelungen benötigen wir weitergehende Maßnahmen der Prävention und des Opferschutzes. Alle Politikfelder müssen verzahnt und zivilgesellschaftliches Engagement muss einbezogen werden. Oft gelingt es nur Nichtregierungsorganisationen, einen vertrauensvollen Zugang zu den Opfern zu finden. Sensibilisierungs- und Informationskampagnen, Aufklärung und Weiterbildungen, die sich an potenzielle Opfer und alle beteiligten Berufsgruppen wenden, sind als präventive Maßnahmen unerlässlich und müssen verstärkt und gefördert werden. Nur unter Beteiligung aller Akteure sind Eindämmung und Prävention von Menschenhandel erfolgversprechend. Darüber hinaus muss mit der Ratifizierung die Anpassung des deutschen Rechts einhergehen. Das gelZu Protokoll gegebene Reden Marlene Rupprecht ({0}) tende Recht erfüllt nicht die verbindlichen Vorgaben des Übereinkommens. Dringender Handlungsbedarf besteht beim Aufenthaltsrecht. Der Aufenthaltstitel der Opfer darf nicht an die Bereitschaft geknüpft sein, als Zeuginnen und Zeugen in einem Strafverfahren gegen die Täter auszusagen. Es kann nicht verwundern, dass die Kooperationsbereitschaft der Opfer angesichts von Sorgen um ihre Existenz sowie der bevorstehenden Abschiebung nach dem Verfahren gering ist. Eine erfolgreiche Strafverfolgung gelingt nur mit einem umfassenden Opferschutz. Für Minderjährige brauchen wir speziell auf sie abgestimmte Schutz- und Betreuungsprogramme. Es muss Sorge dafür getragen werden, dass den Opfern Versorgungsleistungen in medizinischer, finanzieller und rechtlicher Hinsicht sowie Zugang zu Bildung und Arbeit und Übersetzungsdiensten gewährt werden. Das Übereinkommen sieht vor, dass bereits die Intention der Tat für eine Strafverfolgung ausreicht. Die Einwilligung des Opfers in die Abhängigkeitsbeziehung zu den Täterinnen und Tätern muss unerheblich sein. Auch hier muss das deutsche Recht angepasst werden. Zudem brauchen wir ein Zeugnisverweigerungsrecht für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Fachberatungsstellen, die Opfer von Menschenhandel unterstützen. Für die Überwachung der Umsetzung des Übereinkommens ist die Expertengruppe des Europarats, GRETA, zuständig. Die Vertragsstaaten sollten nationale Beauftragte benennen, die gegenüber GRETA einer fortlaufenden jährlichen Berichtspflicht unterliegen. In Deutschland muss das nationale Monitoring noch etabliert werden. Es wäre gut, wenn eine bestimmte Person im federführenden Ressort als Ansprechpartner zur Verfügung stünde. Die Ratifizierung des Übereinkommens des Europarates ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bekämpfung des Menschenhandels. Nun müssen wir diesen Weg weiter gehen und alle weiteren beschriebenen notwendigen Maßnahmen ergreifen, um Menschenhandel zu verhindern und zu bekämpfen und die Opfer zu schützen.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Menschenhandel ist eine der schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen weltweit. Erniedrigungen, Bedrohungen, sexuelle Ausbeutung und Misshandlungen sind dabei an der Tagesordnung. Der Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels ist das erste völkerrechtliche Übereinkommen, das einen Schwerpunkt auf den Schutz der Opfer und die Wahrung ihrer Menschenrechte legt. Das Übereinkommen setzt hier neue Maßstäbe im Bereich des Opferschutzes. So wurde der Grundsatz der Nichtabschiebung bei Verdacht von Menschenhandel etabliert, eine Erholungsund Bedenkzeit der Opfer von mindestens 30 Tagen eingeführt, die Gewährung von Aufenthaltstiteln für Opfer des Menschenhandels sowie soziale Rechte, der Zugang zum Arbeitsmarkt und das Recht auf Entschädigung geregelt. Darüber hinaus beinhaltet der Vertrag Mindeststandards für den Schutz der Opfer im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens der Täter. Menschenhandel erfolgt in erster Linie zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und der Zwangsprostitution. Im Jahr 2010 gab es offiziell 610 Opfer von „Menschenhandel in die sexuelle Ausbeutung“. 96 Prozent der Opfer waren weiblich. Die Dunkelziffer dürfte jedoch sehr viel höher sein. Die betroffenen Frauen werden dabei zum Großteil mit falschen Versprechungen für eine angeblich legale Arbeit im Ausland angeworben und im Anschluss zur Prostitution gezwungen. Viele Delikte, die im Zusammenhang mit Menschenhandel begangen werden, sind nur durch die Aussagen von Opferzeuginnen zur Anklage zu bringen, eine Strafverfolgung der Täter somit nur mithilfe der Opfer möglich. Um eine Aussage im Rahmen einer gerichtlichen Verfolgung zu ermöglichen, bedürfen die Opfer daher eines besonderen Schutzes, und um die langwierigen und meist quälenden Verfahren durchzustehen, brauchen die häufig traumatisierten Frauen während ihres Aufenthalts in Deutschland eine qualifizierte Betreuung. Eine für die von Menschenhandel Betroffenen zentrale Vorgabe der Europaratskonvention ist, die Unterstützung und Betreuung von Betroffenen unabhängig von der Aussagebereitschaft sicherzustellen. Dies ist ein wichtiger Aspekt, um den Lebensunterhalt der betroffenen Frauen zu sichern. Entscheidend sind hier auch flankierende Hilfsangebote an Frauen, die im Rahmen von Polizeiaktionen aufgegriffen werden. Um auch zukünftig effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels und zur Unterstützung Betroffener zu gewährleisten, ist eine sichere und angemessene Finanzierung der Fachberatungsstellen in diesem Zusammenhang zwingend. Über die Aspekte des Opfer- und Zeugenschutzes hinaus weist die Konvention einen effektiven und unabhängigen Kontrollmechanismus auf, der zwei Ebenen beinhaltet. Zum einen wird durch eine unabhängige Gruppe von Expertinnen und Experten ein periodischer Bericht über die Vertragsparteien vorgelegt, zum anderen werden durch den Ausschuss der Vertragsparteien auf Grundlage des Berichts und der Äußerungen der betroffenen Vertragspartei Empfehlungen ausgesprochen. Dieser Mechanismus hat 2010 seine Arbeit aufgenommen. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik wird sich auch Deutschland diesem Verfahren stellen. Darüber hinaus ist es gelungen, den Anwendungsbereich des Übereinkommens gegenüber dem sogenannten Palermo-Protokoll auf alle Fälle des Menschenhandels - über diejenigen Fälle der organisierten und grenzüberschreitenden Kriminalität hinaus - auszudehnen, die Verpflichtungen in verbindlicher Sprache festzuschreiben und die Straftatbestände zu vereinheitlichen. Zwangsprostitution ist eine klare Menschenrechtsverletzung! Mit dem Gesetzentwurf zum EU-Übereinkommen schafft die Bundesregierung die Voraussetzung für Zu Protokoll gegebene Reden einen Beitritt Deutschlands zu dem Übereinkommen, unterstützt die effektive Bekämpfung des Menschenhandels und zeigt ihre Bereitschaft, sich dem unabhängigen Kontrollmechanismus des Übereinkommens zu stellen. Um die überfällige Ratifizierung dieses Übereinkommens und den damit verbundenen Beitritt Deutschlands nicht noch weiter hinauszuzögern, ist es nunmehr geboten, das Verfahren zügig zum Abschluss zu bringen. Dabei können die Forderungen aus dem Antrag der Fraktion der SPD in den vorliegenden Gesetzentwurf keinen Eingang finden. Das Gesetzgebungsverfahren sollte nicht mit zusätzlichem Konfliktstoff überfrachtet werden, indem politisch nicht mehrheitsfähige Desiderate auf das jetzige Verfahren aufgesattelt werden. Mit dem Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen des Europarates vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels werden die nach Art. 59 Abs. 2 GG geforderten Voraussetzungen für einen Beitritt Deutschlands zum Übereinkommen geschaffen. Der Bundesrat hat dem Entwurf in erster Behandlung am 23. September 2011 zugestimmt und sich in seiner Stellungnahme der Auffassung der Bundesregierung angeschlossen, dass kein gesetzlicher Umsetzungsbedarf besteht. Bundesregierung und Bundesrat sind sich mithin einig, dass die entstehenden Verpflichtungen des Übereinkommens bereits im nationalen Recht durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 verwirklicht sind.

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eine Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation kam gerade zu dem Ergebnis, dass weltweit fast 21 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffen sind. Dazu gehören auch Menschenhandel zum Zweck der sexuellen oder Arbeitsausbeutung. 55 Prozent dieser Zwangsarbeiter sind Mädchen und Frauen. Zwei Drittel dieser Zwangsarbeit erfolgen im Privatsektor, vor allem in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Industrie und in privaten Haushalten. Am größten sei das Problem in Asien, gefolgt von Afrika. Aber auch in den meisten Industriestaaten, einschließlich der EU, lebten 1,5 Millionen Zwangsarbeiter. Erschreckende Zahlen. Das Übereinkommen des Europarates vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels enthält erstmalig eine umfassende Definition darüber, was zum Menschenhandel gehört. Demnach bezeichnete der Ausdruck Menschenhandel „die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.“ Beim Menschenhandel handelt es sich somit um eine eklatante Menschenrechtsverletzung, in welcher Form auch immer. Die Bundesregierung hat das Übereinkommen als eine der Ersten unterschrieben. Nun soll es endlich auf den Weg der Ratifizierung gebracht werden. Dazu liegt ein entsprechender Gesetzentwurf vor. Wenn man diesen gelesen hat, reibt man sich verwundert die Augen: Die Bundesrepublik Deutschland hat in Sachen Menschenhandel keinen Handlungsbedarf mehr, Opfer werden hinlänglich geschützt und gestärkt, der Gesetzgeber kann sich zurücklehnen, denn er hat seine Hausaufgaben längst gemacht. Allerdings schlägt auch hier die Macht der Realität durch. Opfer von Menschenhandel, ob nun zur sexuellen Ausbeutung oder zur Ausbeutung der Arbeitskraft, werden mit einer ganz anderen bundesdeutschen Realität konfrontiert. Da werden Erntehelfer angeworben, denen man einen guten Lohn in Aussicht stellt. Doch dann erhalten sie einen Hungerlohn, wie jüngst in Bayern osteuropäische Erdbeerpflücker. Versprochen wurde ihnen ein Stundenlohn von 5,10 Euro, erhalten haben sie tatsächlich höchstens 1,20 Euro. Untergebracht wurden sie in engen, überfüllten Containern, für die die Helfer 3 Euro Übernachtungsgeld täglich bezahlen mussten. Dieser Fall ist kein Einzelfall. Ob in der Landwirtschaft, auf dem Bau, im Gastgewerbe oder in Privathaushalten Arbeitsmigranten schuften auch in Deutschland unter unwürdigen Bedingungen und werden ausgebeutet. Sie sind gesellschaftlich marginalisiert. Was die zuständigen NGOs an der Politik der Bundesregierung kritisieren, ist das Fehlen eines ganzheitlichen und menschenrechtsbasierten Ansatzes zur Stärkung der Rechte der Betroffenen. Die Tatsache, dass es in Deutschland Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft gibt, wird weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Was hingegen durch die Medien stark bedient wird, sind erschreckende Aussagen über Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. Das Stichwort Zwangsprostitution ist allgegenwärtig. Laut dem Bundeslagebild 2010 zum Menschenhandel des Bundeskriminalamtes gab es in jenem Jahr 470 Ermittlungsverfahren im Bereich des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung mit 610 Opfern. Die Zahlen waren im Vergleich zum Vorjahr rückläufig, und das Bundeskriminalamt schätzt ein: „Das von diesem Kriminalitätsbereich ausgehende Gefährdungspotential bleibt damit begrenzt.“ Es ist nicht meine Absicht, den Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung, den es in Deutschland gibt und bezüglich dessen von Expertinnen und Experten große Dunkelziffern vermutet werden, zu verharmlosen; dabei handelt es sich, wie bereits betont, um eine schwere Menschenrechtsverletzung. Aber statt reißerischer Schlagzeilen wünsche ich mir vor allem eine Ausweitung und Verbesserung des Opferschutzes für alle von den verschiedensten Formen des Menschenhandels betroffenen Personen. Zu Protokoll gegebene Reden Die Position der Opfer muss gestärkt werden. Hier unterstützen wir die Forderungen des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e. V., KOK e. V., der ja auch in der Gesetzesvorlage der Bundesregierung immer wieder genannt wird. Dazu gehört: Die Aufenthaltsrechte der Betroffenen müssen verbessert werden. Es fehlt ein sicherer Aufenthaltstitel, welcher unabhängig von der Kooperation der Opfer im Rahmen von Strafverfahren erteilt wird und nicht mit der Beendigung des Strafverfahrens ausläuft. Diese Forderung enthält im Übrigen auch das Übereinkommen des Europarates. Tatsächlich gehört es zur gängigen Praxis in Deutschland, dass bei Betroffenen aus Nicht-EULändern, für die der Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4 a Aufenthaltsgesetz gilt, Rechte und Leistungen an eine Aussagebereitschaft gekoppelt werden. Hier besteht Handlungsbedarf. Opfer von Menschenhandel leiden unter schweren physischen und psychischen Folgen ihrer Ausbeutung. Die Betroffenen erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Damit werden aber nicht die Kosten hinsichtlich Therapien, Dolmetscher- und Fahrtkosten abgedeckt. Das Übereinkommen des Europarates fordert aber eine umfassende Hilfestellung für die Opfer, einschließlich Therapien und Ruhezeiten. Auch hier sehen wir Handlungsbedarf. Was die Mitarbeiterinnen der Fachberatungsstellen ebenso seit Jahren fordern, ist ein Zeugnisverweigerungsrecht für sich selbst. In der Praxis werden Beraterinnen immer wieder als Zeuginnen vor Gericht geladen. Dadurch kann das Vertrauensverhältnis zwischen der betroffenen Person und der Beraterin stark belastet werden. Im Übereinkommen des Europarates sind die Unterstützung und der Schutz der Betroffenen zentrale Momente im Kampf gegen den Menschenhandel. Dem sollte die Bundesregierung nachkommen. Trotz der hier vorgetragenen Kritikpunkte, denen sich weitere hinzufügen ließen, unterstützt die Linke die Gesetzesvorlage zum Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels. Ich kann Ihnen zugleich versichern, dass wir die Bundesregierung auch weiterhin an ihren Handlungsbedarf erinnern werden, damit dieses wichtige Abkommen tatsächlich umgesetzt wird. Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum Schluss machen. Zur Stärkung der Opfer von Menschenhandel zählt auch, dass die zuständigen Fachberatungsstellen ausreichend und langfristig finanziert und ausgestattet werden; denn sie sind es, die die Hilfe und den Schutz vor Ort leisten. Für den bereits erwähnten Bundesweiten Koordinierungskreis finanziert die Bundesregierung neben den Sachkosten gerade einmal zwei Personalstellen - zwei Stellen, die sich drei Kolleginnen teilen. KOK e. V. hat bundesweit 38 Mitgliedsorganisationen. In ihrer Gesetzesvorlage bezieht sich die Bundesregierung immer wieder auf deren geleistete Arbeit. Sie sollte sie auch endlich finanziell auf sichere und vor allem starke Füße stellen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Europaratskonvention gegen Menschenhandel ist am 1. Februar 2008 in Kraft getreten, mittlerweile von 34 Staaten ratifiziert und von neun weiteren gezeichnet. Deutschland gehörte zwar zu den ersten Zeichnern der Konvention - 2005 -, ist nun aber unter den letzten Staaten des Europarates, die das Instrument ratifizieren. Die Konvention stellt als erstes international rechtsverbindliches Dokument Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung und zur Arbeitsausbeutung ausdrücklich in einen menschenrechtlichen Kontext und verpflichtet die Mitgliedstaaten zu umfassenden Maßnahmen zur Prävention von Menschenhandel, zur Strafverfolgung der Täter und Täterinnen und zum Schutz der Opfer. Den Staaten werden unter anderem umfangreiche Informationspflichten und die Pflicht zur Identifikation von Opfern auferlegt; die Entschädigungsrechte der Betroffenen wurden gestärkt. Zum Teil sind die Rechte unabhängig von der Bereitschaft der Opfer, im Strafverfahren als Zeugen und Zeuginnen aufzutreten, zu gewähren. Es ist zwar erfreulich, dass die Bundesregierung die Europaratskonvention gegen Menschenhandel endlich ratifiziert. Das ist aber nur der erste Schritt, dem zwingend weitere folgen müssen. Denn entgegen der Auffassung von Bundesregierung und Bundesrat sind die durch die Regelungen des Übereinkommens entstehenden Pflichten der Vertragsparteien heute nicht umfassend im deutschen Recht verwirklicht. Es ist beschämend, dass die Bundesregierung auch nach der Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in keiner Weise die Vorschläge nahezu aller Sachverständiger zu Konsequenzen aufenthaltsrechtlicher Art sowie bei der Information der Betroffenen umsetzen will. Dieses Verhalten ist typisch für die Bundesregierung. Das kennen wir schon von der UNKinderrechtskonvention, bei der sie nach langem Widerstand zwar die deutschen Vorbehalte zurückgenommen hat, aber die notwendigen Änderungen im deutschen Recht bis heute nicht vornimmt. Die Umsetzung der Europaratskonvention erfordert gesetzliche Neuregelungen in den Bereichen des Aufenthaltsgesetzes, des Asylbewerberleistungsgesetzes, der Strafprozessordnung, des Zweiten und Dritten Buches Sozialgesetzbuch, des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes, der Gewerbeordnung sowie der Beschäftigungsverordnung. Dabei würde das Ratifikationsverfahren der Europaratskonvention eine Chance bieten für die Umsetzung eines umfassenden Ansatzes zur Stärkung der Rechte der von Menschenhandel Betroffenen in Deutschland. Mit Blick auf die Entschädigungs- und Lohnansprüche gibt es verschiedene Umsetzungsanforderungen aus der Konvention. Damit Betroffene ihre Rechte wahrnehmen können, müssen sie diese kennen. Die Information über die Rechte muss umfassend, unabhängig von einem Strafverfahren, ab dem Zeitpunkt, zu dem konkrete Anhaltspunkte für Menschenhandel vorliegen, und in einer für die Betroffenen verständlichen Sprache erfolgen. Für die regelmäßige Identifizierung insbesondere von Betroffenen des Menschenhandels zur ArbeitsausbeuZu Protokoll gegebene Reden tung muss sichergestellt werden, dass alle Kontrollbehörden, die mit Betroffenen in Kontakt kommen können, Kenntnisse über Anzeichen von Menschenhandel, das Verhalten von Opfern sowie zumindest über das Recht auf die dreimonatige Bedenkfrist besitzen. Dies betrifft zum Beispiel die Polizei, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit und die Gewerbeaufsicht. Betroffene müssen dann für eine weitergehende Beratung und Unterstützung, auch bei der Rechtsdurchsetzung, an spezialisierte Beratungsstellen vermittelt werden. Diese Unterstützungsstruktur muss ausgebaut werden. Damit die Beratungs- und Betreuungsstellen ihre wichtigen Aufgaben ausüben können, muss die Bundesregierung sicherstellen, dass die Organisationen auf eine sichere und verbindliche Finanzierung zurückgreifen können. Bei einer konsequenten Verweisung von Kontrollbehörden an die Fachberatungsstellen wird deren Bedarf noch steigen. Betroffene müssen befähigt werden, ihre Ansprüche gegen die Täter und den Staat tatsächlich durchzusetzen. Das erfordert die Erteilung von Aufenthaltstiteln zur Rechtsdurchsetzung sowie den Zugang von irregulären Betroffenen zu staatlichen Entschädigungsleistungen. Als Ausgleich für die zahlreichen Hindernisse bei der Erlangung von Entschädigungsleistungen sollte ein Auffangfonds eingerichtet werden. Die Konvention verlangt schließlich ganz klar, dass den Opfern ein verlängerbarer Aufenthaltstitel erteilt wird, wenn dies aufgrund deren persönlicher Situation erforderlich ist. Die Aufenthaltserlaubnis von der Beteiligung im Strafverfahren gegen die Täter abhängig zu machen, wie es das deutsche Recht tut, steht also im klaren Widerspruch zur Europaratskonvention. Auch hier besteht dringender Änderungsbedarf. Der Antrag der SPD kritisiert, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung keinen Bedarf zur Umsetzung der im Übereinkommen des Europarates festgelegten Regelungen vorsieht; das geltende Recht erfülle nicht die zwingenden Vorgaben des Übereinkommens. Das ist auch grüne Position. Deswegen stimmen wir dem Antrag der SPD zu. Wir erarbeiten zurzeit einen Umsetzungsvorschlag, den wir zeitnah in den Bundestag einbringen werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 40 a. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10165, den Gesetzentwurf der Bundesregierung anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Tagesordnungspunkt 40 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels korrekt ratifizieren - Deutsches Recht wirksam anpassen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10165, den Antrag der Fraktion der SPD, Drucksache 17/8156, abzulehnen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 40 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz erweitern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, Drucksache 17/9195, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3747 abzulehnen. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. ({0}) - Ich unterrichte Sie: Es steht 1:0 für Italien. ({1}) Ich fahre in der Tagesordnung fort, damit Sie demnächst entsprechend Beistand organisieren können. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung - Drucksache 17/9758 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia Schmidt ({3}), Anette Kramme, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen - Drucksache 17/9931 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit erheblich gesunken. Die Beschäftigungsquote hat einen Rekordstand erreicht. Das ist die gute Nachricht. Weniger gut ist die Nachricht, dass schwerbehinderte Menschen bisher aus diesem wirtschaftlichen Aufschwung nicht den gewünschten Nutzen ziehen konnten. Das hat viele Ursachen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich mit diesen Ursachen auseinanderzusetzen. Wenn wir politisch permanent vom drohenden Fachkräftemangel sprechen, dürfen wir das Potenzial, das heißt die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen mit Behinderungen, nicht aus den Augen verlieren. Insofern greifen die beiden uns heute vorliegenden Anträge der Linken und der SPD ein berechtigtes Thema auf. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und andere haben zu diesem Thema vielfältige Aktivitäten gestartet. Jeder sollte es tun: der öffentliche Dienst, die Unternehmen, die Vermittlungsagenturen - de facto alle, weil alle angesprochen sind und es sich auch hier um eine Querschnittsaufgabe handelt. Wir werden diese Aufgabenstellung umso besser erfüllen, desto selbstverständlicher es in unserer Gesellschaft wird, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammen in einer Abteilung, in einem Betrieb oder in einer Institution arbeiten. Das alles hat etwas mit unserer mitmenschlichen Grundeinstellung zu tun. Welche Lösungsansätze diskutieren wir hier heute? Der Antrag „Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung“ zeigt in zehn Punkten Lösungsansätze auf, die in der Grundtendenz zentralistisch bleiben nach dem Motto: Die bösen Arbeitgeber - der Staat muss eingreifen und richten, gegebenenfalls mit Sanktionen. Der Antrag der SPD sagt ganz einfach: Wir brauchen für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung mehr Geld, also Ausgleichsabgabe nach oben. Beide Anträge gehen vom Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention aus, wonach Menschen mit Behinderung das gleiche Recht auf Arbeit haben und damit die Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Auch wir nehmen diesen Ansatz sehr ernst. Wir glauben aber nicht daran, dass verschärfte Sanktionen und höhere Abgaben an der Grundeinstellung von sich reserviert verhaltenden Arbeitgebern und auch Arbeitnehmern als Kollegen von behinderten Menschen etwas ändern werden. Es ist die Einsicht, die ganz innere menschliche Einsicht, die da sein muss, damit es Selbstverständlichkeit wird, Menschen mit einer Behinderung eine gleichberechtigte Chance einzuräumen. Und dem aufmerksamen Stellenausschreibungsleser ist nicht unbemerkt geblieben, dass Unternehmen - leider immer noch zu selten - Folgendes inserieren: „Als barrierefreies Unternehmen begrüßen wir Bewerbungen von Schwerbehinderten mit entsprechender Qualifikation.“ Solche positiven Beispiele gilt es publik zu machen und damit Personalverantwortliche zu diesem Schritt nachdrücklich zu ermuntern. Unser gemeinsames Ziel ist, mehr Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, ihnen die Chance zu geben, den eigenen Lebensunterhalt zu erarbeiten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es durchaus Mitarbeiter gibt, die aufgrund ihrer Behinderung eine Leistungseinschränkung haben. Deshalb werden individuelle Maßnahmen besprochen und umgesetzt, die verhindern, dass der jeweiligen organisatorischen Einheit Nachteile entstehen. Die Bundesagentur für Arbeit hat ausreichende Mittel, dies zu unterstützen. In diesem Bereich sind keine Kürzungen vorgenommen worden, wie behauptet wird. Über die Schaffung integrativer Arbeitsplätze ist zu erreichen, Menschen mit einer Behinderung an die Bedingungen des ersten Arbeitsmarktes zu gewöhnen, sich ausprobieren zu lassen und letztlich entsprechend der persönlichen Voraussetzungen zu integrieren. Über das SGB II, III und IX werden behinderte junge Menschen durch die Bundesagentur für Arbeit bereits vor der Schulentlassung mit einem umfangreichen Dienstleistungsangebot der beruflichen Orientierung und Beratung beim Übergang von der Schule in den Beruf unterstützt. Aktuell wird dieser Prozess über das Inklusionsprogramm der Bundesregierung in den Ländern zusätzlich modellhaft unterstützt. Wir alle wollen eine größere Durchlässigkeit am Arbeitsmarkt. Wir arbeiten daran, die Bedingungen so zu gestalten, dass dies leichter als bisher in beide Richtungen möglich ist. Immerhin waren 2011 47 264 behinderte Menschen in einer berufsfördernden Maßnahmen und 20 446 Personen im Eingangsverfahren. Mehr als bisher sollten auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung aus der Werkstatt ausgelagerte Arbeitsplätze entstehen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass auch die wachsende Zahl chronisch psychisch kranker Menschen unsere ganzheitliche Betrachtung erwarten und für sie Chancen eröffnet werden. Das geschieht durch viele, viele einzelne, sehr individuelle Initiativen vor Ort, denn das Thema wohnortnahe Arbeit dürfen wir ebenfalls nicht aus dem Fokus verlieren. Man kann Arbeit auch durch extrem lange Arbeitswege sehr verteuern und damit die Chancen grundsätzlich einschränken. In Deutschland bestehen zahlreiche gesetzliche Regelungen, die die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gewährleisten, zum Beispiel Arbeitsschutzgesetz, Arbeitszeitgesetz, Arbeitsstättenverordnung, Teilzeitund Befristungsgesetz, Kündigungsschutzgesetz und viele, viele Verordnungen für die jeweils spezifischen Bereiche. Das alles dient auch dazu, die Beschäftigungsfähigkeit von Menschen zu erhalten, die im Laufe des Berufslebens eine Behinderung erwerben, und durch die Gestaltung des Arbeitsplatzes bzw. eine flexible Arbeitsorganisation und vor allem durch eine individuelle Rehabilitation das Arbeiten zu ermöglichen. Ja, die Beschäftigungsquote lag 2009 in Deutschland nicht bei durchschnittlich 5 Prozent, wie gesetzlich festgelegt, sondern bei 4,5 Prozent. Das ist unbefriedigend. Wir wissen, dass der besondere Kündigungsschutz für Menschen mit einer Behinderung immer wieder als ArZu Protokoll gegebene Reden gument gebracht wird, um lieber den bequemeren Weg zu gehen und sich mit der Ausgleichszahlung zu begnügen. Das ist auch für uns durchaus ein Thema. Die Lösung sehen wir, wie gesagt, nicht in der Erhöhung der Ausgleichsabgabe als Strafzahlung, sondern im Darstellen der Notwendigkeit, sich diesem Thema Schritt für Schritt zu nähern, auch im Wissen darüber, dass durch einen Unfall oder durch eine Krankheit jedem Menschen ein solches Schicksal widerfahren kann, auch dem Chef eines Unternehmens selbst. Wir brauchen ein Umdenken in allen Arbeitsbereichen. Ich will auch auf die notwendige Vorbildfunktion der öffentlichen Arbeitgeber hinweisen. Seit gut zehn Jahren stellen sie mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einer Schwerbehinderung ein. In 2009 waren ein Drittel der schwerbehinderten Beschäftigten im öffentlichen Dienst beschäftigt. Die Quote lag im Bundesdurchschnitt bei 6,3 Prozent und damit über dem Pflichtanteil von derzeit 5 Prozent und damit auch über den geforderten 6 Prozent. Das ist ein guter Trend, der noch deutlich weiter voranschreiten sollte. Trauen wir doch den Menschen mit Behinderung mehr zu und trauen wir uns alle stärker zu, Menschen mit Behinderung in unsere Arbeit auf allen Gebieten einzubeziehen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken! Wir debattieren heute Ihren Antrag „Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung“ - ein Thema, über das man eigentlich gar nicht oft genug sprechen kann; denn die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft sollte eine Herzensangelegenheit von uns allen sein. Allerdings finde ich es - wie so häufig bei den Anträgen der Linken überaus interessant, zu sehen, dass die Fraktion Die Linke es abermals schafft, einen Antrag vorzulegen, der keinerlei Aspekte enthält, die die Bundesregierung in ihrer Arbeit nicht bereits bedacht hätte. Meine Damen und Herren der Linken, Sie erinnern sich sicher daran, dass wir von der christlich-liberalen Koalition bereits Anfang 2011 den Antrag „Für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - Nationaler Aktionsplan als Leitlinie“ auf den Weg gebracht haben. Mit dem im Dialog mit Behinderten sowie deren Verbänden erarbeiteten Nationalen Aktionsplan hat die Bundesregierung den Weg dafür geebnet - das wird in den kommenden Jahren das Leben von Millionen von Menschen mit Behinderung maßgeblich beeinflussen -: hin zu einer Gesellschaft, an der alle Menschen gleichsam teilhaben. Und damit meine ich besonders auch diejenigen, die nicht das Glück hatten, mit einer vollkommenen Gesundheit gesegnet zu werden. Leitgedanke und Handlungsprinzip hierbei ist die Idee der Inklusion. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie fordern gute Arbeit für Menschen mit Behinderung - und das ist richtig! Eine inklusive Arbeitswelt zu entwickeln, ist ein Kernanliegen der christlich-liberalen Koalition. Einer Beschäftigung nachzugehen, bedeutet für alle Menschen persönliche Unabhängigkeit, Selbstbestätigung und ist für die Selbstverwirklichung unerlässlich. Der Aktionsplan beschäftigt sich neben dem Leitgedanken der Inklusion auch ausführlich mit der Teilhabe gehandicapter Menschen an der Arbeitswelt. Uns steht ein umfassendes Leistungsspektrum für Menschen mit Behinderung zur Verfügung, wobei ich insbesondere die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nennen möchte, die auf die individuellen Wünsche der Betroffenen eingehen. Nach dem SGB IX stehen Maßnahmen wie stufenweise Wiedereingliederung, Eingliederungszuschüsse, Aus- und Weiterbildungsförderung bis hin zu Leistungen zur behindertengerechten Gestaltung von Arbeitsplätzen zur Verfügung. Der Aktionsplan enthält ferner konkrete Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, die in ihrem Haushaltsplan für 2012 für die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben einen Betrag von rund 2,4 Milliarden Euro bereitstellt. Um das Potenzial von Menschen mit Behinderungen für den Arbeitsmarkt steigern zu können, sind kontinuierliche Betreuung vor dem Übergang wie auch während des Übergangs in Ausbildung und Beruf, genauso wie danach und eine gezielte Vermittlung und weitere Qualifizierung vonnöten. Die „Initiative für Ausbildung und Beschäftigung“ verfolgt das Ziel, Menschen mit Behinderungen mehr Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erschließen. Zusätzlich werden mit der „Initiative Inklusion“ 100 Millionen Euro zur Verbesserung der Berufsorientierung und zum Ausbau der betrieblichen Ausbildung für schwerbehinderte Jugendliche zur Verfügung gestellt. Nebenbei erwähnt, hat die Bundesregierung unter dem Slogan „Behindern ist heilbar“ zudem die Dachkampagne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gestartet, aus der Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, sich in dieser Wahlperiode bereits einen Antrag ({0}) zu eigen gemacht haben. All das zeigt doch, dass wir von der unionsgeführten Bundesregierung mit dem Thema richtungsweisend voranschreiten und der Antrag der Fraktion Die Linke keinerlei Aspekte enthält, die wir nicht schon auf den Weg gebracht hätten. Mit den in Ihrem Antrag enthaltenen kostenintensiven Maßnahmen und Programmen sowie Ihrer Forderung nach zahlreichen Sonderstellungen torpedieren Sie doch gerade den Gedanken der Inklusion. Denn wir wollen doch gerade eine vollständige gesellschaftliche Eingliederung erreichen. Im Übrigen möchte ich noch einmal explizit darauf hinweisen, dass auch die Sachverständigen im Rahmen der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales Ende März der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans ein gutes Zeugnis ausgestellt haben. So hat die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der Anhörung Zu Protokoll gegebene Reden berichtet, dass sich die Situation von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt seit Einführung des Aktionsplans nachhaltig verbessert habe. Viele Behinderte verfügen über außerordentlich gute Qualifikationen, die es im Zuge des anhaltenden Fachkräftemangels zu nutzen gilt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie sind herzlich eingeladen, uns bei der weiteren Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention konstruktiv zu unterstützen, um die Situation von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt noch weiter zu verbessern. Das wäre allemal sinnvoller, als die Zeit mit Abkupfern unserer Vorhaben und Anträgen zu vergeuden. Hier brauchen wir die Beiträge aller.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir alle wollen, dass Menschen mit Behinderung volle und wirksame gesellschaftliche Teilhabe erhalten. Zur umfassenden Teilhabe gehört selbstverständlich der vollständige Zugang zum Arbeitsmarkt. In der UN-Behindertenrechtskonvention steht auch das Recht auf Arbeit. In Art. 27 heißt es, die Arbeitsaufnahme von Menschen mit Behinderung ist durch staatliche Maßnahmen zu fördern. Wir als SPD-Fraktion nehmen die UN-Behindertenrechtskonvention sehr ernst. Deswegen bringen wir heute den Antrag mit dem Titel „Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen“ ein. Mit der Umsetzung unserer Forderungen wird Menschen mit Behinderung ein fairer Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Fakt ist aber: Obwohl die Arbeitslosenzahlen in Deutschland insgesamt sinken, finden immer mehr Menschen mit Behinderung keine Arbeit. Im Mai dieses Jahres waren über 175 000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos. Dieser Trend des Ausgrenzens von Menschen mit Behinderung muss gestoppt werden. Es kann nicht sein, dass einerseits über Fachkräftemangel geklagt wird und andererseits Menschen nicht eingestellt werden, weil sie eine Behinderung haben. Wir müssen uns auch immer vor Augen führen: Viele der rund 9,6 Millionen Behinderungen sind durch einen Unfall oder eine chronische Krankheit verursacht. Von Geburt an sind nur 4 Prozent betroffen. In Deutschland haben die Arbeitgeber eine gesetzliche Pflicht zur Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen - und das ist gut so. Unternehmen, die mindestens 20 Vollzeitarbeitsplätze haben, müssen wenigstens 5 Prozent schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Also von 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mindestens eine oder einen. Die Unternehmen, die ihrer Beschäftigungspflicht nicht nachkommen, haben eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Die Praxis zeigt, dass die Abgabe oft als eine Art Freikauf von der Pflicht zur Beschäftigung genutzt wird. Folge dieses Freikaufs ist, dass mittlerweile fast jeder dritter Arbeitgeber die gesetzliche Beschäftigungspflicht gar nicht oder völlig unzureichend erfüllt. Folge dieses Freikaufs ist auch, dass wir in Deutschland nur einen prozentualen Anteil von 4,5 Prozent schwerbehinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben. Während die öffentlichen Arbeitgeber ihrer Pflicht mehr als nachkommen, macht das die private Wirtschaft nicht. Sicher: Wir müssen darüber aufklären und dazu beraten, was die Einstellung eines Menschen mit Behinderung bedeutet. Dafür haben wir hervorragende Dienste und Einrichtungen, von der Bundesagentur für Arbeit über die Integrationsämter bis zu den Integrationsfachdiensten. Aber offenem Unwillen und offener Diskriminierung müssen wir auch mit strengen Maßnahmen begegnen. Für uns als SPD-Fraktion ist ganz klar: Hier besteht dringender Handlungsbedarf! Wir wollen, dass die Arbeitgeber ihrer Verpflichtung zur Beschäftigung behinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch in der Wirklichkeit endlich nachkommen. Getreu nach dem Motto der UN-Behindertenrechtskonvention „Nichts über uns ohne uns“ haben wir zusammen mit den Betroffenen und ihren Verbänden diskutiert, wie wir einen fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen können. Erstens. Wir wollen die derzeitige Trennung von schwerbehinderten Menschen und nicht schwerbehinderten Menschen schrittweise auflösen, weil sie dem Inklusionsgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention widerspricht. Auch ein geringerer Grad der Behinderung als 20 kann im Arbeitsleben zu Einschränkungen führen und damit Teilhabe verhindern. Das wollen wir ändern. Zweitens. Die bestehende Gesetzeslage privilegiert Unternehmen, die viele geringfügig Beschäftigte einsetzen, denn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die weniger als 18 Stunden arbeiten, werden nicht gezählt. Wir setzen uns dafür ein, dass dieser Paragraf gestrichen wird. Unternehmen dürfen nicht dafür belohnt werden, dass sie einerseits massenhaft prekäre Beschäftigungsverhältnisse anbieten und dann aufgrund der statistischen Zählweise sich noch um gesetzliche Regelungen zur Beschäftigungspflicht herumdrücken können. Drittens. Die Beschäftigungspflichtquote muss auf 6 Prozent erhöht werden. Mehr Menschen mit Behinderung brauchen eine reale Perspektive auf dem Arbeitsmarkt. Ich möchte nochmal erinnern: Wir hatten die Quote schon einmal von 6 Prozent auf 5 Prozent abgesenkt und haben der Wirtschaft damit ein Angebot gemacht. Dies ist nicht angenommen worden, darauf müssen wir reagieren. Dem Freikaufen der Unternehmen von ihrer Beschäftigungspflicht muss ein Riegel vorgeschoben werden. Deswegen treten wir für eine gestaffelte Erhöhung der Ausgleichsabgabe ein. Bei einer Beschäftigungsquote von weniger als 2 Prozent sollen die Arbeitgeber pro Monat 750 Euro statt bisher 290 Euro als Ausgleich zahlen. Unternehmen, die 2 bis weniger als 3 Prozent Menschen mit Behinderung beschäftigen, sollen monatlich Zu Protokoll gegebene Reden 500 Euro statt bisher 200 Euro zahlen. Bei einer Beschäftigungsquote von 3 bis weniger als 6 Prozent soll dann eine Ausgleichsabgabe von monatlich 250 Euro statt bisher 115 Euro pro fehlendem Arbeitsplatz gezahlt werden müssen. Viertens. Wir wollen die Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt fördern. Deswegen sollen mehr Mittel aus der Ausgleichsabgabe für die Förderung von Integrationsunternehmen und Inklusionsprojekten verwendet werden. Hier arbeiten 25 bis 50 Prozent Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Integrationsunternehmen leisten echte Inklusion. Sie müssen stärker gefördert werden. Nach eigener Aussage der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsunternehmen könnten in den bestehenden Projekten sehr schnell mindestens 10 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Dafür sollte die Bundesregierung alle Ressourcen aktivieren; denn dies kommt den Menschen direkt zugute. Es kommt darauf an, dass die Menschen gefördert werden und nicht die Institutionen, daher ist die Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und in Integrationsunternehmen und -abteilungen so wichtig. Dafür gibt es viele gute Beispiele. Diese Bundesregierung muss nur endlich einmal tätig werden, anstatt sich auf einem Aktionsplan auszuruhen, der den Namen nicht verdient. Fünftens. Wir möchten die Schwerbehindertenvertretungen nach dem SGB IX zu Behindertenvertretungen weiterentwickeln. Die gewählten Vertrauensleute haben sich zu einem Motor für eine bessere Inklusion in Arbeit, Beruf und Gesellschaft entwickelt. Für die Durchsetzung von mehr Teilhaberechten gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Stärkung der Behindertenvertretungen nötig. Sechstens. Die SPD-Fraktion tritt für mehr Transparenz ein. Daher fordern wir, dass die Bundesagentur für Arbeit eine jährliche Übersicht über die Erfüllung der Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung erstellt und diese dann auch veröffentlicht. Wir brauchen eine bessere Beratung und Vermittlung von arbeitslosen Menschen mit Behinderung. In allen Agenturen für Arbeit und Jobcentern sind speziell qualifizierte Fachkräfte einzuführen, die Menschen mit Behinderung kompetent beraten und vermitteln. Das ist ein wichtiger Schritt, um die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung abzubauen. Siebtens. Bisher werden Verstöße gegen die Beschäftigungspflicht kaum geahndet. Doch die Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht stellt eine Ordnungswidrigkeit mit empfindlichen Geldbußen dar. Es hat sich gezeigt, dass die Bundesagentur für Arbeit nicht die geeignete Verwaltungsbehörde ist, um diese Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen. Wir schlagen daher vor, dass die Durchsetzung der Beschäftigungspflicht auf die Finanzkontrolle übertragen wird. Diese hat sich bereits bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit bewährt. Sie sehen, wir von der SPD-Fraktion meinen es ernst mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Wir wollen Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen. Wir wollen den Menschen Perspektiven geben und volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wir sind davon überzeugt, dass alle dabei gewinnen: Menschen mit und Menschen ohne Beeinträchtigung.

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Was haben die Unternehmen Globetrotter, Daimler AG, Metro Group und die Deutsche Telekom gemeinsam? Sie alle beschäftigen motivierte Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen. Sie alle haben erkannt, dass sich das Engagement für behinderte Menschen lohnt. Sie alle zeigen, dass sich Leistungsfähigkeit, Inklusion und wirtschaftlicher Erfolg nicht ausschließen. Und sie alle machen deutlich, worauf es ankommt: eine Win-win-Situation für alle zu schaffen. Dafür brauchen wir Vorbilder. Mit gutem Beispiel vorangehen, heißt die Devise. Die Deutsche Telekom zum Beispiel beschäftigt über 100 000 Mitarbeiter in Deutschland. Davon haben 6,2 Prozent eine Schwerbehinderung. Unternehmen wie die Deutsche Telekom zeigen, dass Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben teilhaben. Vor allem größere Arbeitgeber besetzen mehr Pflichtarbeitsplätze für Schwerbehinderte - mehr, als sie gesetzlich müssten. Es ist sehr erfreulich, dass die Zahl der unbesetzten Pflichtstellen deutlich zurückgeht. Die Bundesagentur für Arbeit hat zudem im März dieses Jahres bekanntgegeben, dass die Unterbeschäftigung bei schwerbehinderten Menschen erkennbar zurückgeht. Davon, dass ein Rückgang unter bereits erreichtes Niveau drohe, wie die Linken in ihrem Antrag schreiben, kann also keine Rede sein. Trotz Wirtschaftskrise waren im Jahresdurchschnitt 2009 mehr Pflichtarbeitsplätze schwerbehinderter Menschen bei Arbeitgebern mit mehr als 20 Mitarbeitern besetzt als ein Jahr zuvor. Das hat die Bundesagentur in ihrer Arbeitsmarktberichterstattung bekanntgegeben. Es ist richtig, dass immer noch mehr Unternehmen Menschen mit Behinderung einstellen könnten. Es stimmt, dass es Vorbehalte gegenüber Menschen mit Behinderung gibt und dass Barrieren bestehen, die die Integration schwerbehinderter Menschen in den ersten Arbeitsmarkt erschweren. Die Problemlagen sind dabei sehr komplex. Folgen der Wirtschaftskrise, Art und Schwere der Behinderung, Unwissenheit und Scheu der Arbeitgeber, mangelnde Barrierefreiheit, all das kann als Ursache für eine unbefriedigende berufliche Teilhabe gesehen werden. Doch so vielschichtig das Problemfeld ist, so vielschichtig sind auch die Lösungsansätze. Es existiert bereits ein breites Instrumentarium zur beruflichen Eingliederung. Dieses gilt es voll auszuschöpfen. Mit der Unterstützten Beschäftigung, der Arbeitsassistenz und dem Persönlichen Budget für Arbeit sind gute Ansätze entwickelt worden. Auch die individuelle ArbeitsplatzZu Protokoll gegebene Reden ausstattung und die Kooperation mit Integrationsfachdiensten und sogenannten Coaches tragen zu einer gelungenen betrieblichen Integration bei. Von der Zusammenarbeit und der Unterstützung profitieren alle Mitarbeiter mit Behinderung, Kollegen, Vorgesetzte und die Geschäftsführung. Wichtig ist, die guten Ansätze, die bereits entwickelt und in der Praxis erprobt wurden, auch für Arbeitgeber bekannter zu machen. Trotzdem wird die bezahlte Arbeit in Werkstätten der Behindertenhilfe für viele Menschen mit Behinderungen die einzige Möglichkeit bleiben, zu arbeiten und muss deshalb dringend erhalten bleiben. Ich halte es darüber hinaus für wichtig, dass Unternehmen, die Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen, gewürdigt werden. Denn Vorurteile gegenüber Mitarbeitern mit Behinderung werden am besten durch Beispiele von Arbeitgebern widerlegt, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Die Unternehmen zeigen so, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung einen Gewinn für alle darstellen kann. Solche Betriebe und Unternehmen auszuzeichnen und deren positives Beispiel öffentlich zu machen, hat eine Vorbildwirkung. Es ist erfreulich, dass bereits ein breites Spektrum an Aktionen, Wettbewerben und Preisen existiert und in vielen Kommunen, Städten und Ländern Arbeitgeber mit behindertenfreundlicher Personalpolitik auszeichnet werden. Zum ersten Mal wurde in diesem Jahr der Inklusionspreis „Unternehmen fördern Inklusion” ausgelobt. Diese Initiative geht auf das UnternehmensForum zurück. Es wird vor dem Hintergrund des demografischen Wandels sehr deutlich, dass Unternehmen großes Interesse daran haben, Menschen mit Behinderung in das Wirtschaftsleben zu integrieren. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sind sie auf Menschen mit Behinderungen angewiesen. So sagt Olaf Guttzeit, Vorstandsvorsitzender des UnternehmensForums, zu Recht, dass die Wirtschaft Menschen mit Behinderung braucht. Ich bin der Ansicht, dass die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben sowohl eine sozialpolitische Aufgabe als auch betriebswirtschaftlich sinnvoll und volkswirtschaftlich notwendig ist. Die UN-Behindertenrechtskonvention betont ausdrücklich den uneingeschränkten Zugang behinderter Menschen zum allgemeinen Arbeitsmarkt ({0}). Seit Jahren wirbt die FDP mit der Botschaft, dass behinderte Menschen am richtigen Platz in der richtigen Weise eingesetzt, wertvolle Mitarbeiter sind. Hierfür werden wir uns weiterhin einsetzen. Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und mit der Initiative Inklusion sind wir auf einem guten Weg. Vor allem ältere und junge Menschen mit Behinderung profitieren von der Initiative Inklusion. Die Inklusionskompetenzen bei den Kammern zu fördern, schwerbehinderten Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung zu erleichtern und ältere Menschen mit Behinderung ({1}) wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sind genau die Schritte, die notwendig sind. Ich denke nicht, dass eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe, so wie es die Linken in ihrem Antrag fordern, zu dem gewünschten Ergebnis führt. Wenn wir wollen, dass mehr Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten, dürfen die Hürden für Arbeitgeber nicht größer werden. Die Strategien der Linken und der SPD, die mit ihren Anträgen mehr Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen gewährleisten wollen, sind meines Erachtens ungeeignet. Als FDP setzen wir uns mit Nachdruck für den Abbau von Diskriminierung und für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ein. Wir wollen, dass mehr Menschen mit Behinderung für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen können. Deshalb müssen wir genau hinsehen, ob gut gemeinte Schutzgesetze oder scharfe Sanktionen wirklich den gewünschten Effekt erzielen oder Inklusion eher erschweren. In diesem Sinne ist es gut, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Evaluation des SGB IX vornimmt. Dabei gehört dann auch auf den Prüfstand, ob spezielle Kündigungsschutzgesetze für Menschen mit Behinderung kontraproduktiv sind und nicht zu mehr, sondern zu weniger Beschäftigung und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen führen. Arbeitgebern müssen aus der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen Vorteile erwachsen, nicht Nachteile. Die Wiedereinführung der 6-Prozent-Quote ist deshalb der falsche Weg. Mehr Gleichbehandlung in der Gesellschaft wird so nicht erzielt. Es wundert mich sehr, dass in den Anträgen der Opposition davon ausgegangen wird, man könne mit Gesetzen und Sanktionen Gleichstellung und ein vorurteilsfreies Miteinander herstellen. Inklusion lässt sich nicht erzwingen. Sie ist Weg und Ziel zugleich und braucht Zeit, sich zu entwickeln. Bei der Idee der Inklusion geht es um einen gesellschaftlichen Prozess. Hier spielt vor allem der gemeinsame Unterricht, also die inklusive Bildung eine wichtige Rolle. Lernt der zukünftige Firmenchef gemeinsam mit behinderten und nichtbehinderten Klassenkammeraden, so wird er später weniger Vorbehalte haben, einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Gesellschaftliche Ziele wie die Wertschätzung und Anerkennung von Vielfalt, ein bewusster Umgang mit Vorurteilen und Chancengleichheit lassen sich nicht durch die Anhebung der Ausgleichsabgabe oder durch eine Änderung der Arbeitsstättenverordnung erreichen. Was mich besonders ärgert, ist, dass die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag schreibt, es gebe in Deutschland in Wahrheit mehr Sondereinrichtungen und mehr Ausgrenzung. Ich frage mich, wo Sie die letzten 60 Jahren waren. Noch nie hatten Menschen mit Behinderung so viele Wahlmöglichkeiten wie heute. Dazu beigetragen haben Errungenschaften der Behindertenbewegung und -politik. Meilensteine wie Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz - „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ -, Meilensteine wie das SGB IX oder das Persönliche Budget und nicht zuletzt die UN-Behindertenrechtskonvention haben zu mehr Selbstbestimmung und Zu Protokoll gegebene Reden Teilhabe beigetragen. Das sieht man auch ganz deutlich an einzelnen Biografien von Menschen mit Behinderungen. Es steht außer Frage, dass es noch einiges zu tun gibt, und nicht immer können alle Bedürfnisse erfüllt werden; aber zu schreiben, dass es in Deutschland in Wahrheit mehr Ausgrenzung gebe, empfinde ich als Anmaßung. Ich sehe Inklusion, Selbstbestimmung und die Teilhabe am Arbeitsleben als Herausforderung, aber auch Verpflichtung und Aufgabe unserer Gesellschaft. Es gilt, alle Menschen von Geburt an bis ins Alter chancengleich am Leben in der Gemeinschaft aktiv teilhaben zu lassen. Inklusion ist dabei nicht als Gnadenakt, sondern als Menschenrecht zu verstehen. Es ist wichtig, dass wir Politik für Menschen mit Behinderungen als Inklusionspolitik begreifen. Neben der wichtigen Aufklärungsarbeit, dass Menschen mit Behinderungen meist sehr zuverlässige, hochmotivierte und produktive Arbeitnehmer sind, will die FDP die Anreize für Unternehmen, Menschen mit Behinderungen einzustellen, wirksam erhöhen. Staatlicher Dirigismus führt nicht weiter. Gefragt sind individuelle Konzepte, die die berechtigten Interessen von Menschen mit Behinderungen und die berechtigten Interessen von Arbeitgebern zusammenführen. Dafür brauchen wir Best-Practice-Beispiele. Denn wie der Arzt und Schriftsteller Samuel Smiles bereits sagte: „Die Vorschrift mag uns den Weg weisen, aber das stille, fortwährende Beispiel bringt uns vorwärts.“

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bist du noch beschäftigt oder arbeitest du schon? Diese Frage spaltet die Behindertenbewegung. Na ja, manchmal. Ein bisschen. Beschäftigt sind Menschen mit Behinderungen ständig. Sie organisieren ihr Leben zwischen verschiedenen Amtsstuben der unterschiedlichen Leistungsgewährung. Sie lernen immer neue Gesetzesinterpretationen und deren Missachtung kennen. Sie qualifizieren sich als Antragstellerinnen und Antragsteller bzw. als Aktenarchivarinnen und Aktenarchivare. Und bleiben doch Bittsteller, Pfahlbürger vor den Toren des Arbeitsmarktes. Nicht erwünscht zur „Anschlussverwertung“. 27 Prozent aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber beschäftigen gar keine behinderten Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter. 34 Prozent kommen ihrer Beschäftigungspflicht nur teilweise nach. 61 Prozent verpflichteter Arbeitgeber verstoßen also tagtäglich gegen ein Gesetz. Ohne wirksame Sanktionen. Und das Ergebnis? Von 3 Millionen Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter sind fast 2 Millionen nicht bezahlt berufstätig. Diese Ausgrenzung diskriminiert. Das wollen wir, die Linke, mit unserem heute im Hohen Haus vorliegenden Antrag überwinden, und zwar nicht auf dem entwürdigenden Niveau prekärer Beschäftigung. Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderung ist doppelt so hoch wie unter denen ohne Handicap. Menschen mit Behinderung werden noch immer über Defizite definiert, genannt „Minderleistung“. Diese Zuschreibung teilen sie mit vielen älteren Menschen, mit Migrantinnen und Migranten sowie mit geringqualifizierten Frauen und Männern ohne Behinderung. Sie gelten als „Kostenfaktor“, gelegentlich gar als „Risiko für den Betriebsfrieden“, als zeitraubende Sonderlinge - nur nicht als Fachkräfte. Jüngstes Beispiel dafür: Das Ministerium unter Leitung von Frau von der Leyen startete vor wenigen Tagen eine Kampagne, genannt „Fachkräfteoffensive“. Sie richtet sich an potenzielle Fachkräfte und Unternehmen. Wen zählt die Fach-Ministerin dazu? Frauen, Migranten, die Generation 50 plus, Schul- und Hochschulabsolventen sowie internationale Fachkräfte. So, so: Wen vergaßen sie und ihre famosen Fach-Beamten wieder einmal? Ei der Daus, die Fachkräfte mit Behinderungen! Das ist uns jetzt aber peinlich. Nein, nein, selbstverständlich vergessen wir dieses Potenzial nie! Nur - leider - dieses eine Mal. Ganz aus Versehen. Und - na ja, vielleicht? - auch hier noch und da noch. Dabei konnten viele arbeitslose schwerbehinderte Menschen - nämlich 56 Prozent - unter großen Anstrengungen und mit sehr guten Ergebnissen ihre schulischen oder beruflichen Ausbildungen abschließen. Denn sie sind hochmotiviert. Was also ist die Botschaft Ihrer Kampagne an Menschen mit Handicap? Ihr gehört nicht dazu. Was ist die Botschaft an die Unternehmen? Es bleibt möglich, die gesetzliche Beschäftigungsquote zu unterlaufen. Was ist die Botschaft an die Öffentlichkeit? Fachkräfte dürfen nicht behindert sein. Die Linke will diesen Systemfehler beseitigen. Menschen mit Behinderungen brauchen keine „Sonderwelten“, dafür den Ausgleich individuell nicht beeinflussbarer Nachteile. Vor allem jedoch wollen wir Linken reale Schritte in eine inklusive Arbeitswelt: Nicht die Menschen müssen sich den Arbeitsplätzen anpassen, sondern Letztere sind auf die jeweiligen Fähigkeiten zuzuschneiden. Das ist neues Denken à la UN-Behindertenrechtskonvention. Deshalb fordern wir ein umfassendes Gesetzesscreening. Alle gesetzlichen Hindernisse für reguläre Erwerbsarbeit von Fachleuten mit Beeinträchtigungen müssen beseitigt werden. Vor allem fordern wir einen anderen gesetzlichen Blick: Barrierefreiheit als Gestaltungsprinzip der Arbeitsstättenverordnung, bezahlte Arbeitsassistenz und gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit ohne Reduzierung behinderungsbedingter Nachteilsausgleiche. Die Linke will die Situation von Menschen mit Behinderungen schnell verbessern. Deshalb muss die Beschäftigungsquote als Sofortmaßnahme wieder auf 6 Prozent und die Ausgleichsabgabe so angehoben werden, dass Nichtbeschäftigung von Betroffenen der Firma wehtut, nicht den Draußenbleibenden. Wer die Beschäftigungsquote übererfüllt, soll dagegen Vorteile haben, zum Beispiel auch steuerliche. Gern greifen wir den Vorschlag von Verdi auf, eine Ausbildungsquote und bei Zu Protokoll gegebene Reden Nichterfüllung eine Ausbildungsplatzabgabe für Jugendliche mit Behinderungen einzuführen. Wir wollen die Arbeitsagentur als einheitliche Anlauf- und Vermittlungsstelle mit hochqualifiziertem Personal sowie starke Integrationsfachdienste, die nicht nur vermitteln, sondern auch dauerhaft im Job begleiten. Und zwar nach dem Peer-Counseling-Ansatz: Betroffene beraten und begleiten Betroffene. Als Experten in eigener Sache brauchen sie Mitbestimmung, sowohl in Betriebsräten als auch in Schwerbehindertenvertretungen oder als Werkstatträte, gleichlautend verankert im Betriebsverfassungsgesetz, in der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung und im SGB IX. Es geht um Stimmrechte gegenüber der Geschäftsführung und um echte Verbandsklagerechte. Sie sollen auch dann klagen dürfen, wenn kein einzelner behinderter Mensch es wagt, Klage zu erheben. Werkstätten wollen wir weiterentwickeln. Zunächst in Richtung Integrationsunternehmen mit existenzsichernder Bezahlung und Mitbestimmung. Jede und jeder in der Werkstatt hat das Recht auf ein reguläres Arbeitsverhältnis mit tariflicher Entlohnung, nicht nur auf Außenarbeitsplätzen. Gegenwärtig erhalten Werkstattbeschäftigte jedoch nur ein Entgelt, oft in der Höhe von Almosen. Möglich macht das der „arbeitnehmerähnliche Status“. Er definiert sie nach völlig veralteten Kriterien als „Beschäftigte“. Und das sind keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Igitt! Aber genau das sollen sie werden. Selbstverständlich bei Beibehaltung erforderlicher Nachteilsausgleiche. Gegenwärtig wächst in den Werkstätten die Zahl derjenigen, die ausgebrannt vom sogenannten regulären Arbeitsmarkt wegen psychischer Probleme „aufgefangen“ oder über psychologische Gutachten der Arbeitsagenturen sogar hineingedrängt werden. Sie erbringen eine „wirtschaftlich verwertbare Leistung“, wie es diskriminierend heißt: Mehrfach schwerstbehinderte Menschen werden durch diese Bezeichnung aus der Werkstatt gedrängt. Ja, ich weiß: Viele sind froh, wenigstens in der Werkstatt tätig zu sein. Doch bleibt es für uns politische Aufgabe, zu verhindern, dass Menschen aus unabhängigen Lebensverhältnissen herausfallen, dass in sogenannten Normalarbeitsverhältnissen „Behinderung“ produziert wird. Dass sie in Sonderwelten abgeschoben werden, aus denen sie nicht mehr zurückkehren können. Die genaue Umkehrung entspräche der UN-Behindertenrechtskonvention. Deren Art. 27 fordert „das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.“ Eine solche inklusive Arbeitswelt wäre übrigens auch kostengünstiger als der Fürsorgeapparat. Dafür stellen wir unseren Antrag zur öffentlichen Diskussion: Arbeit erfüllt Teilhabe mit einem konkreten Sinn. Teilhaben heißt, sich seinen Teil nehmen und seinen Teil geben können. Jede und jeder ist fähig, kreativ zu sein, etwas hervorzubringen. Es geht deshalb erstens darum, von staatlichen Alimenten unabhängig zu sein. Dafür wollen und brauchen wir zweitens eine Wirtschaft, die Arbeit von den Fähigkeiten her denkt und diese entwickelt, statt sie zu verschleißen. Wir fordern gute Arbeit für jeden Menschen - und man kann selbst die geringste Arbeit gut machen. Wenn das Umfeld barrierefrei ist, Assistenz begleitend unterstützt und die Arbeitenden wirklich mitentscheiden. Lassen Sie uns endlich daran arbeiten. Wenn das stressfrei, fähigkeitsfördernd und armutsfest ist, können wir es gern ganz modern „Beschäftigung“ nennen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Menschen mit Behinderungen haben das Recht, ihren Lebensunterhalt in einem offenen und zugänglichen Arbeitsmarkt durch Arbeit zu verdienen. Doch das, was die meisten von uns wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, bleibt Menschen mit Unterstützungsbedarf oftmals verwehrt. Die Situation für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt ist weithin unbefriedigend. Das Ziel einer vorrangigen Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist nur in bescheidenem Umfang erreicht. Eine personenbezogene Förderung - etwa mit einem Budget für Arbeit - wird nur selten realisiert. Insbesondere Personen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf haben kaum eine echte Wahl: Ihr Weg in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen ist in vielen Fällen vorgezeichnet und erscheint Rehaträgern, Angehörigen und nicht selten den Betroffenen selbst schlichtweg einfacher als eine individualisierte Lösung. An individuellen Lösungen mangelt es jedoch nicht zuletzt aufgrund fehlender angepasster Arbeitsplätze am ersten Arbeitsmarkt - auch das gehört zur ganzen Wahrheit und lohnte eine eigene Parlamentsdebatte. Im Sinne einer Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes müssen alle Menschen mit Behinderungen - unabhängig von der Art oder Schwere ihrer Behinderung - in die Lage versetzt werden, selbst entscheiden zu können, in welcher Form sie am Arbeitsleben teilhaben möchten. Entscheidend ist, dass sie individuell gefördert und bei Bedarf nach dem Prinzip des Nachteilsausgleichs dauerhaft unterstützt werden. Das ist alles nicht neu, weder die Ziele noch die Ursachen für die Probleme. Und es gibt bereits eine große Zahl an Instrumenten und Regelungen, die der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt gegensteuern sollen: Lohnkostenzuschüsse, Hilfsmittel zur barrierefreien Gestaltung des Arbeitsplatzes oder Assistenten, die den Wunscharbeitsplatz möglich machen. Diese Instrumente zur Beschäftigungsförderung sind allerdings unübersichtlich. Menschen mit Behinderungen und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen zunächst viel Zeit und Mühe investieren, um sich über ihre Rechte und Pflichten zu informieren. Häufig finden sie keine kompetenten Ansprechpartner. Wir brauchen kein neues beschäftigungspolitisches Rahmenprogramm, wie es die Linksfraktion in ihrem Antrag fordert. Aber wir müssen dringend dauerhafte und bundesweit gültige Lösungen für die Teilhabe von MenZu Protokoll gegebene Reden schen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. Modellprojekte, die es nur in einigen Bundesländern gibt, und Lohnkostenzuschüsse, die nur temporär möglich sind, müssen verstetigt und damit verbindlich werden. Es gibt bereits gute Ansätze. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren nicht erkennen lassen, dass sie diese systematisch weiterentwickelt. Ich möchte auf zwei Modelle eingehen, bei denen Handlungsbedarf besteht: die Integrationsbetriebe und das sogenannte Budget für Arbeit. Integrationsfirmen sind ein wirklich gutes Modell für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt. In diesen Betrieben haben 25 bis 50 Prozent der Mitarbeiter eine erhebliche Schwerbehinderung. Die Unternehmen werden als Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarkts über Nachteilsausgleiche unterstützt. Diese Nachteilsausgleiche dienen nicht der Abdeckung unternehmerischer Risiken, sondern dem Ausgleich der betriebswirtschaftlichen Nachteile, die durch die besondere Zusammensetzung der Belegschaft entstehen. Die Betriebe bieten dauerhafte Arbeitsplätze zu tariflichen oder ortsüblichen Konditionen und erwirtschaften die zur Kostendeckung notwendigen Umsätze durch Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsleben. Heute beschäftigen etwa 700 Integrationsunternehmen rund 25 000 Personen, darunter 10 000 Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen und Leistungseinschränkungen. Die Finanzierung der Integrationsfirmen ist zunehmend unsicher. Die Mittel der Ausgleichsabgabe, die zur Finanzierung dienen, sind weitgehend ausgeschöpft. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsfirmen wäre die Beschäftigung weiterer 10 000 Menschen in Integrationsprojekten möglich, wenn eine entsprechende Finanzierung sichergestellt wäre. Hier müssen wir entsprechende Rahmenbedingungen schaffen! Es ist an der Zeit, neue Wege für die Finanzierung der Nachteilsausgleiche zu finden. Mit einer Ausgestaltung des § 16 e SGB II im Sinne einer nachhaltigen individuellen Förderung kämen wir hier beispielsweise einen deutlichen Schritt weiter. Aber auch die Länder sind bei der Entwicklung von Integrationsfirmen gefordert - nicht zuletzt mit finanziellen Beiträgen. Bundesweit vorbildhaft - und das seit vielen Jahren! - verhält sich jedoch nur das Bundesland Nordrhein-Westfalen, das mit Abstand die meisten Neugründungen von Integrationsbetrieben aufweist. Als zweiten Punkt möchte ich das Budget für Arbeit ansprechen: Das Persönliche Budget ist eine Form der Leistungserbringung, die zu mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen führen soll. Mit dem Budget waren viele Hoffnungen verbunden, von denen sich nicht alle erfüllt haben. So ist die Zahl insbesondere der trägerübergreifenden Budgets nach wie vor verschwindend gering. In Rheinland-Pfalz und in Niedersachsen gibt es das sogenannte Budget für Arbeit. In Niedersachsen können sich Menschen, die im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt sind, auf Antrag die bisherige Vergütung an den Werkstattträger als Persönliches Budget auszahlen lassen und sich Leistungen bei ihren Arbeitgebern kaufen, zum Beispiel in Form von Unterstützung oder als Lohnkostenzuschuss. Eine bundesweit gültige systematische Regelung gibt es bisher nicht. Um die Situation von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt zu verbessern, ist sie nötig. Wenn wir alleine die zuletzt von mir angesprochenen Schritte gingen, kämen wir bei der Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen ein gutes Stück voran.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung in die Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Das heißt, es ist so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Sportwetten - Drucksache 17/8494 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksachen 17/10112, 17/10168 - Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Dr. Barbara Höll Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.1) Au- ßerdem haben die Abgeordneten Frank Steffel, Stephan Mayer und Dieter Stier eine Erklärung gemäß § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Druck- sachen 17/10112 und 17/10168, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/8494 in der Ausschuss- fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- tung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz- entwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Wagner, Viola von Cramon-Taubadel, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 16 2) Anlage 12 Vizepräsidentin Petra Pau Am 40. Jahrestag des Olympiaattentates von 1972 der Opfer öffentlich gedenken - Drucksache 17/10109 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Wir nehmen die Reden zu Protokoll.

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten heute über Ereignisse, die - obwohl sie bereits 40 Jahre zurückliegen - uns allen, die damals Zeugen des terroristischen Anschlags und seiner dramatischen Folgen waren, noch sehr gut in Erinnerung sind. Wir diskutieren heute über den Angriff palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft während der Sommerspiele in München von 1972. Am frühen Morgen des 5. September verschafften sich acht Mitglieder der Terrororganisation „Schwarzer September“, bewaffnet mit Sturmgewehren und Handgranaten, Zugang zum Olympischen Dorf und nahmen elf Athleten der israelischen Mannschaft in ihre Gewalt. Zwei der Geiseln wurde bereits bei der Geiselnahme ermordet, die übrigen neun Geiseln, ein deutscher Polizist und fünf der Terroristen überlebten das Drama ebenfalls nicht. Bis zu dieser Tragödie standen die ersten Olympischen Spiele im Nachkriegsdeutschland unter dem Motto der „heiteren Spiele“. Die Sicherheitsbedingungen während der Spiele wurden ganz bewusst locker gehalten, um die positive Veränderung zu demonstrieren, die sich in Deutschland seit den letzten hier ausgerichteten Spielen von 1936 vollzogen hatte. Auch ich kann mich noch sehr gut an die äußerst positive Stimmung bei den Spielen und das friedliche Miteinander der Sportlerinnen und Sportler auf dem Gelände des Olympischen Dorfs erinnern. Als junger Sportler habe ich damals jede Gelegenheit genutzt, mich mit Gleichgesinnten auf dem Gelände auszutauschen und den olympischen Geist zu erleben. Es war ein einmaliges Erlebnis, das durch die abscheuliche Tat über all die Jahre und auch in Zukunft nie in einem Atemzug ohne die Tragödie mit ihren vielen unschuldigen Opfern genannt werden kann. Nach einer schier endlosen Hängepartie endete die Geiselnahme der israelischen Sportler bekanntermaßen in einem Fiasko. Während der missglückten Befreiungsaktion auf dem Gelände des Flughafens in Fürstenfeldbruck starben alle Geiseln, ein an der Schießerei unbeteiligter bayerischer Polizeibeamter und fünf der Terroristen. Insgesamt kamen im Olympischen Dorf und in Fürstenfeldbrück 17 Menschen ums Leben. Natürlich haben diese Ereignisse die Spiele in München 1972 und alle weiteren verändert. Obwohl zunächst fortgesetzt und erst später unterbrochen, ist allen damals Beteiligten klar gewesen, dass das Geiseldrama für immer ein Teil der Olympischen Spiele sein wird, egal, wo sie stattfinden. Nach einer sehr bewegenden Gedenkstunde im Münchner Olympiastadion sprach sich der damalige IOC-Präsident Avery Brundage für die Fortführung der Olympischen Spiele aus, was auch von der israelischen Regierung gebilligt wurde. Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, begründete die Entscheidung zur Fortsetzung der Spiele mit einem Satz, der - meiner Ansicht nach - auch heute noch nichts von seiner Gültigkeit verloren hat und den ich hier zitieren möchte: „Es ist schon so viel gemordet worden - wir wollten den Terroristen nicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.“ Es wäre aber rundweg falsch, die Fortführung der Olympischen Spiele als ein „Weiter wie bisher“ zu verstehen. Seit München 1972 werden auf internationaler und auf nationaler Ebene die Erinnerung und das Gedenken an die schrecklichen Ereignisse wachgehalten. So wird es traditionell auch bei den Olympischen Spielen in London in diesem Jahr eine offizielle Gedenkveranstaltung der israelischen Olympiadelegation geben, zu der der Präsident des IOC, Jacques Rogge, seine Teilnahme bereits zugesichert hat. Eine solche Gedenkveranstaltung hat es seit 1972 bei allen Olympischen Spielen gegeben. An dieser Veranstaltung hat seit 1976 für Deutschland ohne Ausnahme stets Walther Tröger, der ehemalige Bürgermeister des Olympischen Dorfs in München, teilgenommen. Dabei spielte und spielt es keine Rolle, ob ein besonderer Jahrestag des Attentats ansteht oder nicht, es geht um ein würdevolles Gedenken an die Opfer. Bezogen auf die nationalen Aktivitäten ist der Deutsche Olympische Sportbund Mitveranstalter der zentralen Gedenkveranstaltung in Fürstenfeldbruck am 5. September. Dort wird der Präsident des DOSB, Dr. Thomas Bach, der gleichzeitig IOC-Vizepräsident ist, in Vertretung von IOC-Präsident Jacques Rogge ebenso teilnehmen und sprechen wie Walther Tröger. Darüber hinaus ist eine Kranzniederlegung an der Gedenktafel im Olympischen Dorf in München geplant. Schließlich wird Walther Tröger den DOSB bei der Gedenkveranstaltung in Israel im September vertreten. Auch in der Vergangenheit hat der DOSB immer wieder der Opfer des Attentats gedacht. So übergab Dr. Thomas Bach im Juli 2009 während einer Gedenkveranstaltung im Olympischen Museum Israel ein Bild der Gedenkstätte für die Opfer in Fürstenfeldbruck und - in Anlehnung an jüdisches Brauchtum - einen Stein vom Grundstück des Appartements der israelischen Olympiamannschaft in München 1972. Sie sehen also: Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene wird der Opfer gedacht, unabhängig davon, ob nun ein besonderer Jahrestag ansteht oder nicht. Die Grundlage für unsere heutige Aussprache ist der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Am 40. Jahrestag des Olympiaattentates von 1972 der Opfer öffentlich gedenken“. Dieser zielt auf die wiederkehrende Forderung, sich bei den Sportorganisationen für ein öffentliches Gedenken der Opfer des Anschlags auf die israelische Mannschaft bei den Olym22586 pischen Spielen 1972 in München zu besonderen Jahrestagen einzusetzen. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden die zahlreichen von mir aufgeführten Aktivitäten des IOC, des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 2012 in London und vor allem des Deutschen Olympischen Sportbundes verkannt. Dies gilt auch hinsichtlich der diesjährigen Veranstaltungen während der Olympischen Spiele in London. Die Frage nach einer Schweigeminute im Rahmen der Eröffnungsfeier ist allerdings keine Erfindung der Grünen, sondern dieses Anliegen wurde im Vorfeld der Olympischen Spiele 2012 in London von verschiedenen Seiten an das IOC herangetragen. Neben dem kanadischen Außenminister haben unter anderem britische Parlamentarier, der Stadtrat von London und Mitglieder des amerikanischen Repräsentantenhauses diese Forderung aufgestellt. Die ablehnende Haltung bezüglich des Zeitpunkts während der Eröffnungsfeier selbst hat das IOC dabei stets in Abstimmung mit dem NOK Israels getroffen. Wie ich bereits aufgeführt habe, wird, wie schon bei allen zurückliegenden Olympischen Sommerspielen, den Opfern des schrecklichen Attentats auch in London im Rahmen einer gesonderten, würdigen Veranstaltung in Anwesenheit von IOC-Präsident Jacques Rogge gedacht. Weiter gehend muss ich der Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vorbereitung, Durchführung und der Folgen des Attentats entgegenhalten, dass zahlreiche Forschungsprogramme und Publikationen sich in den letzten 40 Jahren hiermit fundiert auseinandergesetzt haben. Dies bringt auch ohne staatliche Förderung, wie Sie es fordern, immer wieder neue Tatsachen zutage, wie wir alle kürzlich in einem Magazin nachlesen konnten, das herausgefunden hat, dass dem Bundesamt für Verfassungsschutz bereits vor den Spielen in München Hinweise vorlagen, dass die Terroristen Hilfe von deutschen Rechtsradikalen hatten. Daneben fördert auch die Deutsche Olympische Akademie entsprechende Forschungsvorhaben und verfügt zudem über zahlreiche Informations- und Ausstellungsmaterialien zur olympischen Geschichte und zum Attentat von München 1972. Diese finden laufend Verwendung, zum Beispiel bei Jugendlagern zu Olympischen Spielen und öffentlichen Veranstaltungen des DOSB und werden auch von externen Partnern häufig angefragt. Der Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bezüglich einer Wanderausstellung zum Olympiaattentat von 1972 wird folglich bereits seit längerer Zeit entsprochen. Uns allen ist klar, dass auch 40 Jahre nach den Olympischen Spielen von München die menschenverachtende Tat einiger Terroristen noch immer sehr präsent ist und wir alle der unschuldigen Opfer gedenken. Dies ist in der Vergangenheit geschehen, und es wird auch bei den Spielen in London, die in einigen Wochen beginnen, geschehen. Eine Bewertung darüber, wie würdevoll eine Gedenkveranstaltung sein muss, halte ich jedoch für falsch, geht es doch dabei um die Opfer und das ganz persönliche Gedenken an sie. Wir halten die vom IOC und vom DOSB in der Vergangenheit und für London 2012 vorgesehenen Gedenkveranstaltungen für sehr würdig und sehen die Gefahr, dass diese durch die Forderung nach einer Gedenkminute während der Eröffnungsfeier ins Hintertreffen geraten könnten. Wichtig ist hier auch ein anderer Aspekt, der mit hineinspielt, nämlich die Autonomie des Sports. Diese sehe ich in diesem Fall als zumindest gefährdet an. Es ist nicht an der Politik, den unabhängigen Organisationen des Sports Ratschläge zu geben, wie sie mit dem Gedenken an dieses schreckliche Ereignis umzugehen haben. Zusammengenommen halte ich die Forderung nach einer Schweigeminute während der Eröffnungsfeier folglich für falsch, und daher können wir uns Ihrer Forderung auch nicht anschließen. Diese ablehnende Haltung möchte ich zum Ende meiner Ausführungen nochmals mit der Aussage unterstreichen, dass wir uns an die Opfer des schrecklichen Attentats nicht nur zu besonderen Jahrestagen erinnern sollten, sondern dass sie uns eine Mahnung für friedliches Zusammenleben sind und wir ihrer in Würde gedenken.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

1965 teilte der damalige Vorsitzende des Nationalen Olympischen Komitees, Willi Daume, dem damaligen Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel mit, dass er München zum Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 1972 machen wolle. Die Entscheidung für München fiel im April 1966. Nach der großen Propaganda-Schau von 1936 in Berlin war Deutschland damit zum zweiten Mal Ausrichter der Olympischen Sommerspiele. Unter dem Motto „Heitere Spiele im Grünen“ wollten die Organisatoren der Welt das neue, weltoffene und tolerante Deutschland präsentieren. Die Voraussetzungen für ein großes Völkerfest waren gegeben. Die Sportstätten, die Athleten, das Wetter, die Stimmung, alles war nahezu perfekt, um „München 1972“ zu unvergesslichen Spielen zu machen. Leider wurden aber diese Spiele vor 40 Jahren auf tragische Weise unvergesslich. Am Morgen des 5. September 1972 stürmten acht Personen das Quartier der israelischen Olympiamannschaft. Die Männer, die sich als palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer September“ ausgaben, erschossen noch in der Unterkunft einen israelischen Ringer und einen israelischen Gewichtheber, die sich gegen die Eindringlinge wehren wollten. Weitere neun Sportler wurden als Geiseln genommen. Die Terroristen wollten mit ihrem Anschlag die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen und von zwei deutschen Terroristen erpressen. Das Geiseldrama fand seinen tragischen Höhepunkt auf dem Luftwaffenstützpunkt Fürstenfeldbruck. Scharfschützen sollten die Terroristen auf dem Weg zum Flugzeug erschießen; doch dieses Vorhaben missglückte. InsZu Protokoll gegebene Reden gesamt starben elf Geiseln, ein deutscher Polizist und fünf Terroristen. Inzwischen gibt es neue Erkenntnisse über das Attentat. Die Terrorgruppe „Schwarzer September“ soll von deutschen Neonazis unterstützt worden sein. Dieses, so „Der Spiegel“, gehe aus Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz hervor. Offensichtlich soll die Dortmunder Polizei sieben Wochen vor dem Attentat das Bundesamt für Verfassungsschutz informiert haben, dass ein Mann „arabischen Aussehens“ sich konspirativ mit einem deutschen Neonazi getroffen habe. Doch scheinbar ist durch die informierten Behörden nichts unternommen worden, um den Drahtzieher des Attentats an seinem Plan zu hindern. Diese Vorgänge müssen aufgeklärt werden. Dieses Jahr jährt sich das grausame Attentat von München zum 40. Mal. Aus diesem Anlass finden in Deutschland zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt. Das ist auch gut und richtig. Mit ihrem Antrag fordern Bündnis 90/Die Grünen ein öffentliches Gedenken an die Opfer des Anschlags auf die israelische Mannschaft bei den XXX. Olympischen Spielen in London. Auch viele andere Politikerinnen und Politiker fordern eine Schweigeminute während des protokollarischen Teils der Olympischen Spiele in London. Dazu gehören der belgische Sportminister, die australische Premierministerin, britische Parlamentarier, Mitglieder des amerikanischen Repräsentantenhauses, das kanadische Parlament und viele weitere. Bisher lehnt aber der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Jacques Rogge, ein solches Gedenken ab. Bei einem solchen Gedenken geht es nicht darum, für irgendein Land Position zu beziehen. Es geht um das Gedenken an die Opfer eines Attentates und um das Gedenken an den Angriff auf den olympischen Gedanken. Bündnis 90/Die Grünen haben sich in dem vorliegenden Antrag das Anliegen, eine Schweigeminute bei der Eröffnungsfeier in London abzuhalten, zu eigen gemacht. Wir unterstützen das. Problematisch ist das kurzfristige Einbringen des Antrags, der durchaus überfraktionelle Unterstützung gefunden hätte, womit mehr Nachdruck möglich gewesen wäre. Wenn dieser Antrag heute an die Ausschüsse überwiesen wird, dann kann er frühestens im Oktober im Plenum beschlossen werden. Dann sind aber die Olympischen Spiele in London schon vorbei. Von daher wäre es vernünftig gewesen, den Antrag entweder früher einzubringen oder sofort abstimmen zu lassen. Schade; denn das Anliegen ist gut. Der Antrag beinhaltet aber noch zwei weitere Forderungen: Zum einen sollen die Vorbereitung, die Durchführung und die Folgen des Attentates wissenschaftlich aufgearbeitet und dafür ausreichende Bundesmittel zur Verfügung gestellt werden. Nach 40 Jahren ist es notwendig, dass dieses schwarze Kapitel in der jüngeren deutschen Geschichte aufgeklärt wird und die Ergebnisse veröffentlicht werden. Zum anderen soll die Wanderausstellung zum Olympiaattentat während der Olympischen Spiele in London in öffentlichen Einrichtungen gezeigt werden. Auch dieses Anliegen halten wir für richtig, würden es aber darüber hinaus begrüßen, wenn diese Ausstellung auch nach London 2012 öffentlich gezeigt werden würde. Meine Fraktion und ich unterstützen die Anliegen in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Leider kommt er aber zu spät, um noch vor den Olympischen Spielen beschlossen zu werden.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit Schrecken erinnern wir uns an den 5. September 1972. Der Begriff Olympia wird auf ewig auch mit dem Olympiaattentat von München verbunden bleiben. Bei dem Angriff auf die israelischen Olympiateilnehmer und der darauffolgenden Geiselnahme, die ein schreckliches Ende fand, starben elf israelische Geiseln und ein Polizist, zwölf Opfer, die wir noch heute betrauern. 2012 jährt sich dieser traurige Tag zum 40. Mal. Doch woran denken wir am 40. Jahrestag dieses erschütternden Ereignisses? Wir gedenken der Opfer. Befreundete Sportler aus Israel kamen zu uns, um sich im fairen Wettstreit mit all den anderen Teilnehmern aus aller Herren Länder zu messen und Freundschaften zu schließen. Es sollte unbeschwert sein, ein Zeichen für die Überwindung der Vergangenheit und einen neuen Anfang in den Beziehungen zwischen unseren Ländern. Stattdessen ließen sie ihr Leben wegen eines feigen und hinterhältigen Anschlags. Wir denken an ein Olympia, das sich durch diesen grausamen und hinterlistigen Überfall nicht hat brechen lassen. Als pietätlos oder gar herzlos betrachteten einige die damalige Entscheidung, die Spiele fortzuführen. Doch was wäre die Alternative gewesen? Die Spiele beenden und sie nie wieder stattfinden lassen? Was wäre das für ein Signal gewesen für all diejenigen, die glauben, andere durch rohe Gewalt „überzeugen“ zu können? Es wäre ein Sieg für die falsche Seite gewesen. Es wäre für Terroristen und gewaltbereite Ideologen ein sicheres Zeichen gewesen, dass sie mit ihren Taten die ganze Welt ihrem Willen unterwerfen können. Das wollte man nicht zulassen. Und wir wollen es auch heute nicht. Olympia soll ein Ort des Sports bleiben. Deshalb unterstützen wir die Bemühungen des IOC, die Politik, so weit dies möglich ist, von den sportlichen Wettkämpfen fernzuhalten. Wir verstehen das Bedürfnis, angesichts des 40. Jahrestags des Attentats von München der Opfer zu gedenken. Diesem wird aus unserer Sicht aber bereits durch die zahlreichen Gedenkveranstaltungen innerhalb und außerhalb der Organisation der Olympischen Spiele in London Rechnung getragen. Auch besteht kein Anlass zu der Annahme, das IOC würde das Gedenken an die Opfer des 5. September 1972 nicht wahren. Ausdruck dessen ist die Tatsache, dass IOC-Präsident Jacques Rogge selbst an der Zu Protokoll gegebene Reden Joachim Günther ({0}) Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer von 1972 in Guildhall teilnehmen wird. Darüber hinaus sehen wir keinen Anlass, Mittel aus dem Bundeshaushalt für eine vermeintliche Aufarbeitung des Anschlags von München bereitzustellen. Über das Attentat von 1972 gibt es zahlreiche Publikationen und Dokumentarfilme. Wer aufseiten der Kollegen der Grünen noch Wissenslücken hat, nehme bitte ein Geschichtsbuch zur Hand.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn am 27. Juli 2012 die Eröffnungsfeier für die 30. Olympischen Sommerspiele in London beginnt, wird das für Menschen auf der ganzen Welt ein Tag der Freude sein. Sportbegeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer freuen sich auf diesen sportlichen Höhepunkt und werden ihn entweder direkt vor Ort oder am Fernseher erleben. Sportlerinnen und Sportler, die sich über einen langen Zeitraum auf dieses Ereignis vorbereitet haben, fiebern den Wettkämpfen entgegen. Für viele von ihnen ist eine Teilnahme an Olympischen Spielen die Krönung ihrer sportlichen Laufbahn. Wenn man an Olympische Spiele denkt, hat man zuerst jubelnde Sportlerinnen und Sportler im Kopf, man sieht die applaudierende Zuschauermenge und überall Lachen oder Freudentränen in den Gesichtern. Leider gibt es nicht nur gute Erinnerungen. Die Erinnerung an die Olympischen Spiele ist auf schmerzhafte Weise auch mit einem der tragischsten Momente in der Geschichte des Sports verbunden. Bei den Olympischen Spielen 1972 in München drangen nach zehn Tagen heiterer Spiele palästinensische Terroristen in das Olympische Dorf ein, verletzten zwei israelische Sportler tödlich und nahmen neun weitere Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln. Dramatische Stunden begannen und fanden ihren traurigen Höhepunkt am Flugplatz Fürstenfeldbruck. Alle neun Geiseln wurden bei einem gescheiterten Befreiungsversuch getötet, und auch ein bayerischer Polizeiobermeister sowie fünf der acht Terroristen kamen dabei ums Leben. Am 5. September dieses Jahres ist der 40. Jahrestag des Olympiaattentats von 1972. 40 Jahre sind eine lange Zeit, und für einige mag dieses Verbrechen in die Ferne gerückt sein. Einige werden der Meinung sein, dass dieser Anschlag allein der israelischen Mannschaft galt. Ich sehe das anders! Die Opfer, deren Familienangehörigen und Freunden ich auch heute mein ehrliches Mitgefühl aussprechen möchte, waren zwar Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft, aber es gab eben auch einen Polizeibeamten, der an der Schießerei selbst unbeteiligt war und durch den Terror sein Leben verloren hat. Terror geht uns alle an! Terror ist nicht nur eine Bedrohung für das Leben und die Gesundheit vieler Menschen, sondern er gefährdet auch die grundlegenden Werte des menschlichen Zusammenlebens wie Freundschaft, Respekt und Achtung voreinander. Diese Werte sind auch dem Sport immanent. Dieser Terrorakt muss als Anschlag auf die Olympischen Spiele selbst und die dadurch verkörperten Werte verstanden werden. Die Terroristen haben gezielt dieses große Ereignis mit über 100 teilnehmenden Nationen ausgewählt und für ihre politischen Zwecke missbraucht. Einer der ursprünglichen Werte der Olympischen Spiele ist die Idee des olympischen Friedens. In der Antike bedeutete dies eine Waffenruhe während der Zeit der Spiele und eine Sicherheitsgarantie für die An- und Abreise. Auch in der Neuzeit gilt dieser Gedanke natürlich fort. Die Olympischen Spiele sollen ein Ort der friedlichen Begegnung und der Möglichkeit des Dialogs zwischen den verschiedenen Nationen sein. Dieser Gedanke des olympischen Friedens wurde durch das Attentat von 1972 empfindlich gestört. Ich begrüße den vorliegenden Antrag; denn es ist wichtig, dass man an dieses Ereignis erinnert, egal wie viel Zeit vergangen ist. Der Terror ist nach wie vor allgegenwärtig in der Welt. Umso wichtiger ist es, an diese tragischen Momente zu erinnern und diese Erinnerung mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. Eine nationale Gedenkfeier am Rande der diesjährigen Olympischen Spiele in London ist meines Erachtens nicht ausreichend. Wer die Augen vor der Vergangenheit verschließt, wird auch blind für die Zukunft und verkennt dadurch vielleicht die Gefahren, die auch heute noch bestehen. Das Attentat bei den Olympischen Spielen 1972 ist das Ground Zero des Sports! Die historische Aufarbeitung des Attentats steckt noch in den Kinderschuhen und sollte umfassend vorangetrieben werden, auch mit Unterstützung des Bundes. Eine akribische Aufarbeitung der Ereignisse ist ebenso wichtig wie das öffentliche Gedenken. Es ist wichtig, zu wissen, mit wem die Terroristen zusammengearbeitet haben und von wem sie unterstützt wurden. In diesem Bereich besteht großer Handlungsbedarf. Eine erste Sichtung der alten Dokumente belegt, dass die Terroristen damals mit Neonazis kooperierten und der Verfassungsschutz davon hätte Kenntnis haben können. Aktuell haben wir in Deutschland vergleichbare Probleme. Die rechte Terrorzelle NSU konnte über Jahre hinweg unbehelligt Menschen töten, und keiner will es bemerkt haben. Sie sehen, der Terror ist mitten unter uns! Aus diesem Grund ist es wichtig, daran zu erinnern. Die Erinnerung ist auch eine Mahnung, dass der Terror angesichts der vielen ungelösten Konflikte und des Hasses in der Welt nichts an Aktualität verloren hat und immer noch eine große Gefahr darstellt. Ein öffentliches Gedenken an das Attentat von 1972 ist aber auch ein Zeichen an die, die den Terror verbreiten und als Mittel missbrauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Es ist ein Zeichen, dass die Werte wie Freundschaft, Frieden, Respekt und Achtung voreinander immer noch gelten und dass man sich auch von Terror nicht unterkriegen lässt. Die olympische Familie ist größer geworden, und vermutlich werden über 200 Nationen bei den diesjährigen Olympischen Spielen dabei sein. Ich hoffe auf friedliche Spiele, mit viel Freude und sportlichen Höhepunkten; aber ich hoffe auch, dass man die tragischen Erinnerungen nicht außen vor lässt und ihrer in einem angemessenen Rahmen gedenkt. Eine Schweigeminute wäre keine Gefahr für die olympische Einheit, sondern vielmehr ein Zeichen von GeschlossenZu Protokoll gegebene Reden heit. Es wäre ein Symbol, das man gemeinsam gegen Hass, Gewalt und Terrorismus eintritt.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir zum einen an das schreckliche Attentat auf die israelische Olympiamannschaft in München und Fürstenfeldbruck erinnern, das sich am 5. September 2012 zum 40. Mal jährt. Zum anderen fordern wir in diesem Antrag die Bundesregierung dazu auf, sich aktiver an einer Aufarbeitung - und zwar einer öffentlichen Aufarbeitung - des Attentats zu beteiligen. Lassen Sie mich zunächst kurz rekapitulieren, was damals geschah. „Heitere Spiele“ sollten es werden im Jahr 1972. Nach dem Ende des Nationalsozialismus wollte sich Deutschland als tolerant und fröhlich der internationalen Öffentlichkeit präsentieren und erstmals seit 1936 wieder die Sportelite aus aller Welt einladen. Es hätte nicht schlimmer kommen können: Am frühen Morgen des 5. September stürmt die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September schwer bewaffnet ins israelische Quartier im Olympischen Dorf und nimmt Athleten und Betreuer als Geiseln. Einige Athleten können sich in letzter Minute retten und flüchten über Balkongeländer in die Freiheit. Zwei Athleten sterben noch im Quartier, die anderen neun Mitglieder des israelischen Teams kommen in einer missglückten Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck ums Leben. Auch ein Polizist wird während der Schießerei mit den Geiselnehmern tödlich verwundet, ein weiterer wird schwer verletzt. Fünf der acht palästinensischen Attentäter sterben. Wenig später dann die Wiedereröffnung der Spiele mit den Worten „The games must go on“. Die Trauer und das Leid, das dem israelischen Team und den Angehörigen der Opfer zugefügt wurde, sind nicht in Worte zu fassen. Die dramatischen Ereignisse von 1972 haben die internationale Öffentlichkeit schockiert und sind zum Trauma vieler Zeitzeugen geworden. Nicht vergessen werden dürfen auch diejenigen, die der Geiselnahme damals knapp entgehen konnten. Ihnen und allen anderen Opfern gebührt unser Respekt und unser Mitgefühl. Viel ist spekuliert worden über die Hintergründe der Tat, ihre Drahtzieher und die Entwicklungen im internationalen Terrorismus. Seit 1999 läuft ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München wegen der Verbindungen zwischen dem damaligen Drahtzieher Mohammed Daoud Oudeh alias Abu Daoud und dem deutschen Neonazi Willi Pohl. Die Bundesregierung hat bisher keine Veranlassung gesehen, daraus irgendwelche Schlüsse für eine öffentliche Aufarbeitung des Falls zu ziehen. Das sehen wir anders. Deutschland steht als Ausrichterland der Olympischen Spiele von 1972 und durch Verstrickungen von deutschen Staatsbürgern in das Attentat gleich in mehrfacher Weise in der Verantwortung, sich für eine öffentlichkeitswirksame Gedenkveranstaltung einzusetzen. Wenn Ende Juli in London die Olympischen Sommerspiele eröffnet werden, wird es nach dem Willen des Internationalen Olympischen Komitees, IOC, keinen Raum für eine Erinnerung an das Attentat geben. Die Entscheidung, stattdessen eine Zeremonie in der Guildhall zu veranstalten, wird der Bedeutung des Datums nicht gerecht. Dieser Ansicht sind die Hinterbliebenen der Opfer - und ihre Meinung verdient zunächst allgemeine Aufmerksamkeit. Hinzu kommen zahlreiche weitere Stimmen aus Israel und aller Welt, darunter auch von Vertreterinnen und Vertretern von nationalen Parlamenten und Regierungen. Diese Woche erst hat Außenminister Westerwelle sich endlich mit einem Brief an IOC-Präsident Jacques Rogge gewandt und sich für eine Schweigeminute ausgesprochen. Ob Herr Westerwelle vorher unseren Antrag gelesen hat, vermag ich nicht zu beurteilen. In jedem Fall begrüßen wir seinen Vorstoß ausdrücklich. Das reicht aber noch nicht: Wir fordern die Bundesregierung auf, sich weiterhin beim Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, und beim IOC für eine öffentliche Gedenkveranstaltung im Rahmen der Spiele selbst auszusprechen und sich darüber hinaus engagiert hierfür einzusetzen. Denn nur die Spiele selbst sind der würdige Ort für ein Gedenken. Auch die Bundesregierung kann und soll für die Aufarbeitung in Deutschland mehr tun als bisher. Wir fordern daher, die wissenschaftliche Aufarbeitung finanziell zu unterstützen sowie die Ereignisse einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Nach Ende der Sperrfristen ist es jetzt prinzipiell möglich geworden, Einsicht in wichtige Dokumente in Zusammenhang mit dem Attentat zu erhalten. Diese Chance für Transparenz müssen wir nun nutzen. Leider hält sich die Bundesregierung bei der Aufarbeitung jedoch stark zurück. Impulse setzen dagegen andere: Mit großer Mühe haben die Verantwortlichen im Landkreis Fürstenfeldbruck Finanzierungspartner aus Sport und Wirtschaft für eine geplante Ausstellung zum Thema gewinnen können. Doch nach jetziger Einschätzung fehlen hier noch immer 14 000 Euro der insgesamt benötigten 95 000 Euro, um das Projekt zu finanzieren. Das ist für den Bund, der bisher kein Geld zuschießt, sicherlich ein kleiner Betrag, doch für die Ausstellungsmacher überlebenswichtig. Außerdem, auch das fordern wir in unserem Antrag, soll der Bund Räumlichkeiten in Berlin und anderswo für die Ausstellung zur Verfügung stellen. Damit würde er ein Zeichen setzen und sicherstellen, dass das Thema auch nach den Spielen von London im Gedächtnis der Öffentlichkeit bleibt. Die bisherige Zurückhaltung des Bundes in dieser Angelegenheit ist peinlich. Lassen Sie mich zum Schluss kurz auf einen möglichen Grund eingehen, der das IOC bisher davon abgehalten haben könnte, dem Gedenken einen prominenteren Ort zu geben. Es steht seitens der Presse die Vermutung im Raum, dass Herr Rogge deswegen auf ein öffentliches Gedenken bei der Eröffnungszeremonie verzichtet, weil er Bedenken arabischer Teilnehmerstaaten dagegen befürchtet. Ein solcher Grund wäre überhaupt nicht nachvollziehbar und würde zudem ein falsches Licht auf das Anliegen werfen. Es geht hier um ein ZeiZu Protokoll gegebene Reden chen des Gedenkens an die Opfer und nicht um Beschuldigungen. Ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10109 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tagesordnung ist erschöpft. Ich hoffe nicht, dass Sie das auch sind. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. Juni 2012, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.