Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Ich habe Ihnen einige Mitteilungen zu machen, bevor
wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten.
In den zurückliegenden Tagen haben eine Reihe von
Kollegen ihren Geburtstag gefeiert. Besonders erwähnenswert ist, dass der Kollege Wolfgang Zöller seinen
70. Geburtstag, die Kollegen Werner Dreibus und
Dr. Rainer Stinner ihren 65. und die Kollegin
Marieluise Beck ihren 60. Geburtstag hatten.
({0})
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen herzlich und wünsche alles Gute für das neue Lebensjahr.
Die Kollegin Ingrid Nestle hat mit Wirkung vom
18. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist der Kollege Arfst Wagner
nachgerückt.
({1})
Der Kollege Michael Groschek hat mit Wirkung vom
21. Juni 2012 ebenfalls auf seine Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist der Kollege
Wolfgang Hellmich nachgerückt.
({2})
Auch Sie beide begrüße ich herzlich. Wir freuen uns auf
eine gute Zusammenarbeit.
Schließlich müssen wir vor Eintritt in unsere Tagesordnung noch eine Reihe von Wahlen durchführen.
Als Mitglied des Stiftungsrats der „Treuhänderischen Stiftung zur Unterstützung besonderer Härtefälle in der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“
schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen ErnstReinhard Beck und die Fraktion der SPD den Kollegen
Ullrich Meßmer vor. Sind Sie damit einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen
Beck und Meßmer als Mitglieder des Stiftungsrats der
Härtefallstiftung gewählt.
Die Fraktion der SPD schlägt des Weiteren vor, den
Kollegen Lothar Binding als Nachfolger für die als
stellvertretendes Mitglied aus dem Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes ausgeschiedene Kollegin Nicolette Kressl zu wählen. Können
Sie sich auch damit anfreunden? - Das sieht so aus.
Dann ist das so vereinbart. Damit ist der Kollege
Binding als stellvertretendes Mitglied des Gemeinsamen
Ausschusses gewählt.
Schließlich schlägt die Fraktion der SPD vor, für die
auch aus dem Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsgesetzes ausgeschiedene Kollegin Nicolette
Kressl die Kollegin Petra Hinz ({3}) als Nachfolgerin
zu berufen. Dazu darf ich Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall. Damit ist Petra Hinz als Mitglied
dieses Gremiums gewählt.
Der Kollege Dr. Peter Tauber hat sein Schriftführeramt niedergelegt.
({4})
- Ich teile das Bedauern und das erkennbare Unverständnis ausdrücklich, nehme die Entscheidung aber als
unabänderlich zur Kenntnis. Immerhin gibt es einen
Nachfolgevorschlag.
({5})
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt den Kollegen
Dr. Thomas Feist vor.
({6})
- Das sieht mir nach Akklamation aus. - Ich habe den
Eindruck, dass Sie alle damit einverstanden sind. Damit
ist der Kollege Dr. Thomas Feist gewählt.
Es geht weiter mit den Hiobsnachrichten.
({7})
Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass die Kollegin Petra
Müller ebenfalls ihr Schriftführeramt niedergelegt hat.
({8})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Das muss ich fast für persönliche Misstrauenserklärungen halten. Für sie wird der Kollege Manfred
Todtenhausen als neuer Schriftführer benannt.
({9})
Sind Sie mit den Vorschlägen einverstanden? - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die beiden Kollegen damit als neue Schriftführer gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 28./29. Juni 2012 in
Brüssel
({10})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Forderung von SPD und Grünen zu Tempo 30
in Städten
({11})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 51
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/10087 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({12})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({13}), Marieluise Beck ({14}), Tom
Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij
- Drucksache 17/10111 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({16})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Beschaffung unbemannter Systeme überprüfen
- Drucksache 17/9414 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({18})
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({19})
Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme
- Drucksache 17/6904 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({20})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 52
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({21}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Lisa
Paus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Ein starker Haushalt für ein ökologisches und
solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020
- Drucksachen 17/7952, 17/10081 Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Kudla
Michael Roth ({22})
Joachim Spatz
Dr. Diether Dehm
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({23})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Gesetze zu Fiskalvertrag und Europäischem Stabilitätsmechanismus ({24})
- Drucksache 17/10149 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 453 zu Petitionen
- Drucksache 17/10134 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 454 zu Petitionen
- Drucksache 17/10135 -
Präsident Dr. Norbert Lammert
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 455 zu Petitionen
- Drucksache 17/10136 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 456 zu Petitionen
- Drucksache 17/10137 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 457 zu Petitionen
- Drucksache 17/10138 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 458 zu Petitionen
- Drucksache 17/10139 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 459 zu Petitionen
- Drucksache 17/10140 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 460 zu Petitionen
- Drucksache 17/10141 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 461 zu Petitionen
- Drucksache 17/10142 -
l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 462 zu Petitionen
- Drucksache 17/10143 ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({35}) zu dem Gesetz zur Demonstration und Anwendung von Technologien
zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid
- Drucksachen 17/5750, 17/6264, 17/6507,
17/7240, 17/7543, 17/10101 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({36})
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({37}) zu dem Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren
der außergerichtlichen Konfliktbeilegung
- Drucksachen 17/5335, 17/5496, 17/8058,
17/8680, 17/10102 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({38}) zu dem Gesetz zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer
Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien
- Drucksachen 17/8877, 17/9152, 17/9643,
17/10103 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Grosse-Brömer
ZP 8 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Korruption im Gesundheitswesen bekämpfen - Konsequenzen aus dem BGH-Urteil ziehen
ZP 9 Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Sportwetten
- Drucksache 17/8494 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({39})
- Drucksachen 17/10112, 17/10168 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Dr. Barbara Höll
ZP 10 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zur Schaffung einer Stabilitätsunion
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 22, 42,
50 h, 50 i, 51 h und 52 h abgesetzt. Sie wissen sicher,
worum es sich handelt. Darüber hinaus kommt es zu den
in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Speaker der Knesset, des israelischen
Parlaments, Reuven Rivlin, mit seiner Delegation
Platz genommen.
({40})
Ich begrüße Sie, Mister Speaker, lieber Kollege Rivlin,
ganz herzlich hier im Deutschen Bundestag. Ich bin zuversichtlich, dass Sie aus den zahlreichen Gesprächen,
die Sie bei Ihrem Besuch in Berlin bereits geführt haben
und weiter führen werden, den Eindruck einer tiefen
Verbindung zwischen unseren beiden Ländern mit nach
Präsident Dr. Norbert Lammert
Hause nehmen, den Eindruck einer gefestigten Partnerschaft und einer, wenn es sein muss, kritischen Solidarität, wie es sich zwischen funktionierenden Demokratien
gehört. Herzlich Willkommen in Deutschland und alles
Gute!
({41})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 a bis d auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes
({42})
- Drucksache 17/9917 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({43})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld
- Drucksache 17/9572 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({44})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Betreuungsgeld nicht einführen - Öffentliche
Kinderbetreuung ausbauen
- Drucksache 17/9582 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({45})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahlfreiheit gewährleisten, Kindertagesbetreuung ausbauen
- Drucksache 17/9929 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({46})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
({47})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,
dass wir heute diesen wichtigen Gesetzentwurf da diskutieren dürfen, wo er hingehört, nämlich im Plenum des
Deutschen Bundestages.
Wir müssen uns die Frage stellen: Worin besteht gute
Familienpolitik, und was ist unsere Aufgabe als verantwortungsvolle und vor allem verantwortliche Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker? Ist es unsere Aufgabe, Eltern vorzuschreiben, welches Modell sie zu
leben haben, um dann über die Steuergelder unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger einen finanziellen Vorteil zu
bekommen? Oder ist es richtig, die Super-Nanny spielen
zu wollen, die den Eltern sagt: „Brav! Dieses eine ist das
richtige Modell im Jahr 2012. Ihr lebt ein falsches Modell, und deswegen erhaltet ihr als Umerziehungsmaßnahme nichts“?
Ich würde mich freuen, wenn wir alle uns einmal bei
uns, in unserem Land, umschauen würden, wenn wir die
Augen öffnen und sehen würden, welch bunte Mischung
an Familien wir haben. Es gibt nicht die Einheitsfamilie
in Deutschland. Ich denke, da sind wir uns alle einig.
Wenn wir uns alle einig sind, dass es in Deutschland
nicht die Einheitsfamilie gibt, dann frage ich mich, warum man eine Einheitslösung, ein Einheitsmodell in diesem Lande möchte.
({0})
Ich freue mich, dass wir die Gelegenheit haben, heute
darüber zu diskutieren. Ich freue mich auch, dass wir den
Eltern, die Modelle leben wollen, die Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, nicht goutieren, sagen
können, dass auch ihr Lebensentwurf von uns eine Wertschätzung erhält.
Wir haben in den letzten Monaten viel Kontroverses
über die Betreuung von Kleinkindern gehört: dass kleine
Kinder angeblich jetzt bräuchten, was sie die letzten
Jahrzehnte vielleicht nicht gebraucht haben. Aber mir
kommt in der Diskussion eines viel zu kurz: Es mischen
sich zwar diejenigen ein, die sagen, dass aus Arbeitgebersicht das und das wichtig ist, aus einer anderen Sicht
das und das wichtig ist, aber es wird wenig geschaut,
was eigentlich diese Kinder brauchen. Wenn ich von
„Kindern“ spreche, müssen wir uns genau anschauen,
über welche Kinder wir sprechen. Es geht um einen ganz
fragilen Zeitraum. Es geht, anders als oft suggeriert
wird, nicht um Kindergartenkinder. Gestern hat wieder
irgendjemand gesagt - ich glaube, es war sogar im BlogPost von Herrn Özdemir -, es gehe um Kindergartenkinder.
({1})
Ich denke, es ist immer noch nicht verstanden worden,
dass es nicht um Drei- bis Sechsjährige geht, sondern um
diejenigen, die 12 oder 24 oder maximal 36 Monate alt
sind.
Jedes Kind ist anders, und deswegen gibt es nicht die
eine Betreuungsform, die für jedes Kind gleich geeignet
ist. Deswegen gibt es auch nicht die eine Antwort. Viele
sogenannte Experten veröffentlichen Studien noch und
nöcher. Unser ehemaliger Ministerpräsident hat einmal
so schön gesagt: Zeig mir deinen Professor, dann zeige
ich dir meinen Professor. - Deswegen muss man sich
diese Studien ganz genau anschauen. Aber kaum jemand
verlässt sich auf die wirklichen Experten bei diesem
Thema. Für mich wären das in erster Linie die Kinder
selber, so sie in dem Alter denn schon sprechen könnten.
Aber die wirklichen Experten, die wissen, was das Beste
für ihr Kind ist, sind selbstverständlich die Eltern.
({2})
Eine deutliche Mehrheit - ich sage das aus voller
Überzeugung - der Eltern in unserem Lande wünscht
sich für die unter Dreijährigen immer noch eine Alternative zur Krippenbetreuung. Die Eltern wünschen sich,
die Kinder selbst zu betreuen bzw. eine individuelle
Form der Betreuung zu wählen, die ihren Bedürfnissen
entspricht. Es wird immer so dargestellt, als gäbe es in
diesem Land nur zwei Betreuungsmodelle. Die eine
Form ist - ich überspitze es einmal -, dass die Eltern die
Kinder vom Kreißsaal direkt in die Krippe geben. Die
andere Form ist, dass Eltern sich 18 Jahre lang zu Hause
selbst um die Kinder kümmern. Das Gegenteil ist doch
der Fall: Erstens gibt es viele Zwischenmodelle, und
zweitens wechseln die Familien auch zwischen diesen
Modellen, und zwar nicht nur von Kind zu Kind, sondern auch bei der Betreuung desselben Kindes. Dies ist
zum Beispiel der Fall, wenn eine Tagesmutter schwanger wird und die Betreuung nicht mehr übernehmen
kann oder wenn eine Oma, die sich bislang um das Kind
gekümmert hat, verstirbt. Dann müssen neue Lösungen
gefunden werden. Es gibt nicht nur die beiden Modelle,
wie Sie das oft suggerieren.
Mich stört in der Diskussion am meisten - die Diskussion darüber ist von Ihnen angezettelt worden -, dass
junge Eltern plötzlich unter einem Rechtfertigungsdruck
stehen, wenn sie sich entschließen, ihr Kind nicht in eine
Krippe geben zu wollen. Das ist falsch; denn wir brauchen jede Form der Betreuung.
({3})
Ich will nicht, dass sich jemand rechtfertigen muss,
wenn er sein Kind in die Krippe gibt. Ich will aber auch
nicht, dass sich eine Familie rechtfertigen muss, wenn
sie sagt: Wir lösen die Betreuung anders.
({4})
Es ist geradezu pervers, wenn Eltern Angst haben, etwas falsch zu machen, nur weil wir ihnen sagen: Es gibt
ein richtiges und ein falsches Modell.
({5})
Wer hat denn dann überhaupt noch Lust, sich für Kinder
zu entscheiden, wenn zum Beispiel eine Nachbarfamilie
ein anderes Modell lebt und dies als Kritik am eigenen
Modell verstanden wird? Das kann doch nicht sein. Man
darf sich nicht für ein bestimmtes Modell rechtfertigen
müssen.
({6})
Selbstverständlich ist Bildung wichtig. Wir müssen
aber doch immer überlegen, über welche Lebensmonate
wir sprechen. In den ersten Lebensmonaten geht es in
erster Linie um Bindung. Die Bindungsforschung hinsichtlich der Lebenszeit, über die wir sprechen, geht völlig unter. Doch gerade in den ersten Lebensmonaten hat
Bildung sehr viel mit Herzensbildung zu tun. Dabei steht
das Bedürfnis nach einer verlässlichen Bindung im Vordergrund.
Deswegen ist eine familiäre bzw. eine familiennahe
Betreuung zu unterstützen. Der Staat - Herr Steinmeier,
Ihr Kollege Olaf Scholz ist nicht mehr im Bundestag ist nicht der bessere Erzieher! Wir dürfen nicht zulassen,
dass die Lufthoheit über die Kinderbetten wieder errungen werden muss.
({7})
- Die Wahrheit tut weh.
({8})
Wer mit solchen martialischen Begriffen um sich
schmeißt, muss damit leben, dass sie einem noch einmal
vorgelegt werden. Wir wollen keine Lufthoheit über die
Kinderbetten. Wir wollen die Familien darin stärken,
dass sie selbst entscheiden dürfen, welches Modell für
sie am besten ist.
Interessant ist: Es gab in Dänemark Umfragen bei
Kindergartenkindern, die zugegebenermaßen schon älter
waren und sich gut ausdrücken konnten. Ein Viertel der
Jungen sagte, dass sie sich im Kindergarten nicht wohl
fühlen, aber sie werden nicht gehört und nicht gefragt.
Deswegen sind alternative Betreuungsmodelle wichtig.
Wir arbeiten daran, dass es mehr Krippenplätze gibt. Das
ist unbenommen. Wir arbeiten auch an der Ausbildung
qualifizierter Erzieherinnen und Erzieher, denen ich an
dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sage; denn sie
sind eine gute Ergänzung zur Familie. Wir arbeiten auch
an einem vernünftigen Personalschlüssel. Am vergangenen Wochenende hat der Bund, obwohl er nicht primär
zuständig ist, wie unser Fraktionsvorsitzender Volker
Kauder immer sagt,
({9})
zusätzlich weitere 580 Millionen Euro für den Ausbau
der Krippenplätze und noch weitere 75 Millionen Euro
für die Betriebskosten in die Hand genommen. Deswegen ist es wichtig, dass Sie Ihre Scheuklappen absetzen
und konstatieren, dass viel gemacht wird.
({10})
Ich möchte an dieser Stelle einen Blick nach Bayern
werfen.
({11})
- Ja, ich muss Ihnen jetzt noch einmal vorhalten, dass
Sie immer sagen, durch das Betreuungsgeld würden
Krippenplätze wegfallen. Das ist einfach falsch. Wir geben allein in Bayern über 1 Milliarde Euro für den Ausbau und die Instandhaltung der Kinderbetreuungsplätze
aus. Wenn das alle Bundesländer machen würden und
wenn alle Bundesländer ihre Betreuungsplätze nach Bedarf errichten würden, dann hätten wir diese Diskussion
gar nicht.
({12})
Fakt ist: Wenn in Bayern ein Bürgermeister sagt, er
habe einen Bedarf von 40 Prozent, dann bekommt er
diese Plätze bezahlt. Würde ein Bürgermeister sagen, er
habe einen Bedarf von 100 Prozent, dann bekommt er
eben 100 Prozent bezahlt. Deshalb zieht das Argument,
dass Plätze wegfallen würden, in keiner Weise.
({13})
Die emotionalen Reaktionen vieler Kritiker auf das Betreuungsgeld kann ich mir nur so erklären, dass es ihnen
um viel mehr geht als um die Leistung selbst. Ich kann
nämlich wirklich nicht verstehen, warum jemand ein
Problem damit hat, wenn eine zusätzliche familienpolitische Leistung eingeführt wird.
Wir haben ein Dreisäulenmodell. Vor fünf Jahren haben wir drei Versprechen gegeben:
Erste Säule. Wir haben versprochen, die Krippenbetreuung auszubauen. Das haben wir gemacht; Häkchen
dran.
({14})
- Ach, an diesen Teil der Abmachung erinnern Sie sich,
an den Teil mit dem Betreuungsgeld nicht! Das ist ja
spannend, so ein selektives Gedächtnis aufseiten der
SPD.
({15})
Zweite Säule. Ich möchte auch an unser zweites Versprechen erinnern, nämlich den Rechtsanspruch. Ab dem
1. August 2013 gibt es einen Rechtsanspruch auf einen
Betreuungsplatz. Daran wird nicht mehr gerüttelt; das
wird eingeführt. In Bayern will nur einer daran rütteln,
das ist der Herr Ude. Alle anderen finden es großartig,
dass es diesen Rechtsanspruch gibt. Das zweite Versprechen ist somit auch erfüllt; Häkchen dran.
Dritte Säule. Unser drittes Versprechen war, ist und
bleibt das Betreuungsgeld. Mir als Politikerin ist es
wichtig, ein Versprechen, das ich vor fünf Jahren gegeben habe, auch einzuhalten.
({16})
Ich finde es schade, dass man nicht akzeptieren kann,
wenn sich jemand für ein anderes Modell entscheidet. Es
ist schade, dass - wie es die thüringische Ministerpräsidentin ausgedrückt hat - ein Kulturkampf entsteht, dass
Familien das Gefühl haben, etwas nicht richtig zu machen oder sich rechtfertigen zu müssen, egal wie sie sich
entscheiden. Deshalb brauchen wir die Wahlmöglichkeit
zwischen verschiedenen Betreuungsformen.
Das Gute an dem Ganzen ist doch, dass sich niemand
hinsichtlich seiner Erwerbstätigkeit eingeschränkt fühlen
muss. Jeder darf selbstverständlich - das ist für mich ein
wichtiger Punkt - einer Erwerbstätigkeit nachgehen und
hat trotzdem das Recht, das Betreuungsgeld zu erhalten.
Ich hoffe - weil ja auch der Rechtsanspruch einer der
wichtigen Punkte ist -, dass Sie über Ihren Schatten
springen können, selbst wenn dieses Modell nicht Ihr
Modell ist und Sie es vielleicht anders machen würden.
Zwei Drittel der Familien in diesem Land jedoch würden
dieses Modell wählen, weil es für sie das richtige ist.
Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, bei diesem Thema Ihre
ideologischen Scheuklappen abzunehmen.
({17})
Ich wünsche mir ein kleines bisschen mehr Liberalitas Bavariae, ein bisschen mehr „Leben und leben lassen“, ein bisschen mehr Vertrauen gegenüber den Familien.
({18})
- Die FDP ist unser geliebter Koalitionspartner, der ist
nicht das Problem für mich. Das Problem sehe ich mehr
auf der linken Seite. - Ich wünsche mir auch von Ihrer
Seite ein bisschen mehr Vertrauen gegenüber den Familien in unserem Land; denn diese haben es verdient. An
dieser Stelle möchte ich mich einmal ganz besonders bei
den Eltern bedanken, bei den Müttern und Vätern, die
7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr
eine Erziehungsleistung erbringen, die nicht mit Geld
aufzuwiegen ist. Sie haben es verdient. Vielen Dank an
sie alle.
({19})
Ich hoffe, dass Sie vernünftig werden.
Danke schön.
({20})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Ziegler für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir debattieren heute einen Gesetzentwurf
dieser schwarz-gelben Koalition, der eine besondere
Qualität hat, nämlich gar keine.
({0})
Die Koalition, die dieses Land regiert, lässt sich von
einer 4-Prozent-Partei, der CSU, vorschreiben, was aus
ihrem Koalitionsvertrag erfüllt wird und was nicht. Sie
haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, die
Partnermonate beim Elterngeld zu erhöhen. Umsetzung?
Fehlanzeige!
({1})
Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, ein Teilelterngeld bis zu 28 Monaten einzuführen.
Umsetzung? Fehlanzeige! Sie haben sich in Ihrem
Koalitionsvertrag verpflichtet, die Altersgrenze für den
Bezug von Unterhaltsvorschuss für Kinder von Alleinerziehenden bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs anzuheben. Umsetzung? Fehlanzeige! Das alles sind Vorhaben, auf die auch Ihre Wählerinnen und Wähler gewartet
haben. Worauf sie bestimmt nicht gewartet haben, ist die
Einführung eines Betreuungsgelds für Kinder, die keine
öffentlich geförderte Kita besuchen. Ihre eigene Wählerschaft hält die Einführung des Betreuungsgelds für
falsch. Das sagen über 64 Prozent Ihrer Anhängerinnen
und Anhänger.
({2})
Aber nicht nur die sind so klug. Die Arbeitgeber lehnen es ab, ebenso wie die Gewerkschaften.
({3})
- Herr Kauder, die Evangelische Kirche, die Wohlfahrtsverbände, die Landfrauen und auch der Sozialdienst katholischer Frauen lehnen es ab! Mehr als zwei Drittel der
Gesamtbevölkerung lehnen es ab.
({4})
Schon vor zwei Jahren hat der familienpolitische Beirat
von Ministerin Schröder einen ablehnenden Beschluss
gefasst, und auch der Normenkontrollrat, der die Kanzlerin berät, hat Bedenken geäußert. Die CDU-Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer und der CDU-Minister
Althusmann lehnen es ebenfalls ab. Frau Ministerin von
der Leyen bezeichnete das Betreuungsgeld in der WAZ
als „bildungspolitische Katastrophe“. Was machen Sie?
Statt Lernprozess - kurzen Prozess.
Sie wollen das Thema so schnell wie möglich loswerden und beschließen,
({5})
doch nicht einmal in Ihren eigenen Reihen gibt es eine
Mehrheit dafür. Da gibt es eine Sondersitzung der FDPFraktion, um die Vernünftigen zur Unvernunft zu zwingen, da meldet sich die Bundeskanzlerin höchstpersönlich bei den vernünftigen CDU-Frauen zum Gespräch
an, um sie zur Unvernunft zu zwingen, da wird die Vorsitzende des Familienausschusses, Kollegin Laurischk
von der FDP, genötigt, das übliche parlamentarische Verfahren zu verkürzen, obwohl sie verfassungsrechtliche
Bedenken angemeldet hat, und das alles nach dem Motto
„Augen zu und durch“ zum Wohle von Herrn Seehofer.
({6})
Warum lassen Sie sich eigentlich so nötigen? Sie machen die Politik insgesamt lächerlich. Auf der einen
Seite legen Sie für vier Jahre ein 400-Millionen-EuroProgramm auf, um die Sprachförderung in den Kitas voranzutreiben, um vor allem etwas für Kinder von Migranten zu tun, auf der anderen Seite wollen Sie noch
mehr Geld ausschütten, um diese von den Angeboten
wegzulocken.
({7})
Auf der einen Seite wollen Sie Fachkräfte gewinnen, auf
der anderen Seite fördern Sie den längeren Ausstieg aus
dem Berufsleben. Auf der einen Seite fördern Sie eine
bessere Qualifizierung von Tagesmüttern und Tagesvätern, um sie aus dem Graubereich herauszuholen, auf der
anderen Seite dürfen deren Leistungen gerade nicht in
Anspruch genommen werden, wenn Eltern das Betreuungsgeld erhalten wollen.
Wo das Betreuungsgeld eingeführt wurde, wird es gerade wieder abgeschafft. Die Erfahrungen liegen doch
vor und müssen nicht noch einmal gesammelt werden.
Seien wir doch so klug und so verantwortungsbewusst,
wie es unsere Aufgabe hier ist.
({8})
Wir tragen im Deutschen Bundestag nämlich nicht nur
für Bayern, sondern für ganz Deutschland Verantwortung. Deshalb sollten wir die Beschlussfassung nicht auf
die Ebene des Bundespräsidenten oder gar des Verfassungsgerichts heben. Nehmen wir uns selber ernst. Wir
alle sind bei dieser Entscheidung nur unserem Gewissen
verpflichtet und nicht einem bayerischen Ministerpräsidenten.
Vielen Dank.
({9})
Miriam Gruß ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! In der Tat sind in den letzten Wochen, Monaten
und Jahren viele Diskussionen über das Betreuungsgeld
geführt worden. Leider - das muss ich als Fachpolitikerin sagen - sind diese Diskussionen nicht immer sachlich
geführt worden. Ich habe mich in den letzten Wochen,
Monaten und Jahren oft gefragt: Wie müssen sich wohl
die Familien in Deutschland gefühlt haben? Wie muss
sich eine alleinerziehende Frau gefühlt haben, die eine
Arbeit sucht, ihr Kind in eine Krippe geben muss und
der immer wieder indirekt oder direkt der Vorwurf, eine
Rabenmutter zu sein, entgegenschallte?
({0})
Wie muss sich eine Familie gefühlt haben, die ihr
Kind, sei es ein oder zwei Jahre alt, ganz selbstverständlich, weil sie das ganz normal findet, in eine Krippe gegeben hat, wenn ihr immer wieder Vorwürfe gemacht
wurden, weil so viele Studien belegt hätten, wie schlecht
Krippen seien? Wie müssen sich die Erzieherinnen und
Erzieher gefühlt haben, die tagtäglich ihr Bestes gegeben
und den Kleinsten in den Krippen viel Liebe und Zuwendung geschenkt haben? Ich fragte mich aber auch: Wie
müssen sich Hausfrauen und Hausmänner in diesem
Land gefühlt haben, die tagtäglich - das hat die Kollegin
schon gesagt -, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr ihr Bestes für ihre Kinder gegeben
und sich entschieden haben, zu Hause zu bleiben? Wie
müssen sich gerade die Frauen gefühlt haben, die immer
wieder gehört haben, sie seien nur ein Heimchen am
Herd?
Viele dieser Diskussionen haben mir nicht gefallen;
denn eines ist mir und uns als FDP-Fraktion wichtig:
Freiheit.
({1})
Es geht um die Freiheit der Familien, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen. Egal ob klassische Mutter-Vater-Kind-Beziehung, Patchworkfamilie, Regenbogenfamilie oder Alleinerziehende, es geht um die Freiheit,
selbst entscheiden zu können.
Der Staat soll dafür Rahmenbedingungen setzen, und
die haben wir gesetzt. Wir geben insgesamt 195 Milliarden Euro für familienpolitische Leistungen aus. Das ist
viel, europaweit mit am meisten. 73 Milliarden Euro davon geben wir für ehebezogene Leistungen aus und
5 Milliarden Euro für Elterngeld, damit in den ersten
Monaten nach der Geburt des Kindes Zeit und Geld für
die Familie vorhanden ist. Inzwischen geben wir fast
5 Milliarden Euro für den Ausbau der Plätze für unter
Dreijährige aus. Und doch müssen wir feststellen, dass
wir europaweit eine der niedrigsten Geburtenraten haben. Daher war es uns als FDP-Fraktion immer wichtig,
dass wir eine Gesamtevaluation der familienpolitischen
Leistungen erhalten. Sie wird uns im nächsten Jahr vorliegen. Darauf freue ich mich. Ich bin auf die Ergebnisse
gespannt.
({2})
Heute liegt uns der Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld vor. Das ist eine neue milliardenschwere sozialpolitische Leistung, eine Leistung - ich sage das bewusst auf Pump, die scheinbar keiner so recht will in Deutschland.
({3})
Daher lohnt es sich meines Erachtens, sie genau zu
durchleuchten. Wirtschaft, Verbände, Gewerkschaften,
Kirchen und OECD - viele haben Bedenken bezüglich
des Betreuungsgelds. Darum ist es wichtig, dass wir uns
zusammensetzen und miteinander über diesen Gesetzentwurf sprechen. Das wollen wir in den nächsten Wochen und Monaten tun.
({4})
Dabei gilt es, Maßstäbe anzulegen, die wir vor uns
selbst und der gesamten Gesellschaft in Deutschland
rechtfertigen können. Der oberste Maßstab dabei muss
die Freiheit sein, die Freiheit der Familien, ein Familienmodell zu wählen, ohne dass ein anderes Modell diffamiert wird.
({5})
Ein Maßstab muss die Chancengerechtigkeit sein, auch
für die Kleinsten in diesem Land. Ein Maßstab muss die
Geschlechtergerechtigkeit sein; denn nur die Geschlechtergerechtigkeit sichert die Zukunft Deutschlands. Es
geht darum, beiden Geschlechtern Chancen zu eröffnen.
Auch die Generationengerechtigkeit muss ein Maßstab
sein; denn auf Schuldenbergen können keine Kinder
spielen und erst recht nicht lernen.
({6})
Derzeit gibt es noch viele Fragezeichen bezüglich der
Maßstäbe in diesem Gesetzentwurf. Deshalb freue ich
mich auf die Beratungen und auf konstruktive Diskussionen mit Ihnen hier, in Berlin, im Deutschen Bundestag.
({7})
Das sind wir allen Familien schuldig, egal wie unterschiedlich sie denken oder leben mögen.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nun liegt er vor, der Gesetzentwurf zum BeDiana Golze
treuungsgeld. Über ihn wird heute hier zum ersten Mal
debattiert.
({0})
Ich möchte den Fokus auf die Dinge richten, die hier
unterschwellig mit im Raum stehen, auf die diversen Nebenabsprachen, Deals, Erpressungsversuche und auf die
sich in den Schubladen befindenden Gesetzentwürfe, die
sich auf Dinge beziehen, die mit dem Betreuungsgeld eigentlich gar nichts zu tun haben, die aber trotzdem mit
dem Betreuungsgeld in Zusammenhang stehen, weil
man sich damit die Stimmen der Kritikerinnen und Kritiker in den eigenen Reihen kaufen will. Ich glaube, es
lohnt, einen Blick auf diese Deals zu werfen. Es ging in
den letzten Wochen zu wie auf einem Basar: Gebe ich
dir, gibst du mir. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen.
Erstes Beispiel. Der sogenannte Pflege-Riester,
({1})
ein staatlicher Zuschuss für diejenigen, die sich eine private Pflegeversicherung leisten können. Hier soll eine
private Pflegeabsicherung bezuschusst werden. Dazu
werden 100 Millionen Euro jährlich veranschlagt, die
aber nur 4 Prozent der Bevölkerung erreichen. Die Einführung dieses Zuschusses war eine große Bitte der
FDP; im Rahmen der Verhandlungen im Koalitionsausschuss hat sie dies nun erreicht. Meine Fraktion lehnt
dies ab. Ich glaube, wir sind nicht die einzigen. Ich
möchte Sie fragen: Was hat die private Pflegeabsicherung mit der Betreuung von Kindern unter drei Jahren zu
tun?
({2})
Ein weiteres Beispiel. Rentenpunkte für Frauen, die
vor 1992 ein Kind zur Welt gebracht haben. Dieser Vorschlag kam aus den Reihen der Union, speziell aus den
Reihen der viel zu wenigen Frauen in der Union. Es geht
darum, dass Frauen, die vor 1992 ein Kind bekommen
haben, mit denen, die später ein Kind bekommen haben,
gleichgestellt werden sollen. Experten rechnen bei voller
Anrechnungszeit mit Kosten in Höhe von 3,5 Milliarden
Euro. Wir können gerne über diese Leistung sprechen.
Aber ich frage: Was hat die Rente von Frauen, die erst ab
2030 zum Zuge kommen würde, mit der Betreuung von
Kindern unter drei Jahren zu tun?
({3})
Noch ein Beispiel, das in den letzten Wochen genannt
wurde. Die Verpflichtung zur Wahrnehmung der Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder. Das Saarland hat hier
bereits im Jahr 2007 vorgelegt. Man hat dort für 40 000
Kinder 600 000 Euro jährlich veranschlagt; wir können
das gerne einmal hochrechnen. Wir können auch gerne
über diese Forderung sprechen. Auch in meiner Fraktion
wird darüber diskutiert, wie man die Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder - nicht nur für die Kinder unter
drei Jahren - verbindlicher machen kann. Ich frage auch
hier: Was haben Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder
bis zum 18. Lebensjahr mit der Betreuung von Kindern
unter drei Jahren zu tun?
({4})
Ich frage Sie: Ist es bei diesem Geschacher, bei diesem Gezerre, bei diesem unwürdigen Schauspiel verwunderlich, dass fast drei Viertel der Bevölkerung,
71 Prozent der Befragten, und im Übrigen auch 62 Prozent der Unionsanhänger das Betreuungsgeld ablehnen?
Ich finde, das sollte Ihnen zu denken geben.
({5})
Ich möchte auf ein weiteres Problem aufmerksam
machen, auf das ich erst in den letzten Tagen gestoßen
worden bin. In vielen Bundesländern - vielleicht auch in
Ihren Wahlkreisen - gibt es neben Kindertagesstätten
und Angeboten der Tagespflege weitere niedrigschwellige Angebote für Familien mit kleinen Kindern, die
Hilfe und Unterstützung leisten. Sie heißen zum Beispiel
Eltern-Kind-Gruppe oder PEKiP. Diese Projekte werden
mit Personalmitteln und Sachmitteln unterstützt. Sie
werden auch in vielen Kitagesetzen der Länder als eine
Säule neben Kita und Tagespflege gleichgestellt behandelt. Ich habe aus dem Familienministerium die Information bekommen - ich habe dazu eine schriftliche
Frage gestellt; ich bin auf die Antwort gespannt -, dass
diejenigen, die diese niedrigschwelligen Angebote nutzen, vom Bezug des Betreuungsgeldes ausgeschlossen
sein sollen.
({6})
Das ist ein Unding.
({7})
Es bedeutet das Aus für viele Angebote in den Kommunen. Es bedeutet das Aus für viele Träger. Es bedeutet
das Aus für viele gute Projekte im Kinderschutz, über
den wir hier in den letzten Monaten richtigerweise
enorm viel diskutiert haben. Es bedeutet auch das Aus
für die Letzten, die noch an bestimmte Versprechungen
und Vorhaben der Bundesregierung geglaubt haben. Ich
erinnere daran, dass in der letzten Legislaturperiode
Bundesministerin von der Leyen im Zusammenhang mit
der möglichen Einführung eines Betreuungsgelds gesagt
hatte: Man könnte dies ja in Form von Gutscheinen ausgeben, mit denen man genau solche Angebote der Elternbildung und der niedrigschwelligen Förderung von
Familien mit kleinen Kindern nutzen könnte. So könnte
man die Eltern dabei unterstützen, die ersten Lebensjahre des Kindes gut miteinander zu gestalten. Genau
solche Angebote sollen jetzt vernichtet werden; denn die
Eltern, die diese Angebote wahrnehmen, werden vom
Bezug des Betreuungsgeldes ausgeschlossen. Das passt
doch nicht zusammen.
({8})
Das ist ein Unding. Sie lassen dabei genau diejenigen,
von denen Sie behaupten, für sie machten Sie dieses Gesetz, außen vor, nämlich die Familien und vor allem die
Kinder. Es geht Ihnen nicht um alle Familien und um
alle Kinder.
Ich möchte festhalten, dass ich bisher von niemandem
aus der Koalition eine Antwort auf folgende Frage bekommen habe: Worin liegt der Unterschied zwischen der
Erziehungsleistung der Eltern, die ihr Kind in eine Kita
oder in eine Tagespflege geben, und der Erziehungsleistung der Eltern, die ihr Kind von der Oma, von der
Freundin, von der Schwester, von der Tante, von wem
auch immer betreuen lassen, die dann aber das Betreuungsgeld bekommen? Worin liegt der Unterschied?
Warum müssen die einen Kitagebühren bezahlen - und
nicht zu knapp -, und die anderen bekommen ein Taschengeld? Ich habe es noch nicht verstanden. Es stehen
noch einige Ihrer Rednerinnen und Redner auf der Liste.
Vielleicht können Sie es mir erklären. Ich glaube, ich bin
nicht die einzige, die es nicht verstanden hat.
({9})
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion hat gesagt, er gehe davon aus, es werde noch einige Änderungen an diesem Gesetz geben. Ich stelle
hiermit den ersten Änderungsantrag: Streichen Sie den
Gesetzentwurf von der ersten bis zur letzten Zeile.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines
sehen wir nicht nur in der Debatte hier im Haus, sondern
auch bei allen Diskussionen draußen, bei allen Äußerungen draußen: Das Betreuungsgeldgesetz hat keine gesellschaftliche Mehrheit. Es wird mehrheitlich nicht gewollt.
({0})
Es hat, ehrlich gesagt, Frau Bär, auch keine ehrliche parlamentarische Mehrheit.
({1})
Hier entsteht Ideologie von vorgestern aufgrund von
Druck: Sonst platzt hier die Koalition. - So äußert es
Herr Seehofer.
Es ist meines Erachtens nicht nur ein extrem teurer
Versuch, die Koalition zu halten, sondern es ist auch ein
extrem teurer Versuch, sich vom Rechtsanspruch auf
einen Kindergartenplatz ab August nächsten Jahres freizukaufen.
({2})
Ich zitiere Ihren Gesetzentwurf. Es heißt dort nämlich:
Es
- das Betreuungsgeld schließt die verbliebene Lücke im Angebot staatlicher Förder- und Betreuungsangebote für Kinder
bis zum dritten Lebensjahr.
({3})
Das ist auf Neudeutsch Freikaufen von einer Verpflichtung.
({4})
Schauen wir uns doch einmal an, was Familien in
Deutschland wollen,
({5})
was Eltern in Deutschland wollen. Die Mehrheit der Eltern in Deutschland sagt, dass Familie und Beruf in
Deutschland nur sehr schwer zu vereinbaren sind.
({6})
Der Familienreport sagt, die meisten Väter wollen weniger, die meisten Mütter etwas länger arbeiten. Der Familienreport und anderes weisen uns darauf hin: Wir haben
einen großen Bedarf an Krippenplätzen, in manchen
Kommunen sogar über 50 Prozent.
({7})
Wir müssen in diesem Haus den Rahmen schaffen, damit
der Anspruch erfüllt werden kann.
({8})
Miriam Gruß redet hier groß über Freiheit. Reden wir
doch einmal über die Freiheit dieser 50 Prozent Kinder,
die Bedarf für einen Krippenplatz haben, zum Beispiel,
weil die Eltern alleinerziehend sind und einer Berufstätigkeit nachgehen müssen. Sie haben einen Bedarf für
einen Krippenplatz. Sie brauchen flexible Betreuungszeiten. Man kann nicht auf der einen Seite von wirtschaftlicher Entwicklung reden, die man befördern will,
und auf der anderen Seite den Frauen gar nicht die Möglichkeit geben, erwerbstätig zu sein. Aber genau das tun
Sie.
({9})
Es kostet uns mindestens vergeudete 1,2 Milliarden
Euro im Jahr, und das, wo viele Eltern verzweifelt nach
Kitaplätzen suchen.
An dieser Stelle muss man sagen: Schwarz-Gelb versagt in einer zentralen politischen Frage. Das ist unser
Nachwuchs, meine Damen und Herren. Das ist der
Nachwuchs dieses Landes, der das Recht darauf hat,
dass wir seine Zukunft organisieren. Die Schwäche Ihrer
Regierung zeigt sich bei diesem Betreuungsgeld, bei
1,2 Milliarden Euro, die nicht gegenfinanziert sind.
Meine These ist: Das Betreuungsgeld ist für die CDU/
CSU das, was für die FDP die Mövenpick-Steuer ist. Sie
werden dieses Thema nicht wieder los. Es wird sich
rächen, und zwar zu Recht.
({10})
Wir wissen - an dieser Stelle geht es nicht um die
Freiheit der Eltern; die OECD-Studie hat das gerade erst
belegt -,
({11})
dass das Betreuungsgeld schlicht und einfach schadet.
Die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen - das gilt gerade für Frauen aus Zuwandererfamilien - würde durch
den Bezug von Betreuungsgeld um circa 15 Prozent sinken. Vor allem Kinder aus benachteiligten, bildungsfernen Familien bzw. aus Familien mit Problemlagen hätten
dann keine Bildungschancen vom ersten Lebensjahr an.
Die unselige Verquickung zwischen Herkunft und Bildungschancen bzw. zwischen Herkunft und der Chance,
in Deutschland etwas zu werden, teilzuhaben und dem
Land etwas zurückzugeben, werden Sie so nicht los.
Schwarz-Gelb zementiert sie geradezu.
({12})
Gleichstellungspolitisch wäre diese Entwicklung fatal, meine Damen und Herren; das sagt selbst die EUKommission. Sie wollen das Betreuungsgeld einführen,
obwohl das Grundgesetz Sie seit vielen Jahren verpflichtet, aktiv etwas für die Gleichstellung von Frauen und
Männern zu tun. Ich verstehe die steigende Wut von
Frauen und Männern. Sie fühlen sich nämlich nicht vertreten. Sie wollen in ihrem Beruf vorankommen, sich
weiterentwickeln und natürlich auch ein bisschen mehr
Geld verdienen; je niedriger ihr Einkommen ist, desto
verständlicher ist das. Aber von Ihnen, meine Damen und
Herren, bekommen sie ein Betreuungsgeld statt eines
Kitaplatzes, der es ihnen ermöglichen würde, erwerbstätig zu sein. Statt einen Kitaplatz zugesichert zu bekommen, werden sie mit 100 Euro im Monat abgespeist. Die
Menschen kommen sich von Ihnen für dumm verkauft
vor.
({13})
Ich sage Ihnen: Das Betreuungsgeld ist nicht nur absurd, sondern auch sozial ungerecht. Eine Familie, in der
beide Elternteile erwerbstätig sind und die genug Geld
hat, ein Au-pair-Mädchen und eine Haushaltshilfe zu
bezahlen,
({14})
soll das Betreuungsgeld bekommen, während arme
Familien leer ausgehen sollen. Ich muss Ihnen wirklich
sagen: Das ist irre und schizophren. Ich dachte, Sie wollen mit dem Betreuungsgeld die Erziehungsleistung
honorieren und Ihren Respekt ausdrücken.
({15})
Bekommen sollen es aber diejenigen, die ihre Kinder gar
nicht selber erziehen.
({16})
Wenn beide Elternteile erwerbstätig sind und Au-pairMädchen oder andere Personen viele Stunden am Tag
das Kind der Eltern erziehen, bekommen die Familien
dafür also Ihren Ausdruck des Respekts im Gegenwert
von 100 oder 150 Euro im Monat.
Herr Kauder, Sie haben recht: Es geht mich nichts an,
ob die Eltern so oder so leben;
({17})
das ist Freiheit.
({18})
- Ja. Hören Sie bis zum Ende zu. - Aber dazu gehört
auch, dass wir den Kindern aus benachteiligten Familien
bzw. allen Kindern ermöglichen, ihr Leben in Freiheit zu
führen und frei zu sein, sich für mehr Bildung zu entscheiden. Das entscheidet sich im ersten Lebensjahr.
({19})
Freiheit heißt auch, dafür zu sorgen, dass endlich alle
Frauen in diesem Land erwerbstätig sein und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können, um zu verhindern, dass sie in Altersarmut landen. Das ist die Freiheit,
über die wir hier zu reden haben.
({20})
Das ist das Leitbild einer modernen Familienpolitik.
Ich frage mich übrigens, wo Frau von der Leyen ist.
Da sie gesagt hat: „Das Betreuungsgeld ist eine bildungspolitische Katastrophe“, möchte ich sie auch
kämpfen sehen.
Ich weiß eines: Weder die Landfrauen noch der Sozialdienst katholischer Frauen noch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag glauben, dass es Freiheit ist,
wenn einige wenige Familien ein Betreuungsgeld
bekommen.
({21})
Echte Wahlfreiheit gibt es nur dann, wenn die mindestens 200 000 Kitaplätze geschaffen werden, die in diesem Land akut gebraucht werden. Wir werden das
Betreuungsgeld in der nächsten Legislaturperiode abschaffen und das Geld in die Kinderbetreuung investieren.
({22})
Eines dürfen wir nicht tun - das ist die Pflicht der Generation, die hier sitzt; das ist auch Ihre Pflicht, Frau Bär -:
auf Kosten der Kinder Deals mit der heutigen bayerischen Landesregierung machen. Das haben die Kinder
nicht verdient.
({23})
Das Wort erhält nun die Bundesministerin Dr. Kristina
Schröder.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden heute nicht das erste Mal, aber formell in erster
Lesung über den Gesetzentwurf zur Einführung eines
Betreuungsgelds. Bereits im Jahr 2008 hatte die damalige Große Koalition von Union und SPD parallel zum
Kitaausbau auch die Einführung eines Betreuungsgelds
vereinbart und gesetzlich festgeschrieben.
({0})
Der Gedanke dahinter war und ist folgender: Alle Eltern sollen dabei unterstützt werden, die Betreuung ihres
Kleinkinds so zu organisieren, wie sie es für richtig halten.
({1})
Für die einen soll eine Sachleistung in Form eines Kitaplatzes zur Verfügung gestellt werden,
({2})
die anderen, die keinen Kitaplatz wollen oder denen er
nicht hilft, sollen eine Geldleistung bekommen, unter anderem, um die Betreuung privat organisieren zu können.
({3})
Dieselben Sozialdemokraten, die das damals beschlossen haben, laufen heute dagegen Sturm. Ich frage
mich schon: Was ist denn das für ein Politikverständnis,
etwas in ein Gesetz zu schreiben und sich dann darüber
aufzuregen, dass das auch Wirklichkeit wird?
({4})
Seit Monaten führt die Opposition eine Kampagne
gegen das Betreuungsgeld.
({5})
Uns, die Koalition, wollten Sie damit treffen. Tatsächlich
haben Sie Hunderttausende von Eltern beleidigt, vor allen Dingen auch solche mit Migrationshintergrund.
({6})
Sie haben so getan, als würden Eltern ihren einjährigen Kindern schaden, wenn sie sie nicht in die Kita geben - Stichwort: Bildungsfernhalteprämie.
({7})
Sie haben so getan, als wären Frauen, die sich dafür entscheiden, sich selbst um ihr einjähriges Kind zu kümmern, nichts anderes als dumme Heimchen - Stichwort:
Herdprämie. Sie haben bewusst die Büchse der Pandora
geöffnet,
({8})
mit dem Ergebnis, dass inzwischen jegliche Scham gefallen ist, junge Familien zu beleidigen - Stichwort: Verdummungsprämie.
({9})
Es gibt in der Tat viele gewichtige Argumente in der
Debatte um das Betreuungsgeld,
({10})
und Sie können sich sicher sein, dass wir darüber in der
Koalition auch sehr intensiv diskutieren.
({11})
Wenn ich aber Ihren Ton höre und diese Anmaßung
spüre, mit der Sie mit vollem Vorsatz den Lebensentwurf
von 50 Prozent der Familien in Deutschland herabwürdigen,
({12})
dann muss ich feststellen: Wir sind in Deutschland mit
Vielfalt und Wahlfreiheit und mit Respekt und Toleranz
offensichtlich noch lange nicht so weit, wie wir immer
dachten.
({13})
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ziegler zu?
Gerne.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Sehr verehrte Ministerin, Sie unterstellen uns ja immer irgendwelche Aussagen. Ich weiß allerdings nicht, wem, weil es solche von
uns nachweislich nicht gibt.
({0})
Ich würde von Ihnen gerne Ihre Stellungnahme zu einer Aussage von dem Generalsekretär der CSU-Bundestagsfraktion, die ich Ihnen verlese, hören und Sie fragen,
ob Sie die Einschätzung teilen.
({1})
Es geht darum, dass sich Frau Gruß ihre Meinungsbildung offengehalten hat. Wenn es eine Veränderung gibt,
dann wird sie dem Betreuungsgeld möglicherweise zustimmen, ansonsten sagt sie klar Nein. Herr Dobrindt
wird in Welt Online vom 22. Juni 2012 wie folgt zitiert:
Frau Gruß sollte überlegen, ob sie zu den staatshörigen Familienbevormundern der versammelten
Linken gehören oder ob sie mit dem Betreuungsgeld die Entscheidungsfreiheit die Familien stärken
will.
({2})
Meinen Sie, dass Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbände katholischer Frauen, Landfrauen etc. zur versammelten Linken gehören?
({3})
Liebe Frau Kollegin, zunächst einmal gehe ich davon
aus, dass Sie den Generalsekretär der Partei CSU meinten, als Sie eben zitiert haben.
({0})
Herr Dobrindt hat in den Mittelpunkt seiner Aussage
genau das gestellt, worum es geht, nämlich um die Freiheit, sich selbst zu entscheiden, welche Form der Betreuung man für seine ein- und zweijährigen Kinder
wünscht. Das ist der Kern der Debatte. Bei allen Argumenten, die gewichtig sind
({1})
und gewichtet werden müssen, ist es der eigentliche
Punkt, ob wir diese Freiheit der Eltern respektieren oder
ob wir immer wieder versteckte Werturteile über bestimmte Lebensentwürfe fällen.
({2})
Frau Ministerin, darf die Kollegin Rupprecht noch
eine Zwischenfrage stellen?
Eine machen wir noch.
Dann machen wir aber auch weiter. Bitte.
Frau Ministerin, ich habe zwei Fragen. Zum einen interessiert mich, wie Sie die Ungerechtigkeit ausgleichen
wollen, dass eine Frau, die Teilzeit arbeitet und für zwei
Tage die Woche eine organisierte Betreuung in Anspruch
nimmt, kein Betreuungsgeld bekommt, sondern dafür
Geld zahlen muss, während jemand anders, der sich für
zwei Tage in der Woche eine selbst beschaffte Betreuung
holt, das Geld erhalten wird. Das ist für mich eine Ungerechtigkeit, verfassungsrechtlich hochbedenklich. Das
müssen Sie, denke ich, noch abklären. Denn es wird sicher Eltern geben, die diese Benachteiligung so nicht
hinnehmen werden.
Das Zweite, was mich interessiert, ist: Wir haben am
Runden Tisch festgelegt, dass all diejenigen, die im
Hauptberuf oder im Ehrenamt ein sehr intensives Näheverhältnis zu Kindern haben, mit einem Führungszeugnis nachweisen müssen, dass sie im Umgang mit Kindern unbedenklich sind. Wenn wir jetzt 150 Euro zur
Selbstbeschaffung von Betreuung geben - das wird ja
auch damit gemeint -, dann fällt das weg. Von Tagesmüttern, die über das Jugendamt organisiert vermittelt
werden, wird dieses erweiterte Führungszeugnis verlangt. Von der Nachbarin oder sonst jemandem, der für
150 Euro die Betreuung übernimmt, verlangen wir diesen Nachweis nicht.
({0})
- Das ist Betreuungsgeld, Herr Kauder, da können Sie
brüllen, wie Sie mögen.
Marlene Rupprecht ({1})
Das ist für mich ein Widerspruch, der nicht aufgelöst
werden kann. Wir alle sind hier gemeinsam angetreten
im Sinne des Kindesschutzes. Meiner Meinung nach reißen wir eine Lücke auf, die wir eigentlich dadurch
schließen wollten, dass wir Vermittlungen zur Betreuung
ganz offiziell nur mit Überprüfung stattfinden lassen.
Frau Kollegin Rupprecht, ich gebe Ihnen auf Ihre langen Fragen zwei kurze Antworten.
Zu Ihrer ersten Frage: Alle Familien, die einen staatlich finanzierten Kitaplatz in Anspruch nehmen, bekommen eine erhebliche Unterstützungsleistung des Staates.
Jeder Kitaplatz wird nämlich im Durchschnitt mit rund
1 000 Euro im Monat staatlich bezuschusst.
({0})
Damit bekommen diese Eltern eine erhebliche Sachleistung.
({1})
Und da ist es nur recht und billig, dem eine Barleistung
entgegenzusetzen.
Das Prinzip haben Sie zum Beispiel auch in der Pflegeversicherung. Auch in der Pflegeversicherung gibt es
eine Wahlmöglichkeit zwischen einer Sachleistung und
einer Barleistung. Und kein Mensch ist jemals auf die
Idee gekommen, zu sagen, die Barleistung sei eine
Heimprämie für Angehörige, die ihre zu pflegenden Angehörigen betreuen.
({2})
Zu Ihrer zweiten Frage, Frau Rupprecht, kann ich nur
sagen: Das passiert doch schon alles längst. In Deutschland, gerade in Westdeutschland sind fast 50 Prozent der
Tagesmütter privat organisiert. Zum Glück spielen schon
heute die Großeltern eine riesige Rolle bei der Betreuung
der Enkelkinder.
({3})
Wollen Sie da jetzt ernsthaft verbindlich über Führungszeugnisse nachdenken? Dieser Generalverdacht gegen
Eltern, gegen Betreuer ist wirklich absurd.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie weit die Respektlosigkeit gegenüber den Familien in der Öffentlichkeit geht, das illustriert diese Anzeige, die die Grünen im
Internet verbreiten lassen.
({5})
Schauen Sie sich diese Anzeige einmal genau an. Sie sehen hier links fröhlich spielende Kinder, die ich auf vier
bis fünf Jahre schätze. Auf jeden Fall handelt es sich
nicht um ein oder zwei Jahre alte Kinder, um die es beim
Betreuungsgeld geht. Hier betreiben die Grünen eine bewusste Falschinformation der Eltern.
({6})
Sie sehen hier rechts ein einsames Kind, das vor dem
Fernseher hockt.
({7})
Damit unterstellen die Grünen, dass Familien, die sich
zu Hause um ihre Kinder kümmern,
({8})
nichts anderes tun, als sie vor dem Fernseher zu parken.
Das ist eine Unverschämtheit gegenüber allen Familien
in Deutschland.
({9})
Vielleicht können wir das Schlachtfeld des ideologischen Kulturkampfs für einen kurzen Augenblick verlassen. Schauen wir uns doch einmal die Fakten an. Fakt ist
erstens: Es gibt in Deutschland einen großen Konsens,
dass fast alle Familien die Betreuung von Kindern unter
einem Jahr zu Hause organisieren möchten. 97 Prozent
der Eltern beziehen das Elterngeld.
({10})
Fakt ist zweitens: Es gibt in Deutschland auch einen großen Konsens, dass fast alle Kinder über drei Jahre vom
Kindergarten erheblich profitieren. Es geht in diesem
Streit also nur um die Familien mit ein- und zweijährigen Kindern.
In diesen Familien sind die Rahmenbedingungen unterschiedlich. Hier sind die Werthaltungen in den Familien unterschiedlich. Hier sind vor allen Dingen auch die
Kinder unterschiedlich. Ist es denn so schwer, zu akzeptieren, dass die Familien unterschiedliche Wege gehen?
Ist es denn so schwer, ihnen zuzugestehen, dass der Staat
sie auf ihrem Weg unterschiedlich unterstützt?
({11})
Das steht schon im Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat dies, wie ich denke, mehrfach sehr eindrücklich formuliert.
({12})
Es hat festgestellt, dass sich aus der Schutzpflicht des
Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes die Aufgabe des Staates
ergibt - ich zitiere -,
die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern
gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern.
Genau darum geht es. Da steht nicht: in der von den
Wirtschaftsverbänden gewählten Form, wonach alle
Kinder möglichst mit einem Jahr in die Kita gehen sollen, damit die Mütter dem Arbeitsmarkt wieder in Vollzeit zur Verfügung stehen. Da steht auch nicht: in der jeweils von den Regierenden gewollten Form. Vielmehr
steht da ganz klar: Unser Auftraggeber sind die Eltern,
und maßgebend sind die Entscheidungen, die sie selbst
zum Wohle ihrer Kinder treffen.
({13})
Unsere Politik orientiert sich an den Bedürfnissen der
Familien. Diese sind nun einmal unterschiedlich. Deshalb gehört zur Wahlfreiheit auch der Rechtsanspruch
auf einen Kitaplatz ab August 2013. Ich bin mir sicher,
diesen Satz würde auch die Opposition sofort unterschreiben. Aber wir machen das eben nicht so, wie das
die SPD à la Olaf Scholz will, nämlich „die Lufthoheit
über den Kinderbetten“ zu erobern. Wir wollen die Familien darin unterstützen, so zu leben, wie sie es wollen.
Deshalb brauchen wir beides, den Kitaausbau und das
Betreuungsgeld.
Wir strafen all diejenigen Lügen, die behaupten, das
Betreuungsgeld würde beim Kitaausbau fehlen. Der
Bund zahlt nämlich seinen Anteil. Wie ich angekündigt
habe, ist der Bund bereit, für die 30 000 Kitaplätze, die
wir mehr brauchen als 2007 gedacht, seinen Anteil zur
Verfügung zu stellen. Deshalb werden wir noch über
580 Millionen Euro zusätzlich für Investitionen in die
Hand nehmen.
({14})
Damit zahlt der Bund 4,6 Milliarden Euro an Investitionskosten, meine Damen und Herren.
({15})
Auch für die Betriebskosten gibt es zusätzliche Bundesmittel. Der Bund zahlt ab 2014 jährlich 845 Millionen Euro. Sie können dann noch die 400 Millionen Euro
drauflegen, die wir in die Qualität und in die Sprach- und
Integrationsförderung in den Kitas investieren.
Eines ist klar: Wir unterstützen die Länder und Kommunen bei dieser Mammutaufgabe, wo wir können.
Dann erwarte ich aber auch, dass die Länder nun ordentlich an Tempo zulegen und ihre Hausaufgaben machen.
({16})
Wenn manche die gleiche Kraft, die sie für den Kampf
gegen zu Hause erziehende Eltern aufbringen, auch für
den Kitaausbau aufbringen würden, dann wäre schon
viel gewonnen.
({17})
Auch diese Botschaft gehört in die heutige erste Lesung des Betreuungsgeldgesetzentwurfs. Denn Kitaausbau und Betreuungsgeld gehören zusammen. Nur beides
zusammen ergibt Wahlfreiheit.
({18})
Wer sein Kind mit einem Jahr in die Kita gibt, der ist
nicht herzlos, und wer sein Kind auch nach dem ersten
Geburtstag noch zu Hause erzieht, der ist nicht hirnlos.
Alle Eltern verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung. Darin sollten wir uns einig sein.
({19})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Ministerin Schröder, das war wie gewohnt ein inhaltlich
schwacher und unverschämter Auftritt.
({0})
Frau Schröder, wenn Sie von Respekt und Toleranz reden, dann ist das schlichtweg unglaubwürdig.
({1})
Die Koalition versucht heute einen neuen Anlauf, um
den Gesetzentwurf für das Betreuungsgeld einzubringen.
Denn am 15. Juni ist der erste Anlauf bekanntlich kläglich gescheitert. An jenem Freitag sind sage und schreibe
126 Abgeordnete der schwarz-gelben Koalition dem
Plenarsaal ferngeblieben.
({2})
Das war vielleicht auch ein stummer Protest der Kritikerinnen und Kritiker in den eigenen Reihen. Dafür
spricht, dass die Debatte über Sinn und Unsinn des Betreuungsgelds in der Koalition wieder richtig hochgekocht ist, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb.
({3})
Wenn vor allem die CSU der Opposition vorwirft, die
Ablehnung des Betreuungsgelds sei Ausdruck reiner
Ideologie, dann können, glaube ich, wir alle darüber nur
herzlich lachen. Warum droht denn ein Herr Seehofer
zum wiederholten Male im Zusammenhang mit dem Betreuungsgeld mit Koalitionsbruch? Hat das vielleicht
auch mit den nach wie vor vorhandenen kritischen Stimmen in der schwarz-gelben Koalition zu tun?
Wie erklären Sie sich, dass nach neuen Umfragen
zwei Drittel der Bevölkerung das Betreuungsgeld ablehnen?
({4})
Werfen Sie etwa auch Ihren Kolleginnen und Kollegen
in den eigenen Reihen im Bundestag, die noch Zweifel
haben, und vor allem der Mehrheit der Bevölkerung vor,
ideologisch zu denken? Setzen Sie sich doch endlich mit
den ernsthaften Bedenken, die Fachverbände, Wissenschaftler, Arbeitgeber, Kirchen und viele andere gegen
das Betreuungsgeld vorbringen, auseinander.
({5})
All diese Menschen fordern zu Recht eine vernünftige
Politik für Familien und Kinder in unserem Land.
({6})
Herr Kauder, waschkörbeweise erreichen uns Stellungnahmen und Briefe, in denen bemängelt wird, dass
Eltern nach wie vor in unserem Land keine echte Wahlfreiheit haben, dass sie nicht zwischen Kita und Betreuung zu Hause wählen können, weil Tausende Krippenplätze in unserem Land fehlen. In diesen Stellungnahmen
wird die Bundesregierung aufgefordert, auf das Betreuungsgeld zu verzichten und endlich in den qualitativ
hochwertigen Ausbau von Kitas mit entsprechendem
Personal zu investieren. Ich sage: Dem ist nichts hinzuzufügen.
({7})
Ich möchte jetzt auf den Gesetzentwurf eingehen, um
die Absurdität des Ganzen noch einmal deutlich zu machen. Dreh- und Angelpunkt des Gesetzes ist, die Zahlung des Betreuungsgelds an die Bedingung zu knüpfen,
dass ein Kind keine öffentlich geförderte Kita oder Kindertagespflege in Anspruch nimmt. Das Betreuungsgeld
soll aber mit allen anderen Betreuungsformen - also
nicht nur mit der Betreuung zu Hause in der Familie,
sondern auch durch ein Au-pair oder ein Kindermädchen
oder in einer privaten Einrichtung - vereinbar sein. Qualitätskriterien, geschweige denn, Frau Ministerin, Kriterien des Kinderschutzes, die bei öffentlich geförderten
Angeboten eine wichtige Voraussetzung sind, sollen
keine Voraussetzung für die Zahlung eines Betreuungsgelds sein. Das ist wirklich nicht zu glauben.
({8})
Was heißt das? Erstens wird das von der CSU immer
wieder vorgebrachte Argument ad absurdum geführt,
dass das Betreuungsgeld die Erziehungsleistung der Eltern anerkennen soll, die ihr Kind zu Hause betreuen. Ich
denke in diesem Zusammenhang vor allem an die Reden
von Herrn Geis. Der Gesetzentwurf widerspricht diesem
Argument nahezu; denn auch andere Betreuungsformen
- egal ob qualifiziert oder nicht - sind nun mit dem Betreuungsgeld vereinbar.
Zweitens läuft diese Regelung den jahrelangen Anstrengungen von Bund, Bundesländern und Kommunen
zuwider, die staatlich geförderten Angebote der frühkindlichen Bildung weiter auszubauen, zu qualifizieren
und möglichst vielen Kindern in unserem Land bereitzustellen. Eine Pressemitteilung vom 14. Juni, die verschiedene Fachorganisationen herausgebracht haben,
bringt es auf den Punkt:
Als Fernhalteprämie von Kindertagesstätten beleidigt das Betreuungsgeld das Betreuungssystem, das
die Bundesregierung gleichzeitig ausbauen will.
({9})
Der aktuelle nationale Bildungsbericht, von der Bundesregierung und den Ländern in Auftrag gegeben,
macht deutlich, dass das Betreuungsgeld insbesondere
die öffentliche Förderung von Kindern mit Sprachdefiziten konterkariert. Circa ein Viertel der Drei- bis Siebenjährigen haben Sprachförderungsbedarf. Ein Viertel,
meine Damen und Herren!
Die Erziehungswissenschaftlerin Angelika Ehrhardt
schrieb in einem Gastkommentar:
Anreize zu schaffen, sein Kind möglichst lange zu
Hause zu betreuen, ist dabei besonders für Familien
aus bildungsfernen Milieus kontraproduktiv. …
Kinder, die eine Kita besuchen - und zwar je länger, desto besser -, verfügen über einen Lernvorsprung bis zu einem Schuljahr.
Ihr Betreuungsgeld entspricht also keiner folgerichtigen,
keiner konsistenten Gesetzgebung und zeigt deutlich,
dass der Koalition am Ausbau der frühkindlichen Bildung nicht wirklich viel liegt.
({10})
Es spricht für sich, dass fast durchgehend in Ihrem
Gesetzentwurf von Betreuung und Betreuungsplatz die
Rede ist. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz hingegen
wird der Begriff der Förderung immer wieder in den
Mittelpunkt gestellt. Warum rücken Sie in Ihrem Gesetz
davon ab? Sie konterkarieren damit die Erfolge der vergangenen Jahre im Bereich der frühkindlichen Bildung.
Wir wissen doch alle, dass Deutschland immer wieder ermahnt wird - auch innerhalb der EU und von der
OECD -, qualitativ und quantitativ mehr in die frühkindliche Bildung zu investieren. Wir, die SPD, haben
dieses Ziel seit langem in den Mittelpunkt gerückt. Das
Betreuungsgeld wird das Erreichen dieses wichtigen
Ziels - dabei geht es um den Ausbau der frühkindlichen
Bildung bzw. der Krippenplätze, aber auch um Qualität
und den Kinderschutz - konterkarieren. Es ist bildungs-,
gleichstellungs- und integrationspolitisch schlichtweg
kontraproduktiv.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass die
Kritikerinnen und Kritiker in den Reihen der Union und
der FDP, in der Regierungskoalition, hartnäckig bleiben
und gemeinsam mit uns und den vielen Menschen draußen, die das Betreuungsgeld ablehnen - zum Beispiel
betroffene Eltern, Fachverbände und die Kirchen; ich
will sie alle nicht noch einmal aufzählen -, dieses unsinnige und absurde Projekt verhindern. Ich denke, die Eltern und die Kinder in diesem Land würden es uns allen
danken.
Herzlichen Dank.
({11})
Florian Toncar ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns auch in der
heutigen Debatte einig, dass der Aufbau einer Familie
für junge Eltern eine zum Glück meist beglückende und
bereichernde, aber auch sehr fordernde Erfahrung ist. Es
ist - egal wie sie ihr Leben organisieren - immer mit
Verzicht und auch Opfern verbunden, das Glück zu haben, Kinder erziehen zu dürfen.
Wenn Eltern auf Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise
für einige Zeit verzichten, ist das mit der Gefahr verbunden, dass das berufliche Aufstiegschancen kostet. Wenn
Eltern sehr früh wieder in den Beruf einsteigen, ist das
mit enormen organisatorischen und praktischen Schwierigkeiten verbunden, die mit der Beantwortung folgender Fragen anfangen: Wo finde ich einen passenden
Platz in einer guten Betreuungseinrichtung, in die ich
mein Kind guten Gewissens und gerne hingebe? Wie organisiere ich ganz alltägliche Dinge, zum Beispiel im
Zusammenhang mit der Krankheit eines Kindes? Das
kann man nie planen, das passiert meistens über Nacht.
Dann muss man ganz schnell reagieren.
Ich glaube, das Letzte, was Eltern brauchen - egal
wie sie sich entscheiden, ihr Leben zu organisieren -, ist,
dass ihnen ihr Umfeld, die Gesellschaft und die Politik
ein schlechtes Gewissen machen. Wir sollten alle sehr
zurückhaltend sein, wenn wir darüber sprechen, wie sich
Familien organisieren sollten.
({0})
Entscheidend ist doch nicht, in welcher Form Familien zusammenleben, sondern ob ein Kind Zuwendung
bekommt, ob sich Eltern um ein Kind kümmern und ob
sie ihre Verantwortung wahrnehmen. Das kann man in
der einen oder anderen Form machen - oder auch nicht;
wir kennen für beides Beispiele. Zuwendung für das
Kind sollte im Mittelpunkt der Familienpolitik und der
gesellschaftlichen Diskussion darüber stehen.
({1})
Als erster Mann, der heute in der Debatte zu Wort
kommt,
({2})
sage ich: Wenn sich heute viele junge Menschen entscheiden, ein neues Familienbild zu leben, wenn Mütter
sagen, dass sie gerne Mutter sind, aber auch gerne erwerbstätig sein sowie ihre Bildung und ihre Qualifikation einbringen möchten, und wenn Väter sagen, dass sie
natürlich arbeiten möchten, sich aber auch um ihr Kind
kümmern möchten, damit sie etwas von ihm haben, dann
ist das, finde ich, kein Werteverlust, sondern ein Gewinn
an Werten. Es bereichert die Gesellschaft. Dies ist ein
gutes Familienbild, das viele junge Menschen bzw. Familien heute leben.
({3})
Natürlich muss man auch sehen: Die Arbeitswelt verändert sich. Dadurch, dass sich Technik und Berufsbilder
schnell verändern, ist es heute nicht mehr so leicht, für
einige Jahre aus dem Beruf auszusteigen. Das kann dazu
führen, dass man ein ganzes Leben lang nicht wieder
richtig Tritt fasst. Deswegen sind viele Familien gezwungen, zumindest zum Teil zu arbeiten bzw. früh wieder zu arbeiten. Das gilt insbesondere dort, wo es nur einen Elternteil gibt, also für Alleinerziehende. Viele von
ihnen müssen zum Teil sehr schnell wieder in den Beruf
einsteigen. Das ist gerade dann der Fall, wenn sich die
Eltern dafür verantwortlich fühlen, ihren Kindern eine
gute Sozialisation und eine gute Zukunftsperspektive zu
bieten.
Deswegen ist für uns ganz entscheidend: Ein Betreuungsgeld darf auf der einen Seite nicht daran anknüpfen,
ob Eltern berufstätig sind. Das tut es auch nicht. Es wird
auch ausbezahlt, wenn Eltern berufstätig bzw. erwerbstätig sind. Auf der anderen Seite darf diese Leistung nicht
dazu führen, dass sich die Betreuung in Kitas und bei Tageseltern verschlechtert, dass das eine auf Kosten des
anderen geht.
Auch Folgendes ist nicht der Fall - ich spreche es
noch einmal klar aus -: Bei den Betreuungsmöglichkeiten im Bereich der Kitas und der Tageseltern wird nichts
verschlechtert,
({4})
sondern wir bauen diese - ganz im Gegenteil - von der
Menge her und auch qualitativ aus.
Wir haben mit den Ländern seit 2007 eine Vereinbarung. Ich finde es gut, dass Sie, Frau Ministerin, den
Ländern, die nicht im Zeitplan liegen, klar gesagt haben,
dass nur noch ein Jahr Zeit bleibt. Ich möchte Sie ermuntern, klar zu sagen, wenn ein Land zu langsam ist,
({5})
und zwar ohne auf das spezielle Land zu schauen, sondern nur aufgrund der Zahlen, die Sie haben. Denn die
Länder und auch die Kommunen sind in der Pflicht, ihren Teil der Abmachung einzuhalten.
({6})
Wir haben darüber hinaus von Bundesseite am Wochenende zusätzlich über 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, weil wir der Meinung sind, dass wir die
Situation weiter verbessern müssen. Ich kann nur sagen:
Ich hätte mir gewünscht, dass sich auch die Länder, die
diese Forderung aufgestellt haben, ebenso wie bei den
alten Absprachen finanziell an der einen oder anderen
Maßnahme beteiligt hätten. Der Bund macht wieder einmal freiwillig mehr, als er tun müsste. Eine Gegenleistung der Länder kann ich nicht erkennen.
({7})
Es wäre vielleicht gut gewesen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Sozialdemokraten, wenn Sie Ihren Ländervertretern nicht einfach einen Blankoscheck
für die Gespräche am Sonntag gegeben hätten, sondern
gesagt hätten: Wenn der Bund 500 Millionen Euro gibt,
dann geben auch die Länder noch einmal 500 Millionen
Euro dazu. - Das wäre für die Familien und den Ausbau
der Betreuung mit Sicherheit besser gewesen, als einfach
zu sagen: Ihr dürft fordern, der Bund bezahlt. - Dann
hätten wir nämlich mehr Geld zur Verfügung, um das
Ganze hinzubekommen.
({8})
Wir haben - auch das darf man einmal in Erinnerung
rufen - eine Qualifizierungsoffensive auf den Weg gebracht. Fachkräfte, die sich vor allem mit Sprachförderung auskennen, sind seit einem Jahr in 4 000 Kitas in
Deutschland tätig. Dafür stellt diese Koalition 300 Millionen Euro im Haushalt zur Verfügung. Wir kümmern uns
also auch darum, dass in den Kitas eine bessere Betreuung stattfindet, dass Kinder, die noch nicht gut genug
Deutsch sprechen und andere Schwierigkeiten haben,
besser integriert werden. Wir haben das Programm „Offensive Frühe Chancen“ auf den Weg gebracht, bei dem
es darum geht, dass gerade Familien, die Integrationsprobleme haben und in einer besonderen Notlage sind,
früher geholfen wird.
Wir kümmern uns also gewiss auch darum, dass Familien integriert werden und Kinder, die bisher nicht so
gute Chancen hatten, bessere Bildungschancen erhalten.
Es wäre für mich zu einseitig, die Familienpolitik dieser
Koalition nur auf das Betreuungsgeld zu reduzieren. Es
ist weit mehr getan worden, und das geht in die richtige
Richtung.
({9})
Das Wort erhält jetzt der Kollege Ralph Lenkert für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Als Sprecher des Volksbegehrens für eine
bessere Familienpolitik bin ich 2005 politisch aktiv geworden. Wir setzten uns in Thüringen für sichere und
bessere Kitaplätze ein.
({0})
Schon damals wollte uns die Union nicht glauben, dass
frühkindliche Bildung die beste Investition in die Zukunft ist.
({1})
Ich zitiere den Nobelpreisträger für Ökonomie James J.
Heckman:
Eine geradezu traumhafte Rendite erwirtschaftet
langfristig jeder Euro, der in die frühe Förderung
von Kindern - also noch vor der Schulzeit - investiert wird.
Heckman wies nach: weniger Schulabbrecher, weniger
Teenagerschwangerschaften, weniger Kriminalität. Und
stattdessen: höhere Bildungsabschlüsse, mehr Produktivität und bessere Gesundheit. Das seien laut Heckman
die messbaren Erfolge einer verantwortungsvollen Bildungspolitik; denn diese müsse sich darauf konzentrieren, Benachteiligungen schon in Krippe und Kindergarten auszugleichen. Die herrschende Politik habe dies
offenbar noch nicht begriffen, stellte Heckman am
13. März 2008 in Leipzig fest.
Eine Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit vom März dieses Jahres, in Auftrag gegeben von der Thüringer SPD, belegt, dass aufgrund der
Einführung des Thüringer Landeserziehungsgelds gerade Kinder aus benachteiligten Familien wegen des Betreuungsgelds zu Hause bleiben.
Nun ist es an der Zeit, einmal die wahren Gründe für
die Bockbeinigkeit der Union beim Betreuungsgeld zu
betrachten. Ich bin überzeugt, dass die Union und die Familienministerin es nicht schaffen, bis 2013 den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz umzusetzen. Ihre Rechnung ist: Jede Familie, die sich für das Betreuungsgeld
entscheidet, verkleinert die Lücke der fehlenden Plätze.
Das ist der erste wahre Grund für das Betreuungsgeld.
({2})
Das Betreuungsgeld beträgt 150 Euro im Monat. Ein
Kitaplatz für ein- bis dreijährige Kinder kostet in Thüringen etwa 800 Euro. Nehmen wir für die Bundesrepublik
die Zahlen aus Thüringen als Grundlage: Abzüglich der
Kitagebühren sparen Länder und Kommunen je Monat
etwa 500 Euro für jedes Kind, das zu Hause bleibt. Laut
Gesetzentwurf sind für 2014 1,1 Milliarden Euro für das
Betreuungsgeld eingeplant. Damit würden 610 000 Kinder zu Hause bleiben. Jeden Monat 500 Euro für
610 000 Kinder, die keinen Kitaplatz nutzen - das erspart den öffentlichen Haushalten 3,7 Milliarden Euro
Kosten im Jahr. Das ist der zweite Grund für das Betreuungsgeld.
({3})
In Thüringen besuchen dank des erkämpften Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz ab dem ersten Geburtstag
mehr als 60 Prozent der Kinder zwischen dem ersten und
dritten Lebensjahr eine Kita. Frau Schröder will aber nur
für 35 Prozent dieser Kinder Kitaplätze schaffen.
({4})
Ich glaube, die Eltern denken bundesweit wie die in
Thüringen und wollen mehr Kitaplätze. Davor haben Sie
Angst, und deshalb glauben Sie, mit den Silberlingen des
Betreuungsgelds diese Herausforderung wegzubekommen. Das ist der dritte Grund für das Betreuungsgeld.
({5})
Paradox wird es ab 2014. Sie haben dann 1,1 Milliarden Euro für das Betreuungsgeld vorgesehen. Damit
würden 50 Prozent der Kinder zwischen ein und drei
Jahren zu Hause bleiben. 35 Prozent hätten nach Ihrem
Plan einen Kitaplatz. Was ist mit den anderen Kindern?
Wollen Sie Plätze zweimal vergeben, einmal von 8 bis
12 und einmal von 14 bis 18 Uhr? Dann gibt es doppelt
so viele betreute Kinder, und Sie könnten für einen Kitaplatz zweimal Betreuungsgeld weglassen. Das schlägt
dem Fass den Boden aus.
({6})
Liebe Koalitionäre, verzichten Sie auf das Betreuungsgeld. Verbessern Sie dafür, wie die Linke es fordert,
die frühkindliche Bildung.
Frau Ministerin, Sie kennen sicher viele Zitate. Ich
empfehle Ihnen eines von Mark Twain: Wenn der letzte
Dollar weg ist, ist Bildung das Einzige, was übrig
bleibt. - Deshalb: Vergessen Sie das Betreuungsgeld.
Stimmen Sie mit uns für die beste frühkindliche Bildung
- für alle Kinder - und für Kindertagesstätten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß, dass ich heute wieder vielen meiner lieben
Kolleginnen und Kollegen nicht nur aus den Reihen der
Opposition, sondern auch aus den Reihen von CDU,
FDP und auch einigen aus der CSU aus der Seele spreche, wenn ich sage: Das Betreuungsgeld ist eine unsinnige, eine kontraproduktive Maßnahme.
({0})
Ich kann und ich will Ihnen das nicht ersparen. Aber
Sie selbst könnten es sich langsam ersparen, wenn die
vielen Kritikerinnen und Kritiker in den Regierungsfraktionen, die ihre Meinung geäußert haben, endlich die
Reißleine zögen und dem Betreuungsgeld die Rote Karte
zeigten.
({1})
Das Betreuungsgeld hat in diesem Haus keine Mehrheit.
Die Art und Weise, wie Sie sich hier eben selber Mut zujubeln mussten, macht das doch doppelt deutlich.
({2})
Die vernünftigen Menschen in diesem Haus dürfen es
nicht zulassen, dass eine Regionalpartei der kompletten
Regierung auf der Nase herumtanzt und der gesamten
Republik ihr überholtes Frauen- und Familienbild aufzwingt.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Gesetzentwurf bestätigt leider unsere schlimmsten Befürchtungen.
Das Betreuungsgeld kommt als eine reine Antikitaprämie daher, und das macht doppelt klar, wes Geistes Kind
sie ist. Wir wissen auch, wohin ein solches Betreuungsgeld führt, beispielsweise aus Thüringen: Mit der Einführung des Landeserziehungsgelds ging dort nämlich
der Anteil der Zweijährigen, die eine Kita besuchen, um
15 Prozent zurück, und - was noch dazu kommt - auch
der Anteil der älteren Geschwisterkinder ging um
30 Prozent zurück. Ich bin sehr froh und der Ministerin
dankbar, dass sie noch einmal unser Plakat gezeigt hat,
das genau das dokumentarisch zum Ausdruck bringt.
({4})
Die Erwerbstätigkeit der Mütter von Zweijährigen ist um
20 Prozent gesunken. All diese Effekte waren bei geringqualifizierten Eltern, bei Alleinerziehenden und Familien mit geringem Einkommen deutlich stärker zu beobachten als im Durchschnitt.
Mit dem Betreuungsgeld soll die gesamte Republik
auf eine solche Reise geschickt werden. Ich finde das
unverantwortlich.
({5})
Das Betreuungsgeld soll die Erziehungsleistung der
Eltern würdigen. Ich finde es zwar richtig, die Erziehungsleistung von Eltern zu würdigen.
({6})
Aber diese Begründung ist mehr als fragwürdig, wenn
mit den 100 bzw. 150 Euro auch die Nanny oder das Aupair-Mädchen finanziert werden kann.
Was ist eigentlich mit der Erziehungsleistung der Eltern, deren Kind zwei Tage in der Woche in die Tagespflege geht oder einen halben Tag in die Kita geht oder
einfach an einer Krabbelgruppe teilnimmt? Diese Erziehungsleistung wird mit dem Betreuungsgeld nicht gewürdigt. Das ist einfach absurd.
({7})
Was ist mit den Eltern, die ALG II beziehen? Deren Erziehungsleistung ist nach Auffassung der Regierungsfraktionen offensichtlich überhaupt und grundsätzlich
nicht zu würdigen. Ich finde, es ist eine Ungeheuerlichkeit, was mit diesem Gesetzentwurf an dieser Stelle zum
Ausdruck gebracht wird.
({8})
Das Betreuungsgeld ist eine bildungs- und gleichstellungspolitische Katastrophe; es ist verfassungsrechtlich
höchst fragwürdig. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und von der FDP: Machen Sie diesem Spuk endlich ein Ende. An die Adresse der CSU
sage ich: Es heißt so schön: Wenn du merkst, dass du ein
totes Pferd reitest, steig ab! - Ich finde, der Zeitpunkt,
das zu tun, ist jetzt langsam einmal gekommen.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Markus Grübel hat nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Drei Dinge hatten wir 2007 den Menschen in
Deutschland versprochen:
Erstens: Wir bauen massiv die Betreuungsplätze aus,
und der Bund unterstützt diesen Ausbau, was sowohl die
Investitionen als auch die Betriebskosten angeht.
Zweitens: den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab 1. August 2013.
Drittens: die Einführung eines Betreuungsgeldes im
Jahr 2013.
Diese drei Dinge - der Ausbau der Betreuungsplätze,
die Schaffung des Rechtsanspruchs und die Einführung
des Betreuungsgeldes - gehören zusammen. Sie sind
zwei Seiten ein und derselben Medaille und stehen für
eine zeitgemäße Familienpolitik, die den Eltern ein
Wahlrecht ermöglicht.
({0})
Die Kollegin Gruß hat es als „Freiheit“ umschrieben;
man könnte auch „Wahlfreiheit“ sagen.
Den engen Zusammenhang beider Leistungen hat die
Koalition 2008 im Kinderförderungsgesetz festgeschrieben. Viele, die jetzt hier so kritisch über das Betreuungsgeld reden, haben damals zugestimmt. Der Bund hat sich
nämlich damals in Absprache mit den Ländern und
Gemeinden entschieden, auch die Unterstützung von Eltern bei der Betreuung von Ein- und Zweijährigen zu seiner Aufgabe zu machen. Man hat sich entschieden, es
auf zwei Wegen zu machen: entweder mit einer
Sachleistung - 1 000 Euro im Monat für einen subventionierten Betreuungsplatz - oder eben mit einer Geldleistung von jetzt 100 bzw. 150 Euro im Monat, mit der
Eltern entweder eine Betreuung organisieren können
oder sie selbst durchführen können. Das haben wir in
§ 16 Abs. 5 SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - festgeschrieben. Da steht es, Frau Ziegler. Sie waren damals
nicht dabei; Sie waren noch nicht im Bundestag. Aber
die Kollegen rechts und links von Ihnen - das kann ich
Ihnen versichern - haben dem damals beide zugestimmt.
({1})
- Auch Sie, Frau Rupprecht.
({2})
Die Regelung ist mit der Regelung in der sozialen
Pflegeversicherung vergleichbar: Auch da haben wir mit
der stationären Pflege eine Sachleistung und mit der ambulanten Pflege eine Geldleistung. Hier kommt keiner
auf die Idee, zu sagen, dass diese Geldleistung eine Fernhalteprämie sei oder dass die Pflege zu Hause durch Familienangehörige schlecht sei und verhindert werden
müsse. Die Familien sind dankbar, dass sie unterstützt
werden, genauso, wie sie für die Wahlfreiheit dankbar
sein können, wenn das Betreuungsgeld eingeführt ist.
({3})
Familien müssen sich eben nicht einem staatlich vorgegebenen Leitbild anpassen, um finanzielle Unterstützung
zu erhalten. Der Staat akzeptiert, dass Familien in eigener Verantwortung entscheiden, wie sie ihr Leben leben
wollen.
({4})
Wenn man sich diese vergiftete, ideologische Diskussion ums Betreuungsgeld anhört,
({5})
dann könnte man geradezu meinen, wir wollten mit dem
Geld eine terroristische Gemeinschaft unterstützen.
({6})
Nein, wir unterstützen Familien mit sehr kleinen Kindern.
({7})
Sehr geehrte Damen und Herren, jedes Kind, jede Familie ist anders. Die Frage nach der optimalen Betreuung kann daher nicht einheitlich beantwortet werden. Da
ist es wichtig und richtig, wenn der Staat alle Formen der
Kleinkindbetreuung unterstützt, egal ob sie von Eltern,
von Großeltern, in der Krippe oder von Tagespflegepersonen übernommen wird.
Statt sich mit der Idee, die hinter dem Betreuungsgeld
steht, inhaltlich auseinanderzusetzen, wird in einer oberflächlichen Diskussion immer wieder behauptet: Frauen
werden ferngehalten, erwerbstätig zu sein, oder den Kindern - das haben die Linken gesagt - werden Bildungschancen vorenthalten. Beides ist schlicht falsch.
({8})
Das Betreuungsgeld ist nicht an den Verzicht von Erwerbstätigkeit geknüpft.
({9})
Was die frühkindliche Bildung betrifft: Es ärgert mich
zunehmend, mir immer wieder anhören zu müssen, dass
Eltern ihren Kindern Bildungschancen vorenthalten,
wenn sie nicht in eine Krippe kommen. Noch vor fünf
oder zehn Jahren waren Krippenplätze - zumindest im
Westen Deutschlands - selten, aber auch aus diesen Kindern konnte etwas werden.
Wir haben den Ausbau der Krippenplätze gefördert
und unterstützt. Aber man kann schlichtweg nicht sagen,
dass es bei einem einjährigen Kind für die weitere Entwicklung entscheidend ist, ob es vom Vater oder der
Mutter oder in einer Krippe erzogen wird. Dies ist nachweislich falsch; denn bei kleinen Kindern geht es um
Bindung; Bindung steht bei ein- bis zweijährigen Kindern im Vordergrund. Die erste Bindung eines Kindes ist
in der Regel die an die Eltern oder an eine feste Bezugsperson, ob es Oma oder Opa ist.
({10})
Diese familiennahe oder familiäre Betreuung ist der institutionellen Betreuung zumindest gleichwertig.
({11})
Wenn Eltern Zuwendung, Erziehung und Betreuung vernachlässigen, dann ist keine Frage, dass das eine andere
Situation ist. Aber wir müssen doch sehen, was Ausnahme und was Regel ist.
Es wurde immer wieder auf die OECD-Studie zu Arbeitsplätzen für Migranten hingewiesen. Für die Einführung des Betreuungsgeldes in Deutschland hat diese Studie überhaupt keine Aussagekraft. Die Studie plädiert in
Bezug auf Norwegen dafür, dass für dreijährige Kinder
kein Betreuungsgeld mehr gezahlt werden soll. Wir aber
wollen in Deutschland das Betreuungsgeld für ein- und
zweijährige Kinder einführen, erfüllen also die Forderungen der Studie. Dies ist auf Seite 196 nachzulesen.
Man sollte also nicht nur die Überschriften lesen.
Gleich wichtig wie die familiennahe oder familiäre
Betreuung ist der Ausbau der Kitaplätze. Wir haben das
im Jahr 2007 gemeinsam beschlossen, und es ist immer
noch richtig und wichtig. Noch nie wurden so viele Kinderbetreuungsplätze geschaffen wie seit 2007 unter den
Ministerinnen von der Leyen und Schröder. Das wird
vom Bund mit Geld massiv gefördert; wir werden jetzt
noch mehr Geld zur Verfügung stellen. Diesmal kommt
das Geld - die Investitionskosten für einen Kitaplatz betragen 12 000 Euro - aber auch bei den Kommunen an.
Ich denke hier an das rot-grüne Tagesbetreuungsausbaugesetz. Auf das Geld warten die Kommunen noch heute.
Ich habe bis heute noch keinen Bürgermeister getroffen,
der gesagt hat, er hätte dieses Geld bekommen.
({12})
Sehr geehrte Damen und Herren, eine Umfrage des
Magazins Stern im April hat ergeben, dass in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen eine Mehrheit für das Betreuungsgeld ist. Bei den anderen Altersstufen sieht es
anders aus. Diese Altersstufe ist aber vielleicht die wichtigste, wenn es um die Entscheidung für Kinder geht.
Lassen wir doch die jungen Eltern selbst entscheiden,
welche Betreuungsform sie für ihre Kinder wählen! Lassen Sie uns jede Entscheidung der Eltern akzeptieren
und finanziell unterstützen!
Herzlichen Dank.
({13})
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin
Hagedorn jetzt das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich das Wort habe. Ich habe mich schon bei der Ministerin, Herrn Toncar,
aber auch jetzt bei Herrn Grübel gemeldet. Ich will zunächst einmal mit einer Richtigstellung beginnen: Ja, wir
haben gemeinsam den Ausbau der Kitaplätze, verbunden
mit dem Rechtsanspruch ab dem Jahr 2013, gemacht.
Allerdings haben wir offensichtlich gemeinsam, als wir
von einer Ausbaukapazität von 35 Prozent ausgegangen
sind, nicht damit gerechnet - Sie jedenfalls nicht, wir
schon; aber wir waren in einer Koalition -, dass es sehr
viel mehr Eltern geben würde, die dieses Recht in Anspruch nehmen. Darum müssen wir schlicht feststellen:
Wenn wir den Eltern, den Kindern und auch den Kommunen gerecht werden wollen, dann darf bei einer Ausbaukapazität von 35 Prozent nicht Schluss sein. Darum
müssen wir nachbessern und brauchen das Geld dort und
nicht für das Betreuungsgeld.
Warum ich mich aber vorhin gemeldet habe: Frau
Ministerin, gestern Abend waren wir gemeinsam im
Haushaltsausschuss. Ich habe Sie gefragt, wie Ihre Gegenfinanzierung ab 2014 für die 2 Milliarden Euro aussehen wird. Sie haben gestern Abend im Haushaltsausschuss geantwortet: Die Gegenfinanzierung besteht in
einer globalen Minderausgabe. - Diese Aussage hat,
glaube ich, auch Ihre eigenen Haushälter durchaus geschockt. Aber was Sie nicht deutlich dargestellt haben
- das sollten Sie jetzt öffentlich nachholen -, ist die Antwort auf folgende Frage: Wie stellen Sie sich diese globale Minderausgabe eigentlich vor - als globale Minderausgabe für den Gesamthaushalt oder als globale
Minderausgabe für Ihren Etat?
Was ich an dieser Stelle - weil ich die Zeit noch habe ebenfalls klarstellen möchte, weil viele Redner das aus
unserer Sicht falsch dargestellt haben, ist: Es geht nicht
nur um den Aspekt der Freiheit. Wir alle in diesem
Hause sind dafür, dass Eltern zu nichts gezwungen werden, dass ihnen nicht vorgeschrieben wird, wie sie ihr
Kind zu betreuen haben. Vielmehr geht es darum, dass es
diese Freiheit aktuell gar nicht gibt. Für diejenigen, die
ihr Kind betreut wissen wollen, gibt es deutschlandweit
noch nicht die qualitativ hochwertigen Angebote, die wir
dringend benötigen.
Was auch gestern Abend im Haushaltsausschuss zur
Sprache gekommen ist, ist die Frage der Gerechtigkeit.
Es ist nämlich sehr wohl so - auch dazu sollten Sie Stellung beziehen -, dass die gutverdienende Familie, die
eine Nanny oder ein Au-pair-Mädchen beschäftigen
kann, nach Ihren Vorstellungen die 150 Euro erhalten
soll, dass aber die Krankenschwester, die von ihrem Arbeitgeber dringend gebraucht und nach der Babypause
an ihren Arbeitsplatz zurückgerufen wird - und sei es
nur in Teilzeit -, das Betreuungsgeld nicht in Anspruch
nehmen kann, wenn sie auch nur einen oder zwei Tage
pro Woche eine öffentliche Betreuung in Anspruch nehmen muss, um den Wiedereinstieg in den Beruf zu schaffen.
Was noch hinzukommt, ist, dass bei den Langzeitarbeitslosen - 40 Prozent von ihnen sind Alleinerziehende -,
die im ländlichen Raum wohnen und die wegen mangelnder Mobilität oder mangelnder finanzieller Mittel ihr
Kind nicht in einer Krippe oder einer Kita unterbekommen, das Betreuungsgeld voll verrechnet wird. Finden
Sie das gerecht?
({0})
Frau Kollegin, bei großzügiger Zeitbemessung ist die
für eine Kurzintervention vorgesehene Zeit ausgeschöpft.
({0})
Für eine kurze Beantwortung bitte ich die Ministerin.
Sie war ja direkt angesprochen.
Frau Kollegin, ich bedanke mich für Ihre ausführlichen Ausführungen. Ich gehe jetzt einmal auf die Punkte
ein, über die wir noch nicht gesprochen haben.
({0})
Erstens. Sie haben die Frage des Bedarfs an Kitaplätzen angesprochen.
({1})
Sie sind hierbei von veralteten Zahlen ausgegangen; Sie
haben die 35 Prozent aus dem Jahr 2007 wiedergegeben.
Schon seit Monaten ist vollkommen klar - ich habe das
in meiner Pressekonferenz gesagt; ich habe das auch
gestern Abend im Haushaltsausschuss gesagt -: Wir
werden einen Bedarf von 39 Prozent haben.
In Zahlen bedeutet das: Im Jahr 2007 gingen wir von
einem Bedarf von 750 000 Plätzen aus; in Wahrheit werden wir einen Bedarf von 780 000 Plätzen haben. Es gibt
also ein Delta von 30 000 Plätzen. Diese 30 000 Plätze
werden und können wir exakt mit den 580 Millionen
Euro für die Investitionskosten und 75 Millionen Euro
für die Betriebskosten finanzieren, die wir am Sonntag
beschlossen haben. Insofern ist vollkommen klar: Der
Bund hält sich an seine Zusagen und steht zu dem, was
er 2007 vereinbart hat. Das sollten auch die Länder tun;
dann werden wir den Kitaausbau packen.
({2})
Zweitens. Die Finanzierung des Betreuungsgeldes ist
ein Projekt der gesamten Koalition; entsprechend wird
auch die gesamte Koalition diese Finanzierung sicherstellen.
({3})
Mit Sicherheit wird es nicht möglich sein - das werde
ich auch nicht zulassen -, dass eine Finanzierung aus
meinem Etat erfolgt.
Drittens. Ich konnte Ihnen nicht hundertprozentig folgen, aber Sie sprachen von einer „Verrechnung mit dem
Elterngeld“, und dabei gäbe es eine Ungerechtigkeit,
weil einige Mütter das gar nicht in Anspruch nehmen
könnten.
Ich möchte noch einmal die Grundlogik darlegen:
Alle Eltern mit ein- oder zweijährigen Kindern haben einen Anspruch auf staatliche Unterstützung bei der Betreuung der Kinder. Das ist etwas Neues. Das gab es in
Deutschland so bisher noch nicht. Bis vor wenigen Jahren gab es das Erziehungsgeld für diejenigen, die einen
besonderen Unterstützungsbedarf hatten. Bisher hat der
Staat gesagt, für die anderen Familien mit unter dreijährigen Kindern sieht er keine Aufgabe. Das hat der Staat
geändert. Der Staat sagt jetzt, er hält es für seine Pflicht,
diese Familien zu unterstützen.
({4})
Er möchte aber den Familien die Wahl lassen zwischen
einer Sach- und einer Barleistung. Diese Wahl kann jede
Familie treffen. Das ist die Vollendung des Gedankens,
dass Wahlfreiheit für die Familien bestehen soll und
eben nicht irgendwelche Vorschriften gemacht oder etwas auch nur nahegelegt würde.
Sie selbst haben gestern Abend im Haushaltsausschuss gesagt, Sie wünschen sich, dass möglichst alle
Kinder in die Kita gehen.
({5})
Ich sage Ihnen: Ich habe kein solches Leitbild für die Familie, sondern ich möchte, dass die Familien selbst darüber entscheiden können.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Sönke Rix für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal zu dem Letzten, das Sie,
Frau Ministerin, eben angesprochen haben, der Frage der
Gerechtigkeit und der Wahlfreiheit. Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich ja schon dann, wenn es darum geht:
Wer soll das Betreuungsgeld bekommen? Sie sagen immer: Es soll eine Zahlung für diejenigen sein, die sich
dafür entscheiden, ihre Kinder zu Hause zu erziehen. Es
ist also eine Anerkennung der Erziehungsleistung; das
ist von den Rednern der Koalition zumindest so gesagt
worden.
({0})
Wenn das so ist, dann frage ich mich, warum Eltern im
Hartz-IV-Bezug das Betreuungsgeld nicht bekommen
sollen.
({1})
Das ist und bleibt eine große Ungerechtigkeit.
({2})
Das Zweite: Sie sprechen immer davon, das Betreuungsgeld soll ein Bonus für diejenigen sein - Sie reden
von Wahlfreiheit -, die sich dagegen entscheiden, ihre
Eltern, ihre Kinder - die Eltern kann man manchmal
auch besser zur Krippe bringen ({3})
zur Krippe bzw. in die Kindertagesstätte zu bringen.
Gleichzeitig sagen Sie, dass auch jene Eltern das Betreuungsgeld erhalten sollen, die ihre Kinder zu Hause von
Dritten oder Vierten betreuen lassen, also nicht nur innerhalb der Familie, von der Großmutter, von älteren
Geschwistern oder von wem auch immer - da sage ich:
Okay, das würde in Ihr System, das ich nicht teile, passen -, sondern auch dann, wenn sie die Kinder durch
Kindermädchen, Au-pair-Mädchen, Nachbarn oder in
Selbsthilfeprojekten betreuen lassen. Das passt nicht zu
Ihrem Argument, dass das Betreuungsgeld der Wahlfreiheit und der Gleichstellung der Familienbilder dient. Das
ist einfach nicht so; Sie schaffen damit keine einheitliche
Argumentationslinie, Frau Ministerin.
({4})
Vielleicht diskutieren wir das Thema Betreuungsgeld
deshalb so intensiv, mit vielen Zwischenrufen und mehr
Zwischenfragen, als sie sonst zugelassen werden, weil es
uns alle betrifft; denn wir alle kommen aus Familien, wir
alle haben unsere Wertvorstellungen dazu, wie wir die
Familie sehen. Frau Ministerin, ich gebe Ihnen ja recht,
wenn Sie sagen: Jeder soll selbst entscheiden, wie er
seine Familie zu Hause organisiert. - Aber unsere Aufgabe ist es, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass
jede Familie es auch so entscheiden kann, dass es funktioniert. Das tun wir aber nicht genügend, weil wir als
Staat nicht genügend Krippenplätze zur Verfügung stellen. Es kann daher nicht jede Familie das so organisieren, wie sie das will. Deshalb passt das nicht zu Ihrem
Argument, dass das Betreuungsgeld gerade das aufheben
würde.
({5})
Mit der Einführung des Betreuungsgeldes begehen
Sie einen Systembruch; Sie begehen ihn. Während der
Großen Koalition gab es hier im Hause einen breiten
Konsens darüber, dass Krippenplätze ausgebaut werden
sollen. An diesem Konsens zweifelt angeblich ja auch
niemand. Aber Sie schaffen jetzt ein neues Instrument
und verlassen damit den breiten gesellschaftlichen Konsens; denn Sie belohnen nun diejenigen, die eine staatliche Leistung, die wir alle gemeinsam gut finden, nicht in
Anspruch nehmen. Das ist ein Systembruch. Das gibt es
in keinem anderen Bereich. Das passt einfach nicht ins
übrige System.
({6})
Vorhin wurde ja ausgeführt: Die Zurverfügungstellung von Kitaplätzen ist eine staatliche Leistung; wir fördern damit die Familien. - Richtig! Aber wir fördern
durch den Straßenausbau auch die Autofahrerinnen und
Autofahrer. Was zahlen wir eigentlich denjenigen, die
kein Auto fahren? Was zahlen wir denjenigen, die keine
Bibliothek in Anspruch nehmen?
({7})
- Ja, natürlich, so ist es! Das wollen Sie nur nicht wahrhaben. Sie belohnen diejenigen, die eine staatliche Leistung nicht in Anspruch nehmen. Nennen Sie mir einen
Fall, bei dem wir das auch tun!
({8})
- Mit Steuergeldern! Und das mit einer nicht gegenfinanzierten Lösung, bei 1,2 Milliarden Euro, die bis heute
noch nicht gedeckt sind, die vielleicht Sie, Herr
Ramsauer, aus den Mitteln Ihres Haushalts mit bezahlen
müssen. Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir viel besser, wenn wir das Geld im Haushalt zusammenbekämen,
in den Ausbau von Krippenplätzen stecken. Da wäre das
Geld sinnvoll verwendet.
({9})
Sie kritisieren, dass wir das Betreuungsgeld als Fernhalteprämie bezeichnen. Sie sagen, das sei keine Fernhalteprämie und wir würden damit diejenigen disqualifizieren, die ihre Kinder in den ersten Jahren zu Hause
erziehen und bilden wollen. Alle Studien sagen: Natürlich passiert das auch zu Hause. - Ich würde niemals die
Erziehungsleistung in einer Kindertagesstätte und die
Erziehungsleistung von Familien gegenüberstellen.
({10})
Wenn, dann ergänzen sie sich immer. Die Studien, die
das kritisieren, beziehen sich nicht auf alle Familien,
sondern auf bildungsschwache Familien, und hier ist in
der Tat zu fragen, ob das Betreuungsgeld bei diesen Familien nicht doch eine Fernhalteprämie ist. Dieses Argument haben Sie immer noch nicht aus dem Weg geräumt.
Gerade diese Familien haben Unterstützung nötig. Hier
gibt es den Bedarf dafür, die frühkindliche Bildung so
früh wie möglich in Anspruch zu nehmen. Darauf gehen
Sie nicht ein.
({11})
Es wurde schon gesagt: Sie sollten endlich vom toten
Pferd absteigen. All das, was die Koalition an die
Adresse der Opposition gerichtet hat, die angeblich nur
ideologische Argumente hat, zielte im Grunde auch in
die eigenen Reihen. Diese Argumente wurden nämlich
auch von der Frauen-Union, von Frau von der Leyen,
Frau Laurischk, Frau Gruß und vielen anderen vorgebracht. Sie reden immer davon, wir diffamierten diejenigen, die das Betreuungsgeld unterstützen - Sie diffamieren ja Ihre eigenen Leute; denn die Argumente
„Fernhalteprämie“ und „bildungspolitische Katastrophe“
werden ja auch von Ihren eigenen Leuten vorgebracht.
Also überlegen Sie es sich gut, wenn Sie von einem
„vernünftigen Politikstil“ sprechen. Machen Sie eine anständige Politik, und steigen Sie vom toten Gaul ab!
({12})
Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin
Laurischk das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass wir heute eine geordnete Debatte über ein
zweifellos kontroverses Thema führen. Das sah in der
letzten Sitzungswoche noch durchaus anders aus: Da
blieb die Opposition draußen vor der Tür.
({0})
Wir hatten schon die Sorge, dass Sie das Thema gar
nicht diskutieren wollen. Aber wie wir heute sehen: Es
ist eine durchaus engagierte und, wie ich finde, auch
niveauvolle Diskussion, die den Menschen im Land
zeigt, dass wir die Themen, die wir uns setzen, auch
ernst nehmen.
Wir müssen eines sehen: Aufgrund eines Beschlusses
der Großen Koalition, von Schwarz-Rot, ist das Betreuungsgeld in die Welt gekommen. Das war nicht das
Thema der FDP. Mir zeigt das, dass große Koalitionen
eher nicht zu guten Ergebnissen kommen.
({1})
Die schwarz-gelbe Koalition sucht jetzt eine gute Lösung. Deswegen führen wir diese Diskussion.
({2})
Wir haben einfach Fragen zu klären, und dazu dient
die parlamentarische Debatte. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich Zweifel an der Verfassungsgemäßheit habe,
nämlich ob der Bund überhaupt zuständig ist, ob das
Problem der konkurrierenden Gesetzgebung richtig bedacht worden ist.
({3})
Das sind Fragen, die wir in der weiteren Debatte klären
müssen. Dazu werden wir auch eine Anhörung durchführen.
Es gibt noch weitere Fragen, die offen sind. Wir haben beispielsweise gesagt - dieser Vorschlag steht im
Koalitionsvertrag -, dass das Betreuungsgeld über ein
Gutscheinmodell zielgenauer verteilt werden könnte.
Auch hier gibt es sicherlich noch Klärungsmöglichkeiten. Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir, wenn
wir Geld in Familien mit ganz kleinen Kindern geben
wollen, sehr stark darauf achten müssen, dass die Kinder
sprachfähig werden, dass sie die deutsche Sprache gut
und sicher lernen.
({4})
Viele Schulen haben das Problem, dass viele Kinder in
dieser Hinsicht eine viel zu schmale Grundlage mitbringen. Das ist ein sachlicher, ein fachlicher Grund. Auch
solche Fragen werden wir klären.
({5})
Wir haben aber auch ein gesellschaftspolitisches Problem, das in dieser Debatte meiner Ansicht nach bisher
überhaupt nicht zum Tragen gekommen ist: Wir haben in
Deutschland zu wenig Kinder. Zu wenige entschließen
sich, Kinder zu haben, eine Familie zu gründen. Das hat
einen Grund: Immer weniger Frauen entschließen sich
für eine Familie, für ein Kind, weil sie dann eine Karrierechance verpassen. Es ist ganz klar, dass sich Frauen
diese Frage stellen. Mittlerweile sind Frauen in Deutschland gut ausgebildet und wollen beides: Wir wollen zum
einen Familie und Kinder, und wir wollen zum anderen
einen Beruf.
({6})
Entsprechend brauchen wir in dieser Hinsicht Unterstützung und den Ausbau einer guten Kinderbetreuung; das
ist gar keine Frage.
({7})
Das Betreuungsgeld ist, in diesem Kontext betrachtet,
nach meinem Dafürhalten ein wenig überzeugendes Taschengeld, das an dieser grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Fragestellung nichts ändern wird. In unserer
Verfassung steht der Auftrag, die Gleichstellung von
Mann und Frau zu fördern. Das Betreuungsgeld wird
vorzugsweise die Situation fördern, dass Frauen zu
Hause bleiben. Vielleicht sollten wir gerade auch in Anbetracht des eher konservativen Denkens, das hinter dem
Betreuungsgeld steht, nach dem eher die Frauen zu
Hause bleiben, einmal Folgendes überlegen: Ist es für
eine moderne Gesellschaft nicht auch sinnvoll, dass
Väter zu Hause bleiben?
({8})
Können wir die Gleichstellung vielleicht sogar mit dem
Betreuungsgeld fördern, indem ganz gezielt Väter länger
als nur zwei Elternmonate während des Bezugs von Elterngeld zu Hause bleiben?
({9})
Ich glaube, dann würde sich die Frage, ob wir das Betreuungsgeld wirklich wollen, auf eine ganz neue Art
und Weise stellen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Peter Tauber.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden
wieder über das Betreuungsgeld. Ich finde es - das muss
ich ganz ehrlich sagen - gut, dass die Opposition das Betreuungsgeld so klar und deutlich ablehnt, und zwar aus
einem Grund: Damit ist die Frage, was diese Seite des
Hohen Hauses für die Familien tut, die ihre Kinder im
Alter von 16 oder 21 Monaten zu Hause oder in der Familie erziehen, leicht zu beantworten: Sie tun für diese
jungen Familien nichts.
({0})
Es ist sogar noch schlimmer. Wenn es bei der bloßen
Ablehnung bleiben würde, könnte man noch sagen: Gut,
das ist ein ganz normaler politischer Streit um den richtigen Weg, und da haben wir halt unterschiedliche Auffassungen. - Aber die Art und Weise, wie Sie das Betreuungsgeld ablehnen, ist eine Stigmatisierung und vor
allem eine Diffamierung junger Familien, die man so
nicht stehen lassen kann.
({1})
Wir tun genau das Gegenteil. Wir diskutieren - durchaus auch kontrovers - darüber, wie ein Betreuungsgeld
ausgestaltet sein kann, damit es ankommt und funktioniert. Man muss die Frage beantworten: Was ist bei Teilzeitbeschäftigung? Man muss die Frage beantworten:
Was machen wir mit jungen Familien, wenn die Eltern
noch in der Ausbildung oder im Studium sind? Haben
auch diese Familien einen Anspruch auf das Betreuungsgeld? Über diese Fragen diskutieren wir. Das ist zugegebenermaßen komplizierter, als sich einfach hinzustellen,
Nein zu sagen und diejenigen zu beschimpfen, die ein
Familienmodell leben, das nicht Ihrem Idealbild entspricht. Das muss man an dieser Stelle sehr deutlich
sagen.
({2})
- Doch, Sie haben ein Idealbild. - Sie verraten sich ja
selbst. Ihr Antrag mit dem Titel „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“, über den wir hier auch diskutieren, gibt
eine klare Präferenz vor; er zeigt, was junge Familien in
diesem Land Ihrer Meinung nach zu tun haben.
({3})
Wir machen genau das Gegenteil. Wir sagen: Krippenausbau und Betreuungsgeld. Diesen Weg will die
Koalition gehen.
({4})
Wir wollen beides, und deswegen machen wir beides
- die Ministerin hat es erklärt -: Wir geben mehr Geld
für den Ausbau der Krippenplätze,
({5})
und wir überlegen, wie wir die Eltern unterstützen können, die einen anderen Weg wählen und ihre Kinder in
den ersten drei Lebensjahren selbst begleiten. An dieser
Stelle von einer bildungspolitischen Katastrophe zu
sprechen
({6})
- Sie wiederholen das hier immer -, ist nicht in Ordnung.
({7})
Auch an anderer Stelle stecken Sie Eltern pauschal in
eine Kategorie, in eine Schublade; das ist der völlig falsche Weg. Sie entlarven sich damit selbst.
({8})
- Frau Marks, Sie haben in der letzten Debatte 41-mal
dazwischengerufen; ich habe im Protokoll nachgezählt.
Eigentlich hätte man das Ihrer Fraktion von der Redezeit
abziehen müssen.
({9})
Heute einmal. - Sie haben eine Steigerung, die atemberaubend ist. Deswegen bin ich auch etwas sprachlos.
({10})
Das ändert aber nichts an der Tatsache, Frau Kollegin,
dass der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und uns
ist: Wir trauen sowohl Eltern etwas zu
({11})
als auch Erzieherinnen und Erziehern. Wir spielen in
dieser Debatte nicht beide gegeneinander aus.
({12})
Wir unterliegen auch nicht dem Trugschluss, dem Sie
immer wieder das Wort reden, dass ein Kind, vielleicht
aus schwierigen sozialen Verhältnissen, nur in eine
Krippe zu kommen braucht, und alles wird gut.
({13})
So funktioniert das nicht. Ein Kind braucht immer beides: Es braucht auf der einen Seite die Herzenswärme
und Liebe der Eltern - die kann auch eine noch so gute
Betreuung nie ersetzen -, und es braucht auf der anderen
Seite spätestens ab dem dritten Lebensjahr ein gutes
Kindergartenangebot, damit es Startchancen hat, damit
auf dem Weg in die Schule bildungsmäßig an der Stelle
etwas getan werden kann, an der Defizite gibt. Aber das
hat nichts mit den ersten drei Lebensjahren zu tun, über
die wir hier reden.
Uns zu unterstellen, wir seien dagegen, dass Kinder in
den Kindergarten gehen, ist genau das, was in dieser Debatte für eine Schärfe sorgt, die nicht guttut.
Moderne Familienpolitik hat für uns drei Säulen: erstens das Elterngeld, damit sich Väter und Mütter in den
ersten Lebensmonaten dafür entscheiden können, zu
Hause zu bleiben, zweitens der Ausbau der Krippenplätze, für den wir noch mehr Geld zur Verfügung stellen, und drittens das Betreuungsgeld.
Der grüne Oberbürgermeister von Darmstadt hat vor
kurzem auf einem Landesparteitag der CDU, auf dem er
gesprochen hat, weil er in Darmstadt stattgefunden hat,
erklärt, er sei kein großer Fan des Betreuungsgelds, aber
das Wort „Herdprämie“ komme ihm nie über die Lippen,
({14})
weil es eine Diffamierung der jungen Eltern sei, die sich
dafür entschieden hätten, ihre Kinder selbst zu erziehen.
Daran sollten Sie vielleicht einmal denken.
({15})
Zum Abschluss würde ich Ihnen gern ein kurzes Zitat
einer Mutter vorlesen, die mir geschrieben hat. Ich lese
das nicht aus dem Grund vor, weil diese Mutter für das
Betreuungsgeld ist. Das wäre zu leicht; ich könnte auch
zehn Briefe von Müttern vorlesen, die gegen das Betreuungsgeld sind; die habe ich auch. Ich will Ihnen das Zitat
aus einem anderen Grund nicht vorenthalten. Sie hat mir
geschrieben:
Ich bin der Meinung, dass Kinderbetreuung in einer
Kita für ganz kleine Kinder gerade für Frauen, die
arbeiten müssen oder alleinerziehend sind, sehr
wichtig ist. Sehr schade ist aber, dass das Familienleben und die Familienarbeit bei uns so wenig
Wertschätzung hat. Der Begriff „Herdprämie“ ist
für jeden, der sich die Zeit für die Kindererziehung
nimmt, ein Schlag ins Gesicht. Frauen wie ich sind
mittlerweile ganz still geworden. In unserem Land
fehlt Respekt und Toleranz, ein bisschen leben und
leben lassen.
({16})
Herr Kollege.
Wenn Ihre Art, diese Debatte zu führen, dazu führt,
dass Mütter und Väter, die die Betreuung selbst übernehmen, so denken und so empfinden, dann ist allein das ein
Grund, für das Betreuungsgeld zu stimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9917, 17/9572, 17/9582 und 17/9929
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Statistische Ermittlung des Einsatzes von
Werkverträgen und Leiharbeit in Unternehmen
- Drucksache 17/9980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Missbrauch von Werkverträgen verhindern - Lohndumping eindämmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen Kontrollen verstärken
- Drucksachen 17/7220 ({2}), 17/7482, 17/9473 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Nur nachrichtlich teile ich mit: Für die gerade stattgefundene Debatte haben wir mehr als die vereinbarte Zeit tatsächlich
in Anspruch genommen. - Ich höre keinen Widerspruch,
sodass wir damit auch diese Zeitvereinbarung so beschlossen haben.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Was haben die Firmen Rossmann, BMW,
Kaufland, Ikea und der Paketdienst GLS gemeinsam?
Ich kann es Ihnen sagen: Sie alle haben neben ihren fest
angestellten Beschäftigten Werkvertragsbeschäftigte als
billige Alternative. Wir reden hier nicht von Einzelfällen. Aber wie viele Werkvertragsbeschäftigte es gibt,
kann uns selbst Frau von der Leyen nicht mitteilen.
Würde sie sich des Problems annehmen, könnten wir
endlich über nachprüfbare Zahlen reden.
Meine Damen und Herren, schauen wir doch einmal
zurück: Es ist jetzt zwei Jahre her, dass wir in diesem
Haus über das Ende des Lohndumpings in der Leiharbeit
gestritten haben. Im Mittelpunkt stand die Forderung:
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Herausgekommen ist
eine halbherzige Verbesserung. Gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt es für die circa 1 Million Leiharbeitsbeschäftigten noch immer nicht. Bei Werkverträgen geht es
um nichts anderes. Hier läuft das gleiche miese Spiel,
nur mit anderem Namen und teilweise noch eine Nummer schärfer als bei der Leiharbeit.
Werkvertragsbeschäftigte zählen wie Leiharbeitsbeschäftigte zur Randbelegschaft im Betrieb. Sie verdienen
sowieso weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen im
Stammbetrieb und oftmals noch weniger als Leiharbeitsbeschäftigte. Nachdem Leiharbeit zu Recht den schlechten Ruf einer Lohndumpingbranche bekommen hat, gehen nun immer mehr Unternehmen dazu über, gleich den
ganzen Tätigkeitsbereich an eine Werkvertragsfirma
auszugliedern. Verbreitung findet das Modell Werkver22330
träge in der ganzen Republik. Es ist nicht nur in weniger
qualifizierten Bereichen zu finden; auch Ingenieure, die
in der Forschung bei großen Automobilkonzernen arbeiten, betrifft die Ausgliederung in Werkvertragsfirmen auch hier natürlich zu weniger Lohn und ohne Sonderleistungen.
Wie das System funktioniert, will ich Ihnen am Beispiel der Firma Rossmann, eines Drogeriediscounters,
den Sie alle sicherlich kennen, deutlich machen. Laut
Handelsblatt vom 15. Mai 2012 werden Werkverträge
und Leiharbeit bei Rossmann genutzt, um Kassentätigkeit, Regaleinräumung und Inventur zu erledigen. Beim
Regaleinräumen sinkt der Verdienst von 9,86 Euro laut
Verdi-Tarifvertrag des Einzelhandels in Niedersachsen
auf 6,63 Euro laut Tarifvertrag des Deutschen Handelsgehilfen-Verbandes West. Das ist ein Minus von sage
und schreibe 33 Prozent. An der Kasse wird ebenfalls
nicht mehr nach Verdi-Tarifvertrag bezahlt, sondern
nach dem grottenschlechten Leiharbeitstarif. Bei der Inventur wird auf der Grundlage eines polnischen Tarifvertrages entlohnt, da die beauftragte Werkvertragsfirma
eine polnische Firma ist. In diesem Betrieb gibt es also
drei Formen der Ausnutzung der aktuellen Gesetze, und
das gegen die Interessen der Beschäftigten.
Das System Rossmann hört hier aber noch nicht auf.
Rossmann verdient doppelt: sowohl am gesparten Entgelt als auch an den Gewinnen der Werkvertrags- und
Leiharbeitsfirmen. Die Regaleinräumerfirma instore solutions services gehört Rossmann zu 49 Prozent. Die instore solutions personnel GmbH, die Leiharbeitsfirma
für die Kasse, gehört Rossmann zu 22,5 Prozent. Die
polnische Inventurfirma Invent gehört der genannten
Rossmanntochter instore solutions services zu 49 Prozent.
Meine Damen und Herren, an diesem Beispiel kann
man erkennen, wie Leiharbeit und Werkverträge Hand in
Hand gehen, und zwar gegen die Interessen der Beschäftigten. Gute Arbeit und Entlohnungsbedingungen werden zum Auslaufmodell. Die Bundesregierung bzw. Frau
von der Leyen weigern sich, diese Realität anzuerkennen. Vor fast genau einem Jahr haben wir die Bundesregierung und Frau von der Leyen zu Werkverträgen befragt. Die Antwort war ernüchternd. Sie sieht keinen
Handlungsbedarf, sie weiß nicht, wie viele Menschen
über Werkverträge beschäftigt werden und zu welchen
Bedingungen sie beschäftigt werden, und sie will es
auch nicht herausfinden. Ich sage Ihnen: Es ist an der
Zeit, das Schlupfloch Werkverträge zu schließen.
({0})
Die Linke hat dafür gute Vorschläge vorgelegt. Erstens wollen wir das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ zur Regel machen, wenn es sich um eine Ausgliederung auf Werkvertragsbasis handelt. Eine Ausnahme von dieser Regel ist die gelegentliche Vergabe
von Aufträgen, zum Beispiel an Handwerksfirmen, die
für Reparaturarbeiten in einen Betrieb gerufen werden
müssen.
Zweitens muss als Werkvertrag getarnte Leiharbeit
schärfer reguliert werden. Bei Scheinwerkverträgen
müssen das auftraggebende und das auftragnehmende
Unternehmen bei Verdacht nachweisen, dass ein Werkvertrag gegeben ist. Gelingt das nicht, hat das eine Festeinstellung der betroffenen Beschäftigten beim Auftragsunternehmen zur Folge.
Drittens fordert die Linke eine stärkere Mitbestimmung der Betriebsräte bei der Vergabe von Werkverträgen.
Mit unseren Vorschlägen wäre dem Missbrauch der
Werkverträge als neue Form des Lohndumpings ein
Ende gesetzt.
({1})
Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu unseren Anträgen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Lange von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Statt über das reine Thema Zeitarbeit sprechen wir heute
über die Abgrenzung von Werkverträgen und Zeitarbeit.
Kollegin Krellmann, lassen Sie mich, bevor wir das
Ganze hier emotional debattieren oder emotionalisieren,
zunächst in einem kleinen juristischen Exkurs erklären,
was Werkverträge sind
({0})
und worum es sich bei der Zeitarbeit handelt.
({1})
- Bei der Zeitarbeit, liebe Kollegin Krellmann.
Bei einem Werkvertrag verpflichtet sich der Werkunternehmer, ein bestimmtes Werk zu erbringen.
({2})
Es geht also um eine Werkleistung. Im Gegensatz zur
Arbeitnehmerüberlassung besteht kein Schuldverhältnis
zwischen dem Arbeitnehmer, also dem Entliehenen, und
dem Werkbesteller, sondern nur hinsichtlich der Herstellung oder Veränderung des Werkes bzw. der Sache. Das
Direktionsrecht bleibt beim Werkunternehmer und geht
nicht an den Betrieb über.
({3})
Der Arbeitnehmer wird also nicht vom Auftraggeber gesteuert. - Ich bitte Sie also, zunächst einmal zu akzeptieren, wie das juristische Konstrukt aussieht, das dem
Ganzen zugrunde liegt.
({4})
Unstrittig ist - hier stimmen wir mit den Grünen überein, aus deren Antrag ich sogar wörtlich zitieren möchte -:
Werkverträge sind unter fairen Bedingungen ein regulärer Weg, um beispielsweise die Herstellung eines Produktes oder einer Dienstleistung an externe
Unternehmen zu vergeben und so Beschäftigung zu
schaffen.
Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, zeigt zumindest einen gewissen wirtschaftlichen
Durchblick und einen Durchblick für Zusammenhänge.
Die Schlussfolgerungen sind in unseren Augen allerdings Denkfehler.
Eines kann mit Sicherheit nicht sein - denken Sie an
meine juristischen Vorformulierungen von vorhin -,
nämlich dass Mitwirkungsrechte des Betriebsrates in das
Werkunternehmen hinein zugelassen werden, wie Sie
das wollen. Das ist systemwidrig; das gibt das System
schlicht und ergreifend nicht her.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie
begründen Ihren Antrag damit, dass es eine hohe Zunahme des Missbrauchs gibt.
({5})
Dann verifizieren und beweisen Sie das. Es gilt hier
nämlich keine Beweislastumkehr; wenn ich einen Antrag stelle, dann muss ich ihn begründen und die Angaben darin beweisen.
({6})
Sie können hier nicht irgendwelche Beispiele bringen,
die Sie vom Hörensagen kennen. Es gibt keine Verifizierung Ihrer Aussagen. Das alles sind Vermutungen.
Dass Missbrauch nicht ausgeschlossen ist, ist eine
Tatsache, die es im Rechtsleben überall gibt; denn immer, wenn es ein Gesetz gibt, kann man natürlich auch
eine Missbrauchsregelung finden.
({7})
Gegen diesen Missbrauch sind die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer aber nicht schutzlos. Wir haben Gerichte, die sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. Es
gibt Rechtsprechungen, die sehr wohl zwischen Zeitarbeit und Werkverträgen unterscheiden mit den wesentlichen Kriterien „Eingliederung in den Beschäftigungsbetrieb“ und „Weisungsrecht“. Dabei - so sieht es das
Bundesarbeitsgericht - ist eine umfassende Würdigung
der Begleitumstände vorzunehmen: Aufsicht über die
Fremdfirmenarbeiter, Gestaltung von Werkzeugen und
Material. Wie ist die materielle Ausstattung? Welchen
anderen Geschäftszweck kann ich hier noch erkennen? Das BAG unterscheidet zwischen den vertraglichen
Weisungen, die gegenständlich begrenzt sind, und den
arbeitsvertraglichen Weisungen. Wenn ich diese Abgrenzungskriterien nehme und den Arbeitseinsatz darunter
subsumiere, dann kommt es auf den konkreten Einzelfall
an, ob ich Zeitarbeit, illegale Zeitarbeit oder einen Werkvertrag habe. Dafür haben wir heute ausreichende Regelungen.
({8})
Diese Abgrenzungskriterien sind auch praxistauglich,
wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat. Ohne zusätzliche Bürokratie für die Arbeitgeber schaffen zu müssen,
gelingt es uns, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
schützen.
Die Rechtsprechung akzeptiert nicht die rechtsmissbräuchliche Anwendung von Werkverträgen, liebe Kollegin Krellmann. Was Sie uns glauben machen möchten,
ist, dass hier grundsätzlich ein Rechtsmissbrauch vorliegt. Das ist ausweislich nicht der Fall.
({9})
Deswegen sehen wir wie die Mehrheit der Sachverständigen derzeit keinen Bedarf, hier gesetzlich tätig zu werden.
({10})
Ich habe bereits in meiner letzten Rede gesagt: Es gibt
hier geradezu ein reflexartiges Rufen nach immer mehr
Gesetzen, nach immer mehr Verordnungen und damit
am Ende nach immer mehr Bürokratie,
({11})
aus der Vermutung heraus, der böse Arbeitgeber handele
gegen den Arbeitnehmer. Hier gibt es aber ein Miteinander, das in diesem Lande sehr gut funktioniert. Sie fordern nun in Ihrem Antrag, die Beweislast dem Arbeitgeber aufzuerlegen. Das ist nicht korrekt, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Was die Linken angeht, möchte ich auf die weiteren
Punkte nicht eingehen. Sie zeigen einmal mehr, dass sie
letztlich ein Abrücken von unserer sozialen Marktwirtschaft wollen,
({13})
dass sie nicht bereit sind, unternehmerische Freiheit zu
akzeptieren. Die unternehmerische Freiheit ist Grundlage unseres Wirtschaftssystems; sie hat dieses Land
groß und stark gemacht.
({14})
Ich möchte jetzt nicht auf einzelne schwarze Schafe
eingehen,
({15})
weil wir hier keine Einzelfalldebatte führen. Wir als Gesetzgeber führen eine Debatte über grundsätzliche gesetzliche Regelungen.
Herr Kollege Lange, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann zuzulassen?
Nein. Ich rede heute ohne Unterbrechung.
({0})
Worum geht es? Es geht darum, dass wir die Möglichkeiten unserer arbeitsteiligen Wirtschaft aufrechterhalten. Es gibt Dinge, die spezialisierte Betriebe auch in der
Automobilindustrie zuliefern.
({1})
Es gibt Ingenieure, die auch sehr gut bezahlt sind, die ein
einzelner Betrieb nicht vorhalten muss.
({2})
- Dann aber ist unsere gesetzliche Regelung ausreichend, lieber Kollege Heil. Dann brauchen wir nichts
neu zu regeln. - Eines stimmt auch nicht, nämlich dass
der, der zuliefert, grundsätzlich schlechter zahlt als der
Betrieb, in dem das hergestellte Werk weiterverarbeitet
und eingesetzt wird.
({3})
Sollte eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer schon
heute Bedenken haben, ob das Vertragsverhältnis korrekt
ist, dann brauchen sie kein Aufblähen der Schwarzarbeitskontrolle, sondern dann können sie sich an die
Deutsche Rentenversicherung wenden und eine Statusüberprüfung machen lassen,
({4})
so wie wir, die in diesem Feld tätig sind, das zigfach jedes Jahr machen, mit all den rechtlichen Konsequenzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten an einem
bewährten System mit von der Rechtsprechung sauber
entwickelten Abgrenzungskriterien fest, die sich in der
Praxis bewährt haben, die wir juristisch mit Leben gefüllt
haben. Ich vertraue weiterhin auf unsere Gerichte und auf
das, was wir jetzt als gesetzliche Grundlage haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Hubertus Heil von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Lange, niemand bestreitet, dass unternehmerische Freiheit ein konstitutives
Moment einer sozialen Marktwirtschaft ist. Aber Sie
verwechseln Freiheit mit der Freiheit, Menschen auszubeuten. Das unterscheidet uns möglicherweise.
({0})
Unternehmerische Freiheit in diesem Land ist wichtig, Herr Lange, aber soziale Bürgerrechte und Arbeitnehmerrechte sind genauso wichtig.
({1})
Es geht um den Einklang von sozialen Bürgerrechten der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unternehmerischer Freiheit. Es ist nicht die Freiheit der Ausbeutung
und Lohndrückerei, die unsere soziale Marktwirtschaft
verheißt. Vielmehr sind wir in diesem Land gut damit
gefahren, mit einer anderen Tradition zu arbeiten.
Der Missbrauch - ich rede von Missbrauch - von
Zeit- und Leiharbeit wird mittlerweile öffentlich diskutiert. Wir kommen hoffentlich irgendwann über den
Mindestlohn in der Zeit- und Leiharbeit hinaus, den wir
Ihnen abringen mussten, zu wirksameren Regeln, Stichwort: gleicher Lohn für gleiche Arbeit zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeitern.
({2})
Wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Aber wir müssen
auch aufpassen, dass die notwendigen Regulierungen in
dem einen Bereich nicht zu Ausweichreaktionen in anderen Bereichen führen. Das ist ein bisschen wie bei
Wasser, das sich immer seinen Weg sucht. Sie verfahren
hier, vor allen Dingen die Ministerin von der Leyen, die
ich vorhin kurz gesehen habe, nach dem alten Bild der
berühmten drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts
sagen ({3})
ich möchte hinzufügen: vor allen Dingen nichts tun.
Sie haben von Beweisen und Beweislast gesprochen.
Wir befinden uns hier zwar nicht in einem Strafgerichtsverfahren; aber ich möchte Ihnen juristisch antworten:
Nehmen Sie zumindest bestimmte harte Indizien wahr!
Wenn auf einer Tagung eines arbeitgeberfinanzierten Instituts zum Thema Werkverträge von findigen Arbeitsrechtlern Hinweise gegeben werden - ich zitiere -, wie
„dem Damoklesschwert des Branchenmindestlohns zu
entkommen“ ist und dabei vor allen Dingen auf die
Möglichkeit der Werkverträge verwiesen wird, dann ist
Hubertus Heil ({4})
das ein hartes Indiz dafür, dass wir in diesem Bereich
Missbrauch haben. Wenn Sie uns nicht glauben, glauben
Sie den Fahndern im Bereich der Kontrolle von
Schwarzarbeit. Es gibt massive Hinweise auf diese Form
von Missbrauch.
Ich gebe eines zu: Dieser Bereich - da haben Sie vollkommen recht - ist nicht öffentlich ausgeleuchtet. Wir
könnten uns aber darauf verständigen, das zu machen.
Wer kann das machen? Ich finde, es ist Aufgabe einer
Bundesministerin für Arbeit und Sozialordnung, Licht in
diese dunkle Grauzone zu bringen.
({5})
Das ist Ihre Aufgabe. Sie verweigern sich aber an dieser
Stelle.
({6})
Lassen Sie uns zumindest dafür kämpfen, dass es
Transparenz gibt. Vielleicht können wir uns darauf einigen. Bevor Sie sagen, das sei überhaupt kein Problem,
und die Linkspartei dies für das größte Problem der Welt
hält, sollten wir eine Analyse der Lage vornehmen. Dazu
muss die Bundesregierung erst einmal bereit sein, die
Datengrundlage zu schaffen, was sie verweigert. Dann
können wir darüber diskutieren, welche Möglichkeiten
es gibt, dem Missbrauch - ich betone: Missbrauch - von
Werkverträgen entgegenzuwirken. Sie haben vollkommen recht: Viele Werkvertragsbeziehungen in unserem
Wirtschaftsleben sind vollkommen in Ordnung und ermöglichen ein auskömmliches Einkommen. Aber es gibt
eben auch sehr starke Hinweise auf Missbrauch.
Was kann man tun? Wir sollten beispielsweise über
einen gesetzlichen Mindestlohn bei Subunternehmen,
die es immer geben wird, reden. Das wäre zumindest
eine Möglichkeit, Lohndrückerei bei Ausgliederungen
entgegenzuwirken. Auch müssen wir über die Situation
von Soloselbstständigen in diesem Land reden, die nicht
sozialversicherungsrechtlich abgesichert sind und deshalb oftmals Opfer von Werkverträgen und von Lohndrückerei werden. Das sind zwei handfeste Vorschläge
dafür, was wir tun können.
Unsere Aufforderung an Sie ist, nicht die Augen zu
verschließen. Lohndrückerei ist nicht nur eine Katastrophe für die betroffenen Beschäftigten; das ist sie ohnehin. Wie entwürdigend ist es denn, wenn man hart arbeitet, aber am Ende des Tages keinen gerechten Lohn
bekommt und dann auch noch erlebt, dass man durch
solche Konstruktionen in der Entlohnung heruntergestuft
wird? Wir reden über Menschen, die ohnehin nicht viel
verdienen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie über zu
viel Leidenschaft in diesem Land klagen, dann fehlen Ihnen vielleicht das Herz und die Empathie für die betroffenen Menschen. Vielleicht ist das Ihr Problem.
({7})
Ich finde, Leidenschaft und Verstand müssen sich nicht
ausschließen; sie gehören zusammen. Es geht auch darum, zu erfahren, was Menschen in diesem Bereich erleben. Sie können nicht verkennen, dass die Lohndrückerei über den Missbrauch von Leih- und Zeitarbeit, aber
auch über den Missbrauch von Werkverträgen nicht nur
für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bitter ist, sondern ökonomisch fatale Folgen in diesem Land hat.
({8})
Wenn wir über wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland
reden, müssen wir auch wettbewerbsfähig und exportstark sein. Das ist gar keine Frage. Aber wir müssen
auch für Investitionen und vor allem für Kaufkraft am
Binnenmarkt sorgen. Lohndrückerei führt dazu, dass wir
zwar starke Auswärtsspiele, aber keine starken Heimspiele haben.
Dass wir in diesem Land faire Löhne brauchen, ist
eine Frage des Anstands gegenüber den betroffenen
Menschen. Aber es ist auch volkswirtschaftlich vernünftig, für eine ausreichende Kaufkraft in diesem Land zu
sorgen. Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen am
Arbeitsmarkt werden wir dies noch stärker brauchen.
Das ist der Grund, warum die SPD-Bundestagsfraktion
nicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt eine neue
und faire Ordnung am Arbeitsmarkt fordert. Wir müssen
das Verhältnis von Flexibilität und Sicherheit am Arbeitsmarkt neu beleuchten und austarieren. Jede Zeit
braucht ihre Antworten. Das gilt auch beim Missbrauch
von Werkverträgen.
Machen Sie die Augen auf! Machen Sie Ihren Job,
und verweigern Sie nicht den Blick auf die Realität der
Menschen in diesem Land!
Herzlichen Dank.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Heinrich Kolb das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind praktisch am Ende des ersten Halbjahres 2012 angekommen. Die aktuellen Arbeitsmarktdaten zeigen, dass
wir uns als Bundesrepublik Deutschland allen Kassandrarufen zum Trotz in einem schwieriger werdenden
konjunkturellen Umfeld hervorragend behaupten. Das
will ich zunächst einmal feststellen.
({0})
Lieber Hubertus Heil, vielen Menschen in unserem
Land ist mit einem Arbeitsplatz viel besser geholfen als
mit Reden, wie sie heute Morgen von der Opposition gehalten werden.
({1})
Es ist dieser schwarz-gelben Koalition Gott sei Dank
gelungen, die Beschäftigungszahlen auf einen neuen
Rekordstand hochzufahren.
({2})
Hinter diesen Zahlen verbergen sich knapp 1 Million
Zeitarbeitnehmer, aber eine ungleich größere Zahl von
Arbeitnehmern, die entlang von Zulieferketten in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft beschäftigt sind. Diese
Zulieferketten wollen Sie, Linke und Grüne, mit Ihren
Anträgen heute unter Generalverdacht stellen. Das halten wir für falsch, um das sehr deutlich zu sagen.
({3})
Ihre Äußerung, Frau Kollegin Krellmann, Sie hätten
nichts dagegen, wenn Handwerker gelegentlich ein paar
Reparaturarbeiten ausführen, zeigt mir, dass Sie von der
Realität in unserer Volkswirtschaft keine Ahnung haben.
Sie haben die Zulieferhandwerke, die eine wesentliche
Säule des deutschen Handwerks sind, völlig ausgeblendet. Diese Zulieferhandwerke sind in der Regel nicht nur
gelegentlich, sondern in festen Beziehungen für ihre
Auftragnehmer tätig. Es wird jedes Mal, wenn ein Auftrag kommt, neu über den Preis und die Bedingungen
verhandelt, aber dann werden diese Aufträge angenommen. Solche Beziehungen sind über Jahre hinweg stabil.
Aber dafür haben Sie offensichtlich kein Ohr. Ich halte
das für fatal, weil es die stärksten Betriebe in Deutschland sind, an die Sie die Axt legen wollen.
Werkverträge sind nicht nur in der Automobilindustrie wichtig - in diesem Bereich sind sie vielleicht am
bekanntesten; dort gibt es auch die größten Zulieferunternehmen -, sondern in jeder Branche. Sie müssen
doch sehen, dass Arbeitsteilung auch in komplexen Arbeitsfolgen da stattfindet, wo es sinnvoll ist, und dass
sich jemand spezialisiert,
({4})
spezielle Maschinen und spezielles Werkzeug kauft und
seine Arbeitnehmer in spezieller Weise ausbildet, um sie
effizient einsetzen zu können.
({5})
Es ist völlig richtig, was Kollege Lange gesagt hat: In
solchen Zulieferbetrieben können auch die Werkunternehmer ihre Arbeitnehmer in der Regel sehr gut bezahlen, weil sie sich die entsprechenden Wirtschaftlichkeitspotenziale erschließen, was Sie offensichtlich völlig
ausblenden. Aber ich weiß auch, woher das kommt. Ihr
Denken ist Planwirtschaft pur.
({6})
In der DDR gab es keine Werkunternehmer. Dort gab es
VEB, die von A bis Z, vom Anfang bis zum Ende, in
einer unglaublichen Fertigungstiefe alles ausgeführt
haben. Aber wo das endet oder - besser gesagt - wohin
Sie damit gekommen sind, haben Sie doch sehr deutlich
gesehen.
({7})
Das wollen wir nicht. Wir wollen auch künftig eine arbeitsteilige Volkswirtschaft, in der mithilfe von Werkverträgen wie in einem Getriebe große und kleine Zahnräder
ineinandergreifen. So werden Aufträge bestmöglich abgewickelt und wird die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Wirtschaft auf internationaler Ebene gewährleistet.
({8})
Dort, wo es im Einzelfall möglicherweise zu Missbrauch kommt,
({9})
gibt es bereits heutzutage eine ganze Reihe von Kriterien, die man heranziehen kann. Aber so wie Sie es in
Ihren Anträgen formulieren, wird es nicht funktionieren.
Es muss unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien
immer eine Einzelfallprüfung bzw. Einzelfallentscheidung erfolgen. Aber nun die FKS loszuschicken und die
Wirtschaft sozusagen flächendeckend zu scannen, halte
ich für falsch. So wie wir es bisher gehandhabt haben,
sind wir gut gefahren. Im Einzelfall wird im Rahmen
eines Antragsverfahrens der Status eines Arbeitnehmers
geprüft und festgestellt. Daran sollten wir auch in
Zukunft festhalten.
Alles in allem bitte ich Sie sehr herzlich: Lassen Sie
die Kirche im Dorf! Wir brauchen die ganze Bandbreite
von Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland. Ich
weiß, lieber Hubertus Heil, dass Ihr Herz an der unbefristeten und unendlich mitbestimmten Vollzeitstelle
hängt; das ist Ihr Ideal. Aber die Realität sieht anders
aus. Neben den von Ihnen favorisierten Arbeitsverhältnissen, die nach wie vor die Mehrzahl der Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland darstellen, tragen
Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse,
Zeitarbeit sowie Mini- und Midijobs dazu bei, dass wir
so erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt sind, wie es die
aktuellen Zahlen widerspiegeln.
({10})
Lassen Sie also die Kirche im Dorf! Marschieren Sie
nicht einfach los, um flächendeckend einen ganzen Wirtschaftszweig unter Generalverdacht zu stellen! Sie sollten mit Augenmaß vorgehen. Wir werden versuchen,
Ihnen das in den Beratungen noch etwas näherzubringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Beate MüllerGemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu
viele Unternehmen nutzen gezielt das Instrument Werkvertrag, um ihre Lohnkosten zu senken. Das unterstelle
ich nicht leichtfertig, sondern das ist schlichtweg Realität in Deutschland. Offensichtlich wurde das auch bei
einem Kongress zweier bekannter Arbeitsrechtler. Beide
erklärten im vergangenen Jahr einer Reihe illustrer Unternehmen, wie Leiharbeitstarife durch Werkverträge
umgangen werden können. Schon bei der Begrüßung der
130 hochrangigen Teilnehmer aus der deutschen Industrie erklärten sie, es gebe eine Chance, den strengen
arbeitsrechtlichen Regelungen der Leiharbeit zu entfliehen. Anschließend wurde gezeigt, wie dies rechtlich
wasserdicht möglich ist. So etwas bezeichne ich als krisenhafte Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Es fehlen
klare Regelungen und effektive Kontrollen. Die Bundesregierung aber ignoriert auch dieses Thema ganz nach
der altbekannten Devise „Augen zu und durch“.
({0})
Rund um die Werkverträge werden also Vorschriften
missachtet. Arbeitgeber bewegen sich in der Grauzone
geltender Gesetze. Mithilfe von juristischen Beratern
werden vermeintlich legale rechtliche Konstruktionen
entwickelt. Mit diesen nutzen sie Werkverträge, um tarifliche Standards zu umgehen. Die Folge sind
Lohndumping und in vielen Fällen schlechtere Arbeitsbedingungen. Das geht zulasten der Sozialversicherung
und der Steuereinnahmen und insbesondere zulasten der
Beschäftigten. Hier dreht sich das Lohndumpingkarussell weiter: vom Missbrauch der Leiharbeit hin zum
Missbrauch von Werkverträgen. Die Bundesregierung
sollte das endlich zur Kenntnis nehmen.
({1})
Die Zahl der Scheinwerkverträge lässt sich nicht genau beziffern. Im Einzelhandel wird geschätzt, dass mittlerweile mehr als 100 Fremdfirmen mit 350 000 Beschäftigten Regale einräumen. In der Fleischindustrie ist
es inzwischen üblich, dass 80 bis 90 Prozent der Beschäftigten aus Subunternehmen kommen. Das IAW Tübingen schätzt, dass in der Automobilindustrie nur noch
23 Prozent des Wertes eines Pkw von den Beschäftigten
des Herstellers und 77 Prozent über Subunternehmen erzeugt werden. Gleichzeitig rechnen Wissenschaftler mit
einer wesentlich höheren Dunkelziffer. Da frage ich
mich wirklich: In welcher Welt leben wir eigentlich?
Mit Werkverträgen werden der Kündigungsschutz,
die betriebliche Mitbestimmung, die tarifliche Bezahlung und somit der soziale Schutz der Beschäftigten unterlaufen. Das ist die eine Sache. Ich mache mir aber
auch Sorgen, was dies insgesamt für unsere Arbeitswelt
bedeutet. Wenn immer mehr Beschäftigte auf der Grundlage von Werkverträgen auf demselben Betriebsgelände
am selben Produkt arbeiten, dann zersplittern die Belegschaften. Kollegialität und innerbetriebliche Solidarität
werden zerstört. Konkurrenz, Unsicherheit und Misstrauen entstehen. Das ist schädlich für das Betriebsklima
sowie auch für die Motivation und die Identifikation der
Beschäftigten mit dem Betrieb.
Die gewerkschaftlichen Errungenschaften, die über
lange Zeit hart erkämpft wurden, stehen nur noch auf
dem Papier. Das schwächt nicht nur die Beschäftigten,
sondern auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte.
Vor allem aber wird mit dem Geschäftsmodell „Werkverträge“ der jahrzehntealte gesellschaftliche Konsens
der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Das können Sie,
die Regierungsfraktionen, doch wohl nicht unterstützen.
Gesellschaftliche Verantwortung sieht anders aus.
({2})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen
lehnen Werkverträge nicht grundsätzlich ab. Wenn
Werkverträge für fachfremde Aufgaben mit gelegentlichem Charakter, für Vorprodukte oder spezialisierte Tätigkeiten vergeben werden, ist das unbedenklich.
({3})
Das sehen wir auch so. Es entspricht einer modernen Arbeitswelt.
Problematisch wird es aber, wenn Stammbelegschaften durch Werkvertragsbeschäftigte ersetzt werden, die
die gleichen Tätigkeiten verrichten, wodurch eine Konkurrenzsituation bei Löhnen und Arbeitsbedingungen
entsteht. Dann geht es eben nicht mehr um ein „Werk“
und schon gar nicht, wenn in tariffreie Zonen und billigere Tarifverträge verlagert wird. Für mich ist das
schlichtweg Tarifflucht und Lohndumping. Und für mich
gilt dann auch nicht der Verweis auf die Vertragsfreiheit.
Hier geht es um Scheinwerkverträge, und beim
Lohndumping hört die unternehmerische Freiheit auf.
({4})
Genau deswegen haben wir uns mit der Abgrenzung
zwischen Leiharbeit und Werkverträgen beschäftigt. In
unserem Antrag schlagen wir Kriterien vor, wie Scheinwerkverträge identifiziert werden können. Das bringt
mehr Rechtssicherheit, und die Kriterien sind dann auch
die Grundlage für Kontrollen. Zukünftig sollen auch die
Betriebe - und eben nicht die Beschäftigten - den Nachweis erbringen, dass ein Werkvertrag und keine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung vorliegt. Vor allem
aber soll die Finanzkontrolle Schwarzarbeit auch ohne
Hinweis prüfen können. Sie muss auch personell aufgestockt werden. Das Geschäftsmodell „Scheinwerkvertrag“ darf nicht weiter lukrativ sein. Auch hier brauchen
wir soziale Leitplanken zum Schutz der Beschäftigten.
({5})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, nehmen Sie sich
endlich des Themas an, auch wenn Sie heute unseren
Antrag wieder ablehnen. Die Arbeitswelt wird immer
unmenschlicher, denn mit Scheinwerkverträgen kann
man Menschen gewinnbringend als Sachausgaben verbuchen. Schließen Sie endlich das gesetzliche Schlupfloch; denn jegliche Arbeit hat ihren Wert und verdient
Wertschätzung.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, finde ich, ganz okay, wenn die Opposition auf
Probleme hinweisen will. Herr Kollege Heil hat aber, an
die Adresse der Regierungsfraktionen gerichtet, vorgetragen, dass wir angeblich das Thema „Ausbeutung von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern“ nicht im Blick
hätten, dass es an der notwendigen Empathie für die betroffenen Menschen fehle
({0})
und dass wir Lohndrückerei akzeptieren würden. Meine
sehr geehrten Damen und Herren, das Gedächtnis der
Sozialdemokraten scheint sehr kurz zu sein. Es war die
rot-grüne Koalition unter Schröder, die mit ihrem Gesetz
zur Leiharbeit dem Missbrauch der Leiharbeit Tür und
Tor - das waren riesengroße Scheunentore - geöffnet
hat. Das sind die Fakten.
({1})
Es ist diese Koalition aus CDU/CSU und FDP, die mit
dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - da geht es um
Leiharbeit - die notwendige Ordnung, die wir in diesem
Land brauchen, wieder hergestellt
({2})
und das, was Rot-Grün angerichtet hat, endlich korrigiert
hat.
Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Heil?
Bitte sehr, Herr Kollege Heil.
Bitte, Herr Heil.
Lieber Herr Weiß, Entschuldigung, dass ich Ihren zackigen Vortrag unterbreche. Ich wollte nur eine Frage
stellen, unabhängig davon, wer was früher gemacht hat
und dass Sie in diesem Bereich noch mehr wollten. Lassen Sie uns die Vergangenheit einen kurzen Moment
ausklammern und überlegen, was wir heute und jetzt tun.
Ich habe nur eine Frage: Wann setzen Sie endlich den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in der
Zeit- und Leiharbeit durch? Sind Sie dazu in der Lage?
Ich frage Sie, weil ich weiß, dass Sie persönlich Sympathien dafür haben. Aber wenn ich Teilen Ihrer Koalition, nicht Ihnen persönlich, Empathie an diesem Punkt
abspreche, liegt das einfach daran, dass ich in die Bibel
geschaut habe. Da steht der schöne Satz: An den Früchten sollt ihr sie erkennen. - Ich erlebe, dass Sie für die
Ordnung am Arbeitsmarkt rein gar nichts tun. Wann
kommt Ihr Gesetzentwurf für gleichen Lohn für gleiche
Arbeit in dieses Parlament? Unserer liegt vor. Nennen
Sie mir einfach ein Datum.
Herr Kollege Heil, um Ihrem Gedächtnis auf die
Sprünge zu helfen: Wir haben den Missbrauch der Leiharbeit - Drehtüreffekt à la Schlecker - per Gesetz unterbunden.
({0})
Wir haben das Gesetz aus Ihrer Regierungszeit korrigiert. Wir haben, um Lohndrückerei durch Leiharbeit zu
vermeiden, eine Regelung in das Gesetz aufgenommen,
({1})
die besagt, dass eine untere Lohngrenze für die Leiharbeit geschaffen werden kann. Seit dem 1. Januar dieses
Jahres gilt die untere Lohngrenze für die Leiharbeit bundesweit, im Unterschied zu dem, was Sie ins Gesetz geschrieben hatten.
({2})
Im Zusammenhang mit der damaligen Diskussion hat
die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula
von der Leyen, angekündigt, dass wir zuerst den Tarifpartnern die Gelegenheit geben wollen, durch Tarifverträge
({3})
für die Leiharbeiter die schrittweise Angleichung der
Löhne nach dem Grundsatz „Gleiche Bezahlung wie die
Festangestellten“ zu realisieren,
({4})
bevor wir gesetzgeberisch handeln.
Peter Weiß ({5})
({6})
- Nein. - Das heißt nicht, dass wir nicht gesetzgeberisch
handeln würden, sondern wir freuen uns,
({7})
dass die IG Metall
({8})
Branchenzuschläge für die Leiharbeit tarifvertraglich
vereinbart hat.
({9})
Wir freuen uns, dass die IG BCE ebenfalls branchenbezogene Zuschläge, bei denen man je nach Monat gestaffelt mehr verdient, für Leiharbeiter vereinbart hat.
({10})
Wir freuen uns, dass der Vorstand von Verdi und der
Vorstand der NGG beschlossen haben, ebenfalls über Tarifverträge für branchenbezogene Zuschläge zu verhandeln. Das heißt, aufgrund unserer konkreten Aufforderung schließen die Tarifpartner Vereinbarungen ab.
({11})
- Natürlich. Wir haben gesagt: Wenn ihr nichts macht,
dann handeln wir. - Jetzt handeln die Tarifpartner. Es ist
doch ein großartiger Erfolg, dass es die Tarifpartner selber schaffen, branchenbezogene Zuschläge für die Leiharbeit zu realisieren.
({12})
Herr Kollege Heil, deswegen muss man fair gegenüber den Tarifpartnern sein.
({13})
- Langsam. - Man muss als Parlament und als Regierung so fair gegenüber den Tarifpartnern sein, ihnen zunächst die Gelegenheit zu geben, das, was notwendig ist,
durch eigene Vereinbarungen zu regeln.
Ich halte noch einmal fest: Rot-Grün hat dem Missbrauch der Leiharbeit Tür und Tor - das waren Scheunentore - weit geöffnet.
({14})
Wir, die christlich-liberale Koalition, sorgen wieder neu
für Ordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das sind
die Fakten.
({15})
Natürlich missfällt das der Opposition; denn sie muss
zur Kenntnis nehmen, dass wir am Arbeitsmarkt eine
positive Entwicklung haben, die ihresgleichen sucht.
({16})
Wir haben den höchsten Stand an Beschäftigung, den
wir in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg hatten.
Es handelt sich um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, nicht um prekäre Beschäftigung. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland
wächst. Darüber sollten wir uns eigentlich freuen, und
diese Entwicklung sollten wir nicht schlechtreden.
({17})
Herr Kollege Weiß, der Kollege Meßmer würde gern
ebenfalls eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Das ist aber jetzt die letzte Zwischenfrage, die ich bei
dieser Rede zulasse.
Schönen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit. Ich fand es sehr stark, wie Sie eben die Gewerkschaften
gelobt haben.
Ja.
Sie haben aber auch zur Kenntnis genommen, dass
alle Gewerkschaften, die Sie gelobt haben, von der Politik gefordert haben, dass man endlich eine gesetzliche
Regelung für „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ und
vor allen Dingen eine gesetzliche Regulierung von
Werkverträgen schafft. Diese Information haben Sie
doch auch. Ich gehe davon aus, dass Sie angesichts des
Lobs der Gewerkschaften diese Forderung zumindest
persönlich unterstützen werden.
({0})
Herr Kollege, um es Ihnen präzise zu beantworten:
({0})
Ich schließe nicht aus, dass wir zum Grundsatz „Gleiche
Bezahlung für gleiche Arbeit im Bereich Leiharbeit“
auch gesetzgeberisch etwas regeln müssen. Ich habe vorhin ausgeführt: Die Aussage der Bundesministerin für
Arbeit und Soziales war und ist: Wir wollen zunächst
den Tarifpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern,
die Gelegenheit geben, mit Zuschlägen dieses Prinzip im
Tarifvertrag zu regeln.
({1})
So war die klare Aussage. Deswegen ist es nur fair und
richtig, den Tarifpartnern diese Gelegenheit zu geben.
Peter Weiß ({2})
Das Positive ist doch: Die Tarifpartner nutzen die Gelegenheit, indem sie solche Vereinbarungen treffen. Jetzt
warten wir einmal darauf, was Verdi und NGG bei ihren
Verhandlungen zustande bringen, und dann schauen wir
weiter.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Weiteres, was wir ebenfalls feststellen sollten, ist: Die erfreuliche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass
Lohnerhöhungen wieder möglich werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in der Krise auch
durch Lohnverzicht in einem großartigen Zusammenwirken der Sozialpartner mit dafür gesorgt, dass Deutschland schneller als alle anderen Industrienationen aus der
Krise herausgekommen ist.
({4})
Deswegen sind Lohnerhöhungen, die dieses Wort verdienen, heute wieder möglich. Außerdem sollten wir
feststellen: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland profitieren in dieser Zeit zu Recht vom
wirtschaftlichen Fortschritt in unserem Land. Auch das
ist eine positive Nachricht für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer.
({5})
Die Opposition führt diese Diskussion aus einem
Grund - das wollte ich klarstellen -: Sie will dieses Ergebnis schlechtreden. Klar, „Werkverträge“ ist ein
Thema. Aber gerade 1,7 Prozent der Erwerbstätigen sind
in Werkverträgen.
({6})
- Das sagt uns das IAB. - 1,7 Prozent! Das zeigt: Das ist
kein Massenproblem, sondern es ist ein relativ bescheidenes Problem.
Ich will klar und deutlich sagen: Man kann die Methode fortführen, die die Opposition anwendet. Mit der
Aufbietung von vielen kleinen Problemen, die es gibt
- ich will sie nicht wegreden -, versucht man, die hervorragende Entwicklung am Arbeitsmarkt kaputtzureden. Sie müssen nur eins verstehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Wir als
Regierungskoalition werden den Weg, der weiter zu
wirtschaftlichem Erfolg, zu mehr Beschäftigung und
auch zu einem höheren Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer führt, konsequent weitergehen
und uns nicht durch Ihre Miesmacherei schlechtreden
lassen. Das ist der entscheidende Punkt; das will ich in
dieser Debatte festhalten.
({7})
Das Nächste ist: Wir haben es natürlich mit der Situation zu tun, dass offensichtlich - weil es in der Leiharbeit bestimmte Regelungen gibt - versucht wird, auf das
Thema Werkverträge auszuweichen. Das ist das, was Sie
als Problem dargestellt haben. Deswegen werden wir
dieses Problem sehr aufmerksam verfolgen und beobachten.
({8})
Das ist richtig; das ist unsere Aufgabe. Dass Sie das uns
und der Ministerin absprechen, wundert mich etwas.
Aber der entscheidende Punkt ist doch - das hat der Kollege Uli Lange in seiner Rede zu Beginn der Debatte
klar, deutlich und präzise vorgetragen -: Wir haben klare
gesetzliche Regelungen, was Werkvertrag ist und was
nicht. Wir haben Rechtsprechung dazu, was Werkvertrag
ist und was nicht. Wir haben die Möglichkeit, zu kontrollieren, ob ein Werkvertrag vorliegt oder nicht, und
der Arbeitnehmer hat die Möglichkeit, seinen Status bei
der Deutschen Rentenversicherung feststellen zu lassen,
nämlich ob er Selbstständiger ist oder ob er abhängig
Beschäftigter ist. Das alles haben wir. Da ist doch das
Allererste, was man sagen muss: Wenn der Verdacht vorliegt, es würde Missbrauch betrieben, dann müssen wir
das, was wir an klaren rechtlichen Regelungen haben,
nutzen. Die Antwort kann nur sein: Wenn Verdacht auf
Missbrauch vorliegt, dann bitte kontrollieren und eine
Feststellung des Status bei der Deutschen Rentenversicherung vornehmen lassen. Unser Punkt ist, zunächst
einmal das, was wir an rechtlichen Regelungen haben,
zu nutzen, bevor der Ruf nach neuen Gesetzen laut wird.
({9})
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, kann
ich den Vorwurf nicht akzeptieren, die Koalition würde
Lohndumping tolerieren oder stillschweigend hinnehmen.
({10})
- Entschuldigung!
({11})
Zu einer sozialen Marktwirtschaft gehört guter Lohn für
gute Arbeit konstitutiv dazu.
({12})
Peter Weiß ({13})
Deswegen gelten heute übrigens in zehn Branchen in
Deutschland Mindestlohnregelungen. Das ist ein Vielfaches von dem, was zu Regierungszeiten von Rot-Grün
gegolten hat. Herr Heil, Sie wollten uns doch an den
Taten messen. Die Taten sind: Auch mit der FDP sowie
der CDU und CSU an der Regierung gibt es heute in
Deutschland in zehn Branchen, in denen die Situation
besonders sensibel ist und bei denen man den Verdacht
haben musste, dass Lohndrückerei stattfindet, Mindestlohnregelungen. Die gab es zu Zeiten von Rot-Grün
nicht. Das ist doch ein Fakt.
({14})
Ich denke, das werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land zur Kenntnis nehmen.
({15})
- Herr Kollege Heil, Sie wissen ganz genau, woran das
liegt:
({16})
weil es die Weiterbildungsbranche besonders schwer hat
({17})
- nein! -, den notwendigen Prozentsatz der Tarifbindung
tatsächlich nachzuweisen. Daran arbeitet die Branche
fleißig,
({18})
und wir, Herr Heil, sollten sie dabei unterstützen. Entschuldigung! Der Punkt ist doch: Sie haben in diesem
Bereich überhaupt keine Ordnung geschaffen.
({19})
Wir schaffen die Ordnung, und dann beklagen Sie, dass
binnen eines halben Jahres nicht alles in Ordnung gebracht ist, was Sie angerichtet haben.
({20})
In der Anhörung, die der Ausschuss für Arbeit und
Soziales zu diesem Thema durchgeführt hat, war es auffallend, dass sich die allermeisten Experten äußerst zurückhaltend zu der Frage geäußert haben, ob man mit
neuen, anderen gesetzlichen Regelungen die Zahl der
Werkverträge stärker eingrenzen könnte. Das zeigt: Ja,
es ist Wachsamkeit geboten, notfalls muss man vielleicht
auch gesetzlich regeln. Aber es sollte auch gelten: Wir,
das Parlament, sollten die von uns gemachten Gesetze
- sie sind von uns Parlamentariern beschlossen worden zur Anwendung bringen;
({21})
wir sollten die Kontrollmöglichkeiten, die wir als Gesetzgeber geschaffen haben, nutzen und zur Anwendung
bringen,
({22})
bevor wir den Ruf erheben, neue Gesetze zu schaffen,
die dann vielleicht erst recht nicht praktikabel sind.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir
sollten angesichts des Aufschwungs am deutschen Arbeitsmarkt froh und stolz sein. Wir sollten die Probleme,
die es gibt, selbstverständlich offen benennen, aber nicht
die Erfolge am Arbeitsmarkt kaputtreden. Wir sollten die
gesetzlichen Instrumentarien, die für die Kontrolle zur
Verfügung stehen, offensiv nutzen. Dann kann auf dem
deutschen Arbeitsmarkt in der Tat die notwendige Ordnung hergestellt werden, die die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu Recht erwarten.
Vielen Dank.
({23})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ottmar
Schreiner.
({0})
Nein, Herr Kollege Kolb, ich erkläre Ihnen nicht die
Welt, obwohl Sie es eigentlich nötig hätten; aber das ist
ein anderes Thema.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu
den letzten Bemerkungen vom Kollegen Weiß: Das, was
Sie hier im Plenum verkünden, klingt alles ein bisschen
wie eine militärische Befehlsausgabe.
({1})
Die letzte Losung der militärischen Befehlsausgabe lautete: Die jetzige Regierung reguliert und repariert die
Schäden, die Rot-Grün auf dem Arbeitsmarkt angerichtet hat.
({2})
Jetzt sagen alle: So ist es, ja, ja!, und nicken zustimmend. Nennen Sie mir ein einziges Beispiel, bei dem die
Union oder gar die FDP dagegen gewesen wäre. Sie haben alles bejubelt, was hier vorgetragen worden ist. Sie
sind die allerletzten, die Anlass haben, das zu kritisieren.
({3})
- Jemand, der allem zugestimmt hat, sollte gefälligst die
Schnauze halten - um im militärischen Jargon zu bleiben -,
sollte gefälligst den Mund halten - um es parlamentarisch auszudrücken.
({4})
Der Kollege Kolb hat den Kollegen Heil ein bisschen
angemistet nach dem Motto: Er hängt den altmodischen
Vollzeitarbeitsverhältnissen nach, die sozialversicherungsrechtlich geschützt sind. Er sagt es so, als ob das
eine Geschichte von vorgestern sei. Ich sage Ihnen, Herr
Kollege Kolb: Die vielen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die eine Familie gründen und ernähren
wollen, sind auf ein festes, auf Dauer angelegtes sozial
geschütztes Arbeitsverhältnis angewiesen. Das ist auch
ein elementares Stück Familienpolitik.
({5})
Diejenigen, die in zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen, in Leiharbeitsverhältnissen und in miserabel bezahlten Arbeitsverhältnissen arbeiten, können ihre Familien
damit nicht ernähren. Deshalb ist das normale Arbeitsverhältnis historisch eine Errungenschaft, die wir unter
keinen Umständen preisgeben dürfen. Zum ersten Mal
wird Arbeit so gestaltet, dass der Ertrag der Arbeit auch
vor Risikofällen und vor Unsicherheiten schützt, in denen nicht gearbeitet werden kann: bei Krankheit, im Alter, bei Arbeitslosigkeit. Das werden wir unter keinen
Umständen preisgeben, lieber Kollege Kolb. Das ist ein
Erbe, das wir mit allen Kräften verteidigen werden.
({6})
Es wird gesagt: Es handelt sich um einzelne schwarze
Schafe. Es handelt sich nicht um einzelne schwarze
Schafe
({7})
- Ja, es ist eine schwarze Herde. Der Begriff „schwarze
Schafe“ lockt ein bisschen, darauf einzugehen, aber ich
lasse es bleiben. Es handelt sich nicht um einzelne
schwarze Schafe. Ich nenne Ihnen ein Beispiel des Kollegen Rebmann. Er vertritt den Wahlkreis Mannheim. Er
hat mir vorhin einen Zettel zugeschoben. In Mannheim
gibt es die Firma MetoKote. Es ist ein amerikanisches
Unternehmen. Es ist Zulieferer für John Deere bei der
Lackherstellung. Diese Firma hat 50 Beschäftigte. Von
diesen 50 Beschäftigten sind 24 Leiharbeiter, 25 haben
eine befristete Stelle, und einer ist fest angestellt. Jetzt
erzählen Sie mir etwas von einzelnen schwarzen Schafen. Es ist unglaublich, dass eine solche Konstruktion
von Arbeitsbeziehungen in einer Firma in Deutschland
legal sein kann. Das sind Beschäftigungsverhältnisse,
von denen anständigerweise eine Familie nicht ernährt
werden kann. Es sind in weiten Teilen Tagelöhnerverhältnisse für ein oder zwei Jahre. Danach beginnen die
Sorgen von vorn.
Also: Sie sollten die Situation nicht verniedlichen.
Ungefähr 6 Millionen Leute haben zeitlich befristete
Arbeitsverträge. Wir haben knapp 1 Million Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer. Wir haben 7 Millionen
sogenannte Minijobverhältnisse. Wir haben einen Missbrauch bei den Werksarbeitsverträgen. Wir haben Missbrauch im Bereich der Praktikanten. Fast ein Drittel der
deutschen Arbeitsverhältnisse befindet sich im prekären
Bereich.
({8})
- Die Welt ist überhaupt nicht schlecht, aber Sie machen
nichts, um die Welt zu verbessern. Das ist das Problem.
({9})
Der Kollege Weiß greift uns an, was wir in unserer
Regierungszeit beim Thema Leiharbeit gemacht hätten
und was wir alles versäumt hätten. Herr Kollege Weiß,
Sie haben vergessen, die Machenschaften der sogenannten christlichen Gewerkschaften darzustellen. Erst durch
die Tarifverträge - 4 Euro, 5 Euro, 5,50 Euro Bruttolohn
in der Stunde -, die die sogenannten christlichen
Gewerkschaften - was daran christlich ist, weiß der Teufel - abgeschlossen haben, ist das Ganze in den Sumpf
geglitten. Erst durch diese Entwicklung vor einigen Jahren, ist es zu dieser Situation gekommen.
({10})
Sie müssen doch etwas zu ihren Betbrüdern sagen,
meine Damen und Herren von der Union. Das wird natürlich alles verschwiegen. Sie verschweigen auch, dass
Sie dem allen zugestimmt haben. - Wie dem auch immer
sei.
Es geht also nicht um einzelne schwarze Schafe, sondern um eine sehr systematische Arbeit. Der Kollege
Weiß sagt, seitdem es die Lohnuntergrenze bei der Leiharbeit gibt, gibt es immer mehr Missbrauch bei den
Werkverträgen. Ich zitiere Professor Düwell vom
19. April 2012. Düwell war über zehn Jahre Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht. Er kennt also die
Materie. Düwell schreibt in seiner Stellungnahme zu den
in Rede stehenden Anträgen:
Nachdem die Lohnuntergrenze zur Regulierung der
Leiharbeit Anfang 2012 in Kraft getreten ist, wurde
auf einer großen Schulungsveranstaltung für Geschäftsführer und Arbeitsrechtler von prominenten
Münchner Arbeitsrechtsprofessoren empfohlen, gezielt betriebliche Funktionen auf Werkvertragsnehmer zu verlagern, um Tariflöhne und die für
Leiharbeitnehmer geltenden Mindestentgeltsätze zu
unterlaufen.
Ich frage einmal ganz nebenbei: Was ist das für ein
Ethos, wenn hochverdienende Arbeitsrechtsprofessoren
ihre gesamte Fantasie darauf verschwenden, wie sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Dumpinglöhne
hineinbringen können?
({11})
Das ist wirklich unglaublich!
({12})
Dieser Methodenwechsel - heraus aus der inzwischen
leicht anregulierten Leiharbeit, denn mehr ist das nicht,
hinein in den massiven Missbrauch der sogenannten
unechten Werkverträge, wobei die Leute noch weniger
verdienen als bei der Leiharbeit - wird in Deutschland
systematisch betrieben. Da kann die Koalition nicht so
tun, als gebe es das nicht.
({13})
- Wie bitte?
({14})
- Es fehlt überhaupt kein Beweis. Es gibt ja auch andere
Professoren.
({15})
- Herr Kollege Wadephul, ich zitiere hier Professor
Düwell, der in seiner schriftlichen Stellungnahme ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Es gibt übrigens auch
noch andere Arbeitsrechtsprofessoren, an anderer Stelle
und institutionalisiert, die sich in ähnlicher Weise betätigen.
Ich sage Ihnen nochmals: Mir will nicht in den Kopf,
dass zu Recht gutverdienende deutsche Professoren ihre
Fantasie und ihr Hirnschmalz darauf verwenden, mit
dafür zu sorgen, dass Menschen möglichst wenig verdienen. Das ist unglaublich!
({16})
Der Kollege Kolb hat in einem weiteren lichtvollen
Moment gesagt, die Opposition würde die sogenannten
Zulieferketten unter Generalverdacht stellen. Herr Kollege Kolb, das ist wie üblich grober Unfug. Hier stellt
niemand die Zulieferketten unter Generalverdacht. Die
Opposition - und das ist unsere verdammte Pflicht und
Schuldigkeit - schaut lediglich einmal genauer hin, ob
und inwieweit insbesondere im Bereich der Zulieferketten Lohndumping betrieben wird. Das ist doch unser gutes Recht! Es wäre im Übrigen auch Ihr gutes Recht.
Ich will Ihnen zu diesem Punkt ein Zitat nicht ersparen, weil es die gesamte Problematik sehr anschaulich
schildert. Es stammt aus den Nürnberger Nachrichten
vom 25. April 2012. Das Zitat stammt aus einer Veranstaltung, die gemeinsam von der Bundesagentur für Arbeit, der Stadt Nürnberg und dem IAB in Nürnberg
durchgeführt worden ist. In den Nürnberger Nachrichten
heißt es dazu:
Eberhard Sasse, Chef und Inhaber einer Gebäudereinigungsfirma mit 5 000 Mitarbeitern … schildert, wie Mercedes mit ihm um die Reinigung der
Fertigungshallen feilschen wollte. Der Premiumautohersteller ließ durchblicken, ein Wettbewerber
habe ein günstigeres Putzangebot vorgelegt, er zahlt
den Mitarbeitern weniger.
Sasse: „Ein so niedriger Lohn reicht in Stuttgart
nicht zum Leben.“
Mercedes: „Dann müssten die Mitarbeiter eben aufstocken, die Kommune zahlt zum Existenzminimum drauf.“
Sasse: „Die S-Klasse aus Ihrem Haus kostet
100 000 Euro? Und dann wollen Sie unsere Dienste
unter Wert einkaufen. Und Sie wollen, dass die
Aldi-Kassiererin über ihre Steuern Ihre Putzkolonne mitbezahlt?“
Nein, das wollte der Einkaufsmanager des Autoherstellers so dann doch nicht. Sasse schließt seinen
Exkurs: „Wir haben den Auftrag bekommen.“
Die Nürnberger Nachrichten schlussfolgern:
Oft läuft es anders, jeder - ich füge hinzu: außer Ihnen, Herr Kolb.
- weiß das. Der Billigheimer macht das Rennen.
Und dann? Die Billiglohnfirma verdrängt die anständig bezahlende Konkurrenz und bleibt selbst
am Markt.
Das heißt, der anständige Löhne zahlende Unternehmer ist der Dumme. Das ist geltendes Recht hier in
Deutschland, lieber Herr Kollege Kolb. Das darf so nicht
bleiben.
({17})
Es gibt eine ganze Reihe von Antworten.
Da sich meine Redezeit dem Ende zuneigt, will ich
Ihnen, lieber Kollege Kolb, noch ein letztes Zitat mit auf
den Weg geben. Wir haben eine Fülle von Vorschlägen
gemacht, nicht nur in Sachen „unechte Werkverträge“.
Wir haben Vorschläge gemacht zum Mindestlohn, insbesondere zur erleichterten Allgemeinverbindlichkeit von
Tarifverträgen, um in den unteren Lohnbereichen vernünftige Regulierungsmechanismen zu erwirken. Sie
wehren sich bis zur Stunde entschieden unter anderem
gegen den Mindestlohn.
Das Zitat lautet:
… [es gibt] doch einen bestimmten Satz, unter den
der gebräuchliche Lohn selbst der geringsten Art
von Arbeit nicht auf längere Zeit heruntergebracht
werden zu können scheint. Es muss ein Mensch
durchaus von seiner Arbeit zu leben haben, und der
Arbeitslohn muss wenigstens hinreichend sein, um
ihm den Unterhalt zu verschaffen. Ja, er muss in
den meisten Fällen noch mehr als hinreichend sein,
sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, eine Familie zu gründen.
Das ist die klassische Forderung, das klassische Verlangen nach einem existenzsichernden Mindestlohn, mit
dem man auch eine Familie ernähren kann. Wissen Sie,
von wem diese Forderung ist? Diese Forderung ist von
dem Urvater der politischen Ökonomie.
Herr Kollege Schreiner.
Nicht von Karl Marx, sondern von Adam Smith. Die
Forderung stammt aus dem Buch Der Reichtum der Nationen von 1786.
({0})
- Lieber Herr Kollege Kolb, Sie sind weit hinter 1786
zurückgeblieben. Sie sollten einiges dafür tun, um sich
diesem Datum allmählich zu nähern.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Schreiner, wenn ich Sie reden höre,
({0})
bin ich mir nicht immer so ganz sicher, ob Sie die Wirklichkeit tatsächlich so wahrnehmen, wie Sie sie hier
schildern, oder ob Sie sie ganz bewusst dramatisieren.
({1})
Da Sie von der Opposition sind, vermute ich, dass Sie
sie ganz bewusst dramatisieren.
({2})
Manchmal bin ich da aber unschlüssig, wenn ich sehe,
mit welchem Engagement und welchem Pathos Sie hier
auftreten, wenn Sie die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt schildern.
Ich biete Ihnen an, dass wir die Sommerpause nutzen,
um uns vor Ort gemeinsam über die Situation auf dem
Arbeitsmarkt in Mannheim zu informieren. Wir könnten
das Unternehmen, über das Sie eben gesprochen haben,
aber auch die Situation Beschäftigter anderer Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt am Beispiel Mannheim anschauen. Dazu bin ich gerne bereit. Ich glaube, da wird
sich ein Bild ergeben, das weit weniger düster ist als jenes, das Sie hier skizzieren.
({3})
Sicherlich gibt es an der einen oder anderen Stelle auf
dem deutschen Arbeitsmarkt den Missbrauch von Werkverträgen, aber es gibt heute bereits Gesetze, durch die
der Missbrauch bekämpft werden kann. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung kann im Rahmen einer Prüfung gemäß § 2 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes auch Werkverträge prüfen, und sie
tut es. Die Rentenversicherungsträger können Werkverträge prüfen, und sie tun es.
({4})
Zu den tatsächlichen Zahlen - das muss man sich wirklich
auf der Zunge zergehen lassen -: Im Jahr 2010 gab es im
Zuge dieser Kontrollen 64 abgeschlossene Strafverfahren
und 1 267 abgeschlossene Ordnungswidrigkeitsverfahren, übrigens mit rückläufiger Tendenz im Vergleich zu
den Vorjahren. Stellen Sie sich das einmal vor: 64 abgeschlossene Strafverfahren gegenüber 28 Millionen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter und 4 Millionen Selbstständigen in Deutschland - das ist eine
verschwindend geringe Zahl. Die derzeitige Gesetzeslage
reicht aus, um Missbrauch zu bekämpfen. Ich sehe keinen
Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, weitere Regulierungen und Kontrollen einzuführen.
({5})
Nun kann es ja Ihr subjektives Empfinden sein, dass
auf dem Arbeitsmarkt alles ganz schlimm ist.
({6})
Die christlich-liberale Koalition orientiert sich aber nicht
am subjektiven Empfinden, sondern an Fakten, und die
Fakten sprechen eine andere Sprache als das, was Sie
hier zeichnen.
Dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit den bestehenden Gesetzen handlungsfähig ist, zeigen insbesondere die jüngsten Ermittlungen gegen zwei große deutsche Einzelhandelsunternehmen. So reichte der bloße
Verdacht auf illegale Arbeitnehmerüberlassung aus, um
bundesweite Ermittlungen gegen diese beiden Unternehmen einzuleiten. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass die
bestehende Gesetzeslage ausreicht und dass gegen Missbrauch in Deutschland bereits vorgegangen wird.
Werkverträge gibt es wahrscheinlich schon länger als
Adam Smith, Herr Schreiner. In Deutschland sind sie
seit über 100 Jahren Bestandteil des Bürgerlichen Gesetzbuches. Sie haben sich - das haben der Kollege Kolb
und auch andere Redner der Koalition schon eindrücklich dargelegt - in der Praxis bewährt. Letzten Endes
sind sie das Fundament des Wirtschaftssystems, in dem
wir leben.
({7})
Das durch Gesetze kaputtzumachen oder - was eigentlich noch schlimmer ist - kaputtzureden, wie Sie das auf
dramatische Weise tun, ist der Sache in keinster Weise
angemessen. Sie machen den Menschen Angst, statt ihnen die Augen für die tatsächliche Lage in Deutschland
zu öffnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich bitte Sie, die Situation am deutschen Arbeitsmarkt in
Zukunft etwas realistischer darzustellen. Ich glaube
nicht, dass es hilft, wenn wir den Menschen draußen
Angst vor der Zukunft machen.
({8})
Uns stehen extrem schwierige Zeiten bevor. Die Debatte
über den Euro zeigt deutlich, welche wirtschaftliche Entwicklung die Lage auf den Weltmärkten erwarten lässt.
Ich glaube, dass wir eher sachlich diskutieren müssen,
damit die Bürgerinnen und Bürger von der Politik nicht
enttäuscht werden.
Vielen Dank.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Sabine Zimmermann das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Kolb - Sie merken, Sie stehen
heute im Mittelpunkt -,
({0})
wenn eine Erzieherin, die bei einer Leiharbeitsfirma angestellt ist, mit 1 000 Euro netto im Monat nach Hause
geht, obwohl sie gemäß Tarifvertrag eigentlich rund
2 200 Euro verdienen müsste, würden Sie das dann nicht
als Lohndrückerei bezeichnen? Ich kann Ihnen viele
weitere Beispiele nennen. Das sind keine Einzelfälle.
Das ist Standard in dieser Republik.
({1})
Das Phänomen der Werkverträge, über das wir heute
hier diskutieren, also die bewusste Ausgliederung von
Unternehmensteilen, um Lohndumping zu betreiben, ist
nur eines der Instrumente, deren sich die Arbeitgeber
hier bedienen. Dabei geht es nur darum, dass Unternehmen Scheinwerkverträge abschließen, um illegal Leiharbeiter zu beschäftigen.
An dieser Stelle möchte ich auf die Razzien verweisen, die der Zoll Anfang des Jahres bei den Einzelhandelsketten Kaufland und Netto durchgeführt hat. Dort
sollen rechtswidrige Werkverträge mit Lagerarbeitern
und Staplerfahrern abgeschlossen worden sein. Selbst in
einigen Handelsketten werden Kassiererinnen über einen
Werkvertrag beschäftigt. Das muss man sich einmal vorstellen. So etwas ist in Deutschland möglich. Das ist
nicht nur ein Betrug an den Beschäftigten, die 30 Prozent weniger Lohn erhalten, sondern auch ein Betrug an
der Gemeinschaft;
({2})
denn diese Unternehmen haben Sozialabgaben hinterzogen. Hier muss doch die Politik handeln, aber Bereitschaft dazu kann ich bei Ihnen überhaupt nicht erkennen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht ja nicht nur
um Scheinwerkverträge. Es geht auch um die ganz legalen Werkverträge, mit denen Unternehmen ganze Abteilungen völlig gesetzestreu ausgliedern und an Billiganbieter weitergeben. Hier fordert die Linke: Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit! - Diese Forderung muss endlich umgesetzt werden.
({4})
Für mich ist es unfassbar, mit welcher Gleichgültigkeit die Bundesregierung diesem Treiben der Arbeitgeber zuschaut, ohne zu handeln. Aber sie praktiziert es ja
auch selbst bei ihren Ministerien und den ihr unterstellten Behörden. So wurden im Verantwortungsbereich des
Bundes im letzten Jahr nicht nur über 1 000 Leiharbeiter
eingesetzt, von denen lediglich 29 übernommen worden
sind, sondern es werden auch immer mehr Dienstleistungen nach außen vergeben. Der größte Bereich ist dabei
der Wach- und Sicherheitsdienst. Wir wissen doch alle
unter diesem Dach, dass diese Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus zu niedrigen Löhnen beschäftigt
werden. Das können wir doch nicht zulassen!
({5})
Werkverträge sind nur ein Teil der Fehlentwicklung
auf dem Arbeitsmarkt. Das wurde heute schon mehrfach
gesagt. Ich will nur einige Stichworte nennen: Leiharbeit, Minijobs, befristete Beschäftigung, Teilzeit. Das ist
das Jobwunder von Frau Merkel. Herr Weiß, ich muss
Ihnen wirklich widersprechen,
({6})
wenn Sie von einem guten Arbeitsmarkt sprechen. Sie
müssen berücksichtigen, dass prekäre Beschäftigung
Vorrang hat. Das ist für die Kolleginnen und Kollegen
nicht zumutbar.
({7})
- Doch, damit habe ich recht.
({8})
Ich nenne Ihnen gleich ein paar Zahlen, Kollege Weiß.
Arbeitgeber greifen immer häufiger auf atypische Beschäftigungsformen zurück.
({9})
Sie können dies tun, weil die Politik dafür Unterstützung
gibt und die Fehlentscheidungen, die hier in den letzten
Jahren getroffen worden sind, einfach nicht korrigieren
will.
Erst jüngst hat die Bundesagentur für Arbeit Zahlen
veröffentlicht, die diese dramatische Fehlentwicklung
verdeutlichen. Obwohl sich die Zahl der Erwerbstätigen,
wie Sie, Herr Weiß, so schön sagen, in den zurückliegenden 20 Jahren erhöht hat, haben wir heute 5 Millionen
unbefristete Vollzeitjobs weniger als 1991. Das müssen
Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Dramatisch
zugenommen hat dagegen die sogenannte atypische Beschäftigung. Die Zahl der Leiharbeiter, der befristet Beschäftigten, der Soloselbstständigen usw. ist dramatisch
angestiegen, und zwar auf 14,2 Millionen.
({10})
Das entspricht einer Verdoppelung in den letzten Jahren.
Daran will die Linke sich nicht beteiligen. Deshalb haben wir heute diesen Antrag vorgelegt.
({11})
Nur noch die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeitet
heute in einem unbefristeten Vollzeitjob. Vor 20 Jahren
waren es noch mehr als zwei Drittel. Diese Entwicklung
darf die Politik doch nicht einfach so hinnehmen. Deshalb haben wir heute unseren Antrag „Missbrauch von
Werkverträgen verhindern - Lohndumping eindämmen“
vorgelegt. Aber wir wissen: Sie werden dem natürlich
nicht zustimmen, weil Sie die besseren Argumente einfach nicht hören wollen.
Es gibt jedoch viele, die sich gegen prekäre Beschäftigung wehren. Vor drei Tagen protestierten in Koblenz
100 Paketauslieferer gegen die Praxis des Paketdienstes
DPD, der Aufträge an Subunternehmen ausgelagert hat,
die Hungerlöhne zahlen. Das ist gängige Praxis in der
Republik. Dagegen müssen sich die Kolleginnen und
Kollegen wehren. Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter.
Jeder in diesem Haus muss sich fragen, ob er dieses
Lohndumping mit einer falschen Gesetzgebung weiterhin unterstützen will. Die Linke will dem ein Ende machen. Deshalb: Hören Sie auf die besseren Argumente!
Danke.
({12})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Beate Walter-Rosenheimer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werkverträge
sind gut und richtig, solange sie in ihrem angedachten gesetzlichen Rahmen bleiben. Für viele Unternehmen sind
Werkverträge - das wissen wir alle - schlicht und einfach
unverzichtbar, um zum Beispiel personelle Engpässe
oder Produktionsspitzen abfedern zu können oder um
Kompetenzen zu kaufen, die im Unternehmen nicht vorhanden sind. So weit sind wir uns einig.
({0})
Doch jetzt haben sich die Vorzeichen geändert. Werkverträge werden dazu eingesetzt, um die verschärften gesetzlichen Regelungen der Leiharbeit zu umgehen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, worum geht es eigentlich?
Die Mindestlohngrenze soll unterlaufen werden, und
zwar mit allen juristischen Tricks. Großunternehmen
treffen sich zu Großveranstaltungen, um sich juristisch
briefen zu lassen, wie sie - ich zitiere die Zeit - „ihre ohnehin schon billigen Leiharbeiter durch noch billigere
Beschäftigte ersetzen können.“ Das Ganze heißt dann
eben nicht mehr Leiharbeit, sondern Werkvertrag. Wir
alle wissen: Never judge a book by its cover. Wo Werkvertrag draufsteht, ist längst nicht mehr unbedingt ein
Werkvertrag drin.
({1})
Oder auf gut Deutsch: Es handelt sich um eine Mogelpackung. Das ist ganz klar. Hier findet Lohndumping statt.
Das ist dafür genau das richtige Wort. Da hört für uns
Grüne die unternehmerische Freiheit auf.
({2})
Arbeit - und da zitiere ich sehr gern die Gewerkschaften - darf nicht zur „Ramschware“ verkommen. Gut
4 Millionen Beschäftigte verdienen hier in Deutschland
mittlerweile weniger als 7 Euro brutto die Stunde. Sie
wissen alle, wie schlecht man davon leben kann. Scheinwerkverträge drücken das Lohnniveau um bis zu 30 Prozent. Für viele diese Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen heißt das ganz klar: Unsicherheit, Ungleichheit,
Niedriglöhne und damit auch ein hohes Armutsrisiko.
({3})
Aber es geht ja nicht nur den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen schlecht, es gibt ja auch Auswirkungen
auf die Wirtschaft, auch wenn es ein kleiner Sektor ist.
Was bedeutet das alles denn aus wettbewerbsrechtlicher
Sicht? Unternehmen, die beim Lohndumping nicht mitBeate Walter-Rosenheimer
machen, die fair bezahlen wollen, geraten in einen deutlichen Wettbewerbsnachteil. Wenn Betriebe fair zahlen
wollen, wenn es ihnen wichtig ist, eine geschlossene Belegschaft in ihrem Betrieb mit einer hohen Arbeitszufriedenheit zu haben, dann werden sie an die Wand gedrängt. Sie ziehen den Kürzeren. Wenn es sich um kleine
Unternehmen handelt, können sie sogar vom Markt gedrängt werden. Das wollen wir Grüne auf gar keinen Fall
mitmachen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, nicht nur Arbeit muss sich wieder lohnen, wie
einer Ihrer Minister so gerne betont, auch Fairness muss
sich auszahlen.
({5})
Wir wollen keine Wettbewerbsnachteile für faire Unternehmen. Wettbewerb muss für uns durch Innovationen
und durch gute und nachhaltige Geschäftsideen stattfinden. Nur dann kommen wir zu einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung.
({6})
Das nächste Stichwort ist der Markt. Konjunkturbelebend wirken sich Niedriglöhne nun wirklich nicht gerade
aus. Wir wollen die Kaufkraft dann lieber doch durch ordentliche Löhne ankurbeln. Außerdem entgeht dem Staat
schlicht und einfach auch Geld, und zwar durch Einnahmeausfälle bei den Sozialkassen und durch geringere
Steuereinnahmen.
({7})
Sehr geehrte Regierungskoalition, die rechtliche Regelung hier ist zu lasch und lässt zu viele Schlupflöcher.
Wir fordern eine eindeutige Abgrenzung von Leiharbeit
zu Werkverträgen. Natürlich können nur die Betriebe
nachweisen, dass es sich wirklich um Werkverträge handelt. Wir brauchen daher - das haben wir schon gehört eine Stärkung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zum
Beispiel durch eine bessere personelle und finanzielle
Ausstattung.
({8})
Die Probleme sind uns durchaus bekannt. Das habe
ich heute auch schon gehört. Es ist einfach an der Zeit,
zu handeln und die Schlupflöcher zu schließen. Schon
im Januar hat Frau Ministerin von der Leyen - die leider
nicht mehr hier ist - in einem Spiegel-Interview gesagt,
sie möchte sich der Sache annehmen und die Situation
im Auge behalten. Wenn dem dann Taten folgen, halten
wir das für eine sehr gute Idee. Wir wissen ja alle, dass
nichts mächtiger ist als eine Idee, deren Zeit gekommen
ist.
Herzlichen Dank.
({9})
Frau Kollegin Walter-Rosenheimer, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dieter Jasper das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Linken,
({0})
die in altbewährter Manier den Unternehmern in
Deutschland immer nur das Schlechteste zutraut. Dieses
Mal geht es um Werkverträge, Scheinwerkverträge und
Leiharbeit. Nach Ansicht der Antragsteller versuchen
die deutschen Unternehmen vermehrt, auf den Einsatz
von Fremdfirmen auszuweichen. Es wird ein klarer
Trend ausgemacht, den es zu stoppen gilt. Dieser Einsatz
von Fremdfirmen wird gleich unter dem Begriff Scheinwerkvertrag diffamiert, und es wird per se ein gesetzwidriges Verhalten unterstellt.
Ein Werkvertrag ist jedoch für viele deutsche Unternehmen ein legitimes und oft notwendiges Mittel, Effizienz- und Produktivitätssteigerungen zu erzielen und
die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Die
Linke sieht diese Werkverträge im Zeichen des Klassenkampfs aber ausschließlich als Mittel, um Löhne zu drücken und Mitarbeiter auszubeuten. Neben sogenannter
Lohndrückerei dienen Werkverträge dann höchstens
noch dazu, die angeblich noch schlechter beleumundete
Zeitarbeit zu ersetzen und so das Image des einsetzenden
Unternehmers zu verbessern. Werkverträge sind dann
von zwei verwerflichen Alternativen nur noch die weniger schlimme. So weit die Logik der Linken!
Das Ganze wird subsumiert unter die Forderung nach
einem Gesetz zur Verhinderung des Missbrauchs von
Werkverträgen, das eine Fülle von Einzelfallentscheidungen enthalten soll.
({1})
Dieses Gesetz soll dann jeden Einzelfall abschließend
und gerecht regeln. Diese Forderung nach einer neuen
und gesetzlichen Regelung ist in meinen Augen nicht begründet und hat überhaupt keine Basis.
({2})
Zeitarbeit und Werkverträge spielen trotz aller Diffamierung von Ihrer Seite in der deutschen Wirtschaft, ob
in der Industrie, im Handel oder auch im Handwerk, eine
große Rolle. Gerade Werkverträge sind elementare
Grundlage einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Sie können
zur Senkung der Kosten eines Unternehmens beitragen,
zielen aber in erster Linie auf die Steigerung der eigenen
Produktivität und der Effizienz der Unternehmen ab.
({3})
Dies ist gerade für Unternehmen, die sich im internationalen Wettbewerb befinden, von essenzieller Bedeutung.
Wie viele Produkte „Made in Germany“ wären denn
noch zu verkaufen, wenn diese ausschließlich und komplett in einem deutschen Unternehmen hergestellt würden? Allein diese Vorstellung ist völlig abwegig.
Die Stärke der deutschen Wirtschaft beruht auch darauf, dass sich Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen
besinnen und nur das fertigen und entwickeln, was sie
besser können als andere.
({4})
Alles andere wird zugekauft, sodass am Ende ein Produkt entsteht, das im Idealfall die Stärken der einzelnen
beteiligten Unternehmen in sich vereinigt und am Markt
zu platzieren ist.
({5})
Die von Ihrer Seite geübte pauschale Kritik ist somit
weder angemessen noch begründet. Sie verrät vielmehr
einen Mangel an ökonomischem Verständnis über unsere
arbeitsteilige Wirtschaftsform.
({6})
- Ja, genau.
Natürlich gibt es auch Fehlentwicklungen, die es zu
bekämpfen gilt.
({7})
Werkverträge sind dann, aber auch nur dann problematisch, wenn es sich hierbei um eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung oder um eine Scheinselbstständigkeit
handelt. Eine Umgehung der gesetzlichen Schutzvorschriften ist selbstverständlich nicht hinnehmbar. Aber
bereits heute sind ausreichend Sanktionsmöglichkeiten
zur Bekämpfung eines möglichen Missbrauchs vorhanden.
Die von den Linken behauptete rasante Zunahme von
Scheinwerkverträgen ist ebenso wenig nachweisbar wie
eine angebliche Verdrängung der Stammbelegschaft. In
der Anhörung vom 23. April 2012 - vielleicht waren Sie
zugegen - war die Stellungnahme der Bundesagentur für
Arbeit in diesem Punkt vollkommen eindeutig. Zwei
Aussagen dazu:
Erste Aussage. Hinweise auf einen deutlichen Anstieg
der Zahl individueller Werkverträge aufgrund geänderter
Arbeits- und Rahmenbedingungen in der Zeitarbeit sind
nicht zu erkennen.
({8})
Zweite Aussage. Verdrängungsprozesse zwischen
freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Werkverträgen und alternativen Beschäftigungsformen sind nicht
nachweisbar.
Somit bauen Sie da einen Riesenpopanz auf.
({9})
An dieser Stelle ein kurzes Zwischenfazit:
Erstens. Leiharbeit und Werkverträge sind legitime
und notwendige Instrumente einer arbeitsteiligen Wirtschaftsform.
Zweitens. Die Beobachtung eines angeblich zunehmenden Missbrauchs lässt sich anhand objektiv überprüfbarer Zahlen nicht belegen.
Drittens. Eine gegebenenfalls missbräuchliche Anwendung kann schon heute wirksam unterbunden werden,
({10})
ohne dass gleichzeitig deren rechtmäßige Nutzung eingeschränkt wird.
({11})
Es stellen sich nun die spannenden Fragen: Wie beurteilen die betroffenen Unternehmen die Situation? Wie
sehen Handel und Handwerk die Forderungen der Linken? Werkverträge spielen gerade im Handwerk eine
große Rolle. Ebenso wie in der Industrie gibt es auch
hier keine belegbaren Hinweise auf die Existenz oder sogar die Zunahme der Zahl von Scheinwerkverträgen, wie
sie behauptet wird. Die Vergabe von Aufträgen an
Fremdfirmen über Werkverträge stellt natürlich auch
hier ein unverzichtbares Element dar, um die eigene
Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern.
Dies gilt gerade für den großen Spezialbereich des
Baugewerbes. In dieser Branche gilt das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung. Betriebe im Bauhauptgewerbe
sind im Besonderen darauf angewiesen, Werkverträge
mit Subunternehmen zu schließen. Baufremde Gewerke
könnten sonst überhaupt nicht erstellt werden. Das deutsche Baugewerbe wäre ohne den Einsatz von Werkverträgen gar nicht denkbar.
Der Handel sieht ebenfalls keinen gesetzgeberischen
Handlungsbedarf.
({12})
Gesetzliche Eingriffe in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit werden auch hier entschieden abgelehnt.
Es obliegt den Firmen, ob sie im Rahmen ihrer gesetzlich geschützten Entscheidungsfreiheit bestimmte Tätigkeiten durch hochspezialisierte Fremdfirmen ausführen
lassen.
Es ist unbestritten, dass in großen Teilen der Privatwirtschaft, aber auch bei öffentlichen Arbeitgebern eine
zunehmende Tendenz zum Auslagern von Tätigkeiten an
Dienstleistungs- und Werkvertragsunternehmen vorhanden ist. Dies ist in einer arbeitsteiligen Wirtschaft aber
zunächst ein ganz normaler Vorgang, der wegen der Spezialisierung zu Effizienzgewinnen führt.
({13})
Die Unternehmen können sich somit auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und am Markt bestehen.
Angesichts der offensichtlichen Bedeutung von
Werkverträgen für die deutsche Volkswirtschaft stellt
sich die Frage, ob die bisherigen gesetzlichen Abgrenzungen zur Arbeitnehmerüberlassung ausreichend sind.
Auch da beziehe ich mich auf die Anhörung: Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen hat dies in der
Anhörung bejaht und betont, dass erstens für die
Abgrenzung von Werkvertrag und Arbeitnehmerüberlassung ausreichende gesetzliche und durch höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierte Abgrenzungskriterien vorhanden sind,
({14})
es zweitens keiner weiteren Vermutungsregelung zugunsten der einen oder anderen Vertragsform bedarf und
drittens weitere gesetzliche Klarstellungen nicht erforderlich sind - so die Mehrheit der Sachverständigen.
Es gilt also, ganz im Gegenteil: Weitere gesetzgeberische Maßnahmen sind überflüssig, unverhältnismäßig
und zum Teil gefährlich für die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Wirtschaft.
Ich fasse kurz zusammen:
Erstens. Die von Ihnen unterstellte rasante Zunahme
einer missbräuchlichen Nutzung von Werkverträgen ist
weder belegbar noch nachweisbar.
({15})
Zweitens. Die von Ihnen behauptete Verdrängung der
Stammbelegschaft durch Werkverträge oder Scheinwerkverträge ist ebenfalls nicht zu beobachten.
({16})
Drittens. Die überwiegende Mehrzahl der Sachverständigen sieht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
({17})
Viertens. Das hohe Gut der unternehmerischen Freiheit muss erhalten und geschützt werden.
({18})
- Vielleicht nicht genug.
Fünftens. Die problematisierte Abgrenzungsfrage
zwischen Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag ist
nicht neu.
({19})
Aber es existiert bereits ein Katalog hinreichender und
sachgerechter Kriterien. Auch bei einer möglichen Gesetzesänderung, wie sie von Ihnen angestrebt wird, ist
immer eine Einzelfallbewertung notwendig. Ich möchte
auch darauf hinweisen, dass schon heute allein bei Verdacht des Vorliegens eines Scheinwerkvertrags eine
Überprüfung des betreffenden Unternehmens möglich
ist und auch durch das Zollamt durchführt wird.
({20})
Somit sind nicht einmal die Voraussetzungen für diesen Antrag richtig und nachvollziehbar; die Prämissen
sind einfach falsch. Die Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Handelns wird nicht erkennbar. Ein neues Gesetz ist schlicht nicht erforderlich. In der Konsequenz ist
Ihr Antrag irreführend und überflüssig, sodass wir ihn
zurückweisen und ablehnen.
Herzlichen Dank.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic von
der SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen der Koalition! Wirtschaftlicher Erfolg ist noch
lange nicht beschäftigungspolitischer Erfolg, insbesondere dann nicht, wenn zunehmend ausgebeutet wird und
volkswirtschaftliche Schäden entstehen. Prekäre Beschäftigung nimmt in unserer Gesellschaft immer neue
Formen an. Neben Leiharbeit, Befristungen, Schein22348
selbstständigkeit und Niedriglöhnen gehört auch der
Missbrauch von Werkverträgen dazu.
Ich habe großen Respekt vor Arbeitgebern, die Risiken und Verantwortung übernehmen, wenn sie ein Unternehmen führen. Mit den prekären Beschäftigungsformen wälzen die Arbeitgeber ihre Risiken aber
ausschließlich auf die Arbeitnehmer ab, die von einem
Tag auf den anderen ohne jegliches Recht auf Widerspruch auf die Straße gesetzt werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem Zustand, dass die Arbeitnehmer für alles haften sollen, müssen wir rechtlich
entgegenwirken.
({0})
Die Zahl der Werkverträge hat seit der völlig unzureichenden Regulierung der Leiharbeit durch Union und
FDP zugenommen. Es gibt einen systematischen Missbrauch und Scheinwerkverträge, die nur dazu genutzt
werden, Mitbestimmungsrechte und Kündigungsfristen
zu umgehen und Dumpinglöhne zu bezahlen. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Missbrauchs von Werkverträgen und anderen Formen sind gravierend: Viele
junge Menschen wissen nicht, ob und wie lange sie noch
eine Beschäftigung haben, und sehen sich deshalb nicht
in der Lage, eine Familie zu gründen.
Im Betrieb gibt es eine Spaltung der Belegschaft. Die
Randbelegschaften nehmen immer mehr zu, die Stammbelegschaft wird immer kleiner. Dadurch findet eine
Entsolidarisierung im Betrieb statt, die unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Durch die Teilung
in Stamm- und Randbelegschaften wird auch die Mitbestimmung ausgehöhlt; denn die Betriebsräte haben bei
kleinen Stammbelegschaften weniger Mitglieder, aber
immer mehr Arbeit mit der Kontrolle von Werkverträgen
und Leiharbeit.
Werkvertragsarbeitnehmer werden zudem nicht über
die Personalabteilung von Unternehmen eingestellt, sondern sie werden über die Einkaufsabteilung, wie sonst
Schrauben oder auch Toilettenpapier, abgerechnet. Ich
komme aus der betrieblichen Praxis. Sie glauben nicht,
wie weit die Perversion der Einkäufer geht, wenn Kostensenkung mit persönlichem Erfolg verknüpft wird. Ich
finde Wettbewerb wichtig und gut, aber Wettbewerb
braucht auch klare Regeln.
Auch in der gesamten Gesellschaft erfahren prekär
Beschäftigte eine Stigmatisierung. So erhalten sie zum
Beispiel kaum einen Kredit.
Aber nicht nur für Arbeitnehmer, auch für Arbeitgeber bergen Werkverträge langfristige Nachteile: So fließt
über Werkverträge das Know-how der Arbeitnehmer aus
dem Betrieb ab, da Werkvertragsarbeitnehmer ihr spezielles Fachwissen nach dem Ende des Werkvertrags
mitnehmen. Die Stammbelegschaft verliert Motivation
und Vertrauen, wenn sie merkt, dass der Arbeitgeber auf
prekäre Beschäftigung statt auf gute Arbeit setzt. Zudem
werden die ehrlichen und anständigen Unternehmer, die
faire Löhne und Arbeitsbedingungen bieten, unter einen
unmöglichen Konkurrenzdruck gesetzt, wenn andere
Unternehmer mit prekärer Beschäftigung arbeiten.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, mir geht es nicht darum,
sinnvolle und gut bezahlte Werkverträge zu verbieten,
aber wir müssen handeln, damit der Missbrauch von
Werkverträgen eingedämmt wird, wenn es den Arbeitgebern nur darum geht, reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu umgehen. Dazu habe ich konkrete Vorschläge:
Zunächst einmal müssen wir die Mitbestimmungsvorschriften bei Werkverträgen gesetzlich ändern. Wenn
Betriebsräte noch nicht einmal wissen können, wo in ihren Unternehmen Werkverträge eingesetzt werden, dann
können sie auch nicht gegen Missbrauch vorgehen. Wir
müssen daher das Betriebsverfassungsgesetz so ändern,
dass Betriebsräte informiert und beim Einsatz von Werkverträgen beteiligt werden müssen.
Mehr Mitbestimmung allein reicht aber nicht aus, um
den Missbrauch effektiv einzudämmen. Besonders in
Unternehmen ohne starke Betriebsräte müssen wir deshalb eine Kontrolle von Werkverträgen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit sichern.
Daneben müssen wir gesetzlich Werkverträge von Soloselbstständigkeit abgrenzen. Auch die Abgrenzung
von Leiharbeit und Werkverträgen müssen wir klarstellen, damit eine sinnvolle Kontrolle möglich ist. Wir
brauchen eine klare Definition von abhängiger und
selbstständiger Beschäftigung im SGB IV.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben den verstärkten Kontrollen muss die Generalunternehmerhaftung
ausgeweitet werden. Oft werden Werkverträge an zahlreiche Subunternehmer vergeben. Diese Subunternehmerketten sind für Arbeitnehmer nicht durchschaubar,
und im Zweifel geht der Subunternehmer pleite oder
taucht ab. Der Arbeitnehmer geht in der Regel leer aus.
Der Arbeitnehmer muss daher das Recht haben, auch
beim Generalunternehmer Lohn und faire Arbeitsbedingungen einzuklagen.
({2})
Vor Gericht brauchen wir zudem eine Umkehr der
Beweislast. Nicht der Arbeitnehmer muss nachweisen,
warum er glaubt, dass Missbrauch vorliegt, sondern der
Arbeitgeber muss nachweisen, warum kein Missbrauch
vorliegt.
Es ist immer wieder zu beobachten, dass besonders
ausländische Arbeitnehmer von prekärer Arbeit betroffen sind, weil sie oft sprachliche Probleme haben und
nicht ausreichend über ihre Rechte informiert sind. Deswegen fordere ich, dass die DGB-Büros für die Beratung
von entsandten Beschäftigten ausgebaut und langfristig
vom Bund finanziell gesichert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen das
Thema Werkverträge sachlich und präzise angehen. Ich
habe hier einige Vorschläge gemacht, was wir gesetzlich
ändern müssen, um Missbrauch von Werkverträgen zu
verhindern und den Arbeitnehmern ein Recht auf faire
Löhne und gute Arbeitsbedingungen zu geben. Die
Anträge von Grünen und Linken gehen uns trotz der
gemeinsamen Zielrichtung nicht weit genug. Denn in
allen Anträgen fehlt beispielsweise die wichtige Forderung nach einer Ausweitung der Generalunternehmerhaftung.
Wir werden im Herbst einen eigenen Vorschlag vorlegen, der klar und deutlich die Probleme und Lösungen
aufzeigt. Denn wir müssen verhindern, dass sich immer
wieder ein neues Tor zum Missbrauch öffnet, wenn wir
ein Einfallstor schließen, wie es bei der teilweisen Regulierung der Leiharbeit und dem Missbrauch von Werkverträgen der Fall ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Johannes
Vogel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
vorletzter Redner in dieser Debatte, die ja - nicht nur
vom Kollegen Schreiner - über die allgemeine Lage am
deutschen Arbeitsmarkt und damit nicht allein über die
Anträge der Opposition geführt wurde, will ich festhalten, wie angesichts der Daten, die wir von der Bundesagentur für Arbeit und den seriösen Forschungsinstituten
bekommen haben, die Lage am deutschen Arbeitsmarkt
ist.
Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 20 Jahren
nicht mehr. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist so hoch wie seit 1992 nicht mehr. Wir haben
trotz schwerer Krise in Europa die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Sehr viele Menschen
schaffen den Einstieg in den Arbeitsmarkt, was ihnen
vorher nicht möglich war.
({0})
Das finden wir gut, und das ist etwas, worauf wir stolz
sein können.
({1})
Entgegen dem, was behauptet wurde, widmet sich
diese Koalition auch der Aufgabe, erstens dafür zu sorgen, dass die Menschen, die den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen, jetzt beispielsweise durch mehr Qualifikation auch den Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt schaffen
können, und zweitens dafür zu sorgen, dass der Missbrauch von flexiblen Beschäftigungsformen da, wo es
ihn gibt, erfolgreich verhindert und eingedämmt werden
kann. Dies mache ich Ihnen an den Themen, die in Ihren
Anträgen behandelt werden, deutlich.
Es geht zunächst um das Thema Zeitarbeit. Zeitarbeit
in Deutschland ist ganz normale sozialversicherungspflichtige Beschäftigung,
({2})
mit allen Arbeitnehmerrechten wie in den anderen Branchen auch. Zeitarbeit in Deutschland gibt sehr vielen
Menschen Einstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt.
Zwei Drittel der Zeitarbeiter kommen aus der Beschäftigungslosigkeit.
({3})
40 Prozent haben gar keine berufliche Qualifikation.
Zeitarbeit ist also etwas, was wir nicht sozusagen wegwerfen sollten.
Sie sagen ja immer: Im Bereich der Zeitarbeit gibt es
einen großen Missbrauch. - Da kann ich nur wiederholen, was bereits vorhin gesagt wurde: Diese Koalition
hat Drehtüreffekte bei der Zeitarbeit gesetzlich ausgeschlossen, einen branchenbezogenen tariflichen Mindestlohn in der Zeitarbeit eingeführt und mit den Tarifpartnern jetzt dafür gesorgt, dass es schrittweise
Angleichung und Equal Pay nach klug bemessener Frist
gibt. Ich kann nur sagen: Wie dann noch ein Missbrauch
der Zeitarbeit möglich sein soll, kann ich nicht erkennen.
Das ist gut so.
({4})
Herr Kollege Vogel, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Zimmermann?
Von der Kollegin Zimmermann immer gerne.
Danke schön, Herr Präsident. - Danke schön, Herr
Vogel, dass Sie meine Frage zulassen. Ich weiß ja, dass
wir immer ein gutes Verhältnis haben.
({0})
- Ja, das muss man hier einmal fürs Protokoll sagen. Herr Vogel, da Sie davon sprechen, wie gut die Leiharbeit ist, möchte ich Sie fragen: Wissen Sie, dass die Bundesagentur für Arbeit festgestellt hat, dass dort bis zu
50 Prozent weniger Lohn gezahlt wird? Finden Sie es
richtig, dass viele Menschen teilweise über sieben Jahre
in der Leiharbeit sind, aber so wenig Lohn bekommen,
dass es sie fast arm macht?
Liebe Frau Kollegin Zimmermann, in der Tat freue
ich mich über unser persönlich gutes Verhältnis. Aber
das kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen - mit
Ihrer Frage belegen Sie das erneut -, dass wir politisch
doch einen ganz unterschiedlichen Blick auf die Realität
haben.
Ich stelle beim Thema Zeitarbeit fest:
Erstens. Bei der Zeitarbeit gibt es einen branchenbezogenen tariflich vereinbarten Mindestlohn. Das heißt,
Dumpinglöhne kann es dort nicht mehr geben.
Zweitens. Zeitarbeit ist in Deutschland eine ganz normale Branche. Das heißt, die Menschen, die in der Zeitarbeit arbeiten, verdienen genauso viel wie ihre Kollegen, die bei demselben Zeitarbeitsunternehmen arbeiten.
Drittens. Wenn sich die Menschen in einem sehr langen Verleiheinsatz befinden, wenn sie also ein Jahr oder
länger in einem Entleihunternehmen sind, dann ist es
natürlich irgendwann unfair, dass sie weniger verdienen
als die Kollegen dieses Unternehmens. Genau deshalb
ist es gut, dass die Branche jetzt eine schrittweise Angleichung an Equal Pay vornimmt, aber nach einer klug
bemessenen Frist. Sie ist dabei, diese Lücke - das ist ein
Gebot der Fairness - zu schließen. Gleichzeitig schafft
sie es, die Balance zu halten: Der Missbrauch wird verhindert, aber die Vorteile des deutschen Zeitarbeitsmodells für die Menschen gehen nicht verloren.
Das beschreibe ich als gute Politik für die Menschen,
für die Unternehmen, für die gesamte Volkswirtschaft
und den Arbeitsmarkt in unserem Land. Frau Kollegin,
deshalb glaube ich, dass es gut ist, dass wir diesen Weg
verfolgt haben, dass wir im Gegensatz zu Ihnen die Zeitarbeit nicht kaputtmachen wollten und das deutsche
Zeitarbeitsmodell mit seinen Vorteilen für die Menschen
nicht zerstört haben. Das wäre nämlich der Ausfluss
Ihrer Politik, die Sie uns heute wieder darlegen, liebe
Kollegin Zimmermann. Das wollen wir nicht.
({0})
Dass Sie oft diese Balance nicht halten, zeigt sich in
meinen Augen auch bei Ihrem zweiten Thema, über das
wir heute reden, nämlich bei den Werkverträgen. Wenn
Sie sich Sorgen machen, dass Menschen durch Werkverträge verstärkt ausgenutzt werden könnten, dann kann
ich nur sagen: Der schlimmste Weg, hier den Missbrauch
zu fördern, wäre, das zu machen, was Sie vorschlagen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nämlich die Zeitarbeit nach dem deutschen Modell kaputtzumachen und gesetzliche Mindestlöhne einzuführen, mit
denen dafür gesorgt wird, dass Menschen mit geringer
Qualifikation keine Beschäftigung mehr finden.
({1})
Dann würde in großem Umfang auf die Werkverträge
ausgewichen werden. Dann gäbe es einen Missbrauch
von Werkverträgen. Deshalb ist gut, dass wir dabei nicht
mitmachen.
({2})
Kommen wir nun zu Ihrer Behauptung, dass es schon
heute Missbrauch bei den Werkverträgen gibt. Ich will
hier nur auf die Anhörung im Ausschuss zu diesem
Thema verweisen. Das IAB, das Forschungsinstitut der
Bundesagentur für Arbeit, stellt ganz klar fest: Ein steigender Missbrauch von Werkverträgen in Deutschland
ist auf Grundlage der vorhandenen seriösen Daten derzeit nicht feststellbar. - Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie selber haben eben auf die
Razzien bei den Unternehmen Kaufland und Netto verwiesen. Wenn Razzien stattfinden, dann kann ich nur
feststellen: Das zeigt doch, dass wir ein effektives Instrumentarium haben, um Missbrauch da, wo es ihn gibt,
zu verhindern.
({3})
Wie Sie daraus einen gesetzgeberischen Nachsteuerungsbedarf ableiten wollen, kann ich nicht erkennen.
Etwas anderes - das ist mein letzter Punkt - kann ich
in Ihrem Antrag sehr wohl erkennen, liebe Kollegin
Zimmermann, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken - der Kollege Kolb hat es vorhin schon richtig
gesagt -: In Ihrem Antrag spürt man schon - das fließt
quasi aus jedem Satz heraus; das ist der Subtext in Ihrem
Antrag -, dass Sie in Wahrheit den Grundgedanken von
Werkverträgen, nämlich dass ein Unternehmen bestimmte
Aufgaben an ein anderes Unternehmen abgibt, weil es darauf spezialisiert ist und diese Aufgaben besser erledigen
kann, ablehnen und er Ihnen zutiefst zuwider ist.
({4})
- Dafür bekomme ich sogar Applaus. Das heißt, meine
Wahrnehmung wird bestätigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich
will Sie bitten, darüber wirklich nachzudenken. Arbeitsteiliges Wirtschaften, die Idee, dass man Aufgaben, die
andere, die darauf spezialisiert sind, besser erledigen
können, abgibt, ist eine wesentliche Triebfeder des
menschlichen Fortschritts überhaupt. Spezialisierung ist
das entscheidende Instrument, mit dem die deutsche
Wirtschaft in der globalen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts wettbewerbsfähig geworden ist.
({5})
Ich bitte Sie dringend, darüber nachzudenken, ob Sie das
wirklich wegwerfen wollen, und Ihre Haltung zu überdenken. Wir jedenfalls werden aus diesen Gründen Ihre
Anträge heute ablehnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Dr. Johann Wadephul von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Schreiner, ich will gerne etwas
zum Fußball sagen. Wir sind jetzt in dieser Debatte in
die Verlängerung gegangen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland heute Abend ohne Verlängerung
2:1 gegen Italien gewinnen wird.
({0})
Das wäre eine gute Grundlage für die nächsten Tage.
Ausgangslage ist in der Tat - der Kollege Vogel hat
darauf hingewiesen - eine Situation in der deutschen
Wirtschaft und auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die Sie
fast vergessen wollen. Wenn man Ihre Debattenbeiträge
verfolgt, dann könnte man glauben, dass wir in einem
Land des Elends und der Not leben und in einer außerordentlich prekären Situation sind.
Wirklichkeit ist, dass wegen erfolgreicher und sich
positiv auswirkender Entscheidungen, die Rot-Grün vor
gut zehn Jahren getroffen hat - das Tragische dabei ist,
dass Sie sich heute dieser Entscheidungen schämen -,
und einer erfolgreichen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der christlich-liberalen Koalition der Arbeitsmarkt in Deutschland boomt. Europa und die Welt bewundern uns aufgrund unseres Jobwunders.
({1})
Das ist Anlass, auf unsere Politik stolz zu sein, statt sie
jeden Tag infrage zu stellen.
Der Regelfall ist im Übrigen auch das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis. Ich weiß nicht,
was Sie an die Wand malen. Wir haben nahezu 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in
Deutschland. Sie führen wie die Arbeitgeber Sozialversicherungsbeiträge ab und zahlen Steuern, sie leben auf
einer sicheren Grundlage und tragen zum Wohlstand in
Deutschland bei. Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ist
in dieser Koalition von CDU, CSU und FDP ein Erfolgsmodell. Das lassen wir uns von Ihnen nicht zerreden,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({2})
In der Tat - darin sind wir vollkommen einer Meinung - ist ein solches Beschäftigungsverhältnis die
Grundlage dafür, dass Menschen sich nicht nur persönlich in Sicherheit wiegen und fühlen, sondern dass sie
- damit haben Sie völlig recht, Herr Schreiner - auch
eine ausreichende soziale und wirtschaftliche Grundlage
für die Zukunft sehen. Das ist besonders für junge Menschen wichtig, die sich entscheiden, eine Familie zu
gründen. Deswegen ist die gute Sozial- und Beschäftigungspolitik, die wir betreiben, auch eine gute Familienpolitik und wahrscheinlich noch wichtiger als viele familienpolitische Leistungen, die wir hier diskutiert haben.
({3})
Das ist eine wichtige Grundlage, und das wird auch von
uns in keiner Weise infrage gestellt.
Es stellt auch niemand in diesem Hause infrage, dass
prekäre Beschäftigungsverhältnisse nicht zulässig sind.
Auch dass die sogenannten Dumpinglöhne, mit denen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebeutet werden, nicht zulässig sind, ist völlig unstreitig.
({4})
Das hat schon jetzt nach deutschem Recht zur Folge,
dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen
Anspruch auf höheren Lohn haben.
Zu der Frage, ob und in welcher Form wir darüber
hinaus eine allgemeine Lohnuntergrenze in Deutschland
gesetzlich regeln sollten, gibt es in diesem Hause unterschiedliche Vorstellungen und Auffassungen, sogar innerhalb unserer Koalition, was öffentlich mindestens so
bekannt ist wie das freundschaftliche Verhältnis von
Frau Zimmermann und Herrn Vogel. Ich bin allerdings
optimistisch, dass wir, was die allgemeine Lohnuntergrenze angeht, eher zueinanderfinden, als dass Frau
Zimmermann und Herr Vogel - in politischer Hinsicht
natürlich - noch weiter zueinanderfinden. Lieber Kollege Vogel, ich glaube, dass wir politisch näher beieinander sind, dass wir gemeinsam zu einem guten Ergebnis
kommen und dass wir verhindern, dass Menschen durch
Arbeitgeber ausgenutzt werden können. Jeder, der in
Vollzeit arbeitet, hat einen Anspruch darauf, dass er und
seine Familie davon leben können. Das ist auch eine
Grundlage unserer christlich begründeten politischen
Auffassung.
({5})
Ich warne allerdings davor, von vornherein prekäre
Beschäftigungsverhältnisse, die es bedauerlicherweise in
Deutschland gibt, pauschal in einen Topf zu werfen, wie
Sie das tun, und zu sagen: Jeder, der im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung bzw. auf Grundlage eines Werkvertrages befristet beschäftigt ist, befindet sich automatisch in einer prekären Beschäftigungssituation. - Das ist
eine Simplifizierung, die nicht zulässig ist.
({6})
Jeder wünscht sich natürlich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Aber es gibt oft gute Gründe, ein Beschäftigungsverhältnis zu befristen. Eine familienpolitische
Anmerkung dazu: Die meisten Befristungen dienen im
Übrigen der Überbrückung von Schwangerschafts- und
Mutterschaftsfehlzeiten. Das sind gute Befristungen. Ein
befristetes Arbeitsverhältnis ist erst einmal ein Arbeitsverhältnis. Sozial ist, was Arbeit schafft.
({7})
Deswegen sind auch befristete Arbeitsverhältnisse erst
einmal gute Arbeitsverhältnisse. Wir sollten sie daher
nicht von vornherein diskreditieren.
({8})
- Herr Präsident, ich möchte in meinen Ausführungen
gerne fortfahren, weil die Kollegen den Wunsch geäußert haben, schnell zu einem Ende zu kommen.
Also keine Zwischenfrage?
Nein.
Danke.
Zur Arbeitnehmerüberlassung hat der Kollege Vogel
bereits das Notwendige gesagt. Nur so viel: Auch bei der
Arbeitnehmerüberlassung handelt es sich zuallererst um
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Sie sorgt
für die von unserer Wirtschaft dringend benötigte Flexibilität. Frau Müller-Gemmeke, Sie beklagen, dass die
Wertschöpfung in der deutschen Automobilindustrie,
zum Beispiel bei Daimler, zu einem großen Teil - wahrscheinlich zu über 50 Prozent - nicht mehr in Deutschland stattfindet, weil vieles ausgelagert wurde. Wenn
aber auf diese Art und Weise deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - seien sie nun bei Daimler oder
anderswo beschäftigt - Arbeit haben und Geld verdienen
und wenn dadurch in Deutschland Steuern generiert werden, wenn das die Grundlage dafür ist, dass MercedesBenz viele Kraftfahrzeuge überall auf der Welt verkauft,
dann finde ich persönlich das gut und freue mich darüber.
({0})
Das ist die Grundlage dafür, dass wir Beschäftigung und
Wohlstand in Deutschland haben. Ich habe die große
Hoffnung, dass wir das erhalten. Wir sollten das nicht
andauernd infrage stellen.
({1})
Ich rate auch in dieser Debatte dringend davon ab, die
Möglichkeiten, die die Sozialpartnerschaft in Deutschland hat, infrage zu stellen. Sie ergehen sich jeden Tag
darin und sagen: Die Gewerkschaften haben keine
Macht mehr; sie können keine Mindestlöhne gewährleisten. Nun seien schon die Betriebsräte nicht mehr in der
Lage, das in den Betrieben zu überwachen. - Das ist
falsch. Betriebsräte haben nicht nur bei der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch beim Abschluss von Werkverträgen nach § 80
des Betriebsverfassungsgesetzes den Anspruch, vom
Unternehmer Auskünfte zu erhalten. Ich verweise Sie
auf einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom
31. Januar 1989 - ich darf kurz zitieren -:
Der Betriebsrat kann auch verlangen, dass ihm die
Listen zur Verfügung gestellt werden, aus denen
sich die Einsatztage und Einsatzzeiten der einzelnen Arbeitnehmer der Fremdfirmen ergeben.
Der Betriebsrat darf also sehr viel mehr, als Sie behaupten. Reden Sie die Betriebsräte und die Gewerkschaften nicht schwach! Die Sozialpartnerschaft, die in
den Betrieben und im Rahmen der Tarifautonomie gelebt
wird, bildet die Grundlage dafür, dass Deutschland Krisenzeiten übersteht, dass wir jederzeit wettbewerbsfähig
sind und dass es eine soziale Arbeitswelt gibt, die dafür
sorgt, dass die Schwachen nicht unterdrückt, sondern
einbezogen werden. Unsere Arbeitsmarktpolitik ist fundiert, gut und erfolgreich. Wir sollten sie fortsetzen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9980 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/9473. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/7220 ({0}) mit dem Titel „Missbrauch von Werkver-
trägen verhindern - Lohndumping eindämmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von
SPD und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/7482 mit dem Titel „Leiharbeit
und Werkverträge abgrenzen - Kontrollen verstärken“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der Grünen und Enthaltung der SPD und der
Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 51 a bis g und i so-
wie den Zusatzpunkt 3 a bis d auf:
51 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Mikrozensusgesetzes 2005
- Drucksache 17/10041 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung des Weingesetzes
- Drucksachen 17/10042, 17/10124 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung von Bermuda über den Auskunftsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/10043 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Oktober 2011 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Montserrat über die
Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/10044 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne
Schieder ({3}), Ulla Burchardt, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Frauen in Wissenschaft und Forschung Mehr Verbindlichkeit für Geschlechtergerechtigkeit
- Drucksache 17/9978 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Volker Beck ({5}),
Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequente Umsetzung des Public Corporate
Governance Kodex
- Drucksache 17/9984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Josef Göppel, Marie-Luise
Dött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Impulse für einen wirksamen und umfassenden Schutz der Afrikanischen Elefanten
- Drucksache 17/10110 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Krüger-Leißner, Siegmund Ehrmann,
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Ein nationales Digitalisierungsprogramm für
unser Filmerbe
- Drucksache 17/10098 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({8})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 51
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/10087 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({10}), Marieluise Beck ({11}), Tom
Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij
- Drucksache 17/10111 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({12})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Beschaffung unbemannter Systeme überprüfen
- Drucksache 17/9414 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({15})
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({16})
Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme
- Drucksache 17/6904 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung - das ist
der Zusatzpunkt 3 b -, bei der die Federführung strittig ist.
Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10111
mit dem Titel „Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij“ an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktion der CDU/CSU wünscht, dass die Federführung beim Auswärtigen Ausschuss liegt. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht, dass der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe die Federführung
hat.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe abstimmen. Wer ist für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung der Oppositionsfraktionen und Ablehnung der Koalitionsfraktionen
abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss - abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Der Überweisungsvorschlag ist mit umgekehrtem Abstimmungsverhältnis angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen
betreffend den Tagesordnungspunkt 51 a bis g und i sowie den Zusatzpunkt 3 a, c und d. Interfraktionell wird
vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu dem Tagesordnungspunkt 52 a
bis g und i bis q sowie dem Zusatzpunkt 4 a bis l. Es
handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 52 a:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 7. Oktober 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Mauritius zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/9689 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Abkommen vom 19. und
28. Dezember 2011 zwischen dem Deutschen Institut in Taipeh und der Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und
zur Verhinderung der Steuerverkürzung
hinsichtlich der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 17/9690 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({18})
- Drucksache 17/10036 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({19})
Zuerst komme ich zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zu dem Abkommen mit der Republik Mauritius zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen. Der
Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10036, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9689
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Ich komme zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Abkommen zwischen dem Deutschen Institut in Taipeh und
der Taipeh-Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung hinsichtlich der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen. Der FinanzausVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10036, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/9690 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der
Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
9. Dezember 2011 über den Internationalen
Suchdienst
- Drucksache 17/9693 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
({20})
- Drucksache 17/10047 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Serkan Tören
Katrin Werner
Volker Beck ({21})
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10047, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9693 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 7. Dezember 2011
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der
Doppelbelastung bei der Bankenabgabe
- Drucksache 17/9688 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22})
- Drucksache 17/10154 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10154, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9688 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung der Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 17/9851 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({23})
- Drucksache 17/10167 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Groß
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10167, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9851 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes
- Drucksache 17/9686 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24})
- Drucksache 17/10080 22356
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10080, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9686 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, den bitte
ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis
angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({25})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ottmar
Schreiner, Anette Kramme, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Demokratische Teilhabe von Belegschaften
und ihren Vertretern an unternehmerischen
Entscheidungen stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren
- Drucksachen 17/2122, 17/1413, 17/7696 Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Krellmann
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7696 die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/2122 mit dem Titel „Demokratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehmerischen Entscheidungen stärken“.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung
der Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1413 mit dem Titel „Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken
und Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({26}) zu dem Antrag der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Volker Beck ({27}),
Marieluise Beck ({28}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine engere Kooperation mit Georgien
- Drucksachen 17/8778, 17/9622 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Franz Thönnes
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({29})
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9622, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/8778 mit dem Titel „Für eine engere Kooperation mit
Georgien“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({30})
Übersicht 7
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 17/10148 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 52 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 445 zu Petitionen
- Drucksache 17/9964 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 445 ist einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 52 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 446 zu Petitionen
- Drucksache 17/9965 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 447 zu Petitionen
- Drucksache 17/9966 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 448 zu Petitionen
- Drucksache 17/9967 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen
der Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 449 zu Petitionen
- Drucksache 17/9968 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 450 zu Petitionen
- Drucksache 17/9969 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Grünen bei Gegenstimmen
von SPD und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 451 zu Petitionen
- Drucksache 17/9970 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD und Gegenstimmen von Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 52 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 452 zu Petitionen
- Drucksache 17/9971 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({39}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Lisa
Paus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Ein starker Haushalt für ein ökologisches und
solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020
- Drucksachen 17/7952, 17/10081 Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Kudla
Michael Roth ({40})
Joachim Spatz
Dr. Diether Dehm
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10081, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7952 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der SPD angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({41})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Gesetze zu Fiskalvertrag und Europäischem Stabilitätsmechanismus ({42})
- Drucksache 17/10149 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Streitverfahren Stellung zu nehmen und
den Präsidenten zu bitten, mehrere Prozessbevollmächtigte zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage22358
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43})
Sammelübersicht 453 zu Petitionen
- Drucksache 17/10134 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44})
Sammelübersicht 454 zu Petitionen
- Drucksache 17/10135 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45})
Sammelübersicht 455 zu Petitionen
- Drucksache 17/10136 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46})
Sammelübersicht 456 zu Petitionen
- Drucksache 17/10137 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({47})
Sammelübersicht 457 zu Petitionen
- Drucksache 17/10138 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48})
Sammelübersicht 458 zu Petitionen
- Drucksache 17/10139 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({49})
Sammelübersicht 459 zu Petitionen
- Drucksache 17/10140 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller
Fraktionen bei Gegenstimmen der Linken angenommen.
Zusatzpunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({50})
Sammelübersicht 460 zu Petitionen
- Drucksache 17/10141 Wer ist dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({51})
Sammelübersicht 461 zu Petitionen
- Drucksache 17/10142 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Darf ich das wiederholen, weil der Herr von der
SPD anscheinend an der falschen Stelle die Hand gehoben hat? ({52})
Ich wiederhole: Sammelübersicht 461 auf Drucksache 17/10142. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer
enthält sich? ({53})
Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({54})
Sammelübersicht 462 zu Petitionen
- Drucksache 17/10143 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der KoaliVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses, Zusatzpunkte 5 bis 7.
Ich rufe zunächst Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({55}) zu dem Gesetz zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur
Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid
- Drucksachen 17/5750, 17/6264, 17/6507,
17/7240, 17/7543, 17/10101 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({56})
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag
über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies
gilt auch für die noch folgenden Beschlussempfehlungen
des Vermittlungsausschusses zu den Zusatzpunkten 6
und 7. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke Habe ich das jetzt richtig aufgenommen?
({57})
- Gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von
SPD und Grünen - ({58})
- Gut, dann wiederhole ich die Abstimmung. Entschuldigen Sie. - Drucksache 17/10101. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen von Linken und Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({59}) zu dem Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren
der außergerichtlichen Konfliktbeilegung
- Drucksachen 17/5335, 17/5496, 17/8058,
17/8680, 17/10102 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 17/10102? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({60}) zu dem Gesetz zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom aus solarer
Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien
- Drucksachen 17/8877, 17/9152, 17/9643,
17/10103 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Grosse-Brömer
Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 17/10103? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke ansonsten einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitglieder des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums gemäß § 39 a des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
- Drucksache 17/10089 Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlag
auf Drucksache 17/10089? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 17/10090 Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlag
auf Drucksache 17/10090? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und DIE LINKE
Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der
Bundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Ge22360
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
setzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung
Baukultur“
- Drucksache 17/10091 Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Drucksache 17/10091? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Dies ist eine strittige Entscheidung: Alle Fraktionen haben zugestimmt mit Ausnahme der Grünen, die dagegen
gestimmt haben.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Korruption im Gesundheitswesen bekämpfen Konsequenzen aus dem BGH-Urteil ziehen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Edgar Franke von der SPD-Fraktion
das Wort.
({61})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundesgerichtshof, konkret: der Große Senat für Strafsachen, hat in der letzten Woche eine gerichtliche Entscheidung getroffen, die von weitreichender Bedeutung für das Gesundheitswesen ist.
Pharmavertreter, die freiberuflich tätige Ärzte schmieren
wollen, aber auch Ärzte, die sich schmieren lassen, können wegen Bestechlichkeit und Bestechung nicht bestraft werden.
Um was ging es in diesem Verfahren konkret? Ein
Hersteller von Generika hatte Ärzten, die seine Produkte
verschrieben haben, als Belohnung 5 Prozent vom Herstellerpreis überwiesen. Dass das nicht sein darf, hat
auch der BGH so gesehen. Er hat nämlich über ein Jahr
lang nach einem Straftatbestand gesucht, der einschlägig
ist. Es sei jedoch Aufgabe des Gesetzgebers, so der
BGH, zu entscheiden - ich zitiere -:
ob die Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist und durch Schaffung entsprechender
Straftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werden soll.
Nichts anderes hat die SPD schon in ihrem Antrag im
Jahr 2010 gefordert.
({0})
Wir brauchen ergänzende Normen, um diese Regelungslücke zu schließen; denn es ist niemandem zu erklären, dass ein angestellter Arzt, wenn er geschmiert
wird, bestraft werden kann, ein niedergelassener Arzt
aber nicht. Das versteht keiner.
({1})
Der Grund ist ein rechtlicher: Er ist kein Beauftragter der
Krankenkasse. Das heißt also: Ein freiberuflich tätiger
Arzt kann selbst dann nicht bestraft werden, wenn er beispielsweise im Bereich der Onkologie, also im Bereich
der Krebsbehandlung, wo es um Leben und Tod geht,
Schmiergeld nimmt. Er kann selbst dann nicht bestraft
werden, wenn er aufgrund von Schmiergeldzahlungen
Medikamente verschreibt, die vielleicht sogar schlechter
wirken und im Vergleich zu den Produkten anderer Hersteller teurer sind. Das kann nicht sein. Ich glaube, das
kann man niemandem erklären. Vor allen Dingen kann
man die volkswirtschaftlichen Schäden und die Schäden
bei den Krankenkassen nicht erklären. Darauf muss man
einmal hinweisen.
Wir alle wissen: Ein Kassenarzt löst durch sein Tätigwerden - angefangen beim Ausstellen des Rezepts bis
hin zu den Krankenhauseinweisungen - Kosten aus, die
locker fünf- bis siebenmal so hoch sind wie sein Honorar. Die Liste der Abhängigen ist lang; auch das wissen
wir. Das geht vom orthopädischen Schuhmachermeister
- einer aus meinem Wahlkreis ist heute anwesend - über
den Augenoptiker, das Sanitätshaus bis hin zum Hörgeräteakustiker. Alle Beteiligten können Geschichten erzählen von Fangprämien oder von Geldzahlungen. Das
ist die Realität in Deutschland. Auch darauf muss man
hinweisen.
({2})
Hier fließt nicht nur Geld, sondern - das ist vielleicht
noch entscheidender - hier ist auch kein Unrechtsbewusstsein vorhanden. Es wird zwar verschiedentlich angemerkt, es gebe standesrechtliche Berufsordnungen der
Ärzte und letztlich sei auch im SGB V geregelt, dass
man solche Prämien nicht annehmen dürfe; aber weder
das SGB V noch das Standesrecht sieht wirksame Sanktionen vor. Das wissen wir aus der Praxis.
Die Patientinnen und Patienten müssen sicher sein,
dass bei den Entscheidungen des Arztes für eine Therapie oder für eine Operation allein medizinische Gründe
maßgebend sind und nicht monetäre Verlockungen, von
wem auch immer.
({3})
Die Politik muss handeln. Damit hier kein falscher
Zungenschlag aufkommt: Wir haben in Deutschland ein
hervorragendes Gesundheitswesen.
({4})
- Sehr geehrter Herr Spahn, wir haben auch hervorragende niedergelassene Ärzte. Aber, Herr Spahn, gerade
wenn man das System aufrechterhalten will, braucht
man eine Abschreckung für diejenigen, die das System
bewusst ausnutzen. Herr Spahn, ein Arzt, der betrügt,
schädigt auch immer seine richtig abrechnenden Kollegen, weil es ja ein Gesamtbudget gibt. Das muss man
auch ganz klar sagen.
({5})
Das ist nämlich kein Kavaliersdelikt.
Herr Spahn, wenn man unser gutes Gesundheitswesen
aufrechterhalten will, ist nach unserer Meinung ein spezieller Korruptionstatbestand notwendig. Wenn man
jetzt nicht handelt, bedeutet das nicht einen Etappensieg
der Freiberuflichkeit, wie das einige Ärzteverbände meinen, sondern vielmehr eine Legitimierung der Korruption in unserem Gesundheitswesen. Das ist die Wahrheit.
({6})
Deshalb fordern wir die Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen eindringlich auf, endlich zu handeln. Die Vorschläge, die wir in unserem SPD-Antrag
von 2010 gemacht haben, würden hierfür einen guten
Weg weisen.
({7})
Danke schön.
({8})
Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Korruption im Gesundheitswesen schadet dem Vertrauen, der Solidarität und der Finanzierbarkeit im Gesundheitswesen. Deswegen ist es richtig, dass alle Formen der Korruption im Gesundheitswesen entsprechend
geahndet werden. Versicherte und Patienten müssen sich
in Deutschland darauf verlassen können, dass sie die jeweils notwendige Behandlung bekommen - unabhängig
von finanziellen Interessen des Arztes, aber auch unabhängig von den Interessen der Krankenversicherung.
Insofern ist die Darstellung, der Bundesgerichtshof
erlaube nunmehr, dass Ärzte Geschenke - beispielsweise
von Pharmaunternehmen - annehmen dürften, falsch.
Der Bundesgerichtshof hat sich ausschließlich mit der
Frage beschäftigt, ob Ärzte als Angestellte und Beauftragte einer gesetzlichen Krankenversicherung gelten.
Aus guten Gründen hat der Bundesgerichtshof diese
Frage verneint. Ärzte sind nicht Angestellte und Beauftragte einer Krankenkasse, sondern sie sind in Deutschland aus guten Gründen und seit vielen Jahren Freiberufler. Daran will diese Koalition auch weiterhin festhalten.
({0})
Mediziner sollen nach medizinischen Gründen entscheiden - weder nach den finanziellen Interessen der
Krankenkassen noch nach den finanziellen Interessen
anderer Beteiligter am Gesundheitswesen. Ärzte sind
eben keine Angestellten oder Beauftragten einer gesetzlichen Krankenkasse.
Ein Arzt darf in seinem Verhalten weder von den Interessen eines Pharmaunternehmens noch allein von den
Interessen einer Krankenkasse geprägt sein.
({1})
Wir müssen - und das macht die Gesundheitspolitik
aus - dabei beide Seiten berücksichtigen: die berechtigten Interessen der Patienten, die bestmögliche Behandlung zu bekommen, und die berechtigten Interessen der
Beitragszahler, dass mit begrenzten Ressourcen immer
kostenbewusst und verantwortungsvoll umgegangen
wird.
({2})
Genau in diesem Spannungsverhältnis befindet sich
der Arzt. Aus guten Gründen setzen wir in Deutschland,
anders als in anderen Ländern, weiterhin auf die freiberufliche Tätigkeit gerade des niedergelassenen Arztes.
Herr Kollege, Ihre Darstellung, dass es keine Regelungen gebe, die Korruption im Gesundheitswesen ahnden oder untersagen, ist nicht korrekt.
({3})
Es gibt bereits heute mehrere Regelungen, die Korruption verbieten oder sogar ahnden.
Lassen Sie mich kursorisch einige Beispiele nennen:
§ 32 Berufsordnung für Ärzte, § 5 Bundesärzteordnung,
§ 73 Sozialgesetzbuch V, § 128 Sozialgesetzbuch V,
§ 67 Arzneimittelgesetz, § 7 Heilmittelwerbegesetz oder
auch § 4 Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Das jeweilige Strafmaß zeigt, dass falsches Verhalten konsequent geahndet wird. Immerhin kann einem tätigen Arzt
die Approbation entzogen werden.
({4})
All das zeigt, dass uns schon heute Sanktionen zur Verfügung stehen, ein solches Verhalten zu ahnden.
Im Übrigen hat die Koalition aus Union und FDP in
dieser Legislaturperiode einige Regelungen, zum Beispiel in § 128 Sozialgesetzbuch V, erst geschaffen, um
Fehlverhalten zu ahnden und Konsequenzen daraus zu
ziehen.
({5})
Als zuständiger Bundesgesundheitsminister sage ich
klar und deutlich: Wir werden das Urteil des Bundesgerichtshofs gründlich auswerten. Wir werden prüfen, ob
und welche Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehen
sind. Es ist zu prüfen, ob bestimmte Verbote strafbewehrt sein sollten. Ebenso ist zu prüfen, wie weitere Anregungen des Bundesgerichtshofs umgesetzt werden
können.
Beim Thema Freiberuflichkeit werden die Unterschiede, die es in diesem Parlament zwischen den gesellschaftlichen Konzepten und der Herangehensweise der
politisch linken Seite und der bürgerlich liberalen Mitte
gibt, die derzeit die Bundesregierung stellt, besonders
deutlich. Für uns ist die Freiberuflichkeit des niedergelassenen Arztes ein hohes Gut. Sie trägt maßgeblich
dazu bei, dass wir eine so gute Versorgung, wie wir sie
derzeit haben, weiterhin gewährleisten können. Das ist
im Interesse der Patienten und Versicherten in Deutschland.
Die Gesundheitssysteme in Ländern, in denen Freiberuflichkeit nicht möglich ist, sind geprägt von einer
Zweiklassenmedizin, das heißt, Mangelversorgung, sehr
lange Wartezeiten und krasse Unterschiede bei der Behandlung. Das wollen wir in Deutschland nicht, und deswegen halten wir an der Freiberuflichkeit im Gesundheitswesen in Deutschland weiterhin fest.
({6})
Herr Kollege, es ist schon bemerkenswert: Während
Ihrer Rede habe ich auf die Uhr geschaut und festgestellt, dass Sie nahezu 90 Prozent Ihrer Redezeit dafür
gebraucht haben, um das deutsche Gesundheitssystem
unter Generalverdacht zu stellen.
({7})
Das wird der Tätigkeit derer, die tagtäglich im Gesundheitswesen ihrer Arbeit mit viel Freude, Engagement
und Leistungsbereitschaft nachgehen, nicht gerecht, und
das wird auch dem Vertrauen, das die Patienten in das
deutsche Gesundheitswesen haben, nicht gerecht.
({8})
Sie haben zwar in einem Satz zugegeben, dass wir auf
unser leistungsfähiges deutsches Gesundheitssystem
stolz sein können. Trotzdem stand der Generalverdacht
der Korruption im Mittelpunkt Ihrer Rede.
({9})
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen, das
den Unterschied zwischen unseren Positionen verdeutlicht. Eine SPD-Gesundheitsministerin hat den Satz
geprägt, dass mit der Ideologie der Freiberuflichkeit
Schluss sein muss. Das zeigt die unterschiedliche Herangehensweise.
({10})
Ja, wir brauchen Regelungen, wir haben bereits Regelungen, und wenn es erforderlich ist, werden wir weitere
Regelungen im Gesetz verankern, durch die Korruption
und Fehlverhalten im Gesundheitswesen geahndet werden.
Das Gesundheitswesen ist ein großer Markt, hier geht
es um viel Geld. Wir haben eine ethische, eine soziale,
eine rechtliche und eine wirtschaftliche Verantwortung
für unser Gesundheitswesen. Deswegen müssen wir für
einen Interessenausgleich sorgen und gesetzliche Regelungen in verantwortbarem Rahmen auf den Weg bringen.
Für uns ist völlig klar: Wir wollen die freie Arztwahl
und die Therapiefreiheit erhalten, weil wir wissen, dass
der Patient davon profitiert. Ein Patient will, dass sich
der Arzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit für die notwendige und bestmögliche Behandlung für den Patienten entscheidet.
({11})
Nur wenn der Arzt diese Freiheit hat und er nicht allein
als Beauftragter oder Angestellter in der Funktionsträgereigenschaft einer Krankenversicherung handelt, kann
sich der Patient weiterhin darauf verlassen, dass der Arzt
dem Wohle des Patienten und den Interessen der Versicherten gleichermaßen verpflichtet ist. Dieser Aufgabe
fühlen wir uns weiterhin verpflichtet.
({12})
Wir sehen die Selbstverwaltung bestehend aus gesetzlicher Krankenversicherung, Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern als Erstes in der Pflicht,
Ärzte über die Regelungen im Gesetz zu informieren,
Konsequenzen zu ziehen und bei entsprechendem Fehlverhalten ein Verfahren einzuleiten und die Fälle von
Korruption zu ahnden. Es gibt Stellen, an die man sich
wenden kann, wenn man den Verdacht hat, dass ein
Fehlverhalten vorliegt. Schon heute sind im Gesetz
Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen. Die müssen genutzt werden.
({13})
Wir werten das Urteil des Bundesgerichtshofs als Bestätigung unserer Position, dass der Beruf des freiberuflich tätigen Arztes in Deutschland erhalten bleiben soll.
Wir sehen das Urteil des Bundesgerichtshofs natürlich
mit Interesse. Wir werden es gründlich auswerten und
dann entscheiden, ob daraus Konsequenzen zu ziehen
sind und Gesetze geändert werden müssen. Die Konsequenzen können aber nicht schon ein paar Tage nach
dem Urteil gezogen werden, sondern erst nach gründlicher Auswertung, erst recht, wenn es um Grundfragen
unseres Gesundheits- und Rechtssystems geht. Erst nach
einer gründlichen Auswertung können Konsequenzen
gezogen werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Damit es gleich am Anfang
gesagt ist: Das deutsche Gesundheitswesen ist gut, es ist
leistungsfähig. Ich sage das, damit mir nach meiner Rede
nicht wieder vorgeworfen wird, das nicht gesagt zu haben.
Man kann aber nicht drum herumreden. Ich weiß ja
nicht, wie es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP, geht, aber wenn ich zum Arzt gehe,
dann will ich, dass der Arzt die Behandlung und die Medikamentenverschreibung allein aus medizinischen Erwägungen heraus vornimmt.
({0})
Vielleicht geht es Ihnen ja auch so. Ich will nicht, dass
der Arzt dem eigenen Geldbeutel zuliebe eine andere
Entscheidung trifft als die, die medizinisch angezeigt ist.
Zum Glück ist der überwiegende Teil der Ärztinnen und
Ärzte nicht bestechlich, sondern versucht, die bestmögliche Medizin zu liefern. Davon gehe ich aus. Aber wenn
sich im Einzelfall herausstellt, dass eine Ärztin die Hand
dafür aufgehalten hat, dass sie die Medikamente eines
bestimmten Anbieters verschreibt, dann will ich, dass
die Staatsanwaltschaft und die Gerichte die gesetzlichen
Mittel haben, um dagegen strafrechtlich vorzugehen.
({1})
Dieses Mittel - das hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil aufgezeigt - gibt es aber nicht. Es gibt kein
Gesetz, das den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten
unter Androhung von Strafe verbietet, bestechlich zu
sein. Das hat der Bundesgerichtshof vor wenigen Tagen
klargestellt. Der Bundesgerichtshof hat der Politik mitgeteilt, dass sie ein entsprechendes Gesetz gegen die Bestechung der Ärzteschaft, falls gewünscht, gerne beschließen kann. Es hat dem Gesetzgeber sozusagen den
Auftrag gegeben, darüber nachzudenken und entsprechende Schritte zu unternehmen.
({2})
Was war die Antwort unseres Gesundheitsministers?
Er sagte: Dafür bin ich nicht zuständig; das sollen die
Ärzte unter sich oder mit den Kassen regeln. Was sagt
der gesundheitspolitische Sprecher der Union? Zitat:
Die Freiheit der Ärzte ist eine der Stärken unseres
Gesundheitssystems.
({3})
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Da stellt ein Gericht fest, dass aufgrund der Freiberuflichkeit der Ärzte eine strafrechtliche Ahndung von
Korruption nicht möglich ist, und Herr Spahn sagt dazu,
das sei eine Stärke unseres Gesundheitswesens. Es geht
immerhin um Milliardensummen aus den Versicherungsbeiträgen und um die Gesundheit der Patientinnen und
Patienten. Dieses Gut muss man abwägen gegen die
Raffgier einiger Ärzte und Ärztinnen. „Was ist da stärker
zu gewichten?“, frage ich Sie. Für Herrn Singhammer
von der CSU scheint das klar zu sein. Er schoss den
Vogel ab und diktierte interessierten Medien in den
Schreibblock - Zitat -:
Handlungsbedarf hätte es nur gegeben, wenn der
BGH … entschieden hätte, dass Ärzte Amtsträger
oder Beauftragte der Kassen sind. Dann hätte der
Gesetzgeber die Freiberuflichkeit der niedergelassenen Ärzte wieder herstellen müssen.
Wenn das Gericht also festgestellt hätte, dass nach
geltendem Recht Korruption bei Ärzten strafbar ist, dann
hätte man schleunigst handeln und die korrupten Ärzte
unter den Schutz der Freiberuflichkeit stellen müssen.
Meinen Sie das ernsthaft?
({4})
„Wie weit reicht der Arm der korrumpierenden Pharmakonzerne denn schon?“, muss man sich da ernsthaft fragen.
({5})
Nennen Sie mir einen plausiblen Grund, warum niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, wenn sie sich bestechen lassen und sich zum Nachteil der Patientinnen und
Patienten und zum finanziellen Schaden der Krankenversicherung die Taschen vollmachen, nicht genauso bestraft werden sollen wie angestellte Ärzte.
({6})
Warum sollen sie nicht genauso bestraft werden wie
sonstige Angestellte, Beamte oder wir Abgeordnete?
Auch bei uns steht, völlig zu Recht, wenn auch nicht
hinreichend, Bestechung unter Strafe.
Denken Sie bitte auch an die große Mehrheit der ehrlichen Ärztinnen und Ärzte. Die wünschen sich, dass
diese strafrechtliche Lücke endlich geschlossen wird.
Das sagte zum Beispiel der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Auch der Verein
Demokratischer Ärztinnen und Ärzte sagte ganz klar
- Zitat -:
Wenn die Freiheit des Arztberufes die Freiheit zu
Bestechung und Vorteilsnahme einschließt, so können wir auf diese Freiheit ohne weiteres verzichten,
denn sie bedeutet gleichzeitig die Freiheit von Moral und Ethik.
Zitat Ende.
({7})
Dem kann man sich meines Erachtens voll und ganz
anschließen. Das ist der Auftrag, den der Bundesgerichtshof dem Deutschen Bundestag mitgegeben hat.
Kriminelles Handeln muss auch bei freiberuflichen Ärzten strafbar sein. Es gibt hier eine Gesetzeslücke. Ich fordere Sie auf: Kommen Sie zu sich. Hören Sie auf, sich
schützend vor kriminelle schwarze Schafe zu stellen.
Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Problem - das hat man ja an den Reden von Ihnen, Herr
Weinberg und Herr Franke, gemerkt - ist: Sie sind einfach nicht in der Lage oder zumindest nicht willens, bei
diesem Thema auch nur ansatzweise zu einer differenzierten Betrachtung zu kommen
({0})
und sich die Diskussionslage genau anzuschauen. Um
eines vorneweg zu sagen, weil Sie das hier so latent unterstellt haben - ich finde die Unterstellung an sich
schon eine Unverschämtheit -: Niemand hier in diesem
Parlament will Korruption oder findet Korruption richtig. Niemand findet, dass Korruption im Gesundheitswesen nicht bestraft, nicht geahndet werden soll, insbesondere wenn es um die Versorgung von Patienten und um
die Frage, was das Richtige für die Patienten ist, geht.
Niemand will das. Im Gegenteil: Gerade im Interesse der
Patienten und vor allem der vielen Ärzte, die richtig und
integer handeln, muss das natürlich geahndet werden.
Das sagen wir, das sagt die Koalition, und das sagen natürlich auch die Ärzte.
({1})
Aber - da ist der Unterschied in unserer Betrachtungsweise - man sollte sich Zitate genau anschauen. Ich
bleibe dabei: Es ist genauso im Interesse der Patientinnen und Patienten, dass Ärzte nicht Beauftragte oder
Amtsträger von Krankenkassen sind. Wir in der Koalition jedenfalls wollen nicht, dass die niedergelassenen
Ärzte in Deutschland quasi Staatsangestellte sind, wie es
in anderen Gesundheitssystemen in Europa der Fall ist.
Eines der größten Qualitätsmerkmale des deutschen Gesundheitssystems ist die Freiberuflichkeit, die Selbstständigkeit der niedergelassenen Ärzte. Diese machen
nicht um 17 Uhr Feierabend, sondern sind um 21 Uhr
noch im Einsatz. Sie setzen sich ein und engagieren sich.
Wir wollen sie nicht unter Generalverdacht stellen. Wir
halten es für einen Mehrwert, dass wir diese Freiberuflichkeit in Deutschland haben.
({2})
Wir halten es vor allem für einen Mehrwert für die
Patientinnen und Patienten. Ich glaube, wenn Sie einmal
die Menschen im Land fragen würden, ob sie wollen,
dass ihr Arzt quasi ein Angestellter der Krankenkasse
ist,
({3})
dann würden die meisten sagen, dass sie damit ein Problem hätten; das hätten sie zu Recht. Deshalb war es
richtig, dass der Bundesgerichtshof klargestellt hat:
Selbstständig tätige Ärzte sind nicht quasi Angestellte
der Krankenkassen.
({4})
Das Problem an der Debatte, wie Sie sie vor allem in
den Medien geführt haben - ich denke an Zitate des Kollegen Lauterbach und anderer -, ist, dass Sie einen Generalverdacht gegen die Ärzteschaft aussprechen. Wenn
man Ihren Antrag zu diesem Thema liest, über den hier
ja noch in zweiter und dritter Lesung debattiert werden
wird, und die Wortwahl betrachtet, zum Beispiel „Abzocke“, man müsse den Patienten schützen, dann sieht
man, dass Sie Ärzte, Apotheker und Patienten gegeneinander ausspielen wollen. Ich glaube, das führt nicht zu
einer guten Behandlung. Die Menschen wollen ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Arzt haben können, und Sie
machen es durch Generalverdacht kaputt. Das ist das eigentliche Problem in dieser Debatte.
({5})
Ich habe kein Problem damit, wenn es bei diesem Thema
Unterschiede hier im Hause gibt.
Jetzt zur Frage der Korruption. Natürlich müssen wir
dagegen vorgehen. Wir haben sozialrechtlich in der Großen Koalition schon viel geregelt.
({6})
- Geregelt! - Ich kann mich gut erinnern: Die SPD war
der Bremser, als es um § 128 SGB V, Zuweisung gegen
Entgelt, ging. Es ging um die Frage, ob der Arzt einen
Vorteil davon haben darf, wenn er die Patienten zu einer
bestimmten Physiotherapiepraxis, zu einer bestimmten
Apotheke oder zu einem bestimmten Krankenhaus
schickt. Er darf natürlich keinen Vorteil dadurch haben.
Das Patientenwohl muss im Mittelpunkt stehen und
nicht das finanzielle Interesse des Arztes. Deswegen haben wir in dieser Koalition die Regelungen im Sozialgesetzbuch V noch einmal verschärft und gesagt, dass
man als Strafe sogar seine Zulassung verlieren kann,
wenn man so handelt. Sie sollten uns also nicht vorwerfen, dass wir nicht entsprechend aktiv werden.
Nun zum Berufsrecht der Ärzte. Die Approbation
könnte entzogen werden,
({7})
aber das müssen in den allermeisten Bundesländern die
Landesregierungen machen. Das können die Ärztekammern nicht allein. Ich bin gespannt, ob die grüne Gesundheitsministerin in NRW endlich einmal anfängt, zu
dieser Strafe zu greifen. Es passiert sehr selten, dass eine
Landesregierung einem Arzt die Approbation entzieht.
({8})
Berufsrechtlich möglich wäre es schon heute. Die Instrumente müssen nur genutzt werden, auch und gerade in
den Ländern.
({9})
Wir haben gesagt - der Bundesminister hat gerade
noch einmal darauf hingewiesen -: Wir begrüßen es,
dass niedergelassene Ärzte nicht Amtsträger der Krankenkassen sind und dass das Gericht das klargestellt hat.
Das haben wir übrigens auch nie anders gesagt. Man
muss Gesagtes nur einmal differenziert aufnehmen und
auch hören wollen; das wäre ganz wichtig. Wir haben
aber genauso gesagt, dass wir nach dem Urteil natürlich
noch einmal schauen wollen, was man regeln sollte und
kann, wenn es um Korruption, um Vorteilsnahme insbesondere bei Anwendungsbeobachtung geht, wo die Pharmaindustrie an manche Ärzte - es beteiligen sich ja bei
weitem nicht alle Ärzte; Sie äußern ja immer einen Generalverdacht - Geld zahlt, wenn sie bestimmte Medikamente verschreiben. Da muss man mehr Transparenz
reinbringen. Da muss es am besten eine entsprechende
Einwilligung der Patienten geben, damit sie wissen, dass
sie an einer solchen Anwendungsbeobachtung teilnehmen.
({10})
Wir sind bereit, das zu regeln, und werden das in den
nächsten Tagen und Wochen in der nötigen Ruhe diskutieren.
Aber ein Unterschied bleibt. Ich bin eigentlich ganz
dankbar, dass er bleibt; denn er ist Ausdruck der unterschiedlichen Gedankenschulen. Wir halten es für einen
großen Wert in Deutschland, dass wir freiberuflich tätige, niedergelassene Ärzte haben, die vor allem dem
Wohl des Patienten verpflichtet sind und nicht Handlanger von Krankenkassen sind. Genau in dieser differenzierten grundsätzlichen Betrachtungsweise werden wir
die Probleme, die vorhanden sind, angehen - ohne Generalverdacht und zum Wohle des Patienten.
({11})
Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben
hier wieder einmal eine Aktuelle Stunde, in der versucht
wird, Flagge zu zeigen. Sie von den Mehrheitsfraktionen
wollen Flagge zeigen in Richtung Freiberuflichkeit.
({0})
Sie vonseiten der SPD versuchen, Flagge in Richtung
Krankenkassen, in Richtung Versicherte, ein bisschen in
Richtung Patienten - die kamen nicht so deutlich vor zu zeigen.
Was wird gegeneinander ausgespielt? Freiberuflichkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite Korruptionsfreiheit, lauteres Verhalten. Diese beiden Dinge
gegeneinander auszuspielen, ist nicht der richtige Weg.
Von beiden Seiten ist das tendenziös und wird der eigentlichen Aufgabe, die wir hier haben, in keinster
Weise gerecht. Das finde ich in dieser ganzen Debatte
verlogen.
({1})
Erstens können wir uns alle miteinander hier keine
Debatte leisten, nach der es in den Schlagzeilen heißt:
Ärzte dürfen Geschenke annehmen. Das ist eine Debatte
und eine Schlagzeile, die sich keiner hier im Raum erlauben kann. Das ist nämlich ein Angriff auf das allgemeine Rechtsempfinden in der Bevölkerung. Es muss
klar sein, dass Korruption nicht geht, dass Bestechlichkeit nicht geht, dass Vorteilsnahme nicht geht. Gleichzeitig muss aber auch klar werden, dass ein Arzt keine Sonderstellung gegenüber anderen Berufen hat. Wo kommen
wir denn dann hin? Es gibt sehr viele Berufe, in denen
das Ethos der Freiberuflichkeit gelten muss.
({2})
Nehmen wir die Rechtsanwälte, nehmen wir andere freie
Berufe. Das muss überall gelten. Von daher ist die heutige Diskussion für alle Anlass, aufzustehen und zu sagen: Nein, das gibt es nicht, das ist nicht in Ordnung,
und wir werden dafür Sorge tragen, dass Korruption,
wenn sie doch vorkommt, sanktioniert werden kann.
({3})
Das ist die erste Aufgabe und Aussage, die deutlich im
Raum stehen muss.
Sie haben genau das Gegenteil gemacht. Sowohl der
Minister als auch die Redner von der Koalition haben
insbesondere auf die Freiberuflichkeit abgehoben. Das
haben Sie bewusst gemacht, weil Sie ein Signal an Ihre
Klientel, an Ihre Wählergruppen, senden wollten. Darum
ging es an dieser Stelle. Da brauchen Sie der Opposition
nicht scheinheilig etwas anderes zu unterstellen. Das ist
einfach nicht lauter.
Zweitens dürfen wir hier nicht so tun - das ist hier
passiert -, als gäbe es genug Regelungen, sodass wir
nichts mehr zu tun bräuchten. Wir alle wissen, dass das
nicht stimmt. Wir alle wissen, dass wir zwar sozialrechtliche Regelungen, juristische Regelungen und berufsrechtliche Regelungen haben, gleichzeitig wissen wir,
dass Korruption im Einzelfall vorkommt. Wir wissen
auch, dass sie in einzelnen Branchen nicht nur in Einzelfällen vorkommt.
({4})
Sie alle werden genau wie ich Zuschriften erhalten, in
denen - im Übrigen häufig von Ärzten - mit großer Empörung berichtet wird, dass es diese Einflussnahmeversuche beispielsweise von Pharmafirmen gibt. Ich jedenfalls erhalte diese Anschreiben. Ich denke, sie werden in
gleicher Weise auch an alle anderen gegangen sein.
Das heißt, wir haben weiterhin eine Aufgabe. Im
Urteil wurde dargelegt, dass es einen strafrechtsfreien
Raum gibt. Die Rechtsprechung hat vorher versucht, ihn
mit einem kleinen Trick zu füllen. Sie hat nämlich, in22366
dem sie die Ärzte in Amtsträger oder verlängerte Angestellte
({5})
eines geschäftlichen Betriebes umfunktionierte, künstlich einen Straftatbestand geschaffen. Das ist jetzt gestoppt worden. Es ist gesagt worden: Nein, das ist keine
ordentliche Grundlage. Lieber Gesetzgeber, überprüfe,
ob es hier eine Strafbarkeitslücke gibt! Wenn ja, sorge
dafür, dass eine neue Regelung getroffen wird. - Damit
müssen wir uns jetzt sorgfältig beschäftigen. Das ist
schlichtweg die Aufgabe, die wir alle miteinander haben.
({6})
Wenn ich das ganze Gerede, wir würden schon so viel
machen, höre, dann kann ich nur daran erinnern: Im
Ausschuss ging es um die Berichte über die Stellen zur
Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen.
Was steht da drin? Darin heißt es: Wir wissen von nichts.
Wir haben Daten, die nicht miteinander kompatibel sind. 2004 sind diese Stellen eingerichtet worden. 2011 gibt es
noch nicht einmal eine Übereinkunft darüber, welche
Daten wir gemeinsam erfassen. Das ist doch Wahnsinn!
Das ist doch kein Signal an die schwarzen Schafe, dass
wir ernsthaft gegen sie vorgehen! Was heißt das eigentlich?
({7})
Das sind die Aufgaben, die wir angehen müssen, und
das werden unsere nächsten Schritte sein. Ich finde, es
ist, gelinde gesagt, eine Frechheit, wenn wir auf eine
Kleine Anfrage vom Ministerium die Antwort bekommen: Daten liegen uns nicht vor. Wir können sie leider
auch nicht beschaffen. - Zu all den Verfahren, in denen
es darum ging, zu erfahren, ob es berufsrechtliche Verfahren gibt und ob es zur Weitergabe von Verfahren an
die Staatsanwaltschaft kommt, hieß es: Uns liegen keine
Erkenntnisse vor. Uns liegen keine Daten vor.
Welche Konsequenz wird daraus gezogen? Wird etwa
gesagt: Wir schaffen jetzt Transparenz? Nein. Ich denke,
im Hinblick auf das Verfahren ist das ein Riesenfehler,
ein Riesentort. Es muss doch als Erstes darum gehen,
Transparenz zu schaffen. Denn sie ist die Voraussetzung
dafür, dass wir die schwarzen Schafe zunächst stringent
erfassen und im nächsten Schritt eine vernünftige gesetzliche Regelung zur Strafbarkeit treffen.
({8})
Das wird die Aufgabe sein, die wir in Zukunft zu bewältigen haben. Ich bin gespannt, was nach den Ferien auf
uns zukommt.
({9})
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei
Wochen hat die SPD durch Arbeitsverweigerung verhindert, dass der Antrag, auf den Sie sich bezogen haben,
Herr Franke, hier behandelt werden konnte.
({0})
Jetzt versuchen Sie, das nachzuholen. Ich glaube, dass
Sie das Urteil des BGH viel gründlicher hätten lesen sollen. Dieses Urteil ist nicht nur in juristischer Hinsicht
sehr interessant - meiner Ansicht nach ist es auch vollkommen richtig -, sondern auch seine Begründungen
sind sehr interessant. Am Ende, wenn der Bundesgerichtshof erklärt, wie die Dinge zusammenhängen,
taucht nämlich das Stichwort der Freiberuflichkeit auf.
({1})
- Frau Bender, nun krähen Sie doch nicht dazwischen.
({2})
Es ist so: Wenn Ärzte keine Amtsträger, keine Beauftragten, keine Angestellten und keine Funktionsträger
sind, dann sind sie Freiberufler. Dann gelten für sie, was
die Strafbarkeit angeht, dieselben Regelungen wie für
alle anderen Freiberufler. Frau Klein-Schmeink kann uns
ja nachher einmal erklären, wie man in bestimmten Konstellationen einen Rechtsanwalt bestechen kann. Dann
führen wir eine rechtspolitische Debatte; auch darauf
freuen wir uns.
({3})
Im Übrigen hat der BGH festgestellt, dass ein Arzt im
konkreten Fall nicht deshalb tätig wird, weil er sich in einer hierarchischen Struktur bzw. in einer Dienststellung
befindet, sondern aufgrund der individuellen, freien
Auswahl der versicherten Person. Hier sind wir beim
Arzt-Patienten-Verhältnis, beim Vertrauensverhältnis;
das ist eine wichtige Grundentscheidung, die man erst
einmal treffen muss. Wir haben dieses Thema also nicht
erfunden, sondern Sie haben es vor dem Hintergrund des
BGH-Urteils auf die Tagesordnung setzen lassen. Ich
danke insbesondere Bundesgesundheitsminister Daniel
Bahr, dass er dies klar herausgestellt hat. Im Übrigen
war es sehr hilfsreich, dass er alle Paragrafen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, einmal geHeinz Lanfermann
nannt hat; im Redebeitrag von Herrn Franke wurden sie
nämlich nicht erwähnt.
({4})
Sie werden übrigens auch in Ihrem Antrag, auf den Sie
so stolz sind, nicht erwähnt.
Man fragt sich: Was ist eigentlich in den sieben Jahren, in denen es rot-grüne Regierungen gab, an dieser
Stelle passiert? Hat es Sie nicht jede Nacht umgetrieben,
dass es hier keinen Straftatbestand gibt? Oder waren Sie
etwa mit den Regelungen, die es schon damals gab
- 2011 sind sie ja nur etwas modernisiert worden -, zufrieden? Die Regelung, dass für Ärzte das Standesrecht
gilt, hätte Ihnen doch eigentlich schon damals nicht reichen dürfen.
Tatsächlich beklagen Sie - hier stimme ich Ihnen ja
zu -, dass es an der einen oder anderen Stelle Vollzugsdefizite gibt. Diese gibt es übrigens auch sonst, bei jeder
Form von Recht und Verwaltung. Lassen Sie uns daran
arbeiten! Machen Sie doch einmal Vorschläge, wie das,
was schon Recht ist, auch entsprechend umgesetzt werden kann! Der Vollzug muss funktionieren, dann wird
auch etwas erreicht. Immer Neues zu fordern, hilft nicht.
Wenn der SPD keine neue Steuer einfällt, dann fällt ihr
halt ein neuer Straftatbestand ein.
({5})
Sie sind mit Ihrer Denkweise kassenorientiert. Das
merkt man auch genau, wenn man liest, wie der Straftatbestand aussehen soll, den Sie fordern. Der BGH hat in
der Tat indirekt gesagt, dass man prüfen soll. Das werden wir auch äußerst gründlich tun. Sie kommen sich
aber klüger vor und fordern zum Beispiel - das muss
man sich auf der Zunge zergehen lassen -:
Es wird ein besonderer, auf sozialversicherungsrechtliche Sachverhalte abzielender Straftatbestand
geschaffen, der neben dem Vermögen die besondere
Stellung der gesetzlichen Krankenversicherung und
der Patientinnen und Patienten schützt.
({6})
Dass die besondere Stellung geschützt werden soll, kennen wir sonst nur bei Staats- oder Verfassungsorganen.
Man fragt sich, was das bedeuten soll. In der Begründung bejammern Sie:
Das gesundheitliche Risiko für den Patienten und
die generelle Frage der Behandlungsqualität spielen
für die strafrechtliche Qualifizierung als Betrug
keine Rolle.
Na so was, das ist ja wirklich etwas ganz Tolles.
Sie beklagen hinsichtlich des Betruges weiter:
Dieser schützt als reines Vermögensdelikt
- das ist er in der Tat; aus gutem Grund … nur tatsächliche, objektiv messbare Eingriffe in
das Vermögen.
- Das ist richtig. Für den optimalen Schutz sozialversicherungstypischer Rechtsgüter ist daher die Schaffung eines speziellen Straftatbestandes dringend erforderlich.
Hier empfehle ich, neben dem SGB und auch einmal
das Strafgesetzbuch zu lesen und zu verstehen. Dann
merken Sie nämlich, dass Sie hier etwas Unmögliches
fordern.
Auf die auch von Ihnen, Frau Reimann, heute in einem Interview angekündigte Initiative hinsichtlich eines
Straftatbestandes bin ich sehr gespannt. Aus dem, was
Sie sagen, kann ich nicht erkennen, dass hier irgendetwas „gebacken“ wird, mit dem man etwas anfangen
kann.
Wir werden prüfen, und wir werden zu guten Ergebnissen kommen. Ich denke, es ist gut, wenn man sich in
der Diskussion dann auch einmal wieder auf die Fakten
bezieht, wenn die Rechtslage einmal wirklich sorgfältig
geprüft wird und wenn eine solch sensible Diskussion
nicht mit dieser Fülle von Verdächtigungen und Unterstellungen geführt wird, mit denen Sie heute hier aufgewartet sind.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Max Straubinger für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen heute eine Aktuelle Stunde durch, die keine
Aktuelle Stunde mehr sein kann, weil sie schon für den
15. Juni 2012 beantragt worden war. Durch ihre Arbeitsverweigerungshaltung
({0})
hat die SPD die Durchführung dieser sogenannten Aktuellen Stunde zu dem Zeitpunkt, als sie noch aktuell gewesen wäre, verhindert, nämlich im Vorfeld der Entscheidung des Bundesgerichtshofs über Korruption im
Gesundheitswesen. Mittlerweile hat sie an Aktualität
verloren. Das liegt an der SPD und an den linken Fraktionen hier in diesem Hause, die an diesem Tag Arbeitsverweigerung betrieben haben.
({1})
Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine solche Debatte
hier natürlich zu verstehen.
({2})
Wir stellen fest - der Kollege Jens Spahn und auch
der Bundesminister haben dies schon getan -, dass die
Bekämpfung von Korruption natürlich in unser aller
Sinne ist. Niemand will Korruption. Das gilt nicht nur
für das Gesundheitswesen, sondern für das gesamte
Wirtschaftswesen in unserem Lande.
({3})
Deshalb ist die Bekämpfung von Korruption natürlich
eine große Aufgabe, die wir hier zu bewältigen haben.
Der Kollege Franke hat sich auf den Sachverhalt
berufen, um den es bei der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ging. Dieser ist natürlich verurteilenswert;
das ist überhaupt keine Frage. Hier haben wir auch keinen Dissens. Bei seiner Darstellung hat er aber einen
Fehler gemacht; denn er hat die Grundlage vergessen. Es
geht nämlich um das Jahr 1997, und 1997 sah die
Rechtssituation noch völlig anders aus als mittlerweile.
Zum damaligen Zeitpunkt war es noch möglich, durch
den Einsatz von besonderer Praxissoftware entsprechende verurteilenswerte Regelungen mit Ärzten zu treffen.
Ich erinnere daran, dass wir 2006 in der Großen Koalition beschlossen haben, dass Praxissoftware nur noch
in dem Sinne eingesetzt werden darf, dass kein Hinweis
mehr auf irgendwelche Hersteller von Arzneimitteln gegeben ist. Somit wurde in diesem Bereich eine Praxis
ausgeschlossen, die in früheren Jahren und Jahrzehnten
durchaus möglich war.
Auch das zeigt sehr deutlich, dass Sie etwas hinterherhinken. In diesem Sinne haben Sie auch Ihren Antrag
aufgebaut, der noch Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag sein wird. Ich hoffe nur, dass die
Grundlage Ihres Antrages besser ist als manche Grundlage, die heutzutage im Zusammenhang mit Korruption
und Fehlverhalten geboten wird. Ich führe uns nur zu
Gemüte, dass eine Grundlage für die Behauptung, dass
massenhaft Fangprämien in unserem Gesundheitswesen
gezahlt werden, die Aussagen von 63 Ärzten von insgesamt 155 000 angestellten Ärzten sein sollen. Ich finde,
das sind dürftige Grundlagen. Ich hoffe, dass in Ihrem
Antrag die Grundlage etwas kräftiger ist.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte kurz
auf den Antrag eingehen, den bereits der Kollege
Lanfermann erwähnt hat. Bereits in der Einleitung stehen falsche Feststellungen. Es ist die Rede von nun anstehenden Beitragssatzsteigerungen und der in Zukunft
drohenden Kopfpauschale und dergleichen mehr. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sollten einmal die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Im Gegensatz
zu Ihren Regierungen haben wir im Krankenversicherungssystem nicht Schulden, sondern Überschüsse angehäuft, und zwar dank einer guten Wirtschaftspolitik, aber
vor allem dank einer guten Gesundheitspolitik, betrieben
durch unseren Bundesminister Daniel Bahr und die die
Regierung tragenden Fraktionen.
({4})
Bemerkenswert ist, dass die Landesminister der SPD
offensichtlich mehr auf der Höhe der Zeit sind. Jetzt war
ja die Landesministerkonferenz. Und was fällt den SPDKollegen ein? Die Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen.
({5})
Offensichtlich haben wir viel zu viel Geld. Ich weiß
nicht, wie dies in Einklang zu bringen ist mit dem, was
Sie seinerzeit in den Antrag geschrieben haben.
({6})
Dies zeigt sehr deutlich: Sie wollen mit dieser Diskussion einen ganzen Berufsstand diffamieren.
({7})
Es sind also nur Lippenbekenntnisse, die Sie getätigt
haben. Der Kollege Spahn hat es ja bereits klar und deutlich gesagt: 90 Prozent über Korruption zu reden und
dann zu schließen, dass wir ein gutes Gesundheitssystem
haben, wird meines Erachtens einer differenzierten Betrachtungsweise in keinster Weise gerecht. Deshalb werden wir zukünftig Ihre Anträge ablehnen.
({8})
Die heutige Aktuelle Stunde zeigt sehr deutlich: Ihre
Argumente sind in keinster Weise überzeugend.
({9})
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Spiegel dieser Woche wurde Herr Spahn mit
den Worten zitiert:
Falls die Bundesrichter den Korruptionsparagrafen
… anwenden …, werden wir das rechtlich so klarstellen, dass ein solches Urteil künftig anders aussehen müsste.
Da wird mit markigen Worten das Bundessozialgericht
in die Schranken verwiesen. Wenn hier Korruption für
den niedergelassenen Arzt eingeschränkt wird, dann
werden wir auf jeden Fall sicherstellen, dass die Korruption weiter stattfinden kann. Das ist ja das, was Sie sagen. Ich muss ehrlich sagen: Für eine solche Aussage
sollten Sie sich als gesundheitspolitischer Sprecher Ihrer
Partei schämen.
({0})
Sie sollten sich nicht wundern, dass aufgrund
dieser Aussage und der Einlassungen von Ihnen, Herr
Singhammer, bei den meisten Journalisten der Eindruck
entsteht, dass für die CDU nicht die Korruption das eigentliche Problem zu sein scheint, sondern die Bekämpfung der Korruption. Damit entsteht in der Öffentlichkeit
der verheerende Eindruck, dass Sie die Korruption
schützen wollen. Es ist richtig, was Herr Spahn sagt,
dass niemand hier Korruption will; das ist nicht der
springende Punkt. Die Frage ist: Wer hier im Haus will
Korruption schützen, und wer will sie bekämpfen?
({1})
Das hat auch nichts mit der Frage zu tun, was 1997
möglich war. Zum jetzigen Zeitpunkt laufen mehrere
Gerichtsverfahren, in denen es darum geht, dass Patienten Medikamente im Rahmen einer Chemotherapie bekommen haben, die sie nicht brauchten, was die Ärzte
wussten. Diese haben Geld dafür bekommen, dass sie
den Patienten diese Wirkstoffe gegeben haben.
({2})
Stellen Sie sich einmal vor, das würde Ihnen oder Ihren Verwandten, Ihrer Mutter passieren. Sie würden erfahren: Hier ist eine Chemotherapie durchgeführt worden, diese hat aufgrund falscher Medikamente nicht
gewirkt, und die Mutter muss sterben. Das sind reale
Fälle. Jetzt kommt die CDU/CSU und sagt: Wir müssen
dafür sorgen, dass das weiterhin möglich ist. - Was geben Sie hier für ein beschämendes Bild ab!
({3})
Der Minister trägt vor, dass seiner Meinung nach die
Entscheidungen der Ärzte nach medizinischen Kriterien
und nicht nach finanziellen Kriterien getroffen werden.
Gleichzeitig trägt er zehn Minuten lang vor, dass er alles
tun wird, damit das Gegenteil weiter möglich bleibt.
({4})
Dabei darf man sich nicht fragen, weshalb die FDP in
der Gesundheitspolitik die geringste Glaubwürdigkeit
hat. Stetig kommt von Ihnen die Ankündigung des Gegenteils von dem, was Sie in Wirklichkeit wollen.
({5})
Das will der Wähler nicht mehr hören. Entweder sind
Sie dafür, dass wir etwas gegen Korruption tun, oder Sie
haben wenigstens den Mut, zu sagen: Ich möchte, aus
welchen Gründen auch immer, nichts gegen Korruption
tun. Ich möchte keinen Streit mit den Ärzten. Angesichts
der 5-Prozent-Hürde kann ich mir einen solchen Streit
derzeit nicht leisten. Ich brauche diese Stimmen.
({6})
- Nein, das ist die Wahrheit.
({7})
Sie kämpfen doch um die Zustimmung der Ärzteschaft.
Mehr ist es doch nicht. Seien Sie doch ehrlich!
Sie haben hier eben vorgetragen, es ginge uns um die
Freiberuflichkeit der Ärzte.
({8})
So dumm ist doch selbst bei Ihnen niemand. Sie wissen
ganz genau: Die Amtsträgerschaft ist eine strafrechtliche
Kategorie. Das hat nichts mit Freiberuflichkeit und
nichts mit Dienstverhältnissen zu tun. Das ist nichts anderes als eine billige Hetze. Sie wollen hier nur täuschen.
Ein Chefarzt im Krankenhaus, der wegen Korruption belangt werden kann, ist kein Angestellter der Kassen.
({9})
Das wissen selbst Sie, Herr Lanfermann! Herr Lanfermann,
Sie würden doch nicht sagen, dass der Krankenhausapotheker oder der Krankenhausarzt ein Angestellter der
Kassen ist.
({10})
Das weiß doch auch Herr Bahr. Sie schämen sich doch
im Prinzip für Ihre eigene Position. Seien wir doch hier
im Haus eine Sekunde lang ehrlich!
({11})
Die Wahrheit ist: Sie wollen die Korruption bei niedergelassenen Ärzten zulassen, derweil sie zu Recht im
Krankenhaussektor verboten ist. Das ist eine Ungleichbehandlung. Das schützt die Unehrlichen.
({12})
Das ist eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung.
Das ist gegen die Patienten, gegen die Versicherten, gegen ehrliche Ärzte und schützt die wenigen korrupten
Ärzte, vor die Sie sich stellen, weil Sie glauben, dass Ihnen das ein paar Stimmen bringen wird.
({13})
Da werden Sie sich aber geschnitten haben.
Zum Schluss. Durch das angesprochene Urteil wird
dieses Problem massiv an Bedeutung gewinnen. Das ist
sogar für Sie, Herr Kauder, von Bedeutung.
({14})
Das Urteil wird dazu führen, dass diese Art der Korruption zunimmt. Dieses Urteil ist dafür im Prinzip ein Freibrief. Dann müssen Sie Ihre Position durchhalten und sagen: Der Krankenhausarzt, der Krankenhausapotheker
und der Chefarzt werden strafrechtlich verfolgt, wenn
sie Geld annehmen, aber der niedergelassene Arzt nicht.
Ich sage Ihnen voraus: Das werden Sie weder rechtlich
noch politisch schaffen. Zum Schluss werden Sie gezwungen sein, mit uns gemeinsam etwas zu unternehmen, damit diese unehrenhafte und unwürdige Form der
Korruption in unserem Gesundheitssystem unterbunden
wird. Davon bin ich fest überzeugt.
({15})
- Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? Dann erheben
Sie sich bitte. Ich lasse eine Zwischenfrage zu.
({16})
Herr Kollege, in Aktuellen Stunden gibt es keine Zwischenfragen. Das wäre also falsche Großzügigkeit.
({0})
Dann nehme ich diese Großzügigkeit zurück.
({0})
- Ich komme ja zum Schluss.
({1})
- Herr Kauder, es mag Ihnen als Nichtfachpolitiker entgangen sein: Wir haben einen Gesetzentwurf in Vorbereitung und schon einen Antrag vorgelegt, mit denen wir
die Bekämpfung der Korruption vorantreiben wollen,
die Sie schützen.
({2})
Wir haben einen Antrag zur Bekämpfung der Korruption
bei niedergelassenen Ärzten vorgelegt und werden Sie
nach der Sommerpause mit einem entsprechenden Gesetzentwurf unterstützen.
Sie werden zum Schluss die Kurve bekommen und
uns in dieser Sache bestätigen, weil Sie die unpopuläre
und auch falsche Position in der Öffentlichkeit nicht
durchhalten können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Lauterbach, was Sie eben vorgebracht haben, ist billigste Polemik.
({0})
Zum Beispiel der Chemotherapie ist zu sagen: Das ist
wissentlich eine falsche Behandlung. Das ist sowohl
strafrechtlich als auch zivilrechtlich zu ahnden.
({1})
Ich bin kein Jurist, aber das habe sogar ich verstanden.
Liebe Kollegin Klein-Schmeink, wenn Sie in Bezug
auf das ärztliche Berufsethos Zweifel haben, dann gebe
ich Ihnen den dringenden Rat, nächstes Mal meinen ärztlichen Kollegen in Ihrer Fraktion zu befragen und sich
zu informieren, statt hier unqualifizierte und diffamierende Äußerungen von sich zu geben.
({2})
Im Übrigen versucht die Opposition, ein totes Pferd
zuschanden zu reiten. Denn bereits vor einem Jahr hat
die SPD einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der die ganze Ärzteschaft unter Generalverdacht stellte und an allen Ecken und Enden Korruption
witterte.
({3})
Für die Sozialdemokraten war das Strafrecht das Mittel der Wahl, um angeblich unkontrolliertes Fehlverhalten der Ärzte mit dem Holzhammer zu sanktionieren.
Dankenswerterweise hat der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs die juristische Seite dieser
unsäglichen Debatte letzte Woche beendet.
({4})
Denn das Gericht hat unmissverständlich klargestellt:
Niedergelassene Ärzte sind weder Amtsträger noch Beauftragte einer öffentlichen Körperschaft. Sie sind somit
keine Adressaten der Strafvorschriften wegen Bestechlichkeit. Entsprechendes gilt für Vertreter der Pharmaunternehmen, die auch nicht wegen Bestechung verurteilt
werden können.
Das ist ein glasklares Verdikt. Was aber macht die
Opposition? Sie inszeniert einen Sturm der Entrüstung
und ruft lauthals nach einem neuen Paragrafen im Strafrecht.
({5})
Der Tatbestand soll auf niedergelassene Ärzte ausgeweitet werden. Auch hier zeigen sich wieder das gleiche
krude Verständnis vom Wesen der Ärzteschaft und die
gleiche Missachtung eines ganzen Berufsstands.
({6})
Den Ärzten wird prinzipiell Misstrauen entgegengebracht. Sie sollen potenziell kriminalisiert und an den
Pranger gestellt werden. Dies, meine Damen und Herren, machen wir Liberalen und die Regierungskoalition
nicht mit.
Die von der Koalition bewiesene Besonnenheit in dieser Frage hat sich als richtig erwiesen. Schon vor einem
Jahr habe ich darauf hingewiesen, dass es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers ist, bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen den Schiedsrichter zu spielen. Die KoaliDr. Erwin Lotter
tion hat sich entschlossen, die Klarheit einer höchstrichterlichen Entscheidung als Maßstab zu wählen. Auf keinen Fall werden wir dem populistischen Mantra der Opposition folgen, das zur Verunglimpfung eines ganzen
Berufsstands führt.
({7})
Zu Recht hat die Bundesärztekammer in ihrer Stellungnahme zu dem Urteil darauf hingewiesen, dass dieses die Freiberuflichkeit des niedergelassenen Arztes
und seinen daraus resultierenden Status betont. Das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten ist geprägt durch
persönliches Vertrauen und durch eine Gestaltungsfreiheit, die den Kontrollfanatikern der Opposition offensichtlich fremd ist.
Was würde denn passieren, wenn die Opposition ihren völlig unangemessenen Vorschlag einer Strafbewehrung durchsetzen könnte? Entscheidungen über die Verschreibung von Medikamenten würden nicht mehr nach
therapeutischen und qualitativen Kriterien erfolgen.
Das Wichtigste wäre die Frage: Hat der Vertreter eines Unternehmens schon einmal ein Päckchen dieses
oder jenes Präparats in meiner Praxis gelassen? So etwas, meine Damen und Herren, kann nun wirklich nicht
im Sinne einer bestmöglichen medizinischen Versorgung
sein. Im Gegenteil: Wie der BGH ausführt, ist die Verordnung eines Arzneimittels untrennbar Bestandteil der
originär ärztlichen Behandlung, und sie vollzieht sich innerhalb des „personalgeprägten Vertrauensverhältnisses“
zwischen Arzt und Patient. Genau so ist es, und so soll
es auch bleiben.
({8})
Übrigens ist es nach wie vor unbestreitbar, dass die
ärztliche Berufsordnung ein korruptives Verhalten von
Medizinern als Verstoß ansieht. In § 31 der bundesweit
gültigen Berufsordnung ist klar geregelt:
Ärztinnen und Ärzten ist es nicht gestattet, … für
die Verordnung oder den Bezug von Arzneimitteln
… ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich
oder Dritten … gewähren zu lassen …
Die Ärzteschaft selbst ist und bleibt daran interessiert,
verehrter Herr Kollege von der Linken, schwarze Schafe
in ihren Reihen zu identifizieren und zur Rechenschaft
zu ziehen. Die von den Krankenkassen sowie den Körperschaften der Ärzte und Zahnärzte eingerichteten organisatorischen Einheiten zur Bekämpfung korruptiver
Verhaltensweisen arbeiten seit Jahren erfolgreich. Auf
diesem Weg werden wir fortschreiten.
Das Bundesgesundheitsministerium hat deutlich gemacht, dass es an der Freiberuflichkeit der Vertragsärzte
nicht rütteln wird und keinen Handlungsbedarf des Gesetzgebers sieht.
({9})
Ohne die Freiheit der Ärzte wird unser Gesundheitssystem entscheidend geschwächt. Als Liberale stehen wir
voll und ganz hinter diesem Berufsbild, das von Vertrauen in den Einzelnen und seine Urteilsfähigkeit geprägt ist. Das sensible Verhältnis zwischen Arzt und Patient darf nicht infrage gestellt werden. Dafür stehen wir
weiterhin ein.
({10})
Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Korruption ist durchaus ein Problem im Gesundheitswesen. Bis zu 18 Milliarden Euro im Jahr - so
schätzen Experten - gehen den Versicherten durch Korruption, Abrechnungsbetrug und Falschabrechnungen
verloren. Das allein ist schon schlimm genug. Doch zum
finanziellen Schaden kommen ernsthafte gesundheitliche Gefahren für Patientinnen und Patienten hinzu,
wenn die ärztliche Behandlung von dubiosen Zahlungen
der Pharmaindustrie beeinflusst wird. Spätestens an dieser Stelle muss jedem einleuchten, dass es sich hier nicht
um Kavaliersdelikte handelt.
({0})
Korruption schadet unserer Solidargemeinschaft und gefährdet die Gesundheit von Patientinnen und Patienten.
Das Urteil des BGH besagt klar: Dies ist effektiv und
wirksam zu unterbinden. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers.
Es wird höchste Zeit, dass die Bundesregierung handelt. Um es noch einmal für diejenigen in diesem Hause,
die es noch immer nicht verstanden haben, ganz deutlich
zu sagen: Hier geht es nicht um einen Generalverdacht
gegen die gesamte Ärzteschaft.
({1})
Es geht auch nicht darum, einen ganzen Berufsstand in
Zweifel zu ziehen. Hier geht es um die Bekämpfung von
Korruption. Es geht um einzelne Ärzte, um schwarze
Schafe, die mit ihrem Verhalten die große Mehrheit der
Ärzte, die tagein, tagaus gute Arbeit leisten, in Misskredit bringen und das Vertrauen in deren Arbeit untergraben. Vor allem geht es um den Schutz von Patientinnen
und Patienten, die den Anspruch haben, dass allein medizinische Gründe - das wird von allen hier betont - für
eine gewählte Behandlung den Ausschlag geben und
nicht die Höhe der Zuwendung des Pharmareferenten.
Der Einsatz von Union und FDP bei der Bekämpfung
von Fehlverhalten im Gesundheitswesen lässt sich bestenfalls mit dem Begriff „Arbeitsverweigerung“ beschreiben. Das haben wir bei CDU und CSU schon in
der Großen Koalition feststellen müssen. Das setzt sich
nun bei Schwarz-Gelb nahtlos fort, trotz der zahlreichen
Skandale der vergangenen Jahre. Es ist schon erstaunlich
und sogar beängstigend, wie unbeeindruckt hier Mitglie22372
der der Koalitionsfraktionen und der Minister selbst
nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs an ihrer Untätigkeit festhalten.
({2})
Der BGH selbst spricht von korruptivem Verhalten
und davon, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist - ich
zitiere -, „darüber zu befinden, ob die Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist und durch Schaffung entsprechender Straftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werden soll“. Wer die überdeutlichen Rechtslücken nicht schon während dieses
Rechtsstreits erkannt hat, der müsste spätestens nach
diesem Urteil und dieser Aussage verstanden haben,
dass hier kein Prüfbedarf, Herr Minister, sondern Handlungsbedarf besteht.
({3})
Ich hätte mir gewünscht, dass hier ein klares Bekenntnis des Ministers kommt. Stattdessen präsentieren Sie
uns windelweiche Prüfankündigungen. Offensichtlich ist
diese Regierung nicht an einer effektiven strafrechtlichen Ahndung dieser Missstände interessiert. Offenbar
können Sie ganz gut damit leben, dass man sich als Arzt
in Deutschland nicht strafbar macht, wenn man sich von
der Pharmaindustrie schmieren lässt. Das empfinde ich
als Skandal.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Verweis auf das
Berufsrecht und die Regelungen im SGB V ist ja richtig.
Sie ändern aber nichts daran, dass diese Regelungen
- das wissen Sie ganz genau - nicht scharf genug sind.
Es fehlt die strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit. Ohne
Straftatbestand werden Sie diese Probleme auch nicht in
den Griff bekommen.
Was für angestellte Ärzte gilt, muss auch für niedergelassene Ärzte gelten. Tun Sie doch nicht so, als sei die
Freiberuflichkeit oder die Freiheit in Gefahr, wenn man
korruptives Verhalten konsequent verfolgt. Korruptives
Verhalten ist strafwürdiges Unrecht.
({5})
Deshalb: Sorgen Sie für eine effektive strafrechtliche
Ahndung. Wir brauchen eine wirksame Bekämpfung
von Korruption im Gesundheitswesen, damit sich die
Patientinnen und Patienten darauf verlassen können,
dass sie wirklich das verschrieben bekommen, was medizinisch begründet ist, und nicht das, woran der Arzt
mitverdient. Das trägt auch dazu bei, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient keinen Schaden
nimmt.
Danke.
({6})
Das Wort hat nun Dietrich Monstadt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute
den Beschluss des BGH, dass Ärzte weder als Amtsträger noch als Beauftragte der Krankenkassen einzustufen
sind. Auf die Erforderlichkeit dieser Aktuellen Stunde,
die nur der Arbeitsverweigerung der Opposition geschuldet ist, hat der Kollege Straubinger, wie ich finde,
schon nachdrücklich hingewiesen.
({0})
- Wir waren da.
Wir sind uns einig, dass der Arzt die Medikamente zu
verordnen und die Behandlung durchzuführen hat, die
unter medizinischen Gesichtspunkten für seinen Patienten die geeignetsten sind. Das Vertrauen des Patienten
beruht darauf, dass keine sachfremden Aspekte - insbesondere keine persönlichen und finanziellen Interessen
des Arztes - diese Entscheidung beeinflussen. Das hohe
Gut Vertrauen ist die Grundlage der Beziehung zwischen
Arzt und Patient. Nicht nur die Patienten, sondern gerade
auch die Ärzteschaft ist darauf angewiesen, dass die Basis dieses Vertrauens nicht zerstört wird.
Gerade vor diesem Hintergrund gehe ich - anders als
erkennbar viele Redner der Opposition vor mir - davon
aus, dass die überwiegende Mehrheit der Ärzteschaft
sich dessen bewusst ist und sich im Sinne der Patienten
korrekt verhält. Diese Ärzte wollen von Ihnen, meine
Damen und Herren von der Opposition, nicht kriminalisiert werden.
({1})
Was bedeutet nun der BGH-Beschluss? Welche
Schlussfolgerungen sind aus dieser Entscheidung des
BGH zu ziehen? Zunächst betrifft der Beschluss ausschließlich den strafrechtlichen Bereich. Er betrifft nicht
den berufsrechtlichen, wettbewerbsrechtlichen und sozialrechtlichen Bereich, aber auch nicht den des Heilmittelwerbegesetzes. Wie bisher ist das Verhalten eines Arztes, das zu einem Gesundheitsschaden des Patienten
führt, als Körperverletzung strafbar. Wie bisher ist das
Verhalten eines Arztes, das zu einem Vermögensschaden
- etwa der Krankenkasse - führt, zum Beispiel als Untreue nach § 266 StGB strafbar. Daran hat der BGH-Beschluss nichts geändert.
Bedeutung entfaltet der BGH-Beschluss nur dort, wo
weder ein Gesundheitsschaden noch ein Vermögensschaden eintritt. Dennoch bedeutet der BGH-Beschluss
auch in diesem Bereich nicht, dass ein Pharmahersteller
dem Kassenarzt im rechtsfreien Raum Vorteile für die
Verschreibung seiner Produkte gewähren kann. Es bleibt
eine Vielzahl von Verboten und Regeln auch und gerade
für diesen Bereich.
Ich darf zunächst zur ärztlichen Berufsordnung kommen. § 31 Abs. 1 bestimmt,
({2})
dass es Ärztinnen und Ärzten nicht gestattet ist,
… für die Zuweisung von Patientinnen und Patienten oder Untersuchungsmaterial oder für die Verordnung oder den Bezug von Arznei- oder Hilfsmitteln oder Medizinprodukten ein Entgelt oder andere
Vorteile zu fordern, sich oder Dritten versprechen
oder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechen
oder zu gewähren.
Das ist eine klare, eindeutige Bestimmung. Sie kann und
muss von den Ärztekammern gelebt werden.
({3})
Meine Damen und Herren, sozialrechtlich sind die
Kassenärztlichen Vereinigungen durch § 81 a SGB V
verpflichtet, Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten
im Gesundheitswesen einzurichten. Sie haben dabei mit
den Krankenkassen und ihren Verbänden zusammenzuarbeiten. Diese Stellen informieren die Staatsanwaltschaft, wenn es einen Anfangsverdacht auf strafbare
Handlungen gibt.
Im Zusammenhang mit den viel zitierten Anwendungsbeobachtungen kann die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V eine entscheidende Rolle spielen. Das Arzneimittelgesetz schreibt in § 67 Abs. 6 die
Anzeige jeder Anwendungsbeobachtung durch den pharmazeutischen Unternehmer - unter anderem bei der
KBV - vor. Nach dieser Vorschrift müssen die beteiligten Ärzte namentlich benannt werden. Entschädigungen
dürfen nicht so bemessen sein, dass ein Anreiz für eine
bevorzugte Verschreibung oder Empfehlung bestimmter
Arzneimittel entsteht. Vertragswerke und erhaltene Entschädigungen sind gegenüber den KVen offenzulegen.
Damit können die KVen an zahlreiche Informationen gelangen, die bei einer Wirtschaftlichkeitsprüfung sehr relevant wären. Hier müssen wir ansetzen und gegebenenfalls ergänzende Regelungen schaffen.
Schließlich gibt es die sozialrechtlichen Sanktionen
des § 128 SGB V: Abs. 6 erstreckt in Verbindung mit
den §§ 31 und 116 b Abs. 7 SGB V die „unzulässige Zusammenarbeit“ und die dafür vorgesehenen Sanktionen
ausdrücklich auch auf die Pharmaindustrie. Die Sanktionen nach § 128 Abs. 3 können gravierend sein: Für den
Fall schwerwiegender und wiederholter Verstöße sehen
die Regelungen vor, dass Leistungserbringer für die
Dauer von bis zu zwei Jahren von der Versorgung der
Versicherten ausgeschlossen werden können
({4})
und damit letztlich ihre Existenz verlieren können. Wir
haben also berufs- und sozialrechtliche Regelungen.
Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und
Kassen sind aufgerufen, dieses Instrumentarium in der
Praxis konsequent anzuwenden.
Zusammenfassend kann man festhalten: Der BGHBeschluss hat eine lange debattierte Rechtsfrage, wie ich
finde, richtig geklärt. Er lässt Kassenärzte und pharmazeutische Unternehmen aber nicht im rechtsfreien Raum.
Aus diesem Grunde müssen wir uns gut überlegen, ob es
erforderlich ist, einen Sonderstraftatbestand für Kassenärzte zu schaffen und sie in dieser Form, wie ich finde,
herausgehoben unter Generalverdacht zu stellen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Mechthild Rawert für die SPDFraktion.
({0})
Guten Tag, Herr Präsident! Guten Tag, meine Damen
und Herren!
({0})
Ich möchte am Anfang auf zwei Codewörter der Fraktion zu diesem Tagesordnungspunkt eingehen, ohne zu
wissen, wer sie als Steuerungsinstrumente eingebracht
hat.
Zum einen auf das Codewort Arbeitsverweigerung.
Wir haben zwischendurch nachgelesen. Es gibt gute,
übergeordnete Gesichtspunkte, die dies erlauben. Ich
weiß zwar nicht, ob das Gleiche bei Ihnen galt, als in
der letzten Sitzungswoche 126 Abgeordnete fehlten.
Aber das müssen Sie schließlich selbst beurteilen. Wir
können nachweisen - ich würde Ihnen meine Website
empfehlen -, dass „ungehaltene Reden“ veröffentlicht
worden sind. Es ging damals um die gleiche Thematik
wie heute. Also, Codewort Arbeitsverweigerung abgearbeitet, Schwachsinn Ihrerseits.
Zweites Codewort Generalverdacht. Keiner von uns
- das nehme ich jetzt einmal insbesondere für unser Lager in Anspruch -, niemand ist so undifferenziert, dass
wir von Generalverdacht reden. Wir haben gute Ärzte
und Ärztinnen. Wir haben aber auch solche, die sich bestechen lassen, sich der Bestechlichkeit anheimstellen.
Um die Ärzte vor diesen Kollegen und Kolleginnen zu
schützen, diskutieren wir heute diesen Antrag, der ja inhaltlich schon sehr gut begründet worden ist.
({1})
Sie fordern hier stetig, es müsse etwas getan werden.
Ich bin bereit, mit Herrn Lanfermann oder mit Herrn
Spahn eine Wette um einen Gutschein für einen Einkauf
im Reformhaus einzugehen, dass in dieser Legislaturperiode Ihrerseits nichts zur Beseitigung des in Rede stehenden Tatbestands gemacht wird.
({2})
Wir können uns hinterher unterhalten, ob Sie die Wette
annehmen oder nicht.
({3})
Faktum ist, dass insbesondere Herr Dietrich Monstadt
schon im Mai 2011 befand - ich zitiere -: Es gibt Fehlverhalten. - Also auch im Gesundheitswesen. Ich danke
ihm ausdrücklich dafür, dass er in seiner Rede gerade
viele Gründe zum Ausdruck gebracht hat, wieso es notwendig ist, Korruption zum Straftatbestand zu machen,
damit die Ärzteschaft vor ihren der Bestechlichkeit anheimfallenden Kollegen und Kolleginnen geschützt
wird.
Ich möchte noch auf etwas eingehen, was zu kurz gekommen ist: auf das Vertrauensverhältnis gegenüber
Arzt und Ärztin. Ja, wir alle sind vielleicht noch so erzogen worden, dass wir glauben: Wenn ich krank und hilfsbedürftig zu meinem Arzt oder meiner Ärztin gehe, dann
ist er oder sie diesbezüglich an meinem Wohl interessiert. Er oder sie will mir Heilung angedeihen lassen und
nicht seinem oder ihrem eigenen Portemonnaie. Auch
Herr Köhler, immerhin Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, hat öffentlich eingeräumt, dass
es mehrere Möglichkeiten des illegalen Verhaltens gebe,
und benannte unter anderem Bestechung in Form von ich zitiere - „Motivationsprämien, Fangprämien, Kopfpauschalen“, auch Zuweisungen durch Niedergelassene
an Krankenhäuser gegen Entgelt. Das Ganze ist also
nicht „dürftig“, Herr Straubinger, sondern wird aus den
eigenen Fachkreisen heraus kritisiert, und es wird beklagt. Daher ist unser Anliegen so notwendig. Wichtig
ist, dass da endlich etwas getan wird, dass Ihrerseits
nicht nur über Gesetzeslücken schwadroniert wird, sondern dass Ihren Worten endlich auch Taten folgen.
Die ärztliche Berufsordnung besagt - auch das ist
schon gesagt worden -: Es gibt ein Verbot der Zuweisung von Patientinnen und Patienten an die Krankenhäuser gegen Entgelt oder andere Vorteile. Ärzte sollen keinerlei Geschenke annehmen und andere Vorteile für sich
in Anspruch nehmen.
({4})
Dies reicht nicht. Das ist auch seitens der Ärzteschaft
selber schon festgestellt worden. Ich blicke voller Spannung auf das, was Herr Henke im Hinblick auf die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer auszuführen
hat. Es werden nämlich selbst aus den eigenen Reihen
längst Forderungen gestellt, dass die ärztliche Berufsordnung hier bei weitem nicht ausreicht und dass nachzubessern ist.
({5})
Mit anderen Worten: Wir sind gegen Fangprämien.
Wir gehen gegen Zuweisungen gegen Entgelt vor. Vor
allen Dingen, liebe Kollegen und liebe Kolleginnen,
liebe Regierung: Tun Sie etwas! Nehmen Sie meine
Wette an! Vielleicht kommt es ja zum Schließen einer
Gesetzeslücke.
({6})
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Rudolf
Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Ausgangspunkt dieser
Debatte kann nicht von jedem, der zuhört und zuschaut,
erkannt werden, weil nicht jeder zum Zeitpunkt dieser
Aktuellen Stunde
({0})
nachvollziehen und wissen kann, in welchen Bereichen
die Koalition schon lange gehandelt hat.
Es war eben von Arbeitsverweigerung die Rede.
Diese Umschreibung stimmt ja nicht. Sie suggerieren
unter dem Eindruck des BGH-Urteils und unter dem
Eindruck bestimmter öffentlicher Schlagzeilen, dass hier
eine Situation festgeschrieben wird, in der es keine
Sanktionen, keine Gegenmaßnahmen, kein staatliches
Handeln dagegen gibt, dass sich jemand in seiner Arztpraxis schmieren lässt. Ich will nur darauf aufmerksam
machen, dass wir mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz sehr konkrete Maßnahmen bezüglich der Fehlverhaltensbekämpfung beschlossen haben - alles Maßnahmen, denen Sie durch Ihre Ablehnung dieses Gesetzes
widersprochen haben. Es gibt dort ein ausdrückliches
Verbot für Vertragsärzte, sich für die Zuweisung von
Versicherten ein Entgelt oder sonstige wirtschaftliche
Vorteile versprechen oder gewähren zu lassen oder selbst
zu versprechen oder zu gewähren. Das heißt, die Regelung in der Berufsordnung der Ärzte, die mehrfach richtig zitiert worden ist, ist von dieser Koalition in das
staatliche Recht übertragen worden und ist Teil der Regelungen im Sozialgesetzbuch. Wir haben beschlossen,
dass Vertragsärzte das Zuwendungsverbot nicht durch
Beteiligung an Unternehmen von Leistungserbringern
im Hilfsmittelbereich in Verbindung mit einem entsprechenden Verordnungs- und Zuweisungsverhalten umgehen können. Das ist Teil des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes.
Wir haben im GKV-Versorgungsstrukturgesetz klargestellt, dass die Forderung oder Annahme unzulässiger
Zuwendungen durch Vertragsärzte einen Verstoß gegen
die vertragsärztlichen Pflichten darstellt. Wir haben die
Regelungen zu unzulässigen Praktiken der Zusammenarbeit zwischen Vertragsärzten und anderen Leistungserbringern auch auf den Heilmittelbereich ausgedehnt. Wir
haben klargestellt, dass Sozialdaten auch zum Zweck der
Fehlverhaltensbekämpfung erhoben, verarbeitet und
übermittelt werden dürfen.
({1})
Es sind die Krankenkassen, die zu dieser Leistung,
zur Arbeit der Koalition, in einem Faktenblatt zum
Thema Rechtsrahmen sagen:
Hilfreich wird hierbei auch die ebenfalls durch das
GKV-Versorgungsstrukturgesetz erfolgte Klarstellung der datenschutzrechtlichen Übermittlungsbefugnisse in den Paragraphen 81 a und 197 a Abs. 3 a
SGB V sein.
Die Krankenkassen begrüßen das.
({2})
Insofern halte ich die Tatsache, dass Sie all das als
Untätigkeit darstellen, für genauso infam wie die Tatsache, dass Sie bestimmte Zuweisungen an die Krankenhäuser beklagen, aber in den Bundesländern nichts dagegen tun. Ja, dann handeln Sie doch! In der Zeit, als ich
noch im Landtag Nordrhein-Westfalen war, haben wir
dort eine Regelung vorbereitet und anschließend mit den
Stimmen von CDU und FDP beschlossen, nach der
Krankenhäuser aus dem Krankenhausplan ausgeschlossen werden können, wenn sie es sich leisten, Zuweisungen gegen Entgelt vorzunehmen, dass sie wegen dieses
Verhaltens nicht nur öffentlich an den Pranger kommen,
sondern auch die Stellung einbüßen können, in den
Krankenhausplan aufgenommen zu sein. Es gibt ein einziges Bundesland, das es ähnlich wie Nordrhein-Westfalen macht. Wenn das woanders alles so schrecklich ist,
dann handeln Sie dort doch in gleicher Weise.
Sie sagen, dass das Standesrecht, das Berufsrecht der
Ärzte zahnlos sei. Den Approbationsentzug kann natürlich nicht die Ärztekammer vornehmen, auch nicht das
Berufsgericht. In allen Bundesländern ist es - mit einer
einzigen Ausnahme, glaube ich - so geregelt, dass die
Zuständigkeit für den Approbationsentzug bei den Bezirksregierungen liegt. Die Bezirksregierungen handeln
im Auftrag der Landesregierungen. Wenn Sie das alles
beklagen und so schrecklich finden und sagen, hier gebe
es Untätigkeit und eine Regelungslücke, dann frage ich
mich: Warum handeln Sie denn nicht in den Bezirksregierungen, auf die Sie Einfluss haben, da, wo Sozialdemokraten oder auch Grüne den Gesundheitsminister stellen? Ich fordere Sie dazu auf.
Ich bin offen für eine Debatte darüber, ob wir das Instrumentarium der Ärztekammern stärken sollen, um
sich besser durchzusetzen. Da bin ich für jede Diskussion offen. Aber ich bin nicht bereit, hinzunehmen, dass
Sie den ganzen Berufsstand unter Generalverdacht stellen,
({3})
obwohl Sie wissen, dass in der Berufsordnung steht:
Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, in allen vertraglichen und sonstigen beruflichen Beziehungen
zu Dritten ihre ärztliche Unabhängigkeit für die Behandlung der Patientinnen und Patienten zu wahren.
Jeder Fall, in dem jemand geschmiert wird, ist einer
zu viel. Das BGH-Urteil ist ein guter Beschluss, weil es
klarstellt, dass der Arzt den Patienten verpflichtet ist; er
ist nicht der Vermögenswahrung der Krankenkassen verpflichtet. Das hat der BGH eindeutig klargestellt. Deswegen verdient dieses Urteil zunächst einmal Applaus
und keine schlechte Darstellung.
({4})
Wer dazu beiträgt, einen ganzen Berufsstand unter Generalverdacht zu stellen, der handelt unanständig.
({5})
Wer verschweigt, dass das Sanktionsmaß
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- das tue ich - bis zum Approbationsentzug und bis
zum Zulassungsentzug reicht, der handelt auch unanständig. Wir sollten keine Spezialgesetzgebung für eine
einzige Berufsgruppe schaffen.
Herr Kollege.
Ich komme mit diesem Satz zum Schluss: Wer neue
Gesetze fordert, der muss die Frage der Notwendigkeit,
der Verhältnismäßigkeit, der Tauglichkeit und der
Zweckmäßigkeit prüfen; genau das muss geschehen und
nicht das populistische Schreien nach einem Gesetz,
weil einem das zu ein paar Schlagzeilen verhilft.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das war ein langer letzter Satz.
Die aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations
Interim Force in Lebanon ({1}) auf
Grundlage der Resolution 1701 ({2}) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 2004 ({3}) vom 30. August 2011 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/9873, 17/10162 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Kerstin Müller ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/10163 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Birgit
Homburger für die FDP-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben mit großer Spannung im letzten Jahr die Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten beobachtet, die einen
großen Einfluss auf die Situation und die Stabilität in der
Region haben, vieles davon mit offenem Ausgang. Aufgrund der Kürze meiner Redezeit kann ich nur einige
Stichworte nennen: arabischer Frühling in Nordafrika,
die Lage in Ägypten, die wir gerade in diesen Tagen bei
den Präsidentschaftswahlen und der Annullierung der
Parlamentswahl wieder in den Blick nehmen, die Rolle
Irans, das iranische Nuklearprogramm, die Situation
zwischen Israel und den Palästinensern bzw. den palästinensischen Gebieten und dort die Diskussion zwischen
Fatah und Hamas über Wahlen in den palästinensischen
Gebieten. Das alles birgt Unsicherheiten für die Situation in der Region.
Alles haben wir im Blick, ganz besonders in diesen
Tagen auch die Entwicklung in Syrien, wo ein Diktator
mit großer Grausamkeit gegen das eigene Volk vorgeht
und das Land in einen Bürgerkrieg stürzt. Wir verurteilen dieses Vorgehen und werden in der internationalen
Gemeinschaft alles dafür tun, den Menschen in Syrien
Hilfe zu geben
({0})
Die Unterbrechung der Beobachtermission zeigt, wie
sehr sich die Lage zugespitzt hat. Es ist ein negatives Signal. Dennoch begrüßen wir alle Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft, zu einer friedlichen Lösung
zu kommen. Wir begrüßen, dass am 30. Juni in Genf ein
Treffen der Syrien-Aktionsgruppe stattfindet, zu dem
auch Russland sein Kommen zugesagt hat. Dies gibt
eine gewisse Hoffnung, dass sich vielleicht auch in der
russischen Position eine gewisse Veränderung abzeichnet und die Bereitschaft vorhanden ist, mit der internationalen Gemeinschaft gemeinsam zu handeln. Russland
kommt in dieser Frage definitiv eine Schlüsselrolle zu.
Deshalb ist es wichtig, das Gespräch mit Russland fortzusetzen und dafür zu sorgen, dass wir zu einer Lösung
in Syrien kommen.
({1})
Für uns gilt vor allen Dingen, dass die EU zu Recht
eine ganze Reihe von Sanktionen gegen Syrien und
Assad eingeleitet hat. Die Sanktionen wurden gerade in
dieser Woche nochmals verschärft. Aber es wäre sehr
viel wirksamer, wenn diese Sanktionen von der gesamten Staatengemeinschaft im UN-Sicherheitsrat mitgetragen würden. Das wollen wir erreichen.
Die Lage in Syrien ist dramatisch; die Zahl der
Flüchtlinge ist sehr hoch. Vor kurzem habe ich bei einer
Reise in die Region zwei syrische Flüchtlingslager in
Jordanien besuchen können. Die Menschen haben dort
nicht nur Angst um Leib und Leben, sondern auch um
ihre Familien, die noch vor Ort sind; denn auch die Familien der Flüchtlinge werden von dem Regime bedroht.
Das ist alles höchst dramatisch. Die Vielzahl der Flüchtlinge stellt die Nachbarländer Türkei, Jordanien und Libanon vor große Herausforderungen. Deshalb ist es
wichtig, an dieser Stelle zu helfen. Die Bundesregierung
hat das getan. Der Bundesaußenminister hat Gelder zur
Verfügung gestellt, um die Länder bei diesen Aufgaben
zu unterstützen.
Trotz dieser Situation haben die Gesprächspartner im
Nahen Osten vor einer militärischen Intervention in
Syrien gewarnt, weil sie unabsehbare Folgen für die
Region sehen. Viele haben gewarnt, dass eine solche Intervention die ganze Region in Flammen setzen könnte.
Es ist unbefriedigend, dass wir den Menschen in Syrien
im Moment nicht effektiver helfen können. Trotzdem
bleibt überlegtes Handeln gefragt.
Deutschland und Europa haben ein hohes strategisches Interesse an der Stabilität im Nahen Osten; das ist
gerade in den letzten Tagen noch einmal deutlich geworden. Beim Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs
durch Syrien ist jedem erneut die Nähe dieser Region
klar geworden und dass die NATO mit der Türkei als
Partner an dieser Stelle involviert ist.
Es stellt sich die Frage, was wir über die politischen
und diplomatischen Initiativen hinaus tun können. Hier
ist vor allem ein Instrument zu nennen: das UNIFILMandat, über das wir heute diskutieren und über das wir
abstimmen werden. Alle Gesprächspartner haben übereinstimmend deutlich gemacht, dass das UNIFILMandat maßgeblich zur Stabilität in der Region beiträgt.
Gerade die israelische Seite hat noch einmal ausdrücklich darum gebeten, dass auch die Bundesrepublik
Deutschland ihr Engagement im Rahmen des UNIFILMandats fortsetzt. Ich glaube, dass wir mit diesem Einsatz einen Beitrag zur Stabilität in der Region leisten
können.
({2})
Das wird umso deutlicher, wenn man weiß, dass die
UNIFIL im Süden des Libanon stationiert ist. Dort ist
die Lage inzwischen relativ stabil. Der Norden des Libanon rückt jetzt in den Vordergrund. In den letzten
Wochen hat die Krise in Syrien dort ihre Fortsetzung gefunden. Es kam zu Demonstrationen von Assad-Anhängern und -Gegnern. Im Mai kam es in Tripoli zu Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang zwischen
Sunniten und Alawiten. Auch in Beirut wurde deutlich,
wie real die Gefahr eines Übergreifens der Situation von
Syrien in den Libanon ist.
Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir das
UNIFIL-Mandat fortsetzen. Unser Beitrag liegt in der
maritimen Komponente. Zu Beginn der Legislaturperiode haben wir den Schwerpunkt unseres UNIFIL-Mandats geändert, weg von einer reinen Militärpräsenz hin
zu einer verstärkten Ausbildung der libanesischen Marine. Unser Ziel ist es, den Libanon in die Lage zu versetzen, selbst für die Sicherheit seiner Seegrenze zu sorgen und dort Waffenschmuggel zu unterbinden.
({3})
Dabei machen wir gute Fortschritte, wir sind aber noch
nicht am Ziel.
Auch wenn UNIFIL eher ein kleines Mandat ist, ist
dieses Mandat aus meiner Sicht dennoch elementar
wichtig für eine der fragilsten Regionen der Welt.
Deshalb möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, den
Soldatinnen und Soldaten, die bisher im Rahmen des
UNIFIL-Mandats Dienst getan haben - aus allen Nationen, aber insbesondere aus Deutschland -, ein herzliches
Dankeschön für ihre Bereitschaft und für ihren Einsatz
zu sagen. Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität der Region geleistet.
Wir bitten Sie heute um Zustimmung zur Fortsetzung
dieses Mandats, um damit einen aktiven Beitrag zur Stabilität in der Region zu leisten.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Günter Gloser für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor wenigen Tagen, am 24. Juni, hat Syrien einen türkischen Kampfjet über dem Mittelmeer abgeschossen.
Dieses Ereignis, das - wenn man so will - fast in Sichtweite des UNIFIL-Mandatsgebiets stattgefunden hat,
zeigt uns dramatisch, dass der Syrien-Konflikt ein großes Potenzial für eine regionale Eskalation besitzt.
Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Türkei nicht
militärisch reagiert hat. Unser NATO-Partner Türkei verdient dafür Anerkennung, zugleich aber auch Dank und
Respekt für sein humanitäres Engagement für Flüchtlinge aus Syrien.
({0})
Auch die Bundesregierung - das will ich ausdrücklich
sagen - arbeitet von Beginn an daran mit, dass es nicht
zu einer weiteren Militarisierung, Internationalisierung
und unkontrollierbaren Eskalation des Syrien-Konflikts
kommt. Insbesondere die Vertretung bei den Vereinten
Nationen unter Leitung des Ständigen Vertreters Botschafter Wittig und seine Mitarbeiter arbeiten seit Monaten unermüdlich für eine Beendigung des Blutvergießens
in Syrien. Das will ich hier im Parlament ausdrücklich
würdigen.
({1})
Das beharrliche Festhalten am Sechs-PunkteFriedensplan von Kofi Annan war bei aller Kritik
dennoch richtig. Nun müssen bei der internationalen Syrien-Konferenz am Samstag in Genf weitere Schritte zu
seiner Umsetzung vereinbart werden. Es bleibt zu hoffen, dass es sich dieses Mal wirklich um einen ersten
Schritt in Richtung Frieden handelt.
Die Ereignisse der letzten zwei Wochen seit der Einbringung des Antrags haben uns drastisch vor Augen geführt, dass die heutige Debatte über eine erneute Verlängerung des UNIFIL-Mandats keineswegs eine bloße
Formsache ist. Auch wenn sich der Deutsche Bundestag
in den vergangenen Jahren regelmäßig mit dieser Mission beschäftigt hat, auch wenn die vielen guten Argumente für eine Zustimmung des Bundestages die gleichen geblieben sind und auch wenn diese Mission selbst
keine großen Schlagzeilen produziert, müssen wir uns
vor Augen halten: Die Bundeswehr ist und bleibt eine
Parlamentsarmee, und wir müssen in jedem einzelnen
Fall den Einsatz von Soldatinnen und Soldaten gut abwägen.
Im Fall von UNIFIL ist die Sache klar. Die Mission
der Vereinten Nationen ist ein Erfolg, weil sie Vertrauen
schafft, weil erstens der Waffenschmuggel von der Seeseite her wirksam bekämpft wird, weil zweitens der
Libanon dabei unterstützt wird, eine eigene Marine aufzubauen, um in Zukunft selbst vor seinen Küsten für
Sicherheit zu sorgen, und weil drittens UNIFIL einen international abgesicherten Kommunikationsweg zwischen Israel und dem Libanon schafft, zwischen zwei
Staaten, die sich noch immer im Kriegszustand befinden.
Denn außer den militärischen Beratungen von UNIFIL
mit beiden Parteien gibt es nach wie vor keinerlei direkte
Kontakte.
In diesem Zusammenhang danke ich ausdrücklich
- das darf nicht zum Ritual werden, aber es muss unterstrichen werden - unseren Soldatinnen und Soldaten für
ihre Leistung. Das gilt auch für ihre Familien. Sie verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung.
({2})
Alle genannten Punkte sind Grund genug, um über
dieses Mandat zu sprechen, und zwar zu einem früheren
Zeitpunkt als bei der Einbringung des Mandats, die erst
am späten Abend stattfand.
Nun haben wir aber den Bürgerkrieg in Syrien, der im
Gegensatz zu UNIFIL viele Schlagzeilen produziert, die
Menschen rund um die Welt erschüttert und bislang
durch keine diplomatische Mission gestoppt werden
konnte. Wir müssen alles dafür tun, damit dieser gewalttätige Konflikt nicht auf den Libanon übergreift; denn
wir wissen, dass der Libanon zerrissen ist zwischen den
Anhängern Assads bzw. den Helfern des Iran auf der
einen Seite und jenen Gruppen auf der anderen Seite, die
sich mehr Distanz zur ehemaligen Besatzungsmacht Syrien wünschen.
Premier Mikati verfolgt daher unter schwierigen Bedingungen eine Politik der Nichteinmischung. Er tut alles, um ein Übergreifen des syrischen Konflikts zu vermeiden. Gerade in dieser Situation braucht der Libanon
unsere Unterstützung. Wir sollten Verständnis für die
schwierige Lage dieses Landes und der brüchigen Regierungskoalition haben. Gerade in dieser Krise dürfen wir
unser Engagement in der Region nicht reduzieren. Im
Gegenteil: Wir müssen den Menschen im Libanon zeigen, dass wir ihre Sorgen teilen. Wir müssen das Unsere
tun, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern.
({3})
Dazu tragen auch die bis zu 300 deutschen Soldatinnen
und Soldaten bei, die im Rahmen der UNIFIL-Mission
tätig sind. Sie stärken die libanesische Armee, insbesondere ihre Fähigkeit, die Küste des Landes zu kontrollieren. Sie stärken damit aber auch die Legitimation der
Regierung des Landes, die von verschiedenen Milizen
immer wieder infrage gestellt wird. Zudem ist durch das
Mandat sichergestellt, dass kein deutscher Soldat mit
dem israelischen Militär in Konflikt geraten kann.
Ich möchte auf die Debatte zurückkommen, die wir
im Rahmen der Einbringung des Antrags geführt haben.
Unverständlich ist mir vor dem von mir geschilderten
Hintergrund wieder einmal die Haltung der Linken, die
eine deutsche Beteiligung an UNIFIL immer abgelehnt
hat.
({4})
Als ich vor zwei Wochen bei der Einbringung des vorliegenden Antrags Herrn Kollegen Gehrcke zuhörte, da flackerte in mir kurz die Hoffnung auf, die Linke könnte
zur Einsicht gekommen sein. Sehr verehrter Kollege
Gehrcke, Sie haben nämlich gesagt: UNIFIL ist eine
richtige und eine wichtige Mission. - Sie haben das leider aber nur gesagt, um zu schlussfolgern, dass sich
Deutsche daran auf keinen Fall beteiligen dürfen. Diese
Logik erschließt sich mir nicht, und sie wird auch von
den Menschen im Libanon und in Israel nicht verstanden.
({5})
Auf der einen Seite militärische Einsätze - ja, aber nur
mit Soldaten anderer Länder. Ich gestehe Ihnen zu, das
man sich erst einmal mit diesem Thema auseinandersetzen musste. Das ist das legitime Recht; das machen andere Fraktionen im Bundestag auch. Die anderen Fraktionen des Hauses haben ebenfalls erst einmal darüber
nachdenken müssen, ob das richtig ist. Aber ich denke,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihre Haltung ist nicht von Verantwortungsbewusstsein geprägt.
Die SPD hat das Mandat für diese Mission der Vereinten Nationen immer mitgetragen. Darin zeigt sich
ihre außenpolitische Verlässlichkeit, aber auch ihr Bewusstsein für die internationale Verantwortung. Wir haben in diesem Mandat immer einen solidarischen Beitrag
für die Völkergemeinschaft gesehen. In der UNIFILMission engagieren sich auch viele kleinere und weiter
entfernt liegende Staaten wie Osttimor oder El Salvador,
um in dieser Region für Stabilität zu sorgen. Deutschland kann und soll sich deshalb nicht unsolidarisch und
ignorant zeigen, wenn es um den Frieden in der Nachbarschaft Europas geht.
Unser Ziel bleibt die Krisenprävention; denn sie
schafft den politischen Spielraum für die Sicherung des
Friedens, auch für neue Entwicklungschancen, auch für
die Achtung der fundamentalen Rechte eines jeden Menschen. Deshalb erwarten wir - das ist in der ersten Lesung von meinem Kollegen Hans-Peter Bartels erwähnt
worden - weitere Initiativen der Bundesregierung im
Hinblick auf den Frieden im Nahen und Mittleren Osten.
Aus den von mir genannten Gründen stimmt die SPD
dem friedensfördernden UNIFIL-Einsatz und der Verlängerung des Mandats wie in den vergangenen Jahren
zu.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Ingo Gädechens für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In meiner letzten Rede vor fast einem Jahr zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United
Nations Interim Force in Lebanon habe ich besonders
betont, dass nach dem libanesisch-israelischen Krieg
viel versprochen wurde. Deutschland hat seine Zusagen
nicht nur eingehalten, sondern nachhaltig Hilfe zur
Selbsthilfe geleistet.
Der UNIFIL-Einsatz auf See hat ein doppeltes Mandat. Dieses sieht neben der Sicherung der seeseitigen
Grenzen auch die Unterstützung der libanesischen StreitIngo Gädechens
kräfte beim Aufbau von Fähigkeiten vor, die Küste und
die Territorialgewässer des Landes selbstständig zu verteidigen. Zuletzt wurde das Mandat vom Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen bis zum 31. August dieses Jahres
verlängert. Mit einer weiteren Verlängerung ist zu rechnen. Natürlich rechnen die Vereinten Nationen mit uns,
mit der Bundesrepublik Deutschland.
Die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am
Flottenverband dient unverändert der Stabilisierung der
Beziehungen zwischen Israel und dem Libanon und damit der Stabilität der Region als Ganzes. Die Einschätzung, dass die Mission ein Stabilitätsanker und eine Versicherung gegen eine regionale Destabilisierung ist, wie
sie auch von meinen Vorrednern bereits skizziert wurde,
wird von allen Seiten geteilt. Dies gilt insbesondere angesichts der aktuellen Entwicklung in der Region.
Seit der letzten Verlängerung des Bundestagsmandats
für den UNIFIL-Einsatz im Juni 2011 gibt die Sicherheitslage im Libanon zunehmend Anlass zur Beunruhigung, insbesondere - auch das wurde bereits erwähnt mit Blick auf das benachbarte Syrien. Die zurzeit unkalkulierbaren innenpolitischen Spannungen haben das Potenzial, zu einer Destabilisierung beizutragen, welche
sich auf die gesamte Region auswirken könnte.
Diese Situation führt dazu, dass der erhoffte langsame
Ausklang dieser Mission leider noch nicht in Sicht ist.
Die Erfolge bei der technischen Ausstattung, Ausrüstung
und Ausbildung sind erkennbar. Mit einer hochmodernen Küstenradarorganisation kann nicht nur das Küstenvorfeld überwacht, sondern können auch Schiffsbewegungen beobachtet und dokumentiert werden. Ebenso
positiv ist der derzeitige Ausbildungsstand der libanesischen Marinesoldaten, die von deutschen Offizieren
und Unteroffizieren intensiv in Seemannschaft und Navigation ausgebildet wurden.
Leider bestehen immer noch Lücken bei der Fähigkeit
zur durchgreifenden Kontrolle von Seefahrzeugen innerhalb der eigenen Hoheitsgewässer, die es zu schließen
gilt. Um die libanesischen Kapazitätslücken bei Booten
und Schiffen zu schließen, bedarf es weiterer Anstrengungen, nicht nur Deutschlands, sondern der gesamten
internationalen Gemeinschaft.
Einen weiteren Schritt zur Schließung dieser von mir
beschriebenen Fähigkeitslücke verspricht sich die libanesische Marine von der noch in diesem Jahr geplanten
Übergabe eines 40-Meter-Bootes durch die USA. Eventuell führt unser Engagement ja auch dazu, dass der
deutsche Marineschiffbau, unsere Werften von einem
Auftrag für fünf seetüchtige Boote profitieren werden.
Ich freue mich, dass nach monatelangem Einsatz am
kommenden Freitag, also morgen, die beiden Minensucher „Ensdorf“ und „Auerbach/Oberpfalz“ mit ihren Besatzungen wohlbehalten im Heimathafen Kiel einlaufen
werden.
({0})
Dabei freue ich mich nicht nur für die Besatzungen, sondern auch ganz besonders für die Familien, Freunde und
Angehörigen, die diesen Tag sicherlich ungeduldig herbeigesehnt haben.
Israel und der Libanon begrüßen ausdrücklich das
deutsche Engagement. Nicht nur die libanesischen Soldaten, sondern weite Teile der Bevölkerung stehen dem
deutschen Engagement mit Respekt und Dankbarkeit gegenüber. Ich denke, auch wir in diesem Haus zollen unseren Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten nicht nur
Respekt, sondern sind auch dankbar für den ausgesprochen professionellen Einsatz weitab von der Heimat.
({1})
Das Bundestagsmandat für die deutsche Beteiligung
am UNIFIL-Flottenverband soll heute um weitere zwölf
Monate, bis zum 30. Juni 2013, verlängert werden.
Diese Verlängerung macht nicht nur Sinn, sondern ist
auch aufgrund der von mir beschriebenen Situation in
der Region zwingend geboten. Ich bitte Sie daher alle
- alle - um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Inge Höger für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um direkt
auf Herrn Gädechens zu antworten: Die Linke wird auch
in diesem Jahr dem Mandat nicht zustimmen.
({0})
Zielsetzung des UNIFIL-Mandates ist die Überwachung des Waffenstillstandes zwischen Israel und Libanon. Inzwischen geht die Debatte aber nicht nur um die
Lage im Libanon, sondern auch um Syrien. Viele hier im
Haus sind sich wohl einig, dass die Eskalationsgefahr
beachtlich ist - regional und weit darüber hinaus.
Vor diesem Hintergrund waren meine Fraktion und
ich erleichtert, dass bei der letzten UNIFIL-Debatte zur
Vorsicht gemahnt wurde, zumindest in Bezug auf eine
militärische Intervention in Syrien. Staatsminister Link
machte darauf aufmerksam, dass Interventionsforderungen den politischen Prozess untergraben. Das ist absolut
richtig. Es geht in Syrien im Kern um einen politischen
Konflikt. Eine tragfähige Lösung kann nur auf politischem Wege erreicht werden.
({1})
Das gilt auch für den Konflikt zwischen Israel und Libanon, der durch UNIFIL befriedet werden soll. Durch
den Versuch einer oberflächlichen Stabilisierung durch
Militär gerät der politische Prozess ins Hintertreffen.
Altbekannte Probleme wie der Grenzverlauf zwischen
Israel und Libanon sind nach wie vor ungelöst. Neue
politische Konflikte sind hinzugekommen, insbesondere
um die Nutzung von Gasvorkommen vor der libanesischen und israelischen Küste und die Abgrenzung der
Wirtschaftszonen beider Länder. Anstatt konsequent auf
einen internationalen Vermittlungsprozess zu setzen, anstatt auf tragfähige Verhandlungslösungen zu drängen,
stimmt hier im Bundestag Jahr für Jahr eine Mehrheit für
die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes. Das ist völlig widersinnig.
({2})
Es gibt in Bezug auf Syrien nicht nur vorsichtige Signale. Minister de Maizière hat bereits öffentlich über
mögliche Aufgaben der UNIFIL-Soldaten in Bezug auf
Syrien spekuliert. Bei seinem Truppenbesuch in Zypern
sprach er davon, dass deutsche Marineangehörige im Syrien-Konflikt zum Einsatz kommen könnten. Gleichzeitig sind deutsche Flottendienstboote außerhalb des
UNIFIL-Mandates seit Ende letzten Jahres wiederholt
vor der syrischen Küste präsent. Faktisch handelt es sich
hier um Spionageschiffe. Sie werden in eine hochexplosive Region geschickt. Ohne das Parlament zu fragen
oder auch nur ausreichend zu informieren, werden Daten
gesammelt. Sie könnten die Grundlage für eine militärische Intervention in Syrien liefern. Selbst wenn dies
nicht die Absicht sein sollte - allein die Gegenwart eines
Aufklärungsschiffes reicht, um die Spannungen in der
Region zu verschärfen. So befand sich die Besatzung des
Flottendienstbootes „Alster“ mindestens einmal im Visier eines syrischen Kriegsschiffes.
Das Mandat UNIFIL setzt auf Kontrolle des Waffenhandels. Ein Erfolg darf bezweifelt werden. Ein erster
Schritt zur Unterbindung des illegalen Waffenhandels
wäre schlicht und einfach der Stopp des legalen Waffenhandels in die Region.
({3})
Das findet jedoch nach wie vor nicht statt. Nicht nur
Israel, sondern auch zahlreiche arabische Staaten erhalten deutsche Waffen. Das muss endlich aufhören.
Auch das Wissen über die Wege des illegalen Waffenhandels scheint sehr selektiv zu sein. So konnte mir die
Bundesregierung auf meine Frage nach Waffenschmuggel durch den Libanon an syrische Milizen keinerlei
Auskünfte geben. Vieles deutet darauf hin, dass hier
vonseiten der NATO-Verbündeten, aber auch vonseiten
der Bundesregierung nicht mit offenen Karten gespielt
wird. Die Linke spricht sich klar dagegen aus, weiterhin
Soldatinnen und Soldaten vor die Küste des Libanon zu
entsenden. Stattdessen fordern wir einen glaubwürdigen
politischen Prozess.
({4})
Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
im Nahen Osten nach dem Vorbild der KSZE könnte ein
vielversprechender Ansatz sein. Wichtig ist es, von der
Logik des Militärischen wegzukommen.
({5})
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kollegin Höger, ich kann die Ablehnung der
Linken und Ihre Argumentation wirklich nicht nachvollziehen.
({0})
Ich will noch einmal sehr deutlich sagen, worum es bei
UNIFIL geht. Es geht doch bei den UNIFIL-Soldaten
nicht um einen Kriegseinsatz, wie Sie immer behaupten.
({1})
Durch UNIFIL wurde vielmehr 2006 ein Krieg zwischen
Libanon und Israel beendet. Die Vorstellung, das wäre
mit einer Art THW-Team oder einer Polizeimission genauso möglich gewesen, ist einfach abwegig.
({2})
Dieser Einsatz ist nicht anstelle eines politischen Prozesses erfolgt, sondern hat erst den Raum für den politischen Prozess geschaffen. Diese Mission ist zuallererst das war sie von Anfang an - von hoher Bedeutung für
die Stabilität in der Region - gerade angesichts der Gewalteskalation in Syrien. Die ganze Region dort droht zu
einem Pulverfass zu werden.
Die Gräueltaten des Assad-Regimes gegenüber Zivilisten nehmen dramatische Ausmaße an. Das wurde gestern in einem Bericht des UN-Menschenrechtsrates deutlich, der sehr intensiv diskutiert wird: Folter, Mord,
Vergewaltigungen, selbst an unschuldigen Kindern,
durch das Regime und seine Milizen sind inzwischen an
der Tagesordnung. Syrien gleitet immer mehr in einen
blutigen Bürgerkrieg ab, in dem auch Racheakte der anderen Seite zunehmen. Auch das wird in dem Bericht
deutlich. Es gibt mehr als 15 000 Tote, 200 000 Binnenvertriebene und 80 000 Flüchtlinge, die in die Nachbarstaaten geflohen sind.
Es ist eine menschliche Katastrophe. Ich will hier sehr
deutlich sagen: Dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angesichts einer solchen Katastrophe diese Verbrechen noch immer nicht klar verurteilt, ist geradezu
unerträglich. Wir müssen alles versuchen, damit das geschieht.
({3})
Denn die Menschen in Syrien brauchen jetzt ein starkes
politisches Signal, und zwar von allen in der internationalen Gemeinschaft, dass wir nicht länger bereit sind,
diese Massaker hinzunehmen. Ich fordere von dieser
Stelle vor allen Dingen Russland und China auf, eine
klare Entschließung des Sicherheitsrates nicht weiter zu
blockieren. Wir brauchen eine politische Isolierung des
Kerstin Müller ({4})
Regimes. Wenn das nicht passiert, führt das nur dazu,
dass die Kämpfe umso blutiger weitergehen. Das muss
gestoppt werden.
({5})
Am Samstag kommt in Genf die neugegründete Aktionsgruppe zusammen, wie Kofi Annan sie nennt. Es
soll ein neuer Plan von Kofi Annan zur Bildung einer
Übergangsregierung beschlossen werden. Dabei ist klar
- das kommt in den Formulierungen zum Ausdruck -,
auch wenn Teile des Regimes natürlich in eine Lösung
eingebunden werden müssen: Mit Assad wird es keinen
Frieden geben. Denn die Liste der Menschenrechtsverletzungen, der schwersten Menschenrechtsverbrechen ist
inzwischen viel zu lang. Das sollte auch Russland einsehen, und zwar bevor der ganze Konflikt tatsächlich zu
einem Flächenbrand eskaliert.
({6})
Der Abschuss des türkischen Kampfjets durch die syrische Luftabwehr zeigt, dass der Konflikt eine neue
Eskalationsstufe erreicht hat. Es war richtig, dass der
NATO-Rat diesen Vorfall zunächst einmal politisch klar
verurteilt hat. Aber es zeigt auch: Es könnte zu einem regionalen Flächenbrand kommen. Erdogan hat angekündigt, künftig militärisch zu reagieren, wenn sich in der
Nähe der Grenze zur Türkei syrische Truppenbewegungen zeigen.
Das erste Land, das davon betroffen wäre, ist der Libanon; der Libanon war schon einmal Schauplatz eines
jahrzehntelangen Bürgerkriegs, eines Stellvertreterkriegs. Das haben die gewalttätigen, tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Alawiten und Sunniten in Tripoli
und Beirut im letzten Monat gezeigt. Auch der Flüchtlingsstrom aus Syrien hat das Potenzial, das Land zu destabilisieren.
Was die syrisch-libanesische Grenze angeht, muss
man sagen: Es werden vermutlich mehr Waffen denn je
über die Grenze geschmuggelt. Eine Schwäche des Mandats ist, dass es hier nichts bewirken kann, und zwar in
keine der beiden Richtungen. Auf der einen Seite wird
die Hisbollah aufgerüstet - das empfindet Israel verständlicherweise als Bedrohung -, auf der anderen Seite
wird die syrische Opposition mit Waffen beliefert. Auch
deshalb ist es richtig, dass wir den Libanesen weiter dabei helfen, ein Grenzüberwachungsregime aufzubauen.
Aus all diesen Gründen ist klar: Gerade angesichts
dieser fragilen Situation ist es besonders wichtig, dass
die UNIFIL-Mission als Stabilitätsanker in der Region
fortgesetzt wird. Was wäre es angesichts der prekären
und eskalierenden Situation in Syrien für ein Signal,
wenn wir hier und heute beschließen würden, UNIFIL
zu beenden? Das wäre das absolut falsche Signal in die
Region. Deshalb wird meine Fraktion diesem Mandat
mit großer Mehrheit zustimmen.
({7})
Jetzt hat Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Deutschland hat ein Interesse an einem
stabilen Libanon. Hierzu leistet UNIFIL einen wertvollen, sowohl vom Libanon als auch von Israel hochgeschätzten Beitrag. Daher werden wir für eine Verlängerung des UNIFIL-Mandats stimmen.
Sehr geehrte Frau Kollegin Müller, herzlichen Dank!
Treffender als Sie es getan haben, kann man die Haltung
der Linken bzw. den Unsinn, den die Linken zu diesem
Thema verbreiten, nicht kommentieren. Deswegen
möchte ich das nicht weiter tun.
Wenn wir in diesen Zeiten des Aufruhrs in der arabischen Welt und der anhaltenden Gewalt in Syrien zur
Vertrauensbildung und zur Stabilisierung der Sicherheitslage in dieser Region beitragen können, dann haben
wir die Pflicht, dies zu tun; das hat Außenminister
Westerwelle bei seinem Besuch in Beirut dankenswerterweise erst kürzlich bekräftigt. Längst hat die Gewalt
in Syrien eine Dimension erreicht, die das Potenzial hat,
die gesamte Region zu destabilisieren. Dies hätte auch
unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit Israels.
Außerdem gibt die Sicherheitslage im Libanon aufgrund
innenpolitischer Spannungen seit der letzten Verlängerung des UNIFIL-Mandats zunehmend Anlass zur Beunruhigung.
Wie Staatsminister Michael Link bereits vor zwei
Wochen an dieser Stelle ausführte, beobachtet das Auswärtige Amt die Sicherheitslage seit den jüngsten tödlichen Auseinandersetzungen in Tripoli und Beirut mit
wachsender Sorge. Die entlang konfessioneller Linien
verlaufenden Konflikte zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen im Libanon werden durch die Gewalt in
Syrien zusätzlich angefacht. Vor diesem Hintergrund ist
die Verlängerung des UNIFIL-Mandats dringender geboten denn je; denn UNIFIL ist ein Symbol für Vertrauensbildung und Völkerverständigung. Sowohl der Libanon als auch Israel nehmen UNIFIL als Stabilitätsanker
und Versicherung gegen eine regionale Destabilisierung
wahr. UNIFIL bietet einen von beiden Seiten anerkannten Rahmen für direkte Kontakte zur Klärung und zur
Deeskalation.
({0})
Das allein ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen
Entwicklungen schon ein nicht zu gering zu schätzender
Erfolg. Beide Seiten schätzen dabei gleichermaßen den
deutschen Beitrag und wünschen eine aktive Rolle
Deutschlands im Rahmen von UNIFIL. Mich freut diese
Wertschätzung des deutschen Beitrags, vor allem in Anbetracht der anfänglichen Bedenken gegenüber einer
deutschen Beteiligung an den Einsätzen in dieser Region. Mit einer Verlängerung des deutschen Beitrags
senden wir daher auch das Signal an die Region, dass
wir bereit sind, langfristig in diesem Krisenherd engagiert zu sein und Verantwortung für diese Region zu tragen, wenn dies von allen Seiten gewünscht wird.
Derzeit besteht unser deutscher Beitrag aus rund
230 Soldatinnen und Soldaten und zwei Patrouillenbooten. Ergänzend zu dieser Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband engagiert sich Deutschland auch auf bilateraler Basis an der Ausstattung und am Aufbau der
libanesischen Marine. Darüber hinaus sind wir, wie Sie
dem Antrag der Bundesregierung entnehmen können, im
Rahmen des vernetzten Ansatzes dabei, die deutsche Beteiligung an UNIFIL in ein umfassendes Engagement für
den Libanon und die Region einzubetten, was auch politische, wirtschaftliche und sozioökonomische Maßnahmen umfasst.
({1})
All den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die bei
UNIFIL ihren Dienst leisten und in den vergangenen
Jahren geleistet haben, gebührt unser Dank.
({2})
Ich wünsche allen unseren Soldaten an dieser Stelle Gottes Segen bei ihren Einsätzen.
({3})
Ihnen und ihren Kameraden haben wir es zu verdanken,
dass UNIFIL seit 2006 einen signifikanten Beitrag zur
Festigung der Waffenruhe zwischen Libanon und Israel
geleistet hat. Der größte Erfolg besteht wohl darin, dass
es seit 2006 geglückt ist, eine erneute militärische Eskalation der kontinuierlich weiterschwelenden Spannungen
zwischen Libanon und Israel zu verhindern.
Die Überwachung der libanesischen Grenze zur See,
die die libanesische Regierung 2006 von den Vereinten
Nationen erbeten hatte, hat sich als Erfolg erwiesen. Die
Präsenz des UNIFIL-Flottenverbands hat erheblich zur
Sicherung der seeseitigen Grenze des Libanons beigetragen. Ziel ist und bleibt es, Waffenschmuggel radikalislamischer Terrorgruppen zu verhindern. Weitere Erfolge
sind im Bereich des Aufbaus maritimer Kapazitäten zu
verzeichnen. Noch in diesem Jahr wird die achte von
insgesamt neun Stationen der landesweiten Küstenradarorganisation in Betrieb gehen; die letzte folgt nächstes
Jahr. Somit wird die libanesische Marine ab 2013 über
ein komplettes System zur Erfassung des Schiffverkehrs
verfügen. Ebenso ist es UNIFIL gelungen, den Ausbildungsstandard der libanesischen Marine deutlich zu verbessern. Dank dieser Fortschritte wird UNIFIL hoffentlich bald die Verantwortung für die Überwachung der
libanesischen Seegrenze schrittweise an die libanesische
Marine übergeben können. Insofern wohnt dem
UNIFIL-Mandat eine Exitoption inne.
Nach erfolgreich abgeschlossenem Aufbau der maritimen Fähigkeiten kann die Beendigung des Einsatzes
erfolgen. Bis es so weit ist, braucht UNIFIL unsere Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/10162 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/9873 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab.
Bevor ich die Abstimmung eröffne, will ich darauf
hinweisen, dass wir unter dem noch folgenden Tagesordnungspunkt 11 zwei weitere namentliche Abstimmungen
durchführen werden.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung geben wir Ihnen später bekannt.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marianne Schieder ({0}), Swen Schulz
({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einführung eines generellen Schüler-BAföG Ein Instrument für mehr Chancengleichheit
im deutschen Schulsystem
- Drucksache 17/9576 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Ich bitte darum, dass die Besprechungen beendet werden, damit wir in der Tagesordnung fortfahren können.
Es ist vereinbart, zu diesem Tagesordnungspunkt eine
Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das beschlossen.
Ich gebe der Kollegin Marianne Schieder für die
SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die SPD-Fraktion, legen heute einen Antrag
Marianne Schieder ({0})
zur Wiedereinführung eines allgemeinen SchülerBAföG vor, das viele von uns noch kennen werden; denn
bis 1983 gab es bereits ein umfassendes BAföG für
Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen.
Durch die erste Regierung Kohl wurde dieses Instrument
massiv eingeschränkt und gekürzt, weil man glaubte, es
nicht mehr zu benötigen. Seitdem aber ist der Anteil der
Kinder aus Elternhäusern mit niedrigerem Einkommen
und aus prekären Familienverhältnissen, die den Sprung
an die Universitäten schaffen, stetig zurückgegangen.
Nach den Gründen befragt, geben sowohl Eltern als auch
junge Menschen sehr oft finanzielle Gründe an. Man
traut sich nicht zu, die Kosten, die mit dem Besuch einer
weiterführenden Schule oder einem Studium verbunden
sind, zu schultern.
Daraus folgt für uns: Wir brauchen Förderinstrumente, die bereits vor dem Abitur ansetzen und die Entscheidung für eine weiterführende Schule erleichtern.
({1})
Daher heute unser Appell: Lassen Sie uns gemeinsam
wieder ein allgemeines Schüler-BAföG auf den Weg
bringen, um für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen!
Den Zugang zu Bildung für alle Bürgerinnen und
Bürger zu öffnen, insbesondere Kindern und jungen
Menschen eine möglichst individuelle und möglichst intensive Förderung zukommen zu lassen, damit niemand
verloren geht und alle ihre Potenziale entfalten und entwickeln können, das ist Aufgabe guter Bildungspolitik.
({2})
Leider ist es hierzulande aber immer noch so, dass der
Zugang zu Bildung sehr stark von der sozialen Herkunft
der Kinder und jungen Menschen abhängig ist, also im
Grunde der Geldbeutel der Eltern ausschlaggebend dafür
ist, für welchen Schulweg sich ein Kind entscheidet und
welchen Schulabschluss es erreicht.
Die jüngste Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund
und der Bertelsmann-Stiftung vom März 2012 zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit im deutschen
Schulsystem belegt dies erneut schwarz auf weiß. So gelingt es Kindern einkommensschwacher Eltern viel seltener, ein Gymnasium zu besuchen, als dem Nachwuchs
von Akademikern. Insbesondere in Bayern und in Niedersachsen ist der Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft und schulischem Werdegang sehr stark ausgeprägt.
({3})
Die Erkenntnis ist sehr alt. Bereits vor rund zehn Jahren wurden diese Zusammenhänge in einer PISA-Untersuchung festgestellt. Geändert hat sich seitdem nicht
viel. Wir meinen, dass wir endlich etwas tun müssen, um
dieser sozialen Schieflage entgegenzuwirken. Wir brauchen ein neues Schüler-BAföG. Anspruchsberechtigt
sollen alle Schülerinnen und Schüler einer weiterführenden Schule ab der zehnten Jahrgangsstufe sein. Das
Schüler-BAföG soll als Vollzuschuss gewährt werden,
dem Grunde und der Höhe nach abhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern. SchülerBAföG gibt es bereits, allerdings nur für Kinder und
junge Menschen, die zum Besuch einer weiterführenden
Schule nicht bei ihren Eltern wohnen können. Die wesentlichen Grundlagen sind also bereits vorhanden. Es
bedarf lediglich einer Ausweitung der bestehenden Regelungen. Wenn Kinder wegen der Schule das Elternhaus verlassen müssen, so müsste es zukünftig zusätzlich einen Wohnzuschuss geben.
Von einer solchen Ausweitung könnten nach aktuellen Zahlen, basierend auf Vorausberechnungen der Kultusministerkonferenz, rund 183 000 Schülerinnen und
Schüler profitieren. Sie könnten eine maximale monatliche Förderung von bis zu 216 Euro erhalten. Für den
Bundeshaushalt würde dies Ausgaben von rund 300 Millionen Euro bedeuten. Dieses Geld wäre in jedem Fall
mehr als sinnvoll angelegt. Das wäre auch angesichts
des sich anbahnenden Fachkräftemangels dringend notwendig.
({4})
Vor allem aber würden vielen Kindern und jungen
Menschen erheblich bessere Zukunftsperspektiven eröffnet. Ich kann Ihnen versichern, liebe Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU- und FDP-Fraktion: Viele Eltern wären froh, wenn sie der Staat dabei unterstützen
würde, ihren Kindern eine gute Ausbildung bzw. die Erlangung der Hochschulreife zu ermöglichen.
Wir dürfen nicht länger Zeit verlieren. Wir fordern die
Bundesregierung auf, umgehend mit den Bundesländern
in die erforderlichen Verhandlungen einzusteigen, um
baldmöglichst zu einer neuen BAföG-Reform zu kommen, die ein generelles Schüler-BAföG enthält. Ziel für
die Einführung sollte der Beginn des Schuljahres 2013/14
sein.
Jeder junge Mensch, der geeignet und willens ist,
muss die Möglichkeit erhalten, zu studieren, unabhängig
von der finanziellen Situation des Elternhauses und von
der Frage, ob die Eltern selber eine akademische Vorbildung haben. Das war die Vision für die Einführung des
BAföG 1971. Diesem Ziel näherzukommen, bleibt für
uns alle ein ständiger Auftrag. Bildung ist ein hohes Gut.
Sie ist Garant für eine stabile Demokratie, Garant für das
Wohlergehen unseres Landes und Basis für eine gelingende zukünftige Entwicklung. Jeder Cent, der jetzt in
Bildung investiert wird, sichert die Zukunft unseres Landes und unserer Gesellschaft.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Kaufmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! 100 Millionen Euro für
Schüler, die zu Hause wohnen - das ist die heutige Forderung der SPD. Worum geht es? Schülerinnen und
Schüler sollen in Zukunft das BAföG ab Klasse 10 auch
dann bekommen, wenn sie noch bei ihren Eltern wohnen, und das Ganze als Vollzuschuss. Die erste Frage,
die sich mir dazu stellt, Frau Schieder: Warum haben Sie
dieses Schüler-BAföG für alle als Vollzuschuss nicht in
Ihrer Regierungszeit eingeführt? Das hätten Sie gleich
1998 machen können.
({0})
Stattdessen ist die rot-grüne BAföG-Bilanz ziemlich
mau. Abgesehen von einer einzigen BAföG-Erhöhung
2001, der die CDU/CSU-Fraktion damals im Übrigen
zugestimmt hat, ist nicht viel passiert, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil jede BAföG-Erhöhung am Veto des
Bundeskanzlers Schröder gescheitert ist. Dem Ruf der
rot-grünen Anti-BAföG-Koalition haben Sie schon damals alle Ehre gemacht.
Mit Bundeskanzlerin Merkel haben wir jetzt zum
Glück eine Regierungschefin, die die absolute Priorität
der Bildung unterstützt.
({1})
Deshalb ist es auch erst mit einem CDU-geführten Bildungsministerium gelungen, große Fortschritte für die
Studierenden zu erreichen. 2008 kam es zu einer kräftigen und 2010 zu einer weiteren BAföG-Erhöhung mit
vielen Verbesserungen für die Studierenden im Detail.
Ich könnte es mir jetzt leicht machen und weiter auf
die Diskrepanz zwischen den schönen Worten der Oppositions-SPD und der tatsächlichen SPD-Regierungspolitik herumreiten. Stattdessen werde ich mich aber sachlich mit Ihrem Antrag auseinandersetzen und ihn Schritt
für Schritt durchgehen.
({2})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rossmann zulassen?
Ich mache erst einmal weiter, Herr Rossmann. Sie haben ja noch Gelegenheit, zu sprechen.
({0})
Als Begründung für Ihren Vorstoß weisen Sie gleich
am Anfang Ihres Antrags auf die angebliche Chancenungleichheit an deutschen Schulen hin und ziehen eine Studie heran. Zunächst einmal darf ich sagen, dass auch ich
für absolute Chancengleichheit bin. Diese verwechsle
ich aber im Gegensatz zu Ihnen nicht mit Ergebnisgleichheit.
({1})
Die Studie, die Sie anführen, der „Chancenspiegel“ 2012
der TU Dortmund und der Bertelsmann-Stiftung, macht
aber genau diesen Fehler. Deshalb ist diese Studie - das
sage ich sehr deutlich - nicht ernst zu nehmen. Der Verband Deutscher Realschullehrer wirft zu Recht ein, dass
in der Studie einseitig die Schulform Gymnasium betrachtet wird. Entscheidend ist aber der erfolgreiche
Übergang der Jugendlichen ins Berufsleben. Was bringen denn Abiturquoten von bis zu 80 Prozent wie in
Frankreich, wenn gleichzeitig über 30 Prozent aller Jugendlichen arbeitslos sind? Ist das gerechter? Der Studie
zufolge schon, aber meines Erachtens nicht.
({2})
Auf den Punkt bringt es meiner Meinung nach der
Philologenverband, der zu Recht darauf hinweist, dass
der von Ihnen zitierte „Chancenspiegel“ lediglich ein
Recycling alter PISA-Daten liefert; dabei wurde aber bekanntermaßen nur die Gruppe der 15-Jährigen untersucht. Was die Schüler danach erreichen, bleibt unberücksichtigt, etwa ob sie später auf ein Gymnasium
wechseln oder eine Fachschule oder Berufsschule besuchen. Mittlerweile führen mehrere Wege zur Hochschulzugangsberechtigung.
({3})
Das wissen Sie doch, Frau Schieder: Inzwischen erwirbt
sogar mehr als die Hälfte eines Jahrgangs eine Hochschulzugangsberechtigung. Das alles wird in der Studie,
die Sie vollmundig zitieren, völlig ignoriert.
Stattdessen werden die Zusammenhänge unzulässig
verkürzt. Es wird der Eindruck erweckt, dass Kinder finanziell schwächer gestellter Eltern beim Besuch weiterführender Schulen vor allem an vorenthaltenen Finanzgrundlagen scheitern würden. Meiner Meinung nach gibt
es keine strukturelle Benachteiligung, wie die Studie
suggeriert. Die Unterschiede sind vielmehr das Ergebnis
von Erziehung, Begabung, Leistungen und dem Lernumfeld, also außerschulischer Faktoren.
({4})
Das wird in der Bildungsstudie vergessen. Auf dieser
Studie bauen Sie Ihre gesamte Argumentation und Begründung auf, Frau Kollegin Schieder. Das ist ein sehr
brüchiges Fundament.
Dann führen Sie auch noch Bremen und Brandenburg
als Beispiele für eine geringere Chancenungleichheit an.
({5})
Dass dieselben Länder in derselben Studie als diejenigen
identifiziert werden, die Kinder aus bildungsfernen Familien am stärksten benachteiligen, und dass diese bildungsfernen Schüler über zwei Lernjahre hinter Kindern
aus bildungsnahen Elternhäusern zurückbleiben, verschweigen Sie geflissentlich. So geht es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Damit aber nicht genug. Beim Lesen Ihres Antrags ergeben sich weitere Ungenauigkeiten. Zwar trifft es zu,
dass seit dem Haushaltsbegleitgesetz von 1983 nur noch
Schüler BAföG erhalten, die nicht mehr bei ihren Eltern
wohnen. Allerdings - das verschweigen Sie ebenfalls hat es bereits zuvor, nämlich unter Ihrer SPD-Regierung,
scharfe Sparmaßnahmen gegeben. Mit dem 7. BAföGÄnderungsgesetz im Herbst 1981 haben Sie bereits Leistungen in erheblichem Umfang eingespart. Die jetzt von
Ihnen geforderte Förderung für Schüler der 10. Klasse
an Berufsschulen haben Sie damals gestrichen. Das waren nicht wir, sondern die SPD-Regierung. Das muss
einmal klargestellt werden.
({7})
Jetzt zu Ihren Forderungen bzw. Ihrer Wunschliste.
Sie fordern für alle anspruchsberechtigten Schüler ab
Klasse 10, also auch für diejenigen, die bei ihren Eltern
wohnen, die Einführung eines BAföG als Vollzuschuss.
Außerdem soll es einen Wohnkostenzuschuss geben. Dafür fordern Sie in einem ersten Schritt 100 Millionen
Euro vom Bund. Nun wissen wir alle, dass die Länder
ein Drittel der BAföG-Kosten tragen müssen. Das bedeutet 50 Millionen Euro obendrauf. Wie wollen Sie das
denn schaffen? Selbst eine minimale BAföG-Erhöhung
bekommen wir derzeit nicht hin, weil vor allem die
SPD-geführten Länder blockieren: Dafür sei kein Geld
da; soll der Bund das doch alleine zahlen.
({8})
Sie fordern viel von anderen. Aber es gelingt Ihnen
nicht, selbst etwas zu schaffen. Hier verhält es sich doch
genauso wie beim Kooperationsverbot. Im Bund wird
vollmundig die Einbeziehung der Schulpolitik gefordert.
Gleichzeitig sagen Ihre Parteikollegen im Land, dass ihnen eine Einbeziehung der Hochschulen zu weit geht.
Das ist keine konstruktive Opposition, sondern Ausdruck einer „Wünsch dir was“-Mentalität, verbunden
mit medialer Schaumschlägerei. Das können wir wirklich nicht gebrauchen.
({9})
Ich bin überzeugt, dass wir uns den wirklich wichtigen Herausforderungen der Modernisierung des BAföG
stellen sollten. Dazu gehört erstens die Vereinfachung
des Antragsverfahrens. Derzeit arbeiten Bund und Länder gemeinsam an der Aktualisierung der rund 650 Verwaltungsvorschriften zum BAföG.
Dazu gehört zweitens eine einheitliche oder zumindest kompatible BAföG-Bearbeitungssoftware in den
Ländern. Derzeit nutzen die Länder drei unterschiedliche Softwaresysteme zur Bearbeitung der Anträge.
Dazu gehört drittens, die Verständlichkeit der Antragsformulare zu verbessern. Durch verständlichere Anträge kann die Zahl unvollständiger Anträge bzw. von
Rückfragen gesenkt und können die Bearbeitungsdauer
und der Aufwand für die Studentenwerke erheblich reduziert werden.
Viertens wäre derzeit der wichtigste Fortschritt für die
Studierenden die flächendeckende Einführung eines Onlineantrags. Bisher ist dies nur in Bayern und Hessen gelungen. Bayern war hier wieder einmal ganz vorne dabei, lieber Kollege Albert Rupprecht, und hat 2010 als
erstes Bundesland ein Onlineantragsverfahren eingeführt. Das ist beispielhaft, wie ich finde.
({10})
Dass im Jahre 2012 in 14 von 16 Bundesländern die
BAföG-Anträge noch immer handschriftlich ausgefüllt
werden müssen, ist eigentlich ein Unding. Daran sollten
wir gemeinsam arbeiten. Bisher benötigt ein Studierender durchschnittlich 335 Minuten, das heißt über
fünfeinhalb Stunden, um einen BAföG-Antrag auszufüllen. Diese Zeit könnte mit einem Onlineantrag erheblich
verkürzt werden. Unsere Aufgabe besteht nun darin, die
positiven Entwicklungen zu unterstützen, zum Beispiel
durch das E-Government-Gesetz. Dann können die Anträge auch mit elektronischer Unterschrift abgegeben
werden.
Zusammenfassend: Vereinfachung, Modernisierung
und Onlineantrag, das sind für mich die großen Herausforderungen, die wir jetzt angehen müssen. Wenn wir
das tun, können wir BAföG-Empfänger wirklich unterstützen. Die von Ihnen vorgeschlagene Einführung eines
generellen Schüler-BAföG als Vollzuschuss ist aus meiner Sicht nicht zielführend. Ich hoffe, dass sich die SPD
wieder konstruktiver mit dem Thema BAföG auseinandersetzt.
({11})
Wir sind in der Großen Koalition zusammen ein gutes
Stück vorangekommen. Unter Schwarz-Gelb wurden die
Anstrengungen beim BAföG deutlich intensiviert. Diesen Weg wird die Union konsequent weitergehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über das UNIFIL-Mandat bekannt:
Es wurden 585 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt 507, mit Nein 74. Vier Kolleginnen und Kollegen
haben sich enthalten. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 585;
davon
ja: 507
nein: 74
enthalten: 4
Ja
CDU/CSU
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({6})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({23})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({25})
Kerstin Griese
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
({26})
Hubertus Heil ({27})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({28})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({29})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({30})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Sönke Rix
Karin Roth ({31})
Michael Roth ({32})
({33})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({34})
Bernd Scheelen
({35})
Werner Schieder ({36})
Ulla Schmidt ({37})
Carsten Schneider ({38})
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({40})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({41})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({42})
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({43})
Michael Link ({44})
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({45})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({46})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({47})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
({48})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({49})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({50})
Volker Beck ({51})
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({52})
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({53})
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({54})
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({55})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({56})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Nein
SPD
Klaus Barthel
Willi Brase
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({57})
Rüdiger Veit
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({58})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Dr. Harald Terpe
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dr. Anton Hofreiter
Lisa Paus
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke
für die Linke.
({59})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Seit Januar warten wir darauf, dass Ministerin Schavan den im
Kabinett längst verabschiedeten BAföG-Bericht endlich
dem Parlament vorstellt. Vor der Sommerpause herrschte
aber bislang Fehlanzeige. Es muss erst ein Antrag aus
der Opposition kommen, damit wir das Thema BAföG
im Bundestag überhaupt noch einmal behandeln.
Im vergangenen Jahr wurde das 40-jährige BAföGJubiläum gefeiert. Anlässlich dieses Jubiläums und der
damit verbundenen Festivitäten haben sich auf einmal
alle Fraktionen - auch die Koalitionsfraktionen - als
ganz überzeugte Fans des BAföG präsentiert. Alle haben
für sich in Anspruch nehmen wollen, damit die Hochschulen in sozialer Hinsicht geöffnet zu haben.
Nach diesen Lobesreden auf die eigene Politik ist
dann allerdings wenig passiert. Es gab nämlich weder
eine Erhöhung des BAföG noch eine Ausweitung des
Berechtigtenkreises - und zwar weder an Schulen noch
an Hochschulen -, obwohl diese zwei Maßnahmen dringend notwendig wären und wirklich überfällig sind.
({0})
Der gerade erschienene Bildungsbericht „Bildung in
Deutschland 2012“ macht ganz deutlich, wie sehr die soziale Herkunft den Bildungsweg in der Bundesrepublik
bestimmt. Von 100 Kindern aus Elternhäuser mit akademischem Hintergrund nehmen 77 ein Studium auf. Bei
Kindern, deren Eltern einen Hauptschulabschluss haben,
sind es gerade einmal 13. Das ist im Jahr 2012 der Zustand in einer Gesellschaft, die sich selbst als Bildungsrepublik bezeichnet und eine Bildungsrepublik sein will.
Ich finde, diese Zahlen zeigen keine Bildungsrepublik,
sondern eigentlich eine bildungspolitische Katastrophe.
({1})
Weil man um all diese bildungspolitischen Peinlichkeiten weiß, sagt die Bundesregierung in ihrem BAföGBericht auch gar nicht ganz genau, wie hoch der Anteil
der Schülerinnen und Schüler ist, die heute noch BAföG
bekommen. Sie sagt nur, dass die Zahl der Geförderten
um 3,6 Prozent gestiegen ist. Die Frage ist aber, auf welchem Niveau diese Zahl gestiegen ist.
An den allgemeinbildenden Oberstufen erhielten im
Jahre 2010 gerade einmal 9 300 Schülerinnen und Schüler das BAföG. 9 300 im gesamten Bundesgebiet! Umrechnet sind das genau - diese Zahl findet man nicht
mehr in dem Bericht - 0,8 Prozent. Das ist sozusagen die
BAföG-Förderungsquote bei Schülerinnen und Schülern
an allgemeinbildenden Oberstufen.
Was plant die Regierung in dieser Situation weiter?
Sie will im Jahr 2013 eine Viertelmilliarde beim BAföG
einsparen. Das sind Ihre Pläne für den Haushaltsentwurf
2013. Wahrscheinlich ist das auch schon die vorauseilende Umsetzung der Kürzungsorgie, die uns ins Haus
steht, wenn der Fiskalpakt ratifiziert ist. Sagen Sie den
Menschen wenigstens die Wahrheit, anstatt die Mär von
der Bildungsrepublik zu bemühen.
({2})
Das BAföG für Schülerinnen und Schüler ist über die
Jahre so zusammengestrichen und deformiert worden,
dass davon eigentlich nichts mehr übrig geblieben ist.
Dabei ist das Schüler-BAföG eine entscheidende VoNicole Gohlke
raussetzung dafür, dass sich junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft für einen ihren Interessen entsprechenden Beruf entscheiden und dass mehr
Schülerinnen und Schüler eine Hochschulzugangsberechtigung, nämlich das Abitur, erwerben.
Wir Linke wollen deswegen eine deutliche Ausweitung des Schüler- und Schülerinnen-BAföG. Wir möchten, dass endlich wieder alle Schülerinnen und Schüler
an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen das
Recht auf BAföG erhalten. Das haben wir bereits im
letzten Jahr in unserem Antrag für eine nötige BAföGReform gefordert. Ich freue mich über die jetzige Initiative der SPD, die Richtiges benennt. In dem Antrag der
SPD ist die Entwicklung der Förderhöhe leider nicht erwähnt.
Der BAföG-Bericht macht deutlich, dass es wegen
der gestiegenen Preise nötig ist, das BAföG um mindestens 5 Prozent zu erhöhen, damit das aktuelle Förderniveau gehalten werden kann. Die wirklich lausige Erhöhung der Bundesregierung von 2010 - sie betrug 2 Prozent - hat noch nicht einmal die Inflation ausgeglichen.
Die dauernde Nichterhöhung des BAföG ist de facto
eine BAföG-Kürzung.
({3})
Deswegen fordert die Linke die sofortige Anhebung des
BAföG um 10 Prozent. Weiter brauchen wir jährlich einen automatischen Ausgleich der gestiegenen Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten.
({4})
Das BAföG hat den Auftrag, Bildungschancen zu
stärken und soziale Ungleichheiten aktiv auszugleichen.
Dazu muss es aber Lebenshaltungskosten real abdecken.
Hier ist ein aktives politisches Handeln gefordert und
nicht schwarz-gelbes Nichtstun.
Wenn die Politik handelt, könnte das BAföG wieder
- so war es ursprünglich auch gedacht - zum besten
Schutz vor Bildungsausgrenzung werden.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Patrick Meinhardt hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jede Debatte um mehr Bildungsgerechtigkeit
in Deutschland bringt uns voran. Dies gilt aber nicht für
jeden Antrag. Ich bin ein Freund davon, immer zuerst einen Blick auf die Realität in Deutschland zu werfen.
Wenn wir das wirklich ernsthaft machen, finden wir eine
beachtliche Zahl: 200 000. 200 000 Schülerinnen und
Schüler erhalten nicht in Zukunft, sondern schon heute
ein Schüler-BAföG. 200 000 junge Menschen erhalten
eine zusätzliche finanzielle Unterstützung, damit sie
entsprechend ihrer Begabung und nicht nach dem Geldbeutel ihrer Eltern gefördert werden. Das ist gelebte Bildungsgerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
({0})
Das gesellschaftspolitische Ziel von BAföG war und
ist immer, Bildungsperspektiven, Bildungsaufstieg für
diejenigen zu ermöglichen, deren Familien nicht das
Geld haben, sie optimal zu fördern, oder - um in der
Formulierung Ihres Antrags zu bleiben - die aus prekären Familienverhältnissen kommen.
({1})
Genau deswegen setzt die Förderung mit SchülerBAföG insbesondere bei den Schülerinnen und Schülern
an, die schon einen beachtlichen Bildungsweg hinter
sich haben, bis sie in einer beruflichen Schule angekommen sind. Das heißt, über 70 Prozent - über 70 Prozent! der Schülerinnen und Schüler sind meist über die Hauptschule oder über die Realschule in eine berufliche
Schule gekommen. Wir setzen mit der bereits existierenden Regelung des Schüler-BAföG also exakt dort an, wo
die soziale Gerechtigkeit in Deutschland noch mehr zum
Tragen kommen muss. Das bestehende Schüler-BAföG
ist ein Aufstiegsgarant. Darauf kann der gesamte Deutsche Bundestag stolz sein.
({2})
Kritisch wird es, und zwar äußerst kritisch, wenn wir
den Blick in die Bundesländer werfen und dabei feststellen müssen, was die Länder selbst im Bereich des Schüler-BAföG tun bzw. nicht tun.
({3})
In Sachsen verzeichnen wir eine Steigerung um 18 Prozent,
({4})
in Hessen um 18 Prozent, in Nordrhein-Westfalen um
21 Prozent in der Zeit 2008 bis 2010 bei SchülerBAföG-Zuwendungen. Wenn aber von 2008 auf 2010
die Anzahl der geförderten Schülerinnen und Schüler in
Mecklenburg-Vorpommern um 21,2 Prozent heruntergeht,
({5})
gleichzeitig sich aber die Anzahl der Schulabbrecher
dramatisch erhöht, läuft etwas bildungspolitisch granatenmäßig falsch.
({6})
Dies macht deutlich, dass zunächst endlich einmal auch
die Länder ihre Hausaufgaben zu machen haben, bevor
schon wieder neue Forderungen nach mehr Bundesausgaben kommen.
Wenn wir schon bei den Ländern sind, dann sage ich
eines ganz klipp und klar: Wir machen bei keinem neuen
BAföG-Basar mehr mit. Ich erwarte von Ihnen eine
klare Aussage, ob Ihre SPD-Ministerpräsidenten bereit
sind, sich an den Kosten zu beteiligen. Wir beteiligen
uns nicht an dem unwürdigen Spiel, das da heißt, die
SPD-Fraktion beantragt ein Schüler-BAföG, die SPDLänder schwadronieren über soziale Gerechtigkeit und
schlagen sich dann in die Büsche, wenn es darum geht,
ihr Drittel zu finanzieren. So nicht!
({7})
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist es
umso wichtiger, dass wir all diejenigen Länder fördern
und stärken, die selbst bereit sind, ein Schüler-BAföG in
die Wege zu leiten. Exemplarisch greife ich dort die rotrote Landesregierung von Brandenburg heraus. Ganz unkompliziert - ganz unkompliziert! - konnte dort die einzige vernünftige Regelung verabredet werden, dass für
die 500 Jugendlichen aus Hartz-IV-Familien sichergestellt ist, dass eine Anrechnung auf die Leistungen aus
dem Sozialgesetzbuch ausgeschlossen ist. Ganz unkompliziert auf der direkten persönlichen Verhandlungsebene - genau so und nicht anders sieht ein intelligentes,
sinnvolles Miteinander zwischen Bund und Ländern aus.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie erlauben mir,
dass ich grundsätzlich noch einmal die Ausweitung eines
Schüler-BAföG für Schülerinnen und Schüler für weiterführende allgemeinbildende Schulen ab Klasse 10 an Ihrem eigenen Anspruch messe, den Anteil der Kinder gerade aus Arbeiterfamilien zu erhöhen, der den Weg in die
Hochschule findet. Dass wir aber auch grundsätzlich die
Zielrichtung eines Schüler-BAföG hinterfragen müssen,
gehört ebenfalls zur Diskussion eines solchen Antrags.
Jetzt wird es spannend; denn genau die gleiche Debatte
ist bei der Anhörung im Landtag von Brandenburg auch
geführt worden. Ich zitiere aus einer Stellungnahme
dort:
Es existieren keine belastbaren Daten darüber, dass
Schüler aus der gymnasialen Oberstufe gehen,
wenn sie kein Schüler-BAföG erhalten. In der wissenschaftlichen Forschung findet man keinerlei
Belege dafür, dass die Einführung eines SchülerBAföG strukturelle Veränderungen in der Grundschule auslöst, was die eigentlichen Richtungsentscheidungen von Schülern betrifft.
({8})
Dies hat der Vertreter der GEW in Brandenburg zum Gesetzentwurf der rot-roten Landesregierung formuliert.
Recht hat er.
({9})
Man kann noch eins draufsetzen. Noch deutlicher
wird der Landesschülerrat - was er sagt, gilt auch für
eine bundesweite Stellungnahme -:
Unbestritten ist, dass in Deutschland die Bildungschancen von der sozialökonomischen Herkunft eines Kindes abhängen.
Sollte dann aber nicht Ziel der rot-roten Regierung
sein, genau dieser Tatsache entgegenzuwirken? Das Problem bestehen zu lassen und die Auswirkungen durch
das Schüler-BAföG zu kaschieren, erscheint als keine
geeignete Lösung dieses Problems.
Herr Kollege, Herr Rossmann würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Nein, vielen Dank.
Nach vielen Diskussionen stellten wir fest, dass es
sich mehr oder weniger um ein kleines Imageprojekt
handelt, das nicht den Bedürfnissen der Schüler entgegenkommt. Schlussformulierung des Landesschülerrates:
Den Zweck des Schüler-BAföG auf dem Papier
festzuhalten heißt jedoch nicht, dass es in der Realität diesem Zweck auch zugutekommt.
Dem ist bildungspolitisch überhaupt nichts mehr hinzuzufügen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie alle wissen,
dass wir ein erhebliches Problem damit haben, dass die
Querverbindungen zur Sozialgesetzgebung in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt worden sind und dass ein
höherer Verwaltungsaufwand in erheblichem Maße provoziert werden würde, wenn es zu Auszahlungsverzögerungen käme, da nach Ihrem Antrag die Förderung nach
dem SGB II erst nach der Antragsberatung durch die
BAföG-Ämter anlaufen könnte. Es ist ein erhebliches
Problem, solch einen wichtigen Punkt wie die Querverbindung der Sozialpolitik hier überhaupt nicht berücksichtigt zu haben. Der von Ihnen vorgelegte Antrag ist
nichts anderes als der Einstieg in ein neues Bürokratiemonster im Sozialbereich.
({0})
Ich glaube deswegen, man sollte bei diesem Antrag
das tun, was wir Ihnen vonseiten der Regierungsfraktionen vorschlagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich attestiere den Sozialdemokraten gern, dass ihr
Antrag gut gemeint ist. Aber er löst zentrale Fragen
nicht. Er entlässt die Länder an Stellen aus der Verantwortung, wo sie sie definitiv wahrnehmen müssten, und
er lässt die sozialpolitischen Querverbindungen vollständig außer Acht. Schade! Deswegen ist dieser Antrag einmal mehr der Beweis dafür, dass das Gegenteil von
„gut“ nicht „schlecht“, sondern „gut gemeint“ ist.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Kai Gehring das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
({0})
Dies gilt auch beim Zugang zum Abitur. Wir wollen
strukturelle Benachteiligung abbauen, für mehr Durchlässigkeit sorgen und damit der sozialen Spaltung von
Bildungsbiografien entgegenwirken.
Die weitgehende Aushöhlung des Schüler-BAföG in
den 1980er-Jahren hat vielen jungen Menschen aus einkommensarmen Elternhäusern den Weg zum Abitur zunächst erschwert. Nur noch Schülerinnen und Schüler,
die nicht bei ihren Eltern wohnen, können unter sehr engen Voraussetzungen gefördert werden. Der SPD-Antrag
ist aber allenfalls gut gemeint. Wir müssen intensiv prüfen und diskutieren, mit welchen Mitteln das eigentliche
Ziel, nämlich mehr bildungsfernen Jugendlichen das
Abitur zu ermöglichen, am besten zu erreichen ist.
({1})
Gerade in der Schulbildung gilt für uns Grüne klar der
Grundsatz der Institutionenstärkung. Diese ist meist viel
wirkungsvoller als Transfers, wie das völlig verunglückte und überbürokratisierte Bildungs- und Teilhabepaket zeigt.
({2})
Starke Institutionen wie gute Ganztagsschulen bieten allen, aber gerade bildungsfernen Kindern und Jugendlichen bessere Voraussetzungen für eine erfolgreiche
Schullaufbahn. Lehrerinnen und Lehrer müssen zudem
in ihrer Ausbildung besser auf heterogene Lerngruppen
vorbereitet werden.
Klar ist auch: Der Lebensunterhalt ist ein Kostenpunkt, der einkommensschwache Eltern davon abhalten
kann, ihrem Kind den Zugang zum Abitur zu ermöglichen. Auch deshalb ist es inakzeptabel, dass die Bundesregierung bei Bedarfsgemeinschaften weiterhin eine
nachvollziehbare Regelsatzberechnung verweigert. Wir
sagen: Für mehr Bildungsaufstieg ist eine kluge Kombination aus Transfers und starken Bildungsinstitutionen
notwendig.
({3})
Viele Studien, zuletzt der nationale Bildungsbericht,
haben nachgewiesen, dass der Weg zum Abitur für bildungsferne Jugendliche in Deutschland besonders
schwierig ist - aber nicht vorrangig aus finanziellen
Gründen in der Oberstufenphase, wie der SPD-Antrag
meint. Die negative Auswahlentscheidung wird meistens
viel früher getroffen. So liegt die unterproportionale
Abiquote von Nichtakademikerkindern vor allem an
dem Aussieben beim Übergang aus der Grundschule in
die weiterführende Schule.
({4})
Für diese Kinder und Jugendlichen kommt erschwerend
hinzu, dass ihre Leistungen häufig ungerecht beurteilt
werden. So hat die Vodafone-Stiftung ermittelt, dass ein
Kind aus einer bildungsfernen Familie bei gleicher Leistung oft schlechter benotet wird. Nur zur Hälfte sei die
Benotung mit der erbrachten Leistung zu erklären. Bei
der Empfehlung zu weiterführenden Schulen betrage die
soziale Verzerrung bei gleicher Leistung während der
Grundschulzeit mindestens 25 Prozent. Der aktuelle
Chancenspiegel von Bertelsmann-Stiftung und TU Dortmund beklagt letztlich die fehlende Integrationskraft und
Durchlässigkeit unseres Schulsystems. Aber die Studie
belegt auch, dass Fairness, Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit und echte individuelle Förderung in den Schulen, wenn sie verbunden werden, ganz klar ein gutes
Mittel sein können, um bildungsferne Kinder und Jugendliche zu fördern.
Um Bildungshürden in Deutschland abzuräumen,
muss Bildung endlich so organisiert und finanziert werden, dass individuelle Förderung für alle möglich ist.
Bund und Länder müssen dabei gemeinsam und in gesamtstaatlicher Verantwortung handeln. Genau deshalb
wollen wir das Kooperationsverbot aufheben, um noch
mehr gute Ganztagsschulen in Deutschland haben zu
können.
({5})
Für die Einführung eines echten Schüler-BAföG
müssten zunächst die Länder gewonnen werden. Deswegen muss sich die SPD schon die Frage gefallen lassen,
warum es, von Brandenburg abgesehen, bisher keine relevanten SPD-Initiativen aus den Ländern zum SchülerBAföG gegeben hat. Eine massive Ausweitung des
Schüler-BAföG wäre daher ein ehrgeiziges und ambitioniertes Unterfangen. Die von der SPD im Antrag vorgeschlagene Anschubfinanzierung von 100 Millionen Euro
reicht dafür sicher gar nicht aus. Sinnvoller könnte es
vielmehr sein, zunächst eine schrittweise Ausweitung
des Berechtigtenkreises ins Auge zu fassen, zum Beispiel auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Programmen, bei denen Schulabschlüsse nachgeholt werden,
({6})
sowie auf Berufskollegs. Auch sollten die Richtlinien,
die es jetzt gibt, weniger restriktiv ausgelegt werden,
etwa in Fällen, in denen jungen Menschen das Zusammenleben mit ihren Eltern nicht zugemutet werden kann.
Für einen Bildungsaufbruch müssen strukturelle Hürden beseitigt und die Finanzausstattung der Schulen weiter verbessert werden. Für uns Grüne sind diejenigen
Maßnahmen prioritär, die sich unmittelbar auf den
Schulerfolg bildungsferner Jugendlicher auswirken und
soziale Öffnung bringen. Nur so werden wir dem einzelnen jungen Menschen gerecht und bekämpfen nachhaltig
soziale Ausgrenzung und Fachkräftemangel. Ich habe
ein paar Beispiele dafür genannt, wie man es besser machen könnte. Wir sind zu solch einer Prioritätensetzung
bereit und freuen uns darauf, ambitionierte und zugleich
umsetzbare Instrumente auf den Weg zu bringen. Der
SPD-Antrag trägt in seiner jetzigen Form noch nicht
dazu bei.
({7})
Florian Hahn hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist ein hohes Gut in unserer
Gesellschaft. Ich denke, wir sind uns über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass wir Deutschland als Bildungsrepublik weiterhin stärken müssen, damit wir im
globalen Wettbewerb nicht auf der Strecke bleiben. Außerdem sind wir es den jungen Menschen in unserem
Land schuldig, sie entsprechend ihrer Talente und Fähigkeiten ausreichend zu fordern und zu fördern. Beruflicher Erfolg darf nicht nur über Generationen vererbt
werden, sondern muss durch Talent und Einsatzbereitschaft erreichbar sein. Auch Kinder aus sozial schwachen Familien müssen eine faire Chance auf einen höheren Bildungsabschluss bekommen.
Diese Herausforderung nimmt die Bundesregierung
ernst. Wir investieren in große Programme, wie zum
Beispiel in den Ausbau der Ganztagsschulen, um für jeden Schüler eine angemessene Förderung zu gewährleisten. Auch das Projekt „Lesestart“ setzt sehr früh an und
versucht, die Potenziale von Kindern aus sogenannten
bildungsfernen Familien auszuschöpfen.
Die Wiedereinführung des Schüler-BAföG, meine
Damen und Herren, gehört leider nicht zu den Lösungen,
die für mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land sorgen. Es macht weder inhaltlich Sinn, noch ist es finanziell zu stemmen. Schließlich tun sich die Länder jetzt
schon schwer, die benötigten Finanzmittel für das bestehende BAföG bereitzustellen.
({0})
Zu glauben, ein kleiner Geldbeitrag im Monat könnte
derart komplexe Probleme wie soziale Ungleichheit und
mangelnde soziale Mobilität lösen, halte ich für reichlich
naiv. Finanzielle Mittel allein sind in diesem Fall völlig
unzureichend, wenn nicht gar vollends sinnlos.
({1})
Interessant ist auch, dass sich die SPD in ihrem Antrag plötzlich für direkte monetäre Leistungen für Familien starkmacht, während sie das Betreuungsgeld ablehnt.
({2})
Dort wäre das Geld viel sinnvoller angelegt. Viele Initiativen, wie zum Beispiel ArbeiterKind.de, haben mittlerweile ausreichend belegt, dass es nicht unbedingt die
finanziellen Sorgen sind, die Kinder aus bildungsschwachen Haushalten vor einem gymnasialen Abschluss oder
einer späteren akademischen Laufbahn abschrecken,
sondern dass Erziehungsfragen, der Wertekanon, der in
der Familie vorherrscht, und die persönliche Unterstützung dabei eine Rolle spielen. Hier müssen wir ansetzen.
Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass nie mehr für Bildung getan wurde als unter der heutigen Regierung.
Der 4. Bildungsbericht, der letzten Freitag vorgelegt
wurde, belegt die positive Gesamtentwicklung des deutschen Bildungssystems eindeutig. Damit zahlt sich die
klare Schwerpunktsetzung der Koalition für die Bildung
aus: Weniger Risikoschüler, weniger Schulabbrecher,
dafür mehr Geld im System, mehr Durchlässigkeit und
höhere Abschlüsse denn je. Fast jeder zweite Schüler
verlässt die Schule inzwischen mit der Hochschulreife.
Nie waren Bildungschancen für junge Menschen in
Deutschland besser als heute.
({3})
Das zeigt sich auch am schon bestehenden BAföG. Das
haben wir sogar noch ausgebaut. Im Bereich der Begabtenförderung und der Bildungsdarlehen haben wir weitere Instrumente der Ausbildungsfinanzierung flankiert.
So wurde das Deutschlandstipendium ins Leben gerufen
und das Bildungskreditprogramm erweitert. Damit hat
unsere Ministerin Schritte in eine offenere Bildungspolitik eingeleitet, die der unterschiedlichen Lebenssituationen der Menschen Rechnung trägt. Ich möchte noch die
Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte hervorheben. Dies ist in Bayern eine ungeheure Erfolgsgeschichte. Das heißt, der Abschluss als Meister
zieht in puncto Hochschulzugang mit dem Abitur gleich
und hält somit Handwerkern alle Bildungschancen offen.
({4})
Dies macht deutlich, dass die Bildungsbeteiligung nicht
auf den Besuch eines Gymnasiums reduziert werden darf.
Schon heute werden 42 Prozent der Hochschulzugangsberechtigungen nicht mehr am Gymnasium erworben,
sondern über andere Wege, wie zum Beispiel die berufliche Bildung. Gerade in Bayern, meiner Heimat, sind
junge Menschen aus sogenannten bildungsfernen Schichten und nichtdeutscher Herkunft überdurchschnittlich am
Erwerb entsprechender Zertifikate beteiligt. Ich erzähle
ihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass die Schüler in
Bayern von jeher in Ländervergleichen am besten abschneiden. Gleichaltrige Schüler in anderen Bundesländern hinken oft bis zu einem Jahr hinterher. Der Berufseinstieg für Schulabgänger in Bayern, ob diese von der
Mittelschule, der Realschule, oder von einem Gymnasium kommen, ist so leicht wie in keinem anderen Bundesland.
({5})
Bayern weiß, wo es Defizite hat, und arbeitet mit Hochdruck daran. Die von mir genannten großartigen Erfolge
lasse ich mir trotzdem von der SPD nicht madig reden.
({6})
Vor diesem Hintergrund und den zahlreichen Errungenschaften in der Bildung dank unserer Regierung ist es
doch höchst verwunderlich, dass die SPD mit der alten
Forderung nach einem Schüler-BAföG kommt. Das
Schüler-BAföG gilt seit 1983/84 nur noch für Jugendliche, die nicht bei den Eltern wohnen. Einkommensschwache Familien erhalten für zu Hause wohnende
Schüler natürlich Unterstützung. Diese werden beim Gesamtbedarf von SGB-II-Empfänger-Haushalten berückFlorian Hahn
sichtigt. Würden sie jedoch künftig BAföG-berechtigt,
blieben sie zu einem großen Teil zusätzlich nach SGB II
förderungsberechtigt. Das würde in zahlreichen Fällen
zu einer Überschneidung der Finanzierungshilfeinstrumente nach dem SGB II einerseits und dem BAföG andererseits kommen.
Ich muss nicht weiter ausführen, welch erheblichen
Verwaltungsaufwand mit sich bringen würde und mit
welchen Auszahlungsverzögerungen zu rechnen wäre.
Hier hört die Absurdität des Antrags noch nicht auf.
Derzeit wird das BAföG mit 65 Prozent vom Bund und
35 Prozent von den Ländern gestemmt. Vor allem die
Länder haben jetzt schon Probleme, das bestehende
BAföG anzugleichen. Nun will die SPD auch noch das
Schüler-BAföG einführen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß
mit ihren Genossen in den A-Ländern.
({7})
Herr Schulz und der SPD-Haushälter, Herr
Hagemann, haben behauptet, die Regierung kürze im
Haushalt 2013 beim BAföG. Das ist nicht nur falsch,
sondern bewusst irreführend. Jeder BAföG-Empfänger
hat im kommenden Jahr einen bis auf den letzten Cent
unveränderten BAföG-Anspruch. Das wissen Sie. Es ist
klar, dass die Rückzahlungsausfälle bei guter Konjunktur sinken, ebenso, dass dieses Geld für zusätzliche Studienplätze eingesetzt wird. Kehren Sie an dieser Stelle
zu einer ernsthaften Argumentation zurück. Sie haben ja
gleich Gelegenheit, das Ganze entsprechend richtigzustellen.
({8})
Mir drängt sich dabei auch der Verdacht auf, dass die
SPD angesichts des bevorstehenden Wahlkampfs lediglich versucht, das alte Thema Schüler-BAföG populistisch wiederaufleben zu lassen. Dies würde auch den
sonderbaren Umstand erklären, dass die SPD weder in
der rot-grünen noch in der Großen Koalition jemals auf
die Idee kam, das Schüler-BAföG wieder einzuführen.
Den Antrag gilt es daher abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({9})
Swen Schulz hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mir
diese Debatte so anhöre, dann bin ich schon ein Stück
weit enttäuscht davon, wie die Vertreterinnen und Vertreter insbesondere von CDU/CSU und FDP hier argumentieren.
({0})
Die SPD hat einen Antrag zur Verbesserung des
Schüler-BAföG vorgelegt, und Sie haben spontan auf
Abwehr geschaltet. Anstatt sich mit der Argumentation
einmal ernsthaft auseinanderzusetzen und von unserer
Seite etwas dazu zu hören, bauen Sie Barrikaden und
Blockaden auf.
({1})
Ich bitte Sie herzlich, sich in der weiteren parlamentarischen Beratung hier ein Stück weit zu öffnen.
Der kürzlich erst veröffentlichte nationale Bildungsbericht bestätigt: Bildung hängt weiterhin sehr stark von
der sozialen Herkunft ab. Im Bildungsbericht findet sich
- auf Seite 293, wenn ich mich recht entsinne - eine
kleine, aber sehr ausdrucksstarke Grafik. Diese macht
deutlich, dass 77 Prozent der Akademikerkinder den
Weg zu den Hochschulen finden, aber nur 13 Prozent der
Kinder von Eltern mit Hauptschulabschluss studieren.
Dieses Ungleichgewicht rührt doch nicht daher, dass die
Kinder von Hauptschülern etwa dümmer wären, sondern
sie bekommen weniger Unterstützung und weniger Förderung. Da müssen wir ansetzen.
({2})
Es gibt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, mit
dem nationalen Bildungsbericht umzugehen. Die erste
Möglichkeit: Man nimmt ihn ernst und versucht, politische Antworten auf das zu finden, was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darin formuliert haben. Die
zweite Variante: Man kann ihn ignorieren.
Die CSU und die Bayerische Staatsregierung haben
eine dritte Variante erfunden: Sie haben die Autoren des
Bildungsberichts beschimpft und wollen ihnen den
Mund verbieten. Das ist eine Form der Wissenschaftsfeindlichkeit, die wir weder akzeptieren noch mitmachen.
({3})
Wir befinden uns ja schließlich nicht beim Papst im
17. Jahrhundert, auch wenn der Herr Seehofer das vielleicht gerne hätte.
({4})
Uns macht das Sorgen, was im Bildungsbericht steht.
Wir nehmen Ungerechtigkeit und Chancenungleichheit
im Bildungswesen nicht hin, sondern wir wollen Antworten darauf finden. Deswegen wollen wir dazu beitragen, dass der Zugang zum Abitur nicht am Geldbeutel
scheitert.
Wir schlagen daher vor, dass das Schüler-BAföG verbessert wird und auch an diejenigen gezahlt wird, die
noch zu Hause leben. Herr Meinhardt, Ihnen und den anderen sei gesagt: Das löst natürlich nicht jedes Problem selbstverständlich nicht, welche einzelne Maßnahme
könnte das schon von sich behaupten? Herr Kollege
Gehring, natürlich wollen wir die Schule als Institution
stärken. Die Verbesserung des Schüler-BAföG wäre jedoch ein wichtiger Baustein zur Unterstützung derjenigen, denen es finanziell nicht gut geht,
({5})
Swen Schulz ({6})
oder derjenigen, die sich vielleicht zu Hause dafür rechtfertigen müssen, dass sie weiter zur Schule gehen wollen, anstatt Geld nach Hause zu bringen, eine Ausbildung zu machen oder zu arbeiten.
Wir wollen eine bedarfsabhängige Förderung, und
zwar bis zu 216 Euro monatlich als Vollzuschuss. Nach
Schätzungen der KMK könnten davon etwa 183 000 Schülerinnen und Schüler profitieren. Das würde in der Spitze
insgesamt Ausgaben von jährlich 300 Millionen Euro
bedeuten. Natürlich ist das viel Geld. Aber es ist gut in
Bildung investiert, ganz im Gegensatz zu dem geplanten
Betreuungsgeld, Herr Hahn. Das ist genau der Unterschied. Im Gegensatz zu Ihnen unterstützen wir die Bildung.
({7})
Herr Hahn, dass Sie hier ernsthaft das Finanzargument gegen das Schüler-BAföG ins Feld geführt haben,
finde ich einigermaßen dreist. Das hat mich fast vom
Stuhl gehauen. Lassen Sie es mich einmal so formulieren: Solange Sie in der Koalition auch nur darüber nachdenken, das Betreuungsgeld einzuführen, das bis zu
2 Milliarden Euro kosten würde,
({8})
haben Sie jedes Recht verwirkt, das Finanzargument gegen Bildungsförderung ins Feld zu führen.
({9})
Das BAföG ist das zentrale Instrument der Bildungsförderung. Es muss weiterentwickelt werden. Dafür setzen wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten engagiert ein. Das haben wir auch unter Rot-Grün
getan. Nachdem das BAföG in der Kohl-Ära in Schutt
und Asche gelegt wurde, haben wir es wieder aufgebaut.
Auch in der Großen Koalition, mussten wir Frau Schavan
ordentlich schieben und treiben, damit überhaupt etwas
passiert.
({10})
Sie wollte das BAföG eigentlich abschaffen.
Heute beraten wir unseren Antrag in erster Lesung.
Wir setzen darauf, dass es uns in der weiteren Beratung
im Ausschuss, auch unter Einbeziehung von Sachverständigen, gelingt, dass Sie sich öffnen und sich von unseren guten Argumenten überzeugen lassen.
({11})
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9576 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Das möchten Sie
auch so. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus
- Drucksachen 17/8672, 17/8990 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/10155 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Michael Hartmann ({1})
Ulla Jelpke
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
CDU/CSU und FDP vor. Verabredet ist es, eine halbe
Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Das ist also so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat Dr. Hans-Peter Friedrich.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Die Aufarbeitung der Mordserie des
„Nationalsozialistischen Untergrunds“, NSU, wie sie sich
selbst genannt haben, geht weiter. Hunderte von Beamten werten die Asservate aus. Leider ist diese schwierige
und mühsame Arbeit immer wieder mit neuen, unerfreulichen Meldungen verbunden. Sie haben es heute vielleicht den Agenturen entnommen. In den Medien wird
darüber berichtet, dass vom Bundesamt für Verfassungsschutz Akten vernichtet worden sind, und zwar nach
dem Aufdecken des NSU.
({0})
Diese Vorgänge sind dem Bundesinnenministerium
gestern bekannt geworden. Nachdem ich gestern Mittag
davon erfahren habe, habe ich den zuständigen Staatssekretär gebeten, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die für diese Kontrollfragen zuständig sind,
also das Parlamentarische Kontrollgremium, entsprechend zu unterrichten. Das ist erfolgt. Ich habe gestern
Abend den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz zu mir gebeten und ihn beauftragt, eine lückenlose Aufklärung vorzunehmen und einen Bericht vorzulegen. Sobald dieser Bericht vorliegt, werde ich ihn dem
Bundestag bzw. den zuständigen Gremien des Deutschen Bundestages zur Kenntnis bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der
Aufklärungsarbeit und der Auswertung der Asservate
geht es zum einen darum, zu klären, welche strafrechtlichen Konsequenzen sich für die handelnden Personen
bzw. die Mitwisser und Mithelfer ergeben. Es geht zum
anderen aber auch um politische Gesichtspunkte, nämlich um die Frage: Müssen wir eventuell strukturelle
Veränderungen bei den Sicherheitsbehörden herbeiführen, weil sich Lücken und Mängel erkennen lassen? Was
ist notwendig, um diese Mängel zu beseitigen? Es wurde
eine Bund-Länder-Regierungskommission zur Aufarbeitung des Rechtsterrorismus eingesetzt. Sie erhielt den
wichtigen Arbeitsauftrag, dafür zu sorgen, dass alle sich
jetzt ergebenden Erkenntnisse zusammengetragen werden, um zu klären, ob Strukturveränderung notwendig
sind oder nicht.
Ich will meine Ausführungen nicht mit der Behauptung verbinden, dass, wenn wir die eine oder andere Änderung schon zu einem früheren Zeitpunkt vorgenommen hätten, dieses oder jenes hätte verhindert werden
können. Aber eines ist klar: Wenn es uns gelingt, und in
dem Maße, wie es uns gelingt, Lücken zu schließen und
auch Mängel zu beseitigen, wachsen die Chancen, dass
solche Untergrundbewegungen früher ausfindig gemacht
werden können. Ich denke, dass das unsere Aufgabe ist.
Noch bevor man endgültige Entscheidungen trifft, ist
es wichtig, dass man sich Klarheit verschafft über einige
feststehende Grundtatsachen, die von den Einzelerkenntnissen unabhängig sind:
Erstens. Ich glaube, wir sind uns in allen Fraktionen
einig, dass wir auch in der Zukunft eine Trennung zwischen Polizei, Kriminalpolizei und Nachrichtendiensten
haben wollen.
({1})
Ich glaube, da gibt es einen Konsens in allen Fraktionen.
Der zweite wichtige Punkt ist, zu erkennen, dass wir
sowohl beim Verfassungsschutz wie auch bei der Polizei
neben Zentralstellen, die in Berlin, Köln oder wo auch
immer sind, immer auch regionale Einheiten brauchen,
die sich vor Ort mit extremistischen Bewegungen beschäftigen und vor Ort klären, was da eigentlich passiert.
Diese Dualität von einer Zentrale, die eine Koordinierungsfunktion hat, und regionalen Einheiten muss aufrechterhalten werden. Ich glaube, dass es auch daran keinen ernsthaften Zweifel gibt.
Entscheidend ist also nicht die Frage, wer wo zuständig ist - der Bundesinnenminister oder die Innenminister
der Länder -, sondern entscheidend ist die Frage, wie
wir die Arbeit an den Schnittstellen zwischen regionalen
Einheiten und Zentralen so eng verknüpfen können, dass
die Zusammenarbeit gewährleistet ist. Deswegen habe
ich in dieser Frage keine Föderalismusdiskussion geführt, sondern mich von Anfang an auf die Aufgabe konzentriert, diese Schnittstellen entsprechend zu bearbeiten.
Das Ergebnis ist ein Gemeinsames Abwehrzentrum
gegen Rechtsextremismus, das seine Arbeit im Dezember aufgenommen hat. In diesem Gemeinsamen Abwehrzentrum sitzen Beamte aus Behörden von Bund und
Ländern täglich zusammen, um über das Phänomen des
Rechtsextremismus zu reden. Sie berichten von einzelnen Sachverhalten aus ihren Ländern, um damit den anderen Kenntnis davon zu geben. Auch wenn diese vielleicht zunächst keinen Zusammenhang mit Sachverhalten in ihrem eigenen Land sehen, erkennen sie im
Laufe der weiteren Erörterung über Wochen und Monate
womöglich Zusammenhänge über Bundesländer hinweg.
Diese Zusammenarbeit führt nicht nur zu einer Effizienzerhöhung, sondern fördert auch das Vertrauen der
Behörden untereinander. Ich glaube, es ist wichtig, dass
man eine menschliche Ebene für die Zusammenarbeit
findet.
Ein wichtiges Hilfsmittel für diese gemeinsame Arbeit aller Behörden von Ländern und Bund ist die Verbunddatei, um die es heute geht. Die Informationen, die
in den Ländern vorhanden sind, sollen systematisch und
pflichtgemäß in diese Datei eingebracht werden, ohne
Ermessen. Diese Datei steht allen beteiligten Sicherheitsbehörden zur Verfügung, und es soll - das ist wichtig - eine Analysemöglichkeit geschaffen werden. Bestimmte Personen sollen mit bestimmten Personengruppen, bestimmten Phänomenen und Einzelprojekten
verbunden werden können. Diese Analysefähigkeit bietet die Möglichkeit, regional zugeordnet bestimmte Phänomene zu untersuchen.
Diese Verbunddatei, die Ermessensspielräume und
subjektive Entscheidungen von Behörden ausschaltet
und eine systematische Aufarbeitung durch das Zusammenschließen von Informationen ermöglicht, ist eine
moderne Antwort auf Basis moderner Technologie auf
das, was die Polizei, was die Sicherheitsbehörden, was
der Verfassungsschutz braucht. Deswegen bin ich sehr
dankbar dafür, dass wir heute das Gesetz, das zur Errichtung dieser Datei notwendig ist, auf den Weg bringen.
Ich darf mich ganz herzlich bei den Kollegen von der
Koalition, aber auch bei den Kollegen von SPD und
Grünen für die konstruktive Zusammenarbeit in all diesen Fragen bedanken. Ich glaube, dass wir mit diesen
Möglichkeiten, die mit diesem Gesetz und dieser Verbunddatei geschaffen werden, einen Meilenstein im
Kampf gegen den Rechtsextremismus setzen. Insofern
bitte ich um Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Michael Hartmann hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Minister, es war richtig, dass Sie zu Beginn Ihrer Aus22396
Michael Hartmann ({0})
führungen auf das abgehoben haben, was wir heute und
zum Teil auch bereits gestern zur Kenntnis nehmen
mussten. Die Debatte über diese Verbunddatei wird nun
plötzlich - vielleicht nicht einmal unerwartet - von einer
Aktenlöschung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz überschattet. Als Mainzer Abgeordneter möchte
ich sagen: „Ausgerechnet am 11. November“, aber für
Witze ist hier kein Anlass. Diese Aktenlöschung durch
das Bundesamt für Verfassungsschutz ist unmöglich und
untragbar. Es kann nicht sein, dass in diesem Komplex
relevante Vorgänge und Akten - und würden sie auch
nur am Rande das Thema berühren - einfach von Behörden vernichtet werden. So viel Datensparsamkeit würde
ich mir oft in anderen Fällen wünschen.
({1})
Über das, was da geschehen ist, darf man nicht nur in
unseren Zusammenhängen diskutieren. Es ist ein Schlag
ins Gesicht aller, die wirklich aufklären wollen, ein
Schlag ins Gesicht unseres Untersuchungsausschusses
und ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ihrer Angehörigen. Deshalb gibt es nur eine Möglichkeit: Alles muss
ganz schnell auf den Tisch gelegt werden. Was ist von
wem warum gemacht worden? Bitte bis zur Sitzung des
Untersuchungsausschusses in der nächsten Woche alles
vorlegen und alles aufklären! Nur so kann der entstandene Schaden minimiert werden.
({2})
Dieser Schaden betrifft nicht nur die Aufklärung oder
die Opfer, es ist auch ein weiterer Schaden für das Ansehen unserer Sicherheitsbehörden. Dabei hätten sie es gerade im Zusammenhang mit der Aufklärung der NSUMorde so nötig, dass sie mal wieder gelobt werden. Leider kann das auch heute nicht geschehen.
Dieser Vorgang, den ich gerade angesprochen habe,
steht durchaus im Zusammenhang mit dem Thema, um
das es in dieser Debatte gerade geht, nämlich die Etablierung einer Verbunddatei. Denn, meine sehr geehrten
Damen und Herren, was nützen uns die besten Rahmenkonstrukte für Dateien, wenn diese weder mit der richtigen Haltung noch mit der richtigen Ausbildung noch mit
der richtigen Datengrundlage bedient werden? In allen
drei Feldern besteht weiterhin hoher Handlungsbedarf.
Wenn dort nichts geschieht, nutzt uns diese Verbunddatei
gar nichts.
({3})
Die Notwendigkeit einer solchen Datei - da wird mir
kein Fachkundiger widersprechen können - verweist natürlich darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen den
Sicherheitsbehörden nicht funktioniert, weder auf der
Ebene des Bundes untereinander noch zwischen Bund
und Ländern. Sonst müsste man gar nicht darüber nachdenken, dass man den Austausch von Informationen, den
Austausch über wichtige Sachverhalte eigens in einem
dafür geschaffenen Gesetz festhalten muss. Aber es ist
so, und es soll auch geschehen, auch mit unserer Zustimmung; denn es ist nirgendwo vorgesehen - das sage ich
an alle, die vielleicht verkürzt kritisch diskutieren -,
neue Daten zu erheben, wohl aber, vorhandene Daten
zusammenzuführen, und zwar in einer Indexdatei und
keiner Volltextdatei. Das alles ist gut und solide an das
angelehnt, was wir bei der Antiterrordatei bereits auf den
Weg gebracht haben.
Wir haben, als der Gesetzentwurf eingebracht wurde
- manche werden sich erinnern -, bereits angekündigt,
dass wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
diesen Gesetzentwurf wie jedes andere Sicherheitsgesetz
begleiten werden und dass wir auch in dem Fall sehr genau darauf achten werden, ob Standards der Bürgerrechte und des Datenschutzes eingehalten werden. Es
darf und kann nicht sein, dass im Kampf gegen Rechts
jedes Maß verloren geht und wir plötzlich Schleusen öffnen, die wir bei anderen Themen zu Recht geschlossen
halten.
So sind wir in die Anhörung gegangen, die in der Tat
ertragreich war
({4})
und dazu führte, dass mit der Koalition noch einmal Gespräche aufgenommen wurden. Dafür bedanke ich mich
ausdrücklich, Herr Kollege Binninger, Frau Kollegin
Piltz. Es ist nicht selbstverständlich, dass man die Anregungen und Änderungswünsche einer Oppositionsfraktion aufnimmt. Es ist aber ein gutes Zeichen für den
Konsens der Demokraten im Kampf gegen Rechts, dass
Sie es getan haben. Dem darf man auch einmal Respekt
zollen.
({5})
Es ist durch diese Verhandlungen im Lichte der Anhörung tatsächlich gelungen, Verbesserungen zu erreichen. Beim Freitextfeld, bei der Eilfallbefugnis und bei
den Kontaktpersonen haben wir dafür gesorgt,
({6})
dass nicht möglicherweise Menschen, die unschuldig
sind, die nichts mit rechten Umtrieben zu tun haben, in
diese Datei hineingeraten. Insofern sollte sich das ganze
Haus zugutehalten, dass wir Bürgerrechtsstandards und
Datenschutzstandards auch hier eingehalten und sogar
nach oben geschraubt haben.
Ich sage allerdings, Herr Minister: Wir gehen mit dieser Datei einen Schritt. Es ist wahrhaftig kein Meilenstein. Das wäre zu kurz gesprungen. Ich finde es auch
sehr selbstbewusst, davon zu reden, dass wir ein Gesetz
zur Bekämpfung des Rechtsextremismus auflegen. Nein,
wir bilden eine Verbunddatei, die ein notwendiger und
wichtiger Mosaikstein ist,
({7})
aber nicht der allein entscheidende, um den Rechtsextremismus besser und entschiedener durch mehr Kooperation bekämpfen zu können - nicht mehr und nicht weniger. Vieles andere gehört dazu, vor allem die noch immer
Michael Hartmann ({8})
nicht ausreichende Unterstützung der Präventionsarbeit,
die Aufstellung von neuen und besseren Statistiken bei
der Kriminalpolizei und anderen Behörden und eine bessere und entschlossenere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft,
({9})
die von dieser Bundesregierung im Kampf gegen Rechts
allenfalls instrumentalisiert, aber an keiner Stelle ernst
genommen wird.
({10})
Ich kann dies an vielen Stellen belegen. Es gibt die
tolle Idee - Herr Minister, was ist das eigentlich? -, ein
bundesweites Informations- und Kompetenzzentrum zu
errichten. Wir haben uns erlaubt, mit einer Kleinen Anfrage herauszufinden, was denn da Geniales angedacht
wurde, zumal sich alle, die aus der Zivilgesellschaft als
Partner eingeladen waren, hinterher - gelinde gesagt veralbert und instrumentalisiert gefühlt haben. Auf unsere Frage, wie die Arbeitsweise des BIK, also des bundesweiten Informations- und Kompetenzzentrums - darunter geht es ja nicht - aussehen wird, wurde uns
geantwortet - ich lese nur einen Satz vor, um nicht ermüdend zu sein -:
Die grundsätzliche Gestaltungsvoraussetzung für
das bundesweite Informations- und Kompetenzzentrum ist, dass nicht nur Kompetenzen gebündelt
und Bildungsmaßnahmen initiiert,
({11})
sondern insbesondere die positiven Aspekte der
pädagogischen Bildungsarbeit in diesem Themenfeld deutlicher formuliert werden.
Respekt, meine Damen und Herren! Großartig, was Sie
da voranbringen! Soziologische Wortungetüme, aber
kein Schritt im Kampf gegen Rechts!
({12})
Wer ernsthaft Präventionsarbeit betreiben will, wer
ernsthaft gegen Rechte kämpfen will, der muss vor allem
eines machen: Er muss die Partner aus der Zivilgesellschaft so ernst nehmen, wie sie es verdient haben, und
darf sie finanziell nicht ausbluten lassen. Das ist der
erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Die Kommunen brauchen eine
anständige Finanzausstattung. Ich wiederhole, was ich
an anderer Stelle schon gesagt habe: Wer Jugendhäuser
schließt, macht die Tür auf für Rechtsextreme, die da
durchgehen, meine sehr geehrten Damen und Herren!
({13})
Deshalb müssen wir immer an die Kommunen denken,
wenn wir an den Kampf gegen Rechts denken.
Es gehört übrigens auch dazu, dass wir selbst nicht
leichtfertig oder billigen Applaus heischend durch die
Lande ziehen, um beispielsweise islamophobe Parolen
nachzuplappern. Auch in Wahlkämpfen ist das nicht
erlaubt. Es ist eine Aufgabe gerade von Berufspolitikerinnen und Berufspolitikern, überall dem Geist der Intoleranz, dem Geist der geistigen Enge, dem Geist, der undemokratisch ist, der rassistisch ist, zu widerstehen und
auch da deutlich zu widersprechen, wo es unangenehm
wird. Da ist Zivilcourage auch von uns als Abgeordneten
verlangt, meine Damen und Herren!
({14})
Wenn wir heute diesem Gesetz zustimmen, sagen wir
zugleich ganz deutlich: Wir sind beim Kampf gegen
Rechts noch nicht am Ende. Wir haben gerade erst angefangen. Es muss noch viel mehr geschehen. Wir werden
es nicht akzeptieren, dass in unserem Land weiterhin ungestraft Schurken herumlaufen, die sich für eine angeblich höhere nationale Gesinnung erlauben, auf Plakate zu
schreiben: „Gas geben“, die sich erlauben, in ihrem Parteiprogramm zu sagen, Integration ist Völkermord, oder
die wenige Wochen nach Bekanntwerden dieser Untaten
die Melodie von Paulchen Panther bei einer Demonstration in München spielen.
Wir stehen für ein Deutschland, in dem alle ohne
Angst verschieden sein können und sich sicher fühlen. Ein Land, in dem Freiheit und Respekt, Vielfalt
und Weltoffenheit lebendig sind.
Herr Kollege!
Das war Text unseres gemeinsamen Entschließungsantrags. Vergessen wir ihn nicht!
Vielen Dank.
({0})
Gisela Piltz hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal steht man hier vorne im Plenum des
Deutschen Bundestages und ist fassungslos, was sich
wieder im Rahmen der Aufklärung der verbrecherischen
Morde um das NSU-Trio ereignet hat. Ich weiß nicht,
wie es Ihnen geht. Aber ich finde es schon erstaunlich,
dass es eines Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages braucht - und übrigens auch einer FDP,
ohne die die Aussage von Herrn Fromm heute nicht
möglich gewesen wäre -,
({0})
dass Herr Fromm heute überhaupt ausgesagt hat.
Interessant ist auch, wenn ich das so sagen darf, dass
Herr Ziercke gestern bei uns im Innenausschuss war und
ich heute lesen kann, dass er sagt: Wir haben versagt.
({1})
Ich weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem
Innenausschuss, wie es Ihnen dabei geht. Aber ich habe
den Eindruck, er nimmt den Innenausschuss nicht ernst;
denn davon war gestern nicht die Rede.
({2})
Ich glaube, dass wir so weder den zehn Toten noch der
großen Aufgabe, die die weitere Bekämpfung des
Rechtsextremismus für uns darstellt, gerecht werden.
Frau Kollegin?
Das hätten wir uns früher gewünscht. Herr Minister,
wenn Herr Fromm das, was geschehen ist, nicht ausreichend aufklären kann, dann erwarte ich von Ihnen, dass
Sie entsprechende Konsequenzen ziehen.
({0})
Der Kollege Ströbele würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?
Ja, bitte. Man kann ja nicht einmal 30 Sekunden reden, ohne dass er die Hand hebt; aber wenn er Spaß daran hat.
({0})
- Ja. Das begleitet mich von meiner ersten Rede im
Deutschen Bundestag bis heute. Mir würde sonst etwas
fehlen, Herr Kollege.
Frau Kollegin, ich habe mich gemeldet, weil Sie nicht
die Wahrheit gesagt haben.
({0})
Sie waren heute ja nicht im Untersuchungsausschuss und
können deshalb gar nicht wissen, wer dort als Zeuge vernommen worden ist. Herr Fromm war nicht anwesend.
({1})
Nach dem, was ich gehört habe, soll Herr Fromm an anderer Stelle eine Presseerklärung abgegeben haben.
({2})
Herr Fromm ist aber nicht der Urheber dieser Geschichte. Vielmehr hat er gestern oder vorgestern den
Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses darüber informiert, dass Akten geschreddert worden sein sollen,
({3})
und zwar Akten, die - das ist ganz wichtig - den „Thüringer Heimatschutz“ und dort eingesetzte V-Leute betreffen. Sieben Tage nachdem das Trio durch den Selbstmord aufgeflogen ist, sollen diese Akten geschreddert
worden sein. Das ist der entscheidende Zusammenhang,
der aufgeklärt werden muss. Denn es besteht der Verdacht, dass Akten vernichtet worden sind, in denen zuverlässige Informationen über die Tätigkeit von V-Leuten beim „Thüringer Heimatschutz“ und damit auch über
das NSU-Trio enthalten waren. Geben Sie mir da recht,
und korrigieren Sie insoweit den Anfang Ihrer Rede?
Herr Ströbele, was mich wundert, ist: Sie sind zwar
kein Lehrer,
({0})
meinen aber, wegen einer ansatzweisen Unklarheit die
Gelegenheit zu haben, zu reden. Ich gebe Ihnen recht:
Herr Fromm war heute nicht im Untersuchungsausschuss.
({1})
Aber dass er in den Ausschuss kommt, hat die FDP
durchgesetzt.
Ich möchte Ihnen im Zeitalter moderner Medien nur
eines mit auf den Weg geben: Niemand von uns muss
immer vor Ort sein, um zu wissen, was passiert. Das
habe ich von Ihnen gelernt. Sie machen uns das schließlich jeden Tag vor. Von daher kann auch ich davon Gebrauch machen.
({2})
Ich komme jetzt einfach einmal auf den aktuellen Tagesordnungspunkt zu sprechen: In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich Ihnen im Namen der FDPFraktion versprochen, dass am Ende des anstehenden
parlamentarischen Verfahrens vielleicht ein noch besseres Gesetz, aber auf keinen Fall ein Gesetz, das rechtsstaatliche Grundsätze nicht beachtet, stehen wird, dass
das Gesetz also verbessert wird. Heute beraten wir das
Ergebnis des parlamentarischen Verfahrens. Ich finde,
wir haben unser Versprechen gehalten. Denn das Gesetz
ist an einigen Stellen verbessert worden, mithilfe der
Union und auch mithilfe der SPD. Herzlichen Dank!
({3})
Die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat ergeben - nicht erst durch das, was heute passiert ist; das gilt
vermutlich auch für das, was dort nächste Woche geschehen wird, Herr Ströbele -, dass massive Fehler gemacht worden sind, Informationen nicht ausgetauscht
worden sind, Behörden nicht miteinander kommuniziert
haben. Ich glaube - da, Herr Kollege Hartmann, haben
Sie recht -, dies ist ein Baustein, allerdings ein wichtiger
Baustein, auf dem Weg zur Verbesserung der institutionalisierten Grundlage für den Informationsaustausch.
Ein wichtiger Punkt ist - ihn gilt es hier noch einmal
zu betonen -, dass in die Datei vorhandene Daten eingepflegt werden.
({4})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass sich der Zugriff
auf die vollständigen Datensätze nach wie vor nach den
für die Datenübermittlung zwischen den beteiligten Sicherheitsbehörden geltenden Vorschriften richtet.
({5})
Deshalb sind wir der Auffassung, dass das Trennungsgebot so gut wie vollständig gewährleistet ist. Es gibt nur
eine Ausnahme - auch das muss man als Liberale sagen
dürfen -: die sogenannte Eilfallregelung. Hier haben wir
noch Veränderungen vorgenommen und die Hürden erhöht. Es bedarf einer Vorabprüfung durch die abfragende
Behörde, ob eventuell Gründe gegen die Datenermittlung sprechen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich persönlich kann
noch immer nicht verstehen, dass es bei der Bekämpfung
von Extremismus gleich welcher Art eine Ruhezeit für
deutsche Behörden geben kann.
({6})
Ich würde mir wünschen, dass es anders ist. Wir mussten
aber lernen, dass es nicht so ist.
({7})
Meine dringende Aufforderung an alle Behörden lautet:
Sie können bei der Bekämpfung von Links- oder Rechtsextremismus oder Islamismus nicht um 12 Uhr freitagmittags die Türen zumachen.
({8})
Ein weiterer zentraler Punkt für unseren Rechtsstaat
ist, dass Personen, die selbst nicht als Verdächtige gelten, sondern vielmehr als Kontaktperson eine Rolle spielen könnten, besonderen Schutz verdienen; denn ein
Eintrag in eine solche Datei ist keine Lappalie. Wem so
etwas schon einmal passiert ist, der weiß, wovon ich
spreche. Deshalb mussten auch hier die Hürden besonders hoch sein.
Deswegen ist es für den Rechtsstaat gut, dass der
Kreis der in der Datei zu speichernden Kontaktpersonen
auf solche Personen begrenzt wurde, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für einen mehr als nur zufälligen oder
flüchtigen Kontakt in die rechte Szene bestehen. Herr
Hartmann, Herr Kollege Binninger, wir haben lange darüber gesprochen. Klar ist: Eine Zufallsbekanntschaft
reicht definitiv nicht aus. Ich glaube, das war auch in unser aller Sinne.
({9})
- Herr Kollege Wieland, natürlich ist etwas geändert
worden.
({10})
Schließlich wurde für den Zugriff auf Daten im Eilfall
sowie auf gesperrte Daten deutlich gemacht, dass solche
gravierenden Ausnahmen von den sonst rechtsstaatlich
aufgestellten Restriktionen nur dann rechtens sein können, wenn auf der anderen Seite eine ebenso gravierende
Gefahr für hochrangige Rechtsgüter besteht. Auch hier
haben wir nachgearbeitet. Die Auflistung der genannten
Rechtsgüter stellt das deutlich klar.
Der Umgang mit dem Freitextfeld ist hinsichtlich der
Bürgerrechte immer etwas schwierig; denn hier kann,
wie der Begriff schon sagt, eine Vielzahl eher unbestimmter Daten enthalten sein. Dem haben wir jetzt richtigerweise einen Riegel vorgeschoben. Alle Daten, die
im Freitextfeld landen können, müssen auf Tatsachen
basieren.
({11})
Ich glaube, das zeigt, dass hier keine vagen Vermutungen eingetragen werden dürfen.
Diese Änderungen haben wir unter anderem aus der
Anhörung im Innenausschuss mitgenommen. Deshalb
gilt hier auch einmal den Sachverständigen mein herzlicher Dank, die uns weitergeholfen haben.
Wir haben Ihnen heute auch noch einen Entschließungsantrag vorgelegt, weil es einen Wunsch des Bundesdatenschutzbeauftragten hinsichtlich der Kontrolle
der Daten, die dort auflaufen, gegeben hat. Wir leben allerdings in einem föderalen Staat. Das heißt, der Bundesdatenschutzbeauftragte kann die Daten der Länder nicht
kontrollieren. Da wir das hier im Deutschen Bundestag
nicht regeln können, aber der Auffassung sind, dass die
Datenschutzbeauftragten hierfür eine Lösung finden
sollten, haben wir Ihnen zu diesem Thema einen Entschließungsantrag vorgelegt und somit entsprechende
Konsequenzen aus der Anhörung gezogen.
Meine Damen und Herren, wenn die Datei zu einem
Baustein im Kampf gegen den Rechtsextremismus wird,
dann haben alle Menschen, die in einer freien, toleranten
und menschlichen Gesellschaft leben wollen, gewonnen.
Das wäre ein guter Beitrag dieses Bausteins.
Vielen Dank.
({12})
Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf soll laut Titel tatsächlich dazu dienen, die Bekämpfung des Rechtsextremismus zu verbessern. Der Kollege
Hartmann hat es schon gesagt: Wir halten das für Hochstapelei, weil dieser Gesetzentwurf nicht ansatzweise
dem gerecht wird, was eigentlich notwendig wäre. Wenn
durch diesen Gesetzentwurf nämlich tatsächlich der
Rechtsextremismus bekämpft würde, dann könnten Sie
sich sicher sein, dass die Linke diesen unterstützen
würde.
Doch dieser Gesetzentwurf - da wundere ich mich
doch sehr, Herr Innenminister - hat nur eine einzige
Maßnahme zum Inhalt, nämlich die Einrichtung einer
gemeinsamen Datei von Polizei und Geheimdiensten.
Der Nutzen dieser Datei erschließt sich uns bisher überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Wir haben die Befürchtung, dass das hehre Ziel, Rechtsextremisten zu bekämpfen, als Begründung für den weiteren Abbau von
Bürgerrechten herhalten und mit dieser Datei Missbrauch betrieben werden soll.
Es gibt diverse Gremien, zum Beispiel den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss und die Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wir sind der Meinung, dass erst einmal untersucht werden muss, worin das klägliche
Versagen der hiesigen Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung der Mordserie des sogenannten NSU bestand.
Erst danach können Konsequenzen gezogen werden.
Man darf ja nicht vergessen, dass diese Datei schon wenige Tage nach dem Bekanntwerden der Mordserie sozusagen aus der Schublade geholt wurde.
Wir gehen von einer großen Ignoranz aus. Das haben
wir gestern im Innenausschuss erlebt. Ich bin zwar nicht
Mitglied des Untersuchungsausschusses und kann daher
nicht allzu viel über die heutigen Vernehmungen sagen.
Fakt ist aber: Die Bundesregierung will mit dieser Datei
diejenigen stärken, die eigentlich auf dem Prüfstand stehen, nämlich die Sicherheitsbehörden. Schon die bisherigen Erkenntnisse zur Rolle des Verfassungsschutzes im
Zusammenhang mit dem Naziterrorismus belegen: Demokratisch nicht kontrollierbare Geheimdienste sind selber Teil des Problems.
({0})
Auch das ist schon eben hier gesagt worden. Wenn Akten geschreddert werden, dann muss das aufgeklärt werden. Es kann nicht sein, dass man diesen Behörden mehr
Rechte und mehr Kompetenzen gibt, weiterhin Daten zu
sammeln. Zunächst einmal muss aufgeklärt werden, was
passiert ist.
Jeder hat mitbekommen, dass sich aus der Mitte des
Heimatschutzes eine Terrorzelle gegründet hat, aber offensichtlich nicht der Verfassungsschutz. Wer diese Geheimdienste nun auch noch mit einer Verbunddatei
belohnen will, der hat wirklich überhaupt nichts verstanden.
Vorbild der neuen Datei ist die Antiterrordatei. Ich
will hier noch einmal ganz deutlich sagen: In einer Anhörung des Innenausschusses hat die Mehrheit der Sachverständigen eingefordert, dass erst einmal die gesetzlich vorgeschriebene Evaluierung dieser Datei vorgelegt
wird, bevor eine weitere Datei geschaffen wird. Auch
wir fordern, dass zunächst diese Antiterrordatei evaluiert
wird. Der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter
Schaar, hat sehr deutlich gemacht, dass zum Beispiel
seine Kontrollrechte eingeschränkt sind und dass er nicht
die notwendigen Informationen bekommt. Alle diese
Fragen sind noch offen. Daher darf dieser Gesetzentwurf
heute eigentlich nicht verabschiedet werden.
Herr Minister, ein weiterer Punkt, der uns sehr wichtig ist, ist folgender: Es geht hier - das haben Sie vor einigen Wochen gesagt und auch heute wieder - gar nicht
eindeutig um Rechtsextremismus, sondern Sie sprechen
immer nur von extremistischen Bereichen, von extremistischen Gruppen. Die Neonazi-Datei soll also den Weg
zu einer umfassenden Verbunddatei ebnen, die dann neben Naziterroristen auch Antifaschisten oder Kapitalismuskritiker umfasst. Das machen wir auf gar keinen Fall
mit.
({1})
Die Linke bleibt dabei: Der Kampf gegen Rechtsextremismus muss ein Kampf für und nicht gegen
Grundrechte sein.
({2})
Mit Antifaschismus hat der vorliegende Gesetzentwurf
nichts zu tun, mit einer weiteren Aufweichung der Verfassung umso mehr. Daher werden wir diesem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen.
Danke.
({3})
Wolfgang Wieland hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Friedrich, ich habe es hier schon einmal gesagt,
und es ist mir fast peinlich, es zu wiederholen:
({0})
- Hören Sie doch mal zu! - Ihr Umgang mit dieser NSUMordserie gefällt uns. Es gefällt uns, dass Sie sich nicht,
wie das sehr oft Minister machen, schützend vor irgendjemanden stellen, sondern dass Sie unzumutbare Dinge
beim Namen nennen. Zu der Aktenschredderung haben
Sie hier gesagt: Das muss aufgeklärt werden; das ist so
nicht akzeptabel. - Daher haben Sie uns hier ausdrückWolfgang Wieland
lich auf Ihrer Seite, auch was das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechts angeht. So weit zur Vorrede.
({1})
- Wartet doch mal ab!
Die Kollegin Piltz war nun nicht in dem Untersuchungsausschuss.
({2})
- Aber sie hat an einer Stelle gesagt, dass Herr Fromm
heute ausgesagt hat und dass die FDP um Herrn Fromm
als Zeugen gekämpft hat.
({3})
Nun vergesst das doch mal bitte. Alle wollten, dass Herr
Fromm als Zeuge kommt. Das war nur eine Frage des
Zeitpunkts. Er wird kommen, und er wird dazu Stellung
nehmen müssen.
Aber das, was Herr Ziercke heute zu seiner Verantwortung gesagt hat, liebe Frau Piltz, das war leider weniger als wenig. Nach dem abstrakten Satz „Wir haben
versagt“ folgte der Satz „Aber ich nicht!“. Dann kam die
völlig neue Behauptung, die gute Arbeit des BKA am
Katzentisch dieser BAO habe dazu geführt, dass die
Mordserie aufgehört habe, der Erfolg habe ihm recht gegeben.
({4})
Das war beschämend für Deutschlands obersten Kriminalisten.
({5})
Aber ich billige Ihnen die Gnade der Abwesenheit zu,
liebe Kollegin Piltz.
Nun zu dieser Datei. Wir als Grüne haben immer gesagt - das war bei der Antiterrordatei so, und das ist auch
hier so -: Man kann das im Prinzip machen. - Dann kam
das große Aber: Es muss eine Fundstellendatei sein. Sowohl Verfassungsschutz als auch Polizei müssen Herren
ihrer Daten bleiben. Es darf keinen Onlinezugriff und
keine Vermischung geben. Das gibt es aber im Eilfall
nach wie vor. Dafür sehen wir keinen Grund.
Nun sagen Sie: Der Eilfall ist nur einmal eingetreten.
Auch auf Nachfragen in den Berichterstattergesprächen
war das Bundesministerium nicht in der Lage, diesen
Fall zu schildern. Der BND soll diesen Fall durch einen
Wochenendschlaf ausgelöst haben. Der BND ist bei dieser Datei aber nicht mit dabei. Das heißt, ein Behördenversagen und ein Nichterreichbarsein nach Feierabend
oder am Wochenende dürfen nicht dazu führen, dass die
grundsätzliche Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten aufgehoben wird. Dieser Eilfall ist ein Sündenfall. Wir machen das nicht mit.
({6})
Wenn Sie jetzt behaupten, lieber Kollege Hartmann,
in den Berichterstattergesprächen sei diese Regelung
nun so verbessert worden, dass Sie zustimmen können,
dann kann ich dazu nur sagen: kleine kosmetische Verbesserungen. Die vielen Monita von Professor Poscher
und von anderen, die hier vorgetragen wurden und die
zum Teil sehr konkret und sehr gut ausformuliert waren,
wurden nicht aufgegriffen. Die Daten der Kontaktpersonen sind nicht so sicher, wie Sie es hier dargestellt haben. Die Gefahr, als Kontaktperson in diese Datei zu
kommen, ist nach wie vor viel zu hoch.
Deswegen haben wir gesagt: Man braucht die Evaluierung der Antiterrordatei. 15 Monate nehmen Sie sich
dafür Zeit. Sie lesen das Gesetz so, dass es nach fünf
Jahren zu evaluieren ist, dass man also erst nach fünf
Jahren mit der Evaluierung beginnt. Dann wird das aus
Kostengründen zeitlich gestreckt, sodass wir jetzt den
Missstand haben, eine neue Datei nach dem Vorbild einer alten Datei zu stricken, deren Evaluierung uns irgendwann im Herbst vorliegen wird. Das ist doch nicht
sinnvoll. Das ist dann doch keine ernstzunehmende Evaluierung.
({7})
Schließlich und endlich steht eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zu der Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der Wege aus, die man hier gehen
kann. Daten von Verfassungsschutz und Polizei zusammenzubringen, ist nicht banal. Das ist nicht vergleichbar
mit irgendwelchen anderen Datensammlungen, und das
haben auch alle Sachverständigen so gesagt. Nichts in
Richtung Mitteilungspflicht und in Richtung Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten ist in diesem Gesetzentwurf verbessert worden. Deswegen sagen wir
dazu Nein.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Clemens Binninger hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es war eine Verbrechensserie, die uns tief erschüttert hat,
die uns immer noch beschäftigt und die uns immer noch
fassungslos macht: 10 Morde, 2 Sprengstoffanschläge,
14 Banküberfälle sowie Sicherheitsbehörden, denen es
nicht gelingt, diese Fälle aufzuklären.
Infolgedessen hatten wir schon einige Male die Gelegenheit, hier über das Problem zu sprechen, das uns zu
beschäftigen hat, nämlich über den gewaltbereiten
Rechtsextremismus. Wir sind alle in der Pflicht, weil wir
alle es nicht erkannt haben: die Politik, die Gesellschaft,
die Medien und die Sicherheitsbehörden. Wenn von solchen Debatten wie der heutigen ein Signal ausgehen
sollte - ich hoffe, dass es parteiübergreifend akzeptiert
wird -, dann dieses: Für Extremismus ist in unserem
Land kein Platz, egal ob von rechts, von links oder religiös motiviert. Das muss das Zeichen sein, das wir von
solchen Debatten aussenden.
({0})
Sie haben völlig recht, Herr Kollege Hartmann: Der
Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ist ein Baustein. Ein Baustein ist etwas mehr als ein Mosaikstein,
aber es ist nur ein kleiner Teil dessen, was getan werden
muss. Ursachenforschung, Prävention und Stärkung der
Zivilgesellschaft: Das alles gehört mit dazu.
Aber der Teil, um den es heute geht, ist das, was wir
als Parlament unmittelbar machen können, nämlich ein
Gesetz zu beschließen, mit dem wir die Arbeit der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den Rechtsextremismus verbessern. Denn das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden hat natürlich angesichts des Umstands, dass es
nicht gelungen ist, diese vielen Verbrechen aufzuklären,
gelitten.
Ich will auch dem Bundesinnenminister etwas sagen.
Natürlich trägt das Schreddern von Akten durch das
Bundesamt für Verfassungsschutz, sieben Tage nachdem
das Trio aufgeflogen ist, nicht dazu bei, das Vertrauen zu
stärken. Im Gegenteil: Dabei besteht immer die Gefahr,
dass alle möglichen Verschwörungstheorien auf einmal
wieder breiten Raum bekommen.
({1})
Aber so, wie Sie heute Position bezogen haben, habe ich
großes Vertrauen in Sie, dass Sie diesen Fall sicherlich
rückhaltlos aufklären und wir relativ schnell über alles
Bescheid wissen, damit gar nicht erst der Eindruck entstehen kann, dass etwas unterdrückt wurde. Wenn das
doch der Fall war, dann muss das sicherlich gewisse
Konsequenzen haben.
({2})
Eine Konsequenz aus der Mordserie des NSU ist, dass
wir heute ein Gesetz beschließen, mit dem Polizei und
Nachrichtendienste im Bund und in den Ländern ihr
Wissen zusammenführen können. Wo liegt das Problem?
Das Problem in der Vergangenheit war, dass das Wissen
über gewaltbereite Rechtsextremisten auf 36 verschiedene Behörden von Bund und Ländern verteilt war und
dass Anfragen über Rechtsextremismus - das haben wir
im Untersuchungsausschuss gehört -, die die Polizei an
den Verfassungsschutz in Bayern gerichtet hat, teilweise
acht Monate Bearbeitungszeit in Anspruch genommen
haben. Das ist alles nicht hinnehmbar; es ist nicht akzeptabel.
Wir brauchen einen schnellen Informationsaustausch,
verbunden mit der Pflicht, dass die Behörden ihre Informationen entsprechend weitergeben. Genau das erreichen wir mit dieser Datei. Schnell und präzise einen Gesamtüberblick zu bekommen, das leistet diese Datei. Sie
setzt, glaube ich, auch an der richtigen Stelle an, wenn
man berücksichtigt, welche Personen in die Datei aufgenommen werden.
An die Adresse der Grünen muss ich bei aller Wertschätzung sagen, Kollege Wieland: Sie sind heute weit
unter Ihren Möglichkeiten geblieben bei dem Versuch,
krampfhaft einen Grund zu finden, warum die Grünen,
die sonst bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus
immer an erster Stelle sein wollen, hier kneifen. Bei einer entscheidenden Maßnahme für die Sicherheitsbehörden verweigern Sie sich, obwohl wir Gespräche angeboten und den Gesetzentwurf geändert haben. Sie haben
sich vom Acker gemacht und suchen heute banale
Gründe, um zu erklären, warum Sie dem Gesetzentwurf
nicht zustimmen. Das ist blamabel, und es ist ein falsches Signal, das die Grünen setzen. Das sage ich in aller
Deutlichkeit.
({3})
Möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen
Wieland zulassen, Herr Kollege?
Gerne und immer.
Bitte schön.
Herr Kollege Binninger, Sie sagten, wir hätten uns
vom Acker gemacht. Ich habe so lange an den Berichterstattergesprächen teilgenommen, bis ich zum Hammelsprung in diesen Saal gerufen wurde, noch nicht ahnend,
dass ich gar nicht hineingehen sollte.
({0})
Sie blieben sitzen, weil Sie meinten: Das ist nicht nötig;
da machen wir ein Pairing.
Werfen Sie mir also bitte nicht vor, dass ich ein
pflichtschuldiger Abgeordneter bin.
({1})
- Ich wusste doch nicht, worum es bei der Abstimmung
ging. Ich hörte das Klingelzeichen und verließ die Berichterstatterrunde. Wollen Sie mir das vorwerfen?
Nein.
({0})
Wenn ich an die Wortbeiträge der Grünen nach dem
4. November zurückdenke, stelle ich fest, dass sie damals nicht zu Scherzen aufgelegt waren. Ich glaube, das
Thema ist auch zu ernst, um darüber scherzhaft hinwegzugehen.
Im Gegensatz zur SPD, die dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmt - die SPD hatte Änderungswünsche,
die sie aufgrund unseres Entgegenkommens durchsetzen
konnte -, verweigern Sie sich heute. Diese Botschaft
bleibt.
({1})
Die Grünen fordern zwar gerne vollmundig bestimmte
Sachen ein. Wenn es aber konkret wird, suchen sie
krampfhaft nach Ausreden.
Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, die Kriterien für die Speicherung der Daten von Kontaktpersonen
seien noch immer zu weit gefasst, weil wir nichts Wesentliches geändert hätten. Ich empfehle Ihnen, sich den
Gesetzentwurf noch einmal genau anzuschauen. Eine
Kontaktperson muss - und das ist anhand von Tatsachen
zu überprüfen - Mitglied der Neonazi-Szene sein. Sie
darf nicht nur zufällig in engem Kontakt zu einem gewaltbereiten Neonazi stehen. Außerdem muss das Wissen der Kontaktperson geeignet sein, Verbrechen oder
Straftaten aufzuklären. Das sind die drei Voraussetzungen. Wenn Sie trotzdem behaupten, das sei zu weit gefasst, dann kann ich nur sagen: Da haben Sie Ihr Herz für
die völlig falschen Leute entdeckt. Diesen Vorwurf kann
ich Ihnen nicht ersparen.
({2})
Wir haben ein Gesetz vorgelegt, das die entscheidenden Mängel beseitigt. Diese haben darin bestanden, dass
das Wissen auf 36 Stellen verteilt war und dass es Monate gedauert hat, bevor man auf das Wissen zugreifen
konnte. Wir haben den richtigen Personenkreis definiert
und die Regelungen für den Eilfall noch einmal verschärft, um deutlich zu machen, dass das die absolute
Ausnahme ist, von der nur selten Gebrauch gemacht
werden sollte.
Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen, ist ein
wichtiger Baustein. Mit dem Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechts und der Einführung der neuen Datei sind die
ersten Schritte gemacht. Wir werden im Untersuchungsausschuss weitere Zeugenvernehmungen durchführen
und darauf achten, was noch zu ändern ist. Hier herrscht
ein großer parteiübergreifender Konsens.
Es ist schade, dass sich die Grünen heute diesem parteiübergreifenden Konsens verweigern. Von der Linken
habe ich nichts anderes erwartet. Aber Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, enttäuschen mich an
dieser Stelle maßlos. Drei Fraktionen in diesem Hause
wissen, was zu tun ist, und stimmen heute zu. Dafür
herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/10155, den Gesetzentwurf
auf Drucksachen 17/8672 und 17/8990 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung
durch Koalition und SPD angenommen. Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke waren dagegen. Enthaltungen gab
es keine.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/10161. Wer stimmt dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist bei Zustimmung durch die einbringen-
den Fraktionen angenommen. Die SPD hat sich enthal-
ten. Dagegen waren die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 a, b und c
auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck ({0}), Renate Künast, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Un-
gleichbehandlung eingetragener Lebenspart-
nerschaften gegenüber Ehen
- Drucksachen 17/4112, 17/8248 -
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Ekin Deligöz, Katja
Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des
Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts
- Drucksache 17/6343 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 17/9611 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Fraktion der SPD
Recht auf Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen
- Drucksachen 17/8155, 17/9611 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zu ihrer
Großen Anfrage einen Entschließungsantrag sowie zu
ihrem Gesetzentwurf einen Änderungsantrag eingebracht. Über den Entschließungsantrag und über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.
Vorgesehen ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obama
hat sich dafür ausgesprochen, Hollande will es, und auch
der Konservative Cameron kämpft in Großbritannien für
die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.
Heute ist der Tag, da sollten sich auch die Kanzlerin und
die schwarz-gelbe Koalition endlich ein Herz nehmen
und bekennen: Auch in Deutschland ist die Zeit reif für
schwule und lesbische Hochzeiten. Dafür geben wir Ihnen heute die Gelegenheit.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
kann Sie vielleicht nicht mit meinen Worten überzeugen,
aber vielleicht mit den Worten von Herrn Cameron, die
er auf dem Parteitag der Tories 2011 gesprochen hatte:
Konservative glauben an die Bindungen, die uns unterstützen. Die Gesellschaft ist stärker, wenn wir uns gegenseitig verpflichten und uns unterstützen. Ich unterstütze die Öffnung der Ehe nicht, obwohl ich ein
Konservativer bin, sondern weil ich ein Konservativer
bin. - Wenn Sie heute etwas für konservative Werte und
für den Fortschritt in der Gesellschaft tun wollen, dann
stimmen Sie unseren Vorlagen zu.
({1})
Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, der
Bundesaußenminister sagte zu dem Ausspruch von
Obama „It‘s okay to marry gay“ über die Öffnung der
Ehe: Das entspricht auch unserer deutschen Politik, die
wir als Regierung und mit großer Mehrheit auch im Bundestag verfolgen. - Davon habe ich nicht viel gemerkt.
({2})
Aber heute gibt es die Chance, die Worte des Bundesaußenministers wahr zu machen.
Es gibt eine Mehrheit von 60 Prozent in der Bevölkerung für die Öffnung der Ehe. Es gibt eine Mehrheit für
diese Forderung im Deutschen Bundestag. Vier Fraktionen können auf Beschlüsse von Parteitagen ihrer jeweiligen Partei verweisen, in denen die Öffnung der Ehe gefordert wird. Deshalb wäre es eine Schande für das
Haus, wenn es heute dafür keine Mehrheit bei der Abstimmung geben würde.
({3})
15 Staaten auf dieser Welt ermöglichen das Eingehen
von gleichgeschlechtlichen Ehen. 16 Staaten - einer
mehr, nämlich Israel - erkennen gleichgeschlechtliche
Ehen an. Ich meine, diese internationale Rechtsentwicklung ist auch einer der Gründe, warum wir heute sagen
können, dass die grundgesetzliche Auslegung durch das
Bundesverfassungsgericht so lauten wird: Es hat einen
Bedeutungswandel der Strukturprinzipien der Ehe - aufgrund der internationalen Rechtsentwicklung, aber auch
aufgrund der Haltung in der Bevölkerung, in der es eine
Mehrheit für diese Forderung gibt - gegeben. In der Alltagssprache der Bevölkerung wird, wenn Lebenspartner
aufs Standesamt gehen, schon längst davon gesprochen,
dass geheiratet wird. Es ist selbstverständlich nicht die
Rede davon, dass - dies ist deutsches Amtschinesisch eine Partnerschaft eingetragen wird. Die Menschen sind
da nahe an der Realität und wissen, dass gleiche Liebe
gleichen Respekt und deshalb auch gleiche Rechte verdient.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in seiner
Transsexuellen-Entscheidung dem Strukturprinzip der
Geschlechtsverschiedenheit der Ehe keine Bedeutung
mehr beigemessen, indem es den ersten gleichgeschlechtlichen Ehen den Weg bereitet hat. Es sagte nämlich: Man muss sich vor einer Geschlechtsumwandlung
nicht scheiden lassen. Eine Ehe muss nicht in eine Lebenspartnerschaft umgewandelt werden. Man bleibt verheiratet. Etwas anderes wäre im Hinblick auf den Schutz
von Ehe und Familie zerstörerisch.
Recht hat das Bundesverfassungsgericht. Wir haben
das im Transsexuellengesetz auch nachvollzogen. Deshalb haben Gesetzgeber und Verfassungsgericht die ersten gleichgeschlechtlichen Ehen - auch wenn es sich nur
um eine kleine Gruppe handelt - geschaffen. Die Geschlechtsverschiedenheit kann deshalb hier keine heilige
Kuh sein. Kommen Sie nicht mit der Monstranz der Verfassung. Die Verfassung verwirklicht sich in Gleichberechtigung und gleichem Respekt vor allen Bürgerinnen
und Bürgern.
({5})
Lassen Sie uns - wie wir es seit dem Ende der Regierungszeit von Rot-Grün hier eigentlich nur noch
Volker Beck ({6})
machen - nicht immer darauf warten, bis uns das Bundesverfassungsgericht zu den nächsten Gleichstellungsschritten verurteilt. Der Deutsche Bundestag ist nicht nur
Notar der Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Wir
sind Gesetzgeber und haben den Auftrag, die Zukunft
des Landes aktiv zu gestalten.
Herr Kollege.
Zum Schluss, meine Kolleginnen und Kollegen: Wir
wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen;
aber Sie haben heute eine Alternative. Sie können entweder unserem Gesetz zur Öffnung der Ehe zustimmen
- dann sind alle anderen Fragen in diesem Bereich gesetzgeberisch erledigt -, oder Sie stimmen unserem Antrag zu und beauftragen die Bundesregierung, bis zur
nächsten Sitzungswoche im September einen Gesetzentwurf vorzulegen,
Herr Kollege!
der alle Benachteiligungen der Lebenspartnerschaften
beseitigt. Wer zweimal mit Nein stimmt, der will den homosexuellen Bürgerinnen und Bürgern
Kollege Beck!
- den Respekt versagen.
({0})
Herr Kollege Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir achten alle Lebensentwürfe des respektvollen Zusammenlebens. CDU und CSU erkennen an, wenn Menschen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften füreinander einstehen und verlässlich Verantwortung und
Sorge füreinander übernehmen.
Kern unserer heutigen Debatte ist allerdings etwas
ganz anderes, nämlich der Vorstoß von SPD und Grünen,
das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit
der Ehe vollständig gleichzustellen. Das ist mit uns nicht
zu machen.
({0})
Die Grünen stellen mit ihrer Großen Anfrage die Verfassungsmäßigkeit einer Reihe von spezifischen bundesrechtlichen Regelungen infrage, die zwischen eingetragener Lebenspartnerschaft einerseits und Ehe
andererseits differenzieren. Fakt ist zunächst einmal,
dass Lebenspartner in vielen Fragen bereits heute nicht
anders als Ehegatten behandelt werden.
({1})
Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag verpflichtet,
gleichheitswidrige Benachteiligungen abzubauen. Entsprechende Änderungen sind bereits in Kraft getreten bei
der Erbschaftsteuer, bei der Schenkungsteuer, bei der
Grunderwerbsteuer und im öffentlichen Dienstrecht.
Dort, wo es geboten ist, sind wir auch weiterhin bereit, gesetzgeberisch tätig zu werden. Wir haben insbesondere auch die Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stets zügig umgesetzt.
({2})
Aber es gibt keinen Grund, bewährte Einrichtungen für
Eheleute, wie zum Beispiel das Ehegattensplitting, umzukrempeln. Hier gilt es, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das ja in dieser Sache angerufen
worden ist, abzuwarten.
({3})
Meine Damen und Herren, nach Vorstellung von SPD
und Grünen soll das Verständnis der Ehe als einer auf
Dauer angelegten Verbindung von Mann und Frau aufgehoben werden, und gleichgeschlechtliche Paare sollen
in jeder Hinsicht mit Ehegatten gleichgestellt werden.
Das würde bedeuten, dass das Institut der eingetragenen
Lebenspartnerschaft, das wir für gleichgeschlechtliche
Paare geschaffen haben, obsolet würde.
({4})
Ihre Begründung teilen wir nicht. Sie führen an, dass
es einen grundlegenden Wandel des traditionellen Eheverständnisses in unserer Gesellschaft geben würde.
Dazu hätten das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft, die Änderung des Transsexuellengesetzes von
2009, die geänderten Anschauungen in der Bevölkerung
ganz allgemein und die Rechtsordnungen - man höre
und staune - anderer Länder beigetragen.
({5})
Meine Damen und Herren, den Vergleich mit anderen
Ländern müssen Sie gar nicht erst bemühen; denn wenn
man sich einmal genauer anschaut, wie es in der Welt
um die Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren bestellt ist, dann zeigt sich, dass Deutschland hier bei
Gleichbehandlung und Toleranz mit an der Spitze steht.
({6})
Es unterliegt in Deutschland allerdings keinem Zweifel, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der
Formulierung von Art. 6 des Grundgesetzes den Begriff
der Ehe als dauerhafte Verbindung von Mann und Frau
verstanden haben. Sie haben das für so selbstverständlich gehalten, dass sie es nicht ausdrücklich in das
Grundgesetz hineingeschrieben haben.
Nun haben Sie über Jahre versucht, eine Uminterpretation zu erreichen, und in der Tat kann sich das Verfassungsrecht im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Es steht
Interpretationen grundsätzlich offen. Der Kernbereich
aber bleibt davon unberührt, und die Ehe gehört zu diesem Kernbereich. Sie kann nur mit einem Partner des jeweils anderen Geschlechts geschlossen werden;
({7})
denn ihr Wesensmerkmal ist gerade die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner.
Das hat das Bundesverfassungsgericht - ich bitte, dies
zur Kenntnis zu nehmen - in ständiger Rechtsprechung
immer wieder bekräftigt.
({8})
Es hat in seinem Grundsatzurteil zu eingetragenen Lebenspartnerschaften vom 17. Juli 2002 herausgestellt,
dass die eingetragene Lebenspartnerschaft eben keine
Ehe mit falschem Etikett ist, sondern ein Aliud zur Ehe,
also etwas anderes ist.
Auch in seiner Entscheidung zum Transsexuellengesetz vom 6. Dezember 2005 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass - ich zitiere - „zum Gehalt der
Ehe gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit
einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist“. Diese Interpretation hat das Bundesverfassungsgericht in Kenntnis der gesetzgeberischen Entscheidung zum Lebenspartnerschaftsgesetz bekräftigt,
das am 1. August 2001 in Kraft getreten ist. Die Ehe ist
also von Verfassungs wegen der Beziehung von Mann
und Frau vorbehalten, und deswegen scheidet eine Öffnung für gleichgeschlechtliche Partner für uns aus.
({9})
An dieser Einschätzung ändert auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Transsexuellenrecht vom 11. Januar 2011 nichts, auf die SPD
und Grüne in ihren Papieren Bezug nehmen. Das Bundesverfassungsgericht trifft dort keine abweichenden
Aussagen.
Meine Damen und Herren, die Motivation für Ihre
Initiativen liegt klar auf der Hand: Ihre Bemühungen waren seit langem, im Wege des Verfassungswandels zu erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht den Begriff
der Ehe uminterpretiert. Damit sind Sie gescheitert.
({10})
Jetzt versuchen Sie, das, was verfassungsrechtlich nicht
haltbar ist, auf dem Wege eines einfachen Gesetzes zu
beschließen. Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Lebenspartnerschaften mit der Ehe ist insofern ein untauglicher und auch ein etwas hilfloser Versuch, das Verfassungsinstitut der Ehe auszuhöhlen, und deswegen machen wir hier nicht mit.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für CDU
und CSU steht fest: Die Ehe bleibt die Verbindung von
Mann und Frau. Sie ist die Keimzelle der Familie. Sie
bedarf ungeachtet von gesellschaftlichem Wandel eines
besonderen Schutzes und der Förderung durch den Staat
und die Rechtsordnung,
({12})
so wie es - trotz aller Ihrer Zwischenrufe - sehr unzweideutig in Art. 6 des Grundgesetzes steht und vom Bundesverfassungsgericht in vielen Jahren interpretiert worden ist.
({13})
Das bedeutet allerdings nicht, dass wir andere Formen
des menschlichen Zusammenlebens geringschätzen. Wir
sehen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften eben
nur als etwas anderes an als die Ehe. Meines Erachtens
sprechen auch keine überzeugenden Argumente gegen
die Parallelität von Ehe auf der einen und gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften auf der anderen
Seite.
({14})
Dort, wo es Handlungsbedarf gibt, dort, wo gleichheitswidrige Benachteiligungen von Lebenspartnern abgebaut werden müssen, sind wir aufgeschlossen und diskussionsbereit.
({15})
Aber eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Partnerschaften oder eine vollständige Gleichstellung
mit der Ehe lehnen wir ab.
({16})
Meine Damen und Herren, ich hätte jetzt noch viereinhalb Minuten Redezeit. Aber ich finde, dass meine
Position in dieser Frage dermaßen klar ist,
({17})
dass ich darauf gern verzichte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Lieber Kollege, die Fußballfreunde werden für jede
Minute danken, die hier eingespart wird.
({0})
Als Nächste hat unsere Kollegin Frau Sonja Steffen
für die Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit 2001 ist
das sogenannte Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft. Das
Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft hat die Rechte
von Schwulen und Lesben erheblich gestärkt. Es hat
dazu beigetragen, dass diese Paare gesellschaftlich inzwischen viel besser akzeptiert werden. Wir haben mit
diesem Gesetz den Lebenspartnerschaften die gleiche finanzielle Verantwortung wie den Ehepaaren auferlegt.
Was bedeutet das in der Praxis? Wenn Tom und Peter
eine Lebenspartnerschaft eingehen, dann verpflichten sie
sich zum gegenseitigen Unterhalt. Sie gründen eine Zugewinngemeinschaft. Im Falle des Todes eines Lebenspartners erbt der andere wie ein Ehegatte. Trennt
sich Tom von Peter, so schuldet der Partner mit dem höheren Einkommen dem anderen Trennungsunterhalt und
gegebenenfalls auch sogenannten nachpartnerschaftlichen Unterhalt.
({0})
Auch Rentenanwartschaften werden nach der Aufhebung der Partnerschaft im Wege des Versorgungsausgleichs verteilt. Bis hierhin ist also alles gleich zwischen
Eheleuten und Lebenspartnern.
({1})
Schauen wir jetzt noch einmal genauer in die Lebenspartnerschaft von Tom und Peter, dann stellen wir
fest, dass die finanziellen Entlastungen, die die Ehe bietet, den Lebenspartnern nicht gewährt werden. Bei einem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von
60 000 Euro im Jahr beträgt der sogenannte Splittingvorteil für Ehepartner jährlich durchschnittlich 1 600 Euro.
Tom und Peter, unser schwules Paar, erhalten diesen
Vorteil nicht. Nun mag man über Sinn und Unsinn des
Ehegattensplittings streiten; das wird richtigerweise an
anderer Stelle getan. Wir stellen jedoch fest, dass die
derzeitige Ungleichbehandlung keine verfassungsrechtliche Grundlage hat.
({2})
Finanzminister Schäuble hat diese unterschiedliche
Behandlung 2010 in einem Interview wie folgt begründet:
Ein solcher Differenzierungsgrund ist beim Ehegattensplitting die Förderung der Ehe, insbesondere im
Hinblick auf ihre bleibende Bedeutung als typische
Grundlage der Familie mit Kindern.
({3})
Aber, Herr Minister Schäuble, vor allem meine Kolleginnen und Kollegen der Koalition, eine abstrakte Vermutung, dass Ehen typischerweise zur Gründung einer
Familie führen, reicht nicht aus, um auch kinderlosen
Ehepaaren diese Vergünstigung zukommen zu lassen,
die Lebenspartnern - da ist es egal, ob mit Kindern oder
ohne - nicht gewährt wird.
({4})
Damit bin ich bei einer weiteren Ungleichbehandlung, die das Adoptionsrecht betrifft. Nehmen wir einmal an, Petra und Paula gründen eine Lebenspartnerschaft und sie beschließen, ein Kind zu adoptieren. Hier
zeigt der Gesetzgeber eine seltsame Schizophrenie: Petra
und Paula werden vom Jugendamt als Paar geprüft, das
heißt, sie müssen sich gemeinsam beim Jugendamt vorstellen; aber das Kind kann nur von einem Teil des Paares adoptiert werden, allerdings auch wieder nur, wenn
der andere Partner seine Zustimmung zur Adoption erteilt.
({5})
Das adoptierte Kind ist also weder im Steuerrecht noch
im Erbrecht noch im Unterhaltsrecht das Kind beider Eltern. Hinzu kommen etliche Alltagsprobleme, und die
Familie lebt mit einem gewissen Risiko. Wenn die Adoptivmutter sterben sollte, müssen die Behörden die
schwierige Aufgabe lösen, die Zugehörigkeit des Kindes
festzustellen. Eine vernünftige und einleuchtende Begründung für diese Ungleichbehandlung der Adoptivkin22408
der von Lebenspartnern gibt es nicht. Das Wohl des Kindes wird jedenfalls nicht dadurch gefährdet, dass es
einen weiteren Vater oder eine weitere Mutter hat; das
behauptet mittlerweile eigentlich niemand mehr, bis auf
die Kollegen der CDU/CSU.
({6})
Meine Damen und Herren, in den elf Jahren seit Bestehen des Lebenspartnerschaftsgesetzes hat es zahlreiche rechtliche Angleichungen zwischen den Rechtsinstituten der Lebenspartnerschaft und der Ehe gegeben; wir
haben schon davon gehört. Zum großen Teil mussten wir
uns allerdings die Angleichungen vom Bundesverfassungsgericht nach erfolgreichen Klagen von Lebenspartnern Schritt für Schritt sozusagen ins Gesetz schreiben
lassen.
Die Diskriminierungen im Einkommensteuerrecht
und im Adoptionsrecht sind die letzten Unterschiede
zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe. Sie ergeben
praktisch keinen Sinn und sind auch rechtlich, möglicherweise sogar verfassungsrechtlich, nicht länger haltbar. Ein Minimum wäre die Gleichstellung von Ehe und
Lebenspartnerschaft, über die Sie heute entscheiden
können. Der wirklich logische Schritt ist aber die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Sonja Steffen. - Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Stephan Thomae. Bitte schön, Kollege Stephan Thomae.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Freiheit und Verantwortung - das ist die Maxime
der Freien Demokraten.
({0})
Für Liberale ist jede Lebensform allen Respektes wert,
in der Menschen Verantwortung füreinander übernehmen.
({1})
Wo gleiche Pflichten übernommen werden, da sollen
auch gleiche Rechte gelten.
Was die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften anbelangt, so haben wir im deutschen Recht den Weg der schrittweisen Annäherung und
Angleichung beschritten
({2})
und sind auf diesem Weg auch schon vergleichsweise
weit fortgeschritten. Es gibt durchaus noch offene
Punkte - das sei eingeräumt -, derer man sich nach und
nach annehmen muss.
Wenn man sich einmal ansieht, welche Punkte in dieser Legislaturperiode von uns erledigt worden sind, ist
das eine ganz beachtliche Liste: Mit dem Jahressteuergesetz 2010 sind Nachteile bei der Grunderwerbsteuer für
gleichgeschlechtliche Paare abgeschafft worden. Mit
dem Jahressteuergesetz 2012 und dem Erbschaftsteuerreformgesetz wurden Nachteile bei Erbschaft- und
Schenkungsteuer beseitigt. Mit Wirkung zum 1. Januar
2009 wurden Nachteile für Beamte, Richter und Soldaten beim öffentlichen Dienstrecht beseitigt. Auch beim
BAföG wurden Nachteile beseitigt.
({3})
- Herr Kollege Beck, es gibt aber durchaus noch offene
Punkte. Das räume ich ein. Beim Einkommensteuergesetz werden wir darauf hinarbeiten, dass die Versprechen, die gemacht wurden, auch eingelöst werden.
({4})
Beim Adoptionsrecht sehe ich ebenfalls keine Bedenken. Es müssen aber noch internationalrechtliche Dinge
geklärt werden. Deutschland hat ein europäisches Abkommen über die Adoption von Kindern unterzeichnet.
Das ist ein Abkommen aus dem Jahr 1967. Das Abkommen wird überarbeitet. Diese Dinge müssen gemacht
werden.
({5})
Es gibt Dutzende Einzelvorschriften, die ebenfalls angegangen werden müssen. Das BMJ hat ein Rechtsbereinigungsgesetz vorgelegt, in dem diese Punkte abgearbeitet werden.
Ich muss aber darauf hinweisen, dass verfassungsrechtliche Bedenken nicht nur eine Kleinigkeit sind.
({6})
- Es geht nicht darum, das wie eine Monstranz vor sich
herzutragen, Herr Kollege Beck. Wir nehmen das Verfassungsrecht ernst. Wir wollen durchaus darüber diskutieren, ob verfassungsändernde Vorschriften notwendig
sind, um eine Öffnung der Ehe vorzunehmen. Die Grünen haben bereits im Jahr 1995 einen Antrag zur Öffnung der Ehe vorgelegt, der in großen Teilen wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz auf Vorbehalte gestoßen
ist.
({7})
Deswegen wollen wir diese Diskussion zunächst führen,
um zu prüfen, ob das Verfassungsrecht Anpassungen benötigt, bevor wir - quasi aus der Hüfte geschossen - einfachgesetzliche Änderungen vornehmen.
({8})
Das ist unser Weg.
({9})
Wir wollen Respekt vor dem Grundgesetz zeigen und
wo nötig das Grundgesetz ändern. So weit ist die Diskussion bislang noch nicht. Es muss zunächst diese Diskussion geführt werden, bevor wir aus der Hüfte heraus
eine Änderung im BGB vornehmen.
({10})
Das ist der Grund, weshalb wir Ihrem Vorschlag heute
nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Barbara Höll.
Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.
({0})
Danke, Herr Präsident! Ich hoffe, dass die Qualität
der Reden Ihr Lächeln nicht richtig verbannt, sondern es
wiederkommt. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Silberhorn, ich hoffe für Sie, dass die Zeit und das Bundesverfassungsgericht Sie nicht völlig überholen und Sie
sich irgendwann wieder einkriegen. Die dänische Ministerpräsidentin hat heute auf Facebook geschrieben:
Jetzt erlauben wir homosexuellen Paaren die Ehe zu
den gleichen Bedingungen wie allen anderen. Ich
freue mich, dass die überwiegende Mehrheit im
Parlament diesen historischen Beschluss mitträgt.
({0})
Jetzt kann auch die kirchliche Trauung, die in Dänemark
eine Bedeutung entsprechend unserer standesamtlichen
Trauung hat, vollzogen werden.
Wir sitzen hier im Bundestag und sind damit dem
Grundgesetz verpflichtet. Wir sind auch dazu verpflichtet, das umzusetzen, was das Bundesverfassungsgericht
urteilt. Wir sind aber nicht verpflichtet, das umzusetzen,
was zum Beispiel der Papst sagt, der unter Ehe das Zusammenleben von Mann, Frau und Kind versteht. Wir
müssen der Lebensrealität Rechnung tragen.
({1})
Darüber bin ich froh. Die Initiative „Keine halben Sachen“ wurde auch von der FDP unterstützt und den Lesben und Schwulen in der CDU. Also: Sie sind doch in
Teilen schon so weit. Trauen Sie sich endlich, dem heute
zuzustimmen!
({2})
Wenn Sie sich nicht trauen, der Öffnung der Ehe zuzustimmen, dann stimmen Sie dem zweiten Antrag zu.
Worüber reden wir? Wir reden darüber, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass die Privilegierung eines Rechtsinstituts nicht die Diskriminierung
eines anderen Rechtsinstituts rechtfertigt. Wir haben
neue Urteile aus den Jahren 2009, 2010 und 2011. Das
kann man alles nachlesen. Diese Urteile geben sehr wohl
die klare Auskunft, dass eine Gleichbehandlung notwendig ist.
Wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder sagen wir
ganz schnell und elegant: Wir öffnen die Ehe für alle
Menschen. Im Übrigen finde ich, dass wir uns nicht auf
lesbische und schwule Paare beschränken sollten. Es
gibt nämlich immer noch das Problem von intersexuellen Menschen in einer festen Beziehung, die sich vielleicht auch rechtlich binden möchten.
({3})
Auf diese Weise könnten wir in einem Schritt vorgehen,
dann bräuchten wir nicht sämtliche Einzelgesetze zu ändern.
Oder aber wir verfolgen weiterhin die Tippeltappeltour. Auf der Tippeltappeltour sind wir mit viel Kampfeswillen und durch etliche Gerichtsurteile schon relativ
weit gekommen. Wesentliche Punkte bleiben dabei jedoch offen, zum Beispiel das Recht auf künstliche Befruchtung für lesbische Paare oder - ganz wesentlich das Adoptionsrecht. Hierzu wurde schon einiges ausgeführt.
Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Frage des Ehegattensplittings. Hierzu sei klipp und klar gesagt: Das
Ehegattensplitting kostet uns als Gesellschaft pro Jahr
fast 20 Milliarden Euro. Davon geht ein Großteil an Ehepaare ohne Kinder bzw. Ehepaare, in deren Haushalt
keine Kinder mehr leben, weil sie inzwischen zu Hause
ausgezogen sind. 9 Prozent der veranlagten Ehepaare
sind kinderlos.
Von den in Deutschland lebenden 13 Millionen Kindern wachsen 17 Prozent bei Alleinerziehenden auf.
Diese Kinder gehören gefördert und nicht das Ehegattensplitting nach dem Gießkannenprinzip.
({4})
Die ursprüngliche Zielstellung ist völlig aus dem Blick
geraten und wird überhaupt nicht mehr verfolgt.
({5})
Wenn wir jetzt den Weg „Gleiches Steuerrecht für
alle“ - also für die eingetragene Lebenspartnerschaft genauso wie für die Ehe - gehen wollen, kostet uns das
sage und schreibe 30 Millionen Euro gegenüber 20 Millionen Euro,
({6})
auf die wir jedes Jahr verzichten, unter anderem auch
durch den Unterhalt für Geschiedene - das betrifft dann
die gescheiterten Ehen -, weil der auch noch steuerlich
geltend gemacht werden kann. Das muss einmal gesagt
werden.
({7})
Wir werden beiden Anträgen zustimmen. Sie haben
heute die zweite Chance, der Eheöffnung zuzustimmen;
denn wir hatten vor einem Jahr bereits einen entsprechenden Antrag eingebracht. Nicht alle Mitglieder meiner Fraktion werden den Anträgen zustimmen, weil sie
berechtigterweise befürchten, dass die Öffnung der Ehe
möglicherweise dazu führen kann, dass Menschen wie
Sie, Herr Silberhorn, das Ganze als Zementierung interpretieren und meinen, dass darüber hinaus nichts weiter
geändert werden müsste.
Wir müssen aber etwas ändern. Wir als Linke sind der
Meinung, dass die Gleichheit vor dem Gesetz gilt. So
steht es auch in Art. 3 Grundgesetz. Deshalb fordern wir
jetzt die unmittelbare Gleichstellung oder Öffnung der
Ehe. Danach müssen wir jedoch zielgerichtet darangehen, die Bereiche Leben mit Kindern und Pflege zu fördern. Deshalb werden wir auch weiterhin dafür streiten,
dass das Ehegattensplitting abgeschafft wird und wir
endlich ein modernes Steuer- und Sozialrecht bekommen, das auf das Individuum abzielt und nicht auf eine
Institution.
Danke.
({8})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Michael Kauch. Bitte
schön, Kollege Michael Kauch.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP
tritt für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare ein.
({0})
Viele unserer Abgeordneten haben deshalb auf die Frage
von ColognePride, ob wir für die Öffnung der Ehe sind,
mit Ja geantwortet.
({1})
Ich sage aber auch sehr deutlich: Wir sind nicht gefragt worden, ob wir diesem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Der ist leider, das muss man sehr deutlich sagen, schlampig formuliert worden.
({2})
Ein Hinweis, wie schlampig er formuliert worden ist,
zeigt sich darin, dass die Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen heute mit einem nachgereichten Änderungsantrag versucht, den größten Klopper in ihrem Gesetzentwurf zu heilen, nämlich die Inkrafttretensregelung.
In jedes Gesetz schreibt man normalerweise: Es tritt
in Kraft mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt.
Was hat Bündnis 90/Die Grünen gemacht? Man hat fixe
Daten hineingeschrieben, die längst abgelaufen waren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Volker Beck?
({0})
Nein.
Nein, er gestattet es nicht, Kollege Volker Beck.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie haben hier nicht ordentlich gearbeitet. Mit Ihrem Gesetzentwurf hätten Sie
bestehende Lebenspartnerschaften gefährdet. Im Übrigen haben Sie die Verfassungsprüfung nicht ordentlich
durchgeführt.
Ich werde abweichend von meiner Fraktion stimmen;
aber ich werde nicht diesem Gesetzentwurf zustimmen,
weil er eben verfassungsrechtlich nicht ordentlich abgeprüft ist. Ich werde dem Entschließungsantrag zustimmen, damit die Bundesregierung einen ordentlichen Gesetzentwurf hierzu vorlegt; die Grünen sind dazu
offenkundig nicht in der Lage.
({0})
Es ist verfassungsrechtlich geboten, gleichgeschlechtliche Paare den Ehegatten vollständig gleichzustellen.
Wer die gleichen Unterhalts- und Einstandspflichten wie
Ehegatten hat, der muss endlich auch im Steuerrecht, wo
genau diese Dinge reflektiert werden, die gleichen
Rechte bekommen.
({1})
Das steht übrigens auch im Koalitionsvertrag. Meine
Damen und Herren von der Union, es wird Zeit, dass
sich nicht nur die FDP an den Koalitionsvertrag hält,
zum Beispiel beim Betreuungsgeld, sondern dass auch
die Union an den Punkten, die ihr nicht gefallen, den
Koalitionsvertrag eins zu eins umsetzt.
({2})
Die Schaufensterpolitik, die Bündnis 90/Die Grünen
heute mit ihren Anträgen machen, geht an der Realität
des Parlaments vorbei. Man kann als Koalitionspartner
nicht einfach so mit wechselnden Mehrheiten stimmen.
({3})
Die Grünen haben 2005 gegen das Adoptionsrecht für
Schwule und Lesben gestimmt, weil die SPD es nicht
wollte. Beim Afghanistan-Einsatz hat man bei den Grünen sogar ausgelost, wer noch mit Nein stimmen kann,
ohne die Regierung zu gefährden.
({4})
Deshalb brauchen wir von den Grünen keine Nachhilfe
in Sachen aufrechter Politik.
({5})
Wir Liberale haben in dieser Wahlperiode gezeigt, dass
wir die Rechte von Lesben und Schwulen auch in einer
Koalition mit der Union deutlicher voranbringen, als es
die SPD in der letzten Wahlperiode geschafft hat. Das ist
unsere Leistung. Auf diesem Weg werden wir weitergehen.
Vielen Dank.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort zu einer
Kurzintervention hat unser Kollege Volker Beck. Bitte
schön, Kollege Volker Beck.
Ich nehme die Redezeit von Herrn Silberhorn.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauch, Sie
sind in keiner beneidenswerten Situation. Sagen Sie
doch einfach trotzdem klipp und klar: Mit Schwarz-Gelb
wird es keine Gleichstellung der homosexuellen Partnerschaften geben. Wenn das so ist, dann muss SchwarzGelb halt weg.
({1})
Sie beziehen sich auf die angeblichen handwerklichen
Mängel des Gesetzentwurfs, dabei hat er gar keinen
Mangel, er lag einfach nur länger im Ausschuss. Dort
konnten wir ihn aber nicht ändern, weil uns dazu die
Mehrheit fehlt. Das wäre Ihre Aufgabe gewesen. Deshalb können wir heute hier - wo wir es können, wenn
wir durch Ihre Stimmen die Mehrheit bekommen - Folgendes regeln: In dem Gesetzentwurf, den wir in der ersten Hälfte des Jahres 2011 eingebracht haben, wird das
Datum für das Inkrafttreten geändert werden. Es soll nun
der 1. Januar 2013 gelten. Die Regelung für das Abschließen von Lebenspartnerschaften endet an dem Tag,
an dem das Gesetz in Kraft tritt. Das ist logisch und
zwingend. Ersparen Sie sich solche Nickeligkeiten. Lassen Sie uns über die Sache streiten, damit wir diesen
Haufen aus der Blockadeposition bekommen.
({2})
Es geht um eine gesellschaftspolitische Frage. Wir müssen uns doch nicht hier im Klein-Klein verlieren. Eins ist
klar - das hat Herr Silberhorn frank und frei bekannt -:
Solange CDU/CSU an der Regierung sind, wird es keine
Gleichstellung geben. Deshalb müssen wir dafür sorgen,
dass Schwarz-Gelb nicht länger eine Mehrheit in diesem
Hause hat.
({3})
Lieber Kollege Volker Beck, wir sind in diesem
Hause sicherlich gemeinsam der Meinung, dass eine
Fraktion oder Mitglieder einer Fraktion kein „Haufen“
sind, sondern die Mitglieder einer demokratisch gewählten Fraktion.
({0})
Kollege Michael Kauch, Sie haben die Möglichkeit
zur Antwort.
Lieber Kollege Beck, der Präsident hat es mir vorweggenommen: Auch in einer solch emotionalen Debatte muss man nicht nur die Form wahren, sondern man
ist dem Andersdenkenden auch Respekt schuldig. Ich
glaube, das ist in diesem Haus ganz wichtig.
({0})
Ich frage mich schon, warum Ihnen heute anderthalb
Stunden vor der Debatte eingefallen ist, dass man Ihren
Gesetzentwurf abändern muss. Im Rechtsausschuss ha22412
ben Sie, wie mir gerade versichert wurde, keinen entsprechenden Antrag gestellt. Das mag daran liegen, dass
der rechtspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen diesem Gesetzentwurf im Rechtsausschuss nicht zugestimmt hat, weil er die verfassungsrechtliche Prüfung
dieses Gesetzentwurfs offenkundig für unzureichend
hält. Das ist möglicherweise der wahre Grund für die
Behandlung im Rechtsausschuss durch Bündnis 90/Die
Grünen.
({1})
Inhaltlich bin ich ja ganz bei Ihnen. Auch meine Fraktion ist inhaltlich bei Ihnen. Wir wollen die Öffnung der
Ehe. Wir müssen aber seriös prüfen, ob das einfachgesetzlich geht, wie Sie das hier vorschlagen. Das ist nicht
offenkundig verfassungswidrig, aber die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gibt Hinweise darauf,
dass man möglicherweise eine Verfassungsänderung
braucht.
({2})
Wir sind eine Verfassungspartei. Uns ist das Grundgesetz nicht egal. Deswegen finde ich, dass wir in dieser
Frage weiteren juristischen Sachverstand einholen müssen. Wir sind bereit, das in der nächsten Zeit zu tun.
Entscheidend ist, dass die Menschen in dieser Wahlperiode das erhalten, was sie jetzt wirklich verlangen
müssen, nämlich gleiche Rechte und gleiche Pflichten
hinsichtlich der Einkommensteuer. Das ist geboten, und
das ist vereinbart.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie für den
letzten Redner unserer Aussprache, für unseren Kollegen Johannes Kahrs, um Aufmerksamkeit bitten. - Bitte
schön, Kollege Johannes Kahrs.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben hier heute eine Debatte erlebt, in
der man nachdenklich werden konnte. Ich glaube, ein
Großteil dieses Hauses ist der Meinung, dass man den
Anträgen von SPD und Grünen zustimmen kann. Ich
glaube, dass diese Anträge richtig sind.
Auch wir haben in der Vergangenheit mal gesagt, dass
man schauen muss, wie das Bundesverfassungsgericht
dazu steht, zum Beispiel in der Zeit von Rot-Grün, als
wir das Lebenspartnerschaftsgesetz beschlossen haben.
An dieser Stelle möchte ich mich besonders herzlich bei
Margot von Renesse bedanken, die das damals mit sehr
viel Elan und Leidenschaft vorangetrieben hat. Das
kann, das muss man an dieser Stelle einmal sagen.
({0})
Damals haben wir gesagt: „Wir trennen Rechte und
Pflichten und machen das in zwei Teilen“, weil wir sehr
viel Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht hatten.
Wir haben uns aber geirrt. Wir haben festgestellt, dass
das Bundesverfassungsgericht weiter war als der Deutsche Bundestag. Es war weiter, als wir uns das vorstellen
konnten. Das Problem in diesem Zusammenhang ist,
dass gleiche Pflichten nicht gleiche Rechte hervorrufen.
Ich glaube, dass wir die gesellschaftliche Realität in unserem Land nicht nachvollziehen, und das ist das Problem von CDU/CSU und von niemand anderem in diesem Haus.
({1})
Der Kollege Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktion
hat hier erklärt, dass mit Ihnen eine Öffnung der Ehe, das
heißt eine Gleichstellung, nicht zu machen ist.
({2})
Nach ihm besteht die Leistung darin, das, was das Bundesverfassungsgericht gerade erlaubt hat, umzusetzen.
Ehrlich gesagt: Das ist peinlich. Wir sind Gesetzgeber
und nicht Nachvollzieher.
({3})
Das ist etwas, was die CDU/CSU endlich einmal kapieren muss.
Als wir damals hier über die Gesetzentwürfe von RotGrün zur gleichgeschlechtlichen Ehe diskutiert haben,
gab es aufseiten der CDU/CSU jede Menge Bedenken.
Seitdem ist zwar vieles passiert, aber von dem, was die
CDU/CSU befürchtet hat, ist nichts eingetreten.
({4})
Wir alle haben gemerkt, dass es in diesem Land positive
Reaktionen gegeben hat. Wenn ich an die Reden des
Kollegen Geis denke,
({5})
an all das, was er uns hier zugemutet hat, muss ich feststellen: Die Menschen in diesem Land sind deutlich weiter als CDU und CSU.
({6})
Dass der Kollege Silberhorn seine Redezeit nicht einmal zur Hälfte ausgeschöpft hat, ist verständlich. Er hat
halt keine Argumente gehabt.
({7})
Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Diskussion in
der CDU/CSU-Fraktion verlaufen ist, als man zu diesem
Tagesordnungspunkt einen Redner finden musste.
({8})
Sehr viele werden sich zurückgelehnt haben. Keiner
wollte reden. Dann wird man nach jemandem gesucht
und sich gedacht haben: Mit einem sicheren Wahlkreis
in Bayern kommt man mit so etwas noch um die Kurve.
Ich glaube aber, bezogen auf ganz Deutschland gilt das
nicht mehr. Man muss sogar in der CDU/CSU-Fraktion
sehr lange suchen, um einen Redner zu finden, der in
diesem Hohen Hause so einen Unsinn vorträgt.
({9})
Das CSD-Komitee Köln hat eine Umfrage gemacht,
die zeigt, dass es selbst CDU/CSU-Kollegen gibt, die
diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen; sie stehen
dazu. Auch wenn man es aus tiefstem innerstem Herzen
nicht will, Herr Kauder, wäre es trotzdem schön, wenn
man sich einen Ruck gäbe und über seine ideologische
Barriere springen würde.
({10})
Es geht dabei um Menschen wie mich - ich lebe seit
18 Jahren mit meinem Freund zusammen -, die sich
solch eine Eheschließung vorstellen können.
({11})
- Ja, aber dann muss man auch gleiche Rechte haben.
({12})
Herr Kauder: „Machen Sie es doch!“, ist schön gesagt, aber dann sollten wir hier auch gleiche Pflichten
und gleiche Rechte fordern. Ich dachte immer, gerade
bei den Konservativen würde darauf Wert gelegt, dass
man zueinander hält und dass man Dinge gemeinsam
macht. Ich persönlich bin sehr enttäuscht. Ich glaube,
dass Sie sich in den nächsten Jahren entwickeln müssen.
Keine Großstadtpartei wird sich so eine Einstellung
lange leisten können; dies geht vielleicht in Bayern, vielleicht in einem ländlichen Wahlkreis. Deswegen sollten
Sie zweimal mit Ja, zweimal für gleiche Rechte und gleiche Pflichten, stimmen.
Vielen Dank.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
({0})
Mir liegen eine Reihe von Erklärungen nach § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/10133 zu ihrer Großen Anfrage. Wir
stimmen nun über den Entschließungsantrag auf Verlan-
gen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir gleich im An-
schluss noch eine weitere namentliche Abstimmung
durchführen werden.
Nun bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Darf ich
nachfragen, ob an irgendeiner Urne noch die entspre-
chenden Schriftführer fehlen? - Das ist nicht der Fall. Es
sind also alle Urnen besetzt.
Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das in der
ersten namentlichen Abstimmung seine Stimme nicht
abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die
Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.2)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich zur
nächsten Abstimmung komme, weise ich darauf hin,
dass wir unmittelbar nach dieser namentlichen Abstim-
mung weitere Abstimmungen zu diesem Tagesordnungs-
punkt haben.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur
Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen
gleichen Geschlechts. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9611, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6343 abzu-
lehnen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstim-
men.
Darf ich Sicht zu den einzelnen Geschäftsführern ha-
ben, damit ich weiß, wie sich die Fraktionen positionie-
ren? - Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 17/10185? - Das sind die Fraktionen des
Bündnisses 90/Die Grünen, der Sozialdemokraten und
der Linken. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Ich frage nach den Enthaltungen! - Eine
Stimmenthaltung. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlich
ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Alle stehen bereit,
alle Urnen sind besetzt. Somit eröffne ich die zweite na-
mentliche Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
1) Anlagen 2 bis 10
2) Ergebnis Seite 22416 C
Vizepräsident Eduard Oswald
lung zu beginnen. Die Ergebnisse der namentlichen Ab-
stimmung werden Ihnen später bekannt gegeben1).
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Auf-
merksamkeit.
Tagesordnungspunkt 11 c. Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der So-
zialdemokraten mit dem Titel „Recht auf Eheschließung
auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9611, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8155 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind
die Sozialdemokraten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Linksfraktion sowie zwei Gegenstimmen
von der FDP. Enthaltungen? - Keine. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 12 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
- Drucksache 17/9341 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 17/10156 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für gute Arzneimittelversorgung Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen
- Drucksachen 17/9556, 17/10156 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Sie alle
sind damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin
Frau Kollegin Ulrike Flach. Bitte schön, Frau Kollegin
Ulrike Flach.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften enthält
im Wesentlichen Änderungen im Arzneimittelgesetz,
veranlasst durch ein neues EU-Recht, und darüber hinaus weitere wichtige Änderungen in anderen Gesetzen,
insbesondere im Fünften Buch Sozialgesetzbuch.
Hauptanliegen der Regelungen im Arzneimittelgesetz
sind die Stärkung der Arzneimittelsicherheit und der
Schutz vor gefälschten Arzneimitteln. Zur Stärkung der
Arzneimittelsicherheit wurden die Überprüfungsmöglichkeiten für Zulassungsbehörden erweitert, das Meldeverfahren bei Nebenwirkungen gestrafft und mehr
Transparenz im Hinblick auf zugelassene Arzneimittel
geschaffen. Gefälschte Arzneimittel stellen auch in Europa ein wachsendes Problem dar. Mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen gehen wir die Bekämpfung dieses Problems aktiv an.
Von den Änderungen in den anderen Gesetzen möchte
ich die folgenden besonders hervorheben:
Im SGB V befassen wir uns vor allem mit der Verbesserung der Betäubungsmittelversorgung ambulanter Palliativpatienten und greifen damit zentrale Forderungen
von Hospiz- und Palliativverbänden auf.
({0})
Um eine absehbare palliativmedizinische Krisensitua-
tion zu überbrücken, kann der Arzt Schwerstkranken
künftig ein Betäubungsmittel ausnahmsweise überlas-
sen, wenn die Besorgung des Medikaments aus der Apo-
theke nicht rechtzeitig möglich ist. Damit verbessern wir
übrigens in einem weiteren Schritt die Situation
schwerstkranker Patienten in Deutschland.
Mit dem AMNOG wurde die frühe Nutzenbewertung
als lernendes System eingeführt. Mit diesem Gesetz wer-
den nun aufgrund der ersten Erfahrungen einige Anpas-
sungen vorgenommen.
So können pharmazeutische Unternehmer für eine
Übergangszeit unvollständige Nutzendossiers nachbes-
sern und jederzeit eine neue Nutzenbewertung beim G-BA
beantragen. Außerdem soll der G-BA bei Beratungen
des pharmazeutischen Unternehmens zur Planung von
Studien die Zulassungsbehörden beteiligen. Darüber hi-
naus wird durch eine Vorschrift zur Ländergewichtung
die bestehende Regelung über die Berücksichtigung der
Arzneimittelpreise in anderen europäischen Ländern
konkretisiert.
Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle
ganz ausdrücklich sagen: Wir haben uns natürlich auch
mit dem Thema Vertraulichkeit befasst. Ein Erfolg unse-
rer Bemühungen ist: Die Erstattungspreise für neue Arz-
neimittel, die ausgehandelt wurden, bleiben weiter öf-
fentlich. Wir sehen bisher ein ausgewogenes Handeln,
behalten die Entwicklung aber gerade auch im Hinblick
auf die zurzeit laufenden Verhandlungen sehr genau im
Auge.
In Zukunft können Apotheken und Krankenkassen
gemeinsam den Austausch bestimmter Arzneimittel in
der Apotheke verbieten, und ebenso können sie sich in
Zukunft darauf verlassen, dass kein Arzt wegen verord-
neter Arzneimittel in Regress genommen werden kann, 1) Ergebnis Seite 22418 D
wenn er nicht zuvor beraten worden ist. Weil es immer
wieder Fragen danach gibt, will ich das an dieser Stelle
ausdrücklich sagen: Das gilt auch für Prüfverfahren, die
Ende 2011 noch nicht abgeschlossen waren.
({1})
Wir halten damit am Kurs des AMNOG fest. Das
heißt, die Erreichung des Ziels der Sicherung des Innovationsstandorts Deutschland bei gleichzeitig bester Versorgung der Patienten zu bezahlbaren Preisen bleibt gewahrt, und darauf sind wir stolz.
Ich will an dieser Stelle kurz noch Folgendes zu den
Linken sagen - die Zeit ist knapp -: Das Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln stößt auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Wir wollen eben keinen ungerechtfertigten Eingriff
in die grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfreiheit. Wir haben aber etwas getan, was es vorher in
Deutschland nicht gegeben hat: Zur Herstellung gleicher
Wettbewerbsbedingungen für Versandapotheken ist im
vorliegenden Gesetzentwurf die Klarstellung vorgesehen, dass die deutsche Arzneimittelpreisverordnung
auch für den Versandhandel aus dem Ausland nach
Deutschland gilt. Das heißt, gleiches Recht für alle! Das
ist uns so viel wert, dass wir das extra mit in diesen Gesetzentwurf hineingeschrieben haben.
({2})
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben auf
diese Art und Weise im Arzneimittelbereich vieles noch
besser gestalten können, als es in diesem Lande sowieso
schon ist. Ich bitte sehr um Ihre Unterstützung und freue
mich auf eine angeregte Diskussion.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Marlies Volkmer. Bitte
schön, Frau Kollegin Volkmer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Flach, die
Bundesregierung kann froh darüber sein, dass die Koalition noch so viele Änderungsanträge eingebracht hat,
unter anderem die zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes; denn diese Änderungen sind vernünftig, und
diesen Änderungen haben wir als SPD im Gesundheitsausschuss auch zugestimmt.
Kern dieser Änderungen ist, dass sich schwerstkranke
Patientinnen und Patienten mit starken Schmerzen, die
zu Hause versorgt werden, darauf verlassen können müssen, dass sie bedarfsgerecht mit Schmerzmitteln versorgt
werden. Das ist vernünftig. Das halten wir für richtig.
({0})
Erfolgreich hat sich unsere SPD-Fraktion gegen die
Pläne der Pharmaindustrie und der Union gestellt, künftig die Preise von neuen Arzneimitteln zu verheimlichen.
Die Koalition hat richtigerweise auf einen solchen Antrag verzichtet, obwohl die Union die Erwartung bei
Lobbyisten durchaus geweckt hatte. Es ist gut, dass ein
solcher Antrag nicht gekommen ist, denn es ist notwendig, dass die Öffentlichkeit weiterhin erfährt, auf welchen Preis sich die Krankenkassen mit den Pharmaunternehmen geeinigt haben. Wir brauchen im Gesundheitswesen nicht weniger, sondern mehr Transparenz.
({1})
Das war das Positive, aber es gibt auch Negatives.
({2})
Dieser Gesetzentwurf hat nach wie vor viele Mängel.
Herr Zöller, Sie wissen schon, was jetzt kommt. Bei der
Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht sind
Regelungen hineingekommen, die nicht im Interesse von
Verbraucherinnen und Verbrauchern, Patientinnen und
Patienten sind. Sie haben zum Beispiel nicht dafür gesorgt, dass alle Arzneimittel nach den Maßgaben der geltenden UN-Behindertenrechtskonvention gekennzeichnet werden müssen. Es ist zum Beispiel nach wie vor
nicht Pflicht, Augentropfen und Sicherheitsmerkmale
auf Medikamentenpackungen für blinde und sehbehinderte Menschen ertastbar zu machen.
Sie haben in diesem Gesetzentwurf Regelungen getroffen, die wir rundheraus ablehnen. Das sind an erster
Stelle Lockerungen im Heilmittelwerbegesetz. Ich sage
Ihnen dies auch als Ärztin: Wir brauchen nicht mehr verkaufsfördernde Angebote für Arzneimittel, sondern
mehr objektive und verständliche Informationen für Patientinnen und Patienten.
({3})
Sie wollen jedoch erlauben, dass mit Gutachten geworben werden kann. Sie tun allerdings nichts, um die
Verbraucherinnen und Verbraucher vor manipulativen
Aussagen zu schützen. Es ist doch vorherzusehen: Es
wird mit positiven Gutachten geworben, und die negativen Gutachten werden in der Schublade verschwinden.
Dieser Art Rosinenpickerei wird durch diesen Gesetzentwurf Tür und Tor geöffnet.
Durch die jetzt mögliche Nutzung von einseitigen
Gutachten, Krankengeschichten und Berichten von Patientenschicksalen zu Werbezwecken wird bei Patientinnen und Patienten ein völlig verzerrtes Bild vom Nutzen
von Medikamenten erzeugt. Das kann nicht nur zu Fehlentscheidungen führen, sondern auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gefährden, nämlich
dann, wenn die Aussagen des behandelnden Arztes im
krassen Gegensatz zu dem stehen, was sich der Patient in
den zum Teil sehr suggestiven Darstellungen der Werbung angelesen hat. Bei den Kranken kann dann die Ver22416
mutung aufkommen, der Mediziner würde ihnen die
beste Therapie vorenthalten.
Gegen die Interessen von Patientinnen und Patienten
ist auch eine Ausnahme von der Versicherungspflicht bei
klinischen Prüfungen von Arzneimitteln mit geringem
Risiko. Dadurch wird das Schutzniveau von Teilnehmern solcher Studien in unzumutbarer Weise gesenkt.
Ich möchte noch ein weiteres Beispiel nennen: Die
bedarfsgerechte Bereitstellung lebenswichtiger Arzneimittel und Impfstoffe muss kontinuierlich gewährleistet
sein. Es ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung,
dass sie keine Regelung gefunden hat, Bundesländern
geeignete Maßnahmen zu ermöglichen, wenn erhebliche
Versorgungsengpässe drohen, zum Beispiel bei Impfstoffbereitstellungen.
Meine Damen und Herren, hinter dem sperrigen Titel
dieses Gesetzes „Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ verbergen
sich nicht nur technische Umsetzungsdetails, sondern es
betrifft auch viele Maßnahmen, von denen die Patientinnen und Patienten ganz unmittelbar betroffen sind. Darunter sind eben auch leider viele negative Maßnahmen.
Aus diesem Grund lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Marlies Volkmer.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, darf
ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der zwei namentlichen Abstimmungen bekannt geben. Zunächst das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“. Abgegebene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 260, mit Nein
haben gestimmt 309, Enthaltungen 12. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583;
davon
ja: 265
nein: 309
enthalten: 9
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({0})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({1})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({2})
Kerstin Griese
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({3})
Hubertus Heil ({4})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({5})
Frank Hofmann ({6})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({7})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({8})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({9})
Michael Roth ({10})
({11})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({12})
Bernd Scheelen
({13})
Werner Schieder ({14})
Ulla Schmidt ({15})
Carsten Schneider ({16})
Swen Schulz ({17})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({18})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Jan Mücke
Vizepräsident Eduard Oswald
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({19})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({20})
Volker Beck ({21})
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({22})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({23})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Kerstin Müller ({24})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({25})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({26})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({27})
Manfred Behrens ({28})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({29})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({30})
Dirk Fischer ({31})
Axel E. Fischer ({32})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({33})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({34})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({35})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({36})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Vizepräsident Eduard Oswald
Stephan Mayer ({37})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({38})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({39})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({40})
Anita Schäfer ({41})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({42})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({43})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({44})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({45})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({46})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({47})
Peter Weiß ({48})
Sabine Weiss ({49})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({50})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({51})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Patrick Kurth ({52})
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({53})
Michael Link ({54})
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Petra Müller ({55})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({56})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({57})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
({58})
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({59})
Enthalten
CDU/CSU
Jürgen Klimke
Ingo Wellenreuther
Dr. Matthias Zimmer
DIE LINKE
Karin Binder
Andrej Hunko
Niema Movassat
Nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen: „Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen“. Abgegebene
Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 266, mit Nein haben gestimmt 309, Enthaltungen 9. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Vizepräsident Eduard Oswald
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon
ja: 260
nein: 309
enthalten: 12
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({60})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({61})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({62})
Kerstin Griese
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({63})
Hubertus Heil ({64})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({65})
Frank Hofmann ({66})
Christel Humme
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({67})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({68})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({69})
Michael Roth ({70})
({71})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({72})
Bernd Scheelen
({73})
Werner Schieder ({74})
Ulla Schmidt ({75})
Carsten Schneider ({76})
Swen Schulz ({77})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({78})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({79})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({80})
Volker Beck ({81})
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({82})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({83})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Kerstin Müller ({84})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({85})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({86})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({87})
Manfred Behrens ({88})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({89})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({90})
Dirk Fischer ({91})
Axel E. Fischer ({92})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({93})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({94})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({95})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({96})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({97})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({98})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({99})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({100})
Anita Schäfer ({101})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({102})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({103})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Armin Schuster ({104})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({105})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({106})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({107})
Peter Weiß ({108})
Sabine Weiss ({109})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({110})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({111})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Patrick Kurth ({112})
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({113})
Michael Link ({114})
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Petra Müller ({115})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({116})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({117})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Serkan Tören
({118})
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({119})
Enthalten
CDU/CSU
Jürgen Klimke
Dr. Matthias Zimmer
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Jan Mücke
DIE LINKE
Karin Binder
Andrej Hunko
Niema Movassat
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fahren in unserer Aussprache fort. Ich gebe das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU unserem Kollegen Johannes Singhammer.
Bitte schön, Kollege Johannes Singhammer.
({120})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Volkmer, Sie haben Teile des Entwurfs eines Zweiten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes gelobt. Sie hätten sich mit Ihrem Lob nicht auf
Teile zu beschränken brauchen; denn dieser Gesetzentwurf ist gut. Er steht natürlich im Zusammenhang mit
dem ersten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, das
wir vor zwei Jahren beschlossen haben und das eine
Punktlandung auf der Zielmarke der Sparsamkeit hingelegt hat.
Wir haben uns damals vorgenommen, im Arzneimittelmarkt erstmals deutlich nachprüfbar zu sparen, und
haben alle Zielmarken eingehalten. Wir können jetzt erfreut zur Kenntnis nehmen, dass im ersten Quartal dieses
Jahres bei der gesetzlichen Krankenversicherung ein
Überschuss von 1,5 Milliarden Euro zu verzeichnen ist
und dass insgesamt eine Rücklage im Fonds und bei einzelnen Kassen von annähernd 20 Milliarden Euro mit
steigender Tendenz zu verzeichnen ist. Das ist der Erfolg
dieses Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes - die
Bundesregierung hat hier die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt -, mit dem neue Arbeitsplätze geschaffen
worden sind und damit neue Beitragszahler gewonnen
werden konnten und durch das letztendlich auch wieder
die Einnahmen in der gesetzlichen Krankenkasse gestiegen sind.
Mit den Änderungen des Arzneimittelrechts setzen
wir zugleich aber auch die europäischen Richtlinien zur
Verbesserung der Pharmakovigilanz und zur Verhinderung des Eindringens gefälschter Arzneimittel in die legale Lieferkette in deutsches Recht um. Lassen Sie mich
eines ganz klar sagen: Niemand denkt bei uns daran, diesen Erfolgskurs der Einsparungen zu verlassen und bei
den Preisen für Arzneimittel kleine oder große Schleusen
zu öffnen. Keine einzige Sparmaßnahme wird zurückgenommen,
({0})
eingeschränkt oder aufgegeben.
({1})
Aber was wir machen wollen, ist, dieses lernende
System mit einer revolutionären Neuerung, nämlich dem
Zusatznutzen und weiteren, bisher nicht vorhandenen
neuen Verfahrensmaßstäben, so zu verbessern, dass die
Partner in diesem System gut damit umgehen können. In
der Vergangenheit - ich darf darauf eingehen, Sie hatten
es angesprochen - gab es Diskussionen um die Vertraulichkeit der verhandelten Beträge. Sie finden im Gesetzentwurf nichts davon.
({2})
Es geht aber nicht darum, Frau Bender, Geheimniskrämerei zu fördern und das Ausmauscheln in Hinterzimmern gesetzlich abzusichern; es geht ausschließlich
um die Frage, ob und wie der deutsche Gesetzgeber als
Leitmarkt in Deutschland auf Preisverhandlungen in anderen Ländern, zum Beispiel Frankreich oder Griechenland, Einfluss nehmen soll. An dieser Stelle sage ich: Es
ist nicht die Aufgabe des deutschen Gesetzgebers,
({3})
Preisverhandlungen in anderen Ländern zu beeinflussen,
weder in die eine noch in die andere Richtung. Das war
der Hintergrund dieser Diskussion.
Jetzt haben wir eine klare, ausbalancierte Lösung in
diesem lernenden System gefunden, die es erlaubt, dass
die Partner ein kluges Verfahren zur Preisgestaltung finden werden. Wir haben insbesondere eine Änderung in
dem komplexen Schiedsgerichtsverfahren vorgesehen.
Beispielsweise soll die Schiedsstelle die Höhe des tatsächlichen Abgabepreises in anderen europäischen Ländern gewichtet nach tatsächlicher Kaufkraft im Verhältnis zu Deutschland berücksichtigen.
({4})
So soll die Zulassungsbehörde bereits vor Beginn von
Zulassungsstudien eine Beratung der beteiligten Unternehmen unter Beteiligung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte oder des Paul-EhrlichInstituts durchführen. Das dient der Rechtssicherheit, der
Verfahrensbeschleunigung und auch der Fairness.
Wir beseitigen Wettbewerbsverzerrungen. Für deutsche Apotheken und ausländische Versandapotheken
gelten künftig die gleichen Vorschriften.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eines erwähnen: Gesundheitspolitik ist gerade im Zusammenhang
mit dem Bereich der Arzneimittel immer auch Industriepolitik. Wer Industriepolitik für notwendig erachtet, der
darf die Arzneimittelindustrie nicht davon ausnehmen.
Die Wertschöpfung in Deutschland bei den Arzneimitteln ist hoch. Mit etwa 104 000 hochqualifizierten Arbeitnehmern, pharmazeutischen Erzeugnissen im Wert
von 27 Milliarden Euro und Exporten im Wert von
51 Milliarden Euro trägt die Arzneimittelindustrie wesentlich zur Wertschöpfung bei.
Früher war Deutschland die Apotheke der Welt. Ich
denke, es macht Sinn und ist ein richtiger Anspruch, zumindest wieder in die Nähe dieses früher erreichten Niveaus zu kommen.
Deutschland ist aufgrund seines industriellen Kerns
verhältnismäßig gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Kein anderes Land in Europa verfügt über eine so breite industrielle Wertschöpfungskette wie Deutschland. Die besondere
Stärke des Wirtschaftsstandorts gründet auf dem
Zusammenspiel der Industrieunternehmen - vor allem einem starken Mittelstand - und den damit verflochtenen Dienstleistungen.
Zitatende. Ich erwarte jetzt insbesondere von der Sozialdemokratie lebhaften Beifall; denn dies sind die ersten
Sätze Ihres Antrags zur Industriepolitik, den Sie im Februar dieses Jahres in diesem Hohen Hause eingebracht
haben.
An dieser Stelle sage ich: Industriepolitik ist keine
Klientelpolitik, sondern sie nutzt den Arbeitnehmern
und auch dem Finanzminister, weil er Steuern einnimmt.
Sie nutzt aber vor allem letztendlich den Patientinnen
und Patienten in Deutschland. Denn nur dann, wenn die
modernsten und besten Arzneimittel auch bei uns angeboten werden und für die Menschen, die sie brauchen,
verfügbar sind, können sie am medizinischen Fortschritt
teilhaben.
Wir wollen, dass die Patientinnen und Patienten in
Deutschland weiter von den Sparmaßnahmen unserer
Regierung und den eingeleiteten Maßnahmen profitieren. Wir wollen auch, dass sie die modernsten und wirksamsten Arzneimittel sofort erhalten, ohne zeitliche Verzögerung bzw. ohne sie gar auf unsicheren Wegen im
Ausland erwerben zu müssen. Deshalb verbessern wir
jetzt das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz nach
zwei Jahren. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
({5})
Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Dr. Martina Bunge. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Martina Bunge.
({0})
Danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arzneimittel sind keine normalen Konsumgüter,
und Patientinnen und Patienten sind keine Kundinnen
und Kunden; darin müssten wir uns alle wohl einig sein.
({0})
Daher ist Arzneimittelwerbung immer ein heikles
Thema. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Versuch
der Europäischen Kommission, das Verbot der Werbung
für rezeptpflichtige Arzneimittel de facto abzuschaffen,
gescheitert ist und auch der unselige Kompromissvorschlag vermutlich gestoppt wird. Daran hat die Bundesregierung ihren Anteil - sicherlich haben wir im Ausschuss ebenfalls darauf hingewirkt -, und das darf auch
einmal gesagt werden, Frau Staatssekretärin.
({1})
Umso unverständlicher ist aber, dass Sie nichts unternommen haben und auch weiterhin nichts unternehmen,
um die so wichtigen Werbebeschränkungen bei rezeptfreien Arzneimitteln in Deutschland zu erhalten. Das
deutsche Heilmittelwerbegesetz ist eindeutig besser als
die europäische Richtlinie. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2007 war klar, dass die Bundesregierung hätte handeln müssen. Aber sie hat fünf Jahre
verstreichen lassen und gar nichts getan. Die EU-Richtlinie war sowieso in Überarbeitung. Warum haben Sie
keine Initiative im Rat gestartet mit dem Ziel, diese
Richtlinie zumindest an die deutsche Regelung anzupassen? Nun, nach so langer Zeit, nach fünf Jahren, mit
Umsetzungsdruck zu argumentieren, nehmen wir Ihnen
nicht ab.
({2})
Dieses Gesetz offenbart ganz genau, wohin Sie wollen. Sie öffnen der Desinformation der Menschen Tür
und Tor, vor allen Dingen der Menschen, die auf Hilfe
durch Arzneimittel hoffen. Wenn mit Studien geworben
wird, die niemand nachprüfen muss, wenn mit Experten
geworben wird, deren Sachkenntnis niemand belegen
muss, und wenn mit wichtigtuenden Menschen in weißen Kitteln geworben werden kann, dann dient das unseres Erachtens nicht der Information, sondern ausschließlich der Umsatzmaximierung. Das werden wir auf
keinen Fall mittragen.
({3})
Wenn Sie aber für gute und objektive Information der
Bevölkerung stehen würden und gegen eine Ausweitung
irreführender Werbung wären und dafür erkennbar in
Europa eintreten würden, dann würden wir gerne mit Ihnen gemeinsam kämpfen. Sie wissen: Uns geht es um
die Sache. Auch beim vorliegenden Gesetz haben wir
den Änderungen betreffend die Palliativmedizin zur
Überlassung von starken Schmerzmitteln, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, zugestimmt. Sie sehen
also, dass für uns die Fachfragen Vorrang haben.
Einen Schwerpunkt des Gesetzes bildet die Einführung von Regeln, die dazu dienen, Fälschungen in der
deutschen Handelskette zu verhindern. Dieses Ziel teilen
wir doch sicherlich alle. Doch mit welchen Mitteln wollen Sie das erreichen? Jede einzelne Packung soll beim
Hersteller eine Nummer bekommen. Diese Nummern
werden zentral gespeichert. Die Apotheke trägt diese
Nummern bei der Abgabe wieder aus. Das klingt erst
einmal trivial. Aber in Wirklichkeit handelt es sich wieder einmal um ein technologisches Großprojekt, das die
EU - so ist es veranschlagt - bis zu 9 Milliarden Euro
kostet. Wie viele Fälschungen gibt es denn überhaupt im
legalen Handel? Die Statistik sagt: fast keine. So gut wie
alle Fälschungen kommen aus dem illegalen Onlinehandel. Aber dagegen richten Sie mit den 9 Milliarden Euro
überhaupt nichts aus.
Wir als Linke haben Ihnen wegen dieser Ausgangslage in Übereinstimmung mit dem Beschluss des Bundesrates den Antrag vorgelegt, den Versandhandel so
weit wie möglich zu beschränken. Wir wollen, dass klar
ist: Arzneimittelsicherheit und Internethandel kann man
nicht zusammenbringen. Es gibt keinen Weg, legale Versandapotheken von illegalen für die Menschen deutlich
unterscheidbar zu machen. Es gibt keinen Weg, eine gute
Betreuung online zu gewährleisten. Es gibt keinen Weg,
die vollkommen unangemessenen Abholstellen zu verbieten. Ihr Weg, ausländische Versandapotheken an das
deutsche Recht zu binden und damit für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen, wird von uns als nicht
ausreichend wirksam eingeschätzt. Diese Einschätzung
gibt es nicht nur bei uns, Frau Staatssekretärin.
Ich fordere Sie auf, mit uns für eine transparente und
schlanke Handelskette, die einer effektiven Bekämpfung
von Fälschungen dient, einzutreten, statt Milliarden zu
verpulvern, die letztlich wieder nur die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bezahlen müssen. Die von uns
geforderte Beschränkung des Versandhandels ist der
richtige Weg. Haben Sie den Mut, zuzustimmen. Ihre
Kolleginnen und Kollegen in den Ländern hatten ihn
auch.
Danke.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. - Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Birgitt Bender.
Bitte schön, Frau Kollegin Birgitt Bender.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie schon
deutlich wurde, widmet sich die Novelle in erster Linie
der Umsetzung der neuen EU-Richtlinien zur Pharmakovigilanz und zur Verhinderung des Eindringens gefälschter Arzneimittel in die legale Lieferkette. Die Debatte ist
jedoch eher von anderen Themen beherrscht worden.
Um mit dem Positiven anzufangen: Auch wir begrüßen es, dass Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Palliativversorgung jetzt unter bestimmten Voraussetzungen
Betäubungsmittel abgeben dürfen. Das ist eine dringend
notwendige, patientenfreundliche Regelung, der wir deswegen auch zugestimmt haben.
({0})
Ein bisschen anders sieht es da aus, wo Werbung für
rezeptfreie Arzneimittel in stärkerem Maße ermöglicht
wird. Das ist in der EU-Richtlinie angelegt. Man hätte es
aber nicht so weit öffnen müssen, wie es jetzt hier im
Gesetz geschieht. Wir befürchten, dass das, da man die
Spielräume, bestimmte Beschränkungen beizubehalten,
nicht ausgeschöpft hat, keine Regelung im Sinne der
Verbraucherinnen und Verbraucher ist.
Gut ist wiederum, dass Sie in der Anhörung etwas gelernt haben und dass bei der Überprüfung der Qualifikation der Ärztinnen und Ärzte, die klinische Studien
durchführen, nachgebessert wurde. Dennoch verschlechtert sich - das ist festzuhalten - die Position der Menschen, die als Probandinnen und Probanden an solchen
Studien teilnehmen, weil dort nämlich Ausnahmen von
der Versicherungspflicht vorgesehen sind. Diese Kritik
haben Sie leider nicht aufgegriffen.
Wir begrüßen wiederum die verlängerten Übergangsfristen zur formalen Anpassung der Packungsbeilagen
von registrierten Arzneimitteln der Komplementärmedizin. Damit wird eine Überforderung der Firmen verhindert, die sehr viele, aber umsatzschwache Medikamente
vertreiben. Deswegen ist das auch richtig so.
Die Koalition hat sich allerdings - auch das gehört
zur Wahrheit - davor gedrückt, das von mir in der ersten
Lesung angesprochene strukturelle Problem der Gleichbehandlung von komplementär- und schulmedizinischen
Arzneimitteln bei der OTC-Ausnahmeliste anzugehen.
Das bedauern wir sehr.
({1})
Nun zum AMNOG. Herr Singhammer, Sie haben
schon die sogenannte Vertraulichkeit angesprochen. Ich
rede da eher von Geheimhaltung. Das ist nun glücklicherweise vom Tisch. Ich bin mir nur nicht so sicher, ob
man Sie dafür in großen Tönen loben soll; denn ich
fürchte, dass dies nicht besserer Einsicht geschuldet ist,
sondern eher dem Problem, das Sie in der Koalition als
CDU und vor allem als FDP hatten: Sie befanden sich
im Widerstreit sich entgegenstehender Klientelinteressen.
({2})
Hätten Sie nämlich den Forderungen der Pharmaindustrie nachgegeben, wären Sie der PKV auf die Füße getreten; denn die hätte dann Nachteile für ihre Versicherten
befürchtet. Da der PKV das Wasser eh schon bis zum
Halse steht - wegen der Debatten über ständig steigende
Prämienerhöhungen, über Vermittlerprovisionen und
oftmals geringere Leistungsstandards im Vergleich zu
GKV-Versicherten, schließlich auch wegen der schlechten Zinssituation -, wollten Sie ihr nicht noch einen weiteren Nachteil zufügen. Das Ergebnis stimmt, die Überlegungen dahinter aber wohl weniger.
({3})
Meine Damen und Herren, in einem Punkt sind sich
Pharmaverbände und Kassen einig, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten. Für sie ist nämlich bei der
Berücksichtigung der internationalen Preise im Rahmen
der Erstattungsverhandlungen eine Umsatzgewichtung
nicht sinnvoll. Diesen Unsinn behält die Koalition jedoch bei. Das verstehe, wer wolle.
Auch bei einem weiteren Punkt, der Ausweitung der
Arzneimittelpreisverordnung auf ausländische Versandapotheken, weigerte sich die Koalition, die Argumente
aus der Anhörung wahrzunehmen und aufzugreifen. Wir
haben dort deutlich von den Patientenverbänden gehört,
dass gerade chronisch Kranke diese Angebote nutzen. In
Internetforen ist nachzulesen, dass einige Patienten befürchten, dass sie sich zukünftig die Zuzahlungen zu ihren Medikamenten nicht mehr leisten können.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass
hier die Koalition vor allem den hiesigen Apothekerinnen und Apothekern einen Gefallen tun wollte. Die
Frage ist: Haben Sie bedacht, welche Nachteile das zum
einen für chronisch Kranke bringt und dass zum anderen
die europäischen Versandhändler wahrscheinlich mit einiger Aussicht auf Erfolg klagen werden? Sie wissen
doch: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Es
könnte sein, dass Sie das noch bedauern werden.
({4})
Letzter Punkt. Mehr Transparenz bei Anwendungsbeobachtungen und Unbedenklichkeitsstudien, bei denen
die Gefahr des Missbrauchs als Marketinginstrument naheliegt, ist überfällig. Untragbar ist etwa, dass eine Teilnahme ohne Information und Zustimmung der Patientinnen und Patienten erfolgt.
In der Gesamtschau, meine Damen und Herren, sehen
wir in diesem Gesetz Licht und Schatten. Deswegen
werden wir Grünen uns enthalten.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bender. - Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Michael Hennrich. Bitte schön, Kollege Hennrich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und
dritter Lesung die AMG-Novelle. Anlass für dieses Gesetz ist zum Ersten die Umsetzung von zwei Richtlinien
der Europäischen Kommission. Zum Zweiten geht es um
Regelungen beim Thema Betäubungsmittelrecht - die
Verbesserung der Situation von Schwerstkranken und
Sterbenden wurde zu Recht angesprochen - und um Anpassungen im Bereich des Heilmittelwerberechts.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei Ihnen,
Frau Dr. Bunge, für Ihre differenzierte Darstellungsweise bedanken. Es ist nämlich nicht nur so, dass es um
Richtlinien ging, sondern es gab auch eine entsprechende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
Diese mussten wir eins zu eins umsetzen. Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation seit
2007 bekannt ist. Wir hatten da für zwei Jahre eine
Ministerin der SPD, die die Chance hätte ergreifen können, aber darauf verzichtet hat. Deswegen herzlichen
Dank für Ihre Darstellungsweise.
({0})
Zum Dritten geht es um Regelungen im Bereich des
Apothekenwesens. Ich sage nach wie vor, dass ich es für
richtig halte, dass die Arzneimittelpreisverordnung für
Versandapotheken und Präsenzapotheken gleichermaßen
gilt. Frau Bender, während Sie sagen, es gehe dabei um
chronisch Kranke, geht es mir bei diesem Thema um die
ländliche Apotheke.
({1})
Es kann nicht sein, dass wir Rosinenpickerei betreiben,
was dann dazu führt, dass zum Beispiel im ländlichen
Raum Apotheken zumachen müssen.
({2})
Sie sind ein wichtiger Beitrag zum Erhalt entsprechender
Versorgungsstrukturen.
Natürlich ging es auch noch einmal um das Thema
AMNOG. Ich möchte hier zwei Bereiche besonders hervorheben: zum Ersten das Thema Umsetzung von europäischen Richtlinien. Zum Zweiten möchte ich auf das
AMNOG eingehen.
Ich glaube, dass heute ein ganz guter Anlass ist, noch
einmal über das Thema Arzneimittelsicherheit zu diskutieren; denn wir haben in der Tat die Verpflichtung, uns
nicht nur um Ausgabenbegrenzung zu kümmern, sondern auch um Arzneimittelsicherheit.
Ich möchte vorab eine Bemerkung machen: Arzneimittelsicherheit bedeutet Bürokratie. Das kostet Geld,
und zwar zulasten der Pharmaindustrie. Deswegen ist es
auch wichtig, dass die Industrie auskömmliche Preise erzielt.
Wir haben die Richtlinien zur Pharmakovigilanz und
zur Arzneimittelsicherheit, also zum Schutz vor Fälschungen, eins zu eins umgesetzt. Wir haben keine zusätzlichen Verschärfungen vorgenommen, weil die
Richtlinien unseren Anforderungen gerecht wurden. Wir
haben eine Umsetzung der Richtlinien mit Augenmaß
betrieben - Frau Bender, Sie haben es angesprochen -,
zum Beispiel bei den Übergangsvorschriften im Rahmen
der Umstellung der Packungsbeilagen für Arzneimittel
der besonderen Therapierichtung, wo die Möglichkeit
bestand, diesen Zeitraum auf fünf Jahre zu verlängern.
Wir haben außerdem sinnvolle Ausnahmen bei der
Herstellungserlaubnis nach § 13 Arzneimittelgesetz für
den Fall ermöglicht, dass Apotheker bestimmte Produkte
herstellen. Auch Kollegin Reimann hat ein Interesse daran gehabt, dass wir beim Thema Testallergene einen
vernünftigen Vorschlag machen. Dies haben wir aufgegriffen.
Darüber hinaus haben wir uns der in den Anhörungen
geäußerten Kritik gestellt. Im Hinblick auf stellvertretende Prüfer wurde in Form von Änderungsanträgen eine
Regelung vorgeschlagen, wonach die Ethikkommission
und die Aufsichtsbehörden die Eignung der stellvertretenden Prüfer bewerten und kontrollieren können.
Das Wesentliche ist: Wir haben deutliche Verbesserungen bei der Arzneimittelüberwachung und dem
Schutz vor Arzneimittelfälschungen erreicht.
({3})
Zur Pharmakovigilanz. Wir werden Nebenwirkungen
in Zukunft besser erfassen können. Gleichzeitig wurde
der Begriff der Nebenwirkung präzisiert. Wir gestalten
Meldewege effizienter. Wir erreichen eine bessere Verzahnung der Akteure. Die Informationsmöglichkeiten
für Ärzte und Patienten werden ebenfalls deutlich verbessert.
Beim Thema Arzneimittelfälschung geht es uns um
eine Stärkung der legalen Vertriebswege. Ich denke, dass
mit den zusätzlichen Sicherheitsmerkmalen auf den Packungen ein echter Fortschritt erreicht wird. Das bedeutet natürlich auch Prüfpflichten für die Industrie, für den
Großhandel und für die Apotheken. Ich glaube, dass
diese Maßnahmen gleichzeitig dazu dienen können, die
beteiligten Akteure in ihrer Rolle zu stärken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will
jetzt auf das Thema AMNOG eingehen. Ich kann mich
noch gut an die hitzige Debatte hier im Parlament vor
anderthalb Jahren erinnern. Damals war eine namentliche Abstimmung beantragt. Es gab ein riesengroßes Tohuwabohu mit Kritik von allen Seiten. Ich glaube, heute
können wir rückblickend sagen, dass uns mit dem
AMNOG ein wirklich gutes Gesetz gelungen ist. Sie haben in den letzten Wochen und Monaten keinen einzigen
Vorschlag unterbreitet, was wir im Bereich der Arzneimittelversorgung besser gestalten könnten.
({4})
Ich habe Verständnis für die Verunsicherung der Industrie. Wir haben versucht, Probleme aufzugreifen. Ich
möchte in diesem Zusammenhang deutlich hervorheben,
dass es klug war, dass sich die Union im Februar/März
zum AMNOG positioniert hat. Wir, die Union, haben in
unserem Positionspapier nämlich einige Bedenken aufgegriffen. Es wurden dann ein paar Probleme vernünftig
gelöst, ohne dass wir dafür ein Gesetz auf den Weg bringen mussten.
Vier Themenbereiche sind für uns von besonderer Bedeutung: Beratung durch den G-BA, Vergleichstherapie/
Subgruppenbildung, die Grundlage für Preisvergleiche
und Preisfindung sowie Vertraulichkeit.
Bei den Beratungsgesprächen hat sich einiges verbessert, sodass eine Nachbesserung nur in einem Punkt erforderlich war: In Zukunft werden die Zulassungsbehörden in die Beratungsgespräche besser eingebunden
werden müssen.
Bei der Vergleichstherapie eröffnen wir den Unternehmen, die jetzt aus formalen Gründen keinen Zusatznutzen hatten, die Möglichkeit, in ein neues Verfahren
einzutreten.
Bei der Preisfindung haben wir an zwei Punkten Änderungen vorgenommen: bei der Kaufkraftparität und
beim Umsatz. Ich sage Ihnen: Es war richtig, den Aspekt
Umsatz zu berücksichtigen. Länder wie die Schweiz
oder Luxemburg haben nämlich hohe Arzneimittelpreise, aber geringe Umsätze. Angesichts dessen ist
diese Regelung ausgewogen.
Ich möchte zum Schluss auf das Thema Vertraulichkeit zu sprechen kommen. Wenn Sie beobachtet haben,
welche Wünsche und Anforderungen die Industrie hat,
dann haben Sie festgestellt: Wir konnten im Vorfeld einiges abräumen. Die einzige zentrale Forderung war die
Wahrung der Vertraulichkeit. Dies hätte uns kein Geld
gekostet. Auch der Bürokratieaufwand war überschaubar. Der GKV-Spitzenverband Bund selber hat diesen
Aufwand mit rund 32 Millionen Euro beziffert. Ich sage
Ihnen: Es wäre mir wert gewesen, das Signal an die Industrie auszusenden, dass wir nicht nur Verschärfungen
vornehmen, sondern dass uns auch die Pharmaindustrie
am Standort Deutschland wichtig ist.
({5})
Insofern hoffe ich, dass wir zu einem anderen Zeitpunkt
vielleicht noch einmal darüber nachdenken. Wir warten
jetzt ab, wie die weiteren Preisverhandlungen ausgehen.
Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung unter Umständen dem Thema öffnet, wenn noch Nachbesserungsbedarf besteht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich werbe
um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Ich
nehme mit Wohlwollen zur Kenntnis, dass die Grünen
aus den Erfahrungen mit dem AMNOG lernen und sich
heute der Stimme enthalten; aber Zustimmung wäre
noch besser gewesen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Kollege Michael Hennrich. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Steffen-Claudio Lemme. Bitte schön, Kollege
Steffen-Claudio Lemme.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Staatssekretärin
Flach! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine geschätzte Kollegin Marlies Volkmer hat bereits ausführlich die wesentlichen Punkte der Kritik der SPD-Bundestagsfraktion an dieser Novelle des Arzneimittelgesetzes dargestellt. Kurz: Die Bundesregierung liefert
mit diesem Gesetz ein Beispiel für Über-, Unter- und
Fehlregelungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, die Notwendigkeit der Harmonisierung der Arzneimittelsicherheit in Europa steht auch für meine Fraktion außer
Frage. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist jedoch, dass wir Arzneimittelsicherheit konsequent aus
der Sicht der Patientinnen und Patienten betrachten. Sie
jedoch blähen diese Novelle zum Omnibusgesetz auf,
um einmal mehr den Forderungen der pharmazeutischen
Industrie zu entsprechen. Aber das ist ja mittlerweile
gute Tradition bei Ihnen. So werden Sie jedenfalls in dieser Legislaturperiode den Geruch der Klientelpolitik
nicht mehr los.
({0})
Die Bedürfnisse, die Sicherheit und die Versorgung
der Patientinnen und Patienten stehen für die SPD-Bundestagsfraktion bei all ihren Entscheidungen und Vorschlägen stets im Vordergrund; das haben wir in der Vergangenheit immer wieder deutlich gemacht. Ich erinnere
hier nur kurz an unsere Empfehlungen zur Schaffung
von mehr Versorgungssicherheit im Rahmen des GKVVersorgungsstrukturgesetzes und an unsere Vorschläge
zur Stärkung der Patientensouveränität bei IGeL-Leistungen oder auch in der aktuellen Debatte um die Sicherheit von Medizinprodukten. Bei uns stehen immer die
Betroffenen im Fokus.
({1})
Nur eine konsequente Betroffenenperspektive kann
eine differenzierte Bewertung dieses Gesetzentwurfs zulassen. Ich will dies kurz mit zwei Beispielen belegen:
Die Notwendigkeit einer verbesserten ambulanten Versorgung von Palliativpatienten hat uns beispielsweise
dazu bewogen, den Änderungen zum Betäubungsmittelgesetz zuzustimmen. Ungenügend sind hingegen die Regelungen zu Austauschverboten, die wir abgelehnt haben.
Ich selbst hatte als Mitglied des Petitionsausschusses
in einer öffentlichen Beratung die Gelegenheit, mit Vertretern von Betroffenenverbänden von Schmerzpatienten
zu sprechen. Eindrucksvoll hatte dort eine Vertreterin
der Deutschen Schmerzliga die Bedürfnisse von
Schmerz- und Palliativpatienten geschildert. Dieser Personenkreis ist mitunter auf ganz bestimmte Medikamente angewiesen, die unter das Betäubungsmittelgesetz
fallen. Nur diese speziellen Medikamente, die mitunter
sehr starke Opiate enthalten, versprechen ihnen echte
Linderung. Zu Recht wurde von den Betroffenen die Regelung einer automatischen Austauschpflicht für diese
besonderen Betäubungsmittel nach § 129 SGB V kritisiert. Dieser Sicht der Dinge hatten sich im Übrigen die
Vertreter aller Fraktionen im Petitionsausschluss angeschlossen. So plädierten auch Frau Kollegin Vogelsang
von der CDU/CSU und Herr Dr. Röhlinger von der FDP,
der leider nicht anwesend ist, für eine Änderung. Am
Ende hat es dann aber bei den Koalitionären nur zu einer
halbherzigen Neuregelung gereicht,
({2})
die von den Betroffenen zu Recht als unzureichend bezeichnet wird und von uns abgelehnt wurde. Mit der vorgesehenen Kann-Bestimmung laden Sie die vielfach diskutierte Problematik wieder auf die Schultern der
Selbstverwaltung. Damit rückt eine rasche Lösung des
Problems zugunsten der betroffenen Patientinnen und
Patienten erneut in weite Ferne.
Hingegen haben wir der Neuregelung zur Überlassung von Betäubungsmitteln durch den ambulant tätigen
Arzt an seine Patienten zugestimmt. Das ausschließliche
Abgabemonopol von Apotheken gegenüber Patientinnen
und Patienten wird der Notwendigkeit einer Stärkung
der ambulanten Versorgung nicht mehr gerecht. Die
Abgabe durch den Arzt in Krisen- und Ausnahmesituationen muss möglich sein. Das gebietet mitunter die
Situation des Patienten. Gerade in ländlichen Regionen,
wo die nächste Apotheke kilometerweit entfernt ist,
muss der Arzt dem Patienten auch ein Medikament überlassen dürfen, ohne Angst vor rechtlichen Konsequenzen.
({3})
Menschen, die akute Schmerzen haben oder die die letzten Stunden ihres Lebens im Kreise ihrer Angehörigen
daheim verbringen wollen, muss größtmögliche Versorgungssicherheit gewährt werden.
Ich will an dieser Stelle noch ein paar Worte zum Antrag der Fraktion Die Linke verlieren. Wir teilen die
Haltung in Sachen Pick-up-Handel und zum Verweis
auf die Notwendigkeit einer umfangreichen Beratung
und Sicherheit von Medikamentenbeziehern. Auch für
uns bleibt die Beratung durch den Präsenzapotheker unverzichtbar. Wir können aber einer Verdammung des
Versandhandels nicht beipflichten. Im Gegenteil: Der
Versandhandel hat sich in großen Teilen bewährt. Wir
werden zu gegebener Zeit auch hierzu gern Stellung nehmen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Lemme. - Nächster und letzter
Redner in unserer Aussprache zu diesem Thema ist unser Kollege Heinz Lanfermann. Bitte schön, für die
Fraktion der FDP Kollege Heinz Lanfermann.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es bleiben nur noch
wenige Minuten bis zum Schluss dieser Runde. Ich darf
mich zunächst einmal für die einhellige Zustimmung zu
unserer neuen Regelung zur ambulanten Palliativversorgung bedanken. Das Gesetz ist mit all seinen guten
Facetten sehr ausführlich beschrieben worden. Deswegen brauche ich das nicht zu wiederholen. Die Redner
der Opposition haben stark angefangen, indem sie das
Gesetz gelobt haben. Es wurde danach ja doch ein wenig
brüchig. Bei Frau Bender wurde es dann mehr eine Nörgelliste, mit der sie zeigen wollte, dass es doch nicht so
gut sei. Immerhin enthalten Sie sich wenigstens; das will
ich dann auch loben.
Sie müssen sich allerdings nicht bemühen, irgendwelche Kerlekes hinter den Gebüschen zu sehen, wenn es
um einen angeblichen Lobbyeinfluss oder Ähnliches
geht. Die PKV hat keine Rolle gespielt bei der Frage der
Vertraulichkeit - das sage ich Ihnen aus dem Nähkästchen -, weil sie schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt
gesagt haben: Na gut, das lieben wir nicht gerade, aber
wenn die Politik es für richtig hält, dann tragen wir das
klaglos mit. - Damit war der Fall erledigt. So einfach
kann Politik auf der Regierungsseite sein. Machen Sie
sich also nicht zu viele Gedanken um Dinge, die Sie
nicht kennen!
Bei solchen Gesetzgebungsverfahren ist es interessant, wie viele Leute sich darum kümmern, herauszufinden, was alles nicht passiert oder welche Erwartungen
erfüllt oder nicht erfüllt werden. Dann darf ich in dieser
Schlussrunde auch noch mit einem typischen Missverständnis der letzten Wochen aufräumen. Manche haben
sich gefragt: Warum, außer in den angesprochenen
Regelungen, steht nichts über die wirtschaftliche Situation der Apotheken im Gesetz? Ich kann alle beruhigen.
Das gehört überhaupt nicht in das Gesetz; denn alle
wesentlichen wirtschaftlichen Fragen, die Apotheken
angehen, werden in Verhandlungen mit der Regierung
geklärt. Das wird auf dem Verordnungswege geregelt.
Alles, was nach diesen Verhandlungen geändert werden
kann, wird zur gegebenen Zeit auf dem Verordnungswege neu geregelt. Das ist also keine Frage des Gesetzgebers; dies geht den Wirtschaftsminister und den
Gesundheitsminister an.
Was im Übrigen die Apothekenabgabe angeht, so
haben die Vertreter der Koalition eindeutig erklärt, dass
die vom Gesetzgeber festgesetzten Preise für 2011 und
2012 auslaufen und nicht verlängert werden. Sie stellen
auch keinen Maßstab bei den Verhandlungen dar, die
zwischen den Partnern stattfinden müssen. Das macht
nicht die Politik, sondern das wird zwischen den Partnern ausgehandelt. So einfach kann Politik auch sein,
Frau Bender.
Zum Schluss darf ich noch sagen: Ich freue mich sehr,
dass wir am Ende zu einem solch umfangreichen Gesetzentwurf gelangt sind. Manche behaupten ja, in der
Gesundheitspolitik herrsche eine gewisse Unsitte, nämlich dass häufig sogenannte Omnibusgesetze entstehen,
mit denen noch diese oder jene Gesetzesänderung durchgeführt werden kann.
Wir haben viel zu tun. Dieser Ausschuss - und damit
auch dieses Ministerium - gehört mit zum Fleißigsten,
was der Bundestag bzw. die Bundesregierung vorzuweisen haben; denn wir haben in der Tat eine ganze Menge
geregelt.
({0})
Das AMNOG ist überdies ein gutes Beispiel dafür,
dass man nicht nur ein gutes Gesetz machen,
({1})
sondern auch ein bestehendes Gesetz gut fortsetzen
kann. Wir haben eine Zwischenbilanz gezogen, die sich
sehen lassen kann. In einigen Punkten haben wir ein
wenig nachgesteuert; Kollege Hennrich hat das vorhin
sehr genau beschrieben. Die weiteren Verfahren und
Verhandlungen werden wir uns in der Tat sehr genau
anschauen. Denn wir wollen, dass nach fairen Verhandlungen auch faire Preise ausgehandelt werden können.
„Faire Preise“ heißt, dass die berechtigten Interessen
jeder Seite so weit wie möglich berücksichtigt werden
und dass man sich auf einem vernünftigen Weg bei
einem vernünftigen Ergebnis trifft.
Genau das wollten wir mit dem AMNOG erreichen,
und das werden wir auch schaffen. Ich danke Ihnen mit
diesem positiven Schlusswort für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, aber nicht über die
Frage, welcher Ausschuss in diesem Hause der fleißigste
ist, sondern ganz einfach über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf eines Zweiten Geset-
zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer
Vorschriften.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/10156, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/9341 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
Vizepräsident Eduard Oswald
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen der
Sozialdemokraten und der Linken. Enthaltungen? -
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? - Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und
die Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange-
nommen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Für gute Arzneimittelversorgung
Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/10156, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9556 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfrak-
tion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung
ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 13 a bis d auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Andrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter,
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Situation des Mittelstands
- Drucksache 17/9655 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Friedrich, Dr. Carsten Sieling, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Finanzierungsbedingungen des Mittelstands
verbessern
- Drucksache 17/5229 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna
Voß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Handwerkskammern demokratisieren und
transparent gestalten
- Drucksache 17/9220 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna
Voß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Handwerksnovelle evaluieren, hohes Qualifikationsniveau sicherstellen
- Drucksache 17/9221 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer Vereinbarung aller Fraktionen ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind alle
damit einverstanden? - Dann haben wir das hiermit so
beschlossen.
Jetzt nehmen wir den notwendigen Wechsel hier im
Plenum vor und konzentrieren uns dann auf diese Aussprache.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Andrea Wicklein. Bitte schön, Frau Kollegin Andrea
Wicklein.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Nachrichten über die deutsche Wirtschaft
sind positiv. Aber es gibt auch deutliche Signale, dass
bei den mittelständischen Unternehmen eine zunehmende Verunsicherung einkehrt. Sowohl die globalen als
auch die nationalen Herausforderungen sind gewaltig.
Die Euro-Krise wird sich auch auf den deutschen Mittelstand auswirken.
Neben der Euro-Krise gibt es im Wesentlichen drei
bedeutende Themenfelder, die die weitere Entwicklung
des deutschen Mittelstands bestimmen werden. Das ist
erstens die Unternehmensfinanzierung, zweitens der
Fachkräftemangel und drittens die Entwicklung der
Energie- und Rohstoffpreise. Das sind die Themen, die
den Mittelstand landauf, landab bewegen und die Unternehmen unruhig in die Zukunft blicken lassen. Deshalb
ist es die vordringliche Aufgabe der Politik, die Aufgabe
der Bundesregierung, gerade jetzt alles dafür zu tun, dass
die Rahmenbedingungen für den Mittelstand in Deutschland Stabilität und Sicherheit bieten.
({0})
In unserer Großen Anfrage „Situation des Mittelstands“ fordern wir die Bundesregierung auf, Antworten
auf diese drängenden Fragen zu geben. Doch obwohl
keine Zeit zu verschenken ist, beabsichtigt sie, das erst
im Januar 2013 zu tun. Man könnte meinen, dass die
Bundesregierung auf Zeit spielt, Zeit, die der deutsche
Mittelstand nicht hat. Das ist für mich ein klares Zeichen
dafür, dass Sie die notwendigen Antworten nicht geben
können.
Um noch einmal deutlich zu machen, worum es geht.
Beispiel Unternehmensfinanzierung: Basel III wird AusAndrea Wicklein
wirkungen auf die Mittelstandsfinanzierung insbesondere junger und innovativer Unternehmen haben. Deshalb müssen wir dringend die Rahmenbedingungen für
alternative Finanzierungsmöglichkeiten in Deutschland
verbessern. Im internationalen Vergleich hinken wir hier
deutlich hinterher. Wir haben bereits im März letzten
Jahres einen Antrag zur Verbesserung der Finanzierungsbedingungen des Mittelstands eingebracht, der
heute auch zur Beratung vorliegt. Die Zahlen zum Gründungsgeschehen zeigen, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Die Zahl der Firmengründungen ist 2011
gegenüber 2010 um 11 Prozent zurückgegangen.
Beispiel Fachkräftemangel. In einer aktuellen Umfrage des DIHK gaben 35 Prozent der insgesamt
25 000 befragten Unternehmen an, dass der Mangel an
Fachkräften schon heute ein großes Problem darstellt.
Da ist es schön und gut, dass die Bundesregierung - ich
zitiere - „politische Priorität auf die Fachkräftesicherung“ legt. Aber was tun Sie konkret? Dem viel
beschworenen Fachkräftekonzept von 2011 wird nun
eine Informations- und Mobilisierungskampagne zur
Seite gestellt, und so etwas nennt die Bundesregierung
dann eine „Fachkräfteoffensive“. Fakt ist: Der deutsche
Mittelstand braucht Fachkräfte; nur darüber zu reden,
das reicht nicht mehr.
({1})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Investitionen in Bildung, bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, mehr Weiterbildung und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, das alles sind notwendige Maßnahmen, die die SPD immer wieder vorgeschlagen hat. Und
was tun Sie? Sie verschleudern Milliarden für ein unsinniges Betreuungsgeld. Sie wollen ernsthaft Geld dafür
ausgeben, Frauen vom Beruf fernzuhalten, und beklagen
gleichzeitig einen zunehmenden Mangel an Fachkräften.
Niemand kann es sich leisten, auf die Kompetenz und
Leistungsfähigkeit von Frauen zu verzichten, auch Sie
nicht.
({2})
Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Damit es auch zukünftig so bleibt: Zeigen Sie,
dass es Ihnen ernst ist mit dem Mittelstand! Beantworten
Sie unsere Fragen zur Zukunft des Mittelstands, und das
nicht erst 2013.
Ganz herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Andrea Wicklein. Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Frau Lena Strothmann. Bitte schön, Frau
Kollegin Strothmann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mittelstand ist Deutschlands Stärke. Er ist das Herz der sozialen Marktwirtschaft und der Motor für Wachstum und
Beschäftigung. Der Jahresmittelstandsbericht 2011 hat
Rekordzahlen gemeldet: Im vergangenen Jahr wurden
490 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, die Wachstumsquote beträgt 3,4 Prozent.
({0})
Der Mittelstand ist also nach wie vor eine krisenfeste
Wachstumslokomotive.
({1})
Das ist der Beweis dafür, dass wir mit unserer Politik für
den Mittelstand auf dem richtigen Weg sind.
({2})
Wir werden daher den Bürokratieabbau weiter vorantreiben, uns kontinuierlich um eine solide Unternehmensfinanzierung kümmern und in Forschung und Entwicklung investieren, um Arbeitsplätze zu erhalten und
weitere zu schaffen.
Aber unsere wichtigste Aufgabe wird es sein, uns
weiterhin um die Ausbildung guter Fachkräfte zu kümmern; denn leider melden unsere Betriebe schon heute,
dass sie keine Kräfte finden. Der demografische Wandel
wird dieses Problem in den nächsten Jahren noch verstärken. Wenn wir aber unseren Vorsprung als Hightechland halten wollen und wenn wir die Herausforderungen
der Zukunft, zum Beispiel die Energiewende, meistern
wollen, dann brauchen wir mehr gut ausgebildete Fachkräfte in unserem Land.
({3})
Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt; denn
Deutschland hat das duale Ausbildungssystem, um das
uns viele Nachbarländer in Europa beneiden. Der Berufsbildungsbericht 2012 hat dies gerade bestätigt. Dem
dualen Ausbildungssystem wird erneut eine hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt. Erfolgsindikator hierfür ist die niedrige Jugendarbeitslosigkeit in
unserem Land; wir haben derzeit eine Quote von
7,9 Prozent. Das sind natürlich immer noch zu viele arbeitslose junge Menschen, aber das ist die niedrigste
Quote in Europa. Im EU-Durchschnitt liegt die Jugendarbeitslosenquote bei 22,6 Prozent, und, wie wir wissen,
in Spanien sogar bei über 50 Prozent. Wir treten den Beweis an: Unser duales System schützt vor Jugendarbeitslosigkeit.
({4})
Zu diesem Ergebnis kommt im Übrigen auch die Europäische Kommission. Auch die Übergangsquote dual
ausgebildeter Jugendlicher in den Arbeitsmarkt ist bei
uns sehr hoch.
Die Gründe für den Erfolg unserer dualen Ausbildung
möchte ich noch einmal hervorheben: Die Ausbildung
im Betrieb, der Schulunterricht und die überbetriebliche
Unterweisung sind gut aufeinander abgestimmt. Andere
europäische Länder setzen ausschließlich auf eine schulische Ausbildung. In diesen Ländern ist der Übergang
in die Betriebe sehr schwierig für die jungen Menschen,
weil ihnen der Praxisbezug fehlt. Sie können auch nicht
wie viele Lehrlinge bei uns vom „Klebeeffekt“ profitieren und nach der Ausbildung direkt in den Betrieb übernommen werden.
Unsere duale Ausbildung ist auch deshalb so erfolgreich, weil wir Voraussetzungen geschaffen haben, die
die Qualität der Ausbildung sichern. Der Grundsatz lautet: Wer ausbildet, muss selbst ein ausgebildeter Fachmann sein. Das sind nach wie vor unsere Meister. Sie geben ihr Wissen und ihre Erfahrung an die jungen
Menschen weiter. Nur in wenigen europäischen Ländern
gibt es die Meisterprüfung als Befähigung zur Ausbildung.
Nun gibt es leider Tendenzen in Europa, die Zahl der
reglementierten Berufe zu reduzieren. Dazu gehört auch
der deutsche Meister. Das muss man wissen. Wer die reglementierten Berufe abschaffen will, der schafft damit
auch den deutschen Meister ab. Dieser ist aber ein wichtiger Baustein im dualen Ausbildungssystem.
({5})
Ohne die Meisterprüfung als Befähigung zur Ausbildung
würde es nicht mehr so erfolgreich funktionieren, und
jahrelang erarbeitete Strukturen würden zerstört. Das
werden wir nicht zulassen.
({6})
Zu diesem bewährten System gehören im Übrigen
auch die Handwerkskammern. Die Kammern erfüllen
hoheitliche Aufgaben. Das heißt, die Aufgaben werden
vom Staat zur Erfüllung übertragen und von den Kammern wirtschaftlich und effektiv erbracht. Ich will Ihnen
das am Beispiel der Ausbildung deutlich machen: Die
wichtigsten hoheitlichen Aufgaben sind hier die Führung
der Lehrlingsrolle, das Erlassen von Prüfungsvorschriften, die Einrichtung von Prüfungsausschüssen und die
organisatorische Durchführung von Prüfungen. Im
Rahmen der Dienstleistungsfreiheit gehört auch die
Entscheidung über anzuerkennende Abschlüsse dazu.
Zusammengefasst ist festzuhalten: Die Kammern sichern die Qualität der Ausbildung. Sie sind Garanten der
dualen Ausbildung.
Allein im Handwerk - das muss man wissen - engagieren sich 65 000 ehrenamtlich tätige Personen in den
Gremien der Selbstverwaltung und den Prüfungsausschüssen. Sie leisten pro Jahr freiwillig 7,7 Millionen
Stunden.
({7})
Im Übrigen, meine Damen und Herren von den Linken: Die Rechtsaufsicht über die Handwerkskammern
obliegt den Wirtschaftsministerien der Länder. Damit ist
die Anwendung der geltenden Rechtslage durch die
Kammern sichergestellt. Es gibt auch keine gesetzlichen
Missstände in der Handwerksordnung. Die Drittelparität
unserer Arbeitnehmer trägt den besonderen Gegebenheiten im Handwerk Rechnung; das sind nämlich Unternehmer, Kleinstunternehmer und Mitarbeiter. Im Übrigen ist
auch die Friedenswahl höchstrichterlich bestätigt.
Die Veröffentlichung der Bilanzen erfolgt im Rahmen
der Feststellung des Haushaltsplans und der Abnahme
der Jahresrechnung durch die oberste Landesbehörde.
Transparente und demokratische Beschlussfassungen
sind durch die Satzungen der Handwerkammern gewährleistet. Eine Befassung der Kammergremien ist damit
sichergestellt. Aber die Hauptaufgabe der Handwerkskammern bleiben Aus-, Fort- und Weiterbildung. Dieses
System sollten wir weiter stärken; denn die Herausforderungen der Zukunft werden wir nur mit gut ausgebildeten Kräften meistern.
({8})
Wir tun also gut daran, in Zukunft noch mehr für die
duale Ausbildung zu werben. Wir sollten die Säulen, auf
denen sie steht, nicht kaputtmachen.
Danke schön.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lena Strothmann. Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Frau Johanna Voß. Bitte schön, Frau Kollegin
Voß.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute sprechen wir über den Mittelstand. Gerade
haben wir schon etwas zum Handwerk gehört. An diesem Punkt will ich weitermachen. Ihre Große Anfrage,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, geht so
gut wie gar nicht auf das Handwerk ein. Das Handwerk
stellt aber mit 1 Million Betrieben - darunter Klein- und
Kleinstunternehmen - den Großteil des Mittelstands.
Damit ist es ein bedeutender Teil der deutschen Wirtschaft. Es gibt bei diesem Thema genug, über das es sich
lohnt zu reden.
Erstens. 2004 wurde die Handwerksordnung novelliert. 53 Gewerke sind seitdem meisterfrei. Das heißt,
wer sich als Estrichleger selbstständig macht, braucht
dafür keinerlei Mindestqualifikation mehr. Bei 52 weiteren Berufen ist es genauso. War das gut? Wem bringt das
Vorteile? Es fehlt eine Untersuchung, was diese Novelle
der Handwerksordnung gebracht hat und was sie nicht
gebracht hat. Solch eine Untersuchung haben die CDU/
CSU-Fraktion bzw. die Großen Koalition insgesamt
selbst schon gefordert. Umgesetzt haben Sie Ihre eigene
Forderung indes nicht. Wofür fürchten Sie sich? Haben
sich dadurch prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder
Scheinselbstständigkeit ergeben? Das würden wir gerne
herausfinden.
Zweitens. Es gibt seit fast 60 Jahren in allen 53 Handwerkskammern alle fünf Jahre Vollversammlungswahlen. Das sind mehr als 500 Wahlen. Aber nur dreimal
wurde tatsächlich gewählt. Das heißt, nur dreimal fand
ein Wahlakt statt, weil nur in drei Fällen konkurrierende
Listen vorlagen. Ansonsten galt die vorher ausgekungelte Liste als gewählt. Das war die Aussage der Bundesregierung auf unsere Anfrage.
Frau Kollegin Voß, der Kollege Ernst Hinsken beabsichtigt, eine Zwischenfrage an Sie zu richten. - Sie
lassen sie zu. Bitte schön, Kollege Ernst Hinsken.
Ich fasse mich ganz kurz. - Liebe Frau Kollegin Voß,
ich war dabei, als die Neufassung der Handwerksordnung ausgearbeitet und beschlossen wurde. Speziell als
es um die Reduzierung der Zahl der Gewerke ging, in
denen ein Meisterbrief für die selbstständige Tätigkeit
nötig ist, haben wir stark dagegen gehalten. Ich möchte
Sie fragen, ob Ihnen bewusst ist, wie sich damals Ihre
Fraktion verhalten hat, was damals Ihre Meinung war,
ob Sie das damals für richtig befunden haben. Ich weiß
nicht, inwieweit Sie überhaupt mitreden konnten; denn
Sie vertreten ja eine Fraktion, die damals wahrscheinlich
noch gar nicht im Bundestag war.
Herr Hinsken, ich danke für die Frage. Daran sehe
ich, dass wir an dieser Stelle konstruktiv zusammenarbeiten könnten. Ich war damals tatsächlich nicht dabei.
Ich gehöre dem Haus seit knapp zwei Jahren an.
({0})
Über die alten Entscheidungen weiß ich nichts. Ich weiß
nur, dass die Handwerksordnung geändert wurde. Die
Frage ist: Wollen wir dies evaluieren oder nicht? Es
scheint doch dafür einen Bedarf zu geben. Darauf könnten wir uns einigen. Im Rahmen einer Evaluierung könnten wir schauen, was die Novellierung bewirkt hat, zumal wir eben gehört haben, dass der Meister durch
weitere „Neoliberalisierungen“ infrage gestellt werden
soll. Es wäre doch der richtige Weg, folgende Fragen dagegenzuhalten: Was ist gut daran, dass wir diese Regelungen haben, dass wir das duale System haben und dass
wir die Meisterausbildung haben? Warum sollte man
mehr Berufe freistellen, dort diese Ausbildung abschaffen?
Fahren Sie fort, Frau Kollegin.
Gut. - Es gibt also eine Große Anfrage der SPD, die
die Überschrift „Kammern, Innungen und Kreishandwerkerschaften“ enthält. Augenscheinlich ist der SPD
aber zu den Handwerkskammern gar nichts eingefallen.
Zu denen fragt sie nämlich darin gar nichts. Das Gleiche
gilt für die Große Anfrage der Koalition zum Handwerk
vom Oktober 2010. Auch hier fehlt jede Frage zu den
Handwerkskammern. Möglicherweise haben Sie durch
unsere Nachfragen bereits mehr Antworten erhalten, als
Ihnen lieb ist.
Wir meinen: Die Politik muss dem Handwerk mehr
Aufmerksamkeit widmen.
({0})
Viele Handwerkerinnen und Handwerker sind unzufrieden. Sie sind mit ihrer Pflichtmitgliedschaft in den
Handwerkskammern nicht einverstanden. Das muss
ernst genommen werden. Die Unzufriedenheit ist begründet. Es fehlt den Kammern an demokratischer Legitimation.
({1})
Das betrifft sehr wohl auch die Wahlen, und das betrifft
politische Äußerungen und Beschlussfassungen ohne
Legitimation. Es fehlt den Kammern an Transparenz.
Das betrifft vielfach Vorstandsgehälter, Pensionsansprüche und Rücklagen. Viele Pflichtmitglieder fühlen sich
abgezockt. Es gibt hohe Gebühren, aber kaum Gegenleistungen. Auch die enormen Unterschiede zwischen
den Beitragssätzen der verschiedenen Handwerkskammern sind unerträglich. Die Beiträge für die Betriebe
müssen fair und transparent ausgestaltet werden. Kleinund Kleinstbetriebe gehören entlastet.
({2})
Dadurch würde die Selbstverwaltung im Handwerk mit
ihrem Praxisbezug und ihrer Sach- und Fachkompetenz
wieder besser legitimiert und akzeptiert werden.
Außerdem: Die Situation vieler Handwerkerinnen
und Handwerker ist nicht nur wegen der aufgezählten
Defizite schwierig, sondern auch, weil sich die Leute
vieles, was das Handwerk anbietet, nicht leisten können.
Damit Handwerk goldenen Boden hat, braucht es deshalb den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro.
Das fordert die Linke schon lange.
Einen schwierigen Stand hat insgesamt die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU. Sie empfiehlt den Abgeordneten, bei den Abstimmungen über
den Rettungsschirm mit Nein zu stimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke nimmt
die Belange des Handwerks ernst. Stimmen Sie unseren
Anträgen zu!
({3})
Evaluieren Sie die Handwerksnovelle! Demokratisieren
Sie die Handwerkskammern! Machen Sie sie transparent! Kämpfen Sie für den Mindestlohn, und stimmen
Sie morgen mit Nein bei den Gesetzespaketen zu dem
Fiskalpakt und dem sogenannten Rettungsschirm!
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf darauf hinweisen, dass ich angesichts der fortschreitenden Zeit und
des anstehenden Fußballspiels nicht mehr beabsichtige,
irgendwelche Zwischenfragen zuzulassen.
({0})
Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Ernst Burgbacher.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ja, der Mittelstand ist Stabilitätsanker und gleichzeitig Wachstumsmotor für die deutsche Wirtschaft.
Frau Kollegin Strothmann hat das alles zutreffend geschildert. Der Mittelstand umfasst eine breite Palette
vom Handwerk bis zum industriellen Mittelstand. Er ist
stark durch Familienbetriebe geprägt. Das Ausland beneidet uns um diese Struktur.
({0})
Der Begriff „German Mittelstand“ ist zu einem stehenden Begriff geworden. Wir wollen diesen Begriff weltweit verbreiten.
Ich möchte Ihnen die Mittelstandspolitik der Bundesregierung - ich habe nur drei Minuten - in drei Sätzen
deutlich machen. Erstens. Wir stärken die Grundlagen
des Erfolgsmodells „German Mittelstand“. Zweitens.
Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik im
Mittelstand.
({1})
Drittens. Wir begleiten den Mittelstand in die Zukunft.
({2})
Zum ersten Punkt: Wir stärken die Grundlagen des
Erfolgsmodells „German Mittelstand“. Da ist zuallererst
das Bankensystem zu erwähnen. Unser Bankensystem
ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass wir diesen
Mittelstand haben. Deshalb lassen wir daran nicht
rütteln.
({3})
Wir haben uns im Zusammenhang mit Basel III erheblich engagiert. Wir sind einen gewaltigen Schritt weiter.
Ich behaupte heute: Basel III wird mittelstandsfreundlich gestaltet sein. Auch das ist ein entscheidender
Schritt. Wir lassen auch an der dualen Ausbildung nicht
rütteln, im Gegenteil: Wir werden die duale Ausbildung
noch viel stärker ausbauen und im Ausland dafür werben, weil die duale Ausbildung ein Glücksfall für unsere
Wirtschaft ist.
({4})
Zum zweiten Punkt: Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik. Wir haben steuerliche Entlastungen
zu Beginn der Legislaturperiode - Unternehmensteuer,
Erbschaftsteuer - durchgesetzt. Wir wollen jetzt die
kalte Progression angehen. Meine Damen und Herren
von der Opposition, wenn Sie das im Bundesrat behindern, dann ist das geradezu ein Anschlag auf den Mittelstand; denn das hat gewaltige Auswirkungen auf die Unternehmer und die im Mittelstand Beschäftigten. Das
nimmt ihnen die Motivation. Deshalb: Machen Sie endlich mit!
({5})
Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik, indem wir die Bürokratie abbauen. Bei der sogenannten
Gelangensbestätigung haben wir Änderungen durchgesetzt; wir haben ihr eigentlich alle Giftzähne gezogen.
({6})
Die Aufbewahrungsfristen haben wir auf acht Jahre gesenkt, und wir werden sie auf sieben Jahre reduzieren für den Mittelstand einer der größten Erfolge überhaupt.
Außerdem haben wir die elektronische Bilanz so verändert, dass sie für den Mittelstand nicht zu Bürokratieaufwuchs, sondern zu einem deutlichen Bürokratieabbau
führt. Das ist konkrete Politik für den Mittelstand.
({7})
Zum dritten Punkt: Den Mittelstand in die Zukunft zu
begleiten, bedeutet Innovation. Unser Flaggschiff ist das
Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand. Wir haben
die Mittel auf 500 Millionen Euro erhöht. Außerdem fördern wir Gründungen, und zwar im Rahmen unserer Initiative „Gründerland Deutschland“. Darüber hinaus haben wir neue Wege geschaffen, an Wagniskapital zu
kommen, sowohl mit dem High-Tech Gründerfonds als
auch durch die steuerliche Unterstützung von Business
Angels. Auch bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels sind wir aktiv. Ferner begleiten wir den Mittelstand
auf dem Weg ins Ausland; dieser Schritt ist für uns ganz
wesentlich.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich in
allen Gesprächen, die ich mit Vertretern des Mittelstands
führe, und bei all meinen sonstigen Kontakten immer
wieder spüre: Der deutsche Mittelstand ist stolz darauf
und glücklich darüber, eine Mittelstandsregierung an seiner Seite zu haben. Das wird so bleiben.
({8})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Nächster Redner
ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Dr. Thomas Gambke. Bitte schön, Kollege
Dr. Gambke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Beim Thema Mittelstand ist eines, glaube ich, in diesem
Hause unstrittig: seine große Bedeutung für die deutsche
Volkswirtschaft, gerade in der jetzigen Situation. Da wir
über den Mittelstand reden, möchte ich gerne zwei Themen ansprechen, die mir sehr wichtig erscheinen.
Das erste Thema lautet Innovation. Beim Stichwort
Innovation fällt mir als Erstes ein - vor allem, weil ich
gerade Herrn Hinsken sehe -, was man nicht tun darf.
Man darf keine Branchenförderung, die nicht der Innovation dient, betreiben. Ich meine, dass auch die Kollegen von der SPD noch einmal in sich gehen und überlegen sollten, ob die Kfz-Zulieferindustrie oder die
Schiffbaubranche tatsächlich einer besonderen Förderung bedürfen. Aber eines ist sicher: Wenn diese Bereiche gefördert werden, dann muss es sich, bitte schön, um
eine Förderung handeln, die der Innovation dient; es
muss dabei also um die Entwicklung neuer Technologien
und neuer Produkte gehen. Man darf aber nicht 1 Milliarde Euro für die Hotellerie zur Verfügung stellen.
({0})
- Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören.
Herr Riesenhuber hat gleich die Gelegenheit, aus
Worten Taten zu machen. Schließlich geht es um die
steuerliche Forschungsförderung. Die steuerliche Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen
kostet 1 Milliarde Euro pro Jahr - hat aber Rendite. Was
haben Sie gemacht? Sie reden seit 20 Jahren über dieses
Thema, haben aber nichts getan. Ich weiß, dass dieses
Vorhaben insgesamt bis zu 4 Milliarden Euro kosten
würde und wir dieses Geld nicht haben. Herr
Riesenhuber, ich bin gespannt: nicht nur auf Ihre Worte,
sondern auch auf Taten. Aber Taten lassen Sie, was die
steuerliche Forschungsförderung anbelangt, leider vermissen.
({1})
Das zweite Thema, das ich im Zusammenhang mit
dem Mittelstand ansprechen möchte, ist das Bohren dicker Bretter. Man braucht einen langen Atem, bis Unternehmen zu dem geworden sind, was wir als Hidden
Champions, als heimliche Sieger, bezeichnen. Gemeint
sind damit Unternehmen, die mit innovativen Produkten
am Markt sind und im globalen Wettbewerb wichtige
Positionen erobern. Diese Unternehmen brauchen, wie
gesagt, einen langen Atem. Was benötigen sie dafür? Sie
benötigen schlicht und einfach Geld: Geld, um die Entwicklung ihrer Produkte voranzutreiben, und Geld, um
es sich erlauben zu können, auch einmal ein Tal zu
durchschreiten. Das bedeutet, dass wir ihre Eigenkapitalbasis stärken müssen.
An dieser Stelle muss ich sagen, meine Damen und
Herren von der Koalition: Ich bin fast erschrocken, dass
Sie dieses Thema in den fast drei Jahren Ihrer Regierungszeit noch nicht aufgegriffen haben. Mit der Abgeltungsteuer haben wir ein System geschaffen. Es hatte
gute Gründe, warum man sich damals so entschieden
hat. Aber dieses System hat auch Schwächen. Wie ist
heute die Situation? Bei einer Entnahme von Gewinnen
findet auf Ebene des Unternehmens eine Eigenkapitalbesteuerung statt, und zwar in Höhe von fast 50 Prozent.
Kapitalrenditen hingegen werden mit 25 Prozent besteuert. Das ist keine nachhaltige Situation. Ich möchte Sie
doch sehr bitten, diesen Punkt anzugehen. Das gilt auch
hinsichtlich der Thesaurierung bei Personengesellschaften. Hier gibt es ein weites Feld. Ich muss Ihnen ehrlich
sagen: Dazu habe ich nichts von Ihnen gehört. Das ist
beschämend für zwei Fraktionen, die sich hier hinstellen
und sagen: Wir wissen, was Mittelstand ist.
({2})
Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Der
Mittelstand braucht Kontinuität; er braucht jemanden,
der nachhaltig und berechenbar agiert. Das Bild, das Sie
bei der EEG-Förderung durch kurzfristige rückwirkende
Änderungen abgegeben haben, war beschämend. Herr
Hinsken, Sie haben doch auch die Briefe und Stellungnahmen aus dem Bayerischen Wald bekommen. Sie sind
hier von Ihren eigenen Ministerpräsidenten zurückgepfiffen worden. Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen,
hier über den Mittelstand zu reden, wenn Sie das, was
Sie sich hier als Regierungsfraktion geleistet haben,
nicht endlich in Ordnung bringen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gambke. - Nächster Redner ist unser Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber
für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege
Heinz Riesenhuber.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Wicklein, es ist schon eindrucksvoll, dass Sie
uns hier 186 Fragen gestellt haben. Einige davon sind
schon andiskutiert worden, nämlich die Fragen zum
Handwerk, zur Finanzierung und zu einer Reihe von anderen Punkten. Herr Gambke, ich freue mich, dass Sie
den innovativen Mittelstand mit so fröhlichem Unternehmungsgeist ins Gespräch gebracht haben.
({0})
Der Herr Staatssekretär hat das hier auch beiläufig angesprochen; er hatte ja nur bescheidene drei Minuten.
({1})
Zur Sache. Wenn wir uns anschauen, wie sich der
forschende Mittelstand in den vergangenen Jahren entwickelt hat, dann sehen wir, dass das eine Erfolgsgeschichte war. Die Bundesregierung hat die Aufwendungen für Forschung seit 2005 um über 50 Prozent erhöht.
Die kleineren Unternehmen des Mittelstands haben ihre
Aufwendungen für Forschung um 54 Prozent, die größeren um 42 Prozent erhöht. Die Wirtschaft insgesamt hat
sie dagegen nur um 30 Prozent erhöht. Der Mittelstand
ist mit Schwung im Bereich der Forschung tätig gewesen.
Gut, wir haben mit einigen Programmen geholfen,
zum Beispiel mit dem Zentralen Innovationsprogramm
Mittelstand, für das rund 500 Millionen Euro jährlich zur
Verfügung stehen, und mit der Industriellen Gemeinschaftsforschung, für die wir die Mittel auf 135 Millionen Euro erhöht haben. Diese Gelder fließen auch und
stehen nicht nur im Haushaltsplan, wie das in früheren
Zeiten - ganz alte Leute erinnern sich noch an Bundeskanzler Schröder - geschehen ist.
({2})
Die Förderung erfolgt auf solide und gesunde Weise und
geht von der Initiative KMU-innovativ des Forschungsministers bis hin zu den neuen Initiativen des Wirtschaftsministers im Rahmen seines Innovationskonzepts
auch für Gründungen. Wir haben hier einiges getan.
Der Witz ist aber, dass der Mittelstand gar keine Subventionen will. Der Mittelstand hält es schon für eine
großartige Leistung des Staates, wenn er die Leute nicht
mehr als nötig bei der Arbeit stört.
({3})
Deshalb haben wir für Bürokratieabbau gesorgt. Frau
Wicklein, eine Ihrer Fragen war - ich habe die Fragen
sorgfältig und mit Interesse gelesen; die Beamten, die
ihre Sommerpause jetzt anders gestalten müssen, werden
sie genauso neugierig lesen -, was für den Bürokratieabbau geschehen ist. Bis zum Jahresende werden wir die
Bürokratiekosten um 25 Prozent abgebaut haben. Das
entspricht ungefähr 12 Milliarden Euro. Das ist ein gewaltiger Betrag. Vor allem haben die Leute jetzt den
Kopf frei für die Arbeit.
({4})
Herr Gambke hat hier zu Recht einige Punkte angemahnt, zum Beispiel die steuerliche Forschungsförderung. Ich gebe schon zu: Auch in der Großen Koalition
haben wir das nicht geschafft, obwohl wir in herzlicher
Eintracht darauf hingearbeitet haben. Wir haben gesagt:
Sobald das mit dem Haushalt geht, werden wir das machen. So haben wir das auch beschlossen. Garrelt Duin,
den wir hier verloren haben, ist inzwischen in einer anderen Funktion tätig. Wir hoffen sehr, dass er mit seiner
ganzen Leidenschaft für die steuerliche Forschungsförderung auch im Bundesrat kämpfen wird, sodass wir den
Bundesrat bei einer Steuerentlastung auf unserer Seite
haben. Das wäre eine glanzvolle Leistung.
({5})
Das heißt, das Projekt ist ausdiskutiert, und zwar voller
Harmonie. Wir müssen jetzt nur noch ein bisschen Geld
beibringen; Sie haben die Größenordnung genannt.
Es gibt noch andere Punkte, bei denen wir uns genau
überlegen müssen, was wir mehr machen müssen. Frau
Wicklein sprach von Unternehmensgründungen und
Wagniskapital. Wir haben, was die staatsnahen Fonds
angeht, eine großartige Landschaft. Es gibt kein anderes
Land, das so viele Fonds hat: ERP/EIF-Dachfonds, den
High-Tech Gründerfonds II, der mit der Industrie zusammen aufgelegt worden ist, das Programm EXIST. Wir
haben den ERP-Startfonds der KfW. Wir haben eine
ganz vielfältige großartige Landschaft. Aber was uns
noch fehlt und woran wir arbeiten, ist die steuerliche
Förderung von innovativen Unternehmensgründungen.
Hierzu haben wir in der Großen Koalition, die es ja einmal gab - ich hoffe, Sie erinnern sich mit Wonne an
diese beglückende Zeit -,
({6})
ein Gesetz beschlossen - MoRaKG hieß es; ich erläutere
jetzt nicht, was es war -, das in Europa majestätisch an
die Wand gefahren worden ist. Böse Zungen sagen, dass
der Finanzminister es genauso gestrickt hat.
Was wir jetzt machen müssen, ist, genau hier anzusetzen. Die Bundeskanzlerin hat einen großartigen Innovationsdialog mit Wissenschaft und Wirtschaft angelegt
und empfohlen, dass genau diese Punkte in einem Bericht vorgelegt werden müssen, der übrigens, Herr
Staatssekretär, fällig ist. Wir warten voller Neugier darauf. Darin geht es um steuerliche Transparenz für Wagniskapitalfonds, darum, wie man Managementleistungen
in diesem Fonds besteuert, und um die Frage, wie man
die Verlustvorträge behandelt, wenn der Mehrheitseigner
in innovativen Unternehmen wechselt. Das heißt, es gibt
konkrete Punkte. Lieber Herr Staatssekretär, ich nehme
gerne die Gelegenheit wahr, Ihnen den dringenden
Wunsch des Parlaments zu Füßen zu legen, dass wir von
der Bundesregierung entsprechend dem Innovationsdialog unserer Bundeskanzlerin konkrete, saubere, zukunftsführende Beschlüsse bekommen, die zu Dynamik
führen und das flankieren, was man durch direkte Staatsfonds nicht erreicht.
Ich sehe einem weiteren Punkt mit Neugierde entgegen. Es wird ja mit wachsender Leidenschaft die Frage
nach innovationsfördernder öffentlicher Nachfrage gestellt. Wir haben nach großer Mühe ins Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen geschrieben, dass nicht nur
soziale und umweltfreundliche, sondern auch innovative
Aspekte berücksichtigt werden sollen, wenn öffentliche
Aufträge vergeben werden. Das scheint mir eine tolle
Sache zu sein. Wenn beim Wirtschaftsministerium dazu
Pilotprojekte laufen und die Europäische Union ihre
Mitgliedsländer auffordert, dies zu verstärken, wenn von
verschiedenen Seiten darauf gedrängt wird, die öffentliche Nachfrage zu nutzen, dann haben wir bei einem Volumen von 300 Milliarden im Jahr, selbst wenn nur
1 Prozent davon innovationsrelevant ist, etwas, was
zieht. In den klassischen Bereichen der Förderung des
innovativen Mittelstands sind wir sehr gut. Aber die Bereiche der steuerlichen Förderung von Unternehmensgründungen -
Herr Kollege Riesenhuber, wenn Sie immer vom Pult
weggehen, dann sehen Sie ja nicht, dass die Anzeige
leuchtet. Darauf möchte ich dringend hinweisen.
({0})
Ich lege am besten einen Zettel darauf; dann stört das
nicht weiter. Aber ich bedanke mich für die Mahnung,
Herr Präsident.
Es sollte auch ein Hinweis auf Ihre Redezeit sein.
Ich dachte, es ginge nur um das Optische.
({0})
Wir haben also eine Reihe von Punkten, wo wir unsere Möglichkeiten noch nicht uneingeschränkt ausgeschöpft haben. Wir streiten uns in anderen Punkten herzlich; aber im Bereich „Forschung und Mittelstand“ gibt
es schon einige Übereinstimmungen. Wenn hier die derzeitige Opposition, die im Bundesrat immerhin ein gewisses Gewicht hat, mit der gleichen Leidenschaft dafür
kämpft, dann bekommen wir eine Landschaft, in der die
Leute glücklich sind, weil sie tun können, was sie wirklich tun wollen, ohne dass man sie behindert, weil sie etwas Neues aufbauen können, weil sie Schwung in unsere
Arbeitswelt bringen.
Herr Professor, Vorlesungen kann man überziehen,
Debatten im Bundestag weniger.
({0})
Gut. Ich nehme die Mahnung in Demut entgegen.
Ich wünsche uns einen fröhlichen und entschlossenen
Aufbruch mit einer Gemeinsamkeit für die Zukunft unseres tüchtigen innovativen Mittelstands.
({0})
Vielen Dank, Kollege Professor Dr. Heinz
Riesenhuber. - Als Nächste spricht unsere Kollegin Rita
Schwarzelühr-Sutter für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach diesem Vortrag über Herrn Riesenhubers schöne neue Welt
fällt es einem schwer, wieder zur harten Realität zurückzukommen.
({0})
Man kann sich zwar auf den Lorbeeren ausruhen, aber
man muss doch die Realität sehen.
Frau Voß, gehört für Sie das Handwerk nicht zum
Mittelstand? Wenn man Sie so hört, könnte man meinen,
dass der Mittelstand ohne das Handwerk auskommt. Wo
war da die Kritik? Wir in Baden-Württemberg gehen
unter Grün-Rot beispielhaft voran.
({1})
Wir haben für das Handwerk das Tariftreuegesetz auf
den Weg gebracht und gesagt: Ehrliche Handwerker, die
einen ordentlichen Lohn bezahlen - ich weiß, das
machen meine Handwerker in Baden-Württemberg -,
profitieren davon.
({2})
Ja, die Lage ist gut. Wir haben gute Bedingungen,
gute Beschäftigungszahlen und gute Umsätze. Wir
haben auch eine gute Finanzierungslage. Allerdings lässt
die Nachfrage bei Krediten aufgrund der Euro-Krise
nach. Wir haben die Herausforderungen beschrieben: der
Fachkräftebedarf und vor allem die Energiewende, die
längst überfällig ist.
Auch wenn die Stimmung sehr gut ist, muss man sich
ansehen, wie sich die Kosten für Energie entwickeln;
denn diese wollen wir im Griff haben. Deutsche Unternehmen brauchen Planungssicherheit, um weiterhin
wettbewerbsfähig zu sein. Das gilt insbesondere für das
Logistikgewerbe und das Verkehrsgewerbe. Da spielen
die Energiekosten eine gewaltige Rolle.
Die Bundesregierung hat sich gezwungenermaßen im
vergangenen Jahr zur Energiewende entschlossen.
Schade, dass Sie noch unentschieden sind, ob Sie nun
backbord oder steuerbord segeln. Aber entscheiden Sie
sich endlich, mit der Energiewende zu beginnen, und
setzen Sie dafür die Segel.
({3})
Die Bewältigung der Energiewende ist eine der zentralen Herausforderungen für den Wirtschaftsstandort
Deutschland. Den Umbau der Energieversorgung schaffen wir nur mit dem Mittelstand als Produzent und
Dienstleister. Der Mittelstand braucht gezielte Unterstützung innerhalb der Wachstumsfelder erneuerbare Energien, Energieeffizienz und nachhaltige Mobilität, um die
neuen Entwicklungen aufzugreifen und die entsprechenden Marktchancen tatsächlich nutzen zu können. Aber
die Bundesregierung hat weder einen Masterplan noch
hat sie sich als Vorbild bei der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie erwiesen. Ihr EU-Kommissar hat darauf hingewiesen, dass es besser gewesen wäre, wenn
diese Bundesregierung, was die Energieeffizienzrichtlinie angeht, gar nicht erst nach Brüssel gekommen
wäre.
Jetzt haben die Minister Rösler und Altmaier angekündigt, Mittelstand und Handwerk bei den Stromkosten
zu entlasten. Das haben wir gehört; wir wollen aber auch
Taten sehen.
Die Energiewende ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Wir brauchen ein Monitoring, das die Preisentwicklung für Verbraucherinnen und Verbraucher und die
Wirtschaft im Auge behalten wird. Die Preisentwicklung
muss transparent und nachvollziehbar sein.
({4})
Bei der Diskussion über die Kosten darf man allerdings
nicht aus dem Blick verlieren, dass die Energiewende für
Unternehmen erhebliche Chancen darstellt. Wir benötigen
in Deutschland eine Qualifikations- und Qualitätsoffensive. Nehmen Sie zum Beispiel den Bau- und Gebäudetechnikbereich. Sowohl bei der Verarbeitung als auch bei
dem Einbau komplexer Energieeffizienzsysteme brauchen
wir qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker. Deswegen müssen die Anforderungen frühzeitig in Aus- und
Weiterbildung der entsprechenden Berufe einbezogen
werden; dabei diskutieren wir nicht unbedingt über die
Handwerksrolle. Das muss vorangebracht werden; sonst
können wir das gar nicht bewältigen.
({5})
In Zusammenarbeit mit Sozialpartnern sind entsprechende Verordnungen zu überarbeiten. Wir brauchen
auch Weiterbildungstarifverträge und Sozialpartnervereinbarungen.
Es gibt noch andere Bereiche beim Thema Energie,
wo der Mittelstand profitieren kann. Aber ich sehe, dass
das Licht blinkt, Herr Präsident.
Setzen Sie endlich die Segel, damit wir beim Mittelstand vorankommen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht dringend eine zukunftssichere und wettbewerbsgerechte Versorgung mit erneuerbarer Energie.
Wenn Sie das auf den Weg bringen, dann sind wir mit Ihnen im Boot.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Nächste und letzte Rednerin in unserer Aussprache ist
für die FDP-Fraktion unsere Kollegin Claudia Bögel.
Bitte schön, Kollegin Claudia Bögel.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mittelständische Unternehmen haben im Wesentlichen dazu beigetragen, Deutschland nach dieser
Wirtschaftskrise wieder auf Wachstumskurs zu bringen.
Es gilt nun, diesen Erfolgskurs des Mittelstandes weiter
zu festigen und die kleinen und mittleren Unternehmen
in ihrer Leistungs- und Risikobereitschaft bestmöglich
zu unterstützen. Die Regierung tut dies. Die Politik muss
hierfür die richtigen Rahmenbedingungen setzen und
diese auch kontinuierlich verbessern. So kann die mittelständische Wirtschaft ihr Entwicklungspotenzial, ihr
Innovationspotenzial und ihre nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit entfalten.
Zu drei wichtigen Themen möchte ich kurz Stellung
nehmen - ich habe leider nicht sehr viel Redezeit -:
Finanzierung, Fachkräftemangel und Innovationspotenzial.
Ein zentrales Thema ist die Stabilisierung des EuroRaums. Mehrheitlich gehen die Exporte der mittelständischen Unternehmen in den europäischen Raum. Das
muss beachtet werden. Denn so gut die Ideen und so
motiviert die mittelständischen Unternehmer und ihre
Mitarbeiter auch sind: Es gilt der Grundsatz „Ohne
Moos nix los“.
Die Unternehmensfinanzierung des Mittelstandes
muss eine stabile und verlässliche Basis haben.
({0})
So sollte unsere Arbeit gezielt die neuen Regulierungen
von Basel III berücksichtigen. Hier müssen wir darauf
achten, dass diese für die Finanzierung des Mittelstandes
nicht zur Gefahr werden. Die Neuregelung zur Eigenkapitalanforderung der Banken darf nicht zu einem Kollateralschaden bei der Kreditvergabe an mittelständische
Unternehmen führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Unterzeichner
der Großen Anfrage sehen eine Gefahr im demografischen Wandel und in dem damit einhergehenden Fachkräftemangel. Sehr richtig. Weil wir aber da sind, wo
man uns braucht, wissen wir auch, dass die Unternehmen nicht unvorbereitet sind. Da kann ich nur aus dem
Märchen von dem Hasen und dem Igel zitieren: „Ich bin
schon da“. Noch wichtiger ist: Wir haben bereits reagiert. Nach dem bewährten Schema „Kräfte bündeln,
um mehr Schlagkraft zu erhalten“ haben Wirtschaftsminister Dr. Rösler und Ministerin von der Leyen gemeinsam mit der Agentur für Arbeit die Fachkräfteoffensive, ein wirklich wunderbares Programm, gestartet.
Die Priorität liegt bei der Information und Mobilisierung
der Wirtschaft, der Arbeitskräfte und der Öffentlichkeit.
({1})
Der Mittelstand ist innovativ. Das ZIM, das Zentrale
Innovationsprogramm Mittelstand, ist ein wachstumsorientiertes Programm, das sich auch in Krisenzeiten
sehr bewährt hat. Der Mittelstand setzt darauf. So setzen
wir uns zum Ziel, dieses bewährte Programm auch über
2013 hinaus fortzusetzen.
In Ihrer Anfrage fordern Sie - wie sollte es auch
anders sein? -, dass der Staat in die Unternehmensgeschicke eingreift, um mehr Frauen in mittelständische
Unternehmen zu bekommen. Da haben wir es schon
wieder: das Thema Frauenquote. Als mittelstandspolitische Sprecherin meiner Fraktion kann ich dazu nur sagen: Die Wirtschaft sollte die Entscheidung treffen, wen
sie einstellt, und zwar nach Qualifikation.
({2})
Ohne weibliche Nachwuchs- und Führungskräfte geht es
in Zukunft sowieso nicht mehr. Das hat der Mittelstand
schon längst erkannt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie gerne
Ihre Fragen. Unsere gute Regierung wird sie beantworten.
({3})
Ich freue mich, dass es unserer Wirtschaft so gut geht;
denn nichts ist sozialer als ein Arbeitsplatz, und die
meisten Arbeitsplätze bietet der Mittelstand.
({4})
Daher setzen wir alles daran, ebendiesen Mittelstand zu
unterstützen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bögel.
Wir sind nun am Ende der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Infolgedessen kann ich die Aussprache schließen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5229, 17/9220 und 17/9221 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind alle damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Stephan Mayer ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
Piltz, Hartfrid Wolff ({1}), Manuel
Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Stiftung Datenschutz - Ein wichtiger Baustein
für modernen Datenschutz in Deutschland
- Drucksache 17/10092 Gemeinsam wurde vereinbart, eine halbe Stunde für
die Aussprache vorzusehen. Sind damit alle einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir das auch
gemeinsam beschlossen.
Erster Redner in dieser Aussprache ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole
Schröder. Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schröder.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir leben in einer Welt, in der die elektronische
Datenverarbeitung immer wichtiger wird. Grundlegende Funktionen unserer Gesellschaft, zum Beispiel die
Wertschöpfung, Infrastrukturen und Kommunikation,
sind mittlerweile von der Digitalisierung erfasst. Wir
profitieren von Innovationen in allen Lebensbereichen,
die zum Teil erst durch die zunehmende Vernetzung und
die Verfügbarkeit größerer Datenmengen ermöglicht
werden. Die Digitalisierung bietet große Chancen und ist
Motor für Innovationen. Ich denke dabei an den Energiesektor - CO2-Einsparungen werden durch Smart Grids
ermöglicht -, den Gesundheitsbereich - dort sind große
Innovationen für jeden Einzelnen möglich, aber auch
Einsparungen - oder an den Bereich E-Government.
Darüber hinaus hat die digitale Vernetzung großen Einfluss auf unsere Kommunikation. Ich denke in diesem
Zusammenhang natürlich an die sozialen Netzwerke.
Wir können über die Chancen der Digitalisierung
natürlich nicht reden, ohne gleichzeitig die Risiken zu
bedenken. Diese liegen auf der Hand, gerade im Bereich
des Datenschutzes. Da es möglich ist, Daten für ungewollte Profilbildungen nutzbar zu machen, brauchen wir
gute rechtliche Vorgaben, um die Menschen vor Datenmissbrauch zu schützen. Gerade die neue Datenschutzverordnung, über die auf europäischer Ebene verhandelt
wird, eröffnet große Möglichkeiten. Wir, die Bundesregierung, unterstützen das. Wir brauchen ein einheitliches
europäisches Datenschutzrecht. Wir wollen die Marktmacht von 500 Millionen Verbrauchern nutzen, um unsere hohen datenschutzrechtlichen Standards auch gegenüber Unternehmungen zur Anwendung zu bringen,
die ihren Sitz nicht in Europa haben.
Neben den rechtlichen Vorgaben kommt es im Bereich des Datenschutzes aber maßgeblich auf das Verhalten jedes Einzelnen an. Der Verbraucher selbst nimmt
Einfluss auf den Umgang mit seinen Daten. Entscheidend ist, dass der Verbraucher um den Wert seiner Daten
weiß und mit ihnen sensibel umgeht. Er sollte zum Beispiel bei der Auswahl einer Dienstleistung berücksichtigen, ob der Anbieter dieser Dienstleistung datenschutzfreundlich ist oder nicht. Gerade bei sozialen
Netzwerken spielt es eine große Rolle, ob die Grundeinstellungen datenschutzfreundlich sind oder nicht. Um
das selbst beurteilen zu können, brauchen die Verbraucher die erforderliche Aufklärung und das notwendige
Fachwissen.
Hier kommt die Stiftung Datenschutz ins Spiel. Diese
von der Bundesregierung neu zu gründende Stiftung will
den Verbraucher dabei unterstützen, seine Rechte, aber
auch seine Verantwortung im Umgang mit eigenen wie
mit fremden Daten besser wahrzunehmen. Die Stiftung
kann durch Aufklärungskampagnen auf Gefahren hinweisen und praktische Tipps geben. Die Stiftung wird
auch einzelne Produkte und Dienstleistungen auf ihre
Datenschutzfreundlichkeit hin überprüfen. Sie wird
Datenschutzauditverfahren entwickeln. Gegenstand eines derartigen Verfahrens sind beispielsweise die Anwendung datenschutzrechtlicher Regelungen in Unternehmen und ihre Weiterentwicklung in Best-PracticeVerfahren. Diese Datenschutzaudits können dann von
anderen angewendet werden. So entsteht Innovation im
Bereich des Datenschutzes.
Um die Stiftung möglichst praxisnah und an den aktuellen Problemen im Bereich des Datenschutzes auszurichten, ist über den Beirat der Stiftung eine enge Zusammenarbeit mit der betroffenen Wirtschaft, mit
staatlichen Stellen des Bundes und der Länder, aber auch
mit sonstigen Stellen - wie zum Beispiel mit der Stiftung
Warentest und dem Verbraucherschutz - vorgesehen.
Meine Damen und Herren, die Stiftung Datenschutz
steht momentan am Anfang. Der Bundestag hat im
Haushalt 10 Millionen Euro Stiftungskapital zur Verfügung gestellt. Wir haben die Satzung intensiv - auch mit
der Koalition - beraten. Die Stiftung soll in Leipzig eingerichtet werden. Ich glaube, dass die vorgesehenen Au22438
ditierungsverfahren und die Prüfung von Produkten und
Dienstleistungen auf ihre Datenschutzfreundlichkeit hin
insgesamt positive Effekte haben werden.
Datenschutz wird immer mehr zu einem Qualitätsmerkmal von Unternehmen werden. Er wird sich auch
immer stärker zu einem Wettbewerbsvorteil entwickeln.
Die Verbraucher werden das hoffentlich immer stärker
bei der Auswahl ihrer Produkte und ihrer Dienstleistungen berücksichtigen. Damit entsteht im Markt ein Wettbewerb für den besseren Datenschutz. Genau das soll
diese Stiftung befördern.
Wir setzen daher mit dieser Stiftung ein wichtiges
Signal für eigenverantwortliches Handeln im Bereich
des Datenschutzes. Ich bitte Sie alle, diese Stiftung bei
ihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen.
({0})
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Dr. Ole Schröder. - Nächster Redner für die Fraktion der
Sozialdemokraten ist unser Kollege Gerold Reichenbach.
Bitte schön, Kollege Gerold Reichenbach.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuschauer!
Ihre Worte waren sehr hehr, Herr Staatssekretär. Allein
die Praxis bei dieser Regierungskoalition sieht doch etwas anders aus.
({0})
Die heutige Debatte trägt den Titel „Stiftung Datenschutz“. Eigentlich müsste ein ehrlicher Titel heißen: Bei
dieser schwarz-gelben Koalition geht Datenschutz stiften.
({1})
Sie haben mit großem Brimborium angekündigt: Datenschutz wird einer unserer Schwerpunkte. Die FDP hat
sich sogar verstiegen, sich zu der Datenschutz- und Bürgerschutzpartei Deutschlands auszurufen. Was ist das
Ergebnis? Außer Spesen nichts gewesen.
({2})
Dabei sind die Probleme im Bereich des Datenschutzes
doch drängender denn je. Wir haben hier im Hause
schon mehrmals darüber diskutiert. Es gab Datenschutzskandale bei Telekom und Bahn. Bei den sozialen Netzwerken Facebook und Google gab es Selbstherrlichkeit
beim Einsammeln und Verwenden von Daten der Bürger. Der letzte Skandal war, dass die Schufa in den sozialen Netzwerken - sozusagen in den Fotokästchen der
Bürger - nach unsolidem Lebenswandel forschen wollte,
um herauszubekommen, ob sie denn weiter kreditwürdig
sind. In diesem Zusammenhang könnte die Stiftung
Datenschutz, richtig umgesetzt, durchaus ihren Beitrag
leisten. Das könnte - Sie haben es gesagt - durch Aufklärung geschehen, aber auch durch Zertifizierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder kennt das Bermudadreieck, in dem Schiffe und Flieger verschwinden.
Das Datenschutz-Bermudadreieck der Bundesrepublik
Deutschland heißt Schwarz-Gelb.
({3})
Ich erinnere nur an die Nichtumsetzung der E-PrivacyRichtlinie und an die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, das schlicht und einfach nur an Wirtschaftsinteressen ausgerichtet war. Weiter erinnere ich
an das Dauerthema Beschäftigtendatenschutz und an das
groß angekündigte Rote-Linie-Gesetz, von dem man
nichts mehr hört. Alles ist in den Strudeln des Koalitionsstreites und den Tiefen Ihrer Lobbyhörigkeit versunken.
({4})
- Frau Piltz, in diese Reihe fügt sich auch die endlose
Story um Ihre Stiftung Datenschutz ein.
Sie sollte eigentlich schon 2011 starten. Das Geld lag
2011 bereit. Man hat es in eine Treuhandstiftung überführt, damit es nicht verfällt. Dann hieß es: Die Stiftung
ist spätestens bis spätestens Ende März 2012 betriebsbereit. Der März ist längst vorbei, wir haben nichts gesehen. Jetzt kommt der Antrag, und es heißt, dass es im
Oktober passieren wird. Schauen wir uns einmal an, was
die Koalitionsfraktionen nach all diesem Gerangel überhaupt vorgelegt haben. Offensichtlich hat es dazu geführt, dass Sie das Konstrukt, das Sie hier jetzt vorlegen,
noch nicht mal mehr in der Öffentlichkeit diskutieren
wollen. Das ist das erste Mal, dass hier ein Antrag zu so
einer wichtigen Geschichte nur im Plenum diskutiert
werden soll und nicht in die Ausschussberatung überwiesen werden soll, um dann dort auch einmal inhaltlich
über das Konstrukt der Stiftung, über die Ausgestaltung
reden zu können.
({5})
Es geht sogar noch ein Stückchen weiter. Sie sagen, Sie
haben eine Satzung. - Dem Hause liegt die Satzung
nicht vor. Was uns aber vorliegt, Frau Kollegin Piltz, ist
die Ankündigung, dass Sie am Montag der Presse erläutern sollen, wie es mit dem Konstrukt, mit der Satzung
und der Stiftung weitergeht.
Okay, da könnte ich ja noch sagen, die FDP bereitet
sich offensichtlich auf die Situation vor, dass sie in
diesem Hause nicht mehr präsent ist und nichts mehr zu
sagen hat.
({6})
Aber momentan sind Sie noch Abgeordnete im Deutschen Bundestag, und dann erwarten wir, dass Sie hier
das diskutieren, was Sie in diesem Land politisch voranbringen wollen, und nicht am Montag gegenüber irgendeinem Pressegremium.
({7})
Wenn wir uns dann einmal die Struktur anschauen,
dann sehen wir, dass Sie im Haushalt 10 Millionen Euro
eingestellt haben. Das ist gemessen an dem, was auch
der Staatssekretär eben an Auftrag vorgetragen hat, ein
Tropfen auf den heißen Stein. Wie wollen Sie denn die
Aufklärung der Verbraucher, die Förderung des Datenschutzbewusstseins, die Zusammenarbeit mit den Landesdatenschutzbeauftragten überhaupt finanzieren?
Die Lösung ist klar: Das wird nur funktionieren, wenn
die Wirtschaft, und zwar die betroffene Wirtschaft, einen
großen Teil der Finanzierung übernimmt. Das trägt doch
bereits den Keim des Scheiterns in sich.
({8})
Glauben Sie denn wirklich, dass die Wirtschaft ein Instrument der Aufklärung, ein Instrument der Zertifizierung finanzieren wird, das nicht ihren Bedürfnissen genügt? Wir haben doch genug Erfahrung mit all den
Plaketten und Zertifizierungen, die in der Vergangenheit
unter der Ägide der betroffenen Wirtschaft aufgelegt
worden sind. Mal ehrlich, wer guckt beim Einkauf nach
dem DLG-Siegel, wer guckt denn nach dem deutschen
Weinsiegel? Der Grund ist, dass diese Siegel alle so abgeschliffen wurden, dass sie am Ende gar keine Aussagekraft mehr haben. Im Gegenteil! Beim deutschen
Weinsiegel gab es ja einmal den Spruch - Sie erinnern
sich an den ehemaligen CDU-Politiker Pieroth -: Wo ein
Weinsiegel drauf ist, ist Glykol drin.
({9})
Ich prophezeie Ihnen, dass Sie mit diesem Konstrukt,
auch mit der Stiftung Datenschutz, genau dahin geraten.
({10})
Gucken wir uns das Konstrukt an! Die Stiftung selber ist
mit ihrem Verwaltungsrat eine reine Regierungsveranstaltung. Darin sitzen die Ministerien, nicht mal - wie
ursprünglich geplant; wie von Ihnen, Frau Kollegin
Piltz, groß vorgetragen - unabhängige Sachverständige,
die die Garantie dafür geben, dass sie auch gegenüber
der Öffentlichkeit als unabhängig gelten. Nein, rein
Ministeriumsvertreter.
Und wie sieht es in dem Beirat aus mit 25 Mitgliedern? Da kann man sich die Frage stellen: Ist der überhaupt arbeitsfähig? Allein 14 Wirtschaftsvertreter, noch
einmal aufgestockt um 2. Die Zahl der BITKOM-Vertreter dort - das ist eindeutig ein Lobbyverband - hat sich
verdoppelt.
({11})
- Ja, natürlich. - Die schreiben Ihnen jetzt sogar noch,
dass das alles Murks ist, was Sie vorlegen. Die Verbraucherberatung, von der Sie sagen, Sie wollen sie mit
einbeziehen, sagt: Das ist alles Murks. Die mittelständische Wirtschaft für die Datenverarbeitung, die Berliner
Datenschutzrunde sagen: Das ist alles Murks.
Das Ergebnis ist am Ende: Sie können noch nicht mal
mehr sagen, wie das Ganze denn eigentlich mit in die
Arbeit der Landesdatenschutzbeauftragten eingeordnet
wird. Soll das dann ein Siegel sein, das da irgendwo den
Datenschutzbeauftragten signalisiert: Ihr braucht bei uns
nicht mehr nachzugucken? So nach dem Motto, im Mittelalter hat man Krähen an die Tür genagelt, damit die
Geister vom Hof fernbleiben. Sie nutzen dann Ihr Zertifizierungssiegel, um die Datenschutzbeauftragten
fernzuhalten? Das wird nicht funktionieren, wenn die
Standards nicht auch so gesetzt sind, dass die Datenschutzbeauftragten sagen können: Das ist ein gewisser
Qualitätshinweis. - Das werden Sie mit dieser Konstruktion des Beirats, in dem die Wirtschaft vorherrscht, nicht
hinbekommen.
Deswegen sage ich am Ende: Setzen Sie sich endlich
für einen ernsthaften Daten- und Verbraucherschutz ein,
und legen Sie ein abgestimmtes Konzept vor, bei dem
die zügige Errichtung einer unabhängigen Stiftung, einer
wirklich unabhängigen Stiftung, integraler Bestandteil
ist! Den Antrag, den Sie hier in dieser Fassung vorgelegt
haben, werden wir nicht nur deswegen ablehnen, weil
Sie sogar die Debatte in den Ausschüssen scheuen, sondern wir werden ihn ablehnen, weil dieser Antrag
schlicht und einfach nichts mit Daten- und Verbraucherschutz zu tun hat. Das, was Sie hier vorlegen, ist schlicht
und einfach Murks.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für Liberale ist der zentrale Grundsatz des Datenschutzes, dass mündige Bürgerinnen und Bürger selbst
darüber entscheiden, welche persönlichen Daten über sie
bekannt werden. Als mündige Bürgerin mache ich heute
von mir selbst öffentlich in Wort und Bild bekannt: Ich
bin Fortuna-Düsseldorf-Fan. Ich freue mich, wenn ich
das hier sagen darf, dass meine Mannschaft in die erste
Liga aufgestiegen ist. Um im Bild zu bleiben: In die
erste Liga steigt jetzt auch der Datenschutz auf;
({0})
denn die Stiftung Datenschutz wird bis Oktober dieses
Jahres errichtet sein.
({1})
Wir setzen mit der Errichtung dieser Stiftung den
Koalitionsvertrag um, und das ist - das bekennen wir ein Herzensanliegen der Liberalen gewesen. Es ist so,
dass Datenschutz ein gesellschaftlich wirklich wichtiges
Thema geworden ist. Das war nicht immer so; aber das
hat sich Gott sei Dank geändert. Deshalb ist es folgerichtig, dass dies von der Bundesregierung mit einem neuen
Instrumentarium begleitet wird.
Herr Kollege Reichenbach, wenn ich Reaktionen wie
die von Ihnen höre, dann habe ich den Eindruck: Sie sind
eigentlich bloß neidisch, weil Sie es nicht geschafft haben.
({2})
Ganz ehrlich: Wie Sie sich hier als jemand verhalten, der
aus der Partei Otto Schilys kommt! Er hat Daten über
Daten gesammelt, mit jedem ausgetauscht, ohne Kontrolle. Angesichts dessen wäre ich hier einmal ein bisschen demütiger. Wenn Sie hier eine Geschichtsvorlesung
durchführen wollen, dann fühle ich mich herausgefordert, mit Ihnen einmal über die Beteiligung der Wirtschaft an der Finanzierung der „Plattform Ernährung und
Bewegung“ zur Vorbeugung von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen für dicke Kinder zu reden; diese
Plattform haben Sie, Rot und Grün, eingeführt. Auch
diesbezüglich können wir uns überlegen, ob das sinnvoll
ist.
({3})
Wenn Sie Bundestrainer wären - um in meinem Bild
zu bleiben -, dann würden Sie die Taktik so zerreden,
dass am Ende auch die beste Mannschaft verliert.
({4})
So sieht es bei Ihnen mit dem Datenschutz aus. Da ist Ihnen nicht zu helfen. Die Geschichte ist so: In Ihrer Regierungszeit ist der Datenschutz Stück für Stück in unergründlichen Tiefen verschwunden. Ja, ich bekenne: Es
hat lange gedauert und für meine Fraktion manchmal
auch zu lange. Aber der Unterschied ist: Wir schaffen
das jetzt. Sie hätten es nie geschafft.
({5})
Auch der Kollege von Notz hat sich schon öffentlich
beklagt, diese Stiftung sei nur ein zahnloser Tiger.
({6})
Ich darf nur daran erinnern, wie die Grünen 1998 und
2002 beim Datenschutz den Menschen weismachen
wollten, sie starteten als Tiger. - Und sie sind doch nur
als Bettvorleger gelandet.
({7})
Sie wollten doch tatsächlich 2002 in Ihrer Koalition
- das muss ich vorlesen, weil es so wunderbar ist - prüfen, wie durch die von Ihnen verlangte Stärkung „selbstregulativer Modelle“ beim Datenschutz mittels moderner Kommunikation eine „institutionalisierte Plattform
zur Koordination“ geschaffen werden könne. Dennoch
werfen Sie uns jetzt vor, eine Stiftung Datenschutz gründen zu wollen. Das müssen Sie einmal irgendjemandem
erklären.
({8})
Wir stärken mit der Stiftung Datenschutz den Ansatz in
der Informationsgesellschaft, der Dreh- und Angelpunkt
des Datenschutzes ist: Eigenverantwortung des Einzelnen, also Selbstdatenschutz, und Verantwortung der
Wirtschaft für den Umgang mit den Daten, die ihr anvertraut wurden.
Wir setzen damit einen Kontrapunkt zu denen - auch
das ist ein Zeichen -, die meinen, Bevormundung sei der
beste Weg, die den Datenschutz als Schutz des Menschen vor sich selbst verstehen. Diese Stiftung hat die
Aufgabe, den Selbstdatenschutz zu verbessern und Aufklärung zu leisten. Datenschutz ist heute nicht nur die
Summe aller Hoheitsakte, sondern aktive Gestaltung der
Umgangsformen in der Informationsgesellschaft.
Datenschutz ist aber auch ein Qualitätsmerkmal für
die Wirtschaft. Das, was Sie hier so heruntergeredet
haben, Herr Kollege, ist ein wichtiger Aspekt dieser Stiftung. Die Firmen, die in den letzten Jahren durch Skandale aufgefallen sind, haben das leidvoll erfahren: Ihnen
sind Kunden von der Fahne gegangen, und ihr Image hat
gelitten, als man mit den Kundendaten nicht ordentlich
umgegangen ist. Ich glaube, dass die Entwicklung eines
Datenschutzgütesiegels ein wichtiger Schritt auf dem
Weg des Datenschutzes ist. Wenn andere Siegel nicht
funktionieren, dann mag das so sein. Aber etwas nur deswegen kaputtzureden, weil es nicht von Ihnen kommt, ist
wirklich der falsche Weg.
({9})
Es soll nicht so sein, dass diese Stiftung das Siegel
selber vergibt; vielmehr sollen dadurch die Standards
festgelegt werden. Natürlich werden wir den TÜV und
die Datenschutzbeauftragten einbeziehen. Aber, Herr
Kollege, nennen Sie mir einen Datenschutzstandard, ein
Datenschutzsiegel, das es heute schon gibt und mit dem
Verbraucher etwas anfangen können. Das gibt es nicht.
Das ist ein Versäumnis, und das werden wir jetzt beenden. Für das Vertrauen in die Stiftung ist ihre Unabhängigkeit von entscheidender Bedeutung. Die nun vorliegende Satzung bietet der Stiftung den Rahmen dafür.
Herr Kollege Reichenbach, für Sie ein bisschen Nachhilfe in Sachen Geschäftsordnung. Ich verstehe, dass Sie
nach dem, was Sie hier geboten haben, jetzt keinen Bock
mehr haben, mir zuzuhören und mich anzugucken. Aber
eines muss ich Ihnen noch sagen: Wenn Sie glauben, das
hier sei keine öffentliche Debatte, dann drehen Sie sich
einmal um und schauen Sie nach oben, auf die Besuchertribüne. Das hier ist eine öffentliche Debatte; in einem
Ausschuss wird nichtöffentlich debattiert. Die Damen
und Herren da oben, die unserer Debatte heute freundlicherweise folgen können, können das im Ausschuss
nicht. Wenn Sie das nicht wissen, gebe ich Ihnen gerne
einmal privat Nachhilfe.
({10})
Offensichtlich haben Sie es nötig, wenn Sie nicht wissen, was öffentlich und nichtöffentlich ist.
({11})
Wir glauben, dass dies für den Datenschutz ein guter
Anfang ist. Der Beirat bindet viele Akteure ein, vielleicht manchmal auch zu viele; aber am Ende des Tages
wird sich auch das regeln. Wenn ich zum Schluss in meinem heutigen Bild bleiben darf:
({12})
Wie eine Fußballmannschaft braucht auch die Stiftung
Datenschutz Rückenwind und Begeisterung von denen,
die Fans des Datenschutzes sind.
({13})
- Herr Korte, wenn Sie nicht so nette Reden halten können, kann ich Ihnen nicht helfen. - Der Fanblock
({14})
ist heute rechts von mir. Bei den Fans bedanke ich mich
ganz herzlich. Eine La Ola nehme ich gerne entgegen.
Ich hoffe, dass sich vielleicht der Fanblock links von mir
irgendwann einmal einen Datenschutz-Fanschal umlegen kann, um gemeinsam daran zu arbeiten, dass die
Stiftung ein Erfolg wird und dass Datenschutz in
Deutschland ein besseres Image erhält als bisher.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin
Piltz, damit wir uns nicht missverstehen: Die leidvollen
Geräusche, die ich eben machte, hatten etwas mit den
eben von Ihnen vorgetragenen Logiksaltos zu tun, die
wirklich auch körperlich kaum zu ertragen sind;
({0})
das hatte nichts mit Begeisterung zu tun.
Ich will trotz des dahingekritzelten Antrags versuchen, ein wenig Seriosität in die Debatte zu bringen.
({1})
- Hören Sie doch einmal zu. - Sie hatten vor langer Zeit
bei diesem Thema überraschenderweise eine mittelgute
Idee: die Errichtung der Stiftung Datenschutz. Das ist
erst einmal sachlich festzustellen. Es hätte Potenzial gehabt, daraus etwas Sinnvolles zu machen. Hätten Sie die
Opposition, die Ausschüsse und diejenigen, die davon
Ahnung haben, einmal eingebunden,
({2})
dann hätten Sie heute nicht so einen Wisch vorlegen
müssen. Jetzt liegt hier dieses dahingekritzelte Ding, das
Sie hier unbedingt noch heute, vor der Sommerpause,
durchbringen müssen, damit Sie in diesem Bereich überhaupt auch nur einen Punkt durchbringen. Ansonsten haben Sie ja nichts durchgebracht; Sie haben voll versagt.
Deswegen wird das jetzt hier eben einmal auf den Tisch
geknallt.
Ich will Ihnen aber sagen, inwiefern von Ihnen aus einer guten Idee eine bemerkenswert schlechte Sache gemacht wird. Das ist bei der FDP zwar nicht überraschend; aber man hätte uns ja einmal überraschen
können.
({3})
- Der Kalaueranführer ist Ihr Fraktionsvorsitzender. Da
kann keiner mithalten; den haben Sie.
({4})
Erstens. Die Stiftung ist massiv unterfinanziert. So
kann man überhaupt keine seriöse Zertifizierung und anderes vornehmen.
({5})
Zweitens. Ein aktiver und aufklärerischer Datenschutz - das ist die Grundregel - muss unabhängig sein.
Das, was Sie machen, ist alles, nur nicht unabhängig. Ein
Gutes hat der Antrag: Damit die Leute, die es sich antun,
den Antrag zu lesen, es sofort begreifen, heißt es in Ihrem Antrag zum Thema Unabhängigkeit, dass man sich
„gemeinsam mit der Wirtschaft für eine ausreichende finanzielle Basis der Stiftung einsetzen“ will. Das schreiben Sie da sogar hinein. Das hat doch nichts mit Unabhängigkeit zu tun; das ist eine Gefälligkeitsstiftung der
Konzerne. Das machen Sie, und nichts anderes.
({6})
Es ist wirklich nur absurd, was Sie hier vorlegen.
({7})
Drittens. Sie besetzen alle möglichen Gremien, und
die Mitglieder werden vom BMI ausgesucht. Wir wissen
doch: Wenn der Datenschutz beim BMI - bei Friedrich,
bei Schily oder wie sie alle heißen - angesiedelt ist, ist
das schlecht für den Datenschutz. Das hat die Geschichte
doch bewiesen.
({8})
Es ist einfach nur grotesk, was Sie hier vorlegen.
Viertens. Mit der Stiftung Datenschutz - das ist nicht
mal im Ansatz mehr witzig - lenken Sie von einer prekären Unterfinanzierung der Landes- und Bundesdatenschutzbehörden ab, die ihren Aufgaben nicht nachkommen können, weil sie dafür kein Personal haben. Damit
lenken Sie ab.
Fünftens. Die Stiftung Datenschutz ist das einzige
Projekt, das die FDP in diesem Bereich überhaupt durchgesetzt hat. Mich interessiert eines - der Kollege Mayer
kann das für die Koalitionsfraktionen sagen -: In der ersten Fassung für die heutige Tagesordnung stand der Tagesordnungspunkt Arbeitnehmerdatenschutz. Wir haben
uns gefreut, diesen Tagesordnungspunkt in der Debatte
argumentativ zu versenken. Dann ist es ganz interessant
gewesen: Man reist aus dem Wahlkreis an, und der Tagesordnungspunkt ist von der Tagesordnung verschwunden. Vielleicht können Sie, Kollege Mayer, uns einmal
über den Grund aufklären; denn statt so eine komische
Stiftung zu installieren, wäre es für den Datenschutz, vor
allem für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das
Wichtigste gewesen, dies hier durchzusetzen. Von Ihnen
kommt gar nichts; denn Sie sind den Unternehmerinteressen verpflichtet und nicht dem Datenschutz der Beschäftigten. So sieht es aus.
({9})
Deswegen fasse ich zusammen: Wir werden mit voller Begeisterung diesen Antrag ablehnen.
({10})
Wir finden das ganze Verfahren reichlich bizarr. Sie haben nicht einmal den Mumm, über dieses Thema mit den
Fachleuten im Ausschuss und in einer Anhörung zu diskutieren. Ich finde, das ist eine schwache Performance,
die Sie liefern.
({11})
Deswegen steht die Linke, im Gegensatz zu Ihnen, für
einen unabhängigen und kritischen Datenschutz, der zuerst und in besonderer Weise den Schwächeren in dieser
Gesellschaft ein demokratisches Instrument gegen die
Wirtschaft, gegen die Mächtigen und auch gegen Sie in
die Hand geben sollte. Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
Schönen Dank.
({12})
Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nun das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als man vor
nunmehr drei Jahren im Koalitionsvertrag das Kapitel
über den Datenschutz erstmalig las, konnte man für den
Datenschutz vorsichtig optimistisch sein. Wir haben
diese Absichtserklärungen damals durchaus anerkannt
und unsere konstruktive Unterstützung zugesagt. In der
langen, langen Zeit des Wartens auf Konkretes haben wir
immer wieder gesagt: Eine Stiftung könnte zweifellos
ein wichtiges Projekt für einen besseren Datenschutz
sein. Aber das, was Sie hier heute unter dem Label der
Stiftung vorlegen, ist einfach zu wenig.
({0})
Man hat sich ja damit abgefunden, dass Sie die notwendige Reform des BDSG sträflich liegen gelassen haben. Frustriert sahen wir uns gezwungen, Ihre Arbeit zu
erledigen, und ein eigenes, tragfähiges Beschäftigtendatenschutzgesetz vorzulegen. Wir beobachten derzeit,
Herr Staatssekretär Schröder, wie das Innenministerium
den Prozess der Schaffung eines effektiven europäischen
Datenschutzrahmens eher zu hintertreiben scheint. Das
ist etwas ganz anderes, als Sie es eben gesagt haben.
({1})
Die Stiftung war Ihr letztes Feigenblatt. Nach der
Vorlage Ihres heutigen Entwurfs stehen Sie nun endgültig datenschutzrechtlich nackt im Wind, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen.
Der Reformbedarf ist unbestritten hoch. Ähnlich wie
beim Urheberrecht ist der Datenschutz durch Digitalisierung und Internet zu einem zentralen gesellschaftspolitischen Thema geworden, das die Bürgerinnen und Bürger
praktisch täglich betrifft.
Das in Deutschland bestehende unabhängige Datenschutzsystem und das zugrunde liegende Ordnungsrecht
haben sich grundsätzlich bewährt. Aber angesichts einer
technologisch höchst dynamischen Entwicklung muss
auch der Datenschutz dynamisch weiterentwickelt werden. Im Hinblick auf das wichtige Ziel der Vergabe von
Gütesiegeln hätte eine starke, eine unabhängige Stiftung
Datenschutz eine wertvolle Ergänzung der bestehenden
Strukturen sein können, Frau Kollegin Piltz. Wir brauchen neue Instrumente der Steuerung und einen Mehrebenenansatz, auch um zusätzliche Anreize für ein höheres Datenschutzniveau zu schaffen. Was Sie uns aber
hier als unabhängige Stiftung verkaufen wollen, ist
nichts anderes als eine winzige Außenstelle des BMI,
des Innenministeriums, das in letzter Zeit in diesem Bereich nur dadurch auf sich aufmerksam gemacht hat,
dass es den Datenschutz ganz neu denken möchte.
Ich sage Ihnen: Die zwei Angestellten - von diesen
Geldern können Sie nämlich nur zwei Angestellte finanzieren - werden im Wesentlichen damit beschäftigt sein,
die Sitzungen des halbjährlich stattfindenden Wirtschaftsrats zu organisieren. Das ist keine effektive Datenschutzpolitik, Frau Kollegin Piltz; das ist auch nicht
der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den WirtDr. Konstantin von Notz
schafts- und Bürgerrechtsflügeln dieser schwarz-gelben
Koalition, sondern das ist das Zeugnis Ihres kläglichen
Versagens im Bereich Datenschutz in dieser Legislaturperiode.
({2})
Die Währung des Datenschutzes ist Vertrauen. Das
gilt für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die
Wirtschaft, die endlich einen verbindlichen Rahmen für
Innovations- und Investitionssicherheit braucht. Doch
nur unabhängige Institutionen verdienen Vertrauen. Ihre
Stiftung aber wird einseitig von der Exekutiven beherrscht. Das BMI allein dominiert Vorstand und Verwaltungsrat nach Belieben, Frau Piltz.
({3})
Das kann doch nicht allen Ernstes Ihr Ansatz sein!
Der Beirat ist so wirtschaftslastig, dass von einer paritätischen Besetzung kaum gesprochen werden kann. Ihr
Versuch, das BMI als Türöffner zu nutzen, um die Wirtschaft auf Augenhöhe mit den Aufsichtsbehörden an einen Tisch zu setzen, verdient kein Vertrauen, ganz im
Gegenteil. Ihr Vorgehen nährt den Verdacht, dass Sie ein
U-Boot in das bestehende Aufsichtssystem integrieren
wollen. Das ist mit uns nicht zu machen.
({4})
Zu guter Letzt: Mit dem, was Sie hier heute vorgelegt
haben, beschädigen Sie die grundsätzlich gute Idee einer
Stiftung Datenschutz. Das ist auch der Grund, warum
sich nicht nur die bösen Grünen und der Rest der bösen
Opposition diesem Vorhaben entgegenstellen, sondern
auch die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder, die Verbraucherzentralen und die Berliner Datenschutzrunde.
Sie alle fordern: Keine Zustimmung des Bundestages
zu dieser Vorlage. Denn das, was Sie hier vorhaben, hat
ein sehr viel höheres Schadenspotenzial, als dass es
nützt.
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Stephan
Mayer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Vor Beginn dieser Debatte dachte ich eigentlich, dass sie relativ ruhig, unaufgeregt und sachlich verlaufen würde. Denn an sich teilen
wir doch ein Ziel: Wir wollen den Datenschutz in
Deutschland verbessern,
({0})
wir wollen den Datenschutz hier im Hause voranbringen
und insgesamt mehr für den Datenschutz tun.
Dass diese Debatte dann doch so aufgeregt und keifend verlief,
({1})
insbesondere seitens der Beiträge der Oppositionsvertreter, erweckt bei mir schon den Eindruck, dass Sie einfach nur sauer und bekümmert sind, dass Sie es nicht geschafft haben.
({2})
Wir sind jetzt so weit: Wir gründen die Stiftung Datenschutz. Diese Stiftung wird einen wichtigen Baustein für
ein modernes Datenschutzrecht in Deutschland darstellen.
({3})
Als ich vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal in den
Deutschen Bundestag gewählt wurde, fristete der Datenschutz noch ein stiefmütterliches Dasein - hier im Bundestag, aber auch insgesamt in Deutschland. Man muss
sagen: In den letzten zehn Jahren hat sich viel getan.
({4})
Der Datenschutz ist mittlerweile ein Querschnittsthema,
das alle Politikbereiche betrifft. Es gibt fast keinen Politikbereich mehr, in dem der Datenschutz keine Rolle
spielt. Das ist an sich gut so.
Die Erfahrungen haben gezeigt, dass es erheblichen
Verbesserungsbedarf gibt. Das gilt teilweise für den Bereich Recht; das ist richtig. Das Bundesdatenschutzgesetz ist zu alt; es ist in die Jahre gekommen und bedarf
einer Novellierung. Die Erfahrungen der letzten Jahre
haben aber auch gezeigt: Es gab immer wieder - teilweise sehr unschöne - Ereignisse, die die Notwendigkeit
offenbart haben, in Deutschland mehr für die Aufklärung und die Bildung unserer Bevölkerung - vor allen
Dingen der jungen Bevölkerung - in Sachen Datenschutz zu tun.
Ich möchte offen sagen: Der beste Datenschutz ist der
Selbstdatenschutz; das heißt, dass die Bürgerinnen und
Bürger selbstverantwortlich und sensibel mit ihren personenbezogenen Daten umgehen.
({5})
Konkret in diesem Zusammenhang verspreche ich mir
viel von der neuen Stiftung Datenschutz.
({6})
Stephan Mayer ({7})
Diese Stiftung wird in Zusammenarbeit mit den Ländern
die Bildung und die Aufklärung verbessern. Die Länder
als diejenigen mit der Kompetenz im Bereich der Bildungspolitik sind hier natürlich an erster Stelle gefordert.
Der große Charme und der große Mehrwert dieser
Stiftung Datenschutz liegen aus meiner Sicht darin begründet, dass sie die erste konzertierte Stelle in ganz
Deutschland ist, die die notwendige Bildungs- und Aufklärungsarbeit zusammenführen kann. Ich persönlich
verspreche mir davon, dass die Stiftung Datenschutz in
wenigen Jahren eine ähnlich hohe Reputation genießt
wie beispielsweise die Stiftung Warentest.
Ein weiterer wichtiger Zweck wird die Schaffung und
Entwicklung eines bundesweit anerkannten Datenschutzaudits durch die Stiftung sein, darüber hinaus ein Verfahren zur Vergabe von Datenschutzgütesiegeln sowie die
Entwicklung eines Gütesiegels.
({8})
Dabei wird es ganz entscheidend darauf ankommen, mit
kompetenten Partnern von dritter Seite entsprechend zusammenzuarbeiten. Meines Erachtens steckt in diesem
Gütesiegel eine große und nicht zu unterschätzende
Chance für Unternehmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in wenigen Jahren für Unternehmen ein
entscheidender Wettbewerbsvorteil sein wird, wenn sie
damit werben können, dass sie nicht nur das schon geltende Datenschutzrecht einhalten, sondern dass sie darüber hinaus überobligatorisch hohe Datenschutzstandards erfüllen, eben offenkundig vermittelt durch das
Datenschutzsiegel.
({9})
Es gilt, die Datenschutzsicherheit zu erhöhen. Ich bin
der festen Überzeugung, dass das nicht nur ein Thema
für Onlinedienstleistungen ist. Datenschutz ist mittlerweile ein so allumfassendes Thema, dass es sich aus
meiner Sicht kein Unternehmen - und sei es auch noch
so klein und egal in welcher Branche angesiedelt - leisten kann, sich dem Thema Datenschutz nicht anzunehmen.
Wir in Deutschland müssen darauf achten, dass die
Stiftung Datenschutz nicht zu einer 18. Datenschutzbehörde verkommt. Vor diesem Hintergrund muss uns klar
sein: Die Satzung bildet einen Rahmen, den wir in den
nächsten Monaten entsprechend ausfüllen müssen. Aus
meiner Sicht kommt es entscheidend darauf an, dass wir
bei der Besetzung des Vorstandspostens die richtige Person finden.
({10})
Dieser Entscheidung muss sehr große Aufmerksamkeit
beigemessen werden, damit wir die richtige Persönlichkeit finden. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass
dem Beirat eine wichtige Funktion bei der Arbeit zukommen wird.
Herr Kollege Korte, ich teile Ihre Meinung nicht, dass
es sich nur um eine Gefälligkeitsstiftung handelt.
({11})
Ich glaube, der große Mehrwert der Stiftung liegt darin,
dass durch einen sehr breit aufgestellten Beirat - dazu
gehört nun einmal auch die Wirtschaft, weil sie in diesem Bereich unser erster Ansprechpartner ist ({12})
alle möglichen gesellschaftlich relevanten Gruppierungen umfasst werden: der Verbraucherschutz,
({13})
die Verwaltung, aber auch die Wirtschaft.
Eben ist die in einer Pressemitteilung der Verbraucherzentrale Bundesverband geäußerte Kritik angesprochen worden. In dieser Pressemitteilung offenbart sich
ein eklatanter Widerspruch. Einerseits wird bemängelt,
dass die Finanzierung der Stiftung nicht ausreicht, um
die große Aufgabenfülle zu bewältigen, andererseits
wird im nächsten Satz kritisiert, dass die Aufgabenbeschreibung, der Zweck der Stiftung viel zu vage formuliert seien. Beide Aspekte passen aber nicht zusammen.
({14})
Wir als Bundesgesetzgeber und auch als Haushaltsgesetzgeber können stolz darauf sein, dass wir 10 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um die Stiftung ins Leben zu rufen. Natürlich muss uns auch klar sein: Die
10 Millionen Euro werden nicht reichen. Die Stiftung
wird Drittmittel benötigen, um effektiv arbeiten zu können.
({15})
Ich sage Ihnen ganz offen: Ich erwarte von der Wirtschaft einen konstruktiven Beitrag.
Die Stiftung Datenschutz kann viel bewirken. Sie ist
eine gute Sache. Die Wortmeldungen seitens der Opposition haben mich ehrlich gesagt in meiner Auffassung bestärkt, dass die Stiftung der richtige Schritt hin zu einem
modernen und effektiven Datenschutz in der Zukunft ist.
Sie sind einfach nur beleidigt, dass Ihnen das nicht eingefallen ist, dass Sie das in Ihrer Amtszeit nicht geschafft haben.
({16})
In diesem Sinne hoffe ich auf eine möglichst breite Zustimmung in diesem Hause.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/10092 mit dem Titel „Stiftung Datenschutz - Ein
wichtiger Baustein für modernen Datenschutz in
Deutschland“. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Abstimmung in der Sache. Die Fraktion
Die Linke wünscht Überweisung an den Innenausschuss.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die
Überweisung abgelehnt.
Wir kommen daher zur Abstimmung über den Antrag
auf Drucksache 17/10092. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Dr. Bärbel Kofler, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunft des „Energie- und Klimafonds“ und
der durch ihn finanzierten Programme
- Drucksache 17/10088 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben1). Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10088 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes
- Drucksache 17/8799 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/10160 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Ingo Egloff
Christian Ahrendt
Jens Petermann
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben2). Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10160, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8799 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung
der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Schließung des einzigen deutschen
Schienenherstellers TSTG Schienen Technik
in Duisburg - Übernahme des Unternehmens
durch die Deutsche Bahn AG
- Drucksache 17/9581 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann geschieht das so.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9581 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie. Die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überwei-
sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion
1) Anlage 13
2) Anlage 14
3) Anlage 15
Vizepräsidentin Petra Pau
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Opposi-
tion abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2013
- Drucksache 17/10000 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für
Landwirtschaftsbetriebe ermöglichen
- Drucksache 17/10099 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute in erster Lesung das Jahressteuergesetz 2013. Traditionsgerecht werden mit dem Jahressteuergesetz überwiegend steuertechnische Anpassungen vorgenommen, welche sich im Laufe eines Jahres
aus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben oder aus
Anregungen von Verwaltung und Verbänden ergaben.
Wir haben über einen Gesetzentwurf im Umfang von
155 Seiten mit mehr als 200 steuerrechtlichen Änderungen zu beraten. Auch wenn die Mehrzahl der Änderungen nur technischer Natur ist, enthält dieser Gesetzentwurf eine Reihe von bedeutenden Regelungen. Hierzu
gehört zweifelsohne die weiter bestehende Steuerfreiheit
für den Grundsold der freiwillig Wehrdienst bzw. freiwillig Wehrübungen Leistenden, während alle weiteren Bezüge - Zuschläge, unentgeltliche Unterkunft und Verpflegung etc. - zukünftig steuerpflichtig sein sollen.
Der Steuerpflicht auf die weiteren Bezugsbestandteile
müssen wir im Laufe der Beratungen besondere Beachtung schenken. Hier sollten wir genau prüfen, ob eine
Steuerpflichtigkeit nicht zu einem überbordenden Bürokratismus bei der Truppe und daneben zu einem erheblichen Vollzugsaufwand bei den Finanzämtern führt. Ich
finde es konsequent und richtig, dass aus Billigkeitserwägungen auch das für den Bundesfreiwilligendienst
gezahlte Taschengeld für den Bundesfreiwilligendienst
steuerfrei belassen wird. Wer sich außerhalb von Beruf
und Schule für das Allgemeinwohl im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich oder im Bereich des
Sports, der Integration sowie im Zivil- und Katastrophenschutz engagiert, soll das ihm von der Einsatzstelle
gewährte Taschengeld von derzeit maximal 336 Euro
monatlich nicht auch noch versteuern müssen. In den
meisten Fällen würde es aufgrund fehlender anderweitiger Einkünfte eh nicht zu einer Steuerpflicht kommen.
Bedeutsam ist auch die zukünftige Zuordnung der
ersten sechs Monate des freiwilligen Wehrdienstes zu
den Tatbeständen der Ausbildungsphase eines Kindes.
Mit der steuerlichen Zuordnung können diese Zeiten
beim Kindergeld und auch beim Kinderfreibetrag berücksichtigt werden.
Wir beraten auch über die steuerliche Förderung von
Elektro- und Elektrohybridfahrzeugen im Bereich der
Dienstwagenbesteuerung. Aufgrund der preisintensiven
Akkumulatoren liegt der Bruttolistenpreis von Elektround extern aufladbaren Hybridelektrofahrzeugen deutlich über dem von herkömmlichen Kraftfahrzeugen. Wir
wollen erreichen, dass die umweltfreundlichen Elektrofahrzeuge zunehmend im Dienstwagenbereich akzeptiert
werden. Bislang schreckt jedoch der hohe Bruttolistenpreis und die damit verbundene höhere Versteuerung des
geldwerten Vorteils eher ab. Die Bundesregierung hat
sich deshalb bereits mit dem Regierungsprogramm zur
Elektromobilität dafür ausgesprochen, die in der Systematik der Dienstwagenbesteuerung begründeten steuerlichen Wettbewerbsnachteile für Elektrofahrzeuge abzubauen. Wir verstehen Elektromobilität als ein wichtiges
zukunftsträchtiges und innovatives Element einer nachhaltigen Energie- und Verkehrspolitik. Hier gilt es, gerade im Stadium der Einführung dieser Technologie in
den breiten Massenmarkt hinderliche Steuernachteile
auszugleichen. Hierbei wird der zur Berechnung des zu
versteuernden geldwerten Vorteils maßgebliche Bruttolistenpreis dieser Kraftfahrzeuge um die darin enthaltenen Kosten des Batteriesystems im Zeitpunkt der Erstzulassung des Kraftfahrzeugs gemindert.
Mit dem Jahressteuergesetz 2013 wollen wir außerdem einen weiteren Schritt zum Bürokratieabbau gehen.
Die Aufbewahrungsfristen für Unterlagen im Steuerrecht, die bisher zehn Jahre aufbewahrt werden mussten,
sollen in einem ersten Schritt - ab 2013 - auf acht Jahre
und in einem weiteren Schritt - ab 2015 - auf sieben
Jahre verkürzt werden. Wir werden damit auch im Handelsgesetzbuch die Aufbewahrungsfristen entsprechend
verkürzen. Damit verringert sich für Unternehmen der
Umfang der insgesamt aufzubewahrenden Unterlagen
erheblich.
Die letzten Jahressteuergesetze haben gezeigt, dass
wir bei den kommenden Beratungen sicherlich noch die
ein oder andere zusätzliche Maßnahme ins Gesetz einfließen lassen werden. Der heute vorliegende Entwurf
wird also in den Beratungen noch Ergänzungen erfahren. Nur beispielhaft soll hier die Aufteilung des Gewerbesteuermessbetrags zwischen Betriebs- und StandortOlav Gutting
gemeinden beim Betrieb von Photovoltaikanlagen
genannt sein.
Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachverständigenanhörung und auf gute Beratungen in den nächsten Monaten - auch mit der Opposition.
Wir beraten heute in erster Lesung den vom Kabinett
beschlossenen Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013.
Wie seine Vorläufer in den vergangenen Jahren fasst
auch dieses Jahressteuergesetz eine Vielzahl von einzelnen Regelungen aus unterschiedlichen Bereichen des
Steuerrechts zusammen. Dieses Vorgehen hat sich als
ein zeitsparender Weg erwiesen, um unsere Steuergesetze an Vorgaben von europäischer Ebene, an aktuelle
Gerichtsurteile, an Erfahrungen bzw. Anregungen aus
der Verwaltungspraxis und an neue gesellschaftliche
Problemlagen anzupassen. Diese Detailarbeiten sind
wichtig, um die Ecken und Kanten unseres Steuerrechts
zu glätten, Besteuerungslücken zu schließen, ungerechtfertigte Nachteile für die Steuerpflichtigen zu beseitigen
und seine Anwendbarkeit zu vereinfachen - zumindest
als Arbeitsrichtung.
Die Fülle an kleinteiligen Einzelregelungen fällt auf,
wenn man sich überlegt, was der Bundesregierung fehlt:
Reform des Mehrwertsteuersystems - Fehlanzeige; Reform der Gemeindefinanzen und der Gewerbesteuer - zum
Glück Fehlanzeige; Reform der Grunderwerbsteuer - Fehlanzeige; Reform der Unternehmensbesteuerung, der Verlustverrechnung, der Gruppenbesteuerung und der Organschaft - immer noch Fehlanzeige; Überlegungen zu
einer gerechteren Verteilung von Belastungen in unserer
Gesellschaft, etwa über eine Weiterentwicklung der Erbschaftsteuer und eine grundlegende Reform der Vermögensbesteuerung - Fehlanzeige.
Dafür ein Steuervereinfachungsgesetz, das den Namen nicht verdient; ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das eigentlich nur das Wachstum der Klientelpolitik
und der Steuerbefreiungen für Großunternehmen und
Erben hoher Vermögen beschleunigt; und die Wirtschaft
klagt über neue bürokratische Lasten: Ich denke an die
Taxonomie der E-Bilanz oder an die Voraussetzungen an
die Gelangensbestätigung bei innergemeinschaftlichen
Lieferungen.
Es fällt mir - und wahrscheinlich auch jedem anderen - schwer, in der Steuerpolitik der Bundesregierung
eine klare Arbeitsrichtung, neue Ideen, praktikable Ansätze zu erkennen. Das vorliegende Jahressteuergesetz
führt uns diese Diskrepanz zwischen Ankündigung und
Einhaltung, die „Fehlanzeigen im Großen“, nochmals
deutlich vor Augen.
Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen eine
Reihe von Briefen und Anrufen von Verbänden, Unternehmen und Einzelpersonen erhalten, die auf Probleme,
Schwierigkeiten, Bedenken angesichts einiger Regelungen im Jahressteuergesetz hinweisen. Der heutige erste
Beratungsdurchgang bietet - vor dem Eintreten in die
Facharbeit im Finanzausschuss - die Möglichkeit, uns
einige dieser Themen genauer anzuschauen.
Das Jahressteuergesetz führt in Art. 1 ein EU-Amtshilfegesetz, EUAHiG, ein, das die Regelungen der europäischen Amtshilferichtlinie in den nationalen Rechtsbestand überführt. Wir können damit wichtige
Fortschritte beim steuerlichen Informationsaustausch
zwischen Behörden machen, die uns dabei helfen sollen,
ein gerechteres und gleichmäßigeres Besteuerungsverfahren für alle Steuerpflichtigen durchzusetzen, Schlupflöcher und Vermeidungsstrategien zu beenden und die
Steuereinnahmen in Deutschland zu verbessern.
Die Richtlinie umfasst alle Steuerarten mit wenigen
Ausnahmen - Umsatzsteuer, Zölle und harmonisierte
Verbrauchsteuern, Abgaben und Gebühren - und ermöglicht es unserer Steuerverwaltung, alle für das Besteuerungsverfahren voraussichtlich erheblichen Informationen zu erhalten bzw. diese anderen Staaten zur
Verfügung zu stellen. Auch der persönliche Anwendungsbereich wird deutlich erweitert: künftig werden
auch Einkünfte, die in Stiftungen, Trusts oder neuen
rechtlichen Konstruktionen versteckt werden, dem Finanzamt bekannt. Die Zuständigkeit für den grenzüberschreitenden Datenaustausch soll bei einem zentralen
Verbindungsbüro liegen.
Eine wichtige Verbesserung ist die Einrichtung eines
Verfahrens für den automatischen Informationsaustausch. Ab 2014 werden steuerlich relevante Informationen über Vergütungen aus unselbständiger Arbeit, über
Ruhegehälter, Vergütungen für Aufsichtsräte und Verwaltungsräte, Eigentum und Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen, Lebensversicherungsprodukte automatisch zwischen Steuerbehörden ausgetauscht und
nicht erst auf Anfrage. Leider ist es bislang nicht gelungen, bei der Überarbeitung der europäischen Zinsrichtlinie zu einer gleichwertigen Regelung im Bereich der
Kapitaleinkünfte zu kommen.
Das neue EU-Amtshilfegesetz enthält noch eine Reihe
von weiteren Regelungen, etwa zum spontanen Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden, zum Prozedere
der Datenübermittlung oder zur Beteiligung ausländischer Steuerbeamter an inländischen Betriebsprüfungen.
Im Bereich des Informationsaustausches mit Drittstatten sind insbesondere auch datenschutzrechtliche
Fragen zu beantworten, etwa mit Blick auf das Fehlen
von Widerspruchsrechten des betroffenen Steuerpflichtigen, die Prüfung der Verwendung der Daten im Drittstaat oder die Einhaltung der Bedingungen für die Datenweitergabe.
Was passiert mit den Steuerdaten im Drittstaat, der
diese Informationen angefordert hat?
Wie lässt sich überwachen, dass diese sensiblen Daten nicht unkontrolliert weitergereicht werden?
Wer hat Zugriff auf die Daten, und wer bestraft ihre
missbräuchliche Verwendung?
Ich hoffe, dass die folgenden Beratungen und die Erläuterungen der Fachbeamtinnen und Fachbeamten aus
dem Bundesfinanzministerium zur Klärung dieser Fragen beitragen können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
Ich habe in den vergangenen Tagen auch mehrere
Briefe von zivilgesellschaftlich tätigen Nichtregierungsorganisationen erhalten, die auf eine Änderung der Abgabenordnung, § 51 Abs. 3 AO, hinweisen. Sie befürchten, dass durch eine Neuregelung der Voraussetzungen
für die steuerliche Begünstigung zivilgesellschaftlicher
Organisationen diese in ihrer Existenz gefährdet werden. Bislang gilt für Körperschaften, die in einem Verfassungsschutzbericht als extremistische Organisation
erwähnt werden, die Klausel, dass sie damit ihre Berechtigung zur Steuerbegünstigung verlieren. Diese Vermutung ist allerdings „widerlegbar“ und ermöglicht es
daher den betroffenen Organisationen, juristisch dagegen vorzugehen; zudem verbleibt dem zuständigen
Finanzamt ein Entscheidungsspielraum. Die SPD-Fraktion
hatte diese Beweislastumkehr-Regelung - Steuerbefreiung gegen Nachweis der verfassungsrechtlichen „Unbedenklichkeit“ - im Zuge der parlamentarischen Beratungen zum Jahressteuergesetz 2008 eingeführt. Wie die
Erfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt haben, war
dies ein praktikabler Kompromiss zwischen dem wirksamem Ausschluss tatsächlich verfassungsfeindlicher Organisationen von steuerlicher Förderung, einem ausreichenden Rechtsschutz für Körperschaften und einem
Ermessensspielraum für das Finanzamt.
Mit der Neuregelung im Jahressteuergesetz ist nun
vorgesehen, diese Widerlegbarkeitsklausel abzuschaffen
und einen Quasi-Automatismus einzurichten, das heißt
wenn eine Organisation in einem Verfassungsschutzbericht Erwähnung findet, folgt hieraus zwingend die Versagung der Steuerbefreiung. Ein gerichtlich zu prüfendes Widerspruchsrecht der Betroffenen entfällt dadurch
ebenso wie der Entscheidungsfreiraum des Finanzamts.
Außerdem werden sich viele Bürgerinnen und Bürger
überlegen, ob sie weiterhin für eine der betroffenen Organisationen spenden, wenn diese Zuwendung nicht
mehr steuerlich geltend gemacht werden kann. Daraus
ergibt sich nach Darstellung der betroffenen Organisationen eine akute Gefährdung ihrer Finanzlage.
Ich finde die widerspruchslose Verknüpfung von Steuerrecht und Verfassungsschutz in der vorgeschlagenen
Weise nicht überzeugend. Das Gemeinnützigkeitsrecht
ist nach meiner Einschätzung nicht das beste Instrument, um sich mit einer möglichen Gefährdung unserer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung auseinanderzusetzen. Ich halte es für keine gute Idee, gerade an
dieser Stelle die juristische Überprüfung von Verwaltungshandeln - eventuell auch die Korrektur von Fehleinschätzungen in den Verfassungsschutzberichten - außer Kraft zu setzen. Die Beratungen im weiteren
parlamentarischen Verfahren geben sicher Gelegenheit,
diese Regelung auf ihre Angemessenheit zu prüfen.
Das Jahressteuergesetz sieht auch eine Steuerfreiheit
von Bildungsleistungen vor, die von Volkshochschulen,
Ersatzschulen, Einrichtungen mit vergleichbarer Zielsetzung, selbständigen Lehrern und Privatlehrern erbracht werden. Zu diesen Bildungsleistungen gehören
Schul- und Hochschulunterricht, Maßnahmen der beruflichen Umschulung, Aus- und Fortbildungsleistungen.
Für diese Leistungen ist eine steuerliche Begünstigung
vorgesehen, die den Zugang zu Bildungsleistungen erleichtert und die steuerliche Gleichbehandlung von privaten und staatlichen Bildungseinrichtungen bzw. -leistungen herstellt. Die Steuerbefreiung bezieht sich nicht
nur auf die Bildungsleistung selbst, sondern auch auf
damit eng verbundene Dienstleistungen und Lieferungen, etwa die Anmietung und Ausstattung eines Veranstaltungsorts.
Die betroffenen Anbieter von Bildungsleistungen haben darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Steuerbefreiung auch die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs entfalle, und leiten daraus ihre Befürchtungen über eine
Veränderung der Wettbewerbsbedingungen ab. Vermutlich wäre für das eigentliche Ziel der Neuregelung, der
verbesserte Zugang zu Bildungsleistungen, wenig erreicht, wenn Fort- und Weiterbildungen oder bildungsbezogene Volkshochschulkurse infolge dieser Regelung
teurer würden oder das Leistungsangebot schmäler
würde.
Der Blick in den Begründungsteil des Gesetzes, der
die Notwendigkeit und Zielsetzung der Umsatzsteuerbefreiung erläutert, zeigt, dass es bei der Regelung um die
Umsetzung gerichtlicher Entscheidungen geht - erfahrungsgemäß ein Bereich, in dem der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers geringer als in anderen Gebieten
ist. Die parlamentarischen Beratungen im Ausschuss
und die Diskussionen in der Arbeitsgruppe Finanzen
werden Gelegenheit bieten, die Argumente zu prüfen und
sich ein umfassenderes Bild von den Auswirkungen der
geplanten Umsatzsteuerbefreiung zu machen.
Ich bin auch auf die Einschätzung der Steuerverwaltung gespannt, der die Aufgabe der Beurteilung der
Voraussetzungen für die Steuerbefreiung - die Bewertung von Lehrplänen, Methoden, Qualifikationen des
Lehrpersonals usw. - von Bildungsleistungen zukommt.
Eine weitere Regelung im Jahressteuergesetz, über
die wir in den parlamentarischen Beratungen nochmals
nachdenken werden, ist die Aufhebung der privilegierten
Besteuerung von Bezügen des freiwilligen Wehrdienstes.
Das Ziel ist die steuerliche Gleichbehandlung von
Wehrsold, der im Rahmen des freiwilligen Wehrdienstes
gezahlt wird, und des Taschengeldes, dass man für den
Bundesfreiwilligendienst erhält.
Der Referentenentwurf zum Jahressteuergesetz hatte
noch die Besteuerung des kompletten Wehrsoldes vorgesehen. Im vorliegenden Kabinettsbeschluss ist nun vorgesehen, dass für freiwillig Wehrdienstleistende und Reservisten der Gehaltsbestandteil „Wehrsold nach § 2
Abs. 1 Wehrsoldgesetz“ ({1}) sowie das nach § 2 des Bundesfreiwilligendienstgesetzes gezahlte Taschengeld ({2}) steuerfrei gestellt werden. Die weiteren Bezüge, etwa für Verpflegung, Leistungszuschlag
und Unterkunft sollen steuerpflichtig sein. Geld- und
Sachbezüge an Wehrpflichtige bleiben steuerfrei.
Ich hoffe, dass wir uns im Verlauf der Beratungen im
Finanzausschuss Klarheit hinsichtlich der Folgen der
geplanten Änderungen verschaffen können. Leider enthält der Entwurf bislang keine Zahlen zu den finanziellen Auswirkungen auf die einzelnen Betroffenen sowie
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({3})
den Bundeshaushalt. Wir werden auch nochmals über
die steuerrechtliche Qualifizierung des freiwilligen
Wehrdienstes als „auf die Einkünfteerzielung ausgerichtete übliche Berufstätigkeit“ und die damit verbundene
Attraktivität des freiwilligen Wehrdienstes nachdenken.
Ich habe die vorgesehenen Neuregelungen im Bereich
der Unternehmensbesteuerung bislang nicht erwähnt,
etwa die Erstattung von Abzugsteuer bei ausländischen
Kapitalerträgen, die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes auf internationale Betriebsstättenfälle sowie grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen von
Personengesellschaften und Mitunternehmerschaften,
oder der steuerfreie Bezug von Auslandsdividenden
nach einem DBA. Nicht, weil ich diese Regelungen nicht
für wichtig oder diskussionswürdig hielte; ich glaube
vielmehr, dass die Koalitionsfraktionen - wieder einmal - ein laufendes Gesetzgebungsverfahren dazu nutzen werden, um noch weitere unternehmensteuerliche
Regelungen „draufzusatteln“. Das 12-Punkte-Papier
der Koalitionsfraktionen bietet hier noch einiges an Material für eine „Reform durch die Hintertür“. Man kann
sich mit Blick auf die bislang dargestellten Themenbereiche schon fragen, warum für die Anhörung zum Jahressteuergesetz ein sehr langer Zeitraum von vier Stunden eingeplant ist.
Dieses Vorgehen ist ein heimliches, weil peinliches
Eingeständnis, dass wir es bei einem weiteren steuerpolitischen Großprojekt der Bundesregierung, der Reform der Unternehmensbesteuerung, mit einer Fehlanzeige zu tun haben. Zugleich spricht daraus allerdings
auch eine ärgerliche Missachtung des Bundestages,
wenn gerade die Oppositionsfraktionen mit dieser Taktik
der tröpfchenweisen Reform an den Rand ihrer Belastbarkeit im parlamentarischen Verfahren gebracht werden.
Der Verlauf der parlamentarischen Beratungen wird
zeigen, ob wir mit der sachkundigen Unterstützung von
Fachleuten aus Verbänden, Verwaltung und Unternehmen diesen Rückstand aufholen und am Ende zu guten,
praktikablen Ergebnissen beitragen können.
Das Jahressteuergesetz 2013, welches wir heute beraten, enthält eine Reihe von Punkten, die für mehr Steuergerechtigkeit, einen besseren Steuervollzug und klarere Regeln in der deutschen Steuergesetzgebung sorgen
werden. Folgende Punkte sind dabei hervorzuheben:
Die Beendigung der vorübergehenden Steuerfreiheit
des Wehrsolds für freiwillig Wehrdienstleistende ist aus
Gerechtigkeitsgründen notwendig, soll aber das Verteidigungsministerium nicht daran hindern, durch eine
Solderhöhung die Belastungen der Wehrdienstleistenden
zu minimieren. Ebenso ist zu beachten, dass auch für
Wehrdienstleistende ein Grundfreibetrag von 8 004
Euro gilt.
Steuerfrei bleiben die Geld- und Sachbezüge an
Wehrpflichtige im Sinne des § 4 des Wehrpflichtgesetzes
und die Vorteile aus einer unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung der Soldaten und Zivildienstleistenden;
dies gilt auch für den freiwilligen Wehrdienst. Ebenso
wird die Steuerfreiheit für die an Zivildienstleistende
nach § 35 des Zivildienstgesetzes gezahlten Geld- und
Sachbezüge beibehalten.
Für die den freiwilligen Wehrdienst und freiwillige
Wehrübungen Leistenden werden mit der vorliegenden
Änderung zukünftig nur noch die Gehaltsbestandteile
„Wehrsold nach § 2 Abs. 1 Wehrsoldgesetz“ sowie
„Dienstgeld nach § 8 Wehrsoldgesetz“ steuerfrei gestellt. Die weiteren Bezüge, zum Beispiel Wehrdienstzuschlag, besondere Zuwendungen sowie unentgeltliche
Unterkunft und Verpflegung, sind zukünftig steuerpflichtig. Bei den Reservisten gibt es momentan noch Beratungsbedarf bezüglich steuerpflichtiger Leistungen und
Zulagen.
Steuerfrei gestellt wird ferner das für den Bundesfreiwilligendienst gezahlte Taschengeld. Weitere Bezüge wie
zum Beispiel unentgeltliche Unterkunft und Verpflegung
sind steuerpflichtig. Das Taschengeld beträgt derzeit
monatlich maximal 336 Euro. Die Bezüge für den Bundesfreiwilligendienst sind nach bisheriger Gesetzeslage
voll steuerpflichtig; sie wurden aber aufgrund einer Billigkeitsregelung der Verwaltung bisher als steuerfrei behandelt, um sie gegenüber den Bezügen für den freiwilligen Wehrdienst nicht zu benachteiligen. Mit dieser
Gesetzesänderung ist die Billigkeitsregelung nunmehr
entbehrlich.
Im Zuge dieser Klarstellungen setzen wir uns aber
auch für die Einbeziehung des Jugendfreiwilligendienstes ein, da dieser bisher ausdrücklich nicht in das Gesetz
einbezogen wurde.
Diskussionsbedarf sehen wir unter anderem noch
beim Kindergeld und bei den geplanten Änderungen bei
der Vorlage bzw. Vorzeigepflicht von Unterlagen gemäß
§ 97 der Abgabenordnung.
Besonders hilfreich und bürokratieabbauend wird
sich die zweijährige Geltungsdauer der im Lohnsteuerabzugsverfahren zu berücksichtigenden Freibeträge erweisen. Diese Verfahrensanweisung ist sowohl für die
Arbeitnehmer wie auch die Finanzverwaltung entlastend. Die in § 39 a Abs. 1 Satz 2 ({0}) geregelte zweijährige Geltungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerabzugsverfahren ist erstmals für den Lohnsteuerabzug
2014 anzuwenden und befreit den Steuerpflichtigen von
den jährlichen Neuanträgen auf Lohnsteuerermäßigung,
soweit sich bezüglich seiner Antragssituation nichts geändert hat.
Zudem werden im Interesse des Bürokratieabbaus die
Aufbewahrungsfristen nach der Abgabenordnung und
dem Umsatzsteuergesetz ab 2013 zunächst auf acht und
in einem weiteren Schritt ab 2015 auf sieben Jahre verkürzt und vereinheitlicht. Auch im Handelsgesetzbuch
werden die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege
entsprechend verkürzt. Dies spart erhebliche Kosten bei
den Unternehmen und verstärkt die Motivation der Finanzverwaltung, mehr Ressourcen in die zeitnahe Betriebsprüfung, eine wichtige steuerpolitische Forderung
der FDP, zu investieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dem Jahressteuergesetz 2013 werden auch die
EU-Amtshilferichtlinie, die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie, die Rechnungsstellungrichtlinie sowie die sogenannte Mutter-Tochter-Richtlinie umgesetzt. Dies ist
zur Vermeidung eines Vertragsverletzungsverfahrens
durch die EU-Kommission bis zum Jahresende ({1}) auch zwingend notwendig.
Das Gesetz zeigt, dass das Steuerrecht sehr komplex
ist und damit der Lebenswirklichkeit einer entwickelten
Industrienation entspricht. Dass nur noch Experten den
Durchblick haben, und das auch nur noch in Teilbereichen, liegt auf der Hand. Forderungen nach Steuervereinfachung sind berechtigt, setzen aber voraus, dass
dem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit stärker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierungen
würden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und garantieren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das Ziel der
Steuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das bestehende Recht an sich verändernde Verhältnisse angepasst
werden.
Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und
nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben die
Familien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlastet. Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir werden Gesundheit wieder bezahlbar machen. Wir stehen für
Investitionen in die Zukunft. Wir werden die Bildungschancen für alle Menschen in diesem Land verbessern,
denn dies bedeutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen
Jahren und damit Wohlstand für die Menschen in diesem
Land.
Wie gehabt steht wieder ein Jahressteuergesetz zur
Diskussion und Verabschiedung an, für das Jahr 2013,
und es beinhaltet wieder eine Vielzahl von teils sehr unterschiedlichen Maßnahmen.
Unter anderem findet sich in Art. 2 Nr. 5 eine Regelung zur steuerlichen Förderung der Elektromobilität.
Aber ich denke, dazu wird im Rahmen des Verkehrsteueränderungsgesetzes genug gesagt; daher werde ich
hierauf nicht weiter eingehen.
Eingehen möchte ich auf zwei Punkte:
Mit Art. 10 des JStG 2013 wollen Sie § 51 Abs. 3
Satz 2 der Abgabenordnung durch die Streichung des
Wortes ‚widerlegbar‘ scheinbar minimal ändern. Es
geht hier um die Versagung bzw. Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen, sofern diese in Berichten
des Verfassungsschutzes als verfassungsfeindlich aufgeführt werden. Bereits vor vier Jahren, im Rahmen des
JStG 2009, hatte eine Verschärfung dieser Regelung
stattgefunden. Im JStG 2013 heißt es in der Begründung
auf Seite 93 unter anderem:
„Ist deshalb eine Körperschaft im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als verfassungsfeindlich aufgeführt, ist ihr die Anerkennung als gemeinnützige Körperschaft zu versagen. Die Überprüfung, ob
eine Körperschaft trotz einer Nennung in einem Verfassungsschutzbericht doch die Anforderungen nach § 51
Absatz 3 Satz 1 erfüllt, muss nach Streichung des Wortes
‚widerlegbar‘ in Satz 2 nicht mehr durchgeführt werden.
Sollte eine Körperschaft ihrer Ansicht nach zu Unrecht
in einem Verfassungsschutzbericht aufgeführt worden
sein, so obliegt es ihr, sich dagegen in einem gerichtlichen Verfahren zur Wehr zu setzen. Körperschaften, bei
denen der bloße Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit
besteht und die nur als Verdachtsfall in einem Verfassungsschutzbericht erwähnt wurden, ist nicht aufgrund
des Verdachtes die Gemeinnützigkeit zu versagen.“
Natürlich ist auch die Linke der Meinung, dass extremistische und verfassungsfeindliche Organisationen
nicht ungewollt zum Beispiel durch Steuerbegünstigungen gefördert werden sollen. Das, denke ich, sollte allen
hier nach Bekanntwerden der Pannen bei den Ermittlungen gegen die NSU ein Anliegen sein.
Dennoch sehen wir mit der geplanten Regelung eine
gewisse Gefahr. Die Nennung und Einstufung im Verfassungsschutzbericht unterliegt stark einer politischen
Willkür, und Verfassungsschutzbehörden sind dem vorgesetzten Ministerium weisungsgebundene Behörden.
Die bisherige Prüfmöglichkeit durch die Finanzämter
entfällt, und es soll eine automatische Aberkennung der
Gemeinnützigkeit erfolgen. Viele engagierte Menschen
gerade in Vereinen, welche gegen Rechtsextremismus
wirken, befürchten, dass sie dadurch im Zweifelsfalle in
gerichtliche Prozesse gezwungen werden, welche sie finanziell gar nicht stemmen könnten. Deshalb gibt es da
bereits jetzt vielfältige Kritik. Diese Regelung ist bereits
jetzt streitanfällig. So hat jüngst auch der BFH am
11. April 2012 entschieden, dass ein islamisch-salafistischer Verein für das Jahr 2008 trotz Erwähnung im Verfassungsschutzbericht als gemeinnützig anerkannt werden darf.
Wir bitten Sie daher ausdrücklich, im Rahmen des
Gesetzgebungsprozesses sowie der Anhörung die Regelung noch einmal mit Vereinen und entsprechenden Interessenverbänden zu diskutieren, um hier Klarheit zu
schaffen.
Ein anderer uns wichtiger Punkt ist die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Landwirtschaftsbetriebe,
welche nach unserer Auffassung in das Jahressteuergesetz aufgenommen werden sollte, denn es gibt dringenden Handlungsbedarf. Ein entsprechender Vorschlag
liegt Ihnen mit dem Antrag mit der Drucksachennummer
17/10099 vor.
Der Klimawandel steigert nachweislich die Risiken
landwirtschaftlicher Erzeugung in bisher ungeahntem
Maße. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher negativer
Auswirkungen auf die Landwirtschaft, so zum Beispiel
Trockenheit bzw. Dürre, Überschwemmungen und Spätfröste durch direkte extreme Witterungsereignisse genauso wie die klimabedingte Ausbreitung von Krankheiten und Schaderregern bei Pflanzen und Tieren.
Versicherungen sind in der landwirtschaftlichen Risikoabsicherung schnell überfordert und greifen im Schadensfall nicht wirklich. Zudem wurde und wird die Landwirtschaft sukzessive den globalen Märkten ausgesetzt.
Durch die zunehmenden Preisschwankungen hat sich
die Risikolage für die Betriebe ebenfalls extrem verändert; längerfristig kalkulierbare Agrarpreise gibt es
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht mehr. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass den
landwirtschaftlichen Betrieben ermöglicht wird, einen
Teil ihrer erwirtschafteten Einkünfte aus ihrem zu versteuernden Einkommen herauszunehmen und in eine
steuerbefreite Risikoausgleichsrücklage zu verwandeln.
Für die Bundesregierung ist das Jahressteuergesetz
wie jedes Jahr ein Auffangbecken für alles, was ohne
großes Aufsehen noch irgendwie abgeräumt werden
muss. Mit „fachlich notwendigem Gesetzgebungsbedarf“ und „Anpassungen an Recht und Rechtsprechung
der Europäischen Union“ wird das Gesetz begründet.
Doch bei genauerem Hinsehen liegt die Vermutung
nahe, dass die Bundesregierung auch in diesem Jahr es
nicht lassen kann, einige Steuergeschenke an ihre Klientel zu verteilen. Die jährlichen Steuerausfälle Ihres Entwurfs erreichen 250 Millionen Euro, ein erheblicher
Kostenaufwand, den Sie mit der Organleihe des Personals der Länder für die zukünftige Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer begründen. Es wäre wichtig zu wissen,
welche Steuerauswirkungen die weiteren zahlreichen
Änderungen verursachen.
Kein Wort findet sich zum Beispiel zur Frage der
Steuerausfälle, die sich aus der Verkürzung der Aufzeichnungsvorschriften ergeben. Wenn Finanzbehörden
- statt bisher zehn Jahre - zukünftig nur noch acht und
ab dem Jahr 2015 nur noch sieben Jahre Zeit haben sollen, bis die Festsetzungsverjährung eintritt, erhöhen Sie
gewaltig den Druck auf die Betriebsprüfung. Anlassbezogene Prüfungen werden dann viel seltener durchgeführt. Damit gehen Mehrergebnisse aus Betriebsprüfungen verloren. Kein Wort davon, ob Sie gewillt sind, diese
Steuerausfälle zu kompensieren.
Nach über einem Jahr kommt die Regierung nun endlich auch ihrer Ankündigung nach, Elektrodienstwagen
steuerlich zu entlasten. Zu Recht hat der Finanzausschuss des Bundesrats bereits kritisiert, dass die Regierung sich hier eine komplizierte Regelung ausgedacht
hat. Die vorliegende Regelung ist zwar besser als die
Untätigkeit bei der Förderung der Elektromobilität im
letzten Jahr. Was wir aber eigentlich brauchen, ist ein
grundlegender Wandel in der Besteuerung von Dienstwagen, die noch immer leider viel zu oft als spritfressende Statussymbole angeschafft werden. Wenn die Vorschläge meiner Fraktion zum Abbau des Steuerprivilegs
für Dienstwagen umgesetzt würden, brauchte man auch
keine komplizierte Sonderregelung für Dienstwagen mit
Elektroantrieb. Denn setzt die Dienstwagenbesteuerung
generell am Ausstoß von Klimagasen an, profitieren umweltfreundliche Elektromobile ganz automatisch.
Eine bisher wenig beachtete Änderung, die es jedoch
in sich hat, betrifft den Status der Gemeinnützigkeit. Es
sollen nun die Geheimdienste des Bundes und der Länder sein, die darüber entscheiden, ob Organisationen
vom Finanzamt als gemeinnützig anerkannt werden können. Für die betroffenen Organisationen kann es dabei
durchaus um ihre Existenz gehen. Denn der Status der
Gemeinnützigkeit ist die Voraussetzung dafür, steuerabzugsfähige Spenden einzunehmen und unter Umständen
steuerfrei tätig sein zu können.
Bereits seit 2009 führt die Einstufung als extremistische Organisation im Jahresbericht des Bundesamtes
für Verfassungsschutz oder in einem der 16 Berichte der
Landesämter für Verfassungsschutz zur Versagung des
Status der Gemeinnützigkeit. Dabei genügen selbst weiche Formulierungen wie „ist extremistisch beeinflusst“.
Doch in der Vergangenheit hatten Finanzgerichte regelmäßig Finanzämtern widersprochen, die den Status der
Gemeinnützigkeit Organisationen auf Grundlage von
Verfassungsschutzberichten aberkannten. Die Geheimbehörden sind aus offenkundigen Gründen nicht in der
Lage, ihre Einstufung zu rechtfertigen, sodass eine Würdigung der Erkenntnisse faktisch nicht möglich ist.
Nun soll nach den Plänen der Bundesregierung also
der Verfassungsschutz direkt entscheiden. Damit erhalten die Berichte der Geheimdienste den Rang von steuerlichen Grundlagenbescheiden.
Ich teile das Ziel der Bundesregierung, Missbrauch
zu verhindern. Verfassungsfeindliche Organisationen
können nicht gemeinnützig sein. Doch die Lösung der
Bundesregierung geht völlig am Problem vorbei. Denn
Einschätzungen von Geheimbehörden können nicht
transparent geprüft werden. Und es ist auch nicht mit
meinem Verständnis von einem Rechtsstaat vereinbar,
wenn 17 intransparenten Geheimbehörden ein Freibrief
erteilt wird, nach eigenem Ermessen Organisationen
über die Aberkennung des Gemeinnützigkeitsstatus den
Geldhahn abdrehen zu können. Die Bundesregierung
verkennt hier das eigentliche Problem: Bürgerinnen und
Bürger brauchen verlässliche Angaben, ob die Organisation, der sie spenden möchten, gemeinnützige Ziele
nicht nur auf dem Papier verfolgt. Doch hier muss ganz
anders angesetzt werden, als blind auf die Berichte des
Verfassungsschutzes zu vertrauen.
Neben den bisher genannten Punkten ließe sich die
Liste noch weiter fortsetzen. Und die eine oder andere
Änderung in letzter Minute ist ja jetzt schon abzusehen,
etwa bei der Umsetzung von EU-Vorgaben bei Mehrwertsteuerbefreiungen. Hier traut sich die Bundesregierung offenbar nicht, die Änderungen von Anfang an ins
Gesetz zu schreiben.
Der vorliegende Entwurf für ein Jahressteuergesetz
2013 als überwiegend technisches Gesetz ist erforderlich, da sich in vielen Bereichen des deutschen Steuerrechts ein fachlich notwendiger Änderungsbedarf ergeben hat. Es erfolgen Anpassungen an das europäische
Recht, insbesondere bei der Umsatzsteuer, aber auch
Änderungen zur Umsetzung der EU-Amtshilferichtlinie.
Außerdem wird das Steuerrecht als Folgeänderung an
Gesetzesänderungen in anderen Rechtsgebieten angepasst. Daneben reagieren wir auf aktuelle Entscheidungen des Bundesfinanzhofes und nehmen gesetzliche
Klarstellungen zu steuerlichen Zweifelsfragen vor.
Zu Protokoll gegebene Reden
Obwohl es sich um ein recht umfangreiches Gesetz
handelt, das verschiedene, thematisch zum Teil nur wenig oder gar nicht miteinander verbundene Einzelmaßnahmen enthält, hat es einige inhaltliche Schwerpunkte,
auf die ich näher eingehen möchte:
Schaffung eines EU-Amtshilfegesetzes. Mit dem EUAmtshilfegesetz wird die sogenannte EU-Amtshilferichtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Sie bezweckt vor
allem eine effizientere Zusammenarbeit der Steuerbehörden der EU-Mitgliedstaaten, um Steuern bei grenzüberschreitenden Aktivitäten ordnungsgemäß festsetzen
zu können. Die Neuerungen betreffen im Wesentlichen
die Schaffung zentraler Verbindungsbüros in allen Mitgliedstaaten und die stufenweise Entwicklung eines automatischen Informationsaustauschs.
Änderung von Steuergesetzen. Eine unmittelbare Umsetzung von europäischem Recht erfolgt unter anderem
durch folgende Rechtsänderungen: Es gibt verschiedene
Anpassungen des Umsatzsteuergesetzes an die sogenannte Mehrwertsteuersystem-Richtlinie sowie die sogenannte Rechnungsstellungsrichtlinie. Zugleich wird
die Regelung zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung
von Dividendenzahlungen und anderen Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften ({0}) an die
Neufassung der sogenannten Mutter-Tochter-Richtlinie
angepasst.
Weitere bedeutsame materiell-rechtliche Änderungen
sind:
Verkürzung der Aufbewahrungsfristen. Diese Maß-
nahme ist ein wesentliches Anliegen der Bundesregie-
rung auf dem Gebiet der Bürokratiekostenentlastung der
Wirtschaft, Als Ergebnis des Projekts „Harmonisierung
und Verkürzung der Aufbewahrungs- und Prüfungsfris-
ten nach Handels-, Steuer- und Sozialrecht“ werden die
Aufbewahrungsfristen nach der Abgabenordnung und
dem Umsatzsteuergesetz von bisher zehn Jahren ab
2013 auf zunächst acht und in einem weiteren Schritt ab
2015 auf sieben Jahre verkürzt. Auch im Handelsgesetz-
buch werden die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbe-
lege entsprechend verkürzt. Dadurch verringert sich der
Umfang der insgesamt in einem Unternehmen aufzube-
wahrenden Unterlagen.
Regelungen für Dienstwagen im Zusammenhang mit
der E-Mobilität. Zur Umsetzung des Regierungspro-
gramms Elektromobilität wird im Einkommensteuerge-
setz eine Regelung zum Nachteilsausgleich für die pri-
vate Nutzung von betrieblichen Elektrofahrzeugen und
Hybridelektrofahrzeugen geschaffen. Vom Regelungsge-
genstand sind Elektrofahrzeuge und Hybridelektrofahr-
zeuge erfasst, deren mechanische oder elektrochemische
Speicher extern aufladbar sind. Um eine Überkompen-
sation zu verhindern, wird der pauschale Abzug auf
einen Höchstbetrag beschränkt, der ratierlich ab-
geschmolzen wird. Diese Änderungen stehen im Zusam-
menhang mit Änderungen im Kraftfahrzeugsteuergesetz,
die im Entwurf eines Verkehrsteueränderungsgesetzes
enthalten sind, das heute ebenfalls in erster Beratung
behandelt wird.
Besteuerung des Wehrsolds freiwillig Wehrdienstleis-
tender. Für die den freiwilligen Wehrdienst und freiwil-
lige Wehrübungen Leistenden wird zukünftig der Ge-
haltsbestandteil „Wehrsold“ sowie „Dienstgeld“
steuerfrei gestellt. Steuerfrei gestellt wird ferner das für
den Bundesfreiwilligendienst gezahlte Taschengeld, um
insoweit eine Gleichbehandlung sicherzustellen; weitere
Bezüge sind künftig steuerpflichtig. Damit tragen wir
der besonderen gesellschaftlichen Bedeutung dieser
Freiwilligendienste Rechnung.
Eine echte Verfahrenserleichterung im Besteuerungs-
verfahren für den Arbeitnehmer wie für die Finanzver-
waltung bedeutet die Möglichkeit, auf Antrag die Gel-
tungsdauer eines im Lohnsteuerabzugsverfahren zu
berücksichtigenden Freibetrags künftig auf zwei Kalen-
derjahre zu verlängern. Damit entsprechen wir der poli-
tischen Zielsetzung, die Handhabbarkeit des Steuer-
rechts - wo immer möglich - zu vereinfachen.
Des Weiteren erfolgt eine Modernisierung und Ver-
einfachung des Verfahrens der Anmeldung der Feuer-
schutzsteuer durch die Option, diese künftig elektronisch
abzugeben.
Die Mehrzahl der weiteren Änderungen hat überwie-
gend technischen Charakter. Dies betrifft beispielsweise
redaktionelle Anpassungen der Steuergesetze an den
Vertrag von Lissabon, die Anpassung weiterer steuerli-
cher Vorschriften an die Einführung der Abgeltung-
steuer und Detailregelungen zur elektronischen Vermö-
gensbildungsbescheinigung und Folgeänderungen im
Fünften Vermögensbildungsgesetz.
Fazit. Die Bundesregierung legt mit dem heute zu be-
ratenden Gesetzesvorhaben einen umfangreichen Ent-
wurf mit vielen Detailregelungen vor. Auch ein derarti-
ges Technikgesetz ist notwendiger Bestandteil einer
soliden Regierungsarbeit. Mit den vorgenommenen
Rechtsänderungen soll ein möglichst reibungsloses
Funktionieren des Besteuerungsverfahrens gewährleis-
tet und damit das Steueraufkommen gesichert werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/10000 und 17/10099 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10000, also Tages-
ordnungspunkt 18 a, soll zusätzlich an den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller ({0}), Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutzverantwortung weiterentwickeln
und wirksam umsetzen
- Drucksache 17/9584 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Vizepräsidentin Petra Pau
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die internationale Schutzverantwortung
weiterentwickeln
- Drucksache 17/8808 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nie wieder Völkermord - das ist das ehrgeizige
Ziel, das sich die internationale Gemeinschaft nach den
Massakern von Ruanda und Srebrenica gesetzt hat. In
den letzten drei Jahren wurden immer wieder Konkretisierungen der Antworten auf die Frage gefunden, wie
Menschen besser vor Gräueltaten verbrecherischer
Regime geschützt werden können, also wie die 2005 beschlossene Schutzverantwortung, die sogenannte Responsibility to Protect, die RtoP, wirksamer umgesetzt
werden kann.
Immer mehr Staaten bestimmen die RtoP-Agenda
durch konkrete Antworten, durch konkrete Mitarbeit
und durch neue Ideen. Das deutsche Engagement dabei
ist - wenn überhaupt vorhanden - durch Profil- und
Konzeptlosigkeit geprägt, und das ungeachtet der historischen Verantwortung, die Deutschland für die Verhütung von Völkermord und schweren Menschenrechtsverbrechen eigentlich hat. Das alles spielt in der
gegenwärtigen deutschen Außenpolitik keine Rolle.
({0})
Das ist nicht überall so. Der amerikanische Präsident
Obama zum Beispiel lässt keine Gelegenheit aus, die
RtoP als nationales Sicherheitsinteresse und moralische
Verantwortung hervorzuheben, und das zu Recht. Die
Kanzlerin überlässt das Thema ihrem Außenminister,
und dieser orientiert sich lieber an seinen sogenannten
Gestaltungsmächten wie Russland und China. Auch
wenn der Außenminister das Gegenteil beteuert: Beim
Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen hat
Deutschland Nachholbedarf.
({1})
Andere Staaten sind weiter und begreifen die RtoP
als Säule einer menschenrechtsorientierten globalen
Friedenspolitik, und das zu Recht. Die US-Administration hat dazu einen ressortübergreifenden Beirat zur
Prävention vor schwersten Menschenrechtsverbrechen,
Atrocities Prevention Board, geschaffen. Er setzt sich
aus hochrangigen Vertretern der Ministerien für Äußeres, Verteidigung, Entwicklung, Finanzen und Justiz, der
Geheimdienste, der Streitkräfte, der Vertretung bei den
Vereinten Nationen und des Büros des Vizepräsidenten
zusammen. So macht man das, wenn man ein Thema
wirklich ernst nimmt.
({2})
Deutschland hat sich der globalen Initiative, nationale
RtoP-Kontaktstellen einzurichten, um nationale und internationale Anstrengungen besser koordinieren zu können, bisher noch nicht angeschlossen. Die Regierung
sagt, sie prüfe. Ich frage: Wie lange eigentlich noch?
Wer wirksamen Schutz vor Völkermord will, darf
sich vor unbequemen Entscheidungen nicht drücken.
Dazu gehört auch, die UN-Missionen nicht nur zaghaft
zu unterstützen und die Hauptarbeit und vor allem das
Risiko anderen zu überlassen, sondern selbst Verantwortung zu tragen. Die selbstgefällige Fixierung auf das Wenige, das von Deutschland dann doch immerhin getan
wird, hilft denen nicht, die unmittelbar von schwersten
Verletzungen von Menschenrechten bedroht sind. RtoP
ist ein Konzept der Prävention, der Unterstützung und
des Handelns. Dieses Konzept verdient unsere volle Zustimmung und Unterstützung.
({3})
In unserem Antrag haben wir verschiedene praktische
Anregungen zur Umsetzung der RtoP gegeben. Ich
hoffe, dass die Bundesregierung zumindest einige davon
aufgreift und entschlossener dazu beiträgt, dass die
moralische Maxime „Nie wieder Völkermord!“ kein leeres Versprechen bleibt.
Danke sehr.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Marina
Schuster das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Koenigs, ich finde es schade, dass Sie dieses sehr
wichtige Thema nehmen, um zu einem Rundumschlag
auf die Bundesregierung auszuholen, und insbesondere
nicht erwähnen, was in diesem Bereich, auch hier im
Parlament, auch im Bereich des Ressortkreises, aber
auch im Bereich des Beirats, geleistet wird. Ich werde
nachher noch einmal darauf zu sprechen kommen.
Die Entscheidung, wie sich die Bundesregierung im
Sicherheitsrat bei der Resolution 1973 verhalten hat,
wurde ja mehrfach diskutiert. Ich will da gar nicht mehr
auf Parteipolitik eingehen. Denn dann müsste ich der
SPD die Äußerung ihres Fraktionsvorsitzenden Steinmeier
vorhalten, der am Tag nach der Entscheidung das Votum
Deutschlands ausdrücklich begrüßt hat.
Zum Konzept der Schutzverantwortung. Sie ist in der
Tat ein Meilenstein im Völkerrecht. Unsere Aufgabe
muss es jetzt sein, dieses Konzept weiterzuentwickeln,
es zu operationalisieren. Denn unabhängig davon, ob
man für oder gegen die Libyen-Entscheidung war oder
sich bei ihr enthalten hat, die Entscheidung und der Einsatz danach geben uns konkrete Hausaufgaben auf. Es ist
die Frage zu beantworten: Was ist von der RtoP tatsächlich gedeckt? Die Bewaffnung von Rebellen? Das gezielte Töten eines Diktators oder einer ganzen Führungsriege? Was ist erlaubt? Der Mandatstext im Fall Libyen
beinhaltete eben gerade nicht einen Regime Change oder
Waffenlieferungen an Rebellen.
({0})
Deswegen erhoben gerade China und Russland in der
nachfolgenden Diskussion den Vorwurf - sei er berechtigt oder unberechtigt -, es habe einen Overstretch gegeben. Insofern ist es unsere Aufgabe, diese strittigen
Fragen zu klären.
({1})
Der zweite Punkt, der damals in dem Dokument der
Generalversammlung 2005, aber auch schon vorher bei
dem Dokument der Konferenz der ICISS, der International Commission on Intervention and State Sovereignty,
offengelassen wurde, ist die zukünftige Rolle von Regionalorganisationen.
Damit hier kein Zweifel aufkommt: Natürlich sind
wir der Auffassung, dass der Sicherheitsrat die oberste
und zentrale Verantwortung für Frieden und Sicherheit
hat. Das ist auch die völkerrechtliche Legitimierung. Nur
die Vereinten Nationen können das Mandat zur Durchsetzung der RtoP erteilen, und das auch nur in den vier
Tatbeständen „Völkermord“, „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „ethnische Säuberungen“.
Doch man muss die Frage stellen: Welche Rolle werden die Regionalorganisationen zukünftig übernehmen?
Ich denke da ganz besonders an einen Fall, nämlich an
die Afrikanische Union. Sie hat nämlich in Art. 4 ihrer
Gründungscharta das Right to Intervene im Fall von
Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit festgelegt. Das heißt, man muss
schon klären, welche Rolle Regionalorganisationen zukünftig spielen, und es muss immer klar sein, wem die
Befugnis für einen Einsatz erteilt wird.
Der nächste Punkt - dieser ist in der Diskussion ganz
besonders wichtig - ist, dass wir klarstellen und ganz
deutlich machen müssen: Schutzverantwortung ist nicht
identisch mit militärischem Eingreifen. Es gibt keinen
Automatismus. Vielmehr ist RtoP ein ganzheitliches
Konzept mit drei wesentlichen Säulen, nämlich „to prevent“, „to react“ und „to rebuild“. Gerade dieser Bereich
- es sind ja Kollegen da, die in dem Unterausschuss
„Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ sehr
aktiv sind: Kollege Spatz als Vorsitzender und Kerstin
Müller - ist besonders wichtig. Es geht nämlich darum,
Krisen früh zu erkennen, früh mit diplomatischen Möglichkeiten, mit politischen Möglichkeiten, sei es durch
Vermittlung, durch Sonderberichterstatter, Beauftragte,
Krisen zu verhindern. Da würdigen Sie zu wenig, was im
Ausschuss, aber auch im Beirat „Zivile Krisenprävention“ und im Ressortkreis geleistet wird. Wenn man die
Bundesregierung kritisiert, muss man auch erwähnen,
wo überall sich Deutschland engagiert,
({2})
nämlich auch auf internationaler Ebene, zum Beispiel
bei den Friends of RtoP auf UN-Ebene. Das muss man
schon deutlich machen.
Ein weiterer Bereich, den ich noch einmal ansprechen
wollte, ist, dass dieses Konzept mit Vorschlägen anderer
Staaten ausgestaltet wurde. Wir haben ganz konkret einen Vorschlag, den Brasilien im Herbst 2011 auf den
Tisch gelegt hat, nämlich „Verantwortung beim Schützen“. Ich glaube, es ist ganz besonders wichtig, dass wir
in der Diskussion über die RtoP gerade diese Staaten mit
einbeziehen und in einem stetigen Dialog mit ihnen treten, um dieses Konzept weiterzuentwickeln. Ich freue
mich, dass wir im Auswärtigen Ausschuss und im Menschenrechtsausschuss schon Ed Luck zu Gast hatten;
denn es ist ja seine Arbeit, die wir unterstützen, übrigens
auch finanziell.
Mein ganz konkreter Vorschlag - ich habe im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Bericht dazu vorgelegt, der sich im weitesten
Sinne mit Fragen der Staatlichkeit und der Souveränität
befasst -: Wir sollten eine Folgekonferenz der ICISS
einberufen. Denn wir brauchen einen Austausch über die
Operationalisierung: mit Fachleuten, mit Wissenschaftlern und auch mit NGOs. Wir müssen die Entwicklungen
der letzten zehn Jahre beleuchten. Ich denke, das wäre
ein ganz wichtiger Schritt, um dieses Konzept nach
vorne zu bringen.
Der letzte Punkt. Eines ist, glaube ich, ganz besonders
wichtig: dass dieses Konzept nicht missbraucht oder diskreditiert wird, dass sich also kein Staat, wenn es ihm
aus nationalem Interesse passt, darauf beruft, es später in
einem anderen Fall aber als Eingriff in die nationale
Souveränität ablehnt.
({3})
Das haben wir vonseiten Russlands schon erlebt.
Insofern, glaube ich, ist es wichtig, dass wir eine solche Konferenz einberufen. Deutschland wird sich hier
aktiv und engagiert einbringen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Heidemarie WieczorekZeul für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung,
ist die Lehre aus den Katastrophen von Ruanda 1994 und
von Srebrenica 1995. Sie ist - Tom Koenigs hat darauf
hingewiesen - im Abschlussdokument der UN-Generalversammlung von 2005 von der Staatengemeinschaft mit
Zustimmung Deutschlands anerkannt worden.
Die Lehre aus … Ruanda und Srebrenica
- so sagt Wolfgang Seibel bestand namentlich darin, die Schranke der Achtung vor der einzelstaatlichen Souveränität und der
territorialen Integrität … im Interesse des Schutzes
des höherwertigen Gutes, nämlich des Schutzes vor
Massenverbrechen, zu durchbrechen. Es sollte nicht
noch einmal die Situation eintreten, dass die internationale Gemeinschaft tatenlos zusieht, wenn
staatliche oder nichtstaatliche Akteure Massenverbrechen … verüben …
Diese Herausforderung ist, denke ich, bisher nicht in allen politischen Diskussionen und in der Außenpolitik
Deutschlands, aber auch vieler anderer Länder in dem
Maße verwirklicht.
Ich will daran erinnern, dass die Schutzverantwortung
an vier Tatbestände gebunden ist - dabei geht es nicht
darum, immer militärisch einzugreifen -: an die Tatbestände des Völkermordes, der Kriegsverbrechen, der
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der ethnischen Vertreibung. Es ist die primäre Verantwortung der
Staaten, ihre Bevölkerung vor diesen Massenverbrechen
und vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Wenn sie selbst dazu nicht imstande oder an diesen
Verbrechen sogar beteiligt sind, dann geht die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über.
Sie hat in der Tat drei Säulen: die Prävention, die Reaktion - damit ist auch die militärische Aktion gemeint und den Wiederaufbau.
Aber zur Wahrheit gehört auch, zu fragen: Wer diskutiert frühzeitig über Prävention und die Notwendigkeit
des Eingreifens? Hier gibt es meist nur wenig Öffentlichkeit, und vor allen Dingen werden dafür meist nur
geringe Finanzmittel mobilisiert.
Wir machen in unserem Antrag deutlich: Zum ersten
Mal ist mit der Libyen-Resolution des UN-Sicherheitsrats vom März 2011 die internationale Schutzverantwortung der UN in einer konkreten Situation angewandt
worden; damit ist eine Völkerrechtsnorm entwickelt
worden. Sie erinnern sich: Der von Gaddafi angedrohte
Angriff auf die Stadt Bengasi - mit mehr als 600 000
Einwohnern - hätte zu einem Massaker mit Tausenden
von Opfern geführt. Der Einsatz hatte die Entscheidung
des UN-Sicherheitsrates, die Aufforderung der Menschen aus dem Land selbst und den Beschluss der Regionalorganisation der Arabischen Liga als Voraussetzung;
Frau Schuster hat das ja angesprochen. Es ist deshalb ein
schwerer historischer Fehler der Bundesregierung, dass
sie sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über
die UN-Resolution 1973 der Stimme enthalten hat.
({0})
Durch ihre Entscheidung ist die Bundesregierung ihrer
Unterstützungsfunktion für diese Norm der Schutzverantwortung, die ja entwickelt wird, nicht gerecht
geworden.
Es wäre Zustimmung notwendig gewesen, und
gleichzeitig, Frau Schuster, hätte ein Prozess der Überprüfung, ein sogenannter Monitoringprozess, die Aktion
entsprechend begleiten müssen.
({1})
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es vonseiten der Bundesregierung keinerlei Versuch gegeben hat, einen solchen Monitoringprozess zu verwirklichen.
Skandalös ist übrigens, dass die Bundesregierung in
den nachfolgenden Tagen die Soldaten aus den über dem
Mittelmeer nahe Libyen kreisenden AWACS-Flugzeugen abgezogen und auch die zwei Schiffe der Bundesmarine aus einem vor der libyschen Küste kreuzenden
Flottenverband der NATO herausgelöst hat. Dessen Aufgabe war die Durchsetzung des vom UN-Sicherheitsrat
am 26. Februar 2011 mit der UN-Resolution 1970 beschlossenen Waffenembargos, das die Bundesregierung
selbst gefordert und Bundesaußenminister Westerwelle
mehrfach begrüßt hatte.
({2})
Es ist absurd, wie sich die Regierung hier verhalten hat.
Deutschland sollte nachdrücklich für das Konzept der
Schutzverantwortung eintreten und in der EU und auch
bei anderen Staaten - zum Beispiel den Schwellenländern - für das Konzept werben. Die Schutzverantwortung muss zum Schwerpunktinstrument der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit werden, und die Bundesregierung muss ausreichende Finanzmittel für Prävention und Wiederaufbau mobilisieren.
Von denjenigen, die die Schutzverantwortung jedenfalls als Prinzip nicht wirklich akzeptieren oder sagen,
das seien immer militärische Aktionen - Frau Schuster
hat das auch noch einmal gesagt -, wird eingewandt,
dass die Libyen-Entscheidung des UN-Sicherheitsrates,
die UN-Resolution 1973, nicht den Auftrag enthalten
habe, Gaddafi zu stürzen. Das ist in der Tat richtig. Dass
aber gerade diejenigen, die der Resolution des UNSicherheitsrates nicht zugestimmt haben wie Herr
Westerwelle, aktiv gesagt haben, Gaddafi müsse gestürzt
werden, ist doch ein innerer Widerspruch.
({3})
Hier gibt es ja durchaus gemeinsame Vorschläge. Es
ist deshalb wichtig, die Leitkriterien in den UN für die
Schutzverantwortung so zu entwickeln, dass ihre Anwendung im Falle Libyens zukünftig nicht als Vorwand
genutzt werden kann, die Schutzverantwortung in anderen Situationen abzulehnen. Ich plädiere sehr dafür, dass
wir über die Fraktionsgrenzen hinweg versuchen, entsprechende Positionen zu finden. Den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen könnten wir zu einem gemeinsamen Antrag weiterentwickeln.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Dass es
keine militärische Initiative im Sinne der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf
Syrien gibt, kann nicht als Argument herangezogen werden, dass es hier doppelte Standards gibt. Ein militärisches Eingreifen in Syrien würde die Zahl der Opfer in
einer derart komplexen Situation erhöhen.
({4})
Das entbindet uns aber nicht davon, alles zu tun und
dazu beizutragen, dass dem Blutvergießen in Syrien Einhalt geboten wird. Es schmerzt uns, wenn wir die Situation der Menschen dort sehen.
Meines Erachtens - das ist meine persönliche Meinung - wäre im UN-Sicherheitsrat ein Drängen auf die
Entsendung von UN-Blauhelmen notwendig. Die unbewaffneten UN-Beobachter können das, was von dem
Annan-Plan erwartet wird, jedenfalls nicht leisten.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es aber falsch
gewesen wäre, in Libyen einzugreifen, halte ich für einen Vorwand. Dass wir nicht alle retten können, heißt
doch nicht, dass wir auch diejenigen nicht retten sollten,
die wir retten können. Das müssen wir in all den Fällen
tun, in denen wir dazu alle Möglichkeiten haben, und
zwar mit Leidenschaft, Engagement und finanzieller Unterstützung. Die Prävention - das ist völlig klar - müssen
wir natürlich immer an die Spitze stellen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde es gut, dass wir uns dieses Themas annehmen, auch wenn ich mir eine andere Debattenzeit
hätte vorstellen können.
({0})
Aber das Thema verdient die Erörterung in diesem Plenum in jedem Falle.
Ich stelle voran: Wir sind uns einig, dass das Prinzip
der Schutzverantwortung ein neues, relativ junges internationales Prinzip ist, das noch mit Leben gefüllt werden
muss. Aber die Tatbestände, die formuliert worden sind
- die Vorredner haben das bereits ausgeführt -, sind unstreitig. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den
Nationen, die sich innerhalb der UN dafür einsetzt, dass
das Prinzip weiterentwickelt wird, dass es Kraft gewinnt
und dass es ein Instrumentarium wird, das eine gewisse
Verlässlichkeit bietet. Dabei muss Orientierung bei der
Frage geschaffen werden, wann ein möglichst großer
Konsens in der internationalen Gemeinschaft hergestellt
werden kann, um einzugreifen.
Wir sind uns natürlich auch über die drei Säulen Prävention, Reaktion und Wiederaufbau einig. Darüber
hinaus sind wir uns darüber einig, Frau Kollegin
Wieczorek-Zeul, dass wir natürlich beim Thema Prävention noch nicht genug tun. Das ist auch in den Beiträgen
der Vorredner deutlich geworden. Automatisch liegt natürlich ein Schwerpunkt auf der Reaktion.
Ein Schwerpunkt ist auch die Diskussion, auch die
streitige Diskussion hier und anderswo, zum Beispiel in
der UN. Daher ist eine Reaktion jetzt angesagt. Die
Frage muss beantwortet werden, ob sie notwendig und
gerechtfertigt ist. Deutschland tut gut daran, die präventiven Bemühungen zu verstärken. Wenn wir hierüber in
diesem Hause einen Konsens herstellen, dann fände ich
das schon wertvoll.
Wann allerdings das Prinzip der Schutzverantwortung
heranzuziehen ist, um auch militärisch zu intervenieren,
darüber sind wir ganz offenkundig unterschiedlicher
Auffassung. Wichtig ist, dass wir dieses Instrument nicht
auf militärische Interventionen verengen. So ist es,
glaube ich, auch nie gemeint gewesen. Das kann immer
ein mögliches Element sein. Es kann aber immer nur die
Ultima Ratio sein und sollte nicht die erste Maßnahme
sein, wozu wir uns genötigt sehen, auch wenn es - das
geben ja schon die Tatbestandsvoraussetzungen her - um
Gräueltaten geht. Wir dürfen nicht die Ersten sein, die zu
den Waffen eilen. Das sollte ein Konsens in diesem
Hause sein.
({1})
Vor dem Hintergrund sage ich in Richtung der linken
Seite des Hauses - die Linkspartei, Herr Gehrcke, lasse
ich an der Stelle einmal außen vor, weil Sie da eine relativ klare Position haben, die ich überhaupt nicht teile -:
Das, was wir von den Sozialdemokraten und den Grünen
zu diesem Thema hören, ist nicht konsistent. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen. Als die Bundesregierung angekündigt hat, sich enthalten zu wollen, haben
wir aus den ersten Reihen Ihrer Fraktionen eine Ad-hocZustimmung vernommen.
({2})
Es wurde gesagt: Wir haben jedes Verständnis dafür,
dass sich Deutschland enthält. - Das kommt aus Ihren
Reihen. Fragen Sie Herrn Steinmeier und Herrn Trittin,
was sie damals dazu gesagt haben. Man hat sich dann
später korrigiert. Aber seien Sie so ehrlich: Die erste Reaktion von Rot und Grün war Verständnis für diese Enthaltung.
({3})
So ist das gewesen. Das muss hier schon einmal gesagt werden. Im Nachhinein tun Sie so, als hätten Sie alles besser gewusst nach dem Motto „Wäre Deutschland
doch bei der militärischen Aktion dabei gewesen“. Es ist
keine Frage, dass es sich um ein menschenverachtendes
Regime handelte und dass sich Gräueltaten andeuteten.
Wie Sie dann, Frau Wieczorek-Zeul, in einer rhetorischen Volte dazu kommen, einen Einsatz in Syrien komplett abzulehnen, wo doch dort im Grunde jeden Tag Anschläge wie in Bengasi geschehen, und wie Sie das hier
schlüssig begründen wollen, das kann ich schlicht und
ergreifend nicht nachvollziehen. Das muss ich Ihnen in
aller Offenheit sagen. Hier müssen Sie schon den gleichen Maßstab anlegen.
Deswegen bin ich ganz aufseiten der Bundesregierung, die die Schutzverantwortung, was das militärische
Element angeht, ganz offensichtlich restriktiv interpretiert. Das hat Deutschland insgesamt immer gut angestanden.
({4})
Das sollte auch für die Zukunft an dieser Stelle unser
Grundsatz sein.
({5})
Das Militärische ist nicht der Ausweg. Mit diesen
Worten möchte ich meine Ausführungen beenden und
freue mich auf einen deutschen Sieg im Fußball.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, dass es wirklich gut ist, sich am Beginn
der Debatte doch einmal an die Charta der Vereinten Nationen und an den Gründungsgeist der Vereinten Nationen zurückzuerinnern und davon auszugehen. Es waren
zwei große Gedanken, die die Vereinten Nationen bewegt haben: Krieg sollte als Mittel der Politik ausgeschlossen werden, und man wollte nie wieder Faschismus, Diktaturen und Gewalt dulden. - Das sind die
Leitlinien der Vereinten Nationen.
Deswegen haben sich die Vereinten Nationen sehr
früh darauf festgelegt, Gewalt und bereits die Androhung von Gewalt aus dem Zusammenleben der Völker
auszuschließen. Stattdessen sind mehr und mehr Überlegungen zu Konfliktvermeidung und friedlicher Konfliktlösung entwickelt worden. Die Vereinten Nationen haben einen großen Anteil daran, dass das Kolonialsystem
zusammengebrochen ist. Ich glaube, dass man sich, von
den Positionen der Vereinten Nationen herkommend,
besser die Frage stellen sollte: Gehören Menschenrechte
zum Völkerrecht, oder stehen sie außerhalb des Völkerrechts? Das ist die rechtliche Frage. Ich möchte aus meiner Sicht ganz deutlich sagen: Menschenrechte gehören
zum Völkerrecht und sind Teil des Völkerrechts. Das
sollte unbestritten sein.
({0})
Die großen beiden Dokumente der Vereinten Nationen sind für mich die Charta der Vereinten Nationen und
die Charta der Menschenrechte. Beides muss umgesetzt
werden. Daraus ziehe ich für mich die Schlussfolgerung,
dass die Vereinten Nationen nicht nur für Menschenrechte kämpfen dürfen, sondern sie sind verpflichtet, für
Menschenrechte zu kämpfen und in diesem Bereich
möglichst noch mehr zu tun.
Um den Kampf um Menschenrechte geht es auch in
den vorliegenden Anträgen. Ich finde vieles, was in diesen Anträgen steht, vernünftig. Ich würde gern in den
Ausschüssen, wo wir darüber noch reden werden, einiges vertiefen wollen. Aber ich will auch gleich auf die
Pferdefüße zu sprechen kommen, die für mich eine Zustimmung zu diesen Anträgen ausschließen.
Beide Anträge beinhalten die Möglichkeit eines Krieges. Es ist allerdings anders formuliert: Die SPD spricht
in ihrem Antrag von militärischem Eingreifen oder militärischer Intervention. Die Grünen sprechen von
Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta.
Beide Anträge beziehen militärische Gewalt ein und
schließen sie nicht aus.
({1})
Dem stimme ich nicht zu. Wir werden nicht unsere Stimmen für den Einsatz militärischer Gewalt geben.
({2})
- Ich behaupte ja nicht, dass die Anträge damit enden.
Das ist erst der Anfang. Ich habe Ihre Anträge gelesen.
Es gab einmal eine Zeit, wo für die Sozialdemokratie
militärische Gewalt nicht Ultima Ratio, sondern Ultima
Irratio war. Das war zur Zeit von Willy Brandt. Für die
Grünen galt dasselbe. Hier müssen Sie sich entscheiden:
Wird militärische Gewalt für Sie wieder Ultima Ratio?
Dann landet man schnell bei militärischer Gewalt. Oder
bleibt es dabei, dass Krieg die Ultima Irratio ist? Dann
müssen wir sie ausschließen.
({3})
Schauen Sie sich einmal die Opfer der Kriege an: in
Jugoslawien - bei diesem Krieg wurde immer mit den
Menschenrechten argumentiert -, im Irak, in Afghanistan und Libyen. Wenn Sie die Zahl der Opfer zusammenrechnen, kommen Sie auf das furchtbare Ergebnis,
dass wahrscheinlich über 900 000 Menschen in diesen
Kriegen ihr Leben verloren haben. Das ist eine gewaltige
Opferzahl. Kann es wirklich sein, dass wir akzeptieren,
dass aufgrund des Einsatzes von militärischer Gewalt
und ihrer Folgen Menschen Leben und Gesundheit verlieren? Das entspricht nicht meiner Vorstellung. Ich
glaube nicht, dass man über den Krieg Menschenrechte
erkämpfen kann. Deswegen will ich militärische Gewalt
ausschließen.
({4})
Ich schlage Ihnen gerne ein anderes Herangehen vor.
Man kann über Schutzmaßnahmen in Form eines Pakts
im Parlament diskutieren. Ich möchte gerne verhindern,
dass Menschen weiter im Mittelmeer ertrinken, weil sie
nach Europa kommen wollen. 14 000 Menschen sind im
Mittelmeer umgekommen. Ist das nicht eine Herausforderung? Ich möchte die Flüchtlingsströme mit ihren
Hunderttausenden von Menschen beenden. Ich möchte,
dass wir eine Sprache finden, in der wir die Dinge wieder beim Namen nennen und in der Krieg wieder Krieg
heißt statt militärische Einmischung, Schutzverantwortung oder Zwangsmaßnahmen. Ich möchte, dass wir eine
Art und Weise der Menschenrechtspolitik entwickeln,
die gradlinig ist. Man kann nicht auf der einen Seite hinschauen und auf der anderen Seite wegschauen.
Bei Libyen hatte sich Deutschland - das war das einzig Vernünftige dieser Bundesregierung - seiner Stimme
enthalten. Wir hätten, wenn wir es zu entscheiden gehabt
hätten, dagegen gestimmt. Der Libyen-Krieg hat das Leben von 40 000 Menschen gekostet. Da können Sie doch
nicht sagen, dass er vernünftig war.
Danke sehr.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, denke ich, in dieser Debatte deutlich geworden,
dass das Konzept der Schutzverantwortung, das in den
letzten zehn Jahren entwickelt worden ist, darauf abzielt,
schwerste Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden.
Es hat im Jahr 2005 Eingang in das Abschlussdokument
des Weltgipfels der Vereinten Nationen gefunden. Seit
2008 gibt es einen Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen zu diesem Thema.
2009 hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen
einen Bericht vorgelegt, in dem es um die Ausdifferenzierung der Verantwortlichkeiten in die Bereiche Prävention, Reaktion und Wiederaufbau geht. Frau Kollegin
Wieczorek-Zeul hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
zugleich der Anwendungsbereich auf die vier Massenverbrechen Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische
Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
eingegrenzt worden ist.
Aber es bleibt dabei, meine Damen und Herren: Die
Entscheidung über den Einsatz militärischer Mittel zur
Umsetzung der Schutzverantwortung verbleibt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Rahmen von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen.
Die Entwicklung des Konzepts der Schutzverantwortung vor dem Hintergrund der schrecklichen Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan, in Ruanda, in Darfur und im Kongo ist schon dargestellt worden. In
Libyen hat dieses Konzept insofern eine Weiterentwicklung erfahren, als der Sicherheitsrat in seiner Resolution
ausdrücklich auf die Schutzverantwortung der libyschen
Behörden gegenüber der eigenen Bevölkerung Bezug
genommen hat. Deswegen zeigt der Fall Libyen die
Stoßrichtung des Konzepts auf: Wo Staaten ihrer Schutzverantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht
nachkommen, soll die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft übergehen. Diese soll dann
handeln, um drohende oder akute schwerste Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden.
Das Konzept reiht sich damit in einen Paradigmenwechsel ein, der schon seit längerem stattfindet und auch
vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen befördert
wurde, und zwar im Hinblick auf die tragenden Säulen
des Völkerrechts: die Prinzipien der Souveränität, des
Interventionsverbots und des Gewaltverbots. Sicherlich
bleibt es die essenzielle Aufgabe eines Staates, die Sicherheit seiner eigenen Bevölkerung zu gewährleisten.
Die Staaten haben diese Verantwortung in zahlreichen
Verpflichtungen zum Menschenrechtsschutz und zum
humanitären Völkerrecht verankert.
Je umfassender und konkreter diese Bindungen durch
das Völkerrecht sind, desto kleiner wird der Bereich ausschließlicher nationaler Souveränität; desto sensibler
stellt sich aber auch die Frage nach einer Intervention
von außen im Sinne der Schutzverantwortung. Das hat
sich zuletzt im Falle Libyens gezeigt: Dort haben die intervenierenden Kräfte unter Berufung auf die Schutzverantwortung einen Regimewechsel herbeigeführt. Wir
müssen im Blick behalten, dass dieses Konzept von vielen Staaten, die ihm ohnehin kritisch gegenüberstehen,
durch diesen Regimewechsel als diskreditiert angesehen
wird.
Aufgrund dieser Entwicklung möchte ich dafür werben, dass wir dem Konzept der Schutzverantwortung
den Stellenwert beimessen, den es auch im Abschlussdokument des Weltgipfels der Vereinten Nationen hatte,
nämlich den eines politischen Signals.
Der Grundsatz, dass die Verantwortung eines Staates
darin besteht, seine Bevölkerung zu schützen, ist nicht
gerade neu; denn im Völkervertragsrecht und im Völkergewohnheitsrecht ist diese Verpflichtung schon lange
verankert, zum Beispiel in den Normen des internationalen Menschenrechtsschutzes, in den Genfer Abkommen
zum humanitären Völkerrecht, in der Völkermordkonvention und im Völkerstrafrecht. Deshalb ist es wichtig,
dass das Gipfeldokument von 2005 die Rolle und die
Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und damit auch die Befugnisse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen betont und bestätigt. Außer dem damaligen
Aufruf, eine Frühwarnkapazität im Rahmen der Vereinten Nationen zu unterstützen, gibt es keine rechtliche
Weiterentwicklung. Insbesondere werden keine Optionen für den durchaus wahrscheinlichen Fall einer Blockade des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen formuliert.
Eines muss klar herausgearbeitet werden: Es gibt im
Rahmen des Konzepts der Schutzverantwortung keine
Pflicht zum Eingreifen bei schwersten Menschenrechtsverletzungen. Das Konzept kann aber bei der Analyse
von Gefährdungssituationen und bei der Operationalisierung von Handlungsoptionen durchaus gute Dienste leisten. Deutschland sollte dabei - hier gebe ich den Antragstellern recht - im Rahmen der Vereinten Nationen und
der Europäischen Union sowie im Dialog mit den Menschenrechtsorganisationen eine aktive Rolle spielen und
seine vielfältigen Erfahrungen einbringen.
Eine Gefahr bei der Berufung auf die Schutzverantwortung besteht - das ist schon angesprochen worden in der Verkürzung auf die militärische Option, die oft
falsche Erwartungen erweckt. Ich befürworte sehr, dass
wir den Bereich der Analyse und Früherkennung sowie
den Präventionsbereich weiter ausbauen. Wenn es aber
um den Einsatz der Bundeswehr geht, müssen wir uns
wie üblich die Fragen stellen: Nützt oder schadet eine Intervention? Wo sind die Grenzen der Intervention? Wie
lange dauert sie? Wie kann sie beendet werden? Worin
bestehen unsere Interessen und die Bündnisinteressen?
Ich rate zur Vorsicht bei der Schutzverantwortung, um
keine Enttäuschungen zu produzieren.
Aus meiner Sicht macht es am meisten Sinn, das Konzept der Schutzverantwortung im Hinblick auf seine präventiven Möglichkeiten zu diskutieren. Die Kapazitäten
der Vereinten Nationen in den Bereichen der Früherkennung und der gezielten Beobachtung krisenhafter Entwicklungen sollten überprüft werden. Interessant ist sicherlich auch der Austausch mit unseren amerikanischen
Partnern. Die Obama-Administration hat ein Atrocities
Prevention Board eingerichtet, das einen Katalog an geeigneten Maßnahmen und Instrumenten erarbeiten soll.
Lassen Sie mich in einem letzten Schwenk
Maximal in einem letzten Satz. Achten Sie bitte auf
die Zeit!
- auf das Prinzip der strukturellen Krisenvorsorge
eingehen, das die EU in unserer Nachbarschaft hervorragend verwirklicht, insbesondere auf dem Balkan, wo die
Menschen vor nicht allzu langer Zeit ethnische Säuberungen ertragen mussten.
Wir sollten das, was wir realistischerweise tun können, richtig tun. Die Schutzverantwortung beginnt vor
unserer eigenen, europäischen Haustür.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9584 und 17/8808 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Federführung zur Vorlage auf Drucksache 17/9584 -
Tagesordnungspunkt 19 a - ist jedoch strittig. Die Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag
ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überwei-
sungsvorschlag ist angenommen. Damit liegt die Feder-
führung beim Auswärtigen Ausschuss.
Wir kommen nun zu dem in der Tagesordnung aufge-
führten Überweisungsvorschlag zu Tagesordnungspunkt
19 b. Sind Sie mit diesem Überweisungsvorschlag ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013 ({0})
- Drucksache 17/9875 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 17/10145 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({2})
Dr. Stefan Ruppert
Dr. Konstantin von Notz
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/10151 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Dr. Peter Danckert
Vizepräsidentin Petra Pau
Michael Leutert
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abschaffung der gesetzlichen Vermutung der
„Versorgungsehe“ bei Eheschließung und eingetragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Beamten nach dem Eintritt in den
Ruhestand
- Drucksachen 17/7027, 17/10144 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({5})
Dr. Stefan Ruppert
Dr. Konstantin von Notz
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Mit dem heute von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes gleichen wir die Bezüge der Bundesbeamten, Richter, Soldaten und Ruheständler an die
Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse in Deutschland an. Der Bund
überträgt damit die Ergebnisse der Tarifverhandlungen
im öffentlichen Dienst inhaltsgleich auf die Beamtenbesoldung. Und das ist ein gutes, es ist aber vor allem ein
sehr bewusstes Signal an unsere Staatsbediensteten.
Gab es angesichts der heutigen Lage in Europa jemals
deutlichere Belege dafür, wie stark und verlässlich unsere öffentliche Verwaltung ihren Dienst leistet? Mit dieser Anpassung der Bezüge honorieren wir die wertvolle
Arbeit unserer Beamtinnen und Beamten - eine Arbeit,
die für unser Gemeinwohl von elementarem Wert ist und
gleichzeitig maßgeblich zum deutschen Standortvorteil
beiträgt. Und deshalb müssen die öffentlichen Arbeitgeber auch weiterhin attraktive Arbeitsbedingungen bieten. Um meinem Bild der letzten Reden treu zu bleiben:
Der Bund ist als konkurrenzfähiger Arbeitgeber auf der
Attraktivitätsleiter wieder eine Sprosse weiter geklettert.
Als beamtenpolitischer Sprecher der CDU/CSUFraktion darf ich heute auch die Gelegenheit nutzen,
eine Zwischenbilanz zu ziehen, eine Bilanz über eine der
tatkräftigsten Legislaturperioden im Sinne der Beamten
des Bundes, der Soldaten und Bundesrichter:
Ich erinnere an die Übertragung ehebezogener
Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften, die inhaltsgleiche Anpassung der Dienstbezüge mit dem Bundesbesoldungs- und -versorungsanpassungsgesetz von 2010 bis Ende 2011, das Gesetz zum
Staatsvertrag über die Verteilung von Versorgungslasten
bei bund- und länderübergreifenden Dienstherrenwechseln, das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz 2011
für unsere Soldaten und das Fachkräftegewinnungsgesetz im März dieses Jahres. Wir haben den öffentlichen
Dienst in dieser Wahlperiode spürbar fortentwickelt und
einige Regelungen aufgefrischt. Selbst die Causa Weihnachtsgeld haben wir wie versprochen bei der ersten
möglichen Gelegenheit korrigiert. Durch die nicht einfach zu erzielenden dienstrechtlichen Vereinbarungen
im Bundeswehrreform-Begleitgesetz haben wir die geplante Umsetzung der Bundeswehrreform im Sinne der
Soldatinnen und Soldaten maßgeblich unterstützt. Die
rote Linie der Arbeitsbelastung wurde in einigen Bereichen der Bundesverwaltung überschritten. Der Bundesinnenminister hat daher mit der Entscheidung, die pauschalen Stellenkürzungen auslaufen zu lassen, genau
zum richtigen Zeitpunkt ein wichtiges Zeichen gesetzt.
Den zahlreichen schriftlichen und persönlichen Rückmeldungen, auch aus den Spitzenverbänden des öffentlichen Dienstes, entnehme ich, dass dieser beamtenpolitische Weg der christlich-liberalen Koalition der richtige
ist.
Das alles sind schon heute positive Wirkungen für die
Fachkräftegewinnung; dennoch bleibt dieses Thema
eine der besonderen Herausforderungen für die Zukunft
der öffentlichen Verwaltung.
So haben Verwaltungen in den kommenden Jahren ihr
Angebot an staatlichen Leistungen den veränderten demografischen Rahmenbedingungen anzupassen. Es gilt,
zukünftig mehr Menschen mit weniger Verwaltungseinrichtungen zu versorgen. Und gleichzeitig muss die ITgestützte Ansprechbarkeit steigen. Das heißt, Regierungs- und Verwaltungshandeln der Zukunft wird stärker als heute durch Kooperation und Partizipation gekennzeichnet sein; offener und transparenter gegenüber
den Bürgern und der Wirtschaft aufzutreten, ist das Ziel.
Ein erster Schritt ist hier das Offenlegen von Verwaltungsdaten. Die Förderung des Open Government und
die Bedeutung von offenen Daten ist deshalb eines von
sieben Steuerungsprojekten für Bund, Länder und
Kommunen. Hier hat das Bundesinnenministerium im
Oktober 2011 mit dem Beschluss zur Umsetzung der
Nationalen E-Government-Strategie Handlungsbedarf
erkannt. Wir, die christlich-liberale Koalition, erheben
den Anspruch, zukünftig mit einer bürgernahen, wirtschaftlich handlungsfähigen und modernen Verwaltung
zu arbeiten. Und hierzu muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen. Gerade im Bereich des E-Government und Open Government sehen wir die Möglichkeit,
Akzente für eine noch effektivere Verwaltung zu setzen.
Bürger und Unternehmen können noch stärker als Kommunikationspartner in das Verwaltungshandeln online
eingebunden werden. Bieten wir in Zukunft den Bürgern
oder den Unternehmen verstärkt die Möglichkeit, Information, Kommunikation oder Datentransfers über das
Internet zu bewerkstelligen! Das bedeutet auch, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen mitzunehmen, insbesondere zu qualifizieren.
Welche nächsten dienstrechtlichen Schritte planen
wir in absehbarer Zeit? Wir werden noch in diesem Jahr
unter anderem die Familienpflegezeitregelungen bei
Tarifbeschäftigten auch auf die Beamtinnen und BeamArmin Schuster ({0})
ten des Bundes übertragen. Die christlich-liberale Regierungskoalition sieht die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf in der öffentlichen Verwaltung auch als eine
Art Vorbildfunktion für die privaten Arbeitgeber und
eine gerechtere Gesellschaft. Pflege von Angehörigen in
der häuslichen Umgebung muss auch für Beamte möglich sein.
Außerdem werden wir uns in dieser Wahlperiode
noch mit den Themen Mitnahmefähigkeit von Versorgungsanwartschaften und Vereinbarkeit von Ehrenamt
und öffentlichem Dienst beschäftigen.
Wir können für die Verwaltung am Arbeitsmarkt nicht
die finanziellen Anreize der Privatwirtschaft bieten; wir
können aber mit den beschriebenen Vorhaben dafür sorgen, dass die Bundesverwaltung Fachkräfte gewinnen
kann, bei denen attraktive Arbeitsbedingungen eine größere Motivation auslösen.
Abschließend muss ich leider noch zum unnützen Antrag der Linken Stellung nehmen:
Sie, sehr geehrte Damen und Herren der Linkspartei,
wollen die Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, die eine Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft mit einer Beamtin oder einem Beamten im Ruhestand eingehen, aufheben. Ihrer Meinung nach handelt
es sich um Altersdiskriminierung mit moralischer, sozialer und ökonomischer Benachteiligung. Die Linksfraktion bezieht sich auf die Antidiskriminierungsrichtlinie
2000/78/EG des Rates zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Im Beamtenversorgungsgesetz ist ebenfalls geregelt, dass ein Hinterbliebener Anspruch auf Witwengeld nur erhält, wenn die
Ehe mit dem Beamten während dessen aktivem Beschäftigungsverhältnis mindestens ein Jahr gedauert hat
({1}). Diese Regelung zielt darauf ab, dem Missbrauch der Ehe vorzubeugen. Dies ist nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für den Bereich der
gesetzlichen Rentenversicherung absolut verfassungsgemäß. Von Altersdiskriminierung kann also keine Rede
sein.
Wir legen Ihnen mit dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz in kürzester Frist die bestmögliche Form der Anpassung der Bezüge für unsere
Beamten, Versorgungsempfänger und Bundesrichter
zur Zustimmung vor. Auch wenn ich für die christlichliberale Koalition bereits eine sehr positive beamtenpolitische Zwischenbilanz ziehen konnte: Die CDU/CSU
wird sich auch weiterhin mit aller Kraft für eine attraktive Fortentwicklung und Modernisierung des öffentlichen Dienstes starkmachen.
Wir debattieren heute zwei voneinander unabhängige
Vorlagen zum Beamtenrecht, auf welche ich deshalb gesondert eingehen werde. Bei dem Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/
2013 der Bundesregierung ({0})
handelt es sich um die übliche Anpassung der Bezüge an
die Entwicklungen der allgemeinen wirtschaftlichen und
finanziellen Verhältnisse, die regelmäßig zu erfolgen
hat. Die hier infrage stehende Anpassung orientiert sich
an den Ergebnissen der Tarifverhandlungen für die Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes des Bundes
vom 31. März 2012. Bereits während der Verhandlungen
hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich die
zeit- und inhaltsgleiche Übertragung der Tarifeinigung
auf Bundesbeamtinnen und -beamte, Soldatinnen und
Soldaten sowie Versorgungsempfängerinnen und -empfänger des Bundes gefordert. Genau dies - nicht mehr
und nicht weniger - bezweckt der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung. Dem stimmen wir deshalb
zu.
Die zweite heute hier zu beratende Vorlage ist ein
Antrag der Fraktion Die Linke ({1}) zur beamtenrechtlichen Hinterbliebenenversorgung im Falle einer sogenannten Nachheirat. Nach dem
Beamtenversorgungsgesetz sind Ansprüche des hinterbliebenen Ehegatten auf Witwengeld unter anderem ausgeschlossen, wenn die Ehe erst nach Eintritt der Beamtin bzw. des Beamten in den Ruhestand geschlossen
wurde und die Ruhestandsbeamtin bzw. der -beamte zur
Zeit der Eheschließung die Regelaltersgrenze erreicht
hatte. Derzeit entspricht die Regelaltersgrenze der Vollendung des 67. Lebensjahres. In solchen Fällen ist
grundsätzlich ein Unterhaltsbeitrag zu gewähren. Auch
in allen Landesbeamtenversorgungsgesetzen finden sich
solche Regelungen.
Wie die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag richtig
vorbringt, trifft diese beamtenrechtliche Bestimmung
auch auf Beamtinnen und Beamte zu, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben; denn das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 28. Oktober 2010
({2}) eine diesbezügliche Gleichstellung
mit der Ehe festgestellt. Warum die Antragsteller nun in
der Begründung so umfangreich auf den Anspruch auf
Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartnerinnen und -partner eingehen, ist nicht ersichtlich und
sei dahingestellt.
Richtig ist auch, dass es sich hier um eine Regelung
handelt, die „einzig und allein an das Alter ({3}) anknüpft“. Jedoch ist zu betonen,
dass nicht jede Benachteiligung aufgrund des Alters
auch gleich eine Diskriminierung darstellt; denn Ungleichbehandlungen können durch einen sachlichen
Grund gerechtfertigt sein. Hier muss man also etwas genauer hinschauen.
Die Antragsteller beziehen sich in ihrer Begründung
auf die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe.
Menschen im höheren Alter werde unterstellt, dass sie
die Ehe bzw. eingetragene Partnerschaft nur zum Zweck
der Versorgung geschlossen hätten. Aber das ist gar
nicht Bestandteil der beamtenrechtlichen Regelung, deren Aufhebung die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag
fordert. Denn § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Beamtenversorgungsgesetz schließt einen Anspruch auf Witwengeld
nicht deshalb aus, weil eine Versorgungsabsicht unterstellt wird. Vielmehr handelt es sich hier um den Fall der
sogenannten Nachheirat oder Ruhestandsehe. Hintergrund dieser Regelung ist die Erwägung, dass die GeZu Protokoll gegebene Reden
währung des Witwengeldes auch ein Ausgleich für die
Beteiligung des Ehegatten an der Lebensleistung des
Beamten sein soll. Genau dies ist eben nicht der Fall,
wenn die Ehe erst nach Eintritt der Beamtin bzw. des Beamten in den Ruhestand geschlossen wurde.
Die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe findet
sich hingegen in § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Beamtenversorgungsgesetz. Nach dieser Bestimmung wird Eheleuten
bzw. Lebenspartnern ein Anspruch auf Witwengeld untersagt, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat. Diese Regelung knüpft aber eben nicht an das
Alter, sondern an die kurze Dauer der Ehe bzw. eingetragene Lebenspartnerschaft an.
Wie bereits erwähnt kann eine Benachteiligung aufgrund des Alters durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein; dann liegt auch keine Diskriminierung - im
vorliegenden Zusammenhang: Altersdiskriminierung vor. Genau dies ist hier der Fall. Der Ausschluss vom
Witwengeld aus dem Grund, dass die Regelaltersgrenze
bei Eheschließung bereits überschritten war, stellt eine
Ungleichbehandlung älterer Personen dar. Hierfür gibt
es aber eine sachliche Rechtfertigung: Der Anspruch
auf Witwengeld ist eben nicht deshalb ausgeschlossen,
weil die Eheleute bzw. Lebenspartner ein bestimmtes Alter erreicht haben. Der Grund für die Versagung der
Leistung liegt vielmehr darin, dass das Witwengeld eine
Kompensation für die Unterstützung des Ehegatten bzw.
Lebenspartners an der Lebensleistung der Beamtin bzw.
des Beamten darstellt. Davon kann man eben nicht sprechen, wenn die Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft erst nach Beendigung der beruflichen Laufbahn
der Beamtin bzw. des Beamten geschlossen wurde. So
geht auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass § 19 Abs. 1 Satz 2
Nr. 2 Beamtenversorgungsgesetz mit höherrangigem
Recht, insbesondere Art. 3 und 6 Grundgesetz sowie
Unionsrecht, vereinbar ist ({4}).
Die Fraktion Die Linke vermengt in ihrem Antrag
zwei beamtenrechtliche Bestimmungen zum Ausschluss
vom Witwengeld. So fordert sie die Aufhebung der Regelung zur Nachheirat ({5}), begründet dies aber damit, dass die
gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe ({6}) eine Altersdiskriminierung darstelle. Ich empfehle einen Blick
in einen Kommentar zum Beamtenrecht. Der Antrag ist
folglich abzulehnen.
Das Beamtentum in Deutschland hat eine lange
Tradition. Als Vater des Berufsbeamtentums in seiner
modernen Form gilt der Soldatenkönig Friedrich
Wilhelm I. von Preußen; König von 1713 bis 1740. Er
verlangte von seinen Beamten, was heute als typisch
preußische Tugenden gilt, nämlich treu, fleißig, unbestechlich, pünktlich, sparsam und genau zu sein. Sein
Sohn Friedrich II. prägte als Erster den Begriff des
Staatsdieners. Er betrachtete sich selbst als ersten Diener des Staates.
Vielleicht hilft dieser Ausflug in die Geschichte, den
Ursprung des gegenseitigen Dienst- und Treueverhältnisses besser zu verstehen, in dem Dienstherr und Beamte noch heute verbunden sind.
Aus Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes ergibt sich das
Alimentationsprinzip als einer der hergebrachten
Grundsätze des Berufsbeamtentums. Es verpflichtet den
Dienstherrn, Beamten während des aktiven Dienstes und
im Ruhestand einen angemessenen Lebensunterhalt zu
zahlen. Aus § 14 des Bundesbesoldungsgesetzes und aus
§ 70 des Beamtenversorgungsgesetzes ergibt sich für
den Gesetzgeber die Verpflichtung, die Bezüge der Beamten, Soldaten und Richter des Bundes regelmäßig an
die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse anzupassen.
Gemeinsam beschließen heute alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Besoldungs- und -versorgungsanpassung
und werden damit ihrem gesetzlichen Auftrag einmal
mehr gerecht.
Mit dem Gesetzentwurf wird der Tarifabschluss für
die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vom
31. März 2012 auf die Beamtenbezüge übertragen. Allerdings wird die Erhöhung um 0,2 Prozentpunkte gegenüber den Erhöhungen für Tarifbeschäftigte reduziert.
Der Differenzbetrag fließt in die Versorgungsrücklage
des Bundes gemäß den Bestimmungen im Versorgungsreformgesetz 1998. Damit erbringen die Beamten für die
Haushaltsjahre 2012 und 2013 einen Sparbeitrag von
etwa 76 Millionen Euro.
Die Erhöhung von insgesamt 5,7 Prozent der Bezüge
wird in drei Schritten umgesetzt. Im ersten Schritt erfolgt
rückwirkend zum 1. März 2012 eine Anhebung um
3,3 Prozent, zum 1. Januar 2013 eine weitere um
1,2 Prozent und zum 1. August 2013 dann die finale um
1,2 Prozent. Die Anwärterbezüge erhöhen sich zum
1. März 2012 um 50 Euro, zum 1. August 2013 nochmals, nämlich um 40 Euro.
Angesichts der erfolgreichen Wachstums- und Konsolidierungspolitik der Koalition ist die Übertragung der
Tarifverhandlungsergebnisse auf den Beamtenbereich
mehr als gerechtfertigt. Mit ihrem Sparbeitrag für die
Versorgungsrücklage des Bundes tragen die Beamten
außerdem zur Sicherung der Finanzierungsgrundlage
der Beamtenversorgung bei. Es ist erfreulich, dass wir
dieses Gesetzesvorhaben fraktionsübergreifend beschließen können.
Die mit dem Antrag der Fraktion Die Linke angestrebte Änderung der Gesetzeslage zum Witwengeld im
Beamtenrecht lehnen wir hingegen ab. Die Ehe ist
- auch nach dem Grundgesetz - ein schützenswertes
Gut. Es ist legitim, ihrem Missbrauch zum finanziellen
Vorteil vorzubeugen. Dazu dient unter anderem die betreffende Bestimmung des § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 des
Beamtenversorgungsgesetzes. Wenn eine Ehe nur geschlossen wird, um die Witwenrente des Partners zu sichern, kann man gerechtfertigt von einer solchen Versorgungsehe ausgehen. Mit Altersdiskriminierung hat
das nichts zu tun. Mit ihrem Antrag sprengt die LinksZu Protokoll gegebene Reden
fraktion bei weitem den Rahmen, den das Alimentationsprinzip dem Gesetzgeber vorgibt.
Die zeit- und inhaltsgleiche Übernahme der Ergebnisse der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst
begrüßen wir ausdrücklich. Für die Linke ist das eine
Selbstverständlichkeit, bei der Bundesregierung ist man
sich da leider nie sicher.
Offensichtlich will die Bundesregierung aber ein Desaster wie beim Weihnachtsgeld vermeiden. Der massive
Druck aus Gewerkschaften und Opposition war zu stark
und der Vertrauensverlust unter den Beamtinnen und
Beamten kaum wiedergutzumachen. Die andauernde
Verärgerung in der Beamtenschaft wegen der beamtenrechtlichen Regelungen bei der Bundeswehrreform, den
Zuständen bei der Bundespolizei und infolge der allgemeinen Arbeitsverdichtung in den Bundesbehörden erlaubt keine weiteren Konfliktpunkte.
Inzwischen ist auch das Defizit an hochqualifizierten
Arbeitskräften in der Bundesverwaltung unübersehbar.
Etwaige Besoldungskürzungen würden bei der Fachkräftegewinnung kontraproduktiv wirken. Auch das
Bundesverfassungsgerichtsurteil zur angemessenen Alimentierung - W-Besoldung - dürfte die Bundesregierung zur zeit- und inhaltsgleichen Übernahme bewogen
haben.
Allerdings ist die Fortführung der Verminderung der
Erhöhung der Bezüge um 0,2 Prozentpunkte für die Versorgungsrücklage, bei der in den letzten Jahren eingetretenen Verminderung des Besoldungs- und Versorgungsniveaus, so nicht mehr gerechtfertigt. Das
Bundesbesoldungsgesetz erlaubte eine Verminderung
der Kürzungen auch unter 0,2 Prozent im Falle geringer
Anpassungen. Der DGB fordert deshalb eine Aussetzung
der Kürzung für die beiden Erhöhungsschritte zum 1. Januar 2013 und 1. August 2013. Dem können wir uns nur anschließen.
Nun zu unserem Antrag zur Abschaffung der gesetzlichen Vermutung der Versorgungsehe. Wie Sie wissen, ist
nach aktueller Rechtslage das Witwengeld für die Fälle
ausgeschlossen, in denen die Ehe erst nach dem Eintritt
der Beamtin oder des Beamten in den Ruhestand geschlossen worden ist und/oder die Regelaltersgrenze bereits erreicht war. Das führt zur Situation, dass eine Eheschließung am Tag vor der der Pensionierung bzw. der
Regelaltersgrenze dazu führt, dass Witwen oder Witwer
alle Versorgungsrechte genießen können. Wird die Ehe
allerdings einen Tag später geschlossen, sind Versorgungsansprüche paradoxerweise hinfällig.
Diese Regelung beruht auf einem Gesellschaftsmodell, in dem Ehescheidungen und Zweit- oder Drittehen
die Ausnahme waren und die Lebenserwartungen deutlich geringer ausfielen. Die Verhältnisse haben sich rasant verändert, und es ist keine Ausnahme, dass sogenannte Spätehen auch 20 Jahre und länger Bestand
haben. Was früher absolut selten war, wird immer häufiger Realität.
Neben der Verkennung gesellschaftlicher Realitäten
würde eine Aufrechterhaltung der gesetzlichen Vermutung der Versorgungsehe bei Eheschließung und eingetragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Beamten nach dem Eintritt in den Ruhestand auch dem
Altersdiskriminierungsverbot im Europarecht und letztlich auch dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des
Grundgesetzes widersprechen.
Dass CDU/CSU unserem Antrag im Innenausschuss
nicht zustimmen konnte, ist Ihrem konservativen Bild
von Familie und Ehe geschuldet. Das üblicherweise opportunistische Abstimmverhalten der FDP verwundert
mich ebenfalls nicht. Völlig unklar ist mir hingegen, warum SPD und Grüne unseren Antrag abgelehnt haben.
Ich sehe keine Hinderungsgründe, die Regelung für Hinterbliebene in diesem Punkt anzupassen. Weder wird die
finanzielle Belastung immens steigen, noch ergeben sich
rechtssystematische Probleme. Sie würden aber eine Gerechtigkeitslücke schließen. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag im Plenum zu!
Die unter dem Strich diesmal doch deutlich ausfallenden Anhebungen der Dienst- und Versorgungsbezüge im
Bund begrüßen wir. Wir stehen zu der auch in § 14
BBesG einfachgesetzlich festgeschriebenen regelmäßigen
Anpassung. Dort heißt es - daran soll hier gleich eingangs erinnert werden -:
Die Besoldung wird entsprechend der Entwicklung
der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen
Verhältnisse und unter Berücksichtigung der mit
den Dienstaufgaben verbundenen Verantwortung
durch Gesetz regelmäßig angepasst.
Die Amtsangemessenheit begrenzt den Gesetzgeber
zwar bei der Festsetzung der Erhöhung, er hat aber einen weiten Gestaltungsspielraum. Die Eckdaten von
Haushaltslage einerseits und allgemeiner Gesamtentwicklung bei Löhnen und Gehältern andererseits waren
- trotz der andauernden, höchst angespannten Lage aufgrund der europäischen Finanzkrise mit ungewissem
Ausgang - dazu angetan, eine auch im Vergleich zu vergleichsweise mäßigen Abschlüssen der Vorjahre deutlichere Runde der Übertragung der Ergebnisse der öffentlichen Tarifrunde auch für die Beamten, Richter und
Soldaten im Bund abzuschließen. Das liegt auch daran,
dass der Bund über eine im europäischen Vergleich nach
diversen Maßnahmen der vergangenen Jahre vergleichsweise moderate Gesamtzahl von Beamten verfügt, die zudem bei einer im Vergleich längeren Gesamtarbeitszeit eine weiter wachsende Anzahl von Aufgaben
zu erledigen hat.
An dieser Stelle sollte erinnert werden, das das sogenannte Alimentationsprinzip für die Berufsbeamten
seine Absicherung in Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes
findet. Die besondere Funktion der Beamten in ihrer auf
das Gemeinwohl verpflichteten Aufgabenerfüllung, die
Bezogenheit der Versorgungsansprüche auf ein lebenslanges „commitment“ und die zahlreichen mit der BeZu Protokoll gegebene Reden
amtenstellung einhergehenden Verpflichtungen prägen
und tragen diese Sonderstellung.
Mit den regelmäßigen Anpassungen an die Ergebnisse der Aushandlungen des öffentlichen Dienstes wird
ein weiteres Auseinanderfallen der Bezüge der heute oftmals in einem Büro zusammenarbeitenden Beamten und
öffentlichen Angestellten vermieden.
Insoweit geht es mitnichten um dumpfe Tarifrituale;
denn die öffentlich-rechtlichen Geldleistungen machen
wie in der Privatwirtschaft auch einen zentralen Bestandteil der Freiheiten der Berufsbeamten aus, und
diese sind unter anderem ebenso betroffen von Schwankungen wie etwa den Kaufkrafteinbußen aufgrund
schleichender Inflation.
Keinesfalls aber kann eine noch so üppige Anhebung
der Dienst- und Versorgungsbezüge eine Politik für die
Zukunftsfähigkeit des öffentlichen Dienstes auch im Bereich der Beamtenschaft ersetzen. Unsere Vorstellungen
von staatlicher Steuerung beispielsweise in den Bereichen von Umwelt und Energie sind ohne eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung nicht zu haben. Neben der
Finanzierbarkeit bürgernaher Dienstleistungen und dem
Damoklesschwert der herannahenden Pensionierungswelle - vor allem auf Landesebene - für die Aufgabenerfüllung geht es hier vor allem darum, den öffentlichen
Dienst als attraktives Tätigkeitsfeld zu erhalten.
Die entsprechenden Stichworte wie der demografische Wandel, aber auch die sich unter anderem aufgrund veränderter Einstellungen der Beschäftigten verändernde Konkurrenzlage mit der Privatwirtschaft
verlangen hier kontinuierliche Nachsteuerung. Eine
konsequente Modernisierung umfasst Fragen der weiteren organisationellen Effektivierung, bei der beispielsweise das Laufbahnrecht, aber auch perspektivisch der
genaue Umfang des Berufsbeamtentums selbst kritisch
überprüft werden sollten. Begriffe wie Attraktivität des
Berufsbildes und Fachkräftemangel sind bei der Bundesregierung erfreulicherweise angekommen, nur sind
die Ansätze, hier mit anderen Methoden als monetären
Anreizen zu Werke zu gehen, noch zu zaghaft. Es wird zu
evaluieren sein, welchen Mehrwert zum Beispiel das
Fachkräftegewinnungsgesetz gebracht hat. Auch Familienfreundlichkeit, Gesundheits- und Arbeitszeitmanagement, Fortbildungsperspektiven - all dies sind ausbaufähige Bereiche.
Wir Grüne setzen auf einen starken öffentlichen
Dienst. Die Beamtenschaft mit ihrer besonderen gesetzlichen Bindung und Verantwortung hat darin ihren festen Platz. In einem dynamischen Ganzen kommen auch
auf die Beamten im Bund weitere Veränderungen zu. Die
hervorgehobene Rolle der Beamtenschaft bei der Gewährleistung eines freiheitlichen, dem Gemeinwohl verpflichteten und vor allem zukunftsfähigen Gemeinwesens verdient besondere Wertschätzung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10145, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 17/9875 und 17/10058 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10144, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7027 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Fortentwicklung des Meldewesens ({0})
- Drucksache 17/7746 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 17/10158 Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Manuel Höferlin
Wolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
Angesichts einer sich stetig wandelnden Informationsgesellschaft und angesichts zunehmend grenzüberschreitender Bezüge bei der Datenübermittlung hat das
Meldewesen stetig an Bedeutung gewonnen. Vor diesem
Hintergrund ist die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
angestrebte Vereinheitlichung der unterschiedlichen
landesrechtlichen Vorschriften sowie die Einführung
bundesweit gültiger technischer Standards dringend geboten. Wir wollen eine moderne Verwaltung. Wir wollen
E-Government. Deshalb sind unterschiedliche landesrechtliche Vorschriften und unterschiedliche technische
Standards in der Verwaltung nicht mehr zeitgemäß.
Dieser Aufwand lohnt sich. Denn das Meldewesen ist
gleichsam das „informationelle Rückgrat“ der Verwaltung, der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Wirtschaft. In mehr als 5 200 Melderegistern werden die Daten von rund 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgern
vorgehalten, Daten, die die Behörden benötigen, zum
Beispiel für die Berechnung der Rente oder des Elterngeldes. Das Melderegister ist zwar in erster Linie ein behördeninternes Register, das sowohl dem innerdienstliHelmut Brandt
chen Gebrauch der Meldebehörden dienen als auch das
Informationsinteresse anderer Behörden befriedigen
soll. Es hat aber auch den Zweck, dem Informationsbedürfnis des privaten Bereichs, insbesondere der Wirtschaft, Rechnung zu tragen. Umso wichtiger ist es, dass
der vorliegende Gesetzentwurf neben diesem Informationsinteresse auch dem Schutz des Einzelnen vor einem
Missbrauch seiner Daten Rechnung trägt, indem er das
Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung bei der Melderegisterauskunft stärkt.
Zukünftig kann jeder Bürger mittels der Onlineausweisfunktion des neuen Personalausweises, der Identifizierungsfunktion von De-Mail oder qualifizierter elektronischer Signatur auf elektronischem Wege Folgendes
vornehmen oder beantragen: Anmeldung, Selbstauskunft, Meldebestätigung und Meldeauskunft.
Im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommt dabei der Selbstauskunft gemäß §§ 10 ff.
des Gesetzentwurfs eine besondere Bedeutung zu. Danach hat jede Person das Recht, zu erfahren, welche Daten der Behörde über sie vorliegen, woher die Daten
stammen und wer die Daten erhalten hat. Eine wesentliche Erleichterung stellt hier die Möglichkeit eines Datenabrufs im elektronischen Verfahren dar.
Leitlinie des vorliegenden Gesetzentwurfs ist neben
dem Datenschutzgesetz auch eine Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2006. Danach
darf die Meldebehörde eine einfache Melderegisterauskunft nicht erteilen, wenn diese erkennbar für Zwecke
der Direktwerbung begehrt wird und der Betroffene einer Weitergabe seiner Daten für solche Zwecke zuvor
ausdrücklich widersprochen hat.
Im Zuge des parlamentarischen Verfahrens haben wir
deshalb den Schutz des Einzelnen vor einem Missbrauch
seiner Daten zu Werbezwecken dahingehend gestärkt,
dass künftig der Abruf melderechtlicher Daten für Zwecke der Werbung und des Adresshandels gemäß § 44
Abs. 4 des Gesetzentwurfs nur erfolgen darf, wenn der
Zweck im Zuge der Anfrage angegeben wurde und wenn
der Betroffene nicht zuvor widersprochen hat. Auf das
Recht des Widerspruchs muss der Betroffene bei der Anmeldung sowie einmal jährlich durch ortsübliche Bekanntmachung hingewiesen werden.
Eine weitere Änderung gegenüber unserem ersten
Entwurf, die sich im Laufe der parlamentarischen Beratungen ergeben hat, betrifft die Anmeldepflicht von Bundeswehrsoldaten. Der erste Entwurf sah vor, neben
Wehrpflichtigen künftig auch Zeit- und Berufssoldaten
von der Meldepflicht zu befreien. Der Bundesrat hat
diese Neuregelung kritisiert. Er befürchtet, dass diese
Ausnahme für die Bundeswehrstandortkommunen nicht
unerhebliche finanzielle Einbußen zur Folge hätte. Wir
haben diese Sorge ernst genommen. Entgegen dem
ersten Entwurf besteht gemäß § 27 Abs. 1 Ziff. 5 eine
Ausnahme für Berufs- und Zeitsoldaten von der Meldepflicht künftig nur noch dann, wenn sie ihre Gemeinschaftsunterkunft oder eine andere dienstlich bereitgestellte Unterkunft für nicht länger als sechs Monate
beziehen.
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
wir gerade durch die von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Änderungen im neuen Meldegesetz exakt die
bisherige Rechtslage abbilden, die durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in der Vergangenheit
immer wieder bestätigt worden ist. Um es klar zu sagen:
Für die Soldaten ändert sich gar nichts. Dennoch stößt
diese Regelung beim Bundeswehrverband auf heftige
Kritik. Ich kann diese Kritik nicht so recht nachvollziehen. Da ein Soldat die Infrastruktur der Garnisonsstadt
in gleicher Weise in Anspruch nimmt wie ein Soldat, der
in einer privaten Wohnung lebt, ist die jetzt vorgesehene
Regelung auch aus Gründen der angemessenen Behandlung der betroffenen Kommunen gerechtfertigt. Es gilt
auch im Sinne der Gleichbehandlung: Vor und hinter
der Kasernenmauer gilt das gleiche Recht. Wir verkennen nicht, dass der Soldatenberuf insofern mit bürokratischen Lasten verbunden ist. Das ist dem Soldatenberuf
aber seit Jahrzehnten immanent und wird nicht erst
durch das neue Melderecht herbeigeführt. Dennoch besteht seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bereitschaft, die jetzt geltende Rechtslage bis zum Inkraftreten des Gesetzentwurfes Ende 2014 noch einmal
zu überprüfen.
Im parlamentarischen Verfahren sind wir auch den
Suchdiensten entgegengekommen und haben diesen einen erweiterten Zugang auf die in den Melderegistern
gespeicherten Daten geschaffen. Die Suchdienste nehmen wichtige humanitäre Aufgaben wahr, für deren Erfüllung sie zwingend auf die Übermittlung von Daten
aus den Melderegistern angewiesen sind. Typischerweise verfügen sie aber nur über lückenhafte oder zweifelhafte Angaben zu der gesuchten Person. Es bedurfte
daher besonderer Regelungen und eines erweiterten
Auskunftsrechts bei Anfragen im automatisierten Verfahren, damit eine gesuchte Person sicher identifiziert
werden kann.
Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung der
Länder zustande gekommen ist, ist fachlich und politisch
zu begrüßen. Ich bin überzeugt, dass er den technischen
Herausforderungen und fachlichen Anforderungen unserer Zeit genügt und bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Heute verabschieden wir in 2. und 3. Lesung das Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesens, das sogenannte Meldegesetz. Sicherlich wird es den ein oder anderen wundern, dass ich mich an dieser Stelle zu Wort
melde, denn sonst beschäftige ich mich mit Themen der
Gesundheits- und der Haushaltspolitik.
Im Rahmen der Debatte über das Melderecht möchte
ich mich auch nur auf einen einzigen konkreten Punkt
konzentrieren. Und das sind die vorgeschriebenen Unterlagen zur Um- und Anmeldung bei einem Wohnungswechsel.
Seit der Reform des Melderechtsrahmengesetzes aus
dem Jahre 2002, mit dem der damalige Bundestag die
erforderlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung
moderner Informations- und Kommunikationstechnologien im Meldewesen geregelt hat, sind unter der ÜberZu Protokoll gegebene Reden
schrift „Bürokratieabbau“ einige Vorlagepflichten bei
der An- und Ummeldung entfallen. So musste in den letzten zehn Jahren ein Bürger bei der An- und Ummeldung
keine Bestätigung des Wohnungsgebers über seinen tatsächlichen Einzug beim zuständigen Meldeamt vorlegen.
Dies hat vor allem in großen Städten wie Berlin oder
Hamburg dazu geführt, das sich für Kriminelle erschreckende Möglichkeiten aufgetan haben. Niemand konnte
mehr sicher sein, dass in seiner Wohnung, in der er lebt,
nicht noch diverse andere Personen mit natürlich nicht
positiven Absichten gemeldet waren. So ist es diverse
Male vorgekommen, dass Polizeieinsatzkräfte an der
Wohnungstür von völlig unbescholtenen Bürgern Einlass begehrten, um Personen habhaft zu werden, die in
kriminelle Machenschaften verstrickt waren.
In der Zeit von 2001 bis 2006 war ich die für das
Meldewesen im Berliner Bezirk Neukölln zuständige
Dezernentin. Aus der Praxis heraus war mir klar, dass
wir diese gutgemeinte Entschlackung von bürokratischen Pflichten so schnell wie möglich rückgängig machen müssen. Nach vielen Versuchen über Bundesratsinitiativen und Ähnliches gelang es dann, 2009 die
Änderung des Melderechts und die Vorlagepflicht der
Eigentümerbestätigung in die Koalitionsvereinbarung
zur Bildung dieser Regierung hineinzuverhandeln. In
den letzten anderthalb Jahren haben sich Bund und Länder und der hier im Bundestag zuständige Innenausschuss intensiv mit der Reform des Melderechts beschäftigt und so nun auch die Eigentümerbestätigung wieder
in den Pflichtkanon des Meldegesetzes genommen.
Dies ist ein guter Tag für Deutschland, für die Sicherheit der Bürger, für den Schutz der eigenen Wohnung
und für ein zukünftig korrektes Melderegister. Zunehmend hatten Bürgerinnen und Bürger ein unwohles
Gefühl, waren Polizisten in ihrer Dienstausübung behindert. Das haben wir nun beseitigt, darüber freue ich
mich.
Es ist gut und richtig, dass durch die Fortentwicklung
des Meldewesens Rechtseinheit in diesem Bereich durch
bundesweit einheitliche Vorschriften und Standards geschaffen werden soll. Wir begrüßen es ausdrücklich,
dass keine neue Bundesdatei errichtet wird.
Am 26. April 2012 haben wir im Plenum in erster Lesung den Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Meldewesens diskutiert. In der damaligen Debatte hatte ich
gesagt, dass der Entwurf eine gute Beratungsgrundlage
sei. Ich hatte auch einige Punkte angesprochen, über die
man beraten müsse. Dazu gehörten die Ausnahmen von
der Meldepflicht für Bundeswehrangehörige, die Vermieterbescheinigung, die Melderegisterauskünfte und
die Weitergabe der Meldedaten an Dritte.
Zu einer modernen Verwaltung gehört auch ein modernes Melderecht, es ist wichtig für das Funktionieren
des öffentlichen Bereiches und die Erledigung öffentlicher Aufgaben.
Beratungsbedarf gab es scheinbar innerhalb der
Koalitionsfraktionen, aber nicht mit den Berichterstattern der Opposition. Ich hätte es begrüßt, wenn es zu
diesem Gesetzentwurf einmal ein Berichterstattergespräch gegeben hätte. Offensichtlich hatten die Koalitionsfraktionen kein Interesse, über das Melderecht zu
reden.
In letzter Minute haben Sie im Ausschuss einen Änderungsantrag vorgelegt, der die positiven Ansätze des ursprünglichen Gesetzentwurfes ins Gegenteil verkehrt.
Sie ändern durchaus wesentliche Punkte des Gesetzentwurfs. In dem ursprünglichen Entwurf wurden Zeit- und
Berufssoldaten von der Meldepflicht ausgenommen,
wenn sie in einer dienstlich bereitgestellten Gemeinschaftsunterkunft am Standort wohnen und eine Wohnung im Inland haben, in der sie gemeldet sind. Nun
wollen Sie diese Neuregelung doch nicht mehr. Mit dem
Änderungsantrag wollen Sie die Rechtslage, die in den
16 derzeit gültigen Landesmeldegesetzen besteht, doch
beibehalten. Einzig Kommunen mit großen Standorten
werden die Beibehaltung der Regelung begrüßen. Aber
andere Stimmen kommen vom Wehrbeauftragten des
Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus, FDP, der
die im Änderungsantrag vorgesehene Regelung für verfassungsrechtlich bedenklich hält, und vom Reservistenverband, der in einer Pressemitteilung diese angestrebte
Regelung als melderechtlichen Unsinn bezeichnet. In
der Pressemitteilung schreibt der Präsident des Reservistenverbandes, Roderich Kiesewetter, CDU-MdB:
„Die neue Bundeswehr will modern und familienfreundlich sein. Dem widerspricht der jetzt vorliegende Änderungsentwurf. … Hier verbaut man sich eine wichtige
Chance, die Attraktivität des Soldatenberufes zu steigern.“ Mit dem neuen Entwurf dränge man die betroffenen Soldaten dazu, ihren Lebensmittelpunkt immer wieder zu verlegen - ohne Rücksicht auf berufstätige
Frauen und schulpflichtige Kinder, die auf ein stabiles
Wohnumfeld angewiesen sind.
Die Mitwirkung des Wohnungsgebers in § 19 wollen
Sie, wie im Entwurf vorgesehen, wieder einführen. Diese
Regelung galt bis 2002. Begründet wurde die Abschaffung damit, dass die Vermietermeldepflicht von den Bürgerinnen und Bürgern als lästig empfunden wurde, zu
Verzögerungen im Meldeprozess geführt habe und nicht
geeignet sei, Scheinanmeldungen zu verhindern. Nun
führen Sie diese Vermieterbescheinigung wieder ein. Ob
dieses Mittel tauglich ist, um Scheinanmeldungen zu
verhindern, wie Sie behaupten, wird nicht nur von uns,
sondern auch vom Datenschutzbeauftragten und Praktikern in den Meldebehörden kritisch gesehen.
Das Melderecht verpflichtet jeden Bürger und jede
Bürgerin, bestimmte Daten an die Meldebehörden zu geben. Dazu gehören der Familienname, frühere Namen,
Vornamen, Geburtsdatum und Geburtsort, Staatsangehörigkeit, Adresse und andere Daten. Die Bürgerinnen
und Bürger müssen sicher sein, dass ihre Daten bei den
Meldebehörden gut und sicher aufgehoben sind und
nicht unbegründet an Dritte weitergegeben, dort gespeichert und gegebenenfalls weiterverwendet werden. Deshalb sollte es der Regelfall sein, dass es für die Weitergabe von Daten der Einwilligung des Betroffenen
Zu Protokoll gegebene Reden
bedarf. Die Nichtweitergabe der Daten sollte der Regelfall sein und nicht die Ausnahme. Eine solche Einwilligungslösung war im ursprünglichen Entwurf vorgesehen. Doch mit Ihrem Änderungsantrag schaffen Sie die
Einwilligungslösung ab und sehen jetzt lediglich eine
unzureichende Widerspruchslösung vor. Damit wird der
Regelfall zur Ausnahme und die Ausnahme zur Regel.
Das ist eine deutliche Verschlechterung des Datenschutzniveaus im Vergleich zum Ausgangsentwurf.
Mit dem vorliegenden Änderungsantrag werden hinsichtlich der Verwendung von Daten aus Melderegisterauskünften die bisher geplanten Regelungen zur Zweckbindung sowie zum Widerspruch gegen die Verwendung
für Werbung und Adresshandel völlig ausgehebelt. Sie
wollen, dass der Widerspruch gegen die Verwendung für
Werbung und Adresshandel nicht gelten soll, wenn „die
Daten ausschließlich zur Bestätigung oder Berichtigung
bereits vorhandener Daten verwendet werden“. Das
macht die Regelung wirkungslos. Da man für die Melderegisterauskunft immer bereits vorhandene Daten benötigt, wird es sich stets um eine Bestätigung oder Berichtigung vorhandener Daten handeln. Das ist eine massive
Schwächung des Datenschutzes. Diese Änderung bedeutet daher einen deutlichen Rückfall hinter die Regelungen der bisherigen Gesetzeslage.
Jede Bürgerin und jeder Bürger muss mindestens einmal in seinem Leben seine Daten den Meldebehörden
geben. Viele Bürgerinnen und Bürger machen das mehrfach in ihrem Leben. Deshalb sollten wir als Gesetzgeber und als Staat besonders sensibel mit diesen Daten
umgehen. Wir sollten sie besonders sicher verwenden.
Wir sollten sorgsam mit ihnen umgehen. Wir dürfen eine
Weitergabe nur dann zulassen, wenn sie notwendig und
ausreichend begründet ist. Die Bürgerinnen und Bürger
vertrauen auf einen sensiblen Umgang mit ihren Daten
und können das auch vom Staat erwarten.
Deshalb haben wir den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im Innenausschuss abgelehnt; denn für
uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist
eine Aufweichung des Datenschutzes und eine Umkehr
von Regel und Ausnahme nicht hinnehmbar. Da Sie
diese Änderungen aber unbedingt vornehmen wollen,
lehnen wir auch den veränderten Gesetzentwurf ab. Ein
Rückschritt in Sachen Datenschutz ist mit uns nicht
machbar.
Dem im Ausschuss gestellten Änderungsantrag von
Bündnis 90/Die Grünen, nach dem auf die Speicherung
des Doktortitels im Melderegister verzichtet wird, stimmen wir zu. Wir halten dieses Vorhaben für richtig; denn
nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und
des Bundesverwaltungsgerichts ist der Doktortitel ein
akademischer Grad und kein Namenszusatz oder Namensbestandteil. Er ist auch der einzige akademische
Titel, der in den Personalausweis oder Reisepass eingetragen werden kann. Diese Regelung gibt es sonst nur in
Österreich und Tschechien. In allen anderen Ländern
der Welt ist diese Regelung unüblich. Der Verzicht auf
die Angabe des Doktortitels in Melderegistern führt zu
einer Entlastung der Meldebehörden und somit zum Bürokratieabbau.
Mit dem Änderungsantrag haben Sie von den Regierungsfraktionen aus einem guten Gesetzentwurf ein
schlechtes Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesens
gemacht. Deshalb werden wir das Gesetz in der jetzigen
Fassung ablehnen.
Heute geht es um die zweite und dritte Lesung des
Gesetzentwurfs zur Fortentwicklung des Meldewesens.
In der ersten Lesung habe ich von der grundsätzlichen
Notwendigkeit der Reform gesprochen. In diesem Punkt
sind wir uns wohl alle einig: Es musste etwas getan werden im Nachgang zur Föderalismusreform. Und das ist
uns auch gelungen. Wir haben uns stark dafür eingesetzt, dass ein einheitliches, praktikables Regelwerk entsteht, das auch den Möglichkeiten der Technik keine
Hürden bereitet, ohne die verschiedenen kommunalen
Strukturen mit den Neuerungen zu überfordern.
Nun haben wir im Gesetzentwurf viele gute Regelungen gefunden und mit den Änderungsanträgen der Koalition dem Gesetzentwurf den letzten Schliff gegeben.
Neben dem großen Ziel bundesweiter meldegesetzlicher
Regelungen möchte ich besonders auf drei Punkte hinweisen, die mir besonders wichtig sind:
Zunächst wird die Bestätigung des Mietverhältnisses
durch den Vermieter als Voraussetzung für Anmeldungen wieder eingeführt. Das hat auch seinen guten
Grund: Vermieter sollen nicht im Dunkeln tappen müssen, welche und wie viele Personen gerade die vermietete Wohnung vermeintlich bewohnen. Zustände, in denen über 20 Personen in einer kleinen Wohnung
gemeldet sind, sind untragbar. Dass man damit diese
Fälle nicht ausschließen kann, ist mir auch bewusst.
Man kann aber die Hürde etwas höher hängen.
Zweitens ist der Datenschutz auch im Meldegesetz ein
elementares Thema. Uns ist es wichtig, dass das Datenschutzniveau auf der Höhe des Bundesdatenschutzgesetzes ist. Das Meldegesetz steht damit in Einklang mit dem
Bundesdatenschutzgesetz. Ich möchte auch hier die
Vorwürfe der Opposition zurückweisen, wir hätten die
melderechtliche Lage der Bürgerinnen und Bürger verschlechtert.
Durch die jährliche ortsübliche Bekanntmachung der
Widerspruchsmöglichkeit kann der Betroffene auch realistischer Weise von diesem recht speziellen Gebiet
Kenntnis erlangen und wird nicht dauernd mit lästigen
Einwilligungsanfragen behelligt. Anstatt mit unbestimmten Rechtsbegriffen den Groll der Bürger und die
Verunsicherung der Wirtschaft hervorzurufen, haben wir
klare Tatbestände formuliert und bei Verstoß empfindliche Bußgelder vorgesehen.
Ausnahmen vom Verbot der Verwendung zu Werbeund Adresshandelszwecken gelten - unter den bisherigen Voraussetzungen des Bundesdatenschutzgesetzes nur, wenn bei der Weitergabe der Adressen der Zweck
angegeben wurde. Damit wird sichergestellt, dass nicht
unter einem Vorwand Adressen aus Melderegistern erworben werden, um dann zu Werbezwecken oder zum
Zwecke des Adresshandels weitergenutzt zu werden. Der
Zu Protokoll gegebene Reden
Weitergabe von Adressdaten zum Zwecke der Werbung
und des Adresshandels kann jederzeit widersprochen
werden. Die einfache Melderegisterauskunft erfolgt
dann nicht. Damit hat der Bürger selbst das Heft des
Handelns in der Hand. Er kann entscheiden und sein
Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausüben.
Dem Vorwurf der Sozialdemokraten, den Datenschutz
nicht hinreichend berücksichtigt zu haben, begegne ich
mit der Frage, warum die SPD bisher in den Ländern
nicht selbst tätig geworden ist. Wer hätte in Ländern mit
sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung sie gehindert, hier auf Landesebene vorzugehen? Sie haben es
wohl aus gutem Grund nicht gemacht.
Drittens komme ich nun zu der Frage nach der Meldepflicht von Soldaten. Bisher war es so geregelt, dass
Berufs- und Zeitsoldaten sowie Beamte der Bundespolizei von der Meldepflicht ausgenommen sind, wenn sie
aus dienstlichen Gründen für eine Dauer von bis zu
sechs Monaten eine Gemeinschaftsunterkunft oder eine
andere dienstlich bereitgestellte Unterkunft beziehen
und sie für eine Wohnung im Inland gemeldet sind. Die
Landesmeldegesetze sehen überwiegend vor, dass Beamte der Landespolizei von der Meldepflicht ausgenommen sind, unabhängig von der Dauer des Bezugs einer
Gemeinschaftsunterkunft oder einer anderen dienstlich
bereitgestellten Unterkunft, wenn sie im Inland für eine
Wohnung gemeldet sind.
Der Kabinettsentwurf sieht eine Regelung vor, wie sie
in den weitaus meisten Ländern für Vollzugsbeamte der
Landespolizei gilt. In der Koalition haben wir uns darauf verständigt, eine einheitliche Regelung für Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit und Bundes- und Landespolizeibeamte im Vollzugsdienst zu finden. Wir haben
uns entschlossen, die bisherige Regelung beizubehalten,
wonach eine Befreiung von der Meldepflicht nur gilt,
wenn die Unterkunft für nicht länger als sechs Monate
bezogen wird. Kommunen mit Gemeinschaftsunterkünften der Bundeswehr oder der Polizei hätten durch eine
zeitlich unbegrenzte Regelung erhebliche finanzielle
Einbußen beim kommunalen Finanzausgleich zu befürchten. Zugleich nehmen die stationierten Soldaten
kommunale Infrastruktur wie öffentlichen Nahverkehr
- um nur ein Beispiel zu nennen - für sich in Anspruch,
ohne dass sie in der Kommune gemeldet wären. Deshalb
ist es gerechtfertigt, die Freiheit von der Meldepflicht
zeitlich zu verkürzen.
Und bevor jetzt wieder die Unkenrufe kommen: Eine
Benachteiligung zur bestehenden Rechtslage ergibt sich
aus der Änderung nicht, da in fast allen derzeit gültigen
Landesmeldegesetzen eine solche Reglung enthalten ist.
Mit der Pflicht zur Meldung wird nicht auch gleichzeitig
der Lebensmittelpunkt bestimmt. Außerdem gibt es noch
die Möglichkeit der Meldung eines Zweitwohnsitzes. Ich
vertraue darauf, dass die Soldaten sich wie bisher mit
der Meldepflicht arrangieren können und dass die Kommunen somit auch die Aufgaben der Selbstverwaltung
bewältigen können.
Abschließend möchte ich noch ein paar kleine, aber
feine Änderungen vorstellen.
Zunächst einmal haben wir die Möglichkeiten von
Suchdiensten zum automatisierten Abruf von Meldedaten verbessert und erweitert. Somit kann den neuen Herausforderungen bei globalen Suchen begegnet werden.
Jede geglückte Vermittlung hilft den Menschen, über die
trennenden Katastrophen hinwegzukommen und wieder
zueinanderzufinden. Suchdienste haben in Deutschland
eine lange Tradition und haben heute noch große Bedeutung.
Wir haben das Recht der betroffenen Person, einer
automatisierten Melderegisterauskunft zu widersprechen, gestrichen. Bevor hier wieder das Geschrei aus
der Opposition kommt: Die Entscheidung war richtig.
Denn der einfachen Melderegisterauskunft kann - bei
Vorliegen der Voraussetzungen - außer in den vorhin genannten Fällen nicht widersprochen werden. Nach dem
Kabinettsentwurf sollte aber der elektronischen Form
widersprochen werden können. Diese rückwärtsgewandte, rationalen Argumenten völlig verschlossene
Haltung sind wir entgegengetreten und behandeln nun
analoge und digitale Bearbeitung gleich. Dieses im Gesetz verankerte Hindernis für die Digitalisierung der
Melderegister haben wir beseitigt.
Lassen Sie mich zum Schluss auf den Antrag der Grünen eingehen. Deren einzige Sorge beim Melderecht ist,
das Merkmal „Doktorgrad“ zu streichen. Hier haben sie
wieder einen Spielplatz für ihre Personenstandsdebatte
gefunden. Das ist mal Oppositionsarbeit an den Inhalten. Und auch diesmal lehne ich diese gezwungene
Scheindiskussion ab.
Seit der Föderalismusreform 2006 fällt das Meldewesen in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes.
Das neue Gesetz führt das bisherige Melderechtsrahmengesetz mit den Landesmeldegesetzen zusammen. Behauptet wird von der Bundesregierung, es diene der
Fortentwicklung des Meldewesens. Wesentliches Instrument ist der länderübergreifende Onlinezugriff der Behörden auf die Daten der Meldebestände. Die Sicherheitsbehörden sollen ebenfalls länderübergreifend rund
um die Uhr online auf die Meldedaten zugreifen können.
Dazu sollen die Länder gegebenenfalls Abfrageportale
schaffen.
Meldedaten waren und sind ein begehrtes Objekt, bei
Sicherheitsbehörden und Wirtschaft gleichermaßen.
Frühere Überlegungen zielten auf ein zentrales Melderegister, am besten mit einer einheitlichen Identifikationsnummer für die Gemeldeten. Dazu wurde im letzten
Entwurf unter Schäuble noch die Steuer-ID-Nummer
eingesetzt. Mühsam und in langen Auseinandersetzungen wurden diese Pläne zurückgestutzt.
Ein zentrales Register ist im vorliegenden Gesetzentwurf nicht mehr vorgesehen, wohl aber der automatisierte Zugriff auf die 5 200 Melderegister. Angesichts
der technischen Entwicklung ist das fast so gut wie ein
Zentralregister. Wollte man also das Meldewesen tatsächlich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger weiterentwickeln, müsste gerade angesichts des rasanten Fortschritts in der Datenverarbeitung und -nutzung und vor
Zu Protokoll gegebene Reden
allem der kommerziellen Nutzung umso schärfer auf Datensparsamkeit, Zweckbindung bei Abruf bzw. Weitergabe und Zugriffsberechtigungen geachtet werden. Das
wäre eine Fortentwicklung des Meldewesens, die den
Namen verdiente.
Wird hier zu wenig reduziert, so wird andererseits bei
den Auskunftsrechten über die Datenverwendung und bei
den Einspruchsmöglichkeiten nicht in erforderlichem
Umfang auf deren Erweiterung gesetzt. Nicht zu akzeptieren ist es, dass für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften die Meldebehörden als regelrechte Serviceeinrichtungen fungieren sollen, die auch die Daten der
Angehörigen, die nicht Mitglied der entsprechenden Religionsgemeinschaft sind, übermitteln dürfen. Gruppenauskünfte sollen erteilt werden können mit mehr als
14 Grunddaten; das dabei zu berücksichtigende Interesse
wird bei Wissenschaft und Forschung sowie der Gesundheitsvorsorge offensichtlich grundsätzlich vorausgesetzt.
Angesichts der Kommerzialisierung auch des Wissenschaftsbereichs ist das ein datenschutzrechtlicher Treppenwitz.
Schon die Erarbeitungs- und Beratungsphase des Gesetzes stand unter permanentem Druck der datennutzenden Lobbys. Das Gesetz hat versäumt, unüberschreitbare Grenzen zu formulieren, sodass die Furcht nicht
unbegründet ist, dass eine Ausweitung der Verwendungsmöglichkeiten der Daten die andere jagen wird.
Schon jetzt wird zum Beispiel die automatisierte Bonitätsprüfung bei Vertragsabschlüssen beim Abschluss
von DSL-Verträgen oder Ähnlichem gefordert.
Den kritischen Anmerkungen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
schließen wir uns an: Die Wiedereinführung der Mitwirkungspflicht der Vermieter bei An- und Abmeldung ist
nicht begründet, das Festhalten an der Hotelmeldepflicht genauso wenig, zumal es sich dabei vermutlich
um Polizeirecht handelt. Die Melderegisterauskünfte in
den §§ 44 und 45 sind ungenügend geregelt, und das
Widerspruchsrecht gegen Melderegisterauskünfte in
besonderen Fällen - Parteien, Alters- und andere
Jubiläen - sollte durch ein Einwilligungsrecht ersetzt
werden ({0}). Für die Verwendung in Adressbüchern sollte ebenfalls eine Einwilligungslösung vorgeschrieben werden.
Angesichts der Bedeutung der Meldedaten und der rasanten technischen Entwicklungen sind die Schutzinstrumente in diesem Gesetz, sowohl was ihren kommerziellen Nutzen als auch den Zugriff staatlicher Behörden
betrifft, ungenügend ausgestaltet. Die absehbaren Versuche von Unternehmen, aber auch von Bundeswehr und
Religionsgemeinschaften eine noch einfachere Meldedatennutzung zu erreichen bzw. Privilegierungen für die
eigene Klientel durchzusetzen, werden zunehmen.
In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung zugesagt, die finanziellen Auswirkungen auf die Länder und Kommunen
darzustellen. Die Bundesregierung hat diese Zusage
meines Wissens nicht eingehalten. Der Bundesrat hatte
seine Bitte detailliert begründet: Das Bundesmeldegesetz in der vorliegenden Fassung hat direkte und indirekte finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen
Haushalte der Länder und der Kommunen. Der Umfang
ist nirgends hinreichend dargestellt.
Auch aus diesem Grund lehnt meine Fraktion diesen
Gesetzentwurf ab.
Dieses Gesetz, hinter dessen klangvoll-bürokratischem Namen sich nichts anderes verbirgt als das Bundesmeldegesetz, ist ein gutes Beispiel für das regierungsamtliche Stop-and-go mit mäßigem Blick für das
Wesentliche, wie wir es hier seit Monaten bei allen Themen erleben: Entwurf, streiten und warten, Änderung
des Entwurfs, hektischer Abschluss in halbgarem Zustand.
Seit der Föderalismusreform I, die nun auch schon
ein halbes Jahrzehnt zurückliegt, hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Meldewesen. Es tat sich
lange nichts, dann kam im Herbst 2007 ein Entwurf, der
liegen blieb. Nun hat diese Koalition letzten September
einen Entwurf vorgelegt, der seinen gemessenen Gang
durch den Bundesrat nahm und den wir in erster Lesung
hier Ende April behandelt haben.
Alles so weit entspannt, aber seit dieser Woche
herrschte nun Hektik: Die Koalition legte kurzfristig einen Änderungsantrag vor, hatte keine Zeit mehr, die Gedanken der Datenschutzbeauftragten von Bund und
Land Berlin zu prüfen und hat im Innenausschuss dann
auch nicht mehr debattieren wollen. Die Eile war nun
nicht so ganz geboten. Wer nachliest, stellt fest: Das Gesetz soll zum 1. Januar 2014 in Kraft treten.
Genug Zeit wäre also gewesen. Genug Zeit, um die
praktische Verbesserung des hochgeschätzten Berliner
Datenschutzbeauftragten Dix zu verwirklichen, bei der
Meldung eine Kontaktperson für Notfälle angeben zu
können. Genug Zeit, um die Vorschläge des nicht minder
geschätzten Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar zu
berücksichtigen. Er hatte angeregt, auf die Hotelmeldepflicht zu verzichten, jene Vorratsdatenspeicherung, der
auch die FDP freudig zustimmt, deren Wert für die Kriminalitätsbekämpfung aber zweifelhaft, jedenfalls erklärungsbedürftig bleibt.
Peter Schaar hatte aber vor allem auf einen der großen Schwachpunkte in diesem Entwurf hingewiesen,
nämlich die Melderegisterauskunft. Als er sie kommentierte war die Regelung für Adresshandel und Werbezwecke noch vergleichsweise in Ordnung, denn da war
es das Modell opt-in, sprich: Der Meldepflichtige
musste explizit zustimmen, dass seine Daten so verwendet werden dürfen. Das wurde mit dem Änderungsantrag
nun ins glatte Gegenteil verkehrt. Nun soll man widersprechen müssen, also explizit seine Ablehnung erklären, dass irgendjemand die eigene Adresse weitergibt.
Da hilft es auch nichts, dass der Adresshändler bei der
Abfrage sagen muss, was er vorhat; denn davon kriege
ich als Meldepflichtiger ja gar nichts mit.
Das ist für jeden, der sich neu meldet, ärgerlich, und
das wird in der Praxis eher zu mehr als zu weniger ungewollter Post führen. Es bedeutet auch, dass bei den
Zu Protokoll gegebene Reden
Altdaten, also den jetzt vorhandenen Meldedaten, kein
Widerspruch vermerkt ist. Das ist wirklich ein Problem;
denn das Melderegister dient ja vor allem amtlichen und
hoheitlichen Zwecken und nicht als Arbeitserleichterung
der Werbe- und Auskunfteibranche. Man hätte beim Modell opt-in bleiben müssen und eher noch überlegen, ob
die Hürden für die allgemeine Auskunft nicht hätten höher werden müssen. Auskunfteien und Inkassounternehmen werden sich darüber freuen, auch der geänderte
§ 47 kommt ihnen gut zupass; jedenfalls haben sie diese
Änderungen im Vorfeld gefordert. Bei den Koalitionsparteien rannte man da wohl offene Türen ein, Fragen
des Datenschutzes haben sich den kommerziellen Interessen offenbar immer unterzuordnen.
Zuletzt haben sich dann auch noch die kommunalen
Kämmerer gegen die Interessen der Bundeswehrsoldaten durchgesetzt. Der Gesetzentwurf sah vor, dass Soldaten und Polizisten in Gemeinschaftsunterkünften keiner
Meldepflicht unterliegen, sie hätten in der Heimat gemeldet bleiben können und dort dann auch keine Zweitwohnungsteuer zahlen müssen. Nun unterliegen sie wieder der alten schlechten Regel und Meldepflicht nach
sechs Monaten. Die Einwände von Beauftragten haben
es bei dieser Koalition wirklich schwer; das gilt nicht
nur für den Datenschutzbeauftragten, sondern eben
auch für den Wehrbeauftragten, der - zu Recht - eine
Lösung zugunsten der Soldaten angemahnt hatte.
Die Bundesregierung hat es also wieder einmal geschafft: Die Gelegenheit, die gröberen Mängel aus den
existierenden Meldegesetzen auszubügeln, hat sie versäumt, und ihren eigenen Entwurf hat sie so weit verschlechtert, dass dem Prinzip Datenschutz wieder das
Prinzip Datenschleuder vorgezogen wird. Schade drum.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10158, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/7746 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar
Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans
- Drucksache 17/9744 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir auch
diese Reden zu Protokoll.
Stabilität und Sicherheit auf dem Balkan sind für die
Bundesrepublik Deutschland von herausgehobenem Interesse. Die Kriege der 1990er-Jahre haben uns gezeigt,
dass wir zu aktivem Handeln in unserer europäischen
Nachbarschaft verpflichtet sind. Dass es uns damit ernst
ist, zeigt sich auch in der langjährigen Präsenz der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo.
Es ist auch in unserem mittelfristigen Interesse, den
Menschen in den Staaten des westlichen Balkans eine
Perspektive in der Europäischen Union aufzuzeigen.
Nur durch Integration und Kooperation lassen sich die
aus der Vergangenheit resultierenden Probleme überwinden, demokratische wie rechtsstaatliche Strukturen
aufbauen und die wirtschaftliche Entwicklung fördern.
Der Bundesregierung ist bewusst, dass die Menschen
mit der Europäischen Union die Hoffnung verbinden,
dass sich durch eine Mitgliedschaft ihr Leben spürbar
verbessert. Trotz ihrer aktuellen Schwierigkeiten steht
die Europäische Union für diese Menschen nach wie vor
für Freiheit, Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Diese positive Grundhaltung gilt es zu nutzen. Das erfordert Sensibilität. Hoffnungen auf schnelle Ergebnisse und zügige
Fortschritte führen nur zu Enttäuschung und Verärgerung.
Auch wenn wir vereinfachend vom „Balkan“ sprechen, dürfen wir die Heterogenität dieser Region nicht
ignorieren. Die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstadien sind ebenso unterschiedlich, wie die
jeweiligen landestypischen Kulturen vielfältig sind.
Alle der im Antrag der SPD genannten Staaten befinden sich somit in sehr unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Daher müssen wir auch jeden Staat individuell
betrachten. Eine schnelle Aufnahme des gesamten westlichen Balkans ist daher weder hilfreich noch zielführend noch praktikabel - sie ist auch sachlich nicht gerechtfertigt. Erkennbare Anstrengungen aktueller und
potenzieller Beitrittskandidaten gilt es zu honorieren; es
gilt, Versäumnisse klar zu benennen und offensichtliches
Fehlverhalten eindeutig zu kommentieren.
Dementsprechend bemüht sich die Bundesregierung
auch um die Förderung der an einem Beitritt zur Europäischen Union interessierten Staaten. Der Antrag der
SPD wiederum deutet irrigerweise darauf hin, dass die
Bundesregierung ihren Verpflichtungen hinsichtlich einer Integration der Staaten des westlichen Balkans in
die Europäische Union nur schleppend oder unzureichend nachkäme. Dies ist unzutreffend: Wir stehen weiterhin zu dem auf dem Gipfel von Thessaloniki 2003 beschlossenen politischen Versprechen, dass der westliche
Balkan ein integraler Bestandteil des vereinten Europas
ist.
Allerdings vertreten wir auch weiterhin das Prinzip
von Fördern und Fordern: Nur wer seinen Verpflichtungen beispielsweise in Sachen Korruptionsbekämpfung
oder beim Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen
nachkommt, wer Kriminalität entschieden entgegentritt
oder die Medienfreiheit garantiert, wer Kriegsverbrecher inhaftiert oder Minderheiten schützt, soll auch weitere Unterstützung auf seinem Weg in Richtung EU erhalten. Einen Automatismus darf es nicht geben. Das
Tempo der Entwicklung wird also nicht nur in Brüssel
oder Berlin, sondern in erster Linie in Belgrad, Podgorica, Skopje, Sarajevo, Tirana und Pristina bestimmt.
Dass wir niemanden überfordern, zeigt sich am Beispiel
Kroatiens: Zagreb hat den Weg erfolgreich beschritten
und wird voraussichtlich am 1. Juli 2013 als 28. Mitglied in die Europäische Union aufgenommen.
Ich merke aber an, dass die Herausforderungen, vor
denen die derzeitigen und künftigen Beitrittskandidaten
stehen, sehr groß sind. Serbien beispielsweise, offizieller
Beitrittskandidat seit März 2012, steht vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Auch die Auseinandersetzung mit dem Kosovo wird dieses Land weiterhin
beschäftigen. Montenegro wiederum muss noch entschiedener gegen Korruption und organisierte Kriminalität vorgehen. Die Anstrengungen Podgoricas wurden
jüngst dadurch anerkannt, dass die EU mit ersten offiziellen Beitrittsverhandlungen beginnen wird.
Im Falle Mazedoniens muss wiederum sehr diplomatisch vorgegangen werden. Der ungelöste Namensstreit
mit Griechenland ist das zentrale Hindernis für eine
Beitrittsperspektive zur EU und einer Mitgliedschaft in
der NATO. Diplomatisches Vorgehen ist hier deshalb besonders angebracht, da Griechenland sich in einer sehr
prekären Situation befindet. Vor dem Hintergrund wachsender antideutscher Ressentiments wäre insbesondere
politischer Druck aus Berlin, den Namensstreit endlich
beizulegen, wenig hilfreich.
Das Kosovo wiederum wird derzeit nicht von allen
Mitgliedern der EU anerkannt. Zu diesem Schritt können wir niemanden zwingen. Hier ist nur langfristige
Überzeugungsarbeit erfolgversprechend. Auch in diesem Bereich ist die Bundesregierung seit langem engagiert. Ebenfalls belasten die kosovarisch-serbischen Beziehungen weitere Schritte hin zur Integration in die EU.
Für diese beispielhaft genannten und alle anderen
Staaten gilt zudem, dass sie ihre Volkswirtschaften den
Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpassen müssen.
Die Bundesregierung ist sich somit ihrer Verantwortung
in der Region bewusst. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen wird sie weiterhin Hilfe zur Selbsthilfe
leisten. Denn nur wer beiträgt, kann beitreten.
Die europäische Perspektive, die die EU den Ländern
des westlichen Balkans in der Erklärung des Europäischen Rats von Thessaloniki 2003 mit den Worten „Die
Zukunft des westlichen Balkans liegt in Europa“ gab,
wird nächstes Jahr mit dem Beitritt Kroatiens im Juli
2013 eine neue Form der Realität annehmen.
Auch die anderen Staaten des westlichen Balkans
sind auf dem Weg nach Europa. Die europäische Perspektive ist somit heute näher und konkreter denn je, allerdings ist sie nicht pauschal und ohne Bedingungen
und Auflagen zu haben. Daher lehnen wir den Antrag
der SPD ab.
Die EU hat für alle Länder des westlichen Balkans einen Stabilisierungs-und Assoziierungsprozess, SAP, eingeleitet, der sie nach und nach enger an die EU heranführen soll. In den letzten Jahren waren etliche
Fortschritte zu verzeichnen, wobei jeder Staat selbst
Tiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt.
Hier ergibt sich doch noch ein sehr differenziertes Bild.
Als potenzielle Kandidaten gelten nach heutigem
Stand Albanien sowie Bosnien und Herzegowina und
das Kosovo.
Was Albanien anbelangt, so hat, nachdem der Rat der
EU letzten Dezember in den Schlüsselkriterien nur geringe Fortschritte verzeichnen konnte, die EU-Kommission erneut keine Empfehlung für den Kandidatenstatus
ausgesprochen. Die EU hat Albanien daraufhin angehalten, seine Reformbemühungen zu intensivieren. Wir
unterstützen diese Haltung der EU.
Bosnien und Herzegowina muss insbesondere seine
Verfassung in Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention bringen, damit endlich das Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen, SAA, in Kraft
treten kann und die Grundlagen für einen fundierten
Beitrittsantrag gelegt werden. Dies hat der Rat der EU
gerade erst wieder in seinen jüngsten Schlussfolgerungen am 25. Juni bekräftigt. Für uns sind darüber hinaus
substanzielle Fortschritte mit Blick auf die Verfassungsreform im Bereich Parlamentskammer und Präsidentschaft unablässige Voraussetzungen für das Inkrafttreten des SAAs und einen möglichen EU Beitritt.
Was das Kosovo anbelangt, gilt, dass wir uns weiterhin insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,
Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption
engagieren müssen, um die entsprechenden Reformen im
Kosovo und die Arbeiten an einem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen zu unterstützen.
Auch was die Kandidatenländer Mazedonien, Montenegro und Serbien betrifft, so möchte ich nicht verhehlen, dass dort Fortschritte erzielt worden sind. Gleichwohl bestehen weiterhin Defizite. Auch hier gilt: Auch
wenn diese Staaten auf ihrem Weg in die EU bereits weiter vorangeschritten sind, bestehen wir darauf, dass alle
Auflagen und Verpflichtungen der EU erfüllt sind, ehe
ein Beitritt erfolgt.
In Bezug auf Mazedonien unterstützen wir daher den
hochrangigen Dialog zur EU-Annäherung, der Reformen in allen Bereichen begleitet, solange die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen aufgrund des Namenstreits
durch Griechenland blockiert wird.
Montenegro hat insbesondere in den Bereichen
Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption und
organisierter Kriminalität noch etliche Reformen zu
meistern. Daher begrüßen wir den Ansatz der EU-Kommission, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, wie
vom Rat der EU erst vorgestern beschlossen, mit den
Kapiteln „Justiz“ und „Rechtstaatlichkeit“ zu beginnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Serbien im Herbst dieses Jahres muss unserer Meinung
nach insbesondere an weitere Fortschritte im Stabilisierungs-und Assoziierungsprozess sowie in den bilateralen Beziehungen zu Kosovo gebunden sein. Ferner werden wir den europapolitischen Kurs des neuen serbischen Präsidenten Nikolic genauestens verfolgen.
Bleibt zu hoffen, dass er den Reformkurs seines Vorgängers fortsetzt.
Letztendlich legen wir auch bei dem Beitrittsland
Kroatien Wert darauf, dass die EU-Kommission ihr bisheriges Monitoring mit einem besonderen Fokus auf
Rechtsstaatlichkeit bis zum voraussichtlichen EU-Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 fortsetzt.
Mit dem Beitritt Kroatiens als dem ersten Land des
westlichen Balkans wird eine Signalwirkung für die anderen Länder des westlichen Balkans ausgehen, die deren europäische Perspektive in greifbare Nähe rückt.
Auf dem EU-Gipfel, zu dem sich die europäischen
Staats- und Regierungschefs derzeit versammelt haben,
wird es in erster Linie um Wege aus der Finanz- und
Schuldenkrise gehen, die Europa so schwer beutelt.
Doch zumindest eine erfreuliche Nachricht wird es wohl
mit Sicherheit geben: die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Montenegro.
Das ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg des
westlichen Balkans in Richtung Europa. Wir alle haben
gesehen, welch ungeheure Reformdynamik durch Beitrittsverhandlungen entfaltet werden kann. Deshalb
möchten wir mit unserem vorliegenden Antrag noch einmal deutlich machen: Deutschland und die EU müssen
die Staaten des westlichen Balkans auf ihrem Weg der
Annäherung an die EU ermutigen und unterstützen. Dies
liegt in unserem ureigensten Interesse und erwächst
auch aus einer historischen Verantwortung: Wie wahrscheinlich viele Menschen in Deutschland und Europa
haben wir alle noch lebhaft die schrecklichen Konflikte
der 1990er-Jahre in Erinnerung. Europa versagte damals auf tragische Weise - es konnte die jugoslawischen
Bürgerkriege weder verhindern, eindämmen noch effektiv beenden.
Dass nun Kroatien voraussichtlich im Sommer nächsten Jahres der EU beitreten wird, dass Montenegro,
Mazedonien und endlich auch Serbien Beitrittskandidaten sind, muss uns angesichts der noch nicht lange zurückliegenden Vergangenheit voller Hass und Gewalt
für die Zukunft optimistisch stimmen. Auch den anderen
Staaten des westlichen Balkans - Albanien, Bosnien und
Herzegowina und dem Kosovo - hat die EU beim Gipfeltreffen von Thessaloniki 2003 eine europäische Perspektive zugesagt und dies seitdem auch immer wieder bekräftigt. Wir als SPD-Bundestagsfraktion stehen hinter
diesem Versprechen.
Niemand in unseren Reihen wird jedoch auf die Idee
kommen, die Westbalkanstaaten durch eine rosa Brille
zu betrachten. Vieles in der Region liegt im Argen, das
muss deutlich gesagt werden, und das machen wir in unserem Antrag auch deutlich. Korruption und organisierte Kriminalität stellen ein ernsthaftes Problem dar.
Noch immer gibt es Konfliktherde, die im Nachklang der
Balkankriege teils offen, teils verdeckt schwelen. Die
Beilegung regionaler Konflikte muss aber Bedingung
für eine EU-Mitgliedschaft sein, wie unser Antrag nachdrücklich festhält.
Der Hass zwischen verschiedenen Ethnien und die
Gefahr der Destabilisierung durch nationalistische, antieuropäische Kräfte sind noch keineswegs gebannt. Mit
Ausnahme Kroatiens haben alle Staaten der Region
noch einen harten und langen Weg bis zu einem möglichen EU-Beitritt vor sich. Ich möchte dafür nur einige
Beispiele nennen.
Große Sorgen macht uns der Zustand im Kosovo.
Deshalb begrüßen wir die Pläne der EU-Kommission
zur Durchführung einer Machbarkeitsstudie für ein
Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen mit dem
Kosovo. Trotz der jüngsten Fortschritte im Dialogprozess zwischen Serbien und dem Kosovo hinsichtlich der
gemeinsamen Grenzverwaltung und dem Auftreten des
Kosovo auf regionaler Ebene sind die Beziehung zwischen Serbien und dem Kosovo und insbesondere die Situation im Nordkosovo nach wie vor angespannt. So
kommt es im Nordkosovo immer wieder zu Zusammenstößen an den Grenzübergängen. Deshalb ist es auch
richtig, dass der Deutsche Bundestag den KFOR-Einsatz um ein weiteres Jahr verlängert hat.
Eine seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten ernsthaft betriebene Unterstützung Serbiens und des Kosovo
auf deren Weg in die EU ist aus meiner Sicht immer noch
der beste Weg, beide Staaten zu ermutigen, aufeinander
zuzugehen. Am Ende wird sich Serbien in der Statusfrage des Kosovo bewegen müssen. Das weiß man in
Serbien, doch es wird dafür noch Zeit brauchen, die man
den Menschen dort auch einräumen muss. Wer eine Anerkennung des Kosovo durch Serbien zur Vorbedingung
von Beitrittsverhandlungen macht, verschärft das Problem, anstatt zu seiner Lösung beizutragen.
Allerdings muss auch in Serbien jeder wissen: Wenn
es um den Beitritt zur Europäischen Union geht, muss
Serbien den Weg zur Anerkennung des Kosovo gehen.
Aber diese Entscheidung muss am Ende des Beitrittsprozesses gelöst werden und nicht schon jetzt vor Beginn
dieses Prozesses.
Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien ist wegen des Namensstreits mit Griechenland
blockiert. Nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 5. Dezember 2011 muss die Bundesregierung jetzt prüfen, wie sie das Thema der Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien erneut auf die
Tagesordnung des Europäischen Rates bringen kann.
Sich der griechischen Blockade in dieser Frage einfach
zu ergeben, ist jedenfalls für mich und meine Fraktion
nicht akzeptabel. Ebenso muss es mit Mazedoniens
NATO-Beitritt vorangehen. Dass es beim NATO-Gipfel
in Chicago in dieser Hinsicht keine Fortschritte gab, ist
bedauerlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Albanien und Bosnien und Herzegowina sind von den
Voraussetzungen für einen EU-Beitrittsprozess noch
weit entfernt, doch auch dort kann wohl vor allem die
EU-Perspektive positive Entwicklungen anstoßen und
vorantreiben. Mit Blick auf Bosnien und Herzegowina
möchte ich an dieser Stelle noch auf die Bedeutung des
Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina,
OHR, hinweisen. Die Pläne zur Verkleinerung sowie
Verlagerung des Büros des Hohen Repräsentanten ins
Ausland sind Ihnen bekannt. Ich halte eine Schwächung
der Arbeitsmöglichkeiten des OHR für falsch, denn die
sogenannten Bonn Powers des Hohen Repräsentanten
sind nach wie vor ein Stützpfeiler der staatlichen Integrität von Bosnien und Herzegowina. Der Sonderbeauftragte der EU begleitet und unterstützt Bosnien und
Herzegowina bei Reformprozessen und nimmt eine
wichtige Brückenfunktion zur Europäischen Union
wahr. Solange er jedoch keine dem OHR vergleichbaren
Rechte besitzt und solange die fünf Ziele und zwei Bedingungen, 5+2, zur Schließung des OHR-Büros nicht erfüllt sind, ist der EU-Sonderbeauftragte eine wertvolle
Ergänzung, aber keine ausreichende Alternative zum
OHR.
Eine weitere Herausforderung, die ich sehe, ist auch
die Intensivierung der regionalen Kooperation der Westbalkanstaaten untereinander. Der Regional Cooperation
Council, RCC, leistet hier als Nachfolger des Stabilitätspakts für Südosteuropa wichtige Arbeit und braucht weiterhin unsere volle Unterstützung. Voraussetzung für
eine erfolgreiche regionale Zusammenarbeit ist, dass
eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne
einer friedlichen und gemeinsamen Zukunft stattfindet.
Die Auslieferung von Kriegsverbrechern an das UNTribunal in Den Haag war ein Meilenstein für diese Aufarbeitung. Wenn aber in Kroatien, Serbien oder Bosnien
und Herzegowina mancherorten Kriegsverbrecher noch
immer als Helden gelten, schadet das dem Frieden und
der guten Zusammenarbeit mit den Nachbarn. Hier müssen die politischen Eliten der jeweiligen Länder mutig
vorangehen und die Saat pflegen, die die Präsidenten
von Kroatien und Serbien, Ivo Josipovic und Boris
Tadic, bereits ausgesät hatten. Es bleibt zu hoffen, dass
der neue serbische Präsident Nikolic mit seinen harschen Äußerungen die noch zarten Pflanzen der Versöhnung nicht allzu leicht zertritt. Dazu muss er sich glaubhaft von seiner ultranationalistischen Vergangenheit
lösen und unter Beweis stellen, dass es ihm mit der
Kehrtwende Richtung Europa ernst ist. Dies gilt auch
für die sozialistische Partei Serbiens unter Ivica Dacic,
die mit Nikolics Partei die neue Regierung Serbiens bilden wird und Boris Tadic in die Opposition schickt. Dies
ist für mich eher ein Schritt in die Vergangenheit als in
die Zukunft.
Neben politischen Herausforderungen hat der westliche Balkan große wirtschaftliche und soziale Probleme
zu bewältigen, die den Alltag der Menschen vor Ort bestimmen. Verstärkt werden diese Probleme durch die seit
Jahren andauernden Finanz- und Wirtschaftskrisen, denen die Region wenig entgegenzusetzen hat. Es braucht
stabiles Wachstum und Investitionen. Eine Voraussetzung dafür sind vor allem stabile Rahmenbedingungen
und eine klare EU-Beitrittsperspektive, auch um internationalen Investoren Perspektiven zu bieten. Soziale
Faktoren dürfen in der Debatte um wirtschaftlichen Aufschwung für die Länder des westlichen Balkans nicht zu
kurz kommen. Die Region hat mit zum Teil extrem hohen
Arbeitslosenzahlen zu kämpfen, insbesondere die dramatische Jugendarbeitslosigkeit stellt, wie andernorts in
Europa, ein großes Problem dar. Das hohe Armutsniveau und mangelnde soziale Sicherung auf dem westlichen Balkan können für uns nicht hinnehmbar sein.
Wie bereits gesagt, es bleibt noch viel zu tun. Das darf
aber nicht dazu führen, dass seitens der EU die Beitrittsprozesse erlahmen. Dass mit Bulgarien und Rumänien
„unfertige“ Länder der EU beigetreten seien, deren verfrühter Beitritt der EU geschadet habe, ist allenthalben
zu hören und zu lesen. Das mag so sein. Daraus lässt
sich meines Erachtens aber keine Begründung einer Erweiterungspause ableiten, wie sie viele gegenüber der
Türkei und den Westbalkanstaaten am liebsten sähen.
Wer eine Erweiterungspause will, muss dies offen und
klar beschließen und begonnene Beitrittsprozesse stoppen. Das wäre dann auch die Verabschiedung von dem
Versprechen, das wir den Westbalkanstaaten auf dem
Europäischen Rat von Thessaloniki gegeben haben.
Eine solche Bankrotterklärung seitens der EU kann
wohl niemand in diesem Hause wirklich wollen.
Seien wir realistisch: Die Zusage einer europäischen
Perspektive, die Verleihung eines Kandidatenstatus und
auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sind
noch lange kein Beitritt und auch keine Garantie dafür,
dass sich in den entsprechenden Ländern alles schlagartig zum Guten wendet. Doch haben wir nicht oft genug
erlebt, dass eine klare europäische Perspektive, das
Streben in die EU, der Beitrittsprozess selbst die effektivsten Motoren für Stabilisierung und Reformen sind?
Kroatien ist dafür ein deutliches Beispiel. Ein Entzug
der europäischen Perspektive dagegen würde die Gefahr politischer und ökonomischer Regression bergen.
Die Erfüllung klar definierter Kriterien und harte
Verhandlungen sind selbstverständlich. Wer in die EU
will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen. Von
Anfang an habe ich das Vorhaben der EU-Kommission
begrüßt, in zukünftigen Beitrittsverhandlungen die
Kapitel 23 und 24 frühzeitig zu eröffnen und erst zum
Abschluss der Verhandlungen hin zu schließen. Wir
möchten, wie in unserem Antrag dargelegt, noch einen
Schritt weitergehen: aus unserer Sicht macht es Sinn,
über den Besitzstand des Kapitels 23, „Judikative und
Grundrechte“, bereits vor dem Beginn offizieller Beitrittsverhandlungen mit Kandidatenländern ohne laufende Verhandlungen und Ländern, die einen Antrag auf
Beitritt zur EU gestellt haben, zielgerichtete Vorverhandlungen zu führen. So könnten schon frühzeitig bessere Rahmenbedingungen für Reformen und für einen
erfolgreichen Beitrittsprozess geschaffen werden.
Politische Rabatte seitens der EU darf es gegenüber
beitrittswilligen Ländern nicht geben. Gleichzeitig hat
jedes beitrittswillige Land das Recht auf faire Verhandlungen. Der Erfüllung von Anfang an klar definierter
Bedingungen müssen im Sinne der Glaubwürdigkeit der
Zu Protokoll gegebene Reden
EU auch klar definierte Fortschritte im Beitrittsprozess
folgen.
Es liegt in unserem eigensten Interesse, die EU als
Raum von Freiheit, Demokratie, Frieden, Sicherheit und
Wohlstand nicht für europäische Länder zu verschließen, die umgeben von EU-Mitgliedstaaten in unserer
Mitte liegen. Gemeinsam mit ihnen sollten wir dafür eintreten, dass die Staaten des westlichen Balkans auf lange
Sicht keine weißen Flecken auf der Landkarte der EU
bleiben oder sich gar zu tragischen schwarzen Löchern
in unserem Kontinent entwickeln.
Denn wenn dies passieren würde, hätte die EU in dieser Region zum zweiten Mal in schändlicher Weise versagt.
Heute vor 23 Jahren hielt Slobodan Milosevic seine
berüchtigte Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht auf
dem Amselfeld. Heute vor elf Jahren wurde derselbe
Slobodan Milosevic dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert. In den dazwischen liegenden zwölf Jahren mussten wir auf dem Balkan Krieg,
Leid und ein Ausmaß an Verbrechen erleben, das wir in
Europa nicht mehr für möglich gehalten haben. Dieses
unsägliche Leid ist die direkte Folge eines verbrecherischen Missbrauchs von Geschichte. Einen derartigen
Missbrauch hat es in Europa viel zu oft gegeben. Aber
Europa hat nach der größten Katastrophe daraus gelernt und mit der europäischen Einigung seine Lehren
umgesetzt. Auf diesem Weg wollen wir auch die Länder
des westlichen Balkans mitnehmen.
Ich gehe davon aus, dass die Kollegen der SPD den
Titel ihres Antrages als Beschreibung der Realität verstehen. Denn die Staaten des westlichen Balkans haben
eine ehrliche und faire europäische Perspektive. Die
Fortschritte einzelner Länder allein in den letzten
Monaten sprechen da wohl für sich: Verleihung des
Kandidatenstatus an Serbien im März, der Beginn der
Ratifizierung des kroatischen Beitritts und, ab morgen,
der Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro.
Das zeigt: Fortschritte sind möglich, und wo Länder
Fortschritte machen, werden sie von der EU auch honoriert.
Aber es gibt natürlich auch noch genug Probleme.
Am schwierigsten für die europäische Glaubwürdigkeit
halte ich den Fall Mazedonien. Denn hier hat ein Land
wirklich Fortschritte gemacht und kommt trotzdem nicht
weiter. Hier sehe ich auch die dringende Notwendigkeit,
weiter auf Griechenland einzuwirken. Allerdings glaube
ich kaum, dass wir hier mit Druck weiterkommen. Wir
müssen aber nachdrücklich darauf hinweisen, dass
gerade in der aktuellen Situation eine etwaige Destabilisierung in seiner direkten Nachbarschaft für Griechenland keineswegs wünschenswert sein kann.
Ein zweiter Problemfall ist - und bleibt wahrscheinlich auch für geraume Zeit - Bosnien-Herzegowina.
Hier lehne ich allerdings Ihre Forderung nach einer
Stärkung des OHR ganz strikt und kategorisch ab. Die
Zeit von Eingriffen des OHR ist endgültig abgelaufen;
das müssen wir anerkennen. Zu glauben, man könne
mehr als 15 Jahre nach dem Kriegsende und nach einer
ganzen Reihe von demokratischen Wahlen immer noch
quasidiktatorisch von außen Fortschritte erzwingen, ist
grundfalsch. Wir müssen im Gegenteil viel mehr auf die
Arbeit des EU-Repräsentanten setzen. Die EU muss dem
Land klare, aber eben auch erreichbare Ziele setzen.
Hier hat die EU in der Vergangenheit ja auch selber
Fehler gemacht, wie etwa die gar nicht zu rechtfertigenden Vorgaben zur Polizeireform. Und ich glaube, wir
sind uns einig, dass Herr Sörensen hier bislang einen
sehr überzeugenden Job gemacht hat.
Serbien hat im März den Kandidatenstatus bekommen. Und jetzt müssen wir sehen, was der neu gewählte
Präsident Nikolic aus dieser Chance macht. Ich habe
nach seiner Wahl dafür plädiert, ihn nach seinen heutigen Taten zu beurteilen; aber ich gebe gerne zu, dass
einige seiner Reden nicht gerade optimistisch stimmen.
Jede Relativierung des Völkermords in Srebrenica ist
völlig unerträglich. Die Regierungsbildung ist immer
noch nicht abgeschlossen.
Im Kosovo ist es wieder zu Unruhen gekommen, und
ich möchte den verletzten Soldaten auch bei dieser Gelegenheit meine besten Wünsche übermitteln.
Eines ist völlig klar und völlig unverhandelbar: Serbien kann nur in die EU kommen, wenn der Konflikt mit
Kosovo im gegenseitigen Einvernehmen geregelt ist.
Das muss nicht zwingend eine völkerrechtliche Anerkennung sein. Es muss aber so weit von einem Geist der Versöhnung und guter Nachbarschaft getragen sein, dass
wir begründet davon ausgehen können, dass bilaterale
Schwierigkeiten nicht in die EU hineingetragen werden.
Serbien kann nicht weiterhin Parallelstrukturen im
Kosovo in der bisherigen Form aufrechterhalten. Die
Verfassung des Kosovo, in Umsetzung des AhtisaariPlans, enthält genug Möglichkeiten für Kommunen mit
mehrheitlich serbischer Bevölkerung, sich innerhalb des
kosovarischen Staats als Serben zu organisieren und
ihre eigenen Belange zu verwalten.
Aber auch Kosovo muss noch erhebliche Fortschritte
machen. Ich begrüße es, dass EULEX sich jetzt schlanker organisiert und auf die wesentlichen Probleme konzentriert. Und sosehr ich es natürlich auch begrüßen
würde, dass alle EU-Staaten das Kosovo anerkennen, so
glaube ich doch eher, dass der Weg umgekehrt verlaufen
wird: Wenn Serbien und Kosovo bilateral zu einer Regelung kommen, dann werden auch die verbliebenen EUStaaten sich dem nicht mehr verschließen.
Ich sehe durchaus die Gefahren, die auf dem Balkan
durch europäische Untätigkeit entstehen können. Ich
sehe aber auch die Gefahren, die durch zu große Ungeduld entstehen. Vieles in der Region muss noch wachsen
und braucht auch Zeit zum Wachstum. Das gilt für
rechtsstaatliche Strukturen, für wirtschaftliche Kooperation innerhalb der Region und auch für den Abbau von
Feindbildern.
Die EU sollte sich in den Ländern, in denen ein
schneller Fortschritt des Beitrittsprozesses derzeit nicht
möglich erscheint, darauf konzentrieren, kleine, aber für
Zu Protokoll gegebene Reden
die Masse der Bevölkerung sicht- und fühlbare Schritte
anzubieten. Der Prozess zur Visafreiheit ist für mich immer noch vorbildhaft. Gerade im Bereich Wirtschaft und
bei der engeren Anbindung der Länder an den EU-Binnenmarkt ist auch unterhalb formeller Mitgliedschaft
vieles möglich. Hier wünsche ich mir etwas mehr Kreativität.
Insgesamt bin ich sehr froh, dass wir uns in diesem
Haus im Ziel der Heranführung des westlichen Balkans
an die EU weitestgehend einig sind. Und ich halte diese
grundsätzliche Einigkeit auch für ein wichtiges Signal
an die Region, auch wenn wir wegen einzelner Punkte
Ihrem Antrag heute nicht zustimmen können.
Um es vorneweg klarzustellen: Die Fraktion Die
Linke tritt entschieden für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans
ein. Der Ehrlichkeit und Fairness halber müssen wir dabei jedoch die Bedingungen und Zustände innerhalb der
Europäischen Union und des westlichen Balkans sowie
die Beziehungen zwischen beiden klar benennen. Die
EU und ihre Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik
tragen immer deutlicher die Züge eines imperialen Projekts, und an verschiedenen Stellen wird das innerhalb
der EU und der ihr angegliederten Denkfabriken auch
immer ehrlicher so benannt. Ein Imperium zeichnet sich
dadurch aus, dass es keine klaren Grenzen hat, dass es
den Geltungsbereich seines Rechts bis in eine weit entfernte Peripherie ausdehnt, während es die Entscheidungsgewalt im Zentrum konzentriert. Wenn wir uns den
Geltungsbereich des Acquis Communautaire einerseits
und die Bündelung politischer und ökonomischer Macht
in Westeuropa und ganz besonders in Berlin auf der anderen Seite anschauen, dann müssen wir ganz klar von
einer imperialen Struktur sprechen. Dasselbe gilt, wenn
wir uns das EU-Grenzregime betrachten, das ja genau
deshalb von so herausragender Relevanz ist, weil es
diese Struktur auf den Punkt bringt. Durch Verbindungsbeamte, Rücknahmeabkommen, Partnerschaftsprogramme, die Zusammenarbeit mit Drittstaaten und
Institutionen wie Frontex wurden die Grenzkontrolle
und Flüchtlingsabwehr bis hinein in die Herkunfts- und
Transitstaaten ausgelagert, in Gebiete, wo ein Grundrechteschutz oder ein Zugang zum europäischen Rechtssystem nicht existieren. Bereits in den Herkunftsstaaten
versehen deutsche und europäische Beamte - und oft genug auch europäische Soldaten - ihren Dienst; dazwischen wurde ein Ring sogenannter sicherer Drittstaaten
geschaffen, welche sich zu den willigen Erfüllungsgehilfen der EU haben machen lassen. Im Inneren liegt dann
der Schengen-Raum, der bis heute nicht mit der Europäischen Union deckungsgleich ist, und im Zentrum die
westeuropäischen Staaten, die mittlerweile immer öfter
für sich in Anspruch nehmen, das Schengen-Abkommen
temporär außer Kraft zu setzen. In der Peripherie
herrscht der Ausnahmezustand, im Zentrum wird über
diesen entschieden. Auch hier zeigt sich eindeutig die
imperiale Struktur der EU.
Vor diesem Hintergrund wird gegenwärtig immer
deutlicher von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit
von Europäischer Union und Demokratie gesprochen.
Erinnern wir uns an die Referenden zum Vertrag von
Lissabon: Man hat die Iren so lange abstimmen lassen,
bis das für Berlin und Brüssel richtige Ergebnis herauskam. Ähnliches geschah nun in Griechenland. Und sogenannte technokratische Regierungen werden innerhalb der EU weiter zunehmen, weil es eigentlich nur
noch Aufgabe der Regierungen ist, Entscheidungen aus
Berlin und Brüssel gegen den Willen der Bevölkerung
durchzustellen.
Diese Art der Politik hat den Beitrittsprozess bislang
wesentlich geprägt und wurde darin weiterentwickelt.
Man hat dabei ganz offen versucht, in Wahlen einzugreifen, indem Entscheidungen über den Beitrittsprozess
oder Visaliberalisierungen kurz vor Wahlen gelegt wurden, um die sogenannten proeuropäischen Kräfte zu unterstützen. Gleichzeitig wurde in Westeuropa hinter
mehr oder weniger vorgehaltener Hand recht deutlich
gesagt, dass es eine tatsächliche Beitrittsperspektive für
einige der betreffenden Staaten nicht geben wird. Vor
diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer ehrlichen und fairen europäische Perspektive der Staaten des
westlichen Balkans grundsätzlich richtig; allein: Sie ist
verlogen. Betrachten wir nur einmal Serbien und das
Kosovo, wo nicht einmal unter den westeuropäischen
Staaten Einigkeit besteht, ob es sich um einen Staat oder
zwei Staaten handelt. Deutsche Soldaten waren hier in
den letzten Monaten auf täglicher Basis damit beschäftigt, die Verwaltungsgrenze zwischen Serbien und dem
Nordkosovo militärisch gegen die ansässige Bevölkerung durchzusetzen, sie gaben Schüsse ab und wurden
selbst verwundet. In Bosnien und Herzegowina hingegen sind Soldaten der EU bis heute damit beschäftigt,
das Auseinanderbrechen eines künstlichen Gebildes hinauszuzögern.
Während deutsche Soldaten auf dem Balkan wieder
mit Gewalt Grenzen ziehen und der deutsche Diplomat
Ischinger - von der Regierung unwidersprochen - fordert, Deutschland solle die Rolle des „gutmütigen Hegemons“ einnehmen, kommen Sie mit diesem Antrag, der
sich neben falschen Versprechungen vor allem durch
den erhobenen Zeigefinger auszeichnet, der an die Regierungen des westlichen Balkans gerichtet ist. Das Versprechen von Thessaloniki soll erneuert werden, um dort
neue Sparprogramme, die Privatisierung und Liberalisierung weiter voranzutreiben. Kein Wort verlieren Sie
zu den sozialen Folgen dieser Politik, zu der wachsenden Verarmung einer breiten Bevölkerungsmehrheit. Sie
reden von Fortschritten bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und meinen damit die weitere Entrechtung,
die Unterwerfung der Bevölkerungen und Regierungen
unter das Diktat Berlins und Brüssels.
Wenn die Bevölkerungen des westlichen Balkans den
Beitritt wirklich wollen und sie die Kriterien im gleichen
Ausmaß erfüllen wie die Mitgliedstaaten, dann müssen
sie auch aufgenommen werden. Bevor wir dies aber ins
Zentrum unserer Forderungen an die EU stellen, halten
wir einen Abzug der Truppen aus Bosnien und dem Kosovo für notwendig. Bevor wir eine weitere Erweiterung
der EU wirklich begrüßen können, wäre ihre Neugründung als demokratisches und soziales Projekt wünZu Protokoll gegebene Reden
schenswert - im Interesse der Bevölkerungen innerhalb
der EU und derer, die beitreten wollen.
In einem Jahr wird Kroatien der Europäischen Union
als 28. Mitgliedstaat beitreten. Das ist eine gute Nachricht, in dreifacher Hinsicht. Der Beitritt zeigt erstens,
dass die europäische Perspektive für die Staaten des
westlichen Balkans Realität wird. Der Beitrittsprozess
hat zweitens gezeigt, welche enorme Transformationskraft ein Beitrittsprozess freisetzen kann. Schließlich hat
die Europäische Union mit dem Beitrittsprozess Kroatiens bewiesen, dass sie aus den Fehlern, die bei vergangenen Beitrittsrunden gemacht wurden, gelernt hat.
Zur Beitrittsperspektive der Staaten des westlichen
Balkans. Ich begrüße ausdrücklich, dass die SPD unserem Beispiel folgt und einen umfassenden Antrag zur europäischen Perspektive der Staaten des westlichen Balkans vorlegt. Ich bin froh, dass in diesem Haus eine
breite Mehrheit die europäische Perspektive des westlichen Balkans unterstützt. Nach den Kriegen der 90erJahre und der Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens
ist es unsere moralische Pflicht, eine Wiederholung dieser schrecklichen Ereignisse zu verhindern. Stabilität
und die positiven Entwicklungen der letzten Jahre würden wir durch eine Abkehr von der europäischen Perspektive leichtfertig aufs Spiel setzen. Die Europäische
Union muss auf dem westlichen Balkan beweisen, dass
sie auch innerhalb Europas in der Lage ist, Demokratie,
Stabilität und Wohlstand zu etablieren. Ohne die Integration des westlichen Balkans, der völlig von EU-Mitgliedstaaten umgeben ist, bliebe die historische Errungenschaft „Europäische Union“ unvollendet.
Die Transformationskraft, die die Beitrittsprozesse
auslösen, ist beeindruckend. Das hat Kroatien gezeigt.
Kroatien wird bis zum endgültigen Beitritt in einem Jahr
auch weiter beweisen müssen, dass der Reformwille
nicht nachlässt, Reformzusagen eingehalten werden und
die Implementierung der neuen Gesetze vorangetrieben
wird. Die Transformationskraft zeigen aber auch die
Entwicklungen in den anderen Staaten des westlichen
Balkans. Montenegro hat gezeigt, dass es willens ist,
schwierige Hürden zu nehmen. Montenegro hat die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen erfüllt.
Den Start der Verhandlungen am morgigen Freitag hat
sich Montenegro damit redlich verdient. Das heißt natürlich nicht, dass Montenegro die Bedingungen für eine
Mitgliedschaft in der Europäischen Union erfüllt; das
muss es aber auch noch nicht. Montenegro geht morgen
an den Start, nachdem es das Training und alle medizinischen Tests erfolgreich absolviert hat. Beitreten wird
Montenegro aber erst, wenn es auf der Zielgeraden angekommen ist und die Ziellinie überquert hat, also wenn
alle notwendigen Reformen umgesetzt und alle Anforderungen für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt sind.
Auch Serbien hat in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht und hat im Frühjahr den offiziellen
Kandidatenstatus erhalten. Dies war nur möglich, weil
Serbien vollständig mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zusammengearbeitet hat. Das hat zuletzt die Auslieferung Ratko
Mladics und Goran Hadzics bewiesen. Und das war
zweitens nur möglich - und wird in Zukunft auch nur
möglich sein -, weil Serbien den Dialog mit dem Kosovo
wieder aufgenommen hat.
Der nächste Schritt wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sein. Aus unserer Sicht sind dafür weitere glaubwürdige Fortschritte im Dialogprozess mit
dem Kosovo und Fortschritte beim Abbau der Parallelstrukturen im Nordkosovo absolut notwendig. Und eins
muss auch ganz deutlich gesagt werden: Ohne völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo wird Serbien der
Europäischen Union nicht beitreten können. Dieses Bekenntnis suche ich im Antrag der SPD vergeblich. Wir
müssen unmissverständlich klarstellen, dass die Unabhängigkeit des Kosovo in den bestehenden Grenzen
nicht verhandelbar ist. Grenzverschiebungen zur Herstellung ethnischer Homogenität laufen dem Prinzip der
demokratischen Gesellschaft zuwider. Sie bergen zudem
das unüberschaubare Risiko in sich, in einer Kettenreaktion schwere Krisen in den unvollendeten Staaten des
Westbalkans hervorzurufen. Daher müssen wir uns in einer Frage einig sein: Auf dem Westbalkan darf es keine
Grenzverschiebungen mehr geben.
Schließlich möchte ich noch etwas zu den Beitrittsprozessen an sich sagen: Nach den Beitritten Bulgariens
und Rumäniens hat sich die Europäische Union auf neue
Grundsätze bei der Erweiterung der Europäischen
Union geeinigt. Danach bestimmen die Ergebnisse der
Reformen das individuelle Tempo des Beitrittsprozesses
in einem Land. Mit dem Beitritt müssen die Kopenhagener Kriterien erfüllt sein. Die Europäische Kommission
darf dabei nicht nur die Umsetzung der Reformen überprüfen. Sie muss auch bis zum Ende schauen, ob die Reformen auch implementiert werden. Das tut sie übrigens
gerade bei Kroatien. Bis zum endgültigen Beitritt legt
sie noch zwei weitere Monitoringberichte vor.
Schwierige Fragen wie die Reform der Verwaltung
und Justiz sowie die Bekämpfung der Korruption sollen
frühzeitig behandelt werden. Es ist daher folgerichtig
und begrüßenswert, dass in den Beitrittsverhandlungen
mit Montenegro das Kapitel 23 gleich zu Beginn geöffnet wird und während der gesamten Verhandlungen geöffnet bleiben soll. Diese Grundsätze und eine strikte
Konditionalität in allen Phasen der Verhandlungen sind
Grundlage für erfolgreiche Beitrittsverhandlungen.
Diese harte Konditionalisierung ist richtig, sie stellt
den westlichen Balkan aber auch vor ein großes Problem. Die Staaten werden nicht gleichzeitig am Ziel
- also in der EU - ankommen. Kroatien ist schon da,
Montenegro startet, Serbien wird bald die Verfolgung
aufnehmen. Wann das Kosovo, wann Bosnien und Herzegowina an den Start gehen, ist noch völlig offen. Die
Aufnahme der Verhandlungen mit Mazedonien sind auf
nicht absehbare Zeit durch den Namensstreit mit Griechenland blockiert. In dieser Ungleichzeitigkeit steckt
aber eine große Gefahr. Daher gilt es, parallel zu den
künftigen Beitrittsverhandlungen auch Wege und Formen zu finden, das Kosovo und Bosnien und HerzegoZu Protokoll gegebene Reden
wina nicht zurückzulassen. Wir müssen diese Staaten
mitnehmen. Die ungleichzeitige europäische Integration
darf nicht die Isolierung anderer Staaten bedeuten. In
dieser Frage sind wir dem westlichen Balkan noch Antworten schuldig. Antworten und Engagement sind wir
vor allem Bosnien schuldig. Die Europäische Union
trägt eine besondere Verantwortung für Bosnien und
Herzegowina und die Überwindung der unvollendeten
Verfasstheit von Bosnien und Herzegowina.
Für die Beitrittsprozesse der Staaten des westlichen
Balkans sind aus meiner Sicht weitere Bedingungen unerlässlich: Die völkerrechtliche Anerkennung der Staaten des Westbalkans in den heutigen Grenzen habe ich
bereits erwähnt. Außerdem müssen mit Abschluss der
Verhandlungen alle bilateralen Konflikte gelöst oder wie
im Fall Kroatien und Slowenien einer Lösung zugeführt
sein. Neben den gutnachbarschaftlichen Beziehungen
muss schließlich ausgeschlossen werden können, dass
EU-Beitritte „verspäteter“ Staaten des Westbalkans
durch bereits beigetretene Staaten blockiert werden können.
Abschließend möchte ich noch zwei Punkte ansprechen: Die Frage der Minderheiten spielt auf dem gesamten westlichen Balkan eine wichtige Rolle. Ich denke dabei vor allem an die schwierige Situation der Roma. Sie
leben vielerorts unter Umständen, die Menschen nicht
würdig sind. Sie sehen sich Diskriminierung ausgesetzt,
ihnen werden noch immer soziale und wirtschaftliche
Rechte vorenthalten. Diese Probleme müssen die Staaten des westlichen Balkans so schnell wie möglich angehen. Ungarn hat während seiner Ratspräsidentschaft einen Rahmen für nationale Strategien zur Integration der
Roma vorgelegt. Die EU muss diesen guten Ansatz konsequent weiterverfolgen und auch die Staaten des westlichen Balkans frühzeitig einbeziehen.
Das Zweite ist die Umweltfrage im Beitrittsprozess:
Wir Grüne setzen uns seit jeher dafür ein, dass der Zustand der Umwelt, hohe Umweltstandards und vor allem
deren Einhaltung eine gewichtige Rolle in Beitrittsverhandlungen spielen. Engagement in Bezug auf Natur
und natürliche Ressourcen ist dabei nicht einfach nur
ein Selbstzweck, sondern auch eine Frage der Selbstbehauptung gegen mangelnde Korruptionsbekämpfung in
künftigen EU-Staaten. Es gibt kaum einen anderen Bereich, der mit Korruption so eng verbunden ist wie Umweltverschmutzung oder Raubbau an der Natur, sei es
bei Bauvorhaben, Infrastrukturprojekten oder der öffentlichen Vergabe. Wenn wir Korruption als eine der
großen Herausforderungen auf dem westlichen Balkan
bekämpfen wollen, dann brauchen wir gute und hohe
Umweltstandards und Reformen, die die Einhaltung dieser Standards auch sicherstellen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9744 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Täterverantwortung
- Drucksache 17/1466 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/10164 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Jörg van Essen
Jerzy Montag
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.
„Heinrich, mir graut vor dir“ - so wendet sich in einer berühmten Passage in Goethes Faust Margarete
angstvoll an den von ihr so geliebten Heinrich. Es geht
hierbei um Angst, um latente Aggressionen, um Auseinandersetzungen in einem Nähe- und Beziehungsgeflecht. Es geht um genau die Situationen, für den der
heute zur Schlussabstimmung stehende Gesetzentwurf
zur Stärkung der Täterverantwortung ein neues Instrument zur Verfügung stellen soll.
Er knüpft an Strukturen an, bei denen Gewalt aus einem Beziehungsgeflecht entspringt, dort, wo Täter und
Opfer in einer räumlichen und emotionalen Nähe zueinander stehen oder gestanden haben und es immer wieder
zu gewalttätigen Übergriffen kommt. Zumeist sind die
Beschuldigten dabei Männer. Es geht dabei um Nähebeziehungen, die bei den Tätern immer wieder Aggressionen und Gewalt hervorrufen. Es geht um Situationen,
in denen Frauen vor ihren Männern, vor deren willkürlichen, gegen sie gerichteten Gewaltakten Angst haben
müssen.
So flüchten jährlich rund 45 000 physisch, sexuell
oder psychisch misshandelte Frauen mit ihren Kindern
in eines der etwa 400 Frauenhäuser oder in ähnliche
Zufluchtsorte. Die Dunkelziffer ist dabei sehr hoch. Oftmals werden die Taten nicht angezeigt, gemeldet oder
verbleiben im familiären und privaten Umfeld, aus
Scham, Angst oder weil die Beziehung trotz der Gewalt
fortbestehen bleibt.
Die Frage ist, wie wir darauf reagieren. Wir können
weiter hauptsächlich an den Symptomen ansetzen und
allein mit strafrechtlichen Sanktionen reagieren oder
versuchen, die Ursachen konsequent mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu bekämpfen - präventiv
wie repressiv.
Es kann uns allen nur daran gelegen sein, dafür zu
sorgen, dass Gewalt in solchen Nähebeziehungen nicht
mehr stattfindet. Strafen allein können dabei nur bedingt
helfen. Einen Beitrag dazu liefert der vorliegende Gesetzentwurf zur Stärkung der Täterverantwortung.
Ziel ist es, die Handlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaften und Gerichte im leichten und mittleren Kriminalitätsbereich zu erweitern, dort, wo Gewalt in einem Geflecht von häuslicher Nähe eine immer
wiederkehrende Spirale ist, dort, wo Täter und Opfer in
einer räumlichen und emotionalen Nähe zueinander stehen oder gestanden haben.
Ziel ist es, diese Gewalt in den Griff zu bekommen.
Daher setzt das Gesetz sinnvollerweise an zwei Stellen
an: Erstens sieht es vor, die Einstellung durch Erteilung
einer Weisung, an einem Trainingsprogramm teilzunehmen, in § 153 a StPO zu ermöglichen, und zweitens ist
geplant, eine Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt durch die Erteilung der Anweisung, an einem Täterprogramm teilzunehmen, in § 59 a Abs. 2 StGB vorzunehmen.
In der gängigen Kommentierung zur Strafprozessordnung von Lutz Meyer-Großner heißt es zum Hintergrund
der Einstellungen nach § 153 a StPO: „Es handelt sich
um ein zweckmäßiges vereinfachtes Erledigungsverfahren im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität
mit Beschleunigungs- und Entlastungseffekt, um verurteilungslose Friedensstiftung in diesem Bereich ohne
Verzicht auf Sanktionen, aber ohne Strafe oder Vorbestraftsein.“ ({0})
Genau das wollen wir doch erreichen: die nachhaltige Befriedung des häuslichen familiären Lebensbereichs. Gleichzeitig sollen aber die Sanktionen dem Opfer zeigen, dass der Beschuldigte etwas tun muss, also
nicht sanktionslos bleibt.
Täterarbeit ist Gewaltprävention und damit im Interesse des Opfers. Oftmals sind die Täter aber offenbar
nicht in der Lage, sich freiwillig ihre Situation einzugestehen und selbst Maßnahmen einzuleiten, die eine Verhaltensänderung bewirken könnten. Häufig scheint
ihnen die Einsicht zu fehlen, und sie verleugnen und
verdrängen ihre Gewalttaten.
Daher sind Geldauflagen oder die Verhängung von
Geldstrafen oder Geldbußen unter Umständen nicht
sehr erfolgversprechend. Der Täter kauft sich von seiner
Schuld frei oder bezahlt seine Strafe. Eine Änderung seiner Wahrnehmung oder seines Verhaltens wird dadurch
häufig aber nicht erreicht. Folge ist, dass sich das Opfer
weiterhin der Gewalttätigkeit des Täters ausgesetzt sieht
und die Justiz sich weiterhin mit dem Täter befassen
muss.
Mit den vorgesehenen Ergänzungen in der Strafprozessordnung sowie im Strafgesetzbuch werden die Täter
durch justizielle Weisungen im Rahmen von Ermittlungsoder Strafverfahren daher zukünftig gezwungen, an einem Täterprogramm teilzunehmen. Dadurch wird den
Tätern ermöglicht, Einsicht in das Unrecht zu gewinnen,
die Ursachen des gewalttätigen Handelns zu erkennen
und eine Änderung des Verhaltens zu erarbeiten.
Durch die justiziell erzwungen Maßnahmen wird aber
auch der Motivationsdruck der Täter, an einem solchen
Täterprogramm teilzunehmen, erhöht:
Bei der vorläufigen Einstellung des Verfahrens
- §153 a StPO - besteht der Motivationsdruck des Täters, ein Strafverfahren und eine Strafe zu vermeiden.
Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt - § 59 a StGB besteht der Motivationsdruck, dass die Strafe ansonsten
vollstreckt wird.
Der Täter soll im Rahmen eines Trainingsprogramms
die in ihm aufkommende Aggression frühzeitig erkennen, sie beherrschen und diese Gewalt kontrollieren lernen. Er soll die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und zur Selbstkontrolle vermittelt bekommen.
Eine längerfristige und nachhaltige Einwirkung auf
die Lebens- und Verhaltensweisen des Täters kommt
dem Opfer zugute und soll eine Befriedung der gewaltgeprägten Beziehung zwischen Täter und Opfer erreichen.
Dies gilt aber nicht nur für Täter häuslicher Gewalt.
Vielmehr sollen im Interesse eines effektiven Opferschutzes diese Möglichkeiten nicht nur auf diese Bereiche beschränkt bleiben, sondern auch auf andere Fälle
angewendet werden können, in denen sich die Täterprogramme als geeignet erweisen.
Die dafür im Gesetzentwurf vorgesehene Frist beträgt ein Jahr. Die Abweichung von der sonst in § 153 a
StPO vorgesehenen Frist von sechs Monaten zur Erfüllung von Auflagen und Weisungen - mit Ausnahme der
Unterhaltspflichtverletzungen, für die aus anderen
Gründen eine Jahresfrist gilt - ist deshalb sinnvoll, weil
nur so eine dauerhafte und nachhaltige Verhaltensänderung beim Täter möglich ist. Die von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ 2007 erarbeiteten bundesweiten Qualitätsstandards sehen vor,
dass der Täter mindestens ein sechsmonatiges Täterprogramm durchlaufen sollte. Diesem halbjährlichen Programm geht ein Aufnahmeverfahren voraus, und es
schließt sich ein sogenannter Follow-up an.
Mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Möglichkeiten erweitern wir den Handlungsspielraum der Staatsanwaltschaften und Gerichte, um angemessen, effektiv,
zielgenau, nachhaltig und individuell auf die Persönlichkeit des Täters und auf sein strafbares Verhalten regieren zu können. Dabei werden die Gerichte die Beziehungen zwischen Opfer und Täter und auch die Belange
des Opfers gewichten müssen. Denn eines ist auch klar:
Die Täter begehen strafrechtlich relevante Gewalttaten.
Und Strafrecht hat auch die Funktion der Sühne - und
Genugtuung für die Opfer.
Sühne und Genugtuung können aber auch aus Sicht
des Opfers dadurch erfolgen, dass der Täter ein solches
Täterprogramm ernsthaft und für eine längere Dauer
durchlaufen muss und mit dem Ziel abschließt, künftig
keine Gewalt mehr gegen das Opfer oder andere Menschen zu verüben.
Auf der anderen Seite bedeutet dieses Trainingsprogramm für die Täter aber auch eine letzte Chance, eine
Änderung ihrer Einsicht und ihres Verhalten herbeizuführen, bevor der Täter bestraft und vorbestraft sein
wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Lassen Sie uns mit dem Gesetz die Ursachen bekämpfen in der Hoffnung, dass die Täterprogramme erfolgreich verlaufen und helfen, Gewalt zu verhindern.
Das moderne Strafrecht ist stärker von dem Ziel der
Verbrechensvorbeugung geprägt als von dem Ziel der
Sühne für die begangene Tat und der Wiederherstellung
der Rechtsordnung. Dies sind zweifellos zentrale Funktionen des Strafrechtes. Die Verbrechensvorbeugung hat
jedoch für die Sicherheit und für die Aufrechterhaltung
der Rechtsordnung eine überragende Bedeutung. Wenn
es gar nicht erst zu einer Straftat kommt, kommt es auch
nicht zu einer Störung der Rechtsordnung.
Zweifellos hat die Strafandrohung eine abschreckende und damit eine präventive Wirkung. Dies gilt sowohl im generalpräventiven Sinn als auch im konkreten
Fall für einen potenziellen Täter, der eine bestimmte Tat
begehen will. Dazu gehört aber, dass die Strafverfolgung effektiv ist. Durch den Gesetzestext allein lässt sich
der Täter nicht beeindrucken. Aber auch wenn beides
zusammen kommt, die Strafandrohung und die Gefahr
des Entdecktwerdens, werden viele Täter von ihren Taten dennoch nicht abgehalten. Das haben wir bei der
Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität erfahren müssen. Solche Straftaten können
kaum durch Strafandrohung, sondern vielmehr durch die
vorzeitige Aufdeckung von Anschlagsplänen verhindert
werden, also durch präventive Maßnahmen.
Prävention ist deshalb die wichtigste Aufgabe in der
Bekämpfung von Straftaten. Genau diesem Ziel widmet
sich der vorliegende Gesetzentwurf. Darin geht es um
die Verbesserung der sogenannten Täterarbeit. Durch
entsprechende Programme sollen, wie es in der Begründung des Entwurfs heißt, „Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderungen auf Täterseite“ bewirkt werden.
Der Täter soll dazu angemahnt werden, Verantwortung
für seine Tat zu übernehmen und mehr Selbstkontrolle
einzuüben. Dies soll im Rahmen von Ermittlungs- und
Strafverfahren durch die Teilnahme an entsprechenden
Programmen - in der Regel sind dies soziale Trainingskurse mit bester Besetzung - erreicht werden. Dadurch
soll der Täter die Fähigkeit erlangen, sich künftig nicht
gewaltbereit, sondern kontrolliert und gewaltfrei in einer Konfliktsituation zu verhalten. Dies gilt insbesondere im häuslichen Bereich und richtet sich in der Regel
an Männer.
Das Problem „Häusliche Gewalt“ darf nicht unterschätzt werden. Gewalt in den eigenen vier Wänden hat
es immer gegeben. Sie war aber nicht so häufig. Oft allerdings haben sich Frauen ihrem Schicksal ergeben. Inzwischen jedoch gehört die Gewalt im häuslichen Bereich für viele Frauen und Kinder zum Alltag. Jährlich
suchen 45 000 sexuell und psychisch misshandelte
Frauen in den 600 Frauenhäusern Zuflucht. Dazu gehört eine große Dunkelziffer, da längst nicht alle Gewalttaten gemeldet werden.
In den letzten zwanzig Jahren wurden Trainingsprogramme entwickelt, um die gewalttätigen und gewaltbereiten Männer zu einer Veränderung ihres Verhaltens zu
bringen. Wird diese Veränderung erreicht, haben solche
Maßnahmen eine viel größere Wirkung als zum Beispiel
eine Geldstrafe, wie sie in solchen Fällen insbesondere
bei Ersttätern üblich ist. Oft auch trifft die Geldstrafe
nicht nur den Täter, sondern auch das Opfer, weil weniger Geld in der Haushaltskasse ist. Durch das vorgenannte Trainingsprogramm kann daher aus mehrfachem
Grund ein besserer Opferschutz erlangt werden.
Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Verbesserung und die Erweiterung der Möglichkeiten, Straftäter über staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche
Weisungen im Rahmen von Ermittlungs- bzw. Strafverfahren qualifizierten Täterprogrammen zuzuweisen.
Deshalb ist eine Ausweitung der Auflagen im Rahmen
einer Einstellung nach § 153 a StPO und eine Ausweitung der Auflagen im Rahmen einer Verwarnung mit
Strafvorbehalt nach § 59 a StGB vorgesehen. Dabei geht
es um die Teilnahme an einem oben beschriebenen Täterprogramm. Unter diesem Täterprogramm wird ein
„Unterstützungs- und Beratungsangebot zur Verhaltensänderung für gewalttätige Männer“ verstanden. Für
eine solche „Täterarbeit“ ist nach den Angaben der
Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit häusliche Gewalt“ ein längerer Zeitraum, als die im § 153 a StPO
vorgesehenen 6 Monaten notwendig. Daher wird diese
Frist auf ein Jahr verlängert.
Darüber hinaus wird der Katalog bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 a StGB um die
Möglichkeit der Weisung, an einem Täterprogramm teilzunehmen, ergänzt.
Außerdem wird in § 153 a ein neuer Abs. 4 eingeführt. Es handelt sich dabei um eine Regelung für die
Weitergabe personenbezogener Daten aus dem Strafverfahren, die nicht den Beschuldigten betreffen. Diese Daten dürfen an die mit der Durchführung des Programmes
zur Änderung gewalttätigen Verhaltens befasste Stelle
nur übermittelt werden, „soweit die betroffenen Personen in die Übermittlung eingewilligt haben.“
Allerdings ist auch auf die Kritik an dem Gesetzentwurf hinzuweisen. Man kann durchaus die Auffassung
vertreten, dass ein Regelungsbedürfnis nicht besteht. Soweit es nämlich im Rahmen häuslicher Gewalt zu erheblichen Straftaten kommt, wird eine Sanktionierung durch
eine Auflage nach § 153 a, StPO, eine Verwarnung mit
Strafvorbehalt, nicht schuldangemessen sein.
Soweit eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt
wird, ist eine Therapieeinweisung jetzt schon möglich.
Außerdem verweist die Kritik darauf, dass für die
vorgesehene Täterarbeit bundesweit nicht genügend
Fachkräfte vorhanden sein werden. Darüber hinaus darf
nicht übersehen werden, dass bereits jetzt schon in
§ 153 a, Abs. 1, Satz 1, Satz 2, Nr. 5 StPO die Möglichkeit vorgesehen ist, dem Beschuldigten die Bemühungen
um einen Täter-Opfer-Ausgleich aufzuerlegen.
Die Übermittlung von Daten, die nicht den Beschuldigten betreffen, nur mit Einwilligung der betroffenen
Personen ist kaum praktikabel. Dadurch könnten die Erfolgsaussichten des Programms verringert werden. In
Zu Protokoll gegebene Reden
jedem Fall muss es möglich sein, einen Tatvorgang, bei
dem naturgemäß auch das Opfer beteiligt gewesen ist,
ohne Rücksicht auf die Interessen des Opfers an die Therapiestelle weiterzugeben. Der Gesetzeswortlaut ist insoweit unklar.
Alles in allem gesehen handelt es sich hier jedoch um
einen Gesetzentwurf, der in der Praxis erprobt werden
sollte. Es ist davon auszugehen, dass tatsächlich eine
Verbesserung im Verhalten der Täter erreicht werden
kann. Insofern ist dem Gesetzentwurf trotz der beschriebenen Bedenken zuzustimmen.
Häusliche Gewalt, insbesondere Gewalt gegen
Frauen und Kinder, ist nach wie vor an der Tagesordnung in vielen Haushalten - auch in Deutschland. Sexuelle Übergriffe, psychische Folter oder körperliche
Misshandlungen: Es ist die Aufgabe von uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern, für einen umfassenden Rechtsrahmen beim Thema Opferschutz zu sorgen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen
bei sämtlichen Straftaten eng an der Seite der Opfer.
Der rheinland-pfälzische Vorschlag zur Stärkung der
Täterverantwortung passierte am 5. März 2010 den
Bundesrat und wurde am 7. April 2011 von uns in erster
Lesung diskutiert. Wir begrüßen die Vorlage des Gesetzentwurfes zu diesem wichtigen Thema sehr. Die vorgesehenen Gesetzesänderungen dienen dem vorbeugenden
Opferschutz und der Verhinderung von Kriminalität, indem die meist männlichen Gewalttäter stärker in die
Verantwortung genommen werden. Der Gesetzentwurf
trägt vor allem dem besonderen Schutzbedürfnis weiblicher Opfer Rechnung. Staatsanwältinnen und Staatsanwälten sowie Richterinnen und Richtern soll es künftig
möglich sein, dem Straftäter bzw. der Straftäterin die
Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs für die
Dauer von bis zu einem Jahr aufzugeben. Ziel dieser
Kurse ist es, Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen
bei den Straftätern zu erreichen, um diese durch die
Stärkung der Selbstkontrolle von der Wiederholung solcher Taten abzuhalten. Insbesondere die Auseinandersetzung der Täterinnen und Täter mit ihrer Gewaltbereitschaft muss das zentrale Element der Trainingskurse
sein.
Haftstrafen oder Geldstrafen führen nicht zwangsläufig zu einer kritischen und konstruktiven Auseinandersetzung der Täterinnen und Täter mit ihrem eigenen Verhalten. Die sogenannten Täterprogramme setzen genau
hier an, indem sie in individuellen Gesprächen und
Gruppensitzungen die Betroffenen mit ihrem Gewaltverhalten konfrontieren. Um vor allem Ersttäterinnen und
Ersttäter davor zu bewahren, weitere Straftaten zu begehen, stellen die Trainingsprogramme eine wichtige Möglichkeit dar. So können Täterinnen und Täter von Beginn
an von weiteren Straftaten abgehalten werden. Hierbei
gilt es, ein Abgleiten in verfestigte kriminelle Strukturen
zu verhindern.
Nach § 153 a Strafprozessordnung kann die Staatsanwaltschaft auch heute schon bei einem Vergehen vorläufig von der Erhebung einer öffentlichen Klage absehen
und stattdessen dem/der Beschuldigten Auflagen und
Weisungen, beispielsweise spezielle Trainings, erteilen.
Gemäß Strafprozessordnung muss eine Weisung innerhalb der vorgesehenen Sechsmonatsfrist erfüllt sein.
Dieser Zeitrahmen ist jedoch mit Blick auf die Qualitätsstandards der BAG „Täterarbeit Häusliche Gewalt“
kaum zu realisieren. Straftäterinnen und Straftäter benötigen einen ausreichend langen Prozess zur Änderung
des sozialen Verhaltens. Der zeitliche Prozess der Kurse
mit Vorbereitungen und Aufnahmeverfahren, Follow-upTerminen usw. war in der bisherigen Kürze wenig vielversprechend. Diese Zeit muss aber gewährleistet sein,
denn ein strukturiertes und professionell durchgeführtes
Programm benötigt in der Regel länger als sechs Monate. Der nun vorgelegte Entwurf sieht einen deutlich
längeren Zeitraum von bis zu einem Jahr vor. Der Katalog der Auflagen und Weisungen in § 153 a Abs. 1 StPO
soll um die Möglichkeit der Teilnahme an einem Täterprogramm erweitert und die Frist um sechs Monate verlängert werden. Ein sinnvoller Vorschlag, den wir gerne
unterstützen, ebenso wie die künftige Möglichkeit, auch
bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt die Teilnahme
von Trainings anzuordnen.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt darüber hinaus, dass der schon feststehende Fachbegriff „Täterprogramm“ durch den Begriff „sozialer Trainingskurs“
ersetzt wird. Damit stimmen wir der Gegenäußerung der
Bundesregierung zu. Zudem halten wir es im Sinne der
Opfer für eine wichtige Regelung, eine gesetzliche
Grundlage für die Übermittlung von personenbezogenen Daten zu schaffen, um dadurch der das Training
durchführenden Stelle die Möglichkeit zu eröffnen, die
Akten über den Sachverhalt einsehen zu können. Die ist
ein wichtiger Punkt, da so einer Verharmlosung der Täterin und des Täters entgegengewirkt werden kann. Täterinnen und Täter können in Zukunft bei ihrer Teilnahme an einem Trainingskurs ihr Verhalten nicht
harmloser darstellen, als es eigentlich war. Möglichen
Bagatellisierungstendenzen der Beschuldigten wird somit von Beginn an entgegengewirkt. Wichtig für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es aber
hier, dass die Daten nur an die mit sozialen Trainingskursen betrauten Stellen übermittelt werden dürfen, sofern die betroffenen Personen der Übermittlung zugestimmt haben. Der Schutz der persönlichen Daten muss
auch hier an erster Stelle stehen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wichtige
Änderungen zur Stärkung der Täterverantwortung übernommen. Im Sinne des Opferschutzes stimmen meine
Fraktion und ich den Gesetzesänderungen gerne zu.
Mit der heutigen zweiten und dritten Beratung zum
Gesetzentwurf des Bundesrates zur Stärkung der Täterverantwortung schließen wir eine Initiative aus den Ländern ab, die zu einer Verbesserung der Möglichkeiten
führt, Straftäter über staatsanwaltliche oder gerichtliche Weisungen qualifizierten Täterprogrammen zuzuweisen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zu begrüßen sind die Änderungsvorschläge des Bundesministeriums der Justiz.
Zum einen wird vorgeschlagen, den vorgesehenen Begriff „Täterprogramm“ durch den Begriff „sozialer
Trainingskurs“ zu ersetzen. Dieser neue Begriff bringt
den Sinn und Zweck des Gesetzentwurfs besser zum Ausdruck, da sich - wie die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu Recht kritisiert - mit Blick auf noch nicht
verurteilte Personen in einer Gesetzesnorm die Bezeichnung „Täter“ verbietet.
Zum anderen sind die Änderungen, die in einem
neuen Abs. 4 des § 153 a StPO eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Übermittlung von personenbezogenen Daten an die aufgrund einer Weisung mit einem sozialen Trainingskurs befassten Stelle schaffen,
sehr zu begrüßen. Das Akteneinsichtsrecht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für personenbezogene inhaltliche Daten des Täters in den Projekten der Täterarbeit
ist notwendig. Die Kenntnis des Trainers über den Sachverhalt und die Hintergründe des Täters sind für eine
wirksame Therapie erforderlich.
Es wird jedoch der Umfang der Datenübermittlung
auf das Nötigste begrenzt. Durch eine Bezugnahme auf
die vergleichbare Regelung beim Täter-Opfer-Ausgleich
wird sichergestellt, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten, die nicht den Beschuldigten betreffen,
nur bei Einwilligung der betroffenen Personen zulässig
ist. Damit wird den Interessen dieser Personen, insbesondere der Opfer, Rechnung getragen. Es wird sichergestellt, dass personenbezogene Daten, die gerade bei
Gewaltproblemen in sozialen Näheverhältnissen sehr
sensibler Natur sein können, nur mit Einwilligung der
betroffenen Personen übermittelt werden. Diese Informationen werden in der Regel nur an private Stellen
weitergeleitet, die mit der Durchführung des sozialen
Trainingskurses befasst sind.
Die nun vorgeschlagenen Änderungen beseitigen die
letzten Schwachpunkte des Entwurfs und garantieren somit den Erfolg dieser Initiative.
Die Koalition hat sich den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Stärkung der Täterverantwortung zu eigen
gemacht, und deshalb debattieren wir ihn heute zum
zweiten Mal.
Was den Konsens anbelangt, auf den wir uns berufen
können, so hat sich seit der ersten Lesung nichts geändert: Wir sind uns einig darin, dass häusliche Gewalt ein
sehr ernst zu nehmendes Problem ist. Wir sind uns auch
einig darin, dass die Täterverantwortung gestärkt und
vor allem die Präventionsarbeit verbessert werden
muss. Wir sind uns ebenso darin einig, dass Täterprogramme ein guter Ansatz sind, zu Verhaltensänderungen
beizutragen, und dass häusliche Gewalt gesellschaftlich
geächtet werden muss. Wir müssen aber auch konstatieren, dass häusliche Gewalt noch immer allzu häufig als
Kavaliersdelikt gilt und die Dunkelziffer hoch ist. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar.
Für das Jahr 2011 hat das Bundeskriminalamt erstmals ausgewiesen, welche von den insgesamt 662 Menschen, die Opfer von Mord und Totschlag wurden, mit
dem Täter verwandt waren. 26,9 Prozent der Täter waren aktuelle oder ehemalige Lebenspartner der Opfer, in
zwei Dritteln dieser Fälle waren Opfer und Täter zur
Tatzeit verheiratet ({0}). Eine Studie des Familienministeriums besagt, dass hierzulande jede vierte Frau zwischen 16 und
85 Jahren Erfahrungen mit häuslicher Gewalt machen
musste. Das ist eine erschreckend hohe Zahl, hinter der
sich Leid, Demütigung, Hilflosigkeit und viel zu viel
Gleichgültigkeit verbirgt.
Von häuslicher Gewalt Betroffenen muss schnell und
unbürokratisch geholfen werden. Aber was passiert beispielsweise im Hinblick auf Frauenhäuser? Die Linke
fordert eine bundesweit einheitliche Finanzierung der
Frauenhäuser und einen ungehinderten Zugang für alle
betroffenen Frauen und deren Kinder, unabhängig von
sozialer oder ethnischer Herkunft. Täterprogramme
sind notwendig und wichtig, aber die Opfer sollten nicht
unberücksichtigt bleiben. Wenn der Rechtsanspruch auf
eine Zufluchtsmöglichkeit in allen Fällen von Gewalt als
freiwillige Leistung gewährt wird, führt dies, auch wegen der Steuerpolitik der Regierung, zulasten der Kommunen, häufig zu weitreichenden Kürzungen und damit
zur Einschränkung von Schutz- und Hilfsmöglichkeiten.
Unser Problem mit dem Gesetzentwurf bleibt weiterhin ein rechtspolitisches. Unser Problem ist die Fortschreibung des strafrechtlichen Deals, wie er durch die
Verlängerung der Frist in § 153 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6
StPO vorgeschlagen wird. Wir wollen eben nicht die Legalisierung des Deals, sondern dessen gesetzliches Verbot für alle nicht geringfügigen Straftaten.
Worum geht es genau? Wir sind uns einig, dass häusliche Gewalt keine geringfügige Straftat ist. Warum wollen Sie dann aber die Ausweitung einer bereits bestehenden Dealregelung? Wenn wir uns einig sind, dass in
Fällen häuslicher Gewalt zum Opferschutz und zur
Prävention Täterprogramme durchzuführen sind mit
dem Ziel, Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderungen vorzunehmen, dann ist nicht nachvollziehbar, dass
bei Teilnahme an solchen Programmen das Verfahren
eingestellt wird. Das heißt doch nichts anderes als: Du
darfst prügeln, und wenn du danach ein Täterprogramm
besuchst, dann stellen wir das Strafverfahren ein. - Das
ist und es bleibt ein Skandal. Solange der Deal im Strafrecht als probates Mittel angesehen wird, können wir
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Dem Gesetzentwurf hätte es ebenso gut zu Gesicht
gestanden, wenn er umfassender gewesen wäre und
gleichzeitig sicherstellen würde, dass genügend gute Täterprojekte vorhanden sind. Häufig ist es doch so, dass
es keine Therapieplätze gibt und die Prävention und der
Opferschutz auch daran scheitern. Allein eine Festschreibung in der StPO führt nicht dazu, dass genügend
Täterprogramme vorhanden sind, und das erscheint uns
zumindest als ein mindestens ebenso großes Problem.
Wir fordern ein umfassendes Konzept im Umgang mit
häuslicher Gewalt. Sie ist kein Kavaliersdelikt und muss
Zu Protokoll gegebene Reden
geächtet werden. Die Ausfinanzierung von Frauenhäusern und die Bereitstellung von Täterprogrammen sind
notwendige Maßnahmen, die auch unterstreichen würden, dass wir es mit unserem Anliegen ernst meinen.
Die Aufnahme von Programmen zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens in die Weisungskataloge des
§ 153 a StPO und des § 59 a StGB ist eine längst überfällige Öffnung hin zu einem modernen Strafrecht. Gerade bei gewalttätigem Verhalten können Programme,
die sich mit pädagogisch-therapeutischen Ansätzen der
Reduktion von Agressionspotenzialen nähern, erfolgreich einen wesentlichen Beitrag zum zukünftigen Opferschutz leisten. Der Intention des Gesetzentwurfs des
Bundesrates stimmen wir zu. Natürlich kann dies jedoch
nur der Anfang einer Reform des Sanktionenrechts sein,
in welcher sich das deutsche Strafrecht zu den Vorteilen
der Diversion bekennt und zielführende Konzepte als Ersatz oder Vorstufe für Geld- oder Freiheitsstrafen vorlegt.
Begrüßenswert ist ebenfalls, dass die Koalitionsfraktionen sich in ihrem im Ausschuss vorgelegten Änderungsantrag von dem Begriff des Täterprogramms entfernen, dessen Verwendung sich im Zusammenhang mit
nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten verbietet.
Es ist ihnen aber nicht gelungen, einen Begriff zu wählen, der das Ziel dieses Gesetzentwurfs, nämlich die
Prävention von gewalttätigem Verhalten, deutlich
macht. Der von der Koalition als Ersatz für „Täterprogramme“ vorgeschlagene Begriff des sozialen Trainingskurses orientiert sich an der im Jugendstrafrecht
bereits eingeführten Weisung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG.
Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts, der sich
im Begriff des sozialen Trainingskurses widerspiegelt,
ist jedoch im Erwachsenenstrafrecht fehl am Platze.
Im Sanktionenrecht für Erwachsene geht es nicht darum, mithilfe eines sozialen Trainings Erziehungsdefizite von erwachsenen Delinquenten auszugleichen. Vielmehr soll die Weisung explizit auf ein Programm zielen,
welches ein gewaltzentriertes und konfrontatives Unterstützungs- und Beratungsangebot zur Veränderung des
gewalttätigen Verhaltens von Beschuldigten bietet, um
so zukünftige Gewalt zu verhindern. Die Gewähr dieser
Inhalte bietet der Begriff des sozialen Trainingskurses
jedoch gerade nicht. Deshalb haben wir in unserem im
Ausschuss vorgelegten Änderungsantrag vorgeschlagen, den Begriff des Täterprogramms nicht gegen den
des sozialen Trainingsprogramms, sondern gegen den
Begriff des Programms zur Veränderung gewalttätigen
Verhaltens auszutauschen. Nur so wird die Zielsetzung
der Weisung - nämlich gerade die Gewaltprävention
insbesondere im häuslichen Bereich - zur Genüge deutlich gemacht.
Wir stimmen ausdrücklich der Forderung der Bundesregierung zu, den Gesetzentwurf dahin gehend zu ändern, dass personenbezogene Daten im Rahmen des
§ 155 b StPO mit Einwilligung des Beschuldigten an die
mit der Durchführung solcher Programme zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens befassten Stelle weitergegeben werden können. Die für ein erfolgreiches Programm zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens
notwendige Hintergrundinformationen zum Sachverhalt
dürfen nur mit Einwilligung des Sanktionierten weitergegeben werden, gerade weil die weiterzugebenden Daten teilweise hochsensibel und persönlich sind.
Leider bleibt der Vorschlag der Koalition im Bereich
der Fristenregelung des § 153 a StPO hinter dem Erforderlichen zurück. Gerade in Fällen der Weisung der
Wiedergutmachung des verursachten Schadens oder der
Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung löst die gesetzliche Frist von höchstens sechs
Monaten bei vielen Beschuldigten eine erhebliche Überforderung aus. In unserem Änderungsantrag haben wir
aus diesem Grund eine Angleichung der Frist zur Erfüllung aller Weisungen an die für die Weisung der Leistung von Unterhaltszahlungen gegebene Frist von zwölf
Monaten gefordert. Diesem sinnvollen und notwendigen
Signal an die Beschuldigten hat sich die Bundesregierung leider verwehrt.
Der Schritt der Bundesregierung hin zur Öffnung des
Sanktionenrecht gegenüber der Diversion ist begrüßenswert. Leider ist die Umsetzung hinter dem Notwendigen
zurückgeblieben. Unsere Änderungsanträge lehnen Sie
ab. Wir werden uns deshalb zum Gesetzentwurf des Bundesrates enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10164, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 17/1466 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto rückwirkend ab 1997 ermöglichen
- Drucksache 17/10094 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.
Zum System der menschenverachtenden und menschenvernichtenden Politik des Naziregimes gehörte
auch die Einrichtung von Ghettos, in dem vor allem jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen zusammengepfercht wurden.
Einen dramatischen Einblick in das Warschauer Ghetto
gab uns in diesem Jahr im Deutschen Bundestag Marcel
Reich-Ranicki mit seiner Rede zum Tag des Gedenkens
an die Opfer des Nationalsozialismus. Eine ganze Reihe
von Frauen und Männern, die den Naziterror und die
Ghettozeit überlebt haben, leben noch heute hochbetagt
unter uns. Sie waren damals als Kinder in die Ghettos
verbracht worden.
Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto, ZRBG, verabschiedet. Damit sollten
Arbeitsleistungen von Verfolgten in den vom Dritten
Reich eingerichteten Ghettos als „Beschäftigung“ gewertet werden, für die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen sind. Damit wurde fraktionsübergreifend entschieden, eine gesetzliche Grundlage zu
schaffen, um die in einem Ghetto ausgeübte Tätigkeit
rentenrechtlich als Beitragszeit zu berücksichtigen.
In der Folge dieses Gesetzes wurden aus aller Welt
mehr als 70 000 entsprechende Anträge gestellt, davon
etwa 30 000 aus Israel und mehr als 10 000 aus den USA
und Kanada. Weitere 1 000 Anträge gingen nicht sofort,
sondern erst Jahre später bei den deutschen Rentenversicherungsträgern ein. Wenn ein Antrag bis Mitte 2003
gestellt wurde, sollten die Ansprüche von monatlich
meist 100 bis 300 Euro rückwirkend ab Juli 1997 ausgezahlt werden.
In der ersten Antragswelle bis 2009 wurden allerdings rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt, weil nach
dem Vortrag der Antragsteller die gesetzlichen Voraussetzungen des ZRBG nicht nachgewiesen oder glaubhaft
gemacht werden konnten. Das Gesetz sieht nach seinem
Wortlaut vor, dass eine Rentenzahlung für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich
dort zwangsweise aufgehalten haben, nur bezahlt wird,
wenn die Beschäftigung „aus eigenem Willensentschluss“
zustande gekommen ist und „gegen Entgelt“ ausgeübt
wurde und sich das Ghetto in einem Gebiet befand, das
vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert
war. Hintergrund dieser Voraussetzungen war es, eine
Abgrenzung zur Zwangsarbeit herzustellen, die gesondert zu entschädigen ist.
Rückblickend muss man sagen, dass die in den ersten
Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes praktizierte
restriktive Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der
„Freiwilligkeit“ und „Entgeltlichkeit“ viel zu spät korrigiert worden ist. Erst mit den grundlegenden Urteilen
vom 2. und 3. Juni 2009 haben die Rentensenate des
Bundessozialgerichts neue, einfachere Leitlinien zur
Auslegung dieser beiden Kriterien aufgestellt und die
Kriterien im Lichte der Verhältnisse in den Ghettos ausgelegt. Vorausgegangen waren Untersuchungen über
die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Ghettos.
Damit konnten die hohen Ablehnungsquoten für die Zukunft vermieden werden; und es wurde sichergestellt,
dass die eigentliche Zielsetzung, nämlich den im Ghetto
Beschäftigten eine gesetzliche Rente zuzusprechen, nicht
ins Leere läuft. Das Gesetz zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto ist damit
zu einer wichtigen Grundlage geworden, die Menschen,
die in den Ghettos arbeiten und um ihr Überleben kämpfen mussten, in der gesetzlichen Rentenversicherung zu
berücksichtigen.
Im Sinne der neuen Rechtsprechung hat die Deutsche
Rentenversicherung alle im Juni 2009 noch offenen Verfahren bearbeitet. Alle Anträge, die zuvor abgelehnt
worden sind, wurden von Amts wegen erneut aufgegriffen und überprüft, ohne dass es eines neuen Antrags
oder der Meldung durch den oder die Betroffenen bedurfte. Die zuständigen Träger der Deutschen Rentenversicherung haben sich direkt mit den Betroffenen in
Verbindung gesetzt, wobei sich die Bearbeitungsreihenfolge nach den Geburtsjahrgängen der Betroffenen richtete.
Insgesamt wurden 56 753 Anträge überprüft, wobei
bei knapp 7 200 Fällen festgestellt werden musste, dass
der Bezug zum ZRBG fehlt. Von den verbleibenden
49 600 Fällen wurden rund 25 000 mit positivem Bewilligungsbescheid abgeschlossen. 3 000 Anträge wurden
abgelehnt. Etwa 22 000 Anträge konnten leider nicht mit
einem Bescheid abgeschlossen werden, weil die Betroffenen zum Beispiel verstorben und die Rechtsnachfolger
nicht ermittelt werden konnten, rund 7 000 Fälle, weil es
aufgrund der Prüfung zu keinem anderen Ergebnis kam
und der ursprüngliche Ablehnungsbescheid weiter Geltung behielt, 4 200 Fälle, oder weil die Überprüfung bereits an der Kontaktaufnahme mit den Betroffenen scheiterte, 10 000 Fälle.
Von diesen gemäß dem Urteil des Bundessozialgerichts vom Juni 2009 überprüften und bewilligten
25 000 Anträgen waren 3 500 wegen der Rechtsbehelfsbelehrung noch offene Fälle, für die Rente ab Juli 1997
gezahlt werden konnte. Für die restlichen 21 500 Betroffenen wurde die Rückwirkung auf vier Jahre bis 2005
gerechnet.
Insgesamt wurde ein Rentenvolumen von über
441 Millionen Euro nachgezahlt, davon 54 Millionen
Euro an Zinsen. Die laufenden monatlichen Rentenzahlungen belaufen sich auf rund 5 Millionen Euro.
Für die bis Juni 2009 bestandskräftig abgelehnten
Anträge wurde der im Sozialrecht für diese Fälle geltende § 44 SGB X herangezogen, der generell eine Rückwirkung auf vier Jahre vorsieht. Diese Begrenzung soll
die Rentenversicherung vor beitragssatzrelevanten unvorhergesehenen Ansprüchen schützen und für längere
Vergangenheitszeiträume Rechtsfrieden schaffen. Es ist
damit eine allgemein gültige Regelung im deutschen Sozialrecht.
Nach § 44 Abs. 1 SGB X hat jeder einen Anspruch auf
erneute Überprüfung, wenn sich ein früherer Bescheid
zu seinen Ungunsten als rechtswidrig erweist. In Abs. 4
der Vorschrift ist ferner geregelt, dass die Verwaltung
die Leistung für vier Jahre zurück zu erbringen hat,
Zu Protokoll gegebene Reden
Peter Weiß ({0})
wenn wegen der falschen Entscheidung Sozialleistungen
zu Unrecht nicht gezahlt worden sind.
Die Betroffenen fordern allerdings abweichend von
dieser allgemein gültigen Regelung eine Rückwirkung
bis 1997, wie dies in § 3 Abs. 1 ZRBG für bis zum
30. Juni 2003 gestellte Anträge vorgesehen ist, und haben dazu teilweise den Klageweg beschritten. Die Anwendung der Vierjahresfrist haben der 5. und der 13. Senat des Bundessozialgerichts in der Vergangenheit in
mehreren Fällen entschieden, zuletzt in einem Urteil
vom Februar 2012, dessen Begründung seit Mai 2012
vorliegt.
Bei denen, deren Anträge schon einmal bindend abgelehnt worden waren, wurde die Vierjahresfrist angewendet, die das Sozialrecht gemäß § 44 SGB X vorsieht,
der eine materiell-rechtliche Einschränkung für nachträglich zu erbringende Sozialleistungen vorsieht. Im
Gegensatz zu § 100 Abs. IV SGB VI, der als Sonderregelung zu § 44 SGB X die Rücknahme rechtswidriger nicht
begünstigender Verwaltungsakte im Bereich des SGB VI
regelt, haben die Rentenversicherungsträger damit bereits die günstigere Regelung angewandt. So wird nach
§ 44 SGB X eine rückwirkende Leistungserbringung
nicht wie bei § 100 Abs. IV SGB VI quasi ausgeschlossen, sondern auf einen maximalen Zeitraum von vier
Jahren begrenzt. Hintergrund dieser Regelung ist der
Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen an einer möglichst vollständigen Erbringung der ihm zu Unrecht vorenthaltenen Sozialleistungen und dem Interesse
der Solidargemeinschaft an einer Eingrenzung der Zeiträume und damit der Kalkulierbarkeit der finanziellen
Belastungen.
In der jetzt kürzlich erschienenen Urteilsbegründung
des 13. Senats wird im Gesamtzusammenhang auch darauf hingewiesen, dass die Berechtigten, die die Rente
ab 2005 erhalten, einen höheren Zugangsfaktor zugerechnet erhalten, also höhere Rentenzuschläge bekommen als bei einem Rentenbeginn im Jahr 1997. Diese
Rentenzuschläge resultieren aus den Zuschlägen für jeden Monat, den die Rente nach dem 65. Lebensjahr nicht
bezogen wurde. Dadurch kann ein um 45 Prozent höherer Rentenbezug ausbezahlt werden, als er sich bei einem Rentenbezug bereits ab 1997 ergeben würde. Im
Hinblick auf die Lebenserwartung der Betroffenen steht
damit die Frage im Raum, ob es nun sinnvoller ist, weniger monatliche Rente für mehr Jahre zu erhalten oder
mehr Rente für weniger Jahre, die aber auch in Zukunft
in dieser Höhe monatlich bezahlt wird.
Deshalb rate ich uns dazu, keinen Prinzipienstreit zu
führen über die Fragen der Rückwirkung. Für die Betroffenen ist doch wesentlich, dass sie aktuell eine angemessene Rentenzahlung erhalten. Dank dem höherem
Zugangsfaktor kann auch bei nur vierjähriger Rückwirkung eine insgesamt sogar höhere Rentenleistung begründet werden. Finanziell wird in der Regel also kaum
eine Schlechterstellung bewirkt.
Hinzu kommt, dass die Berechtigten nach dem Gesetz
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto neben einer Ghettorente eine einmalige
Anerkennungsleistung von 2 000 Euro vom Bundesamt
für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen nach
der Anerkennungsrichtlinie vom 1. Oktober 2007 erhalten. Diese Richtlinie ist ursprünglich 2007 als Alternative zur Ghettorente geschaffen worden, nachdem rund
90 Prozent der Anträge abgelehnt worden waren. Die
Anerkennungsleistung wird aber seit der Änderung der
Richtlinie im Juli 2011 zusätzlich zu der Ghettorente bezahlt. Anträge auf diese Anerkennungsleistung können
unbefristet gestellt werden.
Nun wird unter anderem vorgeschlagen, denjenigen,
für die die vierjährige Rückwirkung gilt, eine weitere
Einmalleistung zu gewähren. Dies birgt die Schwierigkeit, dass dadurch alle Fälle, die von vornherein positiv
beschieden worden sind, schlechter gestellt würden,
ebenso diejenigen, die ihre Anträge erst später gestellt
haben, und es würden somit neue Ungerechtigkeiten
hervorgerufen.
Hinzu kommt, dass auch die Höhe der Einmalleistung
nicht bestimmbar ist. Wählt man eine pauschalierte Einmalzahlung, würde man außer Acht lassen, dass die derzeitigen monatlichen Renten sehr unterschiedlich sind.
So gibt es Rentnerinnen und Rentner, die lediglich
25 Euro Ghettorente erhalten, aber auch solche, die
über 300 Euro erhalten. Ein einheitlicher Einmalbetrag
wäre hier wohl kaum nachvollziehbar. Bei individualisierten Lösungsvorschlägen oder Wahlrechtmöglichkeiten stellt sich das Problem der Einzelberechnung, des
bürokratischen Aufwandes im Verhältnis zum Nutzen;
denn es ist rechnerisch durchaus denkbar, dass sich für
einige Betroffene auch eine schlechtere als die derzeitige Lösung ergeben könnte.
Rentenmathematisch führt die derzeitige Rechtslage
für einen Großteil der Fallgruppen bereits zu einer in
der Gesamtschau ausgeglichenen Lösung, indem der
versicherungsmathematische Ausgleich für diejenige
Gruppe, die unter § 44 SGB X fällt, durch den erhöhten
Zugangsfaktor inklusive zusätzlichen Zinsen für den
späteren Rentenbeginn die verlorenen Jahre ab Juli
1997 ausgleicht. Weitere Änderungen würden wahrscheinlich wieder zu neuen Benachteiligungen oder ungewollten Verschiebungen führen.
Wir sollten in den Ausschussberatungen diese Gesichtspunkte nochmals gemeinsam genau prüfen und beraten. Und wir sollten dabei beachten, dass es nicht nur
um die richtige Rentensystematik oder Prinzipienreiterei
geht; es geht darum, Menschen, die durch das Naziregime ins Ghetto gezwungen wurden, ein Stück Gerechtigkeit durch eine Rentenleistung widerfahren zu lassen.
Erst vor einigen Monaten, am 26. Januar dieses Jahres, haben wir die Probleme bei der rückwirkenden
Auszahlung der Renten nach dem ZRBG - Gesetz zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto - hier im Haus beraten. Anlass war ein
Antrag der Fraktion Die Linke, der für alle fristgerecht
gestellten Anträge nach dem ZRBG die Zahlung einer
Rente, wie im Gesetz vorgesehen, ab 1997 fordert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Januar hatten wir noch gehofft, dass die für den
7. und 8. Februar 2012 angekündigten Urteile des Bundessozialgerichts die gängige Rechtsanwendung nicht
bestätigen, wonach zunächst bindend abgelehnte Anträge und die, die nach Urteilen des BSG aus dem Jahr
2009 überprüft wurden, erst ab 2005 und nicht bereits
ab 1997 gezahlt werden dürfen. Leider ist es anders gekommen. Ein politisches Eingreifen hat sich damit aber
keineswegs erübrigt, sondern ergibt sich gerade auch
aus den Urteilsbegründungen.
Die beiden Urteile des BSG haben die gängige
Rechtsanwendung bestätigt, was der ursprünglichen
Intention des Gesetzgebers aber widerspricht. Daher
legen wir heute unseren Antrag „Rentenzahlungen für
Beschäftigungen in einem Ghetto rückwirkend ab 1997
ermöglichen“ vor, der den Betroffenen helfen soll, ihre
Ansprüche tatsächlich zum frühestmöglichen Zeitpunkt
geltend zu machen. Tun wir nichts, bleibt es bei der paradoxen Situation, dass nur ein kleiner Teil der Berechtigten trotz fristgerechter Antragstellung in den Genuss
einer Rente ab 1997 kommt: Rund 21 500 Personen erhalten ihre Rente erst ab dem Jahr 2005 und nur rund
3 500 ab dem Jahr 1997.
Die Gewährung der sogenannten Ghettorente ergänzt
das bestehende Entschädigungsrecht nach Zwangsarbeit und ist damit Teil deutscher Wiedergutmachung
nach dem Terror der Nationalsozialisten. Das im Jahr
2002 verkündete ZRBG regelt die Voraussetzungen.
Leistungen werden bei rechtzeitiger Antragstellung ab
1997 gewährt, dem Beginn der „Ghettorechtsprechung“. Wer bis zum 30. Juni 2003 einen Antrag auf
Ghettorente gestellt hat, soll, unabhängig vom Zeitpunkt
der tatsächlichen Bewilligung, ab 1997 auch Leistungen
erhalten.
Leider führten die folgenden Anträge auf eine Rente
nach dem ZRGB in den allermeisten Fällen zu einer
Ablehnung. Insbesondere die in der gesetzlichen Rentenversicherung geltenden Kriterien der „Freiwilligkeit“
sowie der „Entgeltlichkeit“ waren kaum zu erfüllen.
Erst im Jahr 2009 lockerte das BSG die Auslegung.
Noch zuvor war am 1. Oktober 2007 vor dem Hintergrund der sehr hohen Ablehnungsquote der Anträge
nach dem ZRBG eine Richtlinie der Bundesregierung
erlassen worden. Seitdem können Verfolgte im Sinne des
§ 1 des Bundesentschädigungsgesetzes, die sich zwangsweise in einem Ghetto im nationalsozialistischen Einflussgebiet aufhielten, eine einmalige Leistung in Höhe
von 2 000 Euro erhalten, wenn für diese Arbeit keine
Leistung im Rahmen der Entschädigung nach Zwangsarbeit gezahlt wurde.
Im Nachgang zu den Urteilen des BSG von 2009 hat
die Deutsche Rentenversicherung eine Überprüfung der
abgelehnten Anträge vorgenommen, die weitgehend abgeschlossen ist. Mehrere Tausende Berechtigte erhalten
nun Renten nach dem ZRBG. Darunter befinden sich
viele, deren Anträge vor der Änderung der Rechtsprechung bereits einmal bindend abgelehnt worden waren.
Genau hier liegt der wunde Punkt: Für diese Antragsteller begannen die Rentenzahlungen nicht rückwirkend
zum 1. Juli 1997, wie dies § 3 Abs. 1 ZRBG für bis zum
30. Juni 2003 gestellte Anträge vorsieht. Vielmehr haben die Rentenversicherungsträger die Renten erst ab
1. Januar 2005 gezahlt, wenn aufgrund der neuen
Rechtsprechung im Jahr 2009 überprüft wurde. Insofern
kam § 44 SGB X zur Anwendung. Nach dessen Abs. 1
hat jeder einen Anspruch auf erneute Überprüfung,
wenn sich ein früherer Bescheid zu seinen Ungunsten als
rechtswidrig erweist. In Abs. 4 der Vorschrift ist darüber
hinaus festgelegt, dass dann Leistungen für vier Jahre
rückwirkend zu erbringen sind.
Genau diese Praxis bestätigte das BSG im Februar
dieses Jahres. Das Urteil des 13. Senats des BSG sieht
die Prinzipien der Wiedergutmachung durch die Begrenzung der rückwirkenden Auszahlung auf vier Jahre nach
§ 44 Abs. 4 SGB X nicht verletzt, soweit die Verfahren
bestandskräftig waren, weil es sich um renten- bzw. sozialversicherungsrechtliche Belange handelt. Ein Sonderstatus wird daher für das ZRBG nicht anerkannt.
Zum anderen weist der Senat auf die Wirkung des erhöhten Zugangsfaktors hin, der bei einem zeitlichen
Aufschub des Rentenbeginns den Zahlbetrag steigert
und somit einen Teilausgleich für den späteren Beginn
der Rentenauszahlung bietet. Der erhöhte Zugangsfaktor honoriert über einen Zuschlag von monatlich
0,5 Prozent den aufgeschobenen Ruhestand. Honoriert
wird der spätere Rentenzugang, weil sich dadurch die
Rentenbezugsdauer und damit der Gesamtrentenzahlbetrag verringert. Er wirkt in die Zukunft, was bedeutet:
Er wirkt sich nur positiv aus bei einer hohen, fernen
Lebenserwartung. Ein Versicherter des Jahrgangs 1920
mit einer durchschnittlichen Rente, für den ein erhöhter
Zugangsfaktor ab dem Jahr 2005 zum Tragen kommt,
fährt schlechter als bei einem rückwirkenden Rentenbeginn ab 1997 trotz eines entsprechend niedrigeren
Zugangsfaktors - und das selbst bis zu einem Lebensalter von 95 Jahren. Der höhere Zugangsfaktor kann die
von 1997 bis 2005 entgangenen Rentenzahlungen nicht
ausgleichen.
Der 13. Senat macht darüber hinaus in seiner Urteilsbegründung deutlich, dass die Gewährung des erhöhten
Zugangsfaktors für seine Entscheidung nicht relevant
ist. Dies ist wichtig, weil vor allem seitens der CDU/
CSU immer wieder auf dessen ausgleichenden Effekt
hingewiesen wurde. Eine Verknüpfung von Zugangsfaktor und eingeschränkter Rückwirkung erscheint uns vor
dem Hintergrund des dargestellten Resultats jedoch
äußerst unbefriedigend. Schließlich wurde der Rentenbeginn von den Betroffenen nicht freiwillig aufgeschoben, sondern der Aufschub ist Ausdruck der unklaren
Rechtslage, die mit der Umsetzung des ZRBG einherging. Es hat sieben Jahre gedauert, bis das BSG mit seiner Rechtsprechung zur Ghettorente Klarheit bei der
Anwendung des ZRBG für die Rentenversicherungsträger schaffen konnte. Darüber hinaus hatten die Betroffenen kaum Einfluss darauf, zu welchem Zeitpunkt die Ablehnung ihrer Anträge bindend wurde. Dies wiederum
hing vor allem vom Arbeitsaufkommen bei den zuständigen Gerichten ab und davon, in welcher Reihenfolge die
Verfahren abgearbeitet wurden. Damit blieb es also eher
dem Zufall überlassen, welche Verfahren noch offen und
Zu Protokoll gegebene Reden
welche schon bindend entschieden waren - keine gute
Grundlage für die Gleichbehandlung der Antragsteller.
Der ebenfalls entscheidende 5. Senat des BSG weist
zudem darauf hin, dass eine weitere Rechtsfortbildung,
wie beispielsweise bei der Nichtanwendung des § 306
Abs. 1 SGB VI für Bestandsrentner geschehen, zur Verwirklichung der Ziele des ZRBG hier an ihre Grenzen
stößt. Daher sei auch die Anwendung der Rechtsvorschriften im Sinne des § 44 Abs. 4 SGB X unumgänglich.
Alles Weitere müsse nun der Gesetzgeber selbst in die
Hand nehmen. Hierzu führt der 5. Senat aus: „Die nachträgliche Anordnung der Nichtanwendbarkeit des § 44
Abs. 4 SGB X im hier maßgeblichen Zusammenhang ist
daher allein Sache des Gesetzgebers; die Rechtsprechung ist hierzu nicht befugt, auch wenn der Senat dieses Ergebnis für wünschenswert hielte.“ Genau dieses
wünschenswerte Ergebnis sollte unser Ziel sein, um dem
letzten Kapitel der Wiedergutmachung zu einem würdigen Abschluss zu verhelfen.
Mit der Überprüfung der zunächst abgelehnten Anträge durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung seit 2009 hat sich herausgestellt, dass mittlerweile
circa 7 000 Antragssteller verstorben sind und zu vielen
Tausend - trotz erheblicher Bemühungen - kein Kontakt
mehr hergestellt werden konnte. Diese Zahlen unterstreichen die besondere Dringlichkeit für eine abschließende und zufriedenstellende Lösung. Daher fordern wir
mit dem gemeinsamen Antrag von Grünen und SPD die
Bundesregierung zum Handeln auf. Trotz einiger Bedenken und Schwierigkeiten - das Wohl der Berechtigten
muss der Maßstab unserer Politik sein. Dabei schlagen
wir zwei Lösungswege vor:
Erstens. Für ehemalige Ghettoinsassen wird bei fristgerecht gestellten, aber zunächst bestandskräftig abgelehnten und erst nach 2009 bewilligten Rentenanträgen
aus dem ZRBG eine rückwirkende Auszahlung der Rente
ab dem 1. Juli 1997 ermöglicht. Zweitens. Alternativ ist
- bei Verzicht auf die Verlängerung der Rückwirkung eine Änderung der „Richtlinie der Bundesregierung
über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit
in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war ({0})“ vom 20. Dezember 2011 vorzunehmen,
sodass der Betrag, der sich aus der Summe der monatlichen Rentenzahlungen bei einem Rentenbeginn ab dem
Jahr 1997 ergeben hätte, als Kapitalzahlung zu gewähren ist.
Unser Antrag unterscheidet sich in seiner Zielrichtung nicht von dem der Linken, wir eröffnen aber eine
Alternative zu der rentenrechtlichen Lösung. Bei der
rentenrechtlichen Regelung ist klar, dass diese einen hohen Verwaltungs- und Vermittlungsaufwand mit sich
bringt, weil auch eine Rentenneuberechnung notwendig
wäre. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass zudem der
Zugangsfaktor durch den früheren Rentenzugang geringer ausfiele: Die Menschen erhielten zwar für einen längeren Zeitraum rückwirkend Rentennachzahlungen, die
zukünftigen Rentenleistungen fielen allerdings geringer
aus. Ob diese dem Prinzip der Rentenversicherung entsprechende Regelung wirklich dem Rechtsfrieden dient,
lasse ich einmal dahingestellt. Der andere Weg über die
„Anerkennungsrichtlinie“ ist daher nicht nur der
schnellere, sondern in meinen Augen auch der bessere:
Es wäre lediglich ein Kabinettsbeschluss notwendig,
und eine Kapitalzahlung könnte den entstandenen finanziellen Schaden bei den Betroffenen beheben.
Wir haben in den vergangenen Wochen Gespräche
mit allen im Bundestag vertretenen Fraktionen geführt.
Alle waren sich einig darüber, dass durch die Einschränkung der Nachzahlung eine schwer zu begründende
Ungleichbehandlung entstanden ist, die nur schwer mit
den Zielen der Wiedergutmachungspolitik zu versöhnen
ist. Unser gemeinsames Ziel war zunächst, Lösungsmöglichkeiten zu sondieren. Oberste Priorität sollten dabei
Regelungen haben, die eine schnelle und möglichst
unbürokratische Lösung herbeiführen könnten. Die
Koalitionsfraktionen bezogen aber zu den diskutierten
Lösungsvorschlägen keine eindeutige Stellung.
Der vorliegende Antrag steht allerdings unseres Erachtens der Fortführung unseres Dialogs nicht entgegen. Dabei wünschen wir uns aber Impulse in Richtung
einer Lösung des Problems. Bisher hat vor allem die
CDU/CSU den Bedenken große Aufmerksamkeit geschenkt, ohne erkennen zu lassen, ob sie das Problem
tatsächlich aus der Welt räumen will. Das ZRBG gehört
zwar zum Rentenrecht, stellt unseres Erachtens aber
eine Sonderregelung dar; dies liegt in der besonderen
historischen Konstellation und den extremen Bedingungen begründet, unter denen die Verfolgten in den Ghettos der Nationalsozialisten zu leiden hatten.
Daher ist unser Ziel, der ursprünglichen Intention
des ZRBG, eine Lücke im Recht der Wiedergutmachung
für alle Ghettoüberlebenden zu schließen, zum Durchbruch zu verhelfen; denn wie sich der Sachverhalt jetzt
darstellt, werden verursacht durch den langen Klärungsprozess nicht alle Betroffenen tatsächlich gleich
behandelt.
Der Deutsche Bundestag war, ist und bleibt sich seiner Verantwortung für die Bewältigung aller Folgen des
nationalsozialistischen Regimes bewusst. Die Art und
Weise, wie wir in den letzten Jahren etwa Fragen der
Wiedergutmachung debattiert haben, belegt meines Erachtens auch sehr deutlich, dass sich alle Fraktionen im
Deutschen Bundestag der besonderen Sensibilität dieser
Themen bewusst sind.
In einer Stellungnahme vor wenigen Monaten habe
ich deshalb meine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass der Bundestag bei der Frage der Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto „wie in
der Vergangenheit auf einer sehr breiten - ich hoffe einstimmigen - Basis agieren wird.“ Es ist bedauerlich,
dass die bisher geführten Gespräche der Berichterstatter untereinander und mit den Fachleuten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nicht zu dieser Einstimmigkeit führen. Das ist insbesondere deswegen
bedauerlich, weil wir im Grunde uns alle einig sind.
Niemand hier in diesem Hause ist bereit, eine Benachteiligung früherer Ghettoinsassen hinzunehmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Unsere unterschiedlichen Vorschläge beruhen auf unterschiedlichen Schlüssen im Hinblick auf die Rechtssystematik unseres Rentensystems.
Erlittenem Unrecht mit den Möglichkeiten unseres
deutschen Rentenrechts zu begegnen, ist schwierig, Einzelfallgerechtigkeit auf diesem Wege zu erreichen, gänzlich unmöglich. Das war übrigens der Grund, weswegen
ich mich auch schon beizeiten für meine Fraktion eher
skeptisch gegenüber der rentenrechtlichen Lösung geäußert hatte.
Dennoch haben wir gemeinsam im Jahr 2002 - einstimmig - diesen Weg beschritten. Da die praktische
Umsetzung durch die Rentenversicherungsträger und
Sozialgerichte nicht im Sinne unserer damaligen Vorstellungen erfolgte, hieß es nachzujustieren. Dies ist in
mehrfacher Hinsicht erfolgt: erstens in Form der seit
2007 geltenden „Richtlinie der Bundesregierung über
eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war“. Sie gewährt
Anerkennungsleistungen, die Rentenzahlungen je nach
Fallgestaltung ersetzen oder auch ergänzen. Zweitens in
Form grundlegender Urteile des Bundessozialgerichts,
die 2009 eine bis dahin äußerst restriktive Auslegung
der rentenrechtlichen Voraussetzungen ersetzt haben. In
der Folge wurden alle bis dahin abgelehnten Rentenanträge von Amts wegen erneut überprüft.
Da ein großer Teil der zuvor abgelehnten Anträge danach positiv beschieden wurde, stellte und stellt sich die
Frage einer verlängerten Rückwirkung, also die Frage,
ob in diesen Fällen eine rückwirkende Auszahlung der
Rente ab dem 1. Juli 1997 möglich sein soll.
Wir haben diese Frage in den letzten Wochen sehr intensiv diskutiert und anhand von verschiedenen Annahmen auch ganz konkret in den finanziellen Auswirkungen betrachtet.
Dabei war insbesondere auch zu berücksichtigen,
dass für erst später gewährte Rentenzahlungen Zuschläge von 6 Prozent pro Jahr zu berücksichtigen
sind - und zwar für die Nichtbezugszeit seit 1997. Dadurch können deutlich höhere Rentenzahlbeträge festgestellt werden. Je nach Geburtsjahr und Geschlecht oder
mit Blick auf eventuelle Hinterbliebenenrenten gibt es
einen Streubereich der zu erwartenden rentenrechtlichen Gesamtleistung. Ob die verlängerte Rückwirkung
oder der spätere Zahlungsbeginn mit Zuschlägen im
Einzelfall zu besseren Ergebnissen führt, hängt sehr
stark von den individuellen Verhältnissen ab. Eine Verlängerung der Rückwirkung erscheint danach jedenfalls
nicht zwingend. Mit Blick auf die bei einer Verlängerung
der Rückwirkung erforderlichen Rentenneuberechnungen und Rentenzahlungsverrechnungen ist vielmehr davon auszugehen, dass hier neue Ungerechtigkeiten geschaffen würden. Jedenfalls wäre dieser Weg den
Betroffenen schwer zu vermitteln.
Das ist auch der Grund, weswegen SPD und Grüne in
ihrem Antrag gleich die Alternative mit einer Ausweitung der Anerkennungsleistungen benennen. Eine
„Richtlinie über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit im Ghetto, die keine Zwangsarbeit
war“, gibt es - wie erwähnt - ja bereits. Und diese
Richtlinie ist erst im Dezember 2011 genau in diesem
Sinne geändert worden. Seitdem gibt es die Möglichkeit
der rückwirkenden Anerkennungsleistung auch zusätzlich zur Rente. Diese Leistung in der Form nun so auszuweiten, wie es die Antragsteller vorschlagen, führte
ebenfalls zu komplizierten Verrechnungen zwischen laufenden Rentenzahlungen und einmaligen Kapitalauszahlungen, deren Ergebnis sicher keineswegs im Interesse
jedes Empfängers liegen würde. Schon deshalb rate ich
davon ab.
Im Bewusstsein dieser sehr komplizierten Materie
sage ich zu, nach wie vor an der Suche nach einem breiten Konsens bei der sorgfältigen Abwägung mitzuwirken. Den Antrag in der vorliegenden Form vermag ich
indes nicht zu unterstützen.
Vor einem halben Jahr hat die Linke einen Antrag
eingebracht, der fordert, dass die Renten für NS-Opfer,
die im Ghetto geschuftet haben, rückwirkend ab 1997
ausbezahlt werden sollen. So hatte es der Bundestag vor
fast zehn Jahren beschlossen, so wurde es aber nicht umgesetzt. Verantwortlich dafür waren zu enge Auslegungen in der Gesetzesanwendung. Sie kennen die Stichwörter: Die Arbeit im Ghetto erbrachte nur dann
Rentenansprüche, wenn sie freiwillig erfolgte und es ein
Entgelt gab. Das haben die Rentenversicherungsträger
nach unseren heutigen Maßstäben geprüft, anstatt nach
den konkreten Bedingungen im Ghetto. Folge war die
massenhafte Ablehnung von Rentenanträgen, bis der
Bundesgerichtshof endlich ein verbindliches Urteil
fällte, um das geradezurücken. Das war 2009, und weil
es im Sozialrecht eine maximale Rückwirkungszeit von
vier Jahren gibt, erhalten die allermeisten NS-Opfer ihre
Rente erst mit Wirkung ab 2005 - und nicht schon ab
1997, wie es der Bundestag einmal einstimmig beschlossen hatte. Anders ausgedrückt: Weil es auf unserer Seite
- bei den Rententrägern, den Gerichten und auch im
Parlament - Fehler gegeben hat, müssen die NS-Opfer
auf einen Teil der zugesagten Gelder verzichten. Tausende sind schon gestorben, ohne je einen Cent Rente
erhalten zu haben.
Um gutzumachen, was noch gutzumachen geht, hat
die Linke, wie erwähnt, vor einem halben Jahr einen Antrag eingebracht. Jetzt ziehen Grüne und SPD mit einem
eigenen Antrag nach, der inhaltlich nichts anderes fordert. Einerseits freut es mich, dass sie unsere Stoßrichtung teilen, andererseits frage ich mich, warum sie ihr
eigenes Süppchen kochen müssen. Aber immerhin:
Wichtig für die Linke ist, dass die noch lebenden ehemaligen Ghettoinsassen schnellstmöglich kriegen, was wir
ihnen zugesagt hatten - wohlgemerkt, was wir alle ihnen
zugesagt hatten. Das gilt auch für CDU, CSU und FDP,
die damals ebenfalls für das Ghettorentengesetz gestimmt haben und jetzt so tun, als gehe sie das nichts
mehr an. Seit Monaten verzögern die Regierungsfraktionen im Ausschuss die Beratung unseres Antrags, laden
erst zu Berichterstattergesprächen ein und dann wieder
aus, um am Ende zu erklären, sie würden die Hände in
den Schoß legen und sähen keinen Handlungsbedarf.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das ist wirklich beschämend und zeigt, wie diese Parteien mit NS-Opfern umgehen, wenn es keine starke
Lobby gibt, die sich für sie starkmacht.
In den letzten Wochen wurde viel mit Zahlen jongliert.
Um das einmal auf den Punkt zu bringen: Wir sprechen
hier von etwas über 20 000 NS-Opfern, denen bisher
siebeneinhalb Jahre Rentenzahlungen vorenthalten worden sind. Die Union hat, hinter den Kulissen, argumentiert, es brauche keine Nachzahlung, weil ja durch den
späteren Rentenbeginn der Zugangsfaktor erhöht worden sei, die monatlichen Zahlungen also höher ausfallen. Das stimmt, ist aber kein Argument gegen unseren
Antrag. Das können Sie leicht nachrechnen. Selbst die
Deutsche Rentenversicherung geht davon aus, dass die
Betroffenen, wenn unser Antrag verabschiedet würde,
eine Nachzahlung von im Durchschnitt 7 000 Euro erhalten würden. Selbst wenn, was wir nicht wollen, auf
eine Günstigerklausel verzichtet würde: Für die hochbetagten Leute sind diese 7 000 Euro unter Umständen
entscheidend, um sich einen Rollstuhl zu kaufen, ihre
Wohnung behindertengerecht umzubauen, eine Kur oder
auch eine letzte Reise in ihre alte Heimat zu finanzieren.
Es ist schlicht und einfach unrecht, ihnen dieses Geld
vorzuenthalten.
Ich habe schon gesagt: Für die Linke ist wichtig, dass
die NS-Opfer schnellstmöglich zu ihrem Recht kommen.
Ob das mithilfe unseres Antrags oder des SPD-GrünenAntrags, ob mit Variante A oder B passiert, ist für uns
zweitrangig. Den Kollegen von den anderen Oppositionsfraktionen muss man aber schon vorwerfen, dass
sie ihren Antrag erst jetzt, unmittelbar vor der Sommerpause einreichen. Das verzögert den ganzen Entscheidungsprozess mindestens bis zum Herbst, womöglich bis
zum Winter. Bis dahin werden wieder einige Hundert der
betroffenen NS-Opfer versterben. Ich appelliere deswegen an alle hier im Haus: Provozieren Sie keine weiteren
Verzögerungen!
Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom Deutschen
Bundestag beschlossen, und so sollte der 20. Juni 2002
eigentlich ein guter Tag für ehemalige Ghettoarbeiterinnen und -arbeiter sein. An diesem Tag, also vor fast genau zehn Jahren, hat das Gesetz zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto seine
Gültigkeit erlangt. Rot-Grün wollte mit dem ZRBG eine
Lücke in der Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts schließen. Eine Lücke, die das Bundessozialgericht im Jahr 1997 aufzeigte, als es die in einem
Ghetto ausgeübten Beschäftigungen als Beitragszeit in
der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannte. Es gewährt denjenigen Wiedergutmachung in Form von Rentenzahlungen, die sich zwangsweise in einem Ghetto
aufhielten und deren Beschäftigung „aus freiem Willensentschluss zustande gekommen ist“ und „gegen Entgelt ausgeübt wurde“.
Leider war die Umsetzung des Gesetzes in den letzten
zehn Jahren nicht so, wie wir alle uns das vorgestellt haben. So hatten über 20 000 Betroffene zunächst gar keinen Anspruch, ihn dann zwar erhalten, aber nur rückwirkend ab 2005 und nicht, wie von der Politik
versprochen, ab 1997. Als wir im Januar die letzte
Plenumsdebatte zu diesem Thema hatten, standen die
Urteile des BSG kurz bevor. Nun müssen wir konstatieren, dass das BSG in seinen Urteilen vom 7./8. Februar
2012 die Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X und damit
auch die Praxis der Deutschen Rentenversicherung bestätigt hat. Das bedeutet, dass bei diesen Anträgen, die
zwar rechtswidrig, aber trotzdem rechtswirksam abgewiesen wurden, Renten nur rückwirkend bis zum Jahr
2005 gezahlt werden müssen. Das führt einmal mehr
dazu, dass dieses Gesetz nicht so wirkt, wie alle Beteiligten damals und wir alle heute hier es uns gewünscht haben. Das müssen wir als Gesetzgeber korrigieren, denn
die Betroffenen erwarten zu Recht, dass wir unser politisches Versprechen halten. Das Heft des Handelns liegt
bei uns!
Mit unserem Antrag schlagen wir zwei Lösungswege
vor. Der erste ist innerhalb des Rentenrechts. Diese wäre
die wünschenswerteste und auf den ersten Blick naheliegendste Option, ist allerdings nicht ganz einfach umzusetzen. Das „Problem“ ist, dass mit dem späteren
Beginn des Bezugs der Rente auch eine höhere Rente
einhergeht, weil der sogenannte Zuschlagsfaktor berücksichtigt wird, der eigentlich dazu eingeführt wurde,
ein späteres Renteneintrittsalter zu belohnen. Dieser erhöht die Rente um 6 Prozentpunkte pro Jahr späteren
Rentenbezugs. Für die Ghettorenten bedeutet das, dass
bei einem Rentenbezug ab 31. Dezember 2004 statt ab
1. Juli 1997 die Rente also um 45 Prozent höher ist oder umgekehrt: Würden wir die Renten rückwirkend
bereits ab 1. Juli 1997 zahlen, müsste die monatliche
Rente um 45 Prozent verringert werden. Das wäre den
Betroffenen nur schwer zu erklären. Obwohl auch hier
Lösungen denkbar wären, die um eine Verringerung der
Rente herumkommen, ist das möglicherweise aber nicht
der beste Weg.
Deswegen schlagen wir zweitens als Alternative zu
einer rentenrechtlichen Lösung eine Lösung durch eine
einmalige Kapitalzahlung vor, durch die die Benachteiligung ausgeglichen wird. Zu beachten ist dabei, dass
die Benachteiligung umso größer ist, je älter die Betroffenen sind. Für Personen, die 1997 gerade 65 Jahre waren, bewirkt der Zuschlagsfaktor, dass bei einem Beginn
des Rentenbezugs ab 2005 die höhere Rente die kürzere
Bezugsdauer bei durchschnittlicher Lebenserwartung
ausgleicht. Das wäre bei Personen der Fall, die 1932
geboren, also als Kinder im Ghetto gearbeitet haben.
Bei Älteren ist aber die Restlebenserwartung deutlich
kürzer, sodass die höhere Rente den späteren Rentenbezug nicht ausgleicht. Der Weg über eine Einmalzahlung
scheint mir persönlich die unbürokratischste und zielführendste Möglichkeit zu sein, den berechtigten Ansprüchen der Betroffenen gerecht zu werden. Sie könnte
an die bereits bestehende Möglichkeit der finanziellen
Anerkennungsleistung für die Beschäftigung in einem
Ghetto anknüpfen, die über das ZRBG in Verbindung mit
den entsprechenden rentenrechtlichen Vorschriften hinausgeht, die es mit den Anerkennungsrichtlinien vom
1. Oktober 2007 und 20. Dezember 2011 ja bereits gibt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom Deutschen
Bundestag beschlossen. In seiner praktischen Anwendung hat das Gesetz lange nicht zu den vom Gesetzgeber
gewünschten Ergebnissen geführt. Das haben alle im
Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen erkannt.
Und auch der Wille, hier zu einer befriedenden Lösung
im Sinne der Betroffenen zu kommen, ist bei all diesen
Fraktionen erkennbar. Nur: Eine Lösung gibt es immer
noch nicht!
Es darf nicht sein, dass wir das Versprechen, das wir
den Ghettoarbeiterinnen und -arbeitern gegeben haben,
nicht erfüllen! Deswegen appelliere ich noch einmal eindringlich an die Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen: Denken Sie noch einmal nach und
verweigern Sie sich einer Lösung nicht! Das Beste wäre,
wenn wir gemeinsam mit allen Fraktionen eine Lösung
als Gesetzgeber beschließen würden. Ich würde mir
wünschen, dass 2012 das Jahr wird, in dem der Deutsche Bundestag einstimmig die notwendigen rechtlichen
und politischen Schritte beschließt, um die berechtigten
Ansprüche der Betroffenen nun endlich zu befriedigen.
Wir haben dafür zwei Lösungswege aufgezeigt, sind
aber für weitere Lösungen und Gespräche offen. Wir fordern Sie auf: Denken Sie noch einmal nach! Wo ein Wille
ist, ist auch ein Weg!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10094 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Also ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Philipp
Mißfelder, Peter Beyer, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Harald Leibrecht, Dr. Rainer
Stinner, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
25 Jahre Reagan-Rede vor dem Brandenburger Tor - „Mr. Gorbatchev, tear down this
wall!“ - Deutschland sagt „Danke!“ für die
Unterstützung der USA bei der Überwindung
der deutschen und europäischen Teilung
- Drucksache 17/9952 Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.
Am 12. Juni 1987 sagte Ronald Reagan, Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika, vor 25 000 Zuschauern diese legendären Worte. Er forderte den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow
auf, das Tor zu öffnen und die Mauer niederzureißen.
Dafür erntete der US-Präsident viel Kritik. Viele in Ost
und West sehen ihn bis heute als einen „Kalten Krieger“.
Es ist heute an der Zeit, diese Rede und die Verdienste, die sich Ronald Reagan und das amerikanische
Volk für die Überwindung der deutschen Teilung und für
das Ende des Kalten Krieges erworben haben, zu ehren.
Beim Amtsantritt Reagans war die Sowjetunion dabei,
mit der Einführung von Mittelstreckenraketen vom
neuen Typ SS-20 die Kräftebalance zwischen dem freien
Westen und dem Block kommunistischer Diktaturen zu
ihren Gunsten zu verschieben. Es war Kanzler Helmut
Schmidt, der auf die sich abzeichnende bedrohliche Entwicklung aufmerksam machte und den sogenannten
Nachrüstungsbeschluss der NATO herbeiführte: Auf
dem Boden der Bundesrepublik sollten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper des Typus Pershing und
Cruise Missile stationiert werden, um das zur Abschreckung notwendige Gleichgewicht wiederherzustellen.
Daraufhin entstand eine Friedensbewegung, die mit
Friedensmärschen, Sitzblockaden, Menschenketten, Kongressen und Symposien gegen diese Nachrüstung mobil
machte. Während einer der großen Demonstrationen im
Bonner Hofgarten am 22. Oktober 1983, so berichtete
Bundeskanzler Helmut Kohl später, sei er über den vielen Tausenden von Demonstranten im Hubschrauber gekreist. Dabei habe er sich die Frage gestellt: Machst du
auch wirklich alles richtig? Ist die Nachrüstung wirklich
erforderlich?
Die Geschichte hat ihm und allen, die damals am
Doppelbeschluss festhielten, recht gegeben. Bei den
Bundestagswahlen 1983 erreichte die CDU/CSU mit
Helmut Kohl an der Spitze unerwartete 48,8 Prozent der
Zweitstimmen. Die Wähler hatten die Politik des Kanzlers bestätigt und legitimiert. Konsequent begann
Helmut Kohl nach diesem Wahlsieg in enger Abstimmung mit Ronald Reagan die Umsetzung des NATODoppelbeschlusses. Ein letzter Versuch des wirtschaftlich wankenden kommunistischen Blocks, die USA von
Europa zu trennen und die Hegemonie über den europäischen Kontinent zu gewinnen, war gescheitert.
Spätestens ab Mitte der 80er-Jahre gab es für die
Kreml-Führung keine Alternative mehr dazu, das eigene
System umfassend zu reformieren. Die SED-Führung reagierte auf ihre Weise auf Glasnost und Perestroika in
der Sowjetunion. Berühmt geworden ist der Ausspruch
des SED-Chefideologen Kurt Hager im Interview mit
dem „Stern“ am 20. März 1987: „Würden Sie, nebenbei
gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich
verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“
Neben der ideologischen Verkrustung des DDR-Politbüros traten seit 1986 in der bundesdeutschen Politik
aber immer mehr Stimmen auf, welche die DDR völkerrechtlich anerkennen, das Einheitsgebot aus dem
Grundgesetz streichen und einen Friedensvertrag abschließen wollten. Kernstück dieser Bestrebung war das gehört zur historischen Wahrheit - das sogenannte
Ideologiepapier zwischen SED und SPD, das gemeinsam von der SPD-Grundwertekommission und der Delegation der Akademie für Gesellschaftspolitik des ZK der
SED erarbeitet wurde und den Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ trug. Der zentrale Satz dieses Papiers vom 3. August 1987 lautet:
„Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung
absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf
richten, daß ein System das andere abschafft. Sie richtet
sich darauf, daß beide Systeme reformfähig sind und der
Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.“ Angesichts
dieser Tendenzen sagte der damalige amerikanische
Botschafter in Deutschland, John Kornblum, vor wenigen Wochen bei einer Veranstaltung in Berlin: „Da
schrillten bei uns natürlich die Alarmglocken.“
Berichte über die Annäherungen beider deutscher
Staaten, die in der Konsequenz die Herauslösung der
Bundesrepublik aus der NATO bedeuten könnten, riefen
in Washington Unruhe hervor. Es verfestigte sich die
Überzeugung, dass die USA ihre Gestaltungshoheit im
Verbund mit den anderen drei Siegermächten des Zweiten Weltkrieges unverändert wahrnehmen müssten. Deshalb musste ein symbolträchtiger Ort für eine klare Aussage gefunden werden.
Am 12. Juni 1987 war es so weit. US-Präsident
Ronald Reagan sprach vor der Berliner Mauer am
Brandenburger Tor und forderte KPdSU-Chef
Gorbatschow demonstrativ auf, die Berliner Mauer zu
öffnen. Es war dies ein unglaublicher Vorgang, weil der
Status quo, in dem sich viele Deutsche eingerichtet hatten, vom mächtigsten Mann der Welt plötzlich infrage
gestellt wurde.
Was viele als Utopie abtaten, wurde nur zwei Jahre
später Wirklichkeit. Die Mauer, die das kommunistische
SED-Regime durch Berlin gezogen hatte, fiel. Die Chancen, die dank der mutigen Menschen in der DDR und
dank der Politik von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gemeinsam mit Michail Gorbatschow und anderen entstanden waren, führten so zur neuen Einheit Deutschlands und Europas. Einen wichtigen Baustein hierzu
hatte Reagan mit seiner Rede gelegt.
Deshalb ist hier auch der geeignete Anlass, dem amerikanischen Volk und vielen Amerikanern, ob in Zivil
oder als Militär, dafür zu danken, dass sie in Deutschland gearbeitet haben, dass sie hier stationiert waren,
dass sie für unsere Freiheit mit eingestanden haben und
zu Botschaftern Deutschlands in den USA wurden.
Auch nach dem Abzug amerikanischer Soldaten aus
vielen Städten und Regionen, der dieses Jahr beginnt,
werden wir voller Dankbarkeit ihr Andenken bewahren.
Wie sehr sich Amerika und seine Präsidenten in das kollektive deutsche Bewusstsein eingeprägt haben, zeigt ein
weiteres Ereignis, das wir kommendes Jahr begehen
werden. Am 26. Juni 2013 jährt sich zum 50. Mal die berühmte Rede John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“
vor dem Schöneberger Rathaus.
Die Geschichte hat gezeigt: Unsere amerikanischen
Freunde haben über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass die
Einheit Deutschlands in Freiheit gelingen konnte. Dafür
sind wir dankbar. Dieser Beistand ist uns auch für die
Zukunft Verpflichtung. Die transatlantischen Beziehungen sind ein entscheidender Pfeiler der deutschen Außenpolitik.
Neben dem kulturellen und gesellschaftlichen Wertekonsens und der gemeinsamen Sicherheitspolitik sind es
die wirtschaftlichen Verflechtungen der europäischen
und amerikanischen Wirtschaftsräume - vor allem
durch Handel und wechselseitige Direktinvestitionen
von Unternehmen -,welche die Partnerschaft Deutschlands und Europas mit den Vereinigten Staaten von Amerika prägen.
Wir wollen die transatlantische Werte- und Wirtschaftspartnerschaft konsequent weiterentwickeln. Dafür steht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein.
In diesem Monat gedenken wir zweier historischer
Ereignisse, die für das Ende der SED-Herrschaft und
den Fall der Mauer von entscheidender Bedeutung sind:
Am 17. Juni 1953 fand der Volksaufstand in Ostberlin
und der DDR statt. An diesem Tag manifestierte sich
zum ersten Mal der Freiheitswille der Menschen in Ostdeutschland, die das SED-Regime ablehnten. Auch wenn
es danach noch Jahrzehnte dauern sollte, bis sich dieser
Freiheitswille gegen die Unterdrückung Bahn brechen
konnte, begehen wir den 17. Juni heute völlig zu Recht
als nationalen Gedenktag.
Am 12. Juni 1987 hielt Ronald Reagan seine historische Rede vor dem Brandenburger Tor, in der er Michail
Gorbatschow aufforderte, das Brandenburger Tor zu
öffnen und die Mauer niederzureißen. Dass dies nur
zwei Jahre später Wirklichkeit wurde, ist mehr als ein
bloßer Zufall. Es unterstreicht vielmehr den immensen
Beitrag, den sowohl diese Rede als auch das gesamte
politische Wirken Ronald Reagans für die Überwindung
der Teilung Deutschlands geleistet haben.
Reagan war der festen Überzeugung, dass die westliche Staatengemeinschaft aufgrund der ihren politischen
Systemen zugrunde liegenden Werte - Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft - dem Sowjetblock auf Dauer
überlegen sein würde. Nichts verdeutlicht seine visionäre Kraft besser als ein Satz gegen Ende seiner Rede:
„Die Mauer wird der Freiheit nicht standhalten können.“ Mit diesen Worten nahm Reagan die historischen
Ereignisse im Herbst 1989 vorweg. Er hat früher als andere erkannt, dass in Europa die Zeit für die Idee der
Freiheit angebrochen war.
An seiner Botschaft hielt Reagan gegen alle Widerstände, die zur damaligen Zeit beträchtlich waren, fest.
Die von vielen als zu konfrontativ empfundene Politik
Reagans stieß teilweise auf heftige Ablehnung. Erinnert
sei nur daran, dass die damalige Rede - die wir heute
als Meilenstein würdigen - von heftigen Demonstrationen begleitet war. Die damaligen Reagan-Gegner forderten insbesondere, der Sowjetunion stärker entgegenzukommen, um damit die deutsche Wiedervereinigung
auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Dies
zeigt: Das Eintreten für die deutsche Einheit war vor
1989 eben keine Selbstverständlichkeit.
Noch etwas wird bei heutiger Betrachtung der
Reagan-Rede deutlich: Der Niedergang des Kommunismus und die Wiedervereinigung Deutschlands waren
Zu Protokoll gegebene Reden
keineswegs Selbstläufer. Sie waren vielmehr das Ergebnis kluger, vorausschauender und mutiger Politik großer
Staatsmänner, die das übergeordnete Ziel - die Überwindung der Teilung Europas - nie aus den Augen verloren haben. Um die Wiederherstellung der nationalen
Einheit wurde im damaligen Westdeutschland heftig gerungen. Hier wird der Gegensatz zwischen den politischen Kräften, die im Vertrauen auf eigene Stärken die
Abgrenzung zur Sowjetunion nicht gescheut haben, und
jenen, die auf Wandel durch Annäherung gesetzt haben,
besonders deutlich.
Zur historischen Wahrheit gehört, dass die Deutschlandpolitik der SPD über weite Strecken darin bestand,
vom Ziel der Wiedervereinigung schrittweise abzurücken und den Status quo hinzunehmen. CDU und CSU
hingegen gehörten stets zu den entschiedensten Verfechtern der deutschen Einheit. Ohne Staatsmänner wie
Ronald Reagan, George Bush und Helmut Kohl sowie
Michail Gorbatschow hätte sich die Wiedervereinigung
nicht in diesem zeitlichen Rahmen und nicht auf diese
Weise vollzogen, wie es der Fall war. Sie haben den Boden für die Freiheit und Einheit ganz Deutschlands mit
bereitet.
Die deutsche Wiedervereinigung wäre nicht möglich
gewesen ohne die Unterstützung vonseiten der USA und
ohne die Einbettung in die Europäische Union. Daran
wird deutlich, welch fundamentale Bedeutung das transatlantische Bündnis und die europäische Integration für
Deutschland haben. Diese beiden tragenden Säulen der
deutschen Außenpolitik müssen weiter gestärkt werden.
Eine enge transatlantische Zusammenarbeit ist - auch
unter veränderten internationalen Vorzeichen - heute so
notwendig wie zur Amtszeit Ronald Reagans: Mit Blick
auf den Aufstieg neuer Machtzentren in Asien, Lateinamerika und Afrika ist die transatlantische Partnerschaft die beste Gewähr dafür, westliche Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch künftig zu
wahren.
Das politische Erbe Ronald Reagans sollte für uns
Auftrag sein, das Streben nach Freiheit in anderen Teilen der Welt nachdrücklich zu unterstützen. Dies gilt
derzeit vor allem für die arabische Welt, deren Gesellschaften heute um politische Selbstbestimmung kämpfen. Gerade weil es lange Zeit dauern kann, bis das Streben eines Volkes nach Freiheit gegenüber staatlicher
Unterdrückung voll zum Tragen kommt, kann politische
Führung der Geschichte eine entscheidende Wendung
geben. Diese Impulse können durchaus auch von außen
kommen, wie wir an der Rede Reagans sehen. Umso
wichtiger ist es, dass wir den arabischen Gesellschaften
bei ihrem Freiheitsstreben nach Kräften helfen. Es geht
um Rechtsstaatlichkeit und demokratische Strukturen,
um den Aufbau von Zivilgesellschaften und um die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung.
Wenn wir den vor 25 Jahren vor dem Brandenburger
Tor formulierten Appell als Auftrag für unsere heutige
Politik verstehen, dann führen wir das Erbe Ronald
Reagans fort, für den die Idee der Freiheit die zentrale
Bezugsgröße in seinem politischen Wirken war.
Wir haben es heute mit einem Antrag der Regierungskoalition zu tun, der Passagen enthält, denen man nicht
widersprechen kann. Zwar wird man etwas misstrauisch
bei der Wortwahl im Titel der Antrags, wo es heißt:
„Deutschland sagt ‚Danke!‘ für die Unterstützung der
USA bei der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung“, weil das so klingt, als ginge gleich der
Vorhang auf zu einer Fernsehshow mit Benefizcharakter.
Aber prinzipiell möchte man sich einem Ausdruck von
Dankbarkeit nicht verweigern: gegenüber der Schutzmacht Amerika, die tatsächlich viel zum Schutz Berlins
und auf dem Weg zur deutschen Vereinigung beigetragen
hat.
Allerdings kann die SPD-Fraktion wohl dem Dank,
aber nicht dem Antrag zustimmen. Und das hat folgende
Gründe:
Der Koalitionsantrag zerfällt in zwei Teile: in einen
ideologie- und pathosschwangeren Feststellungsteil und
in einen armseligen, ja im wahrsten Sinne des Wortes
nichtssagenden Forderungsteil.
„Geschichtsklitterung“ ist noch ein Euphemismus für
die Zusammenfassung des Kalten Krieges und seiner
Überwindung, die wir da geboten kriegen: Demnach hat
Deutschland den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung in erster Linie den Vereinigten Staaten
und der Inspiration von Präsident Reagan mit seiner
Rede vom 12. Juni 1987 zu verdanken. Geholfen haben
dann noch die NATO, Helmut Kohl sowie der - ich
zitiere - maßgebliche Einfluss liberaler Außenpolitiker
wie Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher.
Lobend erwähnt werden die Schlussakte von Helsinki
und Walter Scheels Rolle bei dem ganzen Prozess, verschwiegen aber wird, dass ausgerechnet die CDU/CSU
wegen der gleichberechtigten Teilnahme der DDR am
Ende gegen die Unterzeichnung gestimmt hat. Willy
Brandt, dessen neue Ost- und Deutschlandpolitik den
Weg zum Helsinki-Prozess erst geebnet hatte, wird in
einem einzigen Satz erwähnt. Helmut Schmidt, während
dessen Amtszeit als Bundeskanzler die Schlussakte
unterzeichnet wurde, wird unterschlagen. Aber richtig
empörend ist, dass zwei Akteure praktisch ausgeblendet
werden: die Menschen in der ehemaligen DDR und in
Osteuropa, deren Bürgerbewegungen das Ende der östlichen Regime herbeigeführt haben, und Michail
Gorbatschow mit seiner Rolle, ohne dessen mutigen
Reformkurs mit Glasnost und Perestroika und ohne dessen ebenso mutige Zustimmung zur deutschen Vereinigung diese historische Zäsur gar nicht oder nur mit
erheblichen Opfern hätte stattfinden können.
Ich frage mich: Was für ein Geschichtsverständnis
haben eigentlich die Autoren des Antrages, also die Kollegen Mißfelder, Beyer und Wegner von der CDU/CSU
sowie Leibrecht, Stinner und Brüderle von der FDP?
Auf jeden Fall eines, das schon im 19. Jahrhundert als
veraltet galt, nämlich eines, wo Männer Geschichte machen und wo Geschichte nicht etwa gesellschaftlichen
Bewegungen und Veränderungen folgt und von den
Menschen selbst geprägt wird!
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag erweckt die falsche Vorstellung, am
12. Juni 1987 habe Ronald Reagan Gorbatschow aufgefordert, die Mauer niederzureißen, und zweieinhalb
Jahre später sei der sowjetische Generalsekretär dieser
Aufforderung endlich gefolgt. Die Wirklichkeit sieht
anders aus: Das Prophetische an Ronald Reagans Rede
fiel erst viel später auf, als die Mauer tatsächlich bereits
gefallen war. Gar nicht so positiv war die Reaktion auf
seine konkreten Vorschläge vom 12. Juni 1987, nämlich
Westberlin zu einem Luftdrehkreuz zu machen und als
Ort für Konferenzen über Menschenrechte und Rüstungskontrolle zu nutzen, Sommeraustauschprogramme
mit jungen Ostberlinern zu veranstalten oder sogar die
Olympischen Spiele nach West- und Ostberlin zu holen.
Neun Monate später überprüfte der „Spiegel“, was
aus diesen Vorschlägen geworden ist, und kam zu dem
Ergebnis: „Ronald Reagans Berlin-Initiative vom Juni
vorigen Jahres erweist sich als Flop - mit womöglich
schädlichen Folgen.“ Der „Spiegel“-Artikel stellt die
These auf, Reagans Vorstoß verfolgte das Ziel, „die
Russen weltweit vorzuführen und in die Defensive zu
treiben - in Afghanistan wie an der Mauer in Berlin“,
und er vermutet, das sei auch eine Antwort auf Rechtskonservative in der CDU/CSU, die Kritik an der atomaren Abrüstung übten, und auf den „glücklos agierenden
CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen“, der bei den
westlichen Alliierten als „ungeschickt und vorlaut“
gelte.
So ist das manchmal bei historischen Reden: Die Geschichte muss sich erst einmal auf sie zubewegen, um die
historische Aura zu übertragen, und dann verdient das
Prädikat des Historischen auch nur ein einziger Satz,
herausgebrochen aus einer halbstündigen Rede, die keineswegs von allen - wir haben es gehört - auf Begeisterung stieß.
Eines steht fest: Zu dem schwallenden Pathos, das
den Koalitionsantrag von A bis Z durchzieht, gibt es
keine hinreichende Begründung.
Richtig peinlich wird es in dem Antrag aber erst bei den
drei Forderungen an die Bundesregierung. Diese solle gemeinsam mit dem Land Berlin Reagan herausragend ehren, heißt es da. Aber das ist längst passiert: Seit 1992 ist
Präsident Reagan Ehrenbürger von Berlin, die höchste
Ehrung, die die Stadt vergeben kann. Das berühmte Zitat
ist im Treppenaufgang des Berliner U-Bahnhofs „Brandenburger Tor“ zu lesen. Und vor zwei Wochen sind zwei
weitere herausragende Ehrungen dazugekommen. Vor
dem Axel-Springer-Haus in der Zimmerstraße wurde
eine bronzene Gedenktafel mit dem Reagan-Zitat in die
Erde eingelassen. Im Entwurf vorgestellt wurde eine
weitere Gedenktafel, die am Platz des 18. März beim
Brandenburger Tor demnächst aufgestellt werden soll.
Es bleibt insofern schleierhaft, was dann noch fehlt;
aber dazu schweigt sich der Antrag aus.
Die zweite Forderung, gemeinsam mit den Bundesländern weiterhin den Sieg der Freiheit und die historische Rolle der USA hochzuhalten, ist an Allgemeinheit
kaum mehr zu überbieten; es sei denn, man liest noch die
dritte Forderung, die da lautet, „die transatlantische
Partnerschaft in allen Bereichen weiterhin engagiert zu
fördern“. Nichts, aber auch gar nichts Konkretes ist den
Antragstellern dazu eingefallen. Die Bundesregierung
soll einfach irgendetwas machen.
Nein! Dieser Antrag wird die transatlantische Zusammenarbeit, die wir hoch achten, pflegen und jeden
Tag mit Leben zu erfüllen suchen, nicht nach vorne bringen. Ich sage voraus: Er wird im günstigsten Fall zu
einem Zitatensteinbruch für Kabarettisten werden, am
wahrscheinlichsten aber sofort in Vergessenheit geraten, was für die Autoren vielleicht noch am vorteilhaftesten wäre.
„Herr Gorbatschow, öffnen Sie das Tor! Reißen Sie
diese Mauer nieder!“ war und ist das Bekenntnis der
USA zur uneingeschränkten Solidarität mit Deutschland.
Am 25. Jahrestag von Präsident Reagans Rede vor
dem Brandenburger Tor wollen wir Ronald Reagan
ehrend gedenken, an seine besonderen politischen Verdienste, seinen Mut und seinen unerschütterlichen
Glauben an die deutsche Einigung erinnern und dem
amerikanischen Volk für seine Unterstützung danken.
Neben der europäischen Integration bildet das transatlantische Verhältnis, die freundschaftlichen Beziehungen Deutschlands und Europas zu den Vereinigten Staaten von Amerika, den zweiten Pfeiler der deutschen
Außenpolitik. Ohne die Unterstützung unserer amerikanischen Freunde gäbe es heute weder ein geeintes
Deutschland noch ein geeintes Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem die USA, die für neues
Vertrauen in die Menschen warben und sich maßgeblich
für den Wiederaufbau eingesetzt haben; man denke nur
an den Marshallplan, der vor 65 Jahren initiiert wurde
und bis in die heutige Zeit hinein als herausragendes
Modell für wirtschaftliche Zusammenarbeit gilt.
Deutschland hat auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten bauen können, dies haben amerikanische
Präsidenten immer wieder deutlich gemacht.
Präsident John F. Kennedy hat sich vor allem mit seiner Rede vor dem Rathaus Schöneberg am 26. Juni 1963
mit den Berlinern und dem deutschen Volk identifiziert
und sich damit seinen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis geschaffen.
24 Jahre später inspirierte Präsident Reagan die Berliner und die Demokratiebewegungen durch seinen unbeirrten Glauben an Freiheit.
In seiner Rede anlässlich des 750. Jubiläums Berlins
am 12. Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor betonte
Präsident Ronald Reagan nicht nur seine starke Verbundenheit mit unserer heutigen Hauptstadt. Vielmehr erklärte er vor den Berlinern, den Deutschen, den Alliierten, aber auch vor der Weltöffentlichkeit - gerichtet an
die kommunistischen Regime im Osten Europas - , dass
er sich mit der europäischen Teilung nicht abfinden
würde. Bewegt durch eine tiefgehende Verbundenheit
zum deutschen Volk und seinen unbeirrten Wunsch nach
weltweiter Freiheit entwickelte er die Worte Kennedys
Zu Protokoll gegebene Reden
weiter: „Every man is a German. … Every man is a Berliner“. Dem deutschen Volk sicherte Ronald Reagan
seine resolute Unterstützung bei der Überwindung der
deutsch-deutschen Teilung zu.
Präsident Reagan gehörte zu den wenigen Politikern
seiner Zeit, die entschieden waren, alles zu sagen und zu
tun, das zur Überwindung der Unfreiheit in der DDR
und der Sowjetunion notwendig erschien. Er war überzeugt, dass durch gute diplomatische Beziehungen und
vertrauensbildende Zusammenarbeit das Misstrauen
überwunden und somit ein Ende der Konfrontation erzielt werden könne.
Obwohl Ronald Reagan der UdSSR ablehnend
gegenüberstand, waren seine Beziehungen zu
Gorbatschow gut. Nicht zuletzt diese persönliche Beziehung zwischen zwei Staatsmännern hat einen wichtigen
Beitrag zur Aufhebung der gewaltsamen Teilung geleistet.
Es ist klar, dass die Überwindung der deutschen Teilung ohne Bürgerrechtsbewegungen, ohne den Einsatz
mutiger Menschen, ohne Demonstrationen, ohne das
Bekenntnis „Wir sind ein Volk“ undenkbar gewesen
wäre. Doch sollten wir nicht vergessen, dass sich ganz
besonders unsere amerikanischen Freunde für uns eingesetzt und unsere Freiheit verteidigt haben.
Präsident Reagan argumentierte gegen den politischen Zeitgeist seines Umfelds und trat seinen unzähligen Kritikern mit Mut und Entschlossenheit entgegen.
Es sollte seine Politik „Frieden durch Stärke“ sein, die
zur Überwindung der territorialen und politischen Teilung Europas, zum Fall der UdSSR führen sollte.
Deutschland ist dem 40. Präsidenten der Vereinigten
Staaten von Amerika zu großem Dank verpflichtet, weil
er bis zum Ende an ein vereinigtes Deutschland glaubte,
er seinen Skeptikern keine Zugeständnisse machte und
dem Kommunismus mit seltener Standhaftigkeit entgegentrat.
Und Ronald Reagans unerschütterlicher Glauben an
den Sieg der Freiheit ist auch heute noch von hoher Aktualität. Denn leider erleben wir direkt vor unserer
Haustür immer noch Unfreiheit und politische Repression - zum Beispiel in Weißrussland, der Ukraine und
ganz aktuell auch in Russland. Hier sollten wir konsequent für Freiheit und liberale Grundrechte einstehen.
Dass sich das lohnt, zeigen nicht nur der Fall der Mauer
und die deutsche Wiedervereinigung, sondern aktuell
auch die Umbrüche im arabischen Raum. Wer hätte vor
zwei Jahren geglaubt, dass die Menschen in vielen arabischen Staaten mutig gegen ihre autoritären Machthaber aufbegehren? Der arabische Frühling lehrt uns,
dass wir nicht aufhören sollten, mutig und visionär zu
denken, wie Ronald Reagan es getan hat.
Um es gleich vorweg zu sagen - und ich gebe zu, dass
ich das im Herbst 1989 noch anders gesehen habe -: Ich
bin sehr froh, dass 1989 die Berliner Mauer eingerissen
wurde und die Teilung Deutschlands und Europas überwunden werden konnte. Doch zu danken haben wir das
nun wirklich nicht Ronald Reagan, dem kalten Krieger
aus Bel Air, dem Nobelviertel von Los Angeles, sondern
Frau Krause und Herrn Lehmann aus Leipzig und Ostberlin. Die Menschen in der DDR hatten einen Staat
satt, der sie daran hinderte, eine Weltanschauung auch
durch Anschauung der Welt entwickeln zu können. Wir
verdanken das ebenso Herrn Kowalski aus Poznan, wie
Frau Kovacs aus Budapest, denen es ähnlich ging.
Diese Menschen gilt es zu ehren, wenn wir uns an das
Ende der Teilung Europas erinnern.
Ich habe mich schon gefragt, wie Sie jetzt auf die Idee
kamen, nun dem verstorbenen Ronald Reagan die Würdigung einer Freitagnachmittagsdebatte vor dem dürftig
besetzten Auditorium des Bundestages zuteilwerden zu
lassen. Und ich habe die Antwort der „Bild“-Zeitung
entnommen. Natürlich: Nachdem der Springer-Verlag
und seine Medien ausgiebig die Reagan-Rede feierten,
mussten jetzt CDU/CSU und FDP nachziehen.
Erinnern wir uns doch mal an 1987: Berlin feierte in
beiden Hälften der Stadt sein 750-jähriges Jubiläum.
Mit dem 1985 ins Amt gekommenen Generalsekretär der
KPdSU, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, zeichnete
sich eine Entspannungsphase ab. Auf Einladung von
Bundeskanzler Helmut Kohl plante der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, seinen Besuch in Bonn.
Ronald Reagan hingegen war der Präsident, der wie
kaum ein zweiter den Kalten Krieg wieder anheizte. Erinnern Sie sich noch an seine Sprache? „Reich des Bösen“ nannte er die UdSSR. Und: „Meine amerikanischen Mitbürger, es freut mich, Ihnen heute mitteilen zu
können, dass ich ein Gesetz unterschrieben habe, das
Russland dauerhaft für vogelfrei erklärt. Wir beginnen
in fünf Minuten mit der Bombardierung.“ hielt er für einen gelungenen Mikrofontest.
Ich bitte Sie! Das im Jahr 1984, in Europa waren gerade neue Atomraketen aufgestellt worden, der Weltfrieden hing am seidenen Faden.
Aber es blieb nicht bei Worten: Das „Star Wars“-Programm SDI war eine milliardenteure weltraumgestützte
Raketenabwehr, die von Ronald Reagan auf den Weg gebracht wurde und die die Welt mehr als einmal an den
Rand eines Atomkrieges brachte.
Nein, Ronald Reagan war kein Präsident, der in der
Bundesrepublik Deutschland und in Berlin auf ungeteilte Zustimmung stieß - im Gegenteil! Während seines
Besuchs demonstrierten 50 000 Berlinerinnen und Berliner. Kreuzberg war hermetisch abgeriegelt. Dazu sagte
Reagan in seiner hier von CDU/CSU und FDP zur Würdigung vorgeschlagenen Rede, abweichend vom Manuskript, dass diejenigen, die hier in Berlin gegen ihn demonstrieren, wohl Herrschaftsverhältnisse wie im
anderen Teil der Stadt wollten. Man könnte auch sagen:
„Geht doch rüber!“
Kurz vor Reagans Rede wurde ein Mauer-Graffito
„Reagan go home“, das im Hintergrund des Holzgestells angebracht worden war, übermalt in „Welcome
Reagan 1987“.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vor 25 000 ihm zugeneigten Berlinerinnen, Berlinern und in Berlin stationierten US-Amerikanerinnen
und -Amerikanern sprach er dann am Brandenburger
Tor, einem Ort, den John Kornblum persönlich mit dem
sowjetischen Botschafter in der DDR abgeklärt hatte,
ohne Einwände, wie es heißt.
Reagan schlug hier schließlich dem Chef der KPdSU,
Gorbatschow, vor, er möge die Mauer einreißen. Reagan
sagte dies gegen die Überzeugungen in seiner Administration; sein Außenministerium versuchte noch bis
zuletzt ihn von diesen Worten abzuhalten. Aber der Präsident mochte eben einfache und dramatische Worte, wie
sein Redenschreiber sagte.
Sie sagen in Ihrem Antrag dazu: „Was viele als Utopie abtaten, wurde nur zwei Jahre später Wirklichkeit.
Die Mauer … fiel.“ So einfach ist das. Reagan sprach,
und die Mauer war weg.
Die Mauer ist aber gar nicht gefallen, sondern wurde
eingerissen, nicht von Reagan, nicht von Papst Johannes
Paul II. und nicht von der CDU/CSU und der FDP im
Bonner Wasserwerk. Sie wurden doch in Wirklichkeit
alle am 9. November 1989 von der Entschlossenheit der
Ostberliner überrascht, die einer konfusen DDR-Regierung das Heft des Handelns aus der Hand nahmen.
Ich weiß nicht, ob der vierzigste Präsident der Vereinigten Staaten für die Rolle taugt, die Sie ihm hier posthum zuschanzen wollen. Letztlich geht es Ihnen, so vermute ich, darum, ihm eine weitere öffentliche Ehrung
zukommen zu lassen. Dabei ist er schon Ehrenbürger
unserer Hauptstadt, und Gedenktafeln gibt es auch. Nun
noch mehr?
Ich finde, dagegen gibt es gute Gründe. Reagan hat
neben seiner konfrontativen Außenpolitik mit seiner verfehlten Wirtschaftspolitik, den Reaganomics, einen riesigen Schuldenberg hinterlassen; er hat den Sozialstaat in
den USA dramatisch abgebaut; er hat das Wort „Aids“
zum ersten Mal in den Mund genommen, als bereits fast
10 000 Amerikanerinnen und Amerikaner an der
Immunschwäche gestorben waren. Kurz: Er hat einer
Politik das Wort geredet, die selbst anständigen Konservativen die Schamesröte ins Gesicht steigen ließ.
Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Er überhöht die
Rede Reagans und verkleinert damit den Anteil der Lehmanns und Krauses, von Kowalski und Kovacs, die sich
zwei Jahre danach das Recht nahmen, für sich und ihre
Kinder auf die Straße zu gehen und das Ende von Systemen einzuläuten, über die die Zeit längst hinweggegangen war.
Nun hatte die Koalition den Jahrestag der ReaganRede vor dem Brandenburger Tor schon in der letzten
Sitzungswoche verpasst. Ihr Antrag datierte vom
12. Juni, just diesem Jahrestag. Die Debatte sollte zwei
Tage später stattfinden und fiel dann aus.
Jetzt hinkt der Antrag Wochen hinterher und ist zur
Gestaltung dieses Tages schlicht überholt. Mit den Forderungen werden im übrigen offene Türen eingerannt
und die Begründung ist Geschichtsklitterung à la CDU:
Große Männer machen Geschichte, allen voran Konrad
Adenauer und Helmut Kohl. Sie glauben doch nicht im
Ernst, dass wir dieser Klippschule für Junge Unionisten
zustimmen werden.
Eine zusätzliche Ehrung für den verstorbenen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan ist nicht notwendig. Es gab eine Ehrung zum Jahrestag am Pariser
Platz, von ihm geschenkte Texas-Gäule stehen als Standbild in der Clayallee, neben dem Springer-Verlag wurde
eine Gedenkplatte enthüllt, und last but not least ist er
Ehrenbürger der Stadt Berlin. Dies ist die höchste
Ehrung überhaupt, die diese Stadt zu vergeben hat.
Die Berlinerinnen und Berliner wissen genau, wem
sie die Freiheit des westlichen Teiles ihrer Stadt zu verdanken haben. An erster Stelle gilt ihre Dankbarkeit
daher John F. Kennedy und Lucius D. Clay, dem Vater
der Luftbrücke. Es ist auch unvergessen, wie spät sich
der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nach
dem Mauerbau in der Stadt sehen ließ. Konsequenterweise musste die Umbenennung des Kaiserdamms in
Konrad-Adenauer-Damm aufgrund anhaltender Bürgerproteste rückgängig gemacht werden. Erst ein neu
geschaffener Platz konnte nach ihm benannt werden.
Ebenso unvergessen ist der Goebbels-GorbatschowVergleich von Helmut Kohl. Anders als dieser Altkanzler
haben die Menschen in Ostberlin sehr wohl die Chance
gesehen, die seine Politik der Perestroika bot. Seinen
Namen haben sie bei Demonstrationen gerufen, nicht
den von Ronald Reagan.
Eine Bedeutung von Reagans Rede für die friedliche
Revolution in der DDR oder den Fall der Mauer lässt
sich nicht nachweisen. Die Bürgerbewegung in der DDR
war auch immer eine Friedensbewegung. Von daher verbot sich jede Bezugnahme auf den erklärten Sternenkrieger Ronald Reagan, der vom biblischen Armageddon,
der Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse,
fabulierte und die sogenannten Contras in Lateinamerika ebenso bewaffnete wie die Islamisten in Afghanistan.
Von daher war es nicht verwunderlich, dass der
Reagan-Besuch vor allem wegen der Proteste gegen
diese Politik der Konfrontation in Erinnerung geblieben
ist - vom sogenannten Lappen-Krieg gegen Transparente an Hauswänden bis zur Totalabriegelung eines
ganzen Bezirkes, Kreuzbergs, am helllichten Tage. Die
Menschheit war letztlich froh, dass sie die Amtszeit dieses US-Präsidenten überlebte. Bei dieser Freude sollten
wir es belassen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9952. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Imkerei vor der Agro-Gentechnik schützen
- Drucksache 17/9985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Seit 1996 wird weltweit über 1 Milliarde genetisch
veränderte Pflanzen angebaut, und bis zum heutigen
Tage ist kein einziger Schadensfall weltweit bekannt,
weder bei einem Menschen, noch bei einem Tier oder
etwa der Umwelt.
Um es ganz klar an den Anfang zu stellen: Das Wohl
der Menschen in unserem Land liegt uns ganz besonders
am Herzen. Wir nehmen die Sorgen und Ängste der Menschen sehr ernst. Das gilt für die Bewertung aller modernen Technologien gleichermaßen. Oberstes Prinzip
bei der Anwendung ist und bleibt die Sicherheit von
Mensch, Tier und Umwelt.
Der Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen steht stets unter dem Vorbehalt, dass Sicherheit,
Wahlfreiheit und Transparenz auf allen Ebenen - etwa
bei der Entwicklung und Zulassung - gesichert bleiben.
In erster Linie tragen Informationsdefizite oder absichtlich herbeigeführte Irritationen zu einer starken Verunsicherung der Konsumenten bei. Sie halten auch keiner
wissenschaftlichen Begründung stand. In vielen Ländern der Welt werden gentechnisch veränderte Pflanzen
angebaut. Zufällige Beimengen von GV-Pollen in Lebensmitteln, wie zum Beispiel Honig, sind somit kaum
auszuschließen.
In Deutschland ist lediglich auf 10 Hektar Fläche der
Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zulässig. Das
wichtige Lebensmittel Honig wird zu 80 Prozent importiert. Die Imker in Deutschland liefern etwa 20 Prozent
des nationalen Honigverzehrs, rund 90 000 Tonnen werden aus Argentinien, Mexiko, Brasilien, Uruguay und
Kanada eingeführt. Pollen ist kein Fremdstoff und keine
Verunreinigung von Honig, sondern ein normaler Bestandteil dieses Produkts.
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass weder Pollen von Bt-Mais MON810 noch der einer Bt-Maissorte, die drei verschiedene Bt-Proteine bildet, eine
schädliche Wirkung auf Larvenstadien der Bienen
zeigte. Ein Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, vom Oktober letzten Jahres
bestätigt, dass Pollen aus MON810 sicher sind. Im Übrigen: Deutschland scheint zurzeit der einzige EU-Mitgliedstaat zu sein, der Honig auf gentechnisch veränderte Pollen untersucht.
Pollen im Honig stellen einen unvermeidbaren und
rein zufälligen Bestandteil dar. Analysen zeigen, dass
dieser Anteil bei gerade einmal 0,1 bis 0,5 Prozent liegt.
In dem vom EuGH entschiedenen Fall lag der Anteil der
MON810-DNA in Relation zur Gesamt-Mais-DNA bei
nur 4,1 Prozent - und das, obwohl der Bienenstock nur
circa 500 Meter entfernt vom GV-Maisfeld lag. Insgesamt entspricht der GV-Pollenanteil damit 0,0041 Prozent des Honigs! Zum Vergleich: Der gültige - für die
Kennzeichnung maßgebliche - Schwellenwert für GVO
in Lebensmitteln liegt bei 0,9 Prozent.
Nach den geltenden Vorschriften ist Honig, der nicht
zugelassene GV-Pollen enthält, nicht verkehrsfähig. Was
der vorliegende Antrag jedoch unerwähnt lässt, ist die
Tatsache, dass nach dem Gentechnikgesetz ein verschuldensunabhängiger Schadenersatzanspruch für die Imker besteht.
Nach unserer Rechtsordnung ist der Einsatz von Gentechnik grundsätzlich zugelassen und soll auch möglich
bleiben. Über Schutzvorkehrungen wie Abstandsvorschriften von etwa 10 Kilometern darf nicht faktisch ein
Verbot des Umgangs mit zum Inverkehrbringen zugelassenen GVO bewirkt werden. Das hat auch der Bayerische VGH so festgestellt; denn sonst würde auch die
Forschung mit GVO, die der Allgemeinheit dient, unmöglich gemacht.
Folglich brauchen wir Maßgaben, die der neuen
Rechtsprechung des EuGH zu GVO in Honig Rechnung
tragen und einen verantwortungsvollen Umgang mit
grüner Gentechnik ermöglichen. Diesen Rahmen kann
nicht die Rechtsprechung setzen; hier sind wir selbst als
Gesetzgeber gefragt.
Sinnvoll wäre die Zulassung der - wie bereits erwähnt - ungefährlichen GVO-Bestandteile im Honig.
Außerdem spricht der hohe Anteil der Honigimporte dafür, auch die Einführung eines Schwellenwertes für GVO
im Honig zu prüfen. Nulltoleranz macht hier - ebenso
wie bei anderen Lebensmitteln - in einer Welt mit globalen Handelsströmen keinen Sinn. Dieses Konzept für
einen praktikablen und sicheren Umgang mit GVO im
Honig müsste ergänzt werden durch eine passende Prozesskennzeichnung der Produkte; denn Transparenz und
Wahlfreiheit sind zentrale Bestandteile unserer Politik.
Leider haben wir in diesem Punkt aber noch mit enormem Widerstand auf europäischer Ebene zu kämpfen.
Der vorliegende Antrag macht abermals deutlich:
Die grüne Gentechnik ist in Deutschland und Europa ein
stark umstrittenes Thema. Die grüne Gentechnik allein
kann die globalen Herausforderungen, wie die Sicherung der Welternährung bei wachsender Weltbevölkerung und gleichzeitig rückläufiger Anbaufläche, nicht
lösen. Jedoch kann die grüne Gentechnik einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der genetischen Eigenschaften einer Pflanze leisten, und sie kann unter
anderem auch helfen, Pflanzen unter kritischen Anbaubedingungen, Kälte, Hitze, schwierige Böden, anbauen
zu können.
Es ist bewiesen, dass der Einsatz von GVO die landwirtschaftliche Produktivität erhöht und zugleich den
wirtschaftlichen Wert landwirtschaftlicher Produkte,
aufgrund der höheren Qualität pflanzlicher Nahrungsund Futtermittel, steigert. 117 Millionen Landwirte, vorwiegend kleiner Betriebe, nutzen bereits die Vorzüge
gentechnisch veränderter Pflanzen. Die Zulassung gentechnisch veränderter Organismen soll sich daher an
der wissenschaftsbasierten Abwägung zwischen Chancen und Risiken ausrichten. Ideologische Versuche,
ganze Technologien in Deutschland zu verhindern,
schwächen den Forschungs- und Wirtschaftsstandort
Deutschland.
Bereits im November 2007 hatte der Bundesrat die
Bundesregierung mit seinem Beschluss Drucksache 563/07
aufgefordert, „... mit einer Verordnung schnellstmöglich
sicherzustellen, dass auch die Belange der Imkerei beim
Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen angemessen berücksichtigt werden. Der Geltungsbereich der
vorliegenden Verordnung schließt die Imkerei nicht ein.
Die Koexistenz beinhaltet jedoch nicht nur das Nebeneinander des GVO-Anbaus und konventioneller Pflanzen, sondern auch des GVO-Anbaus und der Imkerei.
Hierfür sind gesonderte Regelungen erforderlich.“
Doch bis heute ist nichts passiert. Nach wie vor müssen sich Imker durch den Anbau von gentechnisch verändertem Mais in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sehen. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen
gentechnikfreie Lebensmittel. Aber Imker, die in der
Nähe eines Gentech-Maisfeldes arbeiten, laufen große
Gefahr, dass sich gentechnisch veränderte Bestandteile
im Honig nachweisen lassen. Denn Bienen halten sich
nicht an Sicherheitsabstände und haben einen Flugradius von über 5 Kilometern.
Eine Untersuchung des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts Freiburg von Anfang Juni zeigte, dass
viele aus den USA stammende Honigsorten mit gentechnisch verändertem Soja verunreinigt sind, teilweise auch
mit nicht zugelassenem Gentechnikraps. In den USA ist
der GVO-Anbau weit verbreitet. Aber auch wenn bei uns
derzeit nicht kommerziell angebaut wird, kann das Problem sehr bald auch hier wieder akut werden.
Honig, der mit gentechnisch veränderten Pollen verunreinigt wurde, ist nicht verkehrsfähig. Dies hat der
Europäische Gerichtshof, EuGH, im September letzten
Jahres entschieden. Auch geringe Spuren von MON810
führen dazu, dass der Honig nicht mehr verkauft werden
darf. Denn der Gentechnikmais MON810 hat keine Zulassung zu Lebensmittelzwecken. Mit dem Urteil steht
fest, dass Imker einen Anspruch auf Entschädigung haben, wenn ihr Honig mit gentechnisch veränderten Pollen verunreinigt wurde, die nicht als Lebensmittel zugelassen sind.
Dies war der Fall des Imkers Bablok, der in seinem
Honig GVO-Spuren aus einem staatlichen Versuchsanbau des Freistaats Bayern mit MON810 fand und daraufhin seine gesamte Ernte vernichten musste. Er zog
vor Gericht und verklagte den Freistaat Bayern auf
Schadenersatz. Wegen ungeklärter Fragen europäischen
Rechts legte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof
dem EuGH 2009 einige Punkte zur Entscheidung vor.
Dieser entschied im Sinne der Imker und Verbraucher,
die Gentechnik in Lebensmitteln überwiegend ablehnen.
Anschließend musste der bayerische Gerichtshof darüber entscheiden, ob auch Schutzansprüche bestehen.
Aber diese lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof am 27. März 2012 ab: Imker sollen keinen Rechtsanspruch auf Schutzvorkehrungen haben, wenn auf Feldern in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Bienenstände
gentechnisch veränderte Pflanzen zum Anbau kommen.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Es kann
nicht sein, dass der GVO-Anbau auf dem Rücken der Imker ausgetragen wird. Die Imker haben ein Recht auf
Schutz. Die Belange der Bienenwirtschaft müssen endlich berücksichtigt werden. Wir werden diese Frage ausführlich im Ausschuss diskutieren müssen.
Die Imkerei hat eine jahrhundertelange Tradition und
ist für die Landwirtschaft aufgrund ihrer Bestäubungsleistung von großer Bedeutung. Die Biene gilt als das
produktivste Haustier des Menschen, und die Produkte
der Imkerei genießen bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine große Wertschätzung. Ob gesunder und
leckerer Honig oder Gelée Royale für die Ernährung
oder Pollenerzeugnisse für die Kosmetik, die Imker, ihre
Schützlinge und ihre Produkte genießen großes Vertrauen. Der deutsche Honig gilt zu Recht als absolutes
Qualitätsprodukt. Viele Imker betreiben die Haltung von
Bienen leidenschaftlich als Hobby. Diesen, aber auch
den Berufsimkern bringen wir mit der Wertschätzung ihrer Produkte und ihrer Dienstleistungen für Gartenbau
und Landwirtschaft unsere Anerkennung entgegen.
Trotz alledem stehen die Imker und ihre Bienenvölker
unter immensem Druck. In diesem Winter hatten viele
Imker große Überwinterungsverluste bei ihren Völkern
zu beklagen, teilweise bis zum Komplettverlust. Die Untersuchungen der Bieneninstitute, federführend dabei
das Fachzentrum Bienen und Imkerei in Mayen, und des
Deutschen Bienenmonitorings zeigen durchschnittliche
Verluste von bis zu 25 Prozent der Bienenvölker im vergangenen Winter. Diese sind regional noch wesentlich
höher ausgefallen. Die Verluste sind vergleichbar mit
den ebenso schweren Verlusten in den Wintern 2005/06
und 2007/08. Die überwältigende Mehrzahl der Bienenwissenschaftler ist sich einig, dass die hohen Überwinterungsverluste auf den zunehmenden Befall der Bienenvölker durch die Varroamilbe und damit einhergehende
Infektionen durch Viren zurückzuführen sind.
Diese Zahlen machen deutlich, dass unsere Imker vor
großen Herausforderungen stehen. Derartige Verluste
können insbesondere viele Hobbyimker nicht kompensieren. Angesichts dieser äußerst besorgniserregenden
Entwicklung und des existenziellen Mangels an geeigneten, effektiven und handhabbaren Therapeutika wirkt es
wie ein Hohn, dass die Fraktion Die Linke einen Antrag
mit dem Titel „Imkerei vor der Agro-Gentechnik schützen“ vorgelegt hat. Sie hat das Thema verfehlt!
Was hilft einem Imker, der seine Völker durch die Varroamilbe verloren hat, eine Änderung des GentechnikZu Protokoll gegebene Reden
gesetzes? Wenn mein Hund krank ist, würde mir doch
auch keiner raten, einen neuen Personalausweis zu beantragen. Das ist völlig absurd. Auch das zweite Problem der Imkerei wird dadurch nicht gelöst. Bienen finden
in einigen Regionen zu wenig Nahrung. Wir brauchen
mehr Blütenpflanzen in unserer Landschaft.
In einem Punkt hat der Antrag meiner geschätzten
Kollegin Tackmann jedoch recht: Das unsägliche Urteil
des Europäischen Gerichtshofs zur Verkehrsfähigkeit
von Honig, Az C442/09, in der Rechtssache Bablok
macht rechtliche Änderungen notwendig. In seinem Urteil legte der Gerichtshof dar, dass Pollen nur dann als
gentechnisch veränderter Organismus, GVO, eingestuft
werden, wenn sie einen „Organismus“ im Sinne der
Richtlinie und der Verordnung, das heißt eine „biologische Einheit, die fähig ist“, „sich zu vermehren“ oder
„genetisches Material zu übertragen, darstellen. Der
Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass ein Stoff wie der
Pollen einer genetisch veränderten Maissorte, der seine
Fortpflanzungsfähigkeit verloren hat und in keiner
Weise fähig ist, in ihm enthaltenes genetisches Material
zu übertragen, nicht mehr von dem Begriff GVO erfasst
wird.
Weiter sieht das Gericht die Notwendigkeit der Zulassung von Pollen als Lebensmittel und begründet dies damit, dass Pollen eine Zutat im Honig sei. Genau dies ist
falsch. Tomaten auf der Pizza sind eine Zutat, der Pollen
im Honig jedoch nicht; denn niemand tut ihn absichtlich
hinein. Es gibt keinen natürlichen Honig ohne Pollen.
Die Interpretation von Pollen als Zutat durch das
EuGH hat beträchtliche Auswirkungen auf die gesamte
Honigwirtschaft, von der Produktion über die Lieferund Vermarktungskette bis hin zur Verarbeitung. Die
Hauptlieferländer für den europäischen Honigmarkt
sind Argentinien, Mexiko, China, Chile, Indien und Brasilien; alle diese Länder bauen GV-Pflanzen an. In diesen Ländern sind vorwiegend kleine und mittelgroße
bäuerliche Imkerbetriebe betroffen, welche aufgrund
des großflächigen Anbaus von GV-Pflanzen in ihren
Ländern den wichtigsten Exportmarkt die EU verlieren
könnten. Sehr viele der Imkereien werden gezielt von
Fair Trade oder anderen Entwicklungsprojekten gefördert. Alle diese Imker und Projekte sind jetzt gefährdet.
Sie können weder die GVO-Freiheit ihrer Produkte garantieren noch die hohen Analysekosten tragen. Die
Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher werden immens steigen, obwohl sich die Qualität des Honigs in keiner Weise ändert. Honig ist und bleibt ein leckeres, gesundes, hochqualitatives Lebensmittel.
Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss unbedingt Rechtssicherheit für Imker, Landwirte und den Honighandel hergestellt werden. Auf europäischer Ebene
ist es geboten, die Honigrichtlinie und abgeleitete
Rechtsvorschriften so zu ergänzen, dass die negativen
Auswirkungen des EuGH-Urteils rückgängig gemacht
und Pollen als integraler Bestandteil und nicht als Zutat
von Honig klassifiziert wird.
Ich bin mir bewusst, dass rund um die grüne Gentechnik noch Unbehagen bei einigen Imkern besteht. Wir
müssen alle gemeinsam darüber nachdenken, wie wir in
dieser Frage zu sachgerechten und für alle akzeptablen
Lösungen kommen können.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind Hersteller
von Sportschuhen. Neben Ihnen produziert jemand Autolacke. Eines Tages kommt es dazu, dass Farbspitzer
der Autolacke auf einer zur Auslieferung bereitstehenden Turnschuhpalette landen. Ein Gericht verbietet Ihnen nun, diese beschmutzten Turnschuhe zu verkaufen.
Sollte bewiesen werden, dass die Farbenmanufaktur Ihres Nachbarn Schuld an der Sauerei ist, dann muss er
Ihnen den entstandenen Schaden bezahlen. Ein weiteres
Gericht sagt aber auch, dass Sie keinen Anspruch darauf haben, vor Farbklecksen geschützt zu werden. Der
Nachbar kann also fröhlich mit Farbe umherspritzen,
ohne einen Sicherheitsabstand zu Ihren Schuhpaletten
einzuhalten oder eine Trennwand aufzubauen. Klingt
paradox? Ist es auch. Aber es ist trotzdem wahr.
Was in dem Sprachbild der Schuh, ist in der Realität
der Honig. Was in der Geschichte der Autolack, sind
Gentech-Pollen, Pollen vom Monsanto-Mais MON810.
Und die unglaubliche Geschichte geht so: Am 6. September 2011 urteilte der Europäische Gerichtshof, dass
die Verkehrsfähigkeit von Honig durch Verunreinigungen mit Pollen des gentechnisch veränderten Mais
MON810 beeinträchtigt wird. Auf gut Deutsch: Er darf
nicht verkauft, sondern muss als Müll entsorgt werden.
Hintergrund: Dieser Mais hat in der EU zwar eine Lebensmittelzulassung, jedoch nicht für Honig. Darum
dürfen auch keine MON810-Spuren im Honig sein.
Darüber hinaus besitzt MON810 eine EU-Anbauzulassung. In der Bundesrepublik ist sein Anbau jedoch verboten. Die Linksfraktion wird dafür kämpfen, dass das
auch so bleibt.
Zurück zum Honig: Am 27. März 2012 urteilte nun
der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dass Imkerinnen und Imker keinen Anspruch auf Schutzmaßnahmen
gegen die Verunreinigung ihres Honigs durch den Anbau
von gentechnisch veränderten Pflanzen haben. Gleichzeitig wurde bestätigt, dass durch Pollen des gentechnisch veränderten Mais MON810 verunreinigter Honig
nicht verkauft werden darf.
Um im Bild der Eingangsgeschichte zu bleiben: Die
Lackhersteller dürfen weiter fröhlich mit der Farbe hantieren, ohne Vorkehrungen zu treffen, dass die Schuhe
des Nachbarn nicht verschmutzt werden.
Die betroffenen Imkerinnen und Imker sind zwar gegen das widersinnige Urteil vor das Bundesverwaltungsgericht gezogen, aber dessen Entscheidung steht
noch aus. Hier sieht die Linke dringenden Handlungsbedarf des Gesetzgebers, um diese aberwitzige Benachteiligung der Imkerinnen und Imker gegenüber dem Anbau
gentechnisch veränderter Pflanzen zu beenden, und
zwar rechtssicher. Mit diesem Antrag stellt sich die
Linksfraktion klar auf die Seite der Imkerei und gegen
die Profiteure der Agrogentechnik. Uns sind die Interessen der Bienen und ihrer Halterinnen und Halter deutlich wichtiger als die Interessen der mächtigen Agrarkonzerne und ihrer Genlabore.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir wissen natürlich, dass zur Verbesserung der
Schutzrechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern,
der gentechnikfreien Landwirtschaft und der Imkerei eigentlich viel umfangreichere Änderungen im nationalen
und europäischen Gentechnikrecht nötig wären. Doch
diese mehrfach angekündigte große Novelle zum Gentechnikgesetz wird von dieser Koalition wohl nicht mehr
kommen, eine gute sowieso nicht. Daher fordern wir als
die dringendste Sofortmaßnahme, den Schutz der Imkerei im Gentechnikrecht wirksam zu verbessern. Weitere
Änderungen bleiben trotzdem notwendig.
Die paradoxe Situation, dass verunreinigter Honig
nicht verkauft werden darf, wenn die transgene Pflanze
keine Lebensmittelzulassung für Honig hat, gleichzeitig
jedoch kein Rechtsanspruch auf den Schutz vor Verunreinigung besteht, muss durch den Gesetzgeber unverzüglich beseitigt werden, also durch den Deutschen
Bundestag; denn er hat eine besondere Sorgfaltspflicht
und ist neben dem Verursacherprinzip auch dem Vorsorgegedanken verpflichtet. Was wäre die Alternative?
Womöglich eine Verpflichtung der Bienen, den gentechnisch veränderten Mais zu meiden, oder der Imkerinnen
und Imker, vor dem Anbau einer nicht als Lebensmittel
zugelassenen Gentech-Pflanze ausweichen zu müssen?
Wir halten diese Alternativen für absurd und sehen das
Prinzip wie beim Gewaltschutzgesetz: Der Verursacher
muss gehen, nicht das Opfer. Übersetzt: Nicht der potenziell geschädigte Imker oder die Imkerin muss der Gefahr ausweichen, sondern der Gefahrenverursacher
- also der Gentech-Bauer - muss das Risiko vermeiden.
Das ist so bestechend logisch, dass man unserem Antrag
nur zustimmen kann.
Wie bei kaum einem anderen Wirtschaftszweig wird
anhand der Probleme der Imkerei aufgrund der Gefahr
von Verunreinigungen mit Gentech-Pollen deutlich, dass
eine Koexistenz zwischen Landwirtschaft mit und ohne
Gentechnik in der Praxis nicht funktionieren kann. Das
hat jüngst auch Ernst-Ludwig Winnacker, der ehemalige
Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bestätigt. Bienen fliegen gezielt über mehrere Kilometer zu
ihren Futterquellen. Das „Honig-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs von 2011 hat die Bedeutung dieser
Frage wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Zwar
haben wir in Deutschland gegenwärtig keinen Anbau
gentechnisch veränderter Pflanzen. Wenn es aber in Zukunft je dazu kommen sollte, sind weite Schutzabstände
zwischen Feldern mit gentechnisch veränderten Pflanzen und den Bienenstöcken der einzige praktikable Weg,
den deutschen Honig frei von unerwünschten gentechnischen Verunreinigungen zu halten. Die Bundesregierung
darf sich dieser Einsicht nicht länger verschließen.
Kanadische Imker und Imkerinnen haben aufgrund
der flächendeckenden Kontamination ihres Honigs
durch Genrapspollen bereits den europäischen Absatzmarkt weitgehend eingebüßt, ähnliches droht vielen Honigproduzenten und Produzentinnen in Lateinamerika
durch den großflächigen Anbau von Gensoja. Ein Anbau
von Gentech-Pflanzen ohne ausreichende Mindestabstände würde auch bei uns das Aus für viele kleine und
mittelständische Berufs- und Hobbyimker und Hobbyimkerinnen bedeuten. Ein mittelständischer Berufsimker,
der gentechnikfrei wirtschaften möchte, hätte durch den
kommerziellen Anbau von Gentech-Pflanzen Kosten von
bis zu 15 000 Euro pro Jahr für Analysen zu Verschmutzungen durch Gentech-Pollen zu tragen. Wer würde den
Imker und Imkerinnen diesen existenzgefährdenden
Schaden ersetzen?
Die Imker und Imkerinnen bestehen zu Recht darauf,
dass ihre Produkte genauso gut vor gentechnischen Verunreinigungen geschützt sein müssen wie andere Lebensmittel auch. Doch seit Jahren werden die berechtigten Schutzansprüche der Imkerei in Bezug auf Schäden
durch die Gentechnik juristisch weitgehend ignoriert
und ausgeblendet. Auch hier muss endlich das Verursacherprinzip gesetzlich klar umgesetzt werden und der
Schadenverursacher haften. Hersteller und Anbauer von
GVO müssen endlich zur Begleichung solcher Folgeschäden durch Gentechnik herangezogen werden.
Das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht Leipzig haben klar das Vorsorgeprinzip, den Schutzanspruch von
Imkerei, Landwirtschaft und Verbrauchern und Verbraucherinnen und damit die absolute Nulltoleranz gegenüber nicht zugelassenen GVO bestätigt. Das sind wichtige Signale.
Die Nulltoleranz sichert Verbraucherrechte, Wahlfreiheit und die Existenz der gentechnikfreien Land- und
Lebensmittelwirtschaft. Denn gerade für viele kleine
und mittlere Unternehmen ist eine Aufweichung der
Nulltoleranz ein echter Bärendienst. Sie müssten künftig
teure quantitative Analysen statt deutlich günstigerer
Ja-Nein-Analysen durchführen. Damit würden der gentechnikfreien Wirtschaft weitere bürokratische und finanzielle Belastungen aufgebürdet. Und was kommt
nach dem Fall der Nulltoleranz für Futtermittel und der
Nulltoleranz für Lebensmittel? Wird dann auch die Nulltoleranz bei Saatgut infrage gestellt? Das wäre das absehbare und sichere Ende der gentechnikfreien Landwirtschaft und damit auch der Wahlfreiheit, weil sich
diese Verunreinigungen über Auskreuzung ausbreiten.
Natürlich freuen wir uns, dass Ministerin Aigner unserer Forderung, die GVO-Nulltoleranz bei Lebensmitteln zu erhalten, folgen will. Aber wo war Frau Aigner
im letzten Jahr, als die Nulltoleranz bei Futtermitteln mit
Zustimmung Deutschlands aufgehoben wurde? Einsatz
für Sicherheit? Leider völlige Fehlanzeige. Verbraucher
und Verbraucherinnen müssen auch in Zukunft die Freiheit und die Möglichkeit haben, sich gegen Gentechnik
zu entscheiden. Dazu braucht es die Nulltoleranz, aber
keine Lizenz für die flächendeckende Verunreinigung
von Lebensmitteln. Jetzt muss die Ministerin auch endlich konsequent handeln und vorangehen! Wir brauchen
endlich bundeseinheitliche Schutzabstände zwischen
Bienenständen und Gentech-Feldern - und hier reden
wir über 5 Kilometer und mehr, nicht nur über ein paar
wenige Hundert Meter. Selbstverständlich muss dabei
Bestandsschutz für bestehende Bienenstände gelten.
Wie ernst es Ministerin Aigner mit dem Schutz von
Landwirtschaft, Imkerei und Verbrauchern und VerbrauZu Protokoll gegebene Reden
cherinnen ist, muss sie in den kommenden Monaten beweisen, wenn Zulassungsentscheidungen auf EU-Ebene
anstehen. Denn bislang hat die Bundesregierung noch
keinen einzigen Antrag auf Zulassung von GVO abgelehnt. Hier erwarten wir nicht nur laute Ansagen der
Ministerin, sondern klares Handeln - in Berlin und
Brüssel.
Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung;
denn jetzt ist die Zeit, endlich klare Regelungen zu treffen, statt weiter Katz und Maus zu spielen, wie es die Koalition bisher in dieser Frage gemacht hat. Bei einer Novellierung des Gentechnikgesetzes kommt es allerdings
auf eine sorgfältige und umfassende Umsetzung statt eines Schnellschusses an. Die Festlegung ausreichend
großer, bundesweit einheitlicher Mindestabstände in der
Gentechnik-Pflanzenerzeugungsverordnung muss als
Schlüsselelement zügig und deshalb zeitlich vor der aufwendigeren Änderung des Gentechnikgesetzes erfolgen.
Wir erwarten von der Bundesregierung jetzt neben
der Novellierung des Gentechnikgesetzes im Sinne des
Schutzes von Umwelt, Verbrauchern und Verbraucherinnen und Imkerei folgende Schritte: die Umsetzung der
Forderung des Bundesrates vom 30. November 2007,
wonach die Imkerei endlich bei der Gentechnik-Pflanzenerzeugungsordnung berücksichtigt werden muss,
verbindliche Informationspflichten für GVO-Anbauer
gegenüber den im Flugradiusbereich aktiven Imkereien,
bei den Ländern auf flächendeckende Kontrollen zur
Einhaltung der Meldepflicht von Freisetzungen von
GVO für das Standortregister zu drängen und die Voraussetzungen zu schaffen, damit Verstöße gegen die
Meldepflicht wirkungsvoll sanktioniert werden, Einführung von Regelungen, die dem Verursacherprinzip auch
bei indirekt durch den GVO-Anbau bedingten Schäden
und Kosten Rechnung tragen.
Wer etwas zum Schutz der Imkerei, der Bienen, Honig- wie Wildbienen, und der Hummeln und damit eines
wesentlichen Teils unserer Ökosysteme beitragen will,
darf aber nicht bei der Frage der Agrogentechnik stehen
bleiben. Blütenmangel in unseren Agrarlandschaften,
Pestizidbelastungen, insbesondere durch Neonicotinoide, sind Alarmzeichen, die uns nachdenklich machen
müssen.
Im Gegensatz zur Blockadehaltung der Bundesregierung und des Deutschen Bauernverbandes gegen das
Greening der EU-Agrarpolitik haben die Imkerverbände
erkannt, dass der aktuelle Kurs der Landwirtschaftspolitik nicht zukunftsfähig ist. Ich empfehle die Lektüre der
aktuellen „Berliner Erklärung“ der Imkerverbände mit
konkreten Forderungen und Vorschlägen dazu, wie die
Landwirtschaft bienenfreundlicher gemacht werden
kann. Auch das EEG muss bei den Fördervoraussetzungen und der Vergütung so verbessert werden, dass der
Anbau von bienenfreundlichen Kulturen und Zwischensaaten wirtschaftlich attraktiv wird.
Stirbt die Biene, stirbt der Mensch! Bienenfreundliche Agrarpolitik ist daher immer auch menschenfreundliche Agrarpolitik. Dazu gehört auch der Schutz der Imkerei vor den Gefahren der Agrogentechnik, damit
Honig ein sauberes Naturprodukt bleibt. Frau Ministerin Aigner, es ist höchste Zeit. Handeln Sie jetzt!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9985 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter
Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel
Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Basiskonto schaffen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann
- Drucksachen 17/9398, 17/8312, 17/9798 Buchstabe a und e Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Holger Krestel
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.
Ein Leben ohne Konto ist für uns heute eigentlich unvorstellbar. Im täglichen Leben wird es für Lohn- und
Gehaltszahlungen, finanzielle Leistungen des Staates
wie Kindergeld, Elterngeld, Arbeitslosengeld und
BAföG, aber auch zur Begleichung von Rechnungen für
Miete, Strom, Wasser, Einkäufe und vieles mehr benötigt.
Heute werden eine Vielzahl von Geschäften des Alltags
unbar über das Konto oder eine Kreditkarte getätigt; die
Bargeldzahlung wurde in vielen Bereichen abgelöst. In
Deutschland wurden allein im Jahr 2010 Güter mit einem Volumen von 144 Milliarden Euro über kartengestützte Zahlungsverfahren umgesetzt. Das sind rund
38 Prozent des Gesamtumsatzes. Aber auch das Bargeld
für den täglichen Bedarf stammt meist aus einem Geldautomaten einer Bank, bei der wir ein Girokonto haben.
Für einen Großteil der Bürger in unserem Land sind
diese Vorteile heute selbstverständlich. Das Girokonto
ermöglicht es uns, am gesellschaftlichen und modernen
wirtschaftlichen Leben teilzunehmen.
Jedoch gibt es in Deutschland immer noch Menschen,
die kein Girokonto besitzen. Schätzungen gehen von einem hohen sechsstelligen Wert aus. Für diese kontolosen Personen ist es oft unmöglich, am gesellschaftlichen Leben, am Wirtschaftsleben und oftmals auch am
Arbeitsleben teilzuhaben. Die Barauszahlung, wie zum
Beispiel vom Lohn, als auch die Barbezahlung, zum Beispiel der Miete, gestalten sich oft sehr schwierig und
sind mit einem vermehrten zeitlichen, personellen und
finanziellen Aufwand verbunden. Auch für staatliche
Stellen ist die Barauszahlung finanzieller Leistungen ungleich höher, da sie jeden Vorgang individuell bearbeiten müssen.
Gerade im Hinblick auf die fortschreitende Harmonisierung des europäischen Zahlungsraums durch die
neue SEPA-Verordnung, deren Umsetzung wir heute in
erster Lesung im Plenum behandeln, werden Kontolose
in Zukunft von dieser Verbesserung nicht profitieren
können.
Darüber hinaus haben wir auch ein Interesse, dass
Zahlungen über Bankkonten abgewickelt werden. So
lassen sich Betrugs- und Geldwäschefälle leichter aufdecken.
Zur Beseitigung dieses Missstandes erarbeitete der
Zentrale Kreditausschuss - heute die Deutsche Kreditwirtschaft - eine Empfehlung zum Girokonto für jedermann. Diese Empfehlungen wurden aber bisher unzureichend umgesetzt.
Im aktuellen Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann vom 27. Dezember
2011 kommt man zu dem Ergebnis, dass trotz eines weiteren Anstiegs der Girokonten für jedermann weiterhin
überzeugende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Kontolosigkeit in Deutschland ein ernstzunehmendes Problem ist.
Auf europäischer Ebene führte die Kommission
hierzu bereits eine Folgenabschätzung durch. Im Juli
letzten Jahres sprach sich auch der zuständige Binnenmarktkommissar Michel Barnier für die Einführung eines Basiskontos für alle Bürgerinnen und Bürger aus. Im
Mai dieses Jahres forderte auch der Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments die
Einführung eines Kontos für alle Bürger. Aufgrund dieser fortschreitenden Entwicklungen erwarten wir einen
Gesetzentwurf der Kommission noch bis Ende dieses
Jahres. Im Allgemeinen begrüße ich diese Entwicklungen auf europäischer Ebene.
Die gesetzliche Verankerung eines Basiskontos für jedermann allein stellt allerdings kein Allheilmittel dar,
welches das Problem der Kontolosigkeit löst. Dies haben Erfahrungen in anderen Ländern sowie Bundesländern mit entsprechenden Sparkassengesetzen gezeigt.
Ziel muss es daher sein, die Betroffenen besser aufzuklären. Wir benötigen effiziente Verfahren, um dem Betroffenen die Chance auf eine Kontoeröffnung zu bieten,
ohne ihn auf den aufwendigen Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten verweisen zu müssen.
Die Koalitionsfraktionen sind sich daher einig, dass
der Zugang der kontolosen Verbraucher zu den kostenlosen Schlichtungsverfahren der Verbände der Kreditwirtschaft, in denen die Kontoverweigerung durch einen
unabhängigen Schlichter überprüft werden kann, ein in
Deutschland bewährtes Instrument darstellt.
Für die Betroffenen beinhaltet ein solches Verfahren
deutliche Vorteile. Im Gegensatz zu einem Klageverfahren ist es deutlich günstiger, einfacher, bürokratiearm
und ohne juristische Fachkenntnisse zu meistern.
Viele Betroffene sind jedoch nur mangelhaft über
diese Möglichkeit durch die Kreditinstitute informiert,
auch wenn die Zahlen belegen, dass ein solches Schlichtungsverfahren in den meisten Fällen zum Erfolg führt.
Deswegen wollen wir dieses Verfahren verbessern. Kreditinstitute sollen daher zukünftig zu einem Bescheid bei
Ablehnung eines Kontoantrags in Textform und zu einem
Hinweis auf die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens verpflichtet werden. Die verpflichtende Einführung
würde die Kunden über die Gründe der Ablehnung informieren und eine Schlichtung in deutlich mehr Fällen
ermöglichen. Wir fordern daher die Bundesregierung
auf, einen Gesetzentwurf mit diesen Vorschlägen vorzulegen.
Die Möglichkeit des Schlichtungsverfahrens in Zusammenhang mit der verbindlichen Abgabe eines Ablehnungsbescheids stellt für alle Beteiligten die kosten- und
zeitgünstigste Variante dar. Bei den Verhandlungen auf
europäischer Ebene sollte auch eine solche Lösung berücksichtigt werden.
In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung unseres Antrags.
Die Teilhabe am modernen gesellschaftlichen Leben
wird heute anders bewertet als noch vor 40 Jahren. Wer
heutzutage kein Konto besitzt, ist in seiner Teilhabe eingeschränkt. Kontolosigkeit begrenzt die wirtschaftliche
Handlungsfreiheit der Betroffenen. Aus dem Bericht der
Bundesregierung geht hervor, dass die Zahl der von den
Banken auf Guthabenbasis angebotenen Girokonten für
jedermann von 1,9 Millionen in 2005 auf 2,6 Millionen in
2010 gestiegen sind. Wenn aber über eine halbe Million
Bürger keinen Zugang zu einem Basiskonto erhält, dann
ist das ein unmöglicher Zustand und ein ernstzunehmendes Problem.
Seit 1995 haben wir den Banken Empfehlungen an
die Hand gegeben. 2006 haben wir den Kreditinstituten
ein Maßnahmenpaket empfohlen, 2008 noch einmal.
Dabei hat die Bundesregierung auch sehr deutlich gemacht, dass, sollten die Banken den Empfehlungen nicht
folgen, eine gesetzliche Regelung eingeführt wird.
Bisher wurde keine einzige der Empfehlungen umgesetzt. Die Chance zur Selbstregulierung wurde vertan.
Das ist für uns inakzeptabel. Aber vor allem ist es inakzeptabel für die Verbraucher und Verbraucherinnen,
die ohne Konto dastehen. Und darum handeln wir.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ganz klar brauchen Banken in einer sozialen Marktwirtschaft Freiräume, aber Regulierung ist immer an
der Stelle nötig, wo es der Markt nicht selber schafft
oder wie in diesem Fall nicht will. Aus diesem Grund
wollen wir das Basiskonto für jedermann. In diesem
Punkt sind wir uns sogar mit der Opposition einig.
Nur wollen wir eine Regelung auf europäischer
Ebene. Denn es bringt nichts, wenn wir in den nächsten
Wochen und Monaten eine Regelung finden, die dann
kurze Zeit später wieder hinfällig ist, weil die Europäische Kommission dann eine entsprechende Lösung
verabschiedet. Davon haben die Verbraucherinnen und
Verbraucher nichts.
Nein, wir wollen eine langfristige Lösung und keine
Schnellschüsse, die übermorgen verpufft sind. Daher
lehnen wir auch die Anträge der Opposition ab.
Unser Antrag sieht neben der Einführung eines EUweiten Basiskontos noch Neuerungen für das Schlichtungsverfahren vor:
Wir wollen einfache, zügige und kostengünstige
Streitschlichtungsverfahren.
Mit Blick auf Kreditinstitute, die nicht an derartigen
Verfahren teilnehmen, fordern wir die Bundesregierung
auf, eine gesetzliche Regelung zu schaffen. In den Fällen
soll das gesetzlich vorgesehene Schlichtungsverfahren
bei der Deutschen Bundesbank durch eine Änderung des
Unterlassungsklagengesetzes erweitert werden.
Verbrauchern soll die Ablehnung einer Kontoeröffnung seitens der Kreditinstitute schriftlich mitgeteilt
werden, und sie müssen über den Anspruch auf ein
Schlichtungsverfahren informiert werden. Die Bundesregierung wird aufgefordert, hierzu eine gesetzliche Regelung zu schaffen.
Immer noch viel zu viele Verbraucher ohne Basiskonto nehmen das Schlichtungsverfahren nicht in Anspruch, weil sie weder wissen, dass es existiert, noch
missen, dass es für sie kostenlos ist. 2011 haben etwa
5 200 Verbraucher an einem solchen Verfahren im Bankensektor teilgenommen. Bedenkt man die Zahl derer,
die ohne Konto dastehen, ist es eine viel zu geringe Zahl.
Daher fordern wir eine bessere Informationspolitik zu
den Zugangsmöglichkeiten zu einem Schlichtungsverfahren seitens der Auszahlungsstellen für Sozialleistungen. Ein Schlichter wird, wenn er den Auftrag erhalten
hat, für den Verbraucher kostenlos feststellen, ob die Ablehnung rechtskonform ist. Mit der Normierung des
Schlichtungsverfahrens schaffen wir rechtliche Klarheit
für diejenigen, denen die Eröffnung eines Girokontos
verwehrt wird.
Wie sehen die weiteren Schritte aus? Die Europäische
Kommission hat bereits die Absicht geäußert, noch für
2012 eine Regelung bezüglich eines Basiskontos vorzulegen. Dies begrüßen wir.
Weiterhin fordern wir die Bundesregierung auf, der
zügigen Umsetzung dieses Vorhabens Nachdruck zu verleihen. Jedem Verbraucher muss die Möglichkeit gegeben werden, ein Konto zu eröffnen - und dies natürlich
auch zu einem angemessen Preis. Daher werden wir
auch in Zukunft sehr genau beobachten, inwieweit die
Banken ihren Verpflichtungen gerecht werden. Eine
Weisheit besagt: „Der Markt basiert auf Eigennutz.
Drum gibt es den Verbraucherschutz.“ Diesem Ausspruch lassen wir Taten folgen.
Heute diskutieren wir den mittlerweile sechsten Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto
für jedermann und einen Antrag der Koalitionsfraktionen.
In ihrem Bericht soll die Bundesregierung die Fortschritte bei der Umsetzung der Selbstverpflichtung der
deutschen Kreditwirtschaft in Sachen Girokonto für jedermann darstellen. Denn seit 1995 haben sich die Banken in Deutschland verpflichtet, grundsätzlich jedem,
der ein Girokonto eröffnen will, das auch zu ermöglichen. So weit die Theorie.
Auf 67 Seiten des Berichts der Bundesregierung vom
Dezember 2011 steht dagegen, wie die Realität in
Deutschland aussieht: Die Selbstverpflichtung der deutschen Kreditwirtschaft ist gescheitert.
Immer noch gibt es Hunderttausende Menschen in
Deutschland, denen ein Girokonto verweigert wird, obwohl sie schon eine Odyssee zwischen den Filialen der
verschiedenen Kreditinstitute hinter sich gebracht haben und immer wieder abgewiesen wurden, und die
schließlich gesetzwidrig das Konto einer nahestehenden
Person für eigene Zahlungszwecke verwenden müssen.
Für die SPD-Fraktion ist das schlicht ein Skandal und
ein Umstand, bei dem jetzt endlich der Gesetzgeber gefordert ist. Wir wollen, dass die Banken in Deutschland
die gesetzliche Pflicht haben, kontolosen Kunden auf
Antrag ein Girokonto auf Guthabenbasis zu angemessenen Kosten einzurichten, sofern dies im Einzelfall nicht
unzumutbar ist.
Ein Girokonto gehört zum verfassungsrechtlichen
Existenzminium. Denn mittlerweile ist es fast unstrittig,
dass mehr zur staatlichen Daseinsvorsorge gehört, als
den Betroffenen Geld für Miete und Essen bereitzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
der Staat die Rahmenbedingungen dafür schaffen muss,
die der Bürger als Mindestvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein benötigt. Zusammengefasst haben die Richter das in dem Satz: Der Mensch als Person
existiert notwendig in sozialen Bezügen.
Früher wurde in diesem Zusammenhang über die
Höhe des Sozialhilfesatzes, den Steuerfreibetrag und
den Kindergeldanspruch diskutiert. Heute schaffen
Städte Sozialtickets, damit sich sozial Schwächere in der
Stadt bewegen können. Es gibt Kulturtickets für 3 Euro,
damit Empfänger von Arbeitslosengeld II ein klassisches
Konzert besuchen können oder mit den Kindern ins Puppentheater gehen können.
Bei einem Girokonto gilt das aber alles offensichtlich
nicht. Dabei gehört ein Konto heute zweifelsohne dazu,
um am modernen Leben teilzuhaben. Heinz Rühmann
Zu Protokoll gegebene Reden
sang einst: „Der Freitag ist mein Freudentag, da überreicht man mir den schwer verdienten Wochenlohn im
Tütchen aus Papier.“ Aber die klassische Lohntüte gibt
es nicht mehr. Wie soll man ohne Girokonto eine Wohnung und einen Arbeitsplatz finden und Steuern zahlen,
Mobilfunkverträge abschließen oder Internetgeschäfte
tätigen?
Ein Girokonto ist eine Grundvoraussetzung zur individuellen Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialen
Leben und als solcher unverzichtbarer Bestandteil der
Daseinsvorsorge. Solange es nicht glasklar geregelt ist,
dass jedermann einen Anspruch auf ein Girokonto hat,
haben wir hier eine offene Flanke. Für die SPD ist die
Frage nach dem Girokonto für jedermann damit gelebte
Sozialpolitik.
Als Zwischenlösung wurde im Jahr 2010 das Pfändungsschutzkonto, P-Konto, geschaffen. Damit bleibt
den Menschen das pfändungsfreie Existenzminimum von
derzeit 1 028,89 Euro automatisch erhalten. Aber auch
diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Entgegen
der Absicht des Gesetzgebers, P-Konto-Inhaber nicht
stärker zu belasten als Inhaber eines gewöhnlichen
Girokontos, ist bei einer Vielzahl von Bankinstituten die
Kontoführung nach Umwandlung in ein P-Konto deutlich teurer als beim Girokonto. Die Kosten belaufen sich
auf bis zu 25 Euro im Monat, und das, obwohl die Menschen sowieso schon wenig Geld haben. Das ist Abzocke! Und vor allem: Wer noch nicht einmal ein Girokonto hat, dem nützt der Anspruch auf seine
Umwandlung in ein P-Konto auch nichts.
Ein Komplex, der bisher viel zu wenig beleuchtet
wurde, sind die Kosten, die dem Staat dadurch entstehen, dass Banken Kontos verweigern. Allein die Bundesagentur für Arbeit beziffert die jährlichen Bürokratiekosten auf 11 Millionen Euro! Diese Kosten entstehen
der Agentur, wenn sie mit der Post Zahlungsanweisungen zur Verrechnung vornehmen muss. Das waren allein
im Jahr 2011 circa 11 Millionen Vorgänge. Ein unglaublicher bürokratischer Aufwand, der vermeidbar wäre,
wenn sich die schwarz-gelbe Koalition hier endlich bewegen würde.
Die Koalitionsfraktionen gehen dagegen weiter den
Banken auf den Leim. Anders ist der Antrag, den wir
heute abschließend beraten, nicht zu verstehen. Denn er
ist absolut unzureichend und wird dem Problem in keiner Weise gerecht. Bei Schwarz-Gelb herrscht offensichtlich die Auffassung, Banken zu Verträgen zu zwingen, sei mit einer freien Marktwirtschaft nicht vereinbar.
Aber was ist denn das für eine Vorstellung von Marktwirtschaft, die nur eine Seite, nämlich die der Banken, in
Blick hat? Weder wird endlich eine gesetzliche Verpflichtung der Banken gefordert, noch werden - wozu
sich die Banken eigentlich längst verpflichtet haben die Schlichtungssprüche der Schiedsstellen als verbindlich vorgeschrieben. Das ist viel zu wenig.
Selbst die EU-Kommission sieht Handlungsbedarf.
Binnenmarktkommissar Barnier hat unlängst eine Initiative für eine gesetzliche Verpflichtung der Banken angekündigt. Es gibt aber keinen Grund, jetzt auf die EU
zu warten. Wir wissen nicht, wie der Vorschlag ausgestaltet ist, und wir wissen nicht, wann er endgültig auf
dem Tisch liegt. Das kann noch sehr lange Zeit dauern.
Auch andere europäische Staaten wie Belgien und
Frankreich haben eigene Regelungen, Deutschland
steht dagegen weiter im Abseits.
Die SPD will hier endlich Abhilfe schaffen. Deshalb
haben wir ein eigenes Konzept vorgelegt, mit dem wir
das Problem endlich lösen können, damit nicht im siebenten Bericht der Bundesregierung wieder steht, dass
das Girokonto für Jedermann nach wie vor nicht funktioniert. Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnen
wir ab.
Was die Opposition in sieben Jahren rot-grüner
Koalition und in elf Jahren mit einem sozialdemokratischen Finanzminister nicht auf die Beine gestellt bekommen haben, schließen wir nach wenigen Monaten konzentrierter, sachbezogener Arbeit ab.
Darin, dass ein Girokonto im Hinblick auf die heutige
Geschäftswelt zur Teilhabe an der Gesellschaft und dem
alltäglichen Leben notwendig ist und dass Bürgern, denen ein Zugang zu einem Konto unfreiwillig verwehrt
bleibt, benachteiligt werden, sind wir uns in diesem
Hause ja einig. Der Ansatz, wie wir diesem Problem beikommen können, unterscheidet uns aber von der Opposition. Eine alleinige gesetzliche Verpflichtung kann kein
Allheilmittel sein. Wir haben während unserer Antragsberatung alle betroffenen Seiten mit einbezogen. Sowohl
Verbraucher als auch private und öffentliche Banken
wurden angehört und ein gesunder Konsens gefunden,
mit dem den Beteiligten geholfen und den Anbietern hoffentlich nicht geschadet ist.
Im Rahmen der auf europäischer Ebene laufenden
Verhandlungen fordern wir die Bundesregierung daher
auf, sich dafür einzusetzen, dass den deutschen Bürgern
ein Zugang zu einem Basiskonto auf Guthabenbasis ermöglicht wird. Da einem Verbraucher ein Anspruch auf
etwas aber nichts nützt, wenn er diesen nicht kennt oder
durchsetzen kann, fördern wir des Weiteren den Zugang
zu dem kostenlosen Schlichtungsverfahren der Verbände
der Kreditwirtschaft. In diesen bewährten Verfahren
wird durch einen unabhängigen Schlichter zwischen
Verbrauchern und Instituten vermittelt, und die veröffentlichten Zahlen belegen, dass den Kunden im Regelfall zu einem Konto verholfen werden kann. Dies ist für
den einfachen Bürger zugänglicher und mit weniger bürokratischem Aufwand verbunden als ein Verfahren vor
einem ordentlichen Gericht. Darum setzen wir auf eine
klare Kommunikation und Aufklärung - unter anderem
durch Träger von Sozialleistungen, aber auch durch die
Banken selbst. Die Institute sollen daher verpflichtet
werden, Ablehnungen eines Kontowunschs stets in Textform auszuweisen und auf die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens hinzuweisen. Mit einer schriftlich festgehaltenen Ablehnung wird das dann folgende
Verfahren enorm erleichtert und auch andere Formalitäten wie zum Beispiel der Nachweis beim Träger von Sozialleistungen, dass man sich um ein Konto bemüht,
werden für den Verbraucher vereinfacht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Personen, die aufgrund von offensichtlichem Eigenverschulden kein Konto erhalten, weil sie sich zum Beispiel dem Personal in der Filiale gegenüber untragbar
verhalten, werden allerdings weiterhin keiner Bank zugemutet werden! Ebenso sehen wir, dass eine Bank entweder ein Unternehmen oder eine Genossenschaft ist,
welche beide am Ende des Jahres wenigstens mit einer
schwarzen Null unter der Bilanz dastehen möchten. Daher wird es ihnen auch weiterhin gestattet sein, ein angemessenes Entgelt für die Kontoführung zu berechnen.
Dies ist auch notwendig, um einer Ungleichbehandlung
von Banken nach Regionen zuvorzukommen und zu verhindern, dass Filialen in dann für das Geschäft ungünstigen Gebieten geschlossen werden, obwohl sie dort
dringend gebraucht werden.
Die Koalition hat hier einen sehr verbraucherfreundlichen und an der Realität orientierten Entwurf, der
klare Lösungswege ebnet, vorgelegt. Das ist etwas, was
kein sozialdemokratischer Finanzminister in elf und
keine grüne Verbraucherschutzministerin in vier Jahren
geschafft haben. Ich bitte Sie daher, diesen Antrag zu unterstützen.
Seit Jahren diskutieren wir über die Einführung eines
Girokontos für jedermann. Immerhin berichtet die Bundesregierung auch auf unseren Druck und den von Sozialverbänden hin seit 2002 in der Regel im zweijährigen Abstand über den Stand der Umsetzung der
Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses. Der uns
hier vorliegende Bericht erfasst ausnahmsweise einen
dreijährigen Zeitraum bis zum 31. Dezember 2011, wodurch die Auswirkungen der Reform des Kontopfändungsschutzes berücksichtigt werden konnten. Mit dem
Pfändungsschutzkonto, kurz P-Konto, versuchte die
Bundesregierung, das Problem, der Blockierung von
Girokonten durch Pfändungsmaßnahmen, anzugehen.
Doch löst das P-Konto nicht das Problem der Kontolosigkeit.
Was sagt uns der vorliegende Bericht? Er gibt in den
ersten Teilen eine statistische Übersicht über die zahlenmäßige Entwicklung der „Girokonten für jedermann“
({0}), einschließlich Kontokündigungen, -ablehnungen
und Beschwerdeverfahren sowie der P-Konten bis Juni
2011. Zu den Kontolosen in Deutschland wird auf eine
Studie der Europäischen Kommission verwiesen, wonach im Juli 2010 in Deutschland rund 670 000 Menschen der über 18-Jährigen ohne Konto waren. Das sind
Menschen, die nicht überschuldet sein müssen, lediglich
kontolos. Wenn man sich allerdings die Schätzungen des
Instituts für Finanzdienstleistungen, iff, anschaut, will
das so recht nicht ins Bild passen. Denn laut iff haben
sich allein rund eine halbe Million überschuldete kontolose Menschen freiwillig an eine Schuldnerberatung gewandt. Dies legt nahe, dass die Dunkelziffer bei den
Kontolosen deutlich höher ausfallen dürfte.
Die Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses
„Girokonto für jedermann“ stammt bereits aus dem
Jahr 1995 und wurde als Selbstverpflichtung ohne Bindungswirkung an die Mitgliedsinstitute, das heißt die
einzelnen Bankenverbände, abgegeben. Sie erfolgte vor
allem auf Druck der Sozialverbände. Seitdem war genügend Zeit, um seitens des Gesetzgebers aktiv zu werden.
Doch wir müssen feststellen: Bisher ist so gut wie nichts
passiert. Der nun schnell zurechtgezimmerte Antrag der
Regierungskoalition, der den bereits seit längerem vorliegenden Anträgen der Oppositionsfraktionen kürzlich
beigelegt worden ist, ist wahrlich kein Glanzstück. Und
der Idee eines Girokontos für jedermann wird er keineswegs gerecht. Hinter der Idee steht, Bürgerinnen und
Bürgern ohne Girokonto einen Neuzugang zum bargeldlosen Zahlungsverkehr und hierdurch die Teilnahme am
Wirtschaftsleben zu ermöglichen.
Mit dem Antrag machen es sich die Koalitionsfraktionen zu einfach. Ihr jetziger Vorschlag besteht nur darin,
die Banken stärker in die Pflicht zu nehmen, indem sie
über die bestehende Möglichkeit von Schlichtungsverfahren zu informieren haben. Das mag dann vielleicht
als Folge mehr Schlichtungsverfahren geben. Denn Betroffene erfahren dann nicht erst auf Anfrage hin bei sozialen Beratungsstellen von dieser Möglichkeit, sofern
sie sich überhaupt an eine solche wenden. Daraus gleich
einen verbesserten Zugang zum Basiskonto und Rechtssicherheit für von Kontolosigkeit Betroffene herzuleiten,
ist blauäugig. Daneben ist die Schlichtungsaufgabe verbandsabhängig eingebettet. Das heißt, sie ist beim Verband der Bank angesiedelt. Ein unabhängiger Ombudsmann kann bei Nichteinigung auch noch hinzugezogen
werden; sein Urteil ist aber von keiner bindenden Wirkung. Das wird den Betroffenen also wenig nützen. Eine
Lösung des Problems der Kontolosigkeit ist damit also
immer noch nicht in Sicht. Um endlich Rechtssicherheit
und Bürgernähe in die Praxis umzusetzen, braucht es
eine gesetzliche Verankerung eines Rechtsanspruchs.
Aber was hier als „Zugang zu einem Basiskonto“ lose
umrissen wird, ist nichts als ein unverbindlicher Appell.
In der Praxis taugt dies gar nichts. Das hat die über
15 Jahre dauernde Selbstverpflichtung gezeigt.
Die Verankerung eines individuell einklagbaren
Rechts auf ein Girokonto hingegen schafft Verbindlichkeit. Es ermöglicht die Teilnahme am Geldsystem und ist
nicht zuletzt nach den Grundsätzen der Versorgung mit
lebensnotwendigen Gütern möglich und sinnvoll, weil
normativ geboten - Stichwort Existenzminimum. Zudem
kann bei einem rechtlichen Anspruch der Gesetzgeber
Bedingungen festlegen und Leistungen definieren, zum
Beispiel dass das Konto kostenlos und erschwinglich für
jedermann ist, und er kann festlegen, welche Funktionen
es beinhalten soll, beispielsweise ein Girokonto mit Dispokreditfunktion statt eines reinen Basiskontos.
Zum Schluss möchte ich festhalte: Der Versuch der
Bundesregierung, das Thema Girokonto für jedermann
ohne Debatte im Bundestag einfach so abzubügeln, wird
dem immens wichtigen Anliegen der Idee eines Girokontos für jedermann keineswegs gerecht. Wir erwarten
von der Regierung, dass sie das noch einmal vernünftig
diskutiert. Auch fordern wir eine Überarbeitung des Antrags der Koalitionsfraktionen; denn dieser bietet keine
Lösung, er verschiebt lediglich das Problem. Gegenüber
unserem Anliegen, einen Rechtsanspruch für ein Girokonto zu verankern, ist er weit entfernt. Zudem leuchtet
Zu Protokoll gegebene Reden
es überhaupt nicht ein, weiteres Handeln auf die lange
Bank einer möglichen Regelung auf europäischer Ebene
zu schieben und Kompetenzen aus der Hand zu geben.
Wir hoffen inständig, dass sich die Bundesregierung
diesem wichtigen Thema noch einmal mit entsprechender Sensibilität widmen wird, sodass eine Lösung im Interesse der betroffenen Bürgerinnen und Bürger herauskommt.
Ohne Konto ist das Leben teuer, unbequem und oft
stigmatisierend. Trotz einer anders lautenden Selbstverpflichtung der Kreditwirtschaft machen Hochrechnungen der Europäischen Kommission zufolge über
600 000 Menschen in Deutschland täglich diese Erfahrung. Telefon- und Internetanschluss, die monatliche
Überweisung vom Arbeitgeber, der Kindergeldstelle,
das Einkaufen im Internet oder der Stromabschlag ohne Bankverbindung ist dies alles entweder unmöglich
oder nur durch aufwendige, teure und nicht selten stigmatisierende alternative Wege wie Bareinzahlungen
oder Fremdkontonutzung möglich.
Dieses Problem wird erfreulicherweise auch von der
schwarz-gelben Koalition erkannt. Völlig richtig beschreiben Union und FDP in ihrem Antrag das Konto
als Bindeglied zum Wirtschaftskreislauf und als Teil der
gewöhnlichen Lebensführung und stellen die Probleme
der Kontolosigkeit für die Betroffenen und ihr Umfeld
zutreffend dar. Leider folgen aus diesen Feststellungen
keine Taten. Der guten und klaren Problemanalyse folgen verschwurbelte Windungen und Drehungen, die eigentlich nur eines sagen: Die Probleme der Kontolosen
sind Schwarz-Gelb den Ärger mit den Banken nicht wert.
Dabei liegen die volkswirtschaftlichen Kosten der Kontolosigkeit wesentlich höher als die Kosten einer Versorgung mit Konten.
Statt einen Gesetzentwurf für ein Recht auf ein Konto
auf Guthabenbasis vorzulegen oder wenigstens der Bundesregierung einen entsprechenden Arbeitsauftrag zu
erteilen, versteckt sich die Koalition hinter Brüssel und
gibt vor, auf eine europäische Regelung zu warten. Das
Verhalten der Bundesregierung ist zynisch; denn sie
zweifelt in diesem Bereich die gesetzgeberische Kompetenz der EU an. Statt sich der grünen Forderung nach einem Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis anzuschließen, steht die Koalition lediglich europäischen
Initiativen „aufgeschlossen gegenüber“ und will die
Kontolosen mit einem Recht auf eine Ablehnung ihres
Antrages auf Kontoeröffnung in Textform und mit verbesserter Information über die Schlichtungsverfahren
der Kreditwirtschaft abspeisen. Auch diese Minimalforderungen werden im Antrag noch eingeschränkt und abgeschwächt - immer im Sinne der Banken.
Der vorliegende Antrag zeigt deutlich worin der Unterschied zwischen Opposition und Koalition besteht:
Wir wollen, dass alle Menschen am Wirtschaftsleben
teilhaben können und dass auch arme Menschen unter
fairen Bedingungen Zugang zu Bankgeschäften haben,
und zwar mit einem gesetzlichen Anspruch und nicht als
Bittsteller und Bittstellerinnen. Und wir wollen gleiche
Bedingungen für alle Kreditinstitute. Es ist nicht fair,
dass lediglich einige Sparkassen durch die Reglungen in
den Landessparkassengesetzen einem Kontrahierungszwangs unterliegen und ihre Wettbewerber alles tun, um
sich unliebsame Kunden vom Hals zu halten.
Sie stehen aufseiten der Banken und verschanzen sich
hinter dem Hinweis auf eine europäische Regelung, die
die Bundesregierung nach allem, was man aus Brüssel
hört, nach Kräften hintertreibt. Ich hätte nach der ersten
Lesung der Oppositionsanträge zum Konto für jedermann mehr von der Union erwartet als diesen lauen und
halbgaren Antrag. Wir werden weiter für ein Recht auf
ein Basiskonto kämpfen. Für uns ist die Debatte mit dem
heutigen Tag nicht vorbei.
Ein „Konto für jedermann“ ist aber für die Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben und die Teilnahme am modernen Wirtschaftsleben im 21. Jahrhundert unverzichtbar. Selbst der Gesetzgeber sieht das so, vergleiche nur
§ 47 SGB I, wonach der Regelfall die unbare Auszahlung von Geldleistungen ist.
Die Zahl der kontolosen Verbraucher ist nach wie vor
hoch, circa 670 000 Personen in Deutschland. Lediglich
in acht Bundesländern sind die Sparkassen landesgesetzlich verpflichtet, neuen Bankkunden ein Girokonto
auf Guthabenbasis zur Verfügung zu stellen. Mit Ausnahme des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands,
DSGV, lehnen die Verbände der Kreditwirtschaft unverändert jede verbindliche Regelung von Guthabenkonten
ab. Es kann nicht sein, dass den öffentlichen Kreditinstituten die alleinige Last aufgetragen wird.
Eine gesetzliche Regelung, Kontrahierungszwang,
die dem Verbraucher unter Ausschluss von Unzumutbarkeitsgründen ein subjektives Recht auf ein Girokonto
einräumt, ist verfassungsrechtlich zulässig, so die wohl
herrschende Meinung.
Das Verhalten der Bundesregierung ist zynisch. Auf
nationaler Ebene verweist man darauf, eine europäische
Gesetzgebung abzuwarten. „Jedenfalls kann aufgrund
der sich abzeichnenden europäischen Regelung ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf auf nationaler Ebene
gegenwärtig nicht bejaht werden.“ Auf der europäischen Ebene vertritt die Bundesregierung ihre Zweifel
an einer Gesetzgebungskompetenz der EU. Das ist sogar
in der Sache begründet, denn es ist fraglich, ob ein hinreichender, grenzüberschreitender Kontomarkt für elementare Teilhabe besteht. Jedenfalls wird es kurzfristig
keinen Rechtsakt der Kommission geben, sodass die
Bundesregierung bzw. der Bundestag gefordert ist, national tätig zu werden.
Lediglich sollen Kreditinstitute dann, wenn der Antrag auf Eröffnung eines Basiskontos verweigert wird,
gesetzlich verpflichtet werden, die Ablehnung schriftlich
zu begründen. Damit wird Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht wirklich geholfen, zwischen Kunde und
Kreditwirtschaft gibt es kein Geschäftsverhältnis auf
Augenhöhe, Schlichtungsverfahren sind nicht verbindlich.
Kontolosigkeit führt zu volkswirtschaftlichen Mehrkosten, die erheblich höher liegen als eine Versorgung
Zu Protokoll gegebene Reden
mit Konten. Selbst die Bundesagentur für Arbeit empfiehlt eine gesetzliche Regelung. Bei der Übermittlung
von Leistungen nach ALG I oder II sowie Kindergeld
entstanden im Jahr 2011 durch Kontolosigkeit Entgelte
in Höhe von mehr als 10 Millionen Euro. Studien haben
gezeigt, dass Kontolosigkeit die Verweildauer in Überschuldungssituationen fördert. Gebühreneingrenzung,
Belastung der finanziell Schwächsten durch Gebühren
von monatlich über 20 Euro für ein nicht voll ausgestattetes Girokonto, Internetnutzung, dürfen nicht sein.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9798. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des
Berichts der Bundesregierung auf Drucksache 17/8312
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/9398 mit dem Titel „Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Basiskonto schaffen“.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit ambitionierten Verbrauchsgrenzwerten
die Ölabhängigkeit verringern
- Drucksache 17/10108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.
Unser Verkehrsminister Peter Ramsauer rief vor einigen Jahren die Automobilindustrie dazu auf, in die Entwicklung alternativer Antriebe - insbesondere in die
Elektroautoentwicklung - zu investieren. Er sagte konkret, ich zitiere: „Wer jetzt nicht investiert, verschläft die
Zukunft.“
Und investiert haben wir in den letzten Jahren - damit meine ich, Politik und Industrie haben nicht verschlafen, wir haben und werden auch weiterhin in unsere Zukunft investieren. Von politischer Seite geben wir
die Impulse, die Anschübe und Vorgaben und die Industrie tut ihren Teil dazu.
Innovation ist in unser aller Sinne, und damit stehen
wir weltweit immer noch mit an der Spitze. Bei der Reduktion des Verbrauchs fossiler Energien sowie des Ausstoßes von Treibhausgasemissionen ist der Verkehrssektor nur ein Teil von vielen. Aber auch er muss seinen
Beitrag leisten.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns verpflichtet, eine
breit angelegte und technologieoffene Mobilitäts- und
Kraftstoffstrategie zu entwickeln. Diese soll alle alternativen Technologien und Energieträger berücksichtigen.
Die Bedeutung dieser Strategie wird sogar noch einmal
im Energiekonzept der Bundesregierung von 2010 unterstrichen.
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist auch schon tätig geworden und hat unter
anderem unter Koordination der Deutschen EnergieAgentur GmbH, dena, vier Institute mit einer Voruntersuchung beauftragt: das Deutsche Biomasse Forschungs Zentrum, DBFZ, das Institut für Energie- und
Umweltforschung Heidelberg, ifeu, Ludwig-BölkowSystemtechnik, LBST, sowie die ProgTrans AG.
Diesen Vorentwurf, den Sie auch auf den Internetseiten des BMVBS finden, empfehle ich allen als Lektüre,
und ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung die darin gemachten Vorschläge sorgfältig prüfen und dann
entsprechend angehen wird, wenn sie das nicht sogar
schon tut.
Auf Basis konkreter energie- und klimapolitischer
Ziele sollen Maßnahmen bzw. Steuerungsinstrumente
definiert werden. Dabei steht dann eine Vielzahl fiskalischer bzw. förderpolitischer sowie ordnungsrechtlicher
Instrumente zur Verfügung.
Wir haben uns bisher hauptsächlich auf den Pkw-Verkehr konzentriert, müssen das aber selbstverständlich
auch auf die anderen Verkehrsarten ausweiten.
Dennoch werden wir das nicht so wie die Grünen machen. Wir sind wirtschaftsfreundlich und verlangen den
Unternehmen und den Entwicklern nicht Dinge ab, die
technisch und wirtschaftspolitisch unrealistisch sind.
Die Koalition verfolgt zudem schon seit langem eine
technologiefreundliche und technologieoffene Politik,
die für den Fortschritt unerlässlich ist. Aber, wenn man
sich viele andere Ihrer Anträge und Gesetzesentwürfe so
anschaut, kann man das von Ihnen nicht sagen kann. Im
Gegenteil: Sie sind ja geradezu technikfeindlich!
Aber zurück zum Thema: Der Straßenverkehr verursacht momentan noch etwa ein Fünftel aller deutschen
CO2-Emissionen, und das muss reduziert werden - ganz
klar.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung im Deutschen Bundestag geht davon aus, dass
Elektromobilität die Zukunftstechnologie in diesem Bereich sein wird. Aber richtig klimafreundlich ist Elektromobilität erst dann, wenn hauptsächlich erneuerbare
Energie dafür zum Einsatz kommt.
In seinem Positionspapier „Perspektiven für eine
nachhaltige Mobilität - Mobilität für die Zukunft sicherstellen“ hat der Beirat im April 2011 darauf hingewiesen, dass Klimawandel, demografischer Wandel und
Endlichkeit der fossilen Ressourcen, die weltweite Zunahme des Energiebedarfs sowie die Belastung durch
Luftverschmutzung und Lärmbelästigung in den Städten
Politik und Wirtschaft vor eine historische Herausforderung stellen.
Ziel ist es, dass Mobilität auch in Zukunft für alle zugänglich und bezahlbar ist, wobei wir davon ausgehen
können, dass sich dieser Sektor extrem wandeln wird.
Die Bundesregierung ist auf dem besten Weg, trotz aller
Krisen.
Es gilt somit, die bestehenden Antriebe und Entwicklungen weiter zu verbessern und auch Anreize beim Hersteller und Endverbraucher zu schaffen, darin zu investieren. Diese können steuerlicher Art sein, aber auch die
Bereitstellung einer guten Infrastruktur. Und zuallererst
will ein Autokäufer von guten Produkten überzeugt werden.
Es gibt bereits batterieelektrische Fahrzeuge, BEV,
wobei die Speichermedien leider noch nicht optimal
sind, Plug-in-Hybridfahrzeuge, PHEV, sowie einige
wasserstoffbetriebene Brennstoffzellenfahrzeuge, FCEV.
Der Fortschritt geht mit raschen Schritten voran. Und in
ebensolchen Schritten werden die Produkte immer umweltfreundlicher werden! Der Wettbewerb und eine gewisse Anreizförderung werden das schon machen.
Der Verkehr verbraucht in Deutschland rund 30 Prozent der gesamten Endenergie. Seit 1960 hat sich der
Energieverbrauch des Verkehrssektors verdreifacht, seit
2000 ist er wieder leicht rückläufig. Wie ich schon sagte,
es ist ganz klar, dass auch der Verkehrssektor einen Beitrag zur Energiewende leisten muss.
Aus diesem Grund ist es Ziel der Bundesregierung
den Endenergieverbrauch im Verkehr gegenüber 2005
um 10 Prozent bis 2020 und um 40 Prozent bis 2050 zu
senken und damit maßgeblich zur CO2-Einsparung beizutragen.
Das Ziel „Weg vom Öl“ und somit auch weg von einer Abhängigkeit von Energieimporten, kann ich eigentlich nur unterstützen. Das sollte dann aber auch für die
anderen Importe gelten, wie zum Beispiel Gas.
Ausgehend von der Endlichkeit fossiler Ressourcen
wird sich die globale Energieversorgung langfristig auf
erneuerbare Energien umstellen.
Da der größte Teil davon als Elektrizität bereitstehen
wird - Windenergie, Wasserkraft, Photovoltaik, Geothermie und solarthermische Kraftwerke -, wird langfristig auch der Verkehrssektor elektrifiziert werden
müssen.
Neue Technologien eröffnen uns neue Wege: Und genau diese Wege gehen wir.
Der Antrag der Grünen, die Ölabhängigkeit durch
ambitionierte Verbrauchergrenzwerte zu verringern, ist
selbst sehr ambitioniert: Durch diese Aufforderung an
die Bundesregierung soll nichts weniger als die deutsche
Automobilindustrie - im Übrigen gegen deren erklärten
Willen - gerettet, Automobilität bezahlbar sowie massiv
Umwelt und Klima geschont werden.
Um mit dem Lobenswerten anzufangen: Ich begrüße
es sehr, dass sich die Grünen über all diese Fragen
Gedanken machen. Gerade Themen wie bezahlbare
Automobilität und Technologieneutralität sind Grundpfeiler der Verkehrspolitik der Union. Als direkt gewählter Abgeordneter des Bundestagswahlkreises Ludwigsburg freue ich mich natürlich auch darüber, dass ein
Unternehmen aus meinem Wahlkreis so gelobt wird.
Bosch ist nicht nur ein erfolgreicher Autozulieferer und
eine sehr innovative Firma, sondern auch ein ausgezeichneter Arbeitgeber. Eine kleine Anmerkung dazu
kann ich mir aber nicht verkneifen. Die Robert Bosch
GmbH aus Gerlingen ist nicht einer der weltweit größten Automotive-Zulieferer, sondern der größte.
Nun zu den Inhalten der Aufforderung an die Bundesregierung. Als Christdemokrat vertrete ich die Maxime:
So viel Staat wie nötig und so wenig Staat wie möglich.
Dieser Antrag scheint mir in die zweite Kategorie zu gehören. Natürlich geht kein Weg daran vorbei, den CO2Ausstoß unserer Autos weiter zu begrenzen. Dafür gibt
es auch gute Gründe: Der Verkehrssektor, der etwas weniger als ein Fünftel unserer Emissionen verursacht,
muss einen fairen Beitrag zum Klimaschutz erbringen.
Wer das unter Umweltgesichtspunkten nicht versteht,
dem sei gesagt, dass es auch wirtschaftlich anders nicht
geht. Denn Reduktionsleistungen, die der Verkehr nicht
erbringt, müssen andere, stärker regulierte Sektoren mit
erbringen. Das können wir unserer energieintensiven
Industrie nicht antun. Klar ist auch, dass der weit überwiegende Teil der Verkehrsemissionen - 95 Prozent davon - im Straßenverkehr entsteht. Verbrauch und Emissionen unserer Autos müssen also weiter gesenkt
werden. Aber die deutsche Autoindustrie lebt ja nicht
auf einer Insel der Glückseligen. Sie muss im weltweiten
harten Wettbewerb bestehen und hat deshalb ein ureigenes Interesse daran, die Grenzwerte zu senken. Gerade
bei steigenden Ölpreisen werden verbrauchsarme Fahrzeuge ein hervorstechendes Verkaufsmerkmal. Ich halte
deshalb wenig von Zwangsbeglückungen der Industrie
und extremen staatlichen Vorgaben, um technische Innovationen auf Teufel komm raus zu erzwingen.
Außerdem sind CO2-Reduktionen beim Auto auch
unter Verbraucherschutzgesichtspunkten wichtig. Automobilität muss weiter bezahlbar bleiben; da sind wir uns
mit den Grünen ja einig. Sparsamere Fahrzeuge bedeuten eine geringere Spritrechnung für Fahrer. Man muss
ja gar nicht die Greenpeace-Rechnung unterstützen,
wonach Flottengrenzwert für 2020 von 95 Gramm pro
Kilometer durchschnittlichen Autofahrern eine jährliche
Ersparnis von über 400 Euro bei den Spritkosten bringt.
Aber Anfang des Monats - per Pressemitteilung am
7. Juni - hat sich auch der in dieser Hinsicht völlig unverdächtige ADAC aus Gründen des Verbraucherschutzes für die strikte Beibehaltung des 95-Gramm-Flottenziels ausgesprochen. Aus dem gleichen Grund plädiert
der ADAC auch dafür, nach 2020 weitere feste Flottengrenzwerte festzulegen, und dazu wird es sicherlich auch
kommen.
Aber diese Flottengrenzwerte sollten eben realistisch
sein. Sonst nützen sie weder den Verbrauchern - wegen
teurerer Fahrzeuge - noch der Industrie und somit erst
recht nicht dem Standort Deutschland. Gleich an erster
Stelle fordert der Antrag die Herabsetzung des vor gerade drei Jahren beschlossenen Flottenziels von 95 auf
Zu Protokoll gegebene Reden
70 Gramm pro Kilometer. Wem 95 Gramm pro Kilometer nichts sagen: Es bedeutet, dass die Autos, die ein
Hersteller verkaufen darf, im Durchschnitt nicht über
4 Liter Benzin auf 100 Kilometer verbrauchen dürfen.
Jeder kann sich vorstellen, wie dieser Grenzwert vor allem BMW, Audi, Daimler und Porsche, die nun mal auf
leistungsfähigere Fahrzeuge spezialisiert sind und Hunderttausenden Leuten Lohn und Brot geben, natürlich
schon unter Druck setzt.
Auch wir wollen das lange geltende 95-Gramm-Ziel
nicht aufweichen. Aber in dieser Situation 70 Gramm zu
fordern, also im technischen und wirtschaftlichen
Grenzbereich einfach europaweit das 3-Liter-Auto zum
Durchschnitt machen zu wollen, das ist für Daimler und
Co sicherlich nicht förderlich und nutzt am Ende in
Deutschland niemandem.
Es sieht so aus, dass die entsprechende EU-Richtlinie 443 aus 2009, die das 95-Gramm-Ziel festlegt, nicht
- oder zumindest nicht richtig - gelesen wurde. Dort
kann man sehen, dass das „Überprüfungsverfahren“,
Review, das jetzt in Brüssel läuft, nach Art. 13 Abs. 5
wörtlich zum Ziel hat, „Modalitäten festzulegen um bis
zum Jahr 2020 ein langfristiges Ziel von 95 g CO2/pro
Kilometer auf kosteneffiziente Weise zu erreichen“. Die
Verordnung schließt die Forderung der Grünen, unter
95 Gramm zu gehen, also von vornherein aus, und das
mit gutem Grund.
Was dann die Forderung betrifft, 2025 - also nicht
einmal eine Fahrzeuggeneration später als 2020 - mit
50 Gramm pro Kilometer das 2-Liter-Auto zum europäischen Durchschnitt machen zu wollen: Es lässt mich an
Ihrem Realitätssinn zweifeln. Danach ist Ihr Antrag
dann überraschenderweise wieder gnädiger. Zwar wird
mit 35 Gramm bis 2040 das 1,5-Liter-Auto gefordert,
aber für die Reduktion werden der Industrie dann immerhin großzügige 15 Jahre Zeit gelassen.
Eine Sache verkennen die Grünen übrigens völlig bei
ihrer Fixierung auf den CO2-Ausstoß am Auspuff: Angesichts der immer niedrigeren Emissionen beim Fahren
sind Auspuffgase ein zunehmend schlechterer Indikator
für die Umweltfreundlichkeit von Fahrzeugen. Die
Emissionen der Vorkette - also in der Fahrzeugherstellung und Energieproduktion - gewinnen immer mehr an
Gewicht. Deshalb steigen in der EU die Bedenken, die
Fahrzeugemissionen weiterhin nur mittels der Auspuffgase - Stichwort: Tailpipe Emissions - zu berechnen.
Die Grenzwerte der Zukunft - sosehr wir sie brauchen
und auch aus Verbraucherschutzsicht für notwendig halten - werden nicht mehr nur am Auspuffgas zu messen
sein. Jetzt diese Grenzwerte festlegen zu wollen - in völliger Unkenntnis dessen, was der Industrie in 2025 tatsächlich zuzumuten ist, bei dem berechtigten Zweifel, ob
Auspuffgase dann überhaupt noch die optimale Berechnungsgrundlage sind -, lehnen wir ab.
Die Endlichkeit fossiler Brennstoffe und damit einhergehend die Verknappung von Öl sind die Preistreiber
an den Tankstellen. Aber nicht allein die Preistreiberei
zwingt zum Umdenken - weg vom Öl -; es ist auch der
CO2-Ausstoß. Der Straßenverkehr verursacht rund 18 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland.
Wenn wir die Versprechungen zum Klimaschutz einhalten und das 2-Grad-Ziel bei der Erderwärmung erreichen wollen, müssen die CO2-Emissionen bis zum
Jahr 2050 gegenüber 2005 um 90 Prozent reduziert werden. Für den deutschen Straßenverkehr heißt das: Die
CO2-Emissionen aller zugelassener Pkw, circa 41 Millionen, müssten von 188 Gramm ({0}) auf gut
20 Gramm pro Kilometer gedrosselt werden, entsprechend einem Gesamtflottenverbrauch von lediglich
0,9 Liter Benzin pro 100 Kilometer. Seit 1990 sinken die
CO2-Emissionen in Deutschland. Trotz aller technischen
Neuerungen ist es aber nicht gelungen, den Ausstoß des
Treibhausgases Kohlendioxid im Straßenverkehr zu verringern.
Bei diesen Zahlen ist nachvollziehbar, dass der Ruf
nach dem Null-Emissions-Auto lauter wird. Das kann
aber nur das Elektrofahrzeug sein, betankt mit regenerativem Strom.
Die Weichen für die Elektromobilität wurden noch zu
Zeiten der Großen Koalition mit der Verabschiedung des
Nationalen Entwicklungsplans Elektromobilität, den
Modellregionen und im Anschluss mit den Schaufenstern gestellt. Der Weg zu einer CO2-freien Mobilität ist
aber noch ein weiter, und die herkömmlichen Antriebstechnologien können schon jetzt ihren Beitrag dazu leisten durch höhere Einspritzdrücke, Motor-Downsizing,
Leichtlaufreifen oder Aerodynamikoptimierung, die zu
weniger Verbrauch und damit zu niedrigen CO2-Emissionen führen.
Ein Steuerungsinstrument ist die CO2-Begrenzung. Im
Jahr 2009 haben sich Europäisches Parlament und Rat
gemeinsam mit den europäischen Automobilherstellern
auf die Festsetzung von Emissionsnormen für neue Pkw
geeinigt. Die Verordnung legt einen Emissionsdurchschnitt von 130 Gramm CO2 pro Kilometer fest. Ab 2020
muss dieser Wert auf 95 Gramm CO2 pro Kilometer gesenkt werden.
Jetzt kommen neue Pläne aus Brüssel, zum einen die
Empfehlungen der sogenannten CARS-21-Gruppe, einer
Runde führender Vertreter der Automobilindustrie und
der EU-Länder. Sie legen nahe, zur Unterstützung eines
neuen Aufschwungs die Obergrenzen aufzuweichen. Der
Bericht sagt deutlich, dass die Reduzierung der CO2Emissionen technisch machbar ist und sogar mit weniger Kosten verbunden, dass man aber andere Faktoren wie verbesserte Fahrausbildung einbeziehen sollte.
Nicht nur der ADAC und der VCD lehnen den Vorschlag
ab.
Heftige Wellen schlägt der neue Richtlinienentwurf
von EU-Klimakommissarin Hedegaard, der am 11. Juli
offiziell vorgelegt werden soll. Der Entwurf sieht vor,
dass die Neuwagenflotte der europäischen Hersteller ab
2015 nicht mehr als 130 Gramm, ab 2020 höchstens
95 Gramm CO2 je Kilometer ausstoßen darf. Der Grenzwert von 95 Gramm ist nicht neu, dass PS-starke und daher schwere Autos mehr CO2 ausstoßen dürfen als kleine
Modelle, auch nicht. Neu ist die Frage: Wie viel mehr?
Zu Protokoll gegebene Reden
In dem Berechnungsverfahren, das Basis für den Grenzwert ist, gibt es eine Gleichung mit dem Faktor a: eine
Zahl, die festlegt, in welchem Umfang Autos, die schwerer als das Durchschnittsmodell in der EU sind, mehr
Schadstoffe als 95 Gramm ausstoßen dürfen. Wie groß
Faktor a künftig sein soll, ist nun die heftig umstrittene
Frage. Nach den Vorstellungen von Kommissarin
Hedegaard soll der Faktor deutlich verringert werden,
von 0,045 auf 0,0296 - ein Vorschlag, der die EU-Kommission, die Mitgliedsländer und die Autobranche spaltet.
Die SPD steht dazu, dass der Verkehr seinen Teil zur
CO2-Verringerung leisten muss. Grenzwerte alleine reichen aber nicht aus. Wir müssen Anreize setzen, damit
die Wirtschaft innovative Lösungen entwickelt und erfolgreich am Markt etabliert. Eine solche Innovationspolitik sichert die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungspotenziale in Deutschland. Sie sollte technologieoffen sein, Wirtschaft und Industrie nicht auf bestimmte
Technologien festlegen.
Ich teile die Position der Grünen: „Ambitionierte
Verbrauchsgrenzwerte bieten ökologische, aber auch
handfeste ökonomische Vorteile für die Industrie, denn
sie schaffen Planungssicherheit, sie belohnen die innovativsten Hersteller und erschweren den Marktzugang
für Hersteller mit weniger effizienten Fahrzeugen. Ein
technologieneutraler CO2-Grenzwert ist zudem der
beste Anreiz für technologische Vielfalt in der Konkurrenz um die Antriebskonzepte von morgen.“
Ambitionierte Grenzwerte dürfen jedoch nicht strangulieren. Sie führen sonst ins Leere und vor allem zu
Wettbewerbsverzerrung. Schon jetzt sind die deutschen
Automobilkonzerne unverhältnismäßig stark gefordert,
um die gültigen Grenzwerte zu erreichen. Deutschland,
Marktführer bei den Premiummarken, wäre, sollte sich
der Hedegaard-Plan durchsetzen, im Wettbewerbsnachteil gegenüber der europäischen Konkurrenz. Am Ende
könnte das dazu führen, dass sich Konkurrenten aus Italien oder Frankreich die Entwicklung von Elektroautos
vorerst sparen, da sie die Grenzwerte auch so erreichen.
Ein weiterer Nachteil für die deutsche Automobilindustrie wäre, wenn die Kommission den Bonus für Elektroautos streichen würde, wie es in der Presse berichtet
wird. Wer soll dann noch in Forschung und Entwicklung
investieren?
Was die Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie angeht, ist
die Bundesregierung nach wie vor ein sektorspezifisches
Energie- und Klimakonzept für die Bereiche Verkehr und
Gebäude schuldig. Verkehrsminister Ramsauer hatte im
Januar 2010 ein solches Papier angekündigt. Seit über
zwei Jahren wird nichts geliefert.
Wie im Dritten Bericht der Nationalen Plattform
Elektromobilität gefordert, ist es nun an der Bundesregierung, eine Strategie vorzulegen, wie die Markteinführung und Marktdurchdringung von Null-EmissionsFahrzeugen in den nächsten Jahren angestoßen werden
kann. Es wird viel Geld für Forschung ausgegeben, aber
wenig Engagement entwickelt, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, um das Ziel von 1 Million
Elektroautos bis 2020 und eine CO2-freie Mobilität zu
erreichen.
Ich bin gespannt, wie sich die Bundesregierung zu
diesen Punkten im Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung positionieren wird.
Das Erreichen der EU-Klimaziele ist auch für die
christlich-liberale Koalition fester Bestandteil ihrer
Politik. Aber wir müssen bei der Erreichung dieser Ziele
- wie die Reduzierung des CO2-Ausstoßes im Verkehr mit Augenmaß vorgehen und müssen bei allen Maßnahmen im Hinterkopf haben, dass sie unserem wachsenden
Mobilitätsbedürfnis gerecht werden und alle Verkehrsträger gleichermaßen stärkt und nicht einen einseitig
belastet. Für uns soll jeder die freie Wahl haben, welchen Verkehrsträger er wann benutzen möchte. Ich vermisse dies immer bei Ihnen, sehr geehrte Kollegen von
den Grünen.
Mir kommen beinahe die Tränen, wenn ich in Ihrem
Antrag lese, dass Sie sich darüber Sorgen machen, dass
im Jahr 2020 der Preis für einen Liter Diesel 2,50 Euro
betragen könnte. Erinnern Sie sich doch daran, dass Sie
bereits 1998 einen Benzinpreis von 5 D-Mark gefordert
haben. Ihre Anträge sind immer sehr unausgewogen,
manchmal so wie dieser sogar scheinheilig und wirtschaftsfeindlich. Ihr erklärtes Ziel ist Autofahren unattraktiv zu machen.
Wir müssen als Wirtschafts- und Mobilitätsstandort
die globale Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Deutschland
agiert nicht im luftleeren Raum. Ich warne vor einer
zwanghaften Verschärfung und Ausweitung von ökologischen Steuerungsinstrumenten. Die bisherigen Lenkungsinstrumente, die an Emissionen und am Energieverbrauch anknüpfen, sind etabliert. Für den
Straßenverkehr sind dies die Kfz-Steuer, die Energiesteuer - ehemalige Mineralölsteuer - sowie Herstellernormen für CO2 bei Pkw und leichten Nutzfahrzeugen.
Womit wir auch beim konkreten Anliegen ihres Antrags
sind!
Die Europäische Kommission überarbeitet gerade
die EU-Verordnung zu den CO2-Grenzwerten für Pkw.
Eine Veröffentlichung ist für den kommenden Monat
geplant. Die Überarbeitung der CO2-Grenzwerte war
gesetzlich verpflichtend geworden, nachdem eine EUVerordnung im Jahr 2009 festgelegt hatte, dass neue
Pkw in der EU ab 2015 im Durchschnitt nicht mehr als
130 Gramm CO2 pro Kilometer ausstoßen dürfen.
Die deutsche Automobilindustrie muss sich vor dieser
Überarbeitung auch gar nicht fürchten. Denn anders als
es Bündnis 90/Die Grünen immer behauptet, sind die
deutschen Hersteller weltweit sehr gut aufgestellt. Zum
einen wurde der Kraftstoffverbrauch seit 1990 um
40 Prozent gesenkt. Die klassischen Schadstoffemissionen beim Pkw konnten sogar im gleichen Zeitraum um
98 Prozent verringert werden. Das sind sehr gute Nachrichten und zeigen einmal mehr auf, dass die Instrumente funktionieren, ohne dass die Industrie einseitig
belastet wird. Beim CO2-Ausstoß lagen die deutschen
Zu Protokoll gegebene Reden
Hersteller im Februar 2012 mit einem Wert von
142,5 Gramm CO2 pro Kilometer erstmals unter dem
Wert ausländischer Hersteller: 143 Gramm CO2 pro Kilometer.
Vor fünf Jahren war der durchschnittliche Ausstoß
deutscher Modelle noch bei 170 Gramm CO2 pro Kilometer.
Sie fordern in ihrem Antrag, dass für 2020 ein Flottengrenzwert von 70 Gramm CO2 pro Kilometer festgelegt
werden soll. Die entsprechende EU-Richtlinie 443 von
2009 schreibt aber für das Überprüfungsverfahren nach
Art. 13 Abs. 5 wörtlich vor, „Modalitäten festzulegen,
um bis zum Jahr 2020 ein langfristiges Ziel von
95 Gramm CO2 pro Kilometer auf kosteneffiziente Weise
zu erreichen“. Die Verordnung schließt Ihre Forderung,
unter 95 Gramm zu gehen, also von vorneherein aus.
Demnach läuft eine zentrale Forderung ihres Antrags
ins Leere.
Ihrer Forderung nach einer schlüssigen Strategie für
Null-Emissionsfahrzeuge ist die Bundesregierung doch
bereits nachgekommen. Die Bundesregierung hat mit ihrem Regierungsprogramm zur Elektromobilität einen
klaren Fahrplan für Nullemissionsfahrzeuge vorgelegt.
Der neuste Fortschrittsbericht der Nationalen Plattform
Elektromobilität bestätigt das Engagement der Bundesregierung.
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Sie
wollen mit Ihrem Antrag auf Biegen und Brechen die
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsstandortes mindern und damit auch Arbeitsplätze vernichten.
Wir wollen ein abgestimmtes Maßnahmenpaket, das sowohl die Belange des Klima- und Verbraucherschutzes
wie auch die der Industrie berücksichtigt und weiteres
Wachstum und damit auch Arbeitsplätze sichert. Wir
lehnen daher Ihren Antrag ab.
Der vorliegende Antrag der Grünen macht einige
richtige Feststellungen zum Rohstoffverbrauch im
Individualverkehr. Da Öl ein begrenzer Rohstoff ist, ist
wichtig und richtig, den eingeschlagenen Weg der Verringerung des Kraftstoffverbrauchs konsequent weiterzugehen.
Die Festlegung von strengeren CO2-Grenzwerten
baut den notwendigen Druck auf die Industrie auf, sparsamere Fahrzeuge zu entwickeln. Denn die Verringerung
des CO2-Ausstoßes wird nur über eine Verringerung des
verbrannten Treibstoffs erreicht. Die Festlegung von
Grenzwerten beim CO2-Ausstoß ist insofern das richtige
Mittel der Wahl, da es der Automobilindustrie überlässt,
wie sie diese Ziele erreicht. Dadurch entsteht ein Wettbewerb zwischen den Technologien um Wirtschaftlichkeit, Alltagstauglichkeit und, am wichtigsten, um Akzeptanz bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
Die Beispiele von Katalysator und Rußpartikelfilter,
deren Einführung in Deutschland gesetzlich erzwungen
werden musste, zeigen, dass sich in der Automobilindustrie auf Basis von Freiwilligkeit leider wenig bewegt.
Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen nach
strengeren Grenzwerten und fordert die Bundesregierung auf, diese auch auf der europäischen Ebene zu vertreten, statt Lobbying für die deutschen Autokonzerne zu
betreiben.
Subventionsforderungen der Industrie in Sachen
Elektromobilität weisen wir in diesem Zusammenhang
zurück. Eine effektive Strategie zur Verringerung der
Ölabhängigkeit muss vielmehr alle Technologiepfade
vom Hybridantrieb bis Pflanzenöl berücksichtigen. Gerade bei den nachwachsenden Rohstoffen schlummert
ein Potenzial, das noch lange nicht gehoben ist und in
den letzten Jahren zunehmend vernachlässigt wurde.
Weitere Subventionen oder Steuererleichterungen auf
der Verbraucherseite halten wir allerdings sehr wohl für
vorstellbar. Gerade für Bezieher kleiner Einkommen ist
selbst der Wechsel auf einen kraftstoffsparenden Kleinwagen ein finanzielles Hindernis, das die Verbreitung
solcher Fahrzeuge hemmt.
Eine Strategie zur Vermeidung von Treibhausemissionen und Ölabhängigkeit, die lediglich auf den motorisierten Individualverkehr abzielt, greift allerdings aus
unserer Sicht entschieden zu kurz. Durch Erneuerung
des Fahrzeugbestandes im Individualverkehr allein sind
die gesteckten Ziele auch kaum zu erreichen.
Deshalb muss die Förderung des öffentlichen Personenverkehrs ein integraler Bestandteil aller Bestrebungen zur Senkung des Ausstoßes von Treibhausgasen
sein. Ein preislich wie zeitlich attraktives Fernzugangebot kann einen Großteil des Kerosin verschlingenden
Inlandsflugverkehrs ersetzen - Frankreich macht es vor.
Ein ordentlich mit den Zentren verzahnter und in der
Fläche breit aufgestellter Schienenpersonennahverkehr
kann noch einen weitaus größeren Anteil des Pendelverkehrs aufnehmen, als es heute der Fall ist.
Hier liegen die größten Potenziale zur Einsparung
von Rohstoffen und Emissionen, allerdings fehlt dieser
Koalition der politische Wille zur Umsetzung.
Fast 40 Jahre nach der ersten Ölkrise hängt Deutsch-
land immer noch am Öltropf. Rund ein Drittel der hier-
zulande verbrauchten Energie basiert nach wie vor auf
dem endlichen und kostbaren Energieträger Erdöl.
Ohne Öl bewegt sich in diesem Lande buchstäblich fast
nichts - jedenfalls auf unseren Straßen; ohne Öl würde
auch jede dritte Wohnung kalt bleiben. Unser Wohlstand
basiert unverändert auf einem viel zu hohen Ölkonsum.
Dabei ist Deutschland bei der Deckung seines Rohölbe-
darfs zu 98 Prozent auf Importe angewiesen. Wir hängen
am Öltropf wie der Junkie an der Nadel.
Die hohe Importabhängigkeit macht unsere Volks-
wirtschaft verwundbar für steigende Rohölpreise. Die
jüngste Preisrallye hat die deutschen Ölimporte allein
2011 um 15 Milliarden Euro verteuert. Es gilt der
Grundsatz: Ein Preisanstieg von 10 Dollar je Barrel
lässt die deutsche Ölrechnung jährlich um 5 Milliarden
Euro ansteigen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir müssen also aus klima-, energie-, aber auch aus
wirtschaftspolitischen Gründen unsere Ölabhängigkeit
drastisch reduzieren, um unsere Volkswirtschaft gegen
steigende Ölpreise möglichst immun zu machen. 46 Mil-
lionen Tonnen und damit fast die Hälfte des deutschen
Rohölbedarfs wird als Kraftstoff von den Verbrennungs-
motoren unserer Pkw, Lkw und sonstigen Fahrzeuge
verbraucht. Wir wissen, dass das Ölfördermaximum, der
Peak Oil, bei konventionellem Öl bereits überschritten
wurde. Das Ergebnis dieser epochalen Wende werden
mittelfristig eskalierende Preise auf dem Rohölmarkt
sein; da sollten wir uns von den gerade gesunkenen
Preisen an der Tankstelle nicht täuschen lassen.
Vor diesem Hintergrund ist unser Antrag für strenge
Verbrauchsgrenzwerte zu verstehen. Betrachten wir
rückblickend den Einsatz von Umwelt- und Verkehrs-
politikern auf diesem Gebiet, dann müssen wir feststel-
len, dass am Anfang große Ziele formuliert wurden und
am Ende die Autolobby obsiegte und allenfalls lasche
Kompromisse herauskamen.
Deutschland steht regelmäßig auf der Bremse, wenn
in Brüssel strenge Verbrauchsgrenzwerte für Pkw und
Kleinlaster auf der Tagesordnung stehen. So war es, als
sich in den 90er-Jahren die damalige Umweltministerin
Angela Merkel im EU-Umweltministerrat für einen Ziel-
wert von 120 Gramm CO2 je Kilometer im Jahr 2005
einsetzte. Doch statt klare und verbindliche Grenzwerte
gesetzlich zu verankern, hat man sich damals von der
deutschen Automobilindustrie und seiner Vorfeldorgani-
sation VDA regelmäßig einlullen lassen und hat sich ge-
gen jede Vernunft auf eine windelweiche „freiwillige
Selbstverpflichtung“ eingelassen. Doch die deutsche
Autoindustrie hat ihre Versprechen von damals gebro-
chen und das selbstgesteckte Ziel von durchschnittlich
140 Gramm CO2 je Kilometer bei Neuwagen bis 2008
klar verfehlt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte,
dass freiwillige Selbstverpflichtungen klare gesetzliche
Regelungen nicht ersetzen können, dann haben die deut-
sche Autoindustrie und der VDA dies eindrucksvoll be-
stätigt.
Bei der Festlegung der Grenzwerte für 2015 hat Frau
Merkel dann auf Wunsch des VDA eine Verwässerung
der Grenzwerte durch ein „Phasing In“, durch die Aner-
kennung zusätzlicher Maßnahmen wie den Einsatz von
Biokraftstoffen oder „innovativer Maßnahmen“ durch-
gesetzt. Erstaunlicherweise hätte es das alles gar nicht
bedurft; denn zum Beispiel Volkswagen hat jetzt selbst
angekündigt, die ursprünglich angesetzten 120 Gramm
konzernweit zu erreichen.
Dieses Trauerspiel darf sich bei der Durchsetzung
ambitionierter Verbrauchsgrenzwerte für 2020 nicht
wiederholen. Wir müssen Herstellern jetzt klare Grenz-
werte vorgeben, und angesichts der technologischen
Fortschritte auf dem Gebiet der Verbrauchsreduzierung
bin ich optimistisch, dass die Autoindustrie bis 2020 ei-
nen Grenzwert von 70 Gramm CO2 je Kilometer errei-
chen kann. Übrigens sollten wir nicht nur die
Autohersteller im Blick haben; nicht minder gewichtig
ist die Entwicklung bei der Zulieferindustrie. So hält
Bosch, ein Zulieferer, der bei Spritspartechnik für Ver-
brennungsmotoren führend ist, einen Grenzwert von
70 Gramm CO2 je Kilometer in 2025 für umsetzbar.
Auch das vom VDA gerne ins Feld geführte „Premi-
umsegment“, das deutsche Hersteller angeblich daran
hindere, strenge Grenzwerte umzusetzen, dient in Wahr-
heit nur als Schutzbehauptung. Nun will ich an dieser
Stelle keinesfalls für Dinosaurier des Autozeitalters wie
Sport Utility Vehicles die Werbetrommel rühren, aber
wenn es schon so ein Modell sein soll, dann gibt es auch
hier mittlerweile entsprechend sparsame Fahrzeuge mit
Plug-in-Hybriden, womit belegt ist: Auch große Modelle
können auf Spritdiät gesetzt werden, wenn die richtige
Spartechnologie eingesetzt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-
tionen, ich hoffe natürlich insbesondere auf Ihre Zustim-
mung zu unserem Antrag, da er auch ein äußerst wirk-
sames Instrument gegen steigende Spritpreise ist. Immer
wenn die Preise an den Tankstellen steigen und die
Schlagzeilen in bestimmten Blättern immer fetter wer-
den, setzt in Ihren Reihen hektischer Aktionismus ein.
Dann werden in bester Stammtischmanier schnelle
Lösungen gefordert. Es wird der Ruf nach einer „Ben-
zinpreisbremse“ laut oder noch besser: Der Staat soll
gefälligst gegen die steigenden Rohölpreise mit einer
höheren Pendlerpauschale anstinken. - Wir alle hier
wissen: Diese Instrumente sind so wirksam wie weiße
Salbe. Statt über Preiskosmetik bei den Kraftstoffpreisen
zu reden, müssen wir endlich wirksame Instrumente in
den Mittelpunkt der Diskussion rücken. An vorderer
Stelle stehen schärfere Verbrauchsgrenzwerte für Pkw.
Mit Blick auf den von der EU-Kommission für das Jahr
2020 diskutierten neuen CO2-Grenzwert von 95 Gramm
je Kilometer brauchen wir jetzt anspruchsvollere Ziele.
Unser Antrag weist mit einem Grenzwert von 70 Gramm
CO2 je Kilometer den richtigen Weg.
Wer dauerhaft und wirksam etwas gegen hohe Sprit-
preise machen will, wer die Klimaziele erreichen und die
Ölabhängigkeit reduzieren will, der muss jetzt für
strenge Verbrauchsgrenzwerte stimmen. In diesem Sinne
hoffe ich auf eine breite Zustimmung für unseren Antrag.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10108 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter
Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel
Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren
- Drucksachen 17/8882, 17/9842 -
Vizepräsidentin Petra Pau
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Björn Sänger
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Carsten Sieling, Lothar Binding ({1}),
Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Regulierungslücken auf den Warenderivatemärkten schließen - Finanzspekulation mit
Rohstoffen und Nahrungsmitteln unterbinden
- Drucksache 17/10093 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Die existenzielle Bedeutung der ausreichenden Versorgung von Volkswirtschaften mit Rohstoffen aller Art
liegt auf der Hand; es handelt sich um eine ganz zentrale
Frage für den wirtschaftlichen Erfolg auch unserer an
Ressourcen armen, aber hoch entwickelten Volkswirtschaft. Genauso ist es eine elementare Voraussetzung für
den Erfolg und Aufstieg von Entwicklungs- und Schwellenländern. Daher hat die Rohstoffversorgung immer
auch eine außen- wie entwicklungs- und wirtschaftspolitische Dimension.
Aber auch darüber hinaus hat sich der Handel mit
Rohstoffen enorm über den Versorgungsaspekt hinweg
weiterentwickelt. Die Rohstofftermingeschäfte und Derivatgeschäfte haben sich vervielfacht, wobei diese zum
einen selbstverständlich ihre Berechtigung haben zur
Absicherung von Preisrisiken. Aber zum anderen müssen wir eine zunehmende Finanzialisierung des
Rohstoffmarkts beobachten. Nicht nur die steigende
Nachfrage nach Rohstoffen führt marktkonform zu
Preissteigerungen; vielmehr treten Finanzakteure aufgrund renditeträchtiger Anlagemöglichkeiten auch zunehmend spekulativ und mit kurzfristiger Perspektive
auf den Märkten auf, um von kurzfristigen Preisbewegungen zu profitieren. Insofern sind die zunehmenden
Preisschwankungen auch spekulationsbedingt. Die
Volumina der Termingeschäfte übersteigen das Bruttosozialprodukt inzwischen um ein Vielfaches; die Steigerungen sind abenteuerlich mit den Folgen für die
Schwankungsanfälligkeiten und für die Preisentwicklung auf den betroffenen Rohstoffmärkten. Hier gilt es zu
handeln und diese negativen Effekte der Preisvolatilitäten und Marktverwerfungen einzudämmen.
Als Finanzpolitiker beschäftigen wir uns heute deshalb abschließend mit einem Antrag, der in der Unionsfraktion auf der Grundlage unserer Diskussionen auf einem Fraktionskongress im Frühjahr entstanden ist und
der die europaweite Umsetzung der G-20-Beschlüsse
zur effizienten Regulierung der Rohstoffterminmärkte
beinhaltet.
Was genau ist nun zu tun? Lassen Sie mich dazu nur
einige zentrale Punkte unseres Antrags herausgreifen.
Zunächst ist das zentrale Moment und der entscheidende Ansatzpunkt die Erhöhung der Transparenz auf
den Märkten. Hierzu müssen Rohstoffderivatepositionen
gemeldet und veröffentlichet werden, um den Einfluss
von Investorengruppen und Handelsstrategien auf die
Preisbildung beurteilen zu können. Wir unterstützen die
im Rahmen der Überarbeitung der MiFID-Richtlinie auf
europäischer Ebene vorgeschlagenen Maßnahmen zu
Melderegistern ausdrücklich.
Wir benötigen des Weiteren striktere Marktmissbrauchsregeln für Rohstoffderivate. Diese sollen im
Rahmen der Überarbeitung der Marktmissbrauchsrichtlinie mit erfasst werden, um so missbräuchlichen Spekulationsgeschäften einen Riegel vorzuschieben.
Natürlich müssen diese Regeln auch durchgesetzt
werden. Dazu bedarf es einer effektiven Aufsicht mit
wirksamen Informations- und Eingriffsrechten, zum Beispiel auch Positionslimits. Es müssen gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer geschaffen
und ein effektiver Informationsaustausch zwischen den
nationalen Aufsichtsbehörden sichergestellt werden.
All dies kann nur auf europäischer Ebene erfolgen;
die Überarbeitung der MiFiD-Richtlinie soll dazu genutzt werden. Nationale Alleingänge helfen hier selbstredend nicht weiter. Natürlich darf man die legitimen
Absicherungsinteressen der Realwirtschaft auch nicht
aus dem Auge verlieren. Termingeschäfte dürfen nicht
per se verteufelt werden. Jedoch gibt es einen klaren
Handlungsbedarf, gegen Fehlentwicklungen auf den
Märkten vorzugehen. Unser Antrag ist die geeignete
Grundlage für die nun folgenden europäischen Maßnahmen.
Zur Kritik der Opposition in den Ausschussberatungen, die Elemente unseres Antrags seien unzureichend,
lassen Sie mich nur feststellen: Es ist natürlich leicht,
immer mehr zu fordern; das ist gewissermaßen auch
Aufgabe der Opposition in der parlamentarischen Auseinandersetzung. Ich komme noch einmal ausdrücklich
zum Beispiel der strikten Positionslimits. Hier fordern
die Kollegen der Sozialdemokraten in ihrem Änderungsantrag auch deutlichere und sehr spezifische Festlegungen. Aber alle Maßnahmen sind in unserem Antrag
bereits ausdrücklich behandelt. Wir wollen damit die
Bundesregierung in ihren Verhandlungen auf europäischer Ebene zur Überarbeitung der MiFID-Richtlinie
unterstützen und ihre Verhandlungsposition stärken, um
die auf G-20-Ebene vereinbarten Maßnahmen jetzt auf
europäischer Ebene umzusetzen. Dabei ist es im Hinblick auf die bevorstehenden Verhandlungen sicher ratsam, flexible Regelungen zu ermöglichen und die Forderungen deshalb in dieser Form zu fassen.
Einen zentralen Bereich dürfen wir auch nicht vergessen, auf den ich bewusst noch einmal den Fokus lenken möchte; das ist der Bereich der Agrarrohstoffe. Es
ist unerträglich, dass mit Lebensmitteln spekuliert wird
und so Preise für lebensnotwendige Nahrungsmittel
auch spekulationsbedingt steigen. Hier treten wir für
zusätzliche und strengere Regulierungsmaßnahmen ein
und unterstützen damit die parallelen Bemühungen unserer Kollegen aus dem Entwicklungshilfe- und dem
Landwirtschaftsbereich. Die Ernährungssicherheit und
die Bekämpfung von Spekulation sind für uns alle wichtige Ziele unserer Politik und auch ethische Verpflichtung.
In dieser Debatte muss ich natürlich auch noch ein
paar Worte zum aktuellen Thema Finanztransaktionsteuer verlieren. Die Opposition hat bei den Beratungen
unseres Antrags gefordert, die Regulierung der Rohstoffderivatemärkte unbedingt mit der Einführung der
Finanztransaktionsteuer zu verknüpfen. Hierzu möchte
ich noch einmal betonen, dass wir dies nicht für sachgerecht halten. Dies sind zwei voneinander unabhängige,
wenn auch sich ergänzende Regelungsbereiche. Nichtsdestotrotz setzt sich die Bundesregierung international
und jetzt auf europäischer Ebene gegenüber der Kommission dafür ein, mit einer Koalition der Willigen hier
zur Einführung einer solchen Steuer zu kommen. Ich will
an dieser Stelle also ausdrücklich betonen, dass ich es
unabhängig vom Thema dieses Antrags grundsätzlich
sehr begrüße, dass Regierung und Opposition in ihrem
Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung in
dieser Woche zu einer Einigung gekommen sind, die die
Einführung der Transaktionsteuer einschließt, und dass
wir den für Europa so zentralen Fiskalpakt einvernehmlich verabschieden werden. Die Bundesregierung hat
den hierzu vereinbarten Antrag an die Europäische
Kommission zur verstärkten Zusammenarbeit zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer inzwischen auf
den Weg gebracht.
Abschließend stelle ich fest: Mit dem vorliegenden
Antrag treten die Koalitionsfraktionen für eine effektive
Regulierung der Rohstoffderivatemärkte ein, aber für
eine mit Augenmaß, für eine Regulierung, die einerseits
Spekulationen eindämmt, aber andererseits auch Raum
für notwendige Absicherungsgeschäfte lässt und die der
Regierung einen wirksamen Handlungsauftrag für die
Verhandlungen auf europäischer Ebene gibt. Ich bitte
Sie daher um Ihre Zustimmung für den Koalitionsantrag.
Die Nahrungsmittelkrise 2007/2008 und die Ölpreisschocks 2008 haben uns in erschreckender Weise vor
Augen geführt, welche Gefahr von völlig unregulierten
Finanzmärkten ausgehen kann. Tatsächlich mussten wir
vor vier Jahren feststellen, dass häufig nicht mehr der
Produzent oder Käufer den Preis eines Rohstoffs bestimmt, sondern stattdessen irgendein Finanzmarktakteur in New York, London oder Frankfurt.
Gut, kann man einwenden: Ohne die Finanzmärkte
funktioniert heute nichts mehr. Frau Merkel erinnert uns
inzwischen ja fast jeden Tag daran, dass man auch politische Entscheidungen inzwischen nicht mehr ohne
das Einverständnis der Märkte treffen kann. Diese Beschränkung auf eine marktkonforme Demokratie darf
nicht Wirklichkeit werden. Die Märkte können sich irren, und Herdenverhalten auf den Finanzmärkten führt
dazu, dass die Preise für Öl und Grundnahrungsmittel
heute extrem fallen, um morgen umso stärker zu steigen.
Diese Preisschwankungen haben Konsequenzen, die
zerstörerisch wirken.
Denn das Problem ist ja nicht, dass wir es auf den
Rohstoffmärkten nur mit irgendwelchen Fehlallokationen und einer völlig absurden Preisfindung zu tun haben. Das wirkliche Problem ist, dass die zunehmende
Volatilität und die extremen Preisspitzen auf den Rohstoffmärkten gerade für große Teile der Entwicklungsländer katastrophale Folgen haben, die inzwischen sogar zu Hungerrevolten und politischen Unruhen geführt
haben. Denn für die rund 2 Milliarden Menschen in den
Entwicklungsländern, die den größten Teil ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel ausgeben müssen,
bedeuten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln gravierende Einschränkungen bis hin zu Erkrankung und
Tod.
Eine weitere Wirkung dieser ungezügelten Märkte,
die von den Vertretern der Regierungskoalition ja anscheinend überhaupt nicht ernst genommen wird, ist die
Tatsache, dass die negativen Auswirkungen der Finanzspekulationen mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln
längst auch bei vielen Industrie- und Nahrungsmittelunternehmen angekommen sind. Schon seit einiger Zeit
wenden sich doch unterschiedliche Wirtschaftsvertreter
an die Politik, um auf das Problem der Rohstoffspekulation hinzuweisen. Ich zitiere:
Bis Ende des Jahres muss die Politik etwas gegen
die Spekulation auf den Rohstoffmärkten getan haben. Sonst wird das Geschäft sehr schwierig, und in
manchen Ländern werden sich die Menschen keine
Nahrungsmittel mehr leisten können.
Diese Warnung kommt nicht von Oxfam oder Misereor. Sie kommt von Hubert Weber, Chef des EuropaKaffeegeschäfts beim weltweit zweitgrößten Nahrungsmittelhersteller Kraft Foods. Das war nicht gestern oder
vor einigen Wochen. Diese Warnung ist über ein Jahr
alt! Es ist ein Trauerspiel, dass sich die Regierungsfraktionen in ihrem Antrag, der ja auch heute abgestimmt
werden soll, immer noch nicht zu klaren Regulierungsschritten durchringen konnten, um der Finanzspekulation endlich einen Riegel vorzuschieben.
Das Muster, nach welchem sie vorgehen, kennen wir
schon. Anstatt sich mit klaren Forderungen deutlich gegen Nahrungsmittelspekulation zu positionieren, verstecken sie sich wieder und wieder hinter akademischen
Scheindebatten. Auf der einen Seite sagen sie, dass sie
die Spekulation auf den Rohstoffderivatemärkten regulieren wollen. Auf der anderen Seite hören wir immer
wieder von ihnen, dass die Finanzspekulation auf den
Terminmärkten gar kein Problem darstellen, da Spekulation auf den Warenderivatemärkten überhaupt gar keinen Einfluss auf die Rohstoffpreise habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und FDP, was gilt denn nun? Was wollen Sie hier beschließen, und für welche konkreten Schritte soll sich die
Bundesregierung denn auf der europäischen Ebene einsetzen? Angesichts der bedeutenden Rolle deutscher Finanzinstitute auf den globalen Warenterminmärkten
trägt Deutschland eine besondere Verantwortung, sich
Zu Protokoll gegebene Reden
mit den Folgen exzessiver Spekulation ernsthaft auseinanderzusetzen. Und im Rahmen der Reformen der
Richtlinie bzw. Verordnung über Märkte und Finanzinstrumente - MiFID/MiFIR - haben wir jetzt nicht nur die
Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, effektive Regeln
zur Eindämmung von Spekulation an den Warenterminmärkten einzufordern. Die Reformvorschläge liegen auf
dem Tisch und werden derzeit auf der Europäischen
Ebene verhandelt. Die Zeit aber drängt, und die Gefahr,
dass der jetzige Vorschlag noch einseitig verwässert
wird, ist groß.
Viele der über 2 000 Änderungsanträge im Europäischen Parlament, insbesondere von Vertretern der Liberalen und Konservativen, lesen sich so, als kämen sie direkt aus der Feder der Finanzlobby, die sich teilweise
mit Händen und Füßen gegen eine effektive Regulierung der Warenderivatemärkte, insbesondere gegen Positionslimits, wehrt.
Aus Positionslimits, wie sie auch von der G 20 vereinbart wurden, werden da plötzlich schwammige Forderungen nach einem bloßen Positionsmanagement oder
nach unklar definierten Positionskontrollen. Wenn wir
die Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulation aber wirklich beenden wollen, ist es unerlässlich, dass der gesamte Bundestag hier eine eindeutige Position bezieht.
Deswegen haben wir als SPD-Fraktion für die heutige
Abstimmung einen eigenen Antrag eingebracht. Lassen
Sie mich die wichtigsten Punkte noch einmal aufgreifen.
Erstens ist es unerlässlich, dass wir endlich klare und
im Voraus festgelegte Positionslimits einführen, um
nicht nur geordnete Preisbildungs- und Abrechnungsbedingungen zu garantieren, sondern vor allem auch exzessive Finanzspekulation mit gravierenden Folgen für
die soziale und ökonomische Stabilität zu verhindern.
Zweitens ist es wichtig, dem begründeten Absicherungsinteresse von Produzenten und Industrieunternehmen Rechnung zu tragen. Dies ist aber nur möglich,
wenn man schon bei der Regulierung eindeutig festlegt,
was man unter realwirtschaftlichen Absicherungsgeschäften, das heißt unter sogenannten Bona-fide-Gegengeschäften versteht. Nur wenn dies klar gefasst ist, kann
man auch sicherstellen, dass Ausnahmeregelungen nicht
als Schlupfloch für reine Finanzspekulationen missbraucht werden.
Drittens setzen wir uns dafür ein, dass Rohstoff- und
Nahrungsmittelspekulation auch über den Hochfrequenzhandel unterbunden wird. Hierfür ist es wichtig,
effektive Mindesthaltefristen einzuführen, um extreme
Effekte ohne ökonomischen Vorteil frühzeitig auszuschließen und riskante Ansteckungseffekte auf andere
Märkte einzuschränken. Es ist doch völlig klar: Wer in
Sekundenbruchteilen virtuelle Weizensäcke mehrfach
kauft und verkauft, ist in der Regel nicht an der Ware,
sondern vor allem an einem Arbitragegewinn interessiert, der weder dem Bauern noch dem Konsumenten zugutekommt.
Viertens ist es ebenso völlig klar, dass die Transparenz - und damit meine ich die verbindlichen Informations- und Meldepflichten - derzeit überhaupt nicht
ausreichend ist, um alle Akteure an den Warenderivatemärkten auch effektiv zu regulieren. Vieles passiert noch
im Schatten und außerhalb regulierter Börsen. Das muss
sich ändern, und daher ist auch wirklich darauf zu achten, dass die Meldepflichten auch von allen Akteuren
eingehalten werden, die sich derzeit noch unbehelligt an
der Spekulation mit Rohstoffen beteiligen, ohne von irgendeinem Aufseher kontrolliert zu werden.
Schließlich wird Finanzspekulation mit Rohstoffen
und Nahrungsmitteln nur dann effektiv unterbunden
werden können, wenn die zuständigen Aufseher die richtigen Informationen, Mittel und personelle Ausstattung
erhalten. Daher ist es aus unserer Sicht notwendig, auch
die zuständige EU-Wertpapierbehörde ESMA entsprechend zu stärken und gegebenenfalls mit notwendigen
Eingriffsbefugnissen auszustatten. Denn ohne eine einheitliche Wettbewerbs- und Regulierungssituation wird
es nicht gelingen, alle notwendigen Regulierungslücken
zu schließen. Dies zeigt sich immer wieder und gilt aus
unserer Sicht insbesondere auch für die komplexen Geschäftsmodelle auf den Warenderivatemärkten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und FDP, heute sollen wir ja auch über Ihren Antrag abstimmen. Als wir uns in der ersten Lesung vor einigen
Monaten damit zum ersten Mal beschäftigt haben, habe
ich ja schon gesagt, dass wir Ihren Antrag als völlig unzureichend beurteilen, da die Bundesregierung im Forderungsteil weniger zum Handeln als vielmehr zum Prüfen aufgefordert wird. Das ist deutlich zu wenig und wird
unsere Zustimmung deshalb nicht finden.
Ich weiß, dass Sie immer wieder betont haben, wie
wichtig Ihnen das Thema ist. Und Ihr Antrag trägt ja
auch die Überschrift „Rohstoffderivatemärkte gezielt
regulieren“. Ich denke, dass das, was wir in unserem
Antrag vorgeschlagen haben, den Weg zu einer gezielten
Regulierung zeigt. Denn unser Antrag hält sich nicht bei
allgemeinen Prüfaufträgen auf, sondern versucht, die
von der Verwässerung bedrohten wichtigen Punkte in
der entsprechenden EU-Richtlinie im Sinne einer effektiven Regulierung zu verteidigen und zu konkretisieren.
Dies ist ja notwendig, da erste Regulierungsschritte bei
den Warenderivatemärkten nicht im luftleeren Raum und
irgendwann beschlossen werden, sondern wahrscheinlich schon Anfang Juli in Brüssel.
Geben Sie sich daher einen Ruck und stimmen Sie unserem Antrag zu, damit die Bundesregierung ein klares
Votum des Deutschen Bundestages für die Verhandlungen auf europäischer Ebene und gegen Finanzspekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln hat.
Nahrungsmittel sind als unmittelbare Lebensgrundlage besondere Güter. Es gilt, die elementare Bedeutung
der Rohstoffversorgung auch für die deutsche Wirtschaft
ausdrücklich hervorzuheben.
Rohstoffe sind Grundlage für jede Form des Wirtschaftens und für Wohlstand.
Jedoch sind an den weltweiten Rohstoffmärkten seit
einigen Jahren erhebliche Preisschwankungen zu verZu Protokoll gegebene Reden
zeichnen. In Bezug auf die elementare Bedeutung von
Rohstoffen können Preissteigerungen vor allem in den
Entwicklungsländern zu gravierenden Einschränkungen
führen. Dabei gilt es, die Faktoren für Preisschwankungen richtig zu erkennen und zu bewerten.
Preisschwankungen hat es bei Rohstoffen immer
schon gegeben, weil Rohstoffmärkte von verschiedenen
Faktoren beeinflusst werden. So wird das Preisniveau
wegen der absehbaren Entwicklungen bei den fundamentalen Faktoren ({0}) langfristig steigen.
Aber auch Rohstofftermingeschäfte gewinnen zunehmend an Bedeutung und haben Auswirkungen auf die
Preisbildung. Dabei stellen sie wichtige Instrumente zur
Absicherung von Preisrisiken sowohl für Produzenten
als auch für Unternehmen der Realwirtschaft im Rahmen des eigenen Risikomanagements dar. Allerdings
birgt diese Art der Absicherung auch bestimmte Risiken
und Missbrauchsszenarien, die es einzudämmen gilt.
Unsere Aufmerksamkeit muss sich insofern - gemessen an der elementaren Bedeutung von Rohstoffen - auf
das Thema Spekulation mit Rohstoffen, Rohstoffderivate
und Rohstofftermingeschäfte richten; denn gerade hier
gilt es, Risiken und Nutzen in eine angemessene Balance
zu bringen.
Die Volatilität von Nahrungsmittelpreisen spielt dabei eine große Rolle. Die Möglichkeit der Realwirtschaft, sich gegen Preisrisiken abzusichern, muss bei
der Finanzmarktregulierung jedoch auch angemessen
berücksichtigt werden.
Die Finanzinvestoren, die auf diesen Märkten unterwegs sind, werden benötigt; denn irgendjemand muss
das Risiko übernehmen. Unternehmen der Realwirtschaft sind darauf angewiesen, dass ihnen für ihre Absicherungsgeschäfte Gegenparteien in ausreichender
Zahl zur Verfügung stehen. Daher sind Marktteilnehmer
und Investoren, die Risikopositionen eingehen, für einen
funktionsfähigen Rohstoffderivatemarkt erforderlich
und aus Sicht realwirtschaftlicher Unternehmen grundsätzlich von Vorteil.
Allerdings dürfen spekulative Geschäfte mit Rohstoffderivaten nicht das Marktgeschehen dominieren, indem
sie beispielsweise zu spekulativ bedingten Preisschwankungen auf den Rohstoffmärkten führen.
Ich denke, die Zeit ist reif, dass die Finanzpolitik sich
mit diesem Thema beschäftigt und sich für konstruktive
Lösungsansätze einsetzt. Insofern unterstütze ich sie und
bin von den Maßnahmen überzeugt, für Transparenz auf
den Terminmärkten zu sorgen und den Aufsichtsbehörden wirksame Instrumentarien wie sogenannte Position
Limits zur Verfügung zu stellen. Allein so kann Marktverwerfungen und marktmissbräuchlichem Verhalten
auf den Rohstoffterminmärkten begegnet werden.
Um Fehlentwicklungen an den Rohstoffmärkten vorzubeugen, ist eine gezielte und wirksame Regulierung
des Rohstoffterminhandels erforderlich. Welche Möglichkeiten stehen uns offen? Wir sprechen uns für die
Maßnahmen aus, mit denen wir die Fehlentwicklungen
in den Griff bekommen können. Die Transparenz ist dabei ein überaus wichtiges Instrument. Wir müssen wissen, was am Rohstoffmarkt überhaupt passiert. Wir müssen weg von den Vermutungen, auf die wir uns allein
berufen können, weil diese Art von Geschäften intransparent abgewickelt werden.
Ich fordere eindringlich mehr Transparenz, um eine
Wechselwirkung zwischen Rohstofftermin- und Rohstoffkassamärkten besser zu erkennen und einschätzen zu
können. Dabei ist es wichtig, international abgestimmte
Lösungsansätze zu entwickeln, um die wichtigen internationalen Handelsplätze und Marktakteure zu erreichen.
Was brauchen wir dafür? Wir brauchen Meldepflichten und Plattformen, über die diese Geschäfte abgewickelt werden. Wir wollen verstärkte Zusammenarbeit der
Aufsichtsbehörden bei allen Märkten, um einen Überblick zu haben, wie sich der Markt entwickelt, und Fehlentwicklungen vorzubeugen und zielgerichtet zu unterbinden. Wir brauchen aber auch strengere Regeln für
Rohstoffderivategeschäfte, damit wir nicht in Risikosituationen hineingeraten. Die Einhaltung dieser Regeln
muss von einer Aufsicht überwacht werden.
Die Aufsicht ist eine wichtige Instanz bei der Gegensteuerung von Missbrauch. Dafür werden der Aufsicht
auch Eingriffsintrumentarien verliehen. Die Aufsicht
muss eingreifen können. Sie muss sagen können: „Geschäfte in dieser Höhe erlauben wir nicht“ - sogenannte
Positionslimits - oder: „Wir untersagen missbräuchliche Geschäfte“ - zum Beispiel Insiderhandel.
Allerdings darf kein komplettes Verbot von Rohstoffderivategeschäften ausgesprochen werden. In Anbetracht des wirtschaftlichen Nutzens, im Hinblick auf die
Absicherung darf ein komplettes Verbot schlichtweg
nicht zu den Instrumentarien der Aufsicht gehören.
Darüber hinaus soll keine Finanzialisierung der Rohstoffmärkte stattfinden. Es darf keine Preisregulierung
stattfinden. Die Rohstoffmärkte sollen von den natürlichen Preisschwankungen getrieben werden, einen realwirtschaftlichen Hintergrund haben und von den bereits
erwähnten natürlichen Faktoren beeinflusst werden.
Eine Finanzialisierung kann die Schwankungen verstärken. Und ich lehne es entschieden ab, Preisschwankungen weiter zunehmen zu lassen.
Was wir nicht wollen, sind also entsprechende Preisobergrenzen; denn wenn man im Bereich der Landwirtschaft Preisobergrenzen einführt, muss auch so etwas
wie ein Mindestpreis eingeführt werden. Einen solchen
Eingriff in den Markt wird es für uns nicht geben.
Ich glaube, wir sind uns in der Stoßrichtung einig,
dass etwas getan werden muss und man verlässliche
Lösungen finden muss.
Insgesamt begrüßen wir die Maßnahmen von Transparenz und Missbrauchsvorbeugung sehr. Daher bin ich
überzeugt, dass wir uns bereits auf einer zufriedenstellenden Zielgeraden befinden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Koalition hat heute einen Antrag vorgelegt, der
vom Titel her vielversprechend klingt: Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren. Doch von gezielten Maßnahmen keine Spur in Ihrem Antrag. Stattdessen finden sich
darin nur vage Formulierungen, die kaum über Aufsichts- und Transparenzforderungen hinausgehen.
Sie fordern in Ihrem Antrag keine verbindlichen Positionslimits. Sie wollen Pensionsfonds oder Hedgefonds
nicht den Zugang zu Rohstoffderivaten verwehren. Und
Sie wollen auch nicht den außerbörslichen Derivatehandel abschaffen. Dabei wäre mit diesen drei gezielten
Maßnahmen, die die Linke bereits im Januar 2011 in einem Antrag gefordert hat, viel gewonnen.
Wir brauchen dringend Obergrenzen für die Anzahl
gehaltener Positionen auf den Rohstoffmärkten. Nur so
können die übertrieben hohen Kapitalzuflüsse auf ein
gesundes Maß zurückgefahren und die Zahl von Spekulanten ohne wirkliches Interesse an dem tatsächlichen
Kauf der Rohstoffe gesenkt werden. Sie behaupten immer wieder, dadurch wäre die Liquidität der Märkte gefährdet, doch das Gegenteil ist der Fall: Die Gefahr der
Blasenbildung durch das schädliche Übermaß von Kapital wird gebannt!
Brauchen wir Rohstoffderivate als Kapitalanlage? Es
heißt wieder, die Kunden wünschen solche Anlagemöglichkeiten. Fragen Sie doch mal die Leute auf der
Straße, ob sie ihre Alterssicherung auf Kosten anderer
- derer, die ohnehin schon zu den Ärmsten der Welt gehören - anlegen wollen. „Wir wollen eine sichere Anlage“, werden sie Ihnen antworten. Doch nicht mal Sicherheit bieten diese Anlagen, weil es eine Unzahl von
Akteuren und Unmengen von Kapital gibt, die die massiven Preisschwankungen ja gerade erst ermöglicht
haben. Auch der Handel außerhalb der Börse, der sogenannte OTC-Handel, und der ausschließlich computergesteuerte Hochfrequenzhandel bieten keinerlei Sicherheit, sondern stellen eine Gefahr für das Allgemeinwohl
dar, wenn Pensionsfonds und Lebensversicherungen
durch rapide Preisverluste mal eben verzockt werden.
Warenterminmärkte mögen ja - sofern vernünftig reguliert - zur Preisfindung beitragen, aber der außerbörsliche Handel tut dies nicht. Er ist völlig unkontrolliert und besonders anfällig für Manipulationen.
Mittlerweile hat er mindestens das siebenfache Volumen
der Warenterminmärkte erreicht. Umso dringlicher ist
es, hier aktiv zu werden. Dieser Schattenmarkt sollte
schlichtweg abgeschafft werden, denn er übernimmt
keine andere Funktion im Marktgeschehen als Preistreiberei.
Was in Ihrem Antrag besonders auffällt, ist Ihre
sprachliche Verengung auf Rohstoffe. Es wird schlicht
ausgeblendet, dass es sich dabei auch konkret um Nahrungsmittel handelt. Worte wie Grundnahrungsmittel
oder Agrarrohstoffe scheinen Sie jedoch gezielt zu umschiffen. Nennen Sie doch bitte die Dinge beim Namen!
Das Geschäft mit dem Hunger steht im Mittelpunkt des
öffentlichen Interesses; denn es ist ein entscheidender
Unterschied, ob ich auf steigende Weizenpreise wette
oder auf Silber. Und besonders strikte Regulierungsmaßnahmen für Agrarrohstoffe fordern ja auch einige
Kollegen in der Koalition. Doch in Ihrem Antrag nehmen Sie diese richtungsweisende Unterscheidung kaum
vor - einmalig erwähnen Sie auch nur den Begriff Agrarderivate, für die Sie zusätzliche Maßnahmen prüfen wollen. Dabei haben wir das Thema seit geraumer Zeit auf
dem Tisch. Es gibt konkrete Vorschläge, wie man Nahrungsmittelspekulationen bekämpfen kann. Deshalb gilt
es, aktiv zu werden. Jede Minute, die wir zögern, bedeutet weiter steigende Preise durch Zockerei mit Nahrungsmitteln und damit noch mehr Hungernde auf der
Welt.
Man gewinnt den Eindruck, bei Ihrem Antrag handelt
es sich um einen unverbindlichen Scheinantrag. Sie tun
mit Ihrem Antrag nichts dafür, exzessive Spekulation mit
Rohstoffen, insbesondere mit Nahrungsmitteln, konkret
einzudämmen. Ihre Vorschläge - anders kann man diese
zaghaften Forderungen gar nicht bezeichnen - entpuppen sich als ein besonders lahmer Versuch, die Auswüchse exzessiver Spekulation auf den weltweiten
Hunger minimal abzumildern - hinter Ihrem selbstgesteckten Ziel einer tatsächlichen Regulierung der Rohstoffmärkte bleiben Sie jedoch meilenweit zurück. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Noch kurz zum SPD-Antrag: Es ist grundsätzlich zu
begrüßen, dass Sie von der SPD auf verbindliche Regulierung setzen. Doch ob Agrarrohstoffderivate überhaupt als Kapitalanlage dienen sollten, stellen Sie leider
nicht zur Diskussion. Statt dem außerbörslichen Handel
sowie dem Hochfrequenzhandel beispielsweise eine generelle Absage zu erteilen, folgen Sie den gegenwärtigen
EU-Kommissionsvorschlägen, die mit der Schaffung von
organisierten Handelssystemen - den Organized Trading
Facilities - eine institutionelle Parallelstruktur zur
Börse, wie sie gegenwärtig der OTC-Handel darstellt,
erhalten wollen. Das ist der falsche Weg die Zockerei mit
Rohstoffen effektiv zu bekämpfen.
Wir Grüne sind der Auffassung, dass an den Warenterminmärkten dringlicher Handlungsbedarf besteht.
Viel spricht dafür, dass der Zufluss neuer Investitionsmilliarden in die Märkte für Rohstoffderivate sowohl
Preise als auch ihre Schwankungen stark nach oben
treibt - und zwar losgelöst von den eigentlichen Angebots- und Nachfragedaten.
Die schwersten Auswirkungen zeigen sich in den
ärmsten Ländern: Dort haben die Menschen schlicht
kein Geld, mehr für Nahrungsmittel zu bezahlen. Auch
von stärkeren Preisschwankungen ist der Süden besonders stark betroffen. Investitionsentscheidungen hängen
auch dort von Planungssicherheit bei den Preisen ab,
die im Gegensatz zum Norden nicht abgesichert werden
können. Investitionen in die Landwirtschaft unterbleiben - zulasten der lokalen Bevölkerung und Wertschöpfung.
Wir Grüne leiten aus diesem Befund den Leitsatz
„Mit Essen spielt man nicht!“ ab, an dem wir unsere Regulierungsvorschläge konsequent ausrichten. Denn angesichts der skizzierten desaströsen Auswirkungen auf
Zu Protokoll gegebene Reden
den Hunger in der Welt betrachten wir die Regulierung
der Agrarmärkte auch und vor allem als ethische Frage.
Vor diesem Hintergrund halten wir es für richtig, in diesem Bereich auch mit Verboten für Fonds, Banken und
Investoren spekulative Anlagemilliarden aus den entsprechenden Finanzmärkten zu ziehen.
Sie von der Koalition haben das abgelehnt. Ihr
Antrag beschränkt sich jetzt folgerichtig darauf, für
„Agrarderivate zusätzliche und strengere Regulierungsmaßnahmen zu prüfen“. Weitere Prüfungen sind hier
fehl am Platz. Erst vor wenigen Tagen hat die Landesbank Baden-Württemberg ihren Ausstieg aus Investitionen in Agrarrohstoffe erklärt, zuvor ist die Deka-Bank
aus diesem Segment ausgestiegen. Während Sie hier
weiter prüfen wollen, ist man in einigen Banken also
ausnahmsweise schon weiter. Und das will viel heißen.
Aber nicht nur die Menschen im Süden, auch Industrie, Mittelstand und Verbraucher bei uns sind stark betroffen, zum Beispiel von einem überhöhten Ölpreis.
Eine Studie im Auftrag der grünen Bundestagsfraktion
kam zum Ergebnis, dass allein für spekulationsgetriebene höhere Ölpreise die Deutschen jährlich mit etwa
fünf Milliarden Euro mehr beim Tanken belastet werden.
Das zeigt: Eine konsequente Regulierung der Rohstoffmärkte ist im Interesse nahezu aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche.
Und deshalb ist es fahrlässig, dass Sie von der Koalition in Ihrem Antrag getroffene sinnvolle Vereinbarungen der G 20 wieder aufmachen: Die G 20 in Cannes
haben im November 2011 strenge Ex-ante-Positionslimits beschlossen. Das ist auch wichtig und sinnvoll:
Ohne Positionslimits ist angesichts des großen Investitionshungers der Kapitalsammelstellen, krisenbedingter
Verunsicherung, gestiegener Inflationserwartung, niedriger Zinsen und Liquidität im Übermaß der weitere
milliardenschwere Zustrom in die neue Anlageklasse
Rohstoffe zu erwarten - mit den skizzierten zu befürchtenden Negativauswirkungen auf Preise und Volatilitäten. Erfahrungen in anderen Märkten zeigen auch, dass
die Sorge, durch Limits werde Liquidität zu stark beschränkt, unbegründet sind. Liquide Märkte und Limits
sind miteinander vereinbar. Umso unverständlicher,
dass Sie im Begründungsteil Ihres Antrags „Alternativen zu starren Ex-ante-Limits“ einfordern. Aus dem Europäischen Parlament wissen wir, dass das hier auch
kein Versehen war, sondern dass die deutsche Bundesregierung mit dem Aufweichen an dieser Stelle leider ernst
meint.
Weiter fordern Sie, „den legitimen Absicherungsinteressen der Realwirtschaft angemessen Rechnung zu tragen“. Nach meinem Dafürhalten machen Sie das Einfallstor für gefährliches Lobbying und Verwässerung
der Regulierungen, wie sie auf europäischer Ebene derzeit diskutiert werden, gefährlich weit auf: Wer die
Debatte zum Beispiel in den USA oder auch bei uns aufmerksam verfolgt hat, weiß, wie gern vermeintliche Interessen der Realwirtschaft vorgeschoben werden, um in
Wahrheit allein die Interessen der Finanzwirtschaft zu
verteidigen und sinnvolle Regulierungen zu verhindern.
Wenn Sie hier nicht klarmachen, was Sie konkret meinen, dann befördern Sie, dass es nachher weicher wird,
als eigentlich gedacht, und dann sind die Überschriften
und Schlagworte, die Sie hier liefern, nicht viel wert.
Der SPD-Antrag, den wir heute ja auch beraten, ist
hier klar, greift die laufende Diskussion auf EU-Ebene
auf und zeigt, wie mit dem Problem der Ausnahmen umgegangen werden kann, ohne dass wir ein Einfallstor für
Umgehung und Gestaltung schaffen. Denn eines ist klar:
Ausweichreaktionen müssen durch eine enge und zielgenaue Fassung von Ausnahmen unbedingt verhindert
werden, wenn die Preise nicht länger durch opake
Märkte verzerrt bleiben und echte und effektive Interventionsmöglichkeiten geschaffen werden sollen.
Den Koalitionsantrag werden wir aus den genannten
Gründen ablehnen, dem SPD-Antrag stimmen wir zu.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 29 a. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9842, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/8882 anzunehmen. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10093.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({0}), René Röspel, Dr. Sascha Raabe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine Generation frei von Aids/HIV bis
2015 - Anstrengungen verstärken und Zusagen in der Entwicklungspolitik einhalten
- Drucksache 17/10096 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
HIV/Aids ist nach wie vor eine furchtbare Geißel der
Menschheit. In vielen Teilen der Erde ist die Krankheit
geradezu eine Plage biblischen Ausmaßes, um mit „altertümlichen Worten“ eine brandaktuelle Katastrophe
- die Pest unserer Zeit - zu beschreiben. 30 Millionen
Menschen weltweit sind der Epidemie bereits zum Opfer
gefallen.
Sabine Weiss ({0})
Schätzungsweise 34 Millionen Menschen sind weltweit mit dem Virus infiziert; ein Großteil von ihnen lebt
in Entwicklungsländern. Die Hauptlast der tückischen
Krankheit trägt Afrika südlich der Sahara, wo fast
23 Millionen Menschen mit dem HI-Virus leben. Es gibt
einzelne Länder in Subsahara-Afrika, in denen mehr als
20 Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 49 Jahren
infiziert sind.
Diese tückische Krankheit zerstört: Sie zerstört die
Leben der Betroffenen. Sie zerstört aber auch häufig die
Leben der Familien der Betroffenen. Weltweit haben
mehr als 16 Millionen Kinder zwischen 0 und 17 Jahren
einen Elternteil oder beide Eltern aufgrund der Immunschwächekrankheit verloren. Kinder können nicht zur
Schule gehen, weil sie ihre Angehörigen pflegen oder
Geld verdienen müssen, um die sozialen Folgen der
Krankheit abzumildern. Sie zerstört in Ländern mit sehr
hohen Infektionsraten auch die Entwicklungs- und Wirtschaftschancen, weil von HIV/Aids häufig besonders
junge Menschen in ihrem produktivsten Alter betroffen
sind. Die Immunschwächekrankheit ist damit ein nicht
zu unterschätzendes Armutsrisiko für ganze Gesellschaften. Neben der menschlichen Tragödie, die HIV/
Aids über jede einzelne betroffene Familie bringt, ist sie
in vielen Ländern Afrikas südlich der Sahara somit auch
eine gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Katastrophe, die die Entwicklung der Länder entscheidend
hemmt.
Auch wenn es mittlerweile Behandlungsmöglichkeiten und Therapien gibt, die das Leben mit der Immunschwäche erleichtern, so gibt es immer noch keine
Heilung. Es ist daher gut und richtig, dass wir uns heute
im Plenum des Deutschen Bundestages mit diesem wichtigen Thema beschäftigen.
Das Gesicht der Krankheit wird immer weiblicher.
Frauen tragen die Hauptlast der Epidemie. Sie pflegen
kranke Angehörige, kümmern sich um Aidswaisen und
sind zudem auch noch einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt. In Subsahara-Afrika sind mittlerweile
mehr als doppelt so viele junge Frauen wie junge Männer in der Altersgruppe von 15 bis 24 Jahren mit HIV infiziert.
Für Frauen ist es häufig besonders schwer, sich vor
einer Ansteckung zu schützen, denn viele Männer verweigern den Gebrauch von Kondomen. Oft sind Frauen
und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt. Viele Frauen
können in Bezug auf Verhütung und Sexualität kein
selbstbestimmtes Leben führen. Aus dem häufig eingeschränkten Zugang zu Bildung resultiert dann auch noch
ein geringes Wissen über sexuell übertragbare Krankheiten und den Schutz vor Ansteckung. Frauen sind besonders gefährdet, sich mit der tückischen Immunschwächekrankheit anzustecken. Bei all unseren Bestrebungen
im Kampf gegen HIV/Aids muss daher ein zentrales Augenmerk auf Frauen und Mädchen liegen.
In der letzten Sitzungswoche habe ich als Sprecherin
des Parlamentarischen Beirates der Deutschen Stiftung
Weltbevölkerung eine Sitzung zum Thema Verhütungsmittel geleitet. Dort wurde eine Auswahl von am Bedarf
und an der Situation angepassten Verhütungsmitteln
präsentiert - unter anderem auch das Kondom für die
Frau.
Ich gebe an dieser Stelle zu, dass das Kondom für die
Frau bei mir - und nicht nur bei mir - erst einmal ungläubige Blicke hervorgerufen hat, da es doch ein bisschen an eine kleine Plastiktüte erinnert. Aber der Hintergrund ist leider bitter ernst: Männer verweigern sich
Kondomen, und daher werden Präventionsmaßnahmen
benötigt, die Frauen selbstbestimmt verwenden können und das Frauenkondom ist eine dieser Präventionsmaßnahmen. Das Problem ist bislang jedoch noch, dass
Kondome für die Frau um ein Vielfaches teurer sind als
Männerkondome und die Akzeptanz noch steigerungswürdig ist. Aber es wird daran gearbeitet und geforscht,
die Frauenkondome noch benutzerfreundlicher und mit
einem höheren Tragekomfort auszugestalten.
Solange es keine Heilung bei und keine Impfstoffe gegen HIV/Aids gibt, sind Prävention und Infektionsvorbeugung die wichtigste Waffe im Kampf gegen die Epidemie. Richtigerweise liegt daher ein Schwerpunkt der
deutschen Unterstützung auf der Prävention.
Dazu gehören Präventionsmittel, die Frauen selbstbestimmt und oft sogar ohne das Wissen der Männer anwenden können. Es gibt mittlerweile mehrere Produktpartnerschaften, die es sich zum Ziel gemacht haben,
Mikrobizide zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Frauen
eigenverantwortlich vor einer Ansteckung schützen können. Geforscht wird derzeit an Cremes oder monatlichen
Vaginalringen, die den Frauen endlich eine eigene Präventionsmaßnahme im Kampf gegen eine Ansteckung an
die Hand geben würde.
Zur Prävention gehört natürlich auch die Aufklärung
über Sexualität, sexuell übertragbare Krankheiten und
den Schutz vor Ansteckung. Nur wer weiß, wie man sich
anstecken kann und welche Maßnahmen gegen eine Ansteckung helfen, kann sich schützen. In erfolgreichen
Aufklärungsstrategien müssen Männer wie Frauen und
Jungen wie Mädchen eingebunden sein. Nur mit der
Einbeziehung von Männern und Jungen werden sich
beispielsweise die Akzeptanz und der Gebrauch von
Kondomen für Männer steigern lassen. Ich brauche an
dieser Stelle nicht zu betonen, dass das Männerkondom
eines der preisgünstigsten und effektivsten Instrumente
gegen eine Ansteckung ist. Erfolgreiche Aufklärung hat
individuelle Verhaltensänderungen wie beispielsweise
den Gebrauch von Kondomen zur Folge. Aufklärung
kann ein sehr hartes Stück Arbeit sein, wenn sie tradierte
Verhaltensweisen aufbrechen muss. Fatale Mythen, wie
in Afrika, wo es Männer gibt, die glauben, dass Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau sie von ihrer
Aidserkrankung heilt, können Aufklärung noch zusätzlich erschweren.
Deutschland gehört weltweit zu den größten Gebern
im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit HIV/Aids
und hat sich verpflichtet, von 2008 bis 2015 mindestens
4 Milliarden Euro für die Bekämpfung von HIV, Malaria, Tuberkulose und für die benötigte Stärkung von
Gesundheitssystemen bereitzustellen. Neben bilateralen
Auszahlungen zur Bekämpfung von HIV/Aids ist
Deutschland mit 200 Millionen Euro jährlich der viertZu Protokoll gegebene Reden
Sabine Weiss ({1})
größte Geber des Globalen Fonds zur Bekämpfung von
Aids, Tuberkulose und Malaria; rund die Hälfte der Beiträge an den Globalen Fonds kommen der HIV/Aids-Bekämpfung zugute.
Zudem unterstützt Deutschland unter anderem UNAids, die EU und die Weltgesundheitsorganisation bei
der HIV/Aids-Bekämpfung. Die International Planned
Parenthood Federation, IPPF, die sich für eine Stärkung
der sexuellen und reproduktiven Rechte einsetzt, erhielt
insgesamt 4,9 Millionen Euro im Jahr 2010.
In den letzten Jahren hat es gute Erfolge bei der HIV/
Aids-Bekämpfung gegeben. So ist die Zahl der HIVNeuinfektionen und der mit der Epidemie zusammenhängenden Todesfälle auf dem niedrigsten Stand seit
dem Höhepunkt der Aids-Katastrophe.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind
aber nach wie vor groß. Bislang hat über die Hälfte der
Menschen, die eine Therapie benötigen, keinen Zugang
zu den lebensrettenden Medikamenten. Jedes Jahr infizieren sich immer noch 390 000 Neugeborene durch die
Übertragung des HI-Virus der eigenen Mutter. Durch
die mütterliche Einnahme von antiretroviralen Medikamenten kann das Übertragungsrisiko auf bis zu 2 Prozent gesenkt werden.
Jeden Tag infizieren sich mehr als 7 000 Menschen
neu, und täglich sterben fast 5 000 Menschen an der Erkrankung.
Es ist also noch ein sehr weiter Weg bis zur Vision
„Null HIV-Neuinfektionen, null Diskriminierung und
null Todesfälle durch Aids“ der Vereinten Nation.
Aber auch bis zu Erreichung des Universal Access,
der bis 2015 weltweit allen von HIV betroffenen Menschen universellen Zugang zu Prävention, Behandlung,
Versorgung und Pflege ermöglichen soll, gibt es noch einige Herausforderungen anzugehen.
Ich bin in der Regel keine Freundin der brachialen
Ausdrücke, aber diese heimtückische Krankheit gehört
ausgerottet. Es wäre ein Segen für die Menschheit, wenn
es irgendwann gelingen könnte, dass dieser furchtbare
Virus vom Angesicht der Erde verschwindet und die
Vision der Vereinten Nationen „Null Ansteckung, null
Diskriminierung und null Todesfälle“ wahr würde.
Auch wenn der Weg lang ist, so können wir dieser
Vision durch gute und erfolgreiche Prävention und Aufklärung, eine für alle zugängliche Behandlung und Versorgung der Betroffenen sowie durch Forschung jedes
Jahr vielleicht ein bisschen näher kommen.
Deutschland stellt sich dabei seiner Verantwortung
im Kampf gegen die HIV/Aids-Epidemie und wird dies
auch weiterhin tun.
Zum Weltfrauentag in diesem Jahr haben sich viele
von Ihnen, wie ich auch, für die Kampagne
„In9monaten.de“ gemeinsam fotografieren lassen, um
ihre Zustimmung, ihre Solidarität und ihre Unterstützung für die Ziele dieser Kampagne zu zeigen, und zwar
Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen.
Wir, die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, haben mit diesem Antrag die Aufgabe übernommen, von
der Bundesregierung die notwendigen Schritte zu fordern, mit denen sie ihre eingegangenen Verpflichtungen
im Kampf gegen Aids und für eine Generation frei von
Aids erfüllen kann und muss.
Ich bin daher besonders froh, dass auch Frau Pfeiffer,
Frau Daub und die Vorsitzende des AWZ, Frau Wöhrl,
ihre Unterstützung für die Kampagne und die Ziele demonstriert haben; denn so können wir uns der Unterstützung dieses Antrags auch durch die Koalition sicher
sein. Die erste Generation frei von Aids wird es Ihnen
danken.
Eine Unterstützung durch das ganze Haus wäre auch
ein starkes Signal an die im nächsten Monat in
Washington stattfindende 19. Welt-Aids-Konferenz, dass
sich Deutschland seiner Verantwortung bewusst und bereit zum Handeln ist.
Es gibt Erfolge zu verzeichnen. Sowohl die Zahl der
HIV-Neuinfektionen als auch die mit Aids zusammenhängenden Todesfälle sind auf das niedrigste Niveau
seit dem Höhepunkt der Epidemie gefallen. Den Angaben von UNAIDS zufolge gab es im Jahr 2010 zwischen
2,4 und 2,9 Millionen Neuinfizierte, wovon circa
390 000 Kinder waren. Etwa 1,8 Millionen Menschen
starben an Aids bzw. an damit in Zusammenhang stehenden Krankheiten.
90 Prozent der Kinder werden durch die Mutter mit
dem HI-Virus infiziert, etwa während der Geburt oder
später über die Muttermilch. Die Ursachen hierfür sind
vielfältig. Viele Mütter wissen nichts von ihrer Erkrankung, das heißt, sie wurden nicht getestet. Oder sie wurden nicht über das notwendige Verhalten aufgeklärt.
Häufig hat auch keine Behandlung stattgefunden, weil
es kein ausreichendes Gesundheitssystem oder keinen
Zugang zu den notwendigen Medikamenten gab. Wird
die Mutter nicht behandelt, steckt sich eins von drei Kindern an. 2009 lebten weltweit 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren mit HIV/Aids, 90 Prozent davon in den
Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
International hatte man sich zur Schaffung eines
„Universal Access“, also eines universellen Zugangs zu
Prävention, Behandlung, Betreuung und Unterstützung
für alle Menschen bis 2010 verpflichtet. Trotz herausragender Anstrengungen wie der Arbeit des Globalen
Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria wurde dieses Ziel nicht erreicht, auch weil Minister
Niebel dem GFATM immer wieder Knüppel zwischen die
Beine wirft. Deshalb ist es lebensnotwendig, die Anstrengungen zu verstärken.
Bis zum Jahr 2010 sollten auch mindestens 80 Prozent aller HIV-infizierten Schwangeren Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Erreicht wurde dieses Ziel
nur in vier Ländern: Botswana, Namibia, Swasiland und
Südafrika. Trotz einiger Fortschritte in den anderen
Ländern erhielten 2009 nur 53 Prozent aller HIV-positiven Frauen Medikamente und medizinische Versorgung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
Nur wenn Frauen auch wissen, ob sie infiziert sind,
kann eine Virusübertragung auf das Kind verhindert
werden. 2009 hatten jedoch nur 26 Prozent aller
Schwangeren in den Entwicklungsländern Zugang zu
HIV-Tests.
Wir müssen die Mutter-Kind-Übertragung stoppen,
wenn wir eine erste Generation frei von Aids ermöglichen wollen. Zu diesem Ziel hat sich auch die Bundesregierung im Jahr 2011 auf der UN-Generalversammlung
erneut verpflichtet, dann aber, wie bei allen internationalen Verpflichtungen in Bezug auf Gesundheit in den
Entwicklungsländern, den vollmundigen Ankündigungen keine Taten folgen lassen.
Eine neuere Studie in Südafrika zeigte, dass die Sterblichkeitsrate von Säuglingen, die innerhalb der ersten
zwölf Wochen behandelt werden, um 75 Prozent gesenkt
werden konnte.
Abgesehen von der Tatsache, dass nur 28 Prozent der
Kinder eine notwendige Therapie bekommen, gibt es
viele Medikamente nicht in kinderfreundlichen Darreichungsformen oder aber sie müssen gekühlt werden,
was in armen Ländern ein Problem darstellt. Dazu ist
weitere Forschung zwingend notwendig.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dem Ziel
einer aidsfreien Generation zu verpflichten und künftige
Programme an diesem Ziel konsequent auszurichten,
ohne den übrigen Einsatz gegen HIV/Aids zu schmälern.
Eine aidsfreie Generation muss zum Leitbild des Handelns des Entwicklungsministeriums werden.
Die Bundesregierung muss der Verhinderung von
Neuinfektionen bei Kindern und der Zukunftsvision einer aidsfreien Generation einen zentralen Stellenwert in
ihrer neuen HIV/Aids-Strategie einräumen. Ebenso
muss diese Vision in der „Strategie Globale Gesundheit“, die zurzeit von der Bundesregierung erarbeitet
wird, als vorrangiges Ziel verankert werden.
Alle Anstrengungen zur Umsetzung der Zielvorgaben
für die Bekämpfung von HIV, die im Rahmen der Vereinten Nationen für das Jahr 2015 vereinbart wurden, müssen verstärkt werden. Hierfür ist eine Anhebung der
Mittel für die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des
Bruttonationaleinkommens notwendig. Um dieses Ziel
zu erreichen, fordern wir die Bundesregierung auf, die
ODA-anrechenbaren Mittel jährlich um etwa 1 Milliarde Euro zu steigern.
Es ist möglich, einen großen Schritt im Kampf gegen
HIV/Aids zu machen, aber das vorhandene Zeitfenster
ist nicht allzu groß. Deswegen muss jetzt gehandelt werden.
Von Kofi Annan stammt der Ausspruch: „Am Ende
wird die Geschichte uns nicht an dem, was wir sagen,
messen, sondern an dem, was wir tun.“ Was zu tun ist,
steht in dem Antrag der SPD, dessen Inhalte auch von
den Koalitionären unterstützt werden, wie unser gemeinsames Foto vom Frauentag in diesem Jahr zeigt.
Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit muss ich
heute ohne konziliante Vorrede mit deutlicher Kritik an
Ihrem Antrag beginnen: Es ist nicht ungewöhnlich, dass
vor der parlamentarischen Sommerpause des Bundestages schnell noch Anträge mit heißer Nadel gestrickt
werden. Dass diese jedoch handwerklich und inhaltlich
ungenügend vorbereitet werden, ist gerade bei diesem
wichtigen Thema mehr als bedauerlich. Dass man als
Opposition die Bundesregierung um des Kritisierens
willen kritisiert - bitte; geschenkt. Aber es ist eine
Frechheit, der Bundesregierung und dem BMZ zu unterstellen, internationale Verpflichtungen gerade in Bezug
auf die Gesundheit in Entwicklungsländern nicht einzuhalten.
Wenn ich mir die Bilanz der Entwicklungszusammenarbeit unter Dirk Niebel anschaue, dann muss ich sagen: Wir haben in den drei Jahren nachweislich mehr
erreicht, als die Vorgängerregierungen mit Ministerin
Wieczorek-Zeul, die viele Jahre mehr Zeit hatten; elf
Jahre, um genau zu sein!
Die Muskoka-Initiative ist ein Beispiel aus unserer
Erfolgsbilanz. Deutschland stellt zusätzlich 400 Millionen Euro im Zeitraum von 2011 bis 2015 zur Verbesserung der Kinder- und Müttergesundheit zur Verfügung.
Das BMZ räumt den Zielen der Initiative hohe politische
Priorität ein, bezieht Akteure aus Zivilgesellschaft und
Privatsektor als wichtige Partner aktiv ein und legt in
der Umsetzung besonderen Wert auf die Bereiche Aufklärung, Bildung und Ausbildung von Gesundheitspersonal, das im Bereich Geburtshilfe tätig ist.
In Kürze wird das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Positionspapier „Deutschlands Beitrag zur nachhaltigen Eindämmung von HIV“ vorstellen. Spätestens nach der
Lektüre dieses Dokuments werden Sie sehen, dass die
meisten Ihrer Forderungen im Antrag überflüssig, da
bereits erfüllt sind.
Dass Ihre Forderung nach der Beteiligung der Zivilgesellschaft vor Ort teilweise bereits erfüllt und in allen
Ländern der deutschen EZ angestrebt ist, habe ich am
Beispiel Muskoka bereits angerissen.
Die Aufforderung, die Gesundheitsministerien der
Partnerländer in der Umsetzung der WHO-Empfehlungen zu unterstützen, ist oftmals sogar übererfüllt:
Bilaterale Programme arbeiten auf allen Ebenen der
Partnerländer, von der Regierungsberatung bis hin zur
Umsetzung auf Gemeindeebene - Mehrebenenansatz -,
und fördern die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen und des Privatsektors in die nationale HIVPolitik. Durch eine geeignete Kombination von Interventionen und Instrumenten fördern sie die HIV-Prävention, verknüpfen diese mit anderen Gesundheitsdienstleistungen - zum Beispiel im Bereich reproduktiver und
sexueller Gesundheit - und stärken Gesundheitssysteme
für einen verbesserten Zugang zu Diagnostik, Tests,
Medikamenten und zu qualitätsgesicherter Behandlung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Aufruf an die Bundesregierung, sich für stark
HIV-gefährdete Gruppen stärker einzusetzen, ist bereits
vor Ihrem Antrag gehört worden. Zwei Beispiele:
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt zum Beispiel in Nepal die Implementierung und
Ausweitung des nationalen Methadonprogramms komplementär zu einem Zuschuss des GFATM, der die laufenden Kosten des Substitutionsprogramms trägt. Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen werden im
Bereich der Substitutionsbehandlung beraten, die Ausbildung von Personal für die medizinische und psychosoziale Betreuung unterstützt und ein Überweisungsund Referenzsystem zu relevanten Gesundheitsdiensten
und anderen Unterstützungsleistungen eingeführt.
In der Ukraine werden Männer, die Sex mit Männern
haben, stigmatisiert und diskriminiert. Dies behindert
risikominimierendes Verhalten sowie den Zugang zu
gesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen. Mit
deutscher Unterstützung vermitteln Initiativgruppen von
Männern, die Sex mit Männern haben, differenziertes
Wissen über schwules Leben, schwule Identität und
Safer Sex sowie Techniken zum Umgang mit Diskriminierung und Stigmatisierung. Darüber hinaus wurden
Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen
und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter darin geschult, tabuisierte Themen wie Sexualität und Safer Sex
ohne Vorbehalte anzusprechen und zu diskutieren.
Wenig überraschend wird einmal mehr die Forderung
nach der Verdopplung der Mittel für den Global Fund
auf 400 Millionen Euro pro Jahr formuliert. Wir unterstützen die Arbeit des Global Fund, das wissen Sie.
Frau Roth, wenn ich Ihre heutige Pressemitteilung
zum Global Fund lese, muss ich reagieren! Zu keiner
Zeit hatte Minister Niebel eine Blockadehaltung gegenüber dem Global Fund! Die einzige Blockadehaltung,
die der Minister dankenswerterweise hat, ist die Blockadehaltung gegenüber Korruption. Nachdem alle Vorwürfe aufgeklärt und die richtigen Wege beschritten
wurden, sind selbstverständlich die zugesagten Mittel an
den GFATM ausgezahlt worden.
Und jetzt die Forderung nach einer Verdopplung der
Mittel! - Erlauben Sie mir den Hinweis, dass alleine das
Gesetz verbietet, dass die Bundesregierung eine Gelddruckmaschine im Keller hat. Aber auch inhaltlich positionieren wir Liberale uns hier anders. Wie Sie wissen,
streben wir den weiteren Aufwuchs an bilateralen Mitteln auch im Gesundheitsbereich der Entwicklungszusammenarbeit an.
Darüber hinaus muss ich Ihren Blick auch über den
Tellerrand des Einzelplans 23 hinaus auf die Chancen
einer nachhaltigen Effizienzverbesserung der EZ im
Gesundheitsbereich lenken: Die Bundesregierung beteiligt sich aktiv am Reformprozess der WHO und dem Bemühen, die Entwicklungspolitik gerade im Bereich der
Gesundheit stringenter und effizienter zu machen und
durch die Abschaffung von Doppel- oder gar Mehrfachstrukturen die vorhandenen Mittel noch zielführender
zum Einsatz zu bringen.
In einem globalen Themengebiet erwarte ich auch
eine globale Betrachtung der Herausforderungen und
Lösungsansätze. Diese Erwartung erfüllt das BMZ.
Deutschland wird sich auch in Zukunft an internationalen Initiativen zur besseren Abstimmung und Verzahnung der Maßnahmen im Gesundheitsbereich beteiligen
und zum Beispiel als Gründungsmitglied die International Health Partnership, IHP+, aktiv voranbringen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen der SPD, einige
Ihrer Forderungen könnten wir mit bestem Wissen und
Gewissen mittragen, die Ausweitung der Förderung von
Produktentwicklungspartnerschaften im Rahmen des
Programms „Vernachlässigte und armutsassoziierte
Krankheiten“ des BMBF zum Beispiel. Frau Roth, hier
sind wir ja sogar fraktionsübergreifend im Parlamentarischen Beirat der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung
aktiv gewesen und haben uns bei Ministerin Schavan
eben hierfür eingesetzt.
Auch in dem Ansinnen, die Verknüpfung von Maßnahmen unter dem Stichwort Sexuelle und Reproduktive
Gesundheit und Rechte, SRGR, und HIV-Prävention
politisch, konzeptionell und finanziell in der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit zu stärken und Kinder
und Jugendliche stärker zu berücksichtigen, finden Sie
in uns Gleichgesinnte. Umso betrüblicher finde ich,
dass der eine oder andere richtige Ansatz in Ihrer Tour
d’Horizon durch - gefühlt - alle Forderungen der letzten drei Jahre komplett untergeht.
Ich verstehe das Instrument des Antrags an die Bundesregierung als Möglichkeit, Verbesserungen zu fordern, Vorschläge zu machen und ja, auch sachlich zu
kritisieren. Ihr Antrag ist jedoch eine wunderbare Beweisführung für die Korrektheit der Annahme, dass
Qualität über Quantität geht. Das Anforderungsprofil
für einen Antrag heißt doch nicht „wie viele Forderungen schaffe ich“!
Von sage und schreibe 30 ({0}) Forderungen gehen zehn
am Thema völlig vorbei, viele andere sind bereits erfüllt.
Die wenigen, die wir mittragen könnten, werden durch
die Masse der unnötigen Forderungen nahezu erschlagen.
Werte Kollegen, lassen Sie uns bitte in diesem so elementaren Bereich der Entwicklungszusammenarbeit
wieder zu Sachlichkeit, Fachwissen und konstruktivem
parlamentarischen Dialog zurückkehren.
Der Titel des vorliegenden Antrags besteht aus zwei
Teilen. „Für eine Generation frei von Aids/HIV bis 2015 Anstrengungen verstärken“, diesem Teil kann ich mich
voll und ganz anschließen. Den zweiten Teil „Zusagen in
der Entwicklungspolitik einhalten“ finde ich als Titel eines SPD-Antrags schon ziemlich scheinheilig. Denn die
SPD hat in Regierungsverantwortung bewiesen, dass sie
ihre Versprechen ebenso wie die jetzige Regierungskoalition bricht. Die Grünen sind da auch nicht besser.
Auch unter Rot-Grün gab es keine substanziellen
Schritte Richtung 0,7-Prozent-Ziel. Das sind leider die
Fakten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir haben 2010 einen Bundestagsantrag mit dem Titel „Steigerung der Entwicklungshilfequote auf 0,7 Prozent gesetzlich festlegen“ eingebracht. Die Koalitionsfraktionen haben ihn genauso abgelehnt wie die SPD.
Die Grünen haben sich enthalten. Wären sie unserer Initiative damals gefolgt und hätten einer gesetzlichen verpflichtenden jährlichen Steigerung der Entwicklungshilfequote nach britischem Vorbild zugestimmt, würde
Deutschland tatsächlich bis 2015 sein 40 Jahre altes
Versprechen an die Entwicklungsländer endlich einhalten. Deshalb ist es heuchlerisch, wenn Rot-Grün und
Schwarz-Gelb sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Sie alle haben es verbockt.
Das Ziel, bis 2015 eine Generation frei von Aids/HIV
zu machen, unterstützen wir selbstverständlich uneingeschränkt. Auch die im Antrag vorgenommene Analyse
der aktuellen Situation bezüglich der globalen Verbreitung von Aids/HIV ist zutreffend und umfassend. Hier
und da merkt man allerdings ein wenig, dass er noch auf
den letzten Drücker vor der Sommerpause zusammengeschustert wurde. Wie eine aidsfreie Generation „Leitbild
und Grundelement für die weltweite Verwirklichung …
wirtschaftlichen Wohlstands“ werden soll, erschließt
sich mir jedenfalls auch nach mehrfachem Lesen nicht.
Zahlreiche der erhobenen Forderungen sind richtig
und wichtig: Der deutsche Beitrag an den Globalen
Fonds muss als eigenständiger Haushaltstitel auf
400 Millionen Euro verdoppelt werden. Bilaterale Handelsabkommen der Europäischen Union dürfen den Zugang zu erschwinglichen Generikamedikamenten für
Entwicklungs- und Schwellenländer nicht erschweren
oder gar verhindern.
Die Linke fordert diese Punkte ebenfalls, schon seit
langem. So haben wir nahezu wortgleich in unserem Antrag „Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen - Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermöglichen“ bereits 2011
die Bundesregierung aufgefordert, öffentlich finanzierte
Forschungsinstitute in Deutschland zu verpflichten, eigene Patente auf HIV/Aids-Produkte dem von UNITAID
initiierten Patentpool MPP zur Verfügung zu stellen. Es
ist prima, wenn die SPD dieses Anliegen nun auch unterstützt.
Als dringlichste Aufgabe müssen wir die Übertragung von Aids/HIV von der Mutter zum Kind bekämpfen; das steht außer Frage.
Doch ich möchte an dieser Stelle auch auf einen weiteren wichtigen Bereich aufmerksam machen: Wie die
Globale Kommission für Drogenpolitik der Vereinten
Nationen vor wenigen Tagen mitteilte, ist Drogengebrauch heute weltweit für etwa ein Drittel aller Aidsneuinfektionen verantwortlich - ausgenommen im südlichen
Afrika. Die „Zeit“ fasst das heute folgendermaßen zusammen: „Je härter die Drogenpolitik, desto höher das
Aidsrisiko. … Weniger Verbote und Strafen könnten
weltweit die HIV-Neuinfektionen senken.“ In der
Schweiz ist die Zahl der HIV-Infektionen unter Drogenabhängigen von 68 Prozent auf 5 Prozent gesunken, seit
es saubere Spritzen und Heroin auf Rezept vom Staat
gibt. Wenn dieser Erfolg sich bei dem Drittel der weltweiten Neuinfektionen durch Drogenkonsum wiederholen ließe, wäre das ein gewaltiger Fortschritt.
Deshalb mein Appell an SPD, CDU/CSU und FDP:
Erkennen Sie endlich die Zeichen der Zeit und revidieren
Sie endlich ihr dogmatisches Verhältnis zur Drogenpolitik! Auch für die Aids/HIV-Bekämpfung weltweit wäre
dies ein wichtiges positives Signal.
Die internationale Staatengemeinschaft hat sich vor
gut einem Jahr beim hochrangigen Treffen der Vereinten
Nationen zu HIV/Aids in New York verpflichtet, bis 2015
die Mutter-Kind-Übertragungen zu stoppen und den Anteil der sexuellen Übertragungen zu halbieren. Auch
Deutschland steht hier in der Verantwortung, seinen
Beitrag zu leisten, insbesondere finanziell. Denn wir
müssen heute investieren, um die Zukunft von morgen
gestalten zu können! Das ursprüngliche Ziel der Weltgemeinschaft, bis 2010 universellen Zugang zu Prävention, Therapie, Betreuung und Unterstützung zu ermöglichen, wurde bereits weit verfehlt und hat damit
Millionen von Menschen das Leben gekostet.
Gerade beim Thema der Mutter-Kind-Übertragung
ist der Zugang zu antiretroviralen Medikamenten, HIVTests und Präventionsmitteln entscheidend. 90 Prozent
aller HIV-infizierten Kinder infizieren sich über ihre
Mutter mit dem Virus, meist bei der Geburt oder über die
Muttermilch. Durch die Gabe von antiretroviralen Medikamenten an die HIV-positiven Mütter könnte die Zahl
der jährlich 400 000 Neugeborenen, die sich mit HIV/
Aids infizieren, drastisch gesenkt werden. UNAIDS, das
gemeinsame Programm der Vereinten Nationen zu HIV/
Aids, dokumentiert allerdings, dass nicht einmal die
Hälfte der therapiebedürftigen HIV-Infizierten entsprechende Medikamente erhält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mehrheit der
Abgeordneten hier im Deutschen Bundestag und die gesamte grüne Bundestagsfraktion haben sich zum 0,7Prozent-Ziel bekannt und den entwicklungspolitischen
Konsens unterschrieben. Mit einigen von Ihnen habe ich
gemeinsam Transparente vor dem Deutschen Bundestag
hochgehalten und mit Unterschriften die Kampagne des
Aktionsbündnisses gegen Aids „Bis 2015 - Babys ohne
HIV!“ offiziell unterstützt. Diese Bekenntnisse müssen
sich endlich auch für die Betroffenen in konkrete Politik
umsetzen.
Der Antrag der SPD-Fraktion enthält viele wichtige
Forderungen, die wir nicht nur gerne mittragen wollen,
sondern auch selbst in unseren Anträgen schon gefordert haben. Allerdings haben wir Grünen im Rahmen
der Haushaltsberatungen entsprechend dem entwicklungspolitischen Konsens, das 0,7-Prozent-Ziel umzusetzen, klare finanzielle Aussagen zu einzelnen Titeln getroffen, die sich nicht ganz mit den Forderungen des uns
vorliegenden Antrags decken. Auch an anderen Stellen
des Antrags sehen wir noch Diskussionsbedarf.
So ist beispielsweise die Forderung, HIV/Aids prioritär im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung zu
berücksichtigen, angesichts eines Forschungsdefizits im
Zu Protokoll gegebene Reden
Bereich der vernachlässigten Krankheiten einschließlich Tuberkulose und Malaria und insbesondere der vernachlässigten Aspekte von HIV/Aids noch einmal zu
überprüfen. Auch in Bezug auf die Lizenzpolitik stellt
sich in Deutschland bis dato nicht die Frage, ob öffentlich finanzierte Forschungsinstitute komplette Patente
auf ein fertig entwickeltes HIV/Aids-Medikament oder
Produkt besitzen. Forschungsinstitute geben vielmehr
Patenteigentum an Erfindungen weiter, beispielsweise
aus der Grundlagenforschung, die noch kein fertiges
Produkt darstellen.
Die Forderungen im Sinne einer gerechten Lizenzpolitik müssen also weitergehen, um es zu ermöglichen,
Medikamente, Impfstoffe und andere medizinische Produkte, die auf öffentlich finanzierter Forschungsförderung beruhen, für Menschen in ärmeren Ländern leichter zugänglich zu machen. Dazu kann beispielsweise die
Aufnahme sozialer Kriterien im Sinne einer gerechten
Lizenzpolitik bei Verträgen - zum Beispiel zwischen
Hochschulen oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Unternehmen - einen wichtigen Beitrag
leisten.
Ich begrüße es aber sehr, dass meine Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD-Fraktion das Thema HIV/Aids
und insbesondere auch die Mutter-Kind-Übertragung
auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gesetzt haben. Im Rahmen der Beratungen in den Ausschüssen werden wir noch einmal zu den einzelnen
Punkten diskutieren und damit auch diesem wichtigen
Thema mehr Raum geben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldstrategie 2020
Nachhaltige Waldbewirtschaftung - eine gesellschaftliche Chance und Herausforderung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Harald Ebner, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldstrategie 2020
Nachhaltige Waldbewirtschaftung - eine gesellschaftliche Chance und Herausforderung
- Drucksachen 17/7292, 17/7667, 17/8915 Berichterstattung:
Abgeordnete Cajus Caesar
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Wir nehmen auch hier die Reden zu Protokoll.
Die Waldstrategie 2020 ist von großer Bedeutung.
Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat mit dieser
Waldstrategie etwas Zukunftsweisendes auf den Weg gebracht.
Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass schon im
Vorfeld der Formulierung möglichst viele gesellschaftliche Gruppen mit einbezogen wurden. Wir, die Union,
wollen den Dialog mit den Menschen. Wir wollen Waldbesitzer, Förster, Holzindustrie, Naturschutzverbände,
Heimatvereine und vor allem die vor Ort arbeitenden
und lebenden Menschen mit einbeziehen. Dies ist uns
mit der Waldstrategie 2020 in besonderer Weise gelungen. Durch die hervorragende Arbeit unserer Waldbesitzer und Förster genießen wir weltweit Vorbildfunktion.
Unser Wald bietet uns drei Säulen der Nachhaltigkeit: einen umwelt- und klimafreundlichen Rohstoff
Holz, Sozial- und Erholungsfunktionen für die Menschen sowie einen Lebensraum für zahlreiche Tier- und
Pflanzenarten.
2013 ist das Jahr, in dem die nachhaltige deutsche
Forstwirtschaft ihr 300-jähriges Jubiläum feiert. Hans
Carl von Carlowitz aus Freiberg, Sachsen, prägte bereits 1730 den Begriff der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit kennzeichnet danach die Bewirtschaftungsweise eines Waldes. Entscheidend ist, dass immer nur so viel
Holz entnommen wird, wie nachwachsen kann. Der Ursprung des Nachhaltigkeitsbegriffs ist demnach auf den
Bereich Forst zurückzuführen.
Nirgends wird Nachhaltigkeit so gut begreifbar wie in
unserem Wald. Vor 300 Jahren waren es die Forstleute,
die diesen Begriff zu einem entwickelten, der heute in
aller Munde ist. Modern wie nie. Die naturnahe nachhaltige Bewirtschaftung unseres Waldes bedeutet zudem
Wertschöpfung vor Ort im ländlichen Raum, bedeutet
für viele Einkommen. So haben wir in der Forst- und
Holzindustrie mehr Arbeitsplätze zu verzeichnen als
etwa in der Automobilindustrie.
Wir als Union erkennen diese Bedeutung. Mit der
Waldstrategie 2020 setzen wir die Rahmenbedingungen
für Wertschöpfung vor Ort im ländlichen Raum, für einen umweltfreundlichen und nachhaltig erzeugten Rohstoff Holz, der sich stark wachsender Bedeutung erfreut.
Weitere Flächenstilllegungen im Wald lehnen wir seitens
der Union ab. Es wäre geradezu fahrlässig, auf diesen
umweltfreundlich erzeugten Rohstoff zu verzichten, dafür aber Importe in Kauf zunehmen, die oftmals aus
nicht nachhaltiger Bewirtschaftung stammen.
Sie wissen, dass jedes Jahr etwa 11 Millionen Hektar
Urwald zerstört werden. Dies entspricht der gesamten
Waldfläche Deutschlands. Davon wird nur etwa die
Hälfte wieder aufgeforstet. Diese Zerstörung wollen wir
seitens der Union nicht und werden europaweit und international alles daransetzen, die Waldzerstörung einzudämmen und nur noch Holz aus nachhaltiger Bewirtschaftung zu verwenden. Wir wollen Wald mit
nachhaltiger Bewirtschaftung erhalten. Waldzerstörung
lehnen wir ab.
Der Bundesverband der Säge- und Holzindustrie,
BSHD, weist zu Recht darauf hin, dass die Experten einen Fehlbedarf an Holzbiomasse in 2030 von jährlich
30 Millionen Kubikmetern in Deutschland und rund 250
Millionen Kubikmetern in der EU prognostizieren. Darauf reagiert die Waldstrategie zu Recht: Wir wollen
keine weiteren Nutzungsverzichte, sondern naturnahe
Bewirtschaftung. Wir wollen eine ausgewogene Baumartenwahl in Mischbeständen und keine Totalverteufelung des Nadelholzes. Fachkundige wissen genau, dass
wir mehr Mischbestände mit einem ausreichenden Nadelholzanteil teilweise als Zeitmischung benötigen. So
haben Douglasie und Küstentanne etwa den drei- bis
vierfachen Zuwachs einer Eiche.
Zu verurteilen ist ausdrücklich die Vorgehensweise
von Greenpeace, die in einem bayerischen Wald 600 Nadelbaumsetzlinge der Baumart Douglasie geklaut und
durch Buchen ersetzt haben. Diese illegale Aktion zeigt,
dass Ideologien, Sachbeschädigung und Diebstahl nicht
die richtige Vorgehensweise sind.
Wir wollen standortgerechten Anbau, wir wollen eine
Vielfalt an Baumarten, dabei aber auch dem Nadelholz
den Anteil einräumen, den wir auch vor dem Hintergrund des Rohstoffbedarfs, unter Berücksichtigung der
Bewältigung der Energiewende, benötigen.
Ich darf in diesem Zusammenhang aber auch ausdrücklich darauf verweisen, dass die Zusammenarbeit
mit dem Naturschutzbund, NABU, der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, SDW, dem Bund Deutscher
Forstleute, BDF, der Arbeitsgemeinschaft Deutscher
Waldbesitzer, AGDW, dem Deutschen Forstwirtschaftsrat, DFR, der Arbeitsgemeinschaft der Rohholzverbraucher, AGR, und dem Bund für Heimat und Umwelt,
BHU, sowie den Waldbauern von hoher Qualität geprägt war. Dafür sagen wir seitens der Union Danke
schön.
An dieser Stelle ist es Zeit, auch ganz persönlichen
Dank an die eingebundenen Vereine, Verbände und Personen zu richten.
Der Rohstoff Holz erfreut sich wachsender Bedeutung. Dies kann uns nur recht sein, weil er umweltfreundlich erzeugt wird. Er bietet im Vergleich zu seinen
Mitbewerbern große Vorteile, da er Wirtschaftlichkeit
und Umweltfreundlichkeit in hervorragender Art und
Weise miteinander verbindet. Wir wollen importunabhängiger werden, Ressourcen schonen und auf die Kosten für Bürger und Wirtschaft achten. Dies sind die Ziele
der Waldstrategie 2020. Holz ist eine der zukunftsträchtigsten und wertvollsten Ressourcen auf dem Weltmarkt.
Wir wollen auch die Energiewende schaffen. Holz ist
klimafreundlich und ein gigantischer CO2-Speicher. Jedes Holzprodukt bindet das klimaschädliche CO2 in
Form von Kohlenstoff über seine gesamte Lebensdauer.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass energieintensive Baustoffe wie Stahl oder Beton durch den
nachwachsenden Rohstoff Holz ersetzt werden können,
was zusätzlich eine CO2-Reduktion bedeutet.
„Ein Einschlagstopp bringt keine Vorteile, nicht einmal für die Natur“, erklärt Dr. Denny Ohnesorge, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Rohholzverbraucher e. V., AGR. Viele Flächen schaffen durch eine
naturnahe Bewirtschaftung sogar eine höhere Artenvielfalt als stillgelegte Flächen.
So besagt eine Untersuchung der Universität Potsdam, dass der Nationalpark Hainich/Thüringer Wald
30 Pflanzenarten aufzeigte, im angrenzenden bewirtschafteten Wald aber 40 Pflanzenarten zu verzeichnen
waren. Für die durchschnittliche Anzahl der Käferarten
ergab eine vergleichbare Untersuchung 145 Arten im
Nationalpark Hainich/Thüringer Wald rund 170 Arten
im Wirtschaftswald.
Wichtig ist uns ein Miteinander von Wald und Wild.
So gilt es, die Wildbestände so zu regulieren, dass eine
natürliche Verjüngung aller Hauptbaumarten ohne
Zaun möglich wird. Die Abschlusspläne sind flexibler zu
gestalten und sollen mehr auf die Örtlichkeit ausgerichtet werden, um Verbissschäden zu vermeiden.
Wir, die Union, setzen auf eine vorausschauende Bewirtschaftung. Viele Menschen in unseren Regionen
leben vom Holz. Hier wollen wir die politischen Rahmenbedingungen richtig setzen, damit es zu einer Vernetzung von ökonomischen und ökologischen Zielen
kommt. Der Einsatz qualifizierten Forstfachpersonals
trägt im Wesentlichen dazu bei, diese Ziele zu erreichen.
Das haben auch die Experten aus den verschiedensten
Bereichen bei der Anhörung bestätigt.
Mit der Waldstrategie 2020 sind wir auf dem richtigen Weg.
Wer die Nachrichten der letzten Wochen gezielt nach
Wald- und Jagdthemen durchforstet, wird schnell fündig; die Themenpalette ist breit.
Fotofallen für Wildtiere im Wald werden zum datenschutzrechtlichen Problem. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilt, dass Grundstückseigentümer nicht verpflichtet werden dürfen, die Jagd auf
eigenem Grund und Boden zu dulden und verurteilt
Deutschland zu einer Entschädigungszahlung an den
Kläger. Nennenswerte Fortschritte zum Schutz der Wälder weltweit bleiben beim Rio+20-Gipfel aus, so das
einhellige Echo der Kommentatoren. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, SRU, fordert in seinem aktuellen Umweltgutachten die Einführung ökologischer
Mindeststandards für die gesamte Waldfläche Deutschlands. Philipp zu Guttenberg, Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände, attestiert
dem Beratungsgremium der Bundesregierung daraufhin
fehlende fachliche Substanz und vermisst den „neutralen forstwirtschaftlichen Sachverstand“. Die deutsche
Holzwirtschaft vermeldet, dass ihr das Holz ausgeht,
weil immer mehr Deutsche zu Hause den Rohstoff verZu Protokoll gegebene Reden
brennen. Die Bayerischen Staatsforsten lenken nach
monatelangen Greenpeace-Protesten ein und stoppen
den Einschlag in sehr alte Buchen- und Eichenwaldbestände. Der Streit um den Nationalpark im Teutoburger Wald in meinem Heimatland NRW geht unvermindert und mit verhärteten Fronten weiter. Ich werde an
dieser Stelle aufhören, obwohl ich noch viele weitere
Waldthemen benennen könnte.
Die „Waldstrategie 2020“ trägt keine Schuld an den
benannten Schlagzeilen und Problemen. Schlimmer
wiegt aber: Sie trägt auch nichts zu deren Lösung bei!
Die Bundesregierung hat mit der „Waldstrategie 2020“
ein mutloses Konzept für die Waldpolitik vorgelegt. In
den drei Jahren Erarbeitungszeit blieb der Ehrgeiz auf
der Strecke, nach Lösungen für ein ganzheitliches Waldkonzept zu suchen. Den ökonomischen, ökologischen
und sozialen Funktionen von Wald wird die Waldstrategie der Bundesregierung nicht gerecht. Die Fraktionen
von CDU/CSU und FDP verstecken sich hinter wachsweichen Formulierungen und lassen damit unsere Wälder im Stich.
Auf der Höhe der Zeit zu sein, bedeutet bei den Koalitionsfraktionen vor allem Stillstand, zum Beispiel bei
den Naturschutzanforderungen für die Waldbewirtschaftung im Bundeswaldgesetz. Diese stammen mehrheitlich
immer noch aus dem Jahr 1975. Änderungsbedarf für
die Herausforderungen in 2012? Fehlanzeige.
Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich weiterhin für
eine ordnungsgemäße, naturnahe und nachhaltige Bewirtschaftungsweise ein, die endlich im Bundeswaldgesetz definiert werden muss. Unsere Vorschläge hierzu
sind im Antrag „Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künftige Generationen“ aus 2010 gemacht. Außerdem müssen endlich ausreichend Flächen für eine natürliche
Entwicklung der Wälder ausgewiesen werden. 5 Prozent
der Waldfläche in Deutschland sind nicht zu viel; denn:
Nur wer zu Hause seine Schularbeiten erledigt hat, kann
international für den Erhalt der Urwälder eintreten.
Die Anhörung Anfang Februar hat die enormen
Potenziale des Themas Wald aufgezeigt. Vor allem die
Ausführungen unseres benannten Sachverständigen
Dr. Georg Winkel zum Diskussionsprozess bei forstlichen Entscheidungen haben mich beeindruckt. Der
Wissenschaftlicher vom Institut für Forst- und Umweltpolitik in Freiburg sprach über die Formen direkter
Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen und
erwähnte Möglichkeiten der einfachen Eingaberechte
der Bürger für Handeln im öffentlichen Wald, wie sie in
den USA üblich sind.
Das Produkt Holz ist sehr begehrt. Vor allem der
Energieholzmarkt nimmt stetig zu. Viel zu wenig wird
aber auf die Verwendung von langlebigen Holzprodukten hingearbeitet. So ist zum Beispiel die Holzbauweise
in Ländern wie den USA, Österreich und Schweden sehr
viel weiter verbreitet als in Deutschland. Wir wollen
mehr Holz verarbeiten als verheizen. Energieintensive
Bauträger müssen deshalb auf den Subventionsprüfstand.
Ein modernes Bundeswaldgesetz darf nicht den aktuellen Stand des Wissens über ökologische und ökonomische Zusammenhänge im Wald und in der Forstwirtschaft ignorieren. Es muss die Erkenntnisse aus diesem
Gebiet aufgreifen und ihnen einen allgemeingültigen
rechtlichen Rahmen geben. Es sollte Antworten finden
auch auf Probleme durch Naturnutzer im Wald, die in
den vergangenen Jahren in Erscheinung getreten sind
wie beispielsweise Motocrosser, Geocacher oder Slackliner.
Die SPD-Bundestagsfraktion steht zu einer zeitgemäßen und naturnahen Jagd, die sich an ökologischen
Prinzipien ausrichtet und den Erfordernissen des Tierschutzes gerecht wird. Bleihaltige Munition soll bundesweit nicht mehr erlaubt sein. Auch in punkto Jagd sind
die Ausführungen in der „Waldstrategie 2020“ mehr als
dürftig.
Dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen stimmen wir zu.
Die am letzten Wochenende zu Ende gegangene Konferenz Rio+20 hat auf globaler Ebene herausgearbeitet,
dass Klimawandel, der Erhalt der Biodiversität, die
Stärkung der Nachhaltigkeit der Wirtschaft uns vor
große Herausforderungen stellt. Zur Umsetzung dieser
Ziele haben wir uns auch in Deutschland verpflichtet.
Die Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030
legt technisch-wissenschaftliche Grundlagen für die
Vision einer biobasierten Wirtschaft. Es gilt, neue Technologien zu entwickeln, um die vorhandenen Ressourcen
effizienter zu nutzen, unsere natürlichen Lebensräume
zu bewahren und verstärkt nachwachsende Rohstoffe in
allen Bereichen einzusetzen.
Auch wenn diese Ziele in ihrer Bedeutung gleichrangig sind, so bergen die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung
ein erhebliches Konfliktpotenzial. Holz ist der bedeutendste nachwachsende Rohstoff in Deutschland. Unsere Wälder sind Standort der Holzproduktion, sie dienen gleichzeitig der Erholung und sind Lebensraum für
viele heimische Tiere und Pflanzen.
Die Waldstrategie 2020 der Bundesregierung, über
die wir heute erneut diskutieren, hat sich die Aufgabe
gestellt, die Ansprüche an den Wald, die im Naturschutz,
in der Produktion von Holz und in der Naherholung liegen, in Einklang zu bringen. Sie ist eine gute Basis für
die künftige Forstpolitik. Darin waren sich die Sachverständigen aus Forstverwaltung und Forstwirtschaft,
Naturschutz und Wissenschaft bei einer Anhörung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Bundestages weitgehend einig. Die
Waldstrategie benennt die Anforderungen an den Wald
sowie die widerstreitenden Interessen und baut dadurch
Brücken zwischen den verschiedenen Interessengruppen.
Bereits seit langer Zeit sind sich in Deutschland
Waldbesitzer, Politik und Gesellschaft bewusst, dass nur
eine ausgewogene, nachhaltige Nutzung unserer Wälder
ihren Bestand und ihre Nutzbarkeit langfristig sichert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Begriff Nachhaltigkeit ist von der Forstwirtschaft
geprägt worden. Nachhaltigkeit bedeutet die gleichwertige Berücksichtigung der Anliegen von Ökonomie, Ökologie und Sozialverträglichkeit. Diesen Anliegen müssen
wir im Rahmen der Waldstrategie gerecht werden.
Das Cluster „Forst und Holz“ hat in Deutschland
eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Es ist Grundlage für mehr als eine Million Arbeitsplätze, die erheblich zur Stärkung der Wirtschaftskraft ländlicher Räume
beitragen. Dies müssen wir bei all unseren Entscheidungen im Blick haben.
Die Waldstrategie ist eine eigenständige Strategie der
Bundesregierung. Sie steht gleichberechtigt neben der
Biodiversitätsstrategie. Sie weist Wege, die wirtschaftliche Nutzung der Wälder in der Holzproduktion mit den
Zielen des Naturschutzes zu vereinbaren. Nach aktuellen
Schätzungen sind bereits heute rund zwei Drittel der
deutschen Waldfläche mindestens einer Schutzgebietskategorie nach Bundesnaturschutzgesetz, den Landeswaldgesetzen, der europäischen FFH-Richtlinie und der
Vogelschutz-Richtlinie, Natura 2000, zugeordnet. Der
Artenrückgang im Wald ist nach den Angaben des BfN
geringer als in allen anderen Biotopen, bewirtschaftete
Wälder haben einen größeren Artenreichtum als nicht
bewirtschaftete Wälder. Die letzte Bundeswaldinventur
hat der multifunktionalen Forstwirtschaft ein gutes
Zeugnis ausgestellt. Gleichwohl gilt: Hotspots der Artenvielfalt müssen geschützt werden, aber großflächiger
Nutzungsverzicht ist nicht sinnvoll. Flächenstilllegungen stehen den Anstrengungen entgegen, den Beitrag
der Forst- und Holzwirtschaft zum Klimaschutz zu sichern und weiter zu steigern. Pläne der baden-württembergischen Landesregierung, großflächig Wälder des
Nordschwarzwaldes aus der Nutzung zu nehmen, schwächen die Wirtschaftskraft im ländlichen Raum, ohne besondere Naturschutzleistungen zu erbringen. Dies ist
nicht nachhaltig.
Der Rohstoff Holz hat hervorragende Werkstoffeigenschaften, die seinen Einsatz in sehr vielen Wirtschaftsbereichen ermöglicht. Daher wird der Bedarf am Rohstoff
Holz weiter steigen. Holz aus heimischer Produktion
erfüllt alle Kriterien einer nachhaltigen und umweltverträglichen Produktion. Die Forstwirtschaft steht vor
der Herausforderung, Ziele des Naturschutzes bei der
Baumartenwahl unter den sich ändernden klimatischen
Bedingungen mit den Nutzungsanforderungen in Einklang zu bringen.
Bereits jetzt zeichnet sich ein erheblicher Mangel am
derzeit überwiegend genutzten Nadelholz ab. Der im
Hinblick auf die natürliche Vegetation betriebene Umbau unserer Wälder verstärkt diesen Trend dramatisch.
70 Prozent der jungen Waldbestände sind Laubwälder.
Es ist somit absehbar, dass heimischen Sägewerken und
damit der Bauwirtschaft das Nadelrohholz ausgehen
wird. Die Möglichkeiten, Laubholz als Alternative zum
Nadelholz zu verwenden, sind aufgrund der unterschiedlichen Werkstoffeigenschaften stark eingeschränkt. Daher muss vermehrt darauf geachtet werden, dass der
Anteil an Nadelholz in Mischwäldern erhalten und vergrößert wird.
Die Waldstrategie legt zu Recht das Hauptaugenmerk
darauf, langfristig eine Eigenversorgung mit den erforderlichen Holzarten sicherzustellen, ohne die Ziele der
Nationalen Biodiversitätsstrategie aus den Augen zu
verlieren. Die Fichte, die in vielen Regionen heimisch
und der „Brotbaum“ der Forstwirtschaft ist, darf daher
nicht verteufelt werden. Im Hinblick auf die Erfordernisse der Nutzung sind im Mischwald in einem für die
Biodiversität annehmbaren Rahmen Anteile nichtheimischer, standortgerechter Baumarten wie Douglasie oder
Robinie zu akzeptieren. Der zehnprozentige Anteil von
Douglasien im FSC-zertifizierten Freiburger Stadtwald
könnte als Vorbild dienen. Nichtheimische Baumarten
können von der heimischen Insektenfauna zumeist nicht
genutzt werden und sind deshalb in ihrem Anteil zu begrenzen. Dem Schutz der ökologisch bedeutenden Buchenwälder wird bereits durch die Bonner Thesen zum
„Naturerbe Buchenwälder“ in ausreichendem Maße
Rechnung getragen.
Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Waldstrategie 2020, die von der Bundesregierung vorgelegt wurde
und von vielen Verbänden mitgetragen und mitgestaltet
worden ist, eine gute Strategie für die Zukunft unserer
Wälder haben. Deutschland ist eines der wenigen Länder weltweit, in denen neue Wälder entstehen. Wir müssen die aufgeworfenen Problemfelder in Verbindung mit
den Ergebnissen der Bundeswaldinventur im nächsten
Jahr in konkrete Forschungsziele und Handlungsanweisungen umsetzen. Alternative Nutzungsmöglichkeiten
für Laubholz, Klimaanpassung und die Koexistenz von
Waldnutzung und Biotopschutz sind dafür drei wichtige
Beispiele. Die Arbeit an der Zukunft unserer Wälder hat
erst begonnen.
Über die Waldstrategie 2020 ist viel gesprochen worden. Lange mussten wir auf sie warten. Ihre Veröffentlichung wurde mehrfach verschoben. Beinahe war das
UN-Jahr des Waldes 2011 vorbei, da legte die Bundesregierung ihre Waldstrategie dann doch vor. Am 8. Februar 2012 hat sich der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in einer Anhörung
intensiv mit der Waldstrategie befasst. Von den Sachverständigen gab es Kritik und Lob für die Vorlage, wobei
sich das Hauptlob darauf beschränkte, dass sie überhaupt vorgelegt wurde.
Aber viel entscheidender ist, wie die Bundesregierung nun handelt. Wie das geschriebene Wort zur konkreten Tat wird. Die Linksfraktion hatte bereits im Juli
2011 ihre Anforderungen an eine zukunftsfähige und
nachhaltige Waldstrategie veröffentlicht, nachzulesen
auf meiner Homepage.
Aus Sicht der Bundestagsfraktion Die Linke war die
Erarbeitung einer Waldstrategie 2020 überfällig. Mit
dem Ergebnis waren wir nur bedingt einverstanden. Es
wäre notwendig gewesen, die vielfältigen Anforderungen an den Wald und die damit verbundenen Zielkonflikte in einem konzeptionellen Papier zu benennen.
Mehrheitsfähige Lösungswege hätten aufgezeigt werden
müssen. Wer ist für die Umsetzung dieser Strategien verZu Protokoll gegebene Reden
antwortlich? Wie können sie finanziert werden? Die
Linksfraktion fordert klare Antworten auf diese Fragen.
In der Analyse schneidet das Papier aus dem Hause
Aigner noch ganz gut ab. Bei der Suche nach Lösungen
bleibt es jedoch hinter den Notwendigkeiten deutlich zurück. Gerne verweist die Bundesregierung auf die Verantwortung von Dritten, anstatt selbst aktiv zu werden.
Fazit: Ministerin Aigner hat ein nett zu lesendes, aber
harmloses Papier vorgelegt. Das ist angesichts der großen Herausforderungen allerdings zu wenig.
Dabei hatte sich die Bundesregierung für die Erarbeitung einer wirklich guten Waldstrategie genug Zeit genommen. In den Jahren 2008 bis 2011 wurden auf den
Symposien fast alle relevanten Themen angesprochen, die
nach Meinung der Linken in einer solchen Strategie behandelt werden müssen. Dazu gehören beispielsweise
Holzmobilisierung, Biodiversität, Forschung, Jagd, energetische und stoffliche Holznutzung, Klimawandel, Erholungsfunktion des Waldes, Totholz, Stilllegungsflächen als
ökologische Refugien etc. Gerade die Frage, wie viel Holz
zur Produktion von Wärme und Strom genutzt werden
kann, ohne den Wald zu übernutzen, ist sehr spannend und
hätte im Kontext der gerade laufenden 3. Bundeswaldinventur auch strategisch beantwortet werden müssen.
Denn das Thema ist konfliktreich - das bestätigte der
Sachverständigenrat für Umweltfragen aktuell in seinem
Umweltgutachten: „Es besteht die Gefahr, dass sich hierbei die Ansprüche der kommerziellen Holzproduktion auf
Kosten anderer Ziele durchsetzen.“
Die Linke diskutiert diese und weitere Fragen gerade
im Rahmen unseres Projekts „PLAN B“ als Projekt für
einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft intensiv mit vielen Interessierten, die einen grünen Kapitalismus auch nicht für die richtige Antwort auf die regionalen und globalen Probleme halten. Ich lade alle dazu
ein, sich unter www.plan-b-mitmachen.de an diesen
spannenden Debatten zu beteiligen.
Doch zurück zur Waldstrategie 2020: Die jetzt vorliegende Regierungsvision des Zukunftswalds hat einige
kritische Diskussionen der vergangenen Jahre aufgegriffen. Sie benennt Handlungsfelder und macht den einen oder anderen Lösungsvorschlag - einige Fragen zur
Biodiversität, zur Rolle des Schalenwilds, wie Hirsche
oder Wildschweine, im Wald und der Jagd oder zum Klimawandel sind irgendwie angesprochen. Aber es bleibt
ein dringender Verbesserungsbedarf. Wichtige visionäre
Lösungsansätze fehlen. Wo die Bundesregierung selbst
Verantwortung übernehmen müsste, bleibt es bei vagen
Aussagen, oder es wird auf andere verwiesen. So fordert
Schwarz-Gelb beispielsweise die Akteurinnen und Akteure vor Ort auf, ein Leitbild Jagd zu entwickeln. Doch
eine Überarbeitung des Bundeswald- oder des Bundesjagdgesetzes lehnt die Koalition ab. Dabei wäre beides
im Sinne einer naturnahen Waldbewirtschaftung dringend notwendig.
In meiner Rede zur ersten Lesung am 11. November
2011 wies ich auf drei zentrale Schwachpunkte der
Waldstrategie 2020 hin.
Erstens. Es fehlt der Verweis auf die ungenügende Bezahlung vieler in der Forstwirtschaft Beschäftigten. Sie
leisten eine körperlich schwere und ungemein wichtige
Arbeit. Gleichzeitig haben sie ein enorm hohes Unfallrisiko. Deshalb brauen wir einen gesetzlichen Mindestlohn - auch in der Forstwirtschaft.
Zweitens. Es fehlt das Bekenntnis, dass der steigende
Holzbedarf - den die Bundesregierung in der Waldstrategie beschreibt - nur dann in geordnete Bahnen gelenkt werden kann, wenn es sozial-ökologische Mindeststandards der Waldbewirtschaftung gibt. Die Waldwirtschaft soll auch bei steigenden Nutzungsansprüchen
nachhaltig bleiben können Das fordert der SRU in seinem aktuellen Gutachten. Die Standards müssen im
Bundeswaldgesetz festgeschrieben werden, was die
Linksfraktion seit Jahren fordert.
Drittens. Es fehlen Vorschläge zur Regulation der regional zu hohen Schalenwildbestände. Ob es dazu gesetzlicher Änderungen oder nur einer konsequenteren
Gesetzesanwendung bedarf, da gehen die Meinungen
bei Sachverständigen aus Umwelt, Forst oder Jagd sehr
weit auseinander. Der SRU schreibt dazu: „Daneben
sind die gesetzlichen Grundlagen für eine Verbesserung
der Situation größtenteils bereits vorhanden und nur in
wenigen, aber entscheidenden Punkten ergänzungsbedürftig. Neben einem verbesserten Vollzug bestehender Gesetze ist eine Anpassung der Jagdpraxis an die
ökologischen Verhältnisse und den Waldzustand nötig.“
Fakt ist: Der Waldumbau hin zu naturnahen klimaplastischen Mischbeständen gelingt nur mit angepassten
Wilddichten. Wir müssen endlich den Wald als Ökosystem verstehen, damit Forstleute, Jägerschaft, Landwirtschaft und Bodeneigentümer an einem Strang und in dieselbe Richtung ziehen.
Für die Linksfraktion ist klar: Die Debatte über den
Zukunftswald ist mit der Vorlage der Waldstrategie weder wirklich vorangebracht noch beendet worden. Wir
müssen weiter diskutieren, beispielsweise über Wiedervernetzungen von Waldgebieten oder über die Ausgestaltung des Waldklimafonds. Wir werden im Bundestag
weiter für eine naturnahe Waldbewirtschaftung streiten.
Dem Entschließungsantrag der grünen Fraktion stimmen wir zu.
Eine Strategie sollte das Ziel und den Weg dorthin beschreiben. Und es sollte die Absicht dahinter stehen, das
Ziel auch zu erreichen. Eine gute Waldstrategie 2020 für
dieses Land sollte aber noch weiteren Ansprüchen genügen. Sie sollte mit den anderen Strategien, so zum Beispiel mit der Nachhaltigkeitsstrategie, der Biodiversitätsstrategie und der Biomassestrategie, kohärent
sein. Schaut man sich die Waldstrategie 2020 der Bundesregierung an, stellt man fest, dass sie diesen Ansprüchen nicht gerecht wird. Ein gutes Ziel reicht nicht,
wenn der Weg voller Löcher und Fallstricke ist.
Die Bundesregierung kann mit ihrer Waldstrategie
nicht verdecken, dass waldpolitisch seit Jahren weitgehend Stillstand herrscht, wenn man einmal von der
Miniwaldgesetzänderung vor zwei Jahren absieht. Das
Zu Protokoll gegebene Reden
war in der Großen Koalition so und ist bei SchwarzGelb nicht anders.
Es wird Zeit, dass dieser Stillstand durch waldpolitische und holzwirtschaftliche Tatkraft abgelöst wird. Eigentlich müsste die Bundesregierung angesichts der
Maßnahmenlosigkeit ihrer Waldstrategie nunmehr ein
umfassendes forstwirtschaftliches Programm vorlegen,
um die Schwerpunkte zur Umsetzung der Strategie mit
Planungs- und Finanzierungsinstrumenten zu untersetzen. Das wäre dringend nötig; denn die Prognosen, dass
bis 2020 eine Holzlücke von über 30 Millionen Kubikmetern droht, sind ernst zu nehmen. Und die derzeitige
planlose Form des Ausbaus der energetischen Holznutzung müsste dringend gestoppt werden. Aber mit einem
solchen Programm, mit dem die Koalition auf diese Herausforderung reagiert und zum Beispiel für zukunftsfähige Wälder und mehr Rohstoff- und Energieeffizienz bei
der Holzverwertung sorgt, ist leider in keiner Weise zu
rechnen.
Es reicht für eine Strategie nicht, Probleme zu analysieren. Es müssen Lösungswege beschrieben werden.
Doch die Bundesregierung übt sich in Schönrednerei. So
wird der Wald-Wild-Konflikt kleingeredet, anstatt das
Jagdgesetz und die landwirtschaftliche Praxis auf den
Prüfstand zu stellen. Waldverträgliche Wilddichten sind
nicht zu erzielen, wenn einer die Verantwortung auf den
andern schiebt. Regeln, die der Sache nicht dienlich
sind, müssen geändert werden. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Doch der drückt sich und knickt vor der
Jagdlobby ein.
Eine Waldstrategie für Deutschland - eine, die hält,
was sie verspricht - ist nötig. Angesichts der Bedeutung
des Walds für den globalen Klimaschutz und für Arbeit
und Beschäftigung, um nur zwei der vielen wichtigen
Funktionen das Walds zu nennen, reicht es nicht aus,
wenn sich nur Deutschland eine Waldstrategie gibt. Wir
brauchen auch eine europäische und eine globale Waldstrategie, die die bestehenden Primärwälder schützt,
eine nachhaltige Bewirtschaftung der forstwirtschaftlich
genutzten Wälder durchsetzt und für eine Wiederbewaldung waldarmer, devastierter und verödeter Regionen
sorgt.
Aber in der EU tut sich waldpolitisch bisher leider
wenig. Dabei ist die fehlende Kompetenz der EU in
forstpolitischen Fragen zweifellos ein Hemmschuh für
eine europäische Waldpolitik. Aber es gibt Handlungsoptionen, die sofort angegangen werden könnten, zum
Beispiel die Einführung verpflichtender Nachhaltigkeitskriterien für den Handel mit und die Verwertung
von Holz und Holzprodukten auf nationaler, europäischer und langfristig auch auf internationaler Ebene.
Dass derzeit - nicht nur mit EU-Staaten, sondern
auch mit weiteren europäischen Staaten - über ein verbindliches Abkommen über Wälder in Europa, über eine
europäische Waldkonvention, verhandelt wird, ist zumindest eine Chance für eine europaweit bessere Waldpolitik.
Wie schwierig es ist, eine globale Waldpolitik zu erreichen, dürfte angesichts des Scheiterns der Rio+20Konferenz keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Dabei
wären Walderhalt und mehr Wald weltweit sehr wichtig,
um die Probleme des Klimawandels und des Verlusts an
biologischer Vielfalt zu lösen. Dass Deutschland dabei
in Bezug auf Waldbauthemen eine hohe Kompetenz einzubringen hat, das wird trotz aller Auseinandersetzungen über den richtigen waldbaulichen Weg niemand bestreiten.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/8915.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 17/7292 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7667. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Johannes Kahrs, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern
- Drucksache 17/10097 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Zunächst möchte ich allen sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen dafür danken, dass wir hier heute
die Gelegenheit dazu haben, über ihren Antrag „Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort
Deutschland sichern“ zu sprechen. Inhaltlich ist die
Auseinandersetzung mit den ewig gleichen Thesen der
Genossen - wie bei allen sozialdemokratischen Anträgen - zwar ermüdend und intellektuell reizlos, doch bietet dieser Tagesordnungspunkt uns ein Forum, die Leistungen der Koalition auf diesem Gebiet hervorzuheben
und ihre Verdienste entsprechend zu würdigen.
Bitte lassen Sie mich zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen, um einer Legendenbildung vorzubeugen: Schon 1999 führte die damalige rot-grüne Bundesregierung die Tonnagesteuer ein, sodass die Reeder
nicht den tatsächlichen Gewinn versteuern müssen, sondern lediglich einen Pauschalbetrag abführen müssen.
2003 wurde dann das Maritime Bündnis geschlossen.
Der Staat subventionierte die Lohnzusatzkosten der Seeleute, die auf deutschen Schiffen beschäftigt waren. Außerdem verpflichtete sich die Regierung, bürokratische
Hürden bei der Ausbildung von Seeleuten abzubauen.
Die Parteien, Bund, Küstenländer, VDR und Verdi wollten damit die Ausflaggung stoppen sowie Beschäftigung
und Ausbildung fördern. Auf der Fünften Nationalen
Maritimen Konferenz im Dezember 2006 haben die
deutschen Reeder zugesagt, den Schiffsbestand unter
deutscher Flagge bis Ende 2008 auf 500 zu erhöhen, und
in Aussicht gestellt, bei gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen diesen Bestand bis 2009/2010 auf 600 zu erhöhen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Dies war angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise aus Sicht der
Bundesregierung nachvollziehbar.
Genauso nachvollziehbar ist aber, dass die Bundesregierung am 7. Juli 2010 die Schifffahrtsförderung auf
28,7 Millionen Euro für das Haushaltsjahr 2011 reduziert hat. In Anbetracht der dringend erforderlichen
Konsolidierung des Bundeshaushalts waren und sind
auch solche Sparmaßnahmen erforderlich, die für die
betroffenen Menschen und Branchen schmerzhaft sind.
Dies gilt auch für die Schifffahrtsförderung.
Dennoch ist für uns völlig klar, dass das Maritime
Bündnis durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit der
Bündnispartner dazu beigetragen hat und auch in Zukunft dazu beitragen wird, die politischen und administrativen Rahmenbedingungen in Deutschland so zu gestalten, dass die deutsche maritime Wirtschaft ihre
Führungsrolle unter marktwirtschaftlichen Bedingungen international festigen und ausbauen kann. So wird
der maritime Standort Deutschland gestärkt: Beschäftigung, Wertschöpfung und Ausbildung werden gesichert.
Schon im November 2011 hat der Haushaltsausschuss
des Deutschen Bundestages beschlossen, den Einsatz
für den Finanzbeitrag an die Seeschifffahrt im Haushaltsjahr 2012 um 29,1 Millionen Euro auf
57,8 Millionen Euro zu erhöhen. Diese Ausgaben wurden in voller Höhe qualifiziert gesperrt. Flankierend
wurde ein Entschließungsantrag beschlossen, der die
Aufhebung der qualifizierten Sperre mit der Maßgabe
versieht, dass die deutschen Reeder einen Eigenbetrag
in gleicher Höhe, mindestens aber 30 Millionen Euro
jährlich leisten.
Im Februar 2012 entsperrte der Haushaltsausschuss
Mittel in Höhe von 28,7 Millionen Euro. Damit wurde
die Bewilligungsbehörde grundsätzlich in die Lage versetzt, neben der Ausbildungsförderung für 2012 noch offene Altfälle aus der Ausbildungs- und Beschäftigungsförderung aus den Förderprogrammen 2011 abwickeln
zu können.
Seit dem 21. Juni liegt dem Haushaltsausschuss des
Deutschen Bundestages ein Antrag zur Entsperrung der
vollständigen Mittel aus dem Titel „Finanzbeitrag an
die Seeschifffahrt“ vor. Grundlage für die Entsperrung
ist ein Konzept für eine sachgerechte und rechtssichere
Fortführung des Maritimen Bündnisses. Es sieht vor,
Ausbildung und Beschäftigung im Seeverkehr mit
57,8 Millionen Euro aus Bundesmitteln zu fördern. Zusammen mit dem Eigenbeitrag der Reeder in Höhe von
mindestens 30 Millionen Euro, der über Ausflaggungsgebühren und einen Fonds eingenommen wird, können
somit künftig rund 90 Millionen Euro für die Steigerung
der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schifffahrtsstandortes eingesetzt werden.
Ich denke, dass diese Lösung durchaus interessengerecht ist. Deutsche Seeleute sind für deutsche Reedereien nicht nur Kostenfaktoren, sondern auch besonders
engagierte und verantwortungsbewusste Mitarbeiter. Insofern ist - gerade vor dem Hintergrund der Tonnagebesteuerung - ein Eigenbeitrag der Reeder nur recht und
billig.
Das Verfahren für die Einführung der Ausflaggungsgebühren ist nahezu abgeschlossen: Die Ressortabstimmung der neuen Gebührenverordnung für Amtshandlungen des Bundesamtes für Seeschifffahrt und
Hydrographie ist abgeschlossen, sodass einem Inkrafttreten nichts mehr im Wege steht.
Bis Ende Juli 2012 wird nach derzeitigem Stand der
Dinge eine ressortabgestimmte Formulierungshilfe für
die rechtssichere Gestaltung eines Fondsmodells vorliegen. Das diesem Fonds zugrunde liegende Modell basiert auf folgendem Grundgedanken: Zunächst wird mit
der Verpflichtung zur Ausbildung eine Primärpflicht der
Reeder festgelegt. Bei Nichterfüllung der Primärpflicht
kommt eine Ausgleichszahlung der ausflaggenden Reeder an eine gemeinnützige Einrichtung, die vom Verband
Deutscher Reeder errichtet wird, als Sekundärpflicht in
Betracht. Damit sollen Nachteile ausgeglichen werden,
die dem Schifffahrtsstandort Deutschland durch die
Ausflaggung entstehen. Im Interesse des Schifffahrtsstandortes Deutschland streben wir ein Inkrafttreten
dieser Lösung zum 1. Januar 2013 an.
Damit erfüllen wir die Forderungen der deutschen
Reeder und der maritimen Branche und können ab 2013
mit den Mitteln des Bundes und der Reeder knapp
90 Millionen Euro für Ausbildung und Beschäftigung
aufbringen. Die nun eingeleiteten Maßnahmen bilden
die Grundlage für die zukünftige erfolgreiche Ausgestaltung des Maritimen Bündnisses. Die Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen haben Wort gehalten und
sind der verlässliche Partner der maritimen Wirtschaft,
die mit knapp 400 000 Beschäftigten einer der bedeutendsten wirtschaftlichen Branchen in Deutschland ist.
Dies, meine Damen und Herren von der SPD, zeigt, dass
wir schon gehandelt haben, während sie noch Anträge
schreiben.
Ich würde den Antrag der Kolleginnen und Kollegen
von der SPD-Fraktion mit dem Titel „Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern“ gerne um den Zusatz ergänzen wollen: durch die
erfolgreiche Arbeit der Regierungsfraktionen von CDU/
CSU und FDP. Um es kurz zu sagen: Sie fordern lauthals
ein, und wir liefern durch konstruktive Arbeit mit Verbänden und Sozialpartnern im Rahmen des Maritimen
Bündnisses.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die von der SPD formulierten Aufforderungen an die
Bundesregierungen haben einige, wenn auch nicht alle,
Herausforderungen, denen sich die Maritime Wirtschaft
gegenübersieht, skizziert. Es ist erfreulich, zu sehen,
dass auch in Teilen der Opposition Überlegungen reifen,
sich um die deutsche Flagge und den Schifffahrtsstandort Deutschland bemühen zu wollen. Auch wenn der Antrag der SPD keine neuen Lösungsvorschläge zutage
fördert als die, die ohnehin durch die Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen auf den Weg gebracht sind,
begrüße ich den Antrag, der unseren politischen Weg
größtenteils wiedergibt. Es schadet nicht, wenn auch die
Opposition damit indirekt unsere Arbeit würdigt. Herzlichen Dank schon einmal dafür.
Ich darf Ihnen mitteilen, dass die Branche mit ihren
über 400.000 Beschäftigten in Deutschland durch den
Einsatz der Koalitionsfraktionen und des Maritimen Koordinators der Bundesregierung unbesorgt sein kann.
Wir haben das Maritime Bündnis nach intensiven und
konstruktiven Gesprächen mit allen Beteiligten auf eine
neue Grundlage gestellt und den erforderlichen Gegebenheiten angepasst. Die Voraussetzungen für zunehmend mehr Schiffe unter deutscher Flagge werden damit
geschaffen. Es ist ein wichtiges Bündnisziel, der Ausflaggungen deutscher Schiffe wirksam entgegenzuwirken, um Arbeitsplätze in der Branche zu sichern. Das
dürfte den Reedern nun deutlich leichterfallen. Insofern
bedarf es auch keiner Verabredung neuer Bündnisziele,
wie die geschätzten Kolleginnen und Kollegen der SPD
es verlangen. Neue Bündnisvereinbarungen mit dem
Ziel, Ausflaggungen entgegenzuwirken, sind überflüssig. Die Reeder dürften im Hinblick auf die sogenannte
Tonnagesteuer ein wohlverstandenes Eigeninteresse haben, Ausflaggungen zu verhindern; denn um diesem
steuerlichen Vorteil nutzen zu können, dürfen nur
40 Prozent der Schiffe eines deutschen Reeders keine
EU-Flagge führen.
Um es an dieser Stelle im Hinblick auf das prominente und medienwirksame Beispiel der „MS Deutschland“ deutlich zu sagen: Ein Schiff auszuflaggen und die
Schuldigen in der Politik suchen zu wollen, das war und
ist nicht zu akzeptieren. Allerdings sind solche Ausflüchte glücklicherweise Einzelfälle. Die deutsche Reederschaft hat, vertreten durch den Verband Deutscher
Reeder, in den letzten Monaten die enge Kooperation mit
uns gesucht und mit dafür Sorge getragen, dass wir nun
das Maritime Bündnis modernisieren.
Lassen Sie mich die Maßnahmen im Einzelnen erläutern: Die Schifffahrtsförderung des Bundes bleibt mit
dem gestrigen Beschluss des Haushaltsausschusses zur
Freigabe des Finanzbeitrags für die Seeschifffahrt auch
im Jahr 2012 mit 57,8 Millionen Euro auf dem hohen Niveau der Vorjahre. Damit sichert die Bundesregierung
Beschäftigung in der maritimen Branche und schafft zugleich die Grundlage, um die im Maritimen Bündnis verabredeten Vereinbarungen erfüllen zu können. Die Reeder in Deutschland hatten unter dieser Maßgabe
zugesagt, einen Eigenbeitrag in Höhe von mindestens
30 Millionen Euro leisten zu wollen, um letztlich jährlich knapp 90 Millionen Euro für das Maritime Bündnis
zu gewährleisten, die für die Beschäftigungssicherung
und die Ausbildung in der Seeschifffahrt eingesetzt werden können.
Der Eigenbeitrag der Reeder wird sich zukünftig aus
zwei Einnahmequellen ergeben: Einerseits passt die
Bundesregierung mit dem aktuellen Entwurf der Gebührenverordnung zur Erteilung der Ausflaggungsgenehmigungen die Gebührensätze so an, dass die Ausflaggung
auch die realen Kosten deckten und der gegenüberstehende wirtschaftliche Vorteil einkalkuliert wird, den die
Reeder mit dem auszuflaggenden Schiff erhalten. Dem
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages liegt
der aktuelle Entwurf einer neuen Gebührenverordnung
für Amtshandlungen des Bundesamtes für Seeschifffahrt
und Hydrographie, BSH, vor. Aus den Gebühren der
Ausflaggungen erwarten wir Einnahmen von 10 Millionen Euro, die auch dem Zweck des Maritimen Bündnisses zugeführt werden.
Die zweite Einnahmequelle des Eigenbeitrags der
Reeder hat zugegebenermaßen mehr Zeit in Anspruch
genommen, als alle Beteiligten erhofft hatten. Doch
auch bei dem zu entwickelnden sogenannten Fondsmodell hat die Bundesregierung nun einen Regelungsvorschlag zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes vorgelegt, der die Reeder zur Primärpflicht der Ausbildung
im Falle des Flaggenwechsels verpflichtet. Für die
Dauer der Ausflaggungsgenehmigung müssen die Reeder
verbindlich zusagen, zusätzlich eine weitere Person pro
auszuflaggendem Schiff ausbilden. Sollten die Reeder
dieser Pflicht nicht nachkommen können, ist ein Ausgleichsbeitrag in einen Fonds zu entrichten, der beim
Verband Deutscher Reeder, VDR, angesiedelt ist. Nach
derzeitigen Einschätzungen dürfen wir hier mit Einnahmen in Höhe von 20 Millionen Euro rechnen, die ausschließlich der Finanzierung der qualitativ hochwertigen Ausbildung auf den Schiffen mit Bundes- oder EUFlagge dienen.
Mit diesen Maßnahmen, die nun parlamentarisch auf
den Weg gebracht werden, erfüllen wir die Forderungen
der deutschen Reeder und der maritimen Branche und
können ab 2013 mit den Mitteln des Bundes und der
Reeder knapp 90 Millionen Euro für Ausbildung und Beschäftigung aufbringen. Die nun eingeleiteten Maßnahmen bilden die Grundlage für die zukünftige erfolgreiche Ausgestaltung des Maritimen Bündnisses. Mit
Bedauern müssen wir feststellen, dass im Haushaltsplan
des Bundesverkehrsministeriums, der im Kabinett der
Bundesregierung gestern vorgestellt wurde, nun der halbierte Förderansatz angestrebt wird. Diesen Umstand
werden wir nicht akzeptieren. wir als Koalitionsabgeordnete werden darauf hinwirken, die Förderung für Beschäftigung und Ausbildung in der Seeschifffahrt auf hohem Niveau bei 57,8 Millionen Euro fortzuführen. Damit
folgen wir auch den Aussagen des Bundesfinanzministeriums, das in der Begründung für die Mittelfreigabe der
Schifffahrtsförderung 2012 argumentiert, dass damit
eine - ich zitiere -: „verlässliche Perspektive für die
Schifffahrtsförderung 2013 ({0})“ gegeben
ist.
Der Haushaltsausschuss hatte im November des vergangenen Jahres den Finanzbeitrag des Bundes daran
Zu Protokoll gegebene Reden
geknüpft, dass der von den deutschen Reedern zugesicherte Eigenbeitrag zur Ausgestaltung des Bündnisses
auf eine rechtssichere und tragfähige Grundlage gestellt
wird. Mit der Anpassung der Kostenverordnung bei Ausflaggungen und dem von der Bundesregierung nun ebenfalls vorgelegten Vorschlag zur Sicherung des Eigenbeitrags der Reeder werden diese Anforderungen erfüllt.
Die Reeder haben auf der Mitgliederversammlung des
Verbandes Deutscher Reeder, VDR, im Dezember 2011
diesem Eigenbeitrag unter der Voraussetzung zugestimmt, dass die Bundesfördermittel auf 57,8 Millionen
Euro zu erhöhen sind. Die Bundesregierung muss ihrerseits die im Rahmen des Maritimen Bündnisses gemachten Zusagen einhalten. Ich sichere Ihnen jedoch zu, dass
die Koalitionsabgeordneten von CDU, CSU und FDP im
parlamentarischen Verfahren dafür Sorge tragen werden, die Mittel des Bundes in Höhe von 57,8 Millionen
Euro auch für das Jahr 2013 zu sichern. Wir sind sehr
optimistisch, auch in den nächsten Haushaltsjahren den
Finanzbeitrag des Bundes für die Seeschifffahrt auf dem
jetzigen Stand halten zu können.
Sie sehen: Die Koalition liefert. Die von uns bereits
auf den Weg gebrachten Forderungen im Antrag der
SPD lassen den Schluss zu, dass die Damen und Herren
von der SPD unsere Initiativen in diesem Hohen Haus
mittragen und ihnen zustimmen werden. Auch hierfür
möchte ich mich bereits jetzt bedanken.
Seit Monaten bereitet die Regierungskoalition den
Rückzug aus der Schifffahrtsförderung des Bundes vor.
Erst wurden die Hilfen für Ausbildung und Beschäftigung im Bundeshaushalt zusammengestrichen und erst
nach massiven Protesten von Sozialpartnern, Wirtschaft,
Küstenländern und auch der SPD unwillig wieder aufgestockt. Nun sollen die Ausfälle, die sich aus der Kürzung der Fördermittel im Bundeshaushalt ergeben, nach
dem Willen der Bundesregierung künftig von den Reedereien in Deutschland ausgeglichen werden. Sie werden
in der Zukunft mit einem Eigenbeitrag in Höhe von
30 Millionen Euro zur Kasse gebeten.
Schwarz-Gelb stellt die Maschinen auf Stopp: Die
Bundesregierung will die Übereinkunft nicht in der bisherigen Form weiterführen, sondern wesentliche Teile
der bisherigen Hilfen einstellen. Das ist das Ende des
bisherigen Modells einer Solidargemeinschaft, das auf
SPD-Initiative bei den Nationalen Maritimen Konferenzen ins Leben gerufen wurde und sich in den vergangenen zehn Jahren grundsätzlich bewährt hat.
Doch selbst bei dem Versuch, die Schifffahrtsförderung in Deutschland in ihrem Sinne neu zu ordnen, fährt
die Regierungskoalition auf Grund. Ein Prüfbericht vom
Bundesverkehrsministerium und vom Koordinator der
Bundesregierung für die maritime Wirtschaft zeigt: Bisher ist es der Regierungskoalition nicht gelungen, einen
verlässlichen, verfassungssicheren Rahmen für die
Schifffahrtsförderung zu schaffen - weder über ein
Gebührenmodell noch über eine öffentlich-rechtliche
Fondslösung. Und daran, so müssen Union und FDP
selbst einräumen, wird sich auch bis 2013 nichts ändern.
Die Jahre 2012 und 2013 will die Koalition denn auch
als „Übergangsjahre“ gestalten.
Wenn die Bundesregierung das bisherige Modell der
Schifffahrtsförderung neu strukturieren will, darf dies
nicht zulasten von Ausbildung und Beschäftigung in der
Branche gehen. Die jetzige Planungsunsicherheit belastet die maritime Branche in einer Situation, in der sie
ohnehin stark von der Krise der Schiffsfinanzierung getroffen ist.
Die Schifffahrt und die maritime Wirtschaft gehören
zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in unserem Land,
die wesentlich zu Deutschlands Rolle als Exportnation
beitragen. Rund 400 000 Menschen sind in der Branche
beschäftigt. Doch anstatt die Voraussetzungen dafür zu
schaffen, dass die maritime Wirtschaft die Folgen der
Finanz- und Wirtschaftskrise abfedern kann, agieren
Union und FDP nach dem Motto: mit voller Kraft rückwärts.
Dabei hat gerade die konsequente Förderung im Rahmen des Maritimen Bündnisses dazu beigetragen, dass
Deutschland über eine wettbewerbs- und leistungsfähige Handelsflotte verfügt - ein Joker im harten globalen Wettbewerb.
Mit dem Maritimen Bündnis haben Bund, Küstenländer und die Sozialpartner sich zusammen in ein Boot gesetzt, um den Schifffahrtsstandort Deutschland zu stärken und Arbeitsplätze im Land zu halten: Der Bund hat
Zusagen zur Senkung der Lohnnebenkosten für den Betrieb deutscher Handelsschiffe im internationalen Verkehr gemacht. Im Gegenzug haben sich die Reeder verpflichtet, einer weiteren Ausflaggung von Schiffen
entgegenzuwirken - das gemeinsame Ziel immer in
Sicht: das seemännische Know-how an Bord und an
Land zu sichern und wieder eine positive Perspektive für
den Seemannsberuf zu schaffen.
Richtig ist, dass es in den vergangenen Jahren nie gelungen ist, das zwischen Bund und Sozialpartnern
vereinbarte Ziel einer Rückflaggung von mindestens
600 Handelsschiffen zu erreichen - aber die jetzige Bundesregierung hat auch nichts dafür getan. Im Gegenteil:
Wenn sie mit ihrer Politik das Maritime Bündnis immer
wieder infrage stellt, kann sie nicht erwarten, dass die
Wirtschaft ihrerseits die Verabredungen ernst nimmt.
Ein verlässlicher Bündnispartner sieht anders aus.
Diese Erfahrung müssen die Reedereien gerade wieder aufs Neue machen. Die Krise der Schiffsfinanzierung hat die Branche fest im Griff. Deutschland drohe
der Abstieg aus dem Kreis der führenden Schifffahrtsnationen, warnen Experten. Andere Nationen könnten mit
staatlicher Unterstützung in den Aufbau ihrer Handelsflotte investieren. Doch die Bundesregierung bleibt bei
ihrer Haltung: Spezielle Maßnahmen zur Abmilderung
der finanziellen Krise der Reedereien wird es nicht geben.
Da passt es ins Bild, dass sie die Hilfen für Ausbildung und Beschäftigung austrocknen will. Die jetzige
Krisenwelle wird so als Erstes diejenigen treffen, die
ganz vorne im Boot sitzen: die Beschäftigten. Schon jetzt
befürchten Experten, dass etliche Reedereien das komZu Protokoll gegebene Reden
mende Krisenjahr nicht überstehen werden. Wenn nun
die Unterstützungsleistungen wegbrechen, verschärft
dies die ohnehin sehr angespannte Lage.
Mit ihrer Politik gefährdet die Bundesregierung massiv Arbeitsplätze und schadet dem Standort Deutschland. Wenn die Regierungskoalition die Schifffahrtsförderung umstellen will, dann muss sie auch dafür Sorge
tragen, dass bei diesem Kurswechsel nicht am Ende die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Bord gehen.
Sie ist aufgefordert, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Maritime Bündnis eine neue, verlässliche
Grundlage erhält und weiterhin dazu beiträgt, Jobs zu
sichern und die Zahl der Ausbildungsplätze zu erhöhen.
Als SPD-Bundestagsfraktion fahren wir mit dem Antrag „Maritimes Bündnis fortentwickeln - Schifffahrtsstandort Deutschland sichern“ auf klarem Kurs. Wir
fordern die Koalition auf, zur Realisierung des zugesagten Eigenbeitrags der deutschen Reederschaft rasch ein
verfassungsrechtlich tragfähiges Fondsmodell zu entwickeln, an den Hilfen für Ausbildung und Beschäftigung
auf dem Niveau von 2010 festzuhalten und gemeinsam
mit den Sozialpartnern neue Bündnisziele zu verabreden, um den Anteil von Handelsschiffen unter deutscher
Flagge deutlich zu erhöhen und den Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland endlich zu stoppen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Koalition, Sie sind jetzt dringend aufgefordert, das
Steuer herumzureißen; sonst laufen Sie nicht erst bei der
Nationalen Maritimen Konferenz im April 2013 in Kiel
auf Grund.
Der parlamentarische Betrieb hält ja so manche unerwartete Überraschung parat. Wenn man denkt, schon
alles erlebt zu haben, so geschieht manchmal doch wieder etwas Neues, bei dem man sich verwundert die Augen reiben muss. Insbesondere die Sozialdemokraten
outen sich dabei als ganz besondere Spezialisten. So
oder so ähnlich ging es mir, als ich Anfang der Woche
Ihren Antrag auf dem Tisch hatte, und das, obwohl weder Karneval noch der 1. April war.
Monatelang hört man von Ihnen nicht einen einzigen
Vorschlag dazu, wie man das Maritime Bündnis zukunftsfest gestalten kann. Nachdem letzte Woche die Koalition jetzt ein umfassendes und verfassungsrechtlich
sauberes Konzept auf den Tisch gelegt hat, schreiben Sie
dieses weitestgehend einfach ab und meinen, dieses als
Ihre eigene Forderung einbringen zu müssen. Das nenne
ich schon ein wenig frech.
Im Gegensatz zur SPD handelt diese Koalition im
Sinne des maritimen Standortes Deutschland. Erst gestern hat der Haushaltsausschuss die zweite Hälfte der
Schifffahrtsbeihilfe entsperrt. Damit geben wir der maritimen Wirtschaft ein positives Signal und Planungssicherheit. Zum 1. Juli werden wir dann die Gebührenverordnung für Amtshandlungen des Bundesamtes für
Seeschifffahrt und Hydrographie so ändern, dass wir
über die Ausflaggungsgenehmigung weitere 10 Millionen Euro für das Maritime Bündnis generieren.
In wenigen Wochen wird es dann einen ressortabgestimmten Bericht zu einem privatwirtschaftlichen
Fondsmodell geben, das zum 1. Januar des kommenden
Jahres in Kraft treten wird. Damit werden weitere
20 Millionen Euro für die Ausbildungsförderung gesammelt. Wenn dann zukünftig auch noch das Ausfahren der
Patente unter die Ausbildungsförderung fällt, haben wir
für die maritime Ausbildung und die Schifffahrtförderung in Gänze mehr getan als jede andere Bundesregierung zuvor.
Sie sehen, dass wir unsere Hausaufgaben gemacht
haben und unserer Verantwortung gerecht werden. Sie
müssen also unsere Ideen zukünftig nicht mehr abschreiben, sondern dürfen staunend zuschauen. Ich lade Sie
herzlich ein, mitzumachen, und bin gespannt darauf, wie
Sie sich die weiteren Beratungen zu Ihrem Antrag so
vorstellen.
Barbuda ist 161 Quadratkilometer groß, relativ flach
und hat nur etwa 1 500 Einwohner. Barbuda und Antigua bilden zusammen einen gemeinsamen Staat. Der
Staat verfügt zwar über wenig Ressourcen, aber im Jahr
2005 über eine Flotte von 981 Schiffen mit einer Größe
von über 7 Millionen Bruttoregistertonnen. 853 davon
stammten aus Deutschland, denn es ist billig, unter dieser Flagge zu fahren. Das Schiffsregister des Inselstaates in der Karibik wird übrigens im nordwestdeutschen
Oldenburg geführt.
„Das muss geändert werden“, sagte sich im Jahr
2003 die Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Ein
Maritimes Bündnis wurde geschmiedet. Die Reeder sagten der Bundesregierung, den Küstenländern und den
Gewerkschaften zu: Wenn ihr uns von den Kosten entlastet, dann werden wir 600 von den insgesamt rund
4 000 Schiffen wieder unter deutscher Flagge fahren
lassen.
Seither greift der Staat den Reedern bei den Aufwendungen für die Ausbildung und den Lohnnebenkosten
Jahr für Jahr mit bis zu 50 Millionen Euro unter die
Arme. Nun fahren aber weniger Schiffe denn je unter
deutscher Flagge. Aktuell sind es 491.
Als im vergangenen Jahr die Bundesregierung die
Reeder an ihre Zusage erinnerte und ankündigte, sie
werde die Zuschüsse halbieren, kam es auf der Nationalen Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven zum Krach.
Die Reeder drohten damit, noch mehr Schiffe auszuflaggen. Im März 2012 einigte man sich schließlich. Die Zuschüsse wurden auf 58 Millionen Euro aufgestockt. Die
Reeder sagten zu, ebenfalls 20 Millionen Euro über einen Fonds und zusätzlich 10 Millionen Euro beizusteuern, die über eine Erhöhung von Ausflaggungsgebühren
zusammenkommen sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
finde es wichtig, dass wir wissen, wie dieses neue Bündnis entstanden ist. Wir unterstützen es ja, dass wir Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze auf See erhalten. Wir
brauchen gut ausgebildete Seeleute. Wir wollen aber
auch erreichen, dass sie dann auch zu vernünftigen
Zu Protokoll gegebene Reden
Bedingungen ihre Arbeit auf den Schiffen machen können. Darum ist die zentrale Forderung der Linken an
den Bündnispartner Reedereien: Ihr habt zugesagt,
600 Schiffe wieder unter die deutsche Flagge zu holen,
die Belegschaften nach dem hier geltenden Seerecht zu
behandeln, die Besetzungsvorschiften einzuhalten und
die Tariflöhne zu bezahlen. Diese Selbstverpflichtung
als Versprechen reicht nicht aus. Das lehren uns die vergangenen zehn Jahre. Wir verlangen einen verbindlichen Stufenplan mit dem Ziel, schnellstmöglich die Zahl
600 zu erreichen.
In dem Konflikt um die Verpflichtungen aus dem Maritimen Bündnis wurde übrigens die Tonnagesteuer von
keiner Bundesregierung je infrage gestellt. Die sichert
den Reedereien weitgehende Steuervorteile, weil sie
nicht gewinnbezogenen Steuerzahlen, sondern einen
pauschalen Betrag entrichten, der sich nach Größe des
Schiffsladeraums richtet. Damit sind dem Staat in den
letzten acht Jahren rund 5 Milliarden Euro Steuern entgangen. Diese Begünstigung sei international durchaus
üblich, andere Länder würden ähnliche Zugeständnisse
machen, heißt es zur Begründung. Stimmt, doch dieser
Dumpingwettlauf muss gestoppt werden.
Wohin Steuerdumpingwettbewerb führen kann, zeigt
uns das Beispiel Griechenland. Die griechischen Reeder
zahlen überhaupt keine Steuern. Die Putschgenerale sicherten ihnen 1967 die Profite. Auch im demokratischen
Griechenland sind diese Steuerprivilegien nie aufgehoben worden. Fast die Hälfte der EU-Handelsflotte fährt
heute unter griechischer Flagge. 175 Milliarden Dollar
sind allein in den letzten zehn Jahren dem Staat verloren
gegangen. Alexis Tsipras, der Vorsitzende unserer griechischen Schwesterpartei Syriza, fordert ein Ende dieses
Steuerunrechts zulasten des griechischen Staates.
Aber zurück zum Antrag der SPD. Darin wird zu
Recht darauf hingewiesen, dass es gesetzlicher Regelungen bedarf, um die zugesagten Reederbeiträge in Höhe
von insgesamt 30 Millionen Euro überhaupt eintreiben
zu können. Das muss schnell passieren, um die Mittel für
Ausbildung und Beschäftigung einsetzen zu können.
Und dass endlich das Seearbeitsübereinkommen ratifiziert werden muss, haben Sie ja noch einmal aufgenommen. Das hatten wir bei der Bearbeitung des Antrags der Linksfraktion bereits diskutiert. Aber in der
Tat, bis heute ist die Bundesregierung trotz ihrer Ankündigung, die Seearbeitsbedingungen neu regeln zu wollen, dem nicht nachgekommen. Es wird Zeit.
Die Reedereien müssen entsprechend ihrer Erträge
zur Kasse gebeten werden. Vernünftige Ausbildungsund Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in der
Seeschifffahrt sollten für eine große Exportnation selbstverständlich sein. Es ist ein Skandal, dass hierfür aufwendig Bündnisse mit Finanzspritzen geschmiedet werden müssen - und dann auch noch ohne Verbindlichkeit
bei den Gegenleistungen!
Wir fordern menschliche Arbeitsbedingungen in der
Seeschifffahrt. Das internationale Seearbeitsübereinkommen muss endlich ratifiziert werden.
Mit dem vorliegenden Antrag der SPD debattieren
wir zum dritten Mal innerhalb von knapp über einem
Jahr die Entwicklung der maritimen Wirtschaft in
Deutschland.
Die maritime Branche ist größer, als viele oft glauben: 380 000 Beschäftigte in der gesamten Bundesrepublik, davon circa 20 000 bis 22 000 in Reedereien an
Land sowie ein Umsatz von circa 50 Milliarden Euro pro
Jahr. Außerdem haben deutsche Reeder die größte Containerschiffsflotte der Welt. Die maritime Wirtschaft in
Deutschland ist nicht nur von bedeutendem Interesse für
die Küstenländer. Eine der größten Containerreedereien
der Welt hat zum Beispiel ihren Sitz in München, auch
die größten Betriebe in der maritimen Zulieferindustrie
sitzen in Bayern, Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen. Deswegen muss die gesamte Republik ein Interesse daran haben, dass es der Branche gut geht.
Es gab Jahre des fast unglaublichen Booms, die deutsche Flotte wurde immer größer und einflussreicher.
Das alles war durchaus beeindruckend und sicher auch
ein Grund, warum die Branche ein eigenes Bündnis mit
der Bundesregierung und weiteren Beteiligten bekam.
Vor rund drei Jahren hat die maritime Wirtschaft aufgrund der weltweiten Finanzkrise einen deutlichen Einbruch erlitten, der noch immer anhält. An der Krise hat
die Branche keine Schuld. Aber wir alle können uns fragen, welchen Anteil die bestehenden Regeln daran haben. Hier will ich nur das Stichwort Tonnagesteuer nennen,
welches ja einmal der Ausgangspunkt des Bündnisses
war. Die spezielle deutsche Ausgestaltung hat Schiffsfonds als Steuersparmodell sehr attraktiv für Anleger
gemacht. Fondshäuser haben zusammen mit Banken
Schiffsfonds aufgelegt. Damit konnten Reedereien viel
Geld einsammeln - aber auch zum Teil zu viele Schiffe
bestellen, die sie jetzt nicht mehr brauchen und auch
nicht mehr bezahlen können. Wenn wir über die Zukunft
des Maritimen Bündnisses reden, müssen wir also auch
über die Tonnagesteuer reden.
Nachdem die Branche schon in Schwierigkeiten war,
hat die Bundesregierung mitten in der Krise Kürzungen
der Schifffahrtsbeihilfen verkündet. Groß war der Aufschrei bei den Reedern - und so wurde der Wegfall der
Beihilfen für 2012 wieder aufgehoben. Dafür zahlen die
Reeder für jedes ausgeflaggte Schiff eine Gebühr sowie
einen Eigenbeitrag in einen Fördertopf. Doch diese Mischung aus einem Fonds- sowie einem Gebührenmodell
ist rechtlich noch nicht abgesichert. Seit Monaten wird
jetzt nach einer Lösung gesucht, aber die Bundesregierung kann bisher nicht liefern. Bisher gibt es keine
Rechts- und Planungssicherheit für die Seeverkehrswirtschaft.
Die deutsche Flagge ist eine Qualitätsflagge und hat
einen guten Ruf zu verteidigen. Das heißt allerdings
nicht, dass man sich auf dem Stand vom letzten oder gar
vorletzten Jahrhundert ausruhen darf: Deutschland
muss mit gutem Beispiel vorangehen und sich als
Dienstleister sehen für die Reeder; das heißt: einfache
Verwaltungswege, gute Erreichbarkeit, Aufräumen mit
der überbordenden Bürokratie bei der Eintragung eines
Zu Protokoll gegebene Reden
Schiffes ins Flaggenregister. Heute müssen 13 Behörden
von Bund und Ländern angesteuert werden. Das ist eindeutig zu viel, und vieles ist noch nicht mit modernen
Verwaltungsverfahren gelöst. So ist es immer noch ein
Anachronismus, dass neu angeheuerte Seeleute persönlich zum Seemannsamt müssen, eine Einrichtung der
Bundesländer. Deren Öffnungszeiten richten sich nach
den Erfordernissen der Verwaltung und nicht nach denen der Seeleute. Bei anderen Flaggen wird das Seemannsregister längst vom Kapitän geführt. Bereits vor
über einem Jahr hat die Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage unserer Fraktion geantwortet, dass künftig die Registrierung für das deutsche Flaggenregister
gebündelt unter www.deutsche-flagge.de vorgenommen
werden könne. Aber das funktioniert immer noch nicht.
Auf der Internetseite steht nach wie vor: „Die Seite befindet sich noch im Aufbau“.
Wenn sich Reeder trotz Verpflichtungen aus dem Maritimen Bündnis dazu entscheiden, nicht mehr unter der
deutschen Flagge zu fahren, muss dies als Warnsignal
verstanden werden. Nicht nur das prestigeträchtige
Fernsehkreuzfahrtschiff „MS Deutschland“, sondern
auch weitere Schiffe haben die deutsche Flagge eingeholt und fahren jetzt unter der europäischen Flagge von
Malta oder der von Liberia.
Die Rahmenbedingungen für den Schifffahrtsstandort
Deutschland sind die eine Seite der Medaille. Auf der
anderen Seite müssen sich auch die Reeder an die geschlossenen Vereinbarungen halten.
Die Herausforderungen an die Schifffahrt sind seit
Beginn der Krise im Jahr 2008 nicht weniger geworden:
Überkapazitäten der Flotten und damit ruinöser Wettbewerb um Fracht, Einfahren von Verlusten durch niedrige
Charterraten, Rückgang der Finanzierungsmöglichkeiten. All dies sind Beispiele für die derzeitig angespannte
Marktsituation in der internationalen Frachtschifffahrt.
Es ist jedoch zu beobachten: Die Reedereibranche hält
weiterhin am Standort Deutschland fest, Abwanderungstendenzen, über die Flaggenwahl hinaus, waren bisher
kaum Thema. Dies begrüßen wir.
Wichtige Gründe, warum die Reeder sich weiterhin
an den Standort Deutschland binden, sind: Die Seeschifffahrt kann in Deutschland auf eine lange Tradition
zurückblicken sowie auf gut ausgebildete Fachkräfte zurückgreifen. Dieses Potenzial muss weiter genutzt werden, um die Schifffahrt und die gesamte maritime Wirtschaft wieder auf stabile Beine zu stellen oder, um in der
Schifffahrtssprache zu bleiben, um wieder in ruhigeres
Fahrwasser zu steuern.
Damit der Standort Deutschland in der internationalen Seeschifffahrt weiterhin zukunfts- und krisenfest gestaltet werden kann, muss das Maritime Bündnis neue
Impulse bekommen. Bereits seit längerer Zeit sind die
Bündnispartner trotz gemeinsamer Verabredungen immer wieder ausgeschert. Dies hilft keinem der Bündnispartner, am wenigsten ist dies hilfreich für die Beschäftigten der maritimen Wirtschaft.
Wir erwarten daher Nachbesserungen durch die Bundesregierung: Die Beiträge für die Seeschifffahrt müssen wieder angehoben werden. Das neue Fondsmodell,
das zusammen mit den Reedern beschlossen worden ist,
muss zügig rechtlich abgesichert werden, damit es umgesetzt werden kann. Die Bedingungen, um unter der
deutschen Flagge zu fahren, müssen dringend verbessert
werden. Reedern muss durch rasches Umsetzen einer
Entbürokratisierung unter die Arme gegriffen werden.
Schließlich müssen wir uns aber auch die Tonnagesteuer
noch einmal genau ansehen, damit wir nicht wieder eine
solche Blase zulassen, die Reeder und Anleger um ihr
Geld und Banken in Schieflage bringt.
Damit ist nicht nur dem maritimen Standort Deutschland geholfen, sondern vor allem auch den vielen Beschäftigten der Branche.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Hübinger, Albert Rupprecht ({1}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann ({2}), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken
- Drucksachen 17/8788, 17/10082 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Haben Sie schon einmal von der asiatischen Tigermücke gehört? Wenn nicht, dann wird es langsam Zeit.
Denn diese Mücke mit den weißen Streifen auf Beinen
und Rücken breitet sich in Europa zunehmend aus. So
vermeldeten im April dieses Jahres zahlreiche Medien,
dass britische Wissenschaftler der Universität Liverpool
auf Basis ihrer Klimamodelle davon ausgehen, dass sich
das Klima in Europa in den kommenden Jahrzehnten so
verändert, dass diese nicht einheimische Mückenart in
vielen Regionen Europas gute Lebensbedingungen vorfinden wird. Die Wissenschaftler kommen weiter zu dem
Schluss, dass sich die Tigermücke schon jetzt in Italien
festgesetzt hat.
Warum muss uns diese Meldung aufhorchen lassen?
Die Tigermücke ist Überträger von Dengue-Fieber,
einer tropischen Krankheit. Noch stellt die Verbreitung
neuer Mückenarten für uns in Europa keine Gefahr dar.
Wissenschaftler schließen jedoch eine zukünftige
Gefährdung nicht aus. Die „Mitbringsel“ der Stechmücken, also die tropischen Krankheiten, müssen jedoch
unser Interesse wecken.
Zu den tropischen Krankheiten zählen auch die sogenannten vernachlässigten und armutsassoziierten Erkrankungen, und daran leiden schon heute weltweit
mehr als 1 Milliarde Menschen. Die Thematik Tropische
Krankheiten trägt für uns also zwei Komponenten in
sich: Erstens handelt es sich um ein aktuell drängendes
Problem in Schwellen- und Entwicklungsländern, und
zweitens führt uns die zunehmende Verbreitung von nicht
einheimischen Stechmücken in Europa vor Augen, dass
das Thema zukünftig auch uns selbst betreffen könnte.
Wir müssen also auch im ureigensten Interesse handeln.
Die Herausforderung ist zweifellos enorm. Nicht umsonst betitelt man diese tropischen Krankheiten als
„vernachlässigt“ und „armutsassoziiert“. Der Terminus „vernachlässigt“ impliziert, dass sich zu wenig um
die Erforschung und Behandlungsmöglichkeiten dieser
Krankheiten gekümmert wird, und die Bezeichnung „armutsassoziiert“ drückt aus, dass es vor allen Dingen die
Armen und Ärmsten in Entwicklungs- und Schwellenländern trifft.
Als Forschungspolitiker widmen wir uns naturgemäß
in erster Linie der Dimension „vernachlässigt“ dieses
umfassenden Problems. Forschende Pharmafirmen tun
in diesem Bereich sehr wenig, weil die betroffenen Menschen sich die Medikamente nicht leisten können und
somit kein rentabler Markt vorhanden ist.
Wo unternehmerisches Engagement trotz großer
Nachfrage bzw. Dringlichkeit fehlt, sind staatliche Initiativen gefragt. Denn hier geht es um Menschenleben.
Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst und haben
deshalb das Förderkonzept des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung zu vernachlässigten Krankheiten sehr begrüßt.
Der heute zur Abstimmung stehende Antrag der
christlich-liberalen Koalition knüpft an dieses Konzept
an, weil die Ansätze der Bundesregierung zur Bekämpfung von Krankheiten wie der Afrikanischen Schlafkrankheit, Chagas oder dem Dengue-Fieber genau in
die richtige Richtung gehen.
Das Ziel ist klar: Wir brauchen wirksame, anwendungsfreundliche und gleichzeitig erschwingliche Präventions- und Therapieverfahren zur Bekämpfung dieser
Krankheiten. Einen Königsweg gibt es nicht. Deshalb
unterstützen wir das Bundesministerium für Bildung und
Forschung darin, auf unterschiedliche Strategien zu setzen und diese in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.
So ist es einerseits richtig, die nationale Forschungsförderung in diesem Bereich zu stärken. Andererseits ist
es genauso wichtig, die europäische Dimension im Blick
zu haben und die Initiative European and Developing
Countries Clinical Trials Partnership, EDCTP, zu unterstützen. Des Weiteren ist es in meinen Augen von großer
Bedeutung, auch neue Wege in der Forschungsförderung zu gehen. Deshalb begrüßen wir als christlich-liberale Koalition ausdrücklich die erstmalige Förderung
von sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften,
PDPs, durch das Bundesministerium für Bildung und
Forschung.
Für die deutsche Förderkultur stellt die PDP-Förderung einen neuen Weg dar, und deshalb ist es für mich
die natürlichste Sache der Welt, dass man nicht gleich in
die Vollen geht. So finde ich die Vorwürfe der Oppositionsparteien unredlich, dass die Bundesregierung das
Thema PDP-Förderung zu zaghaft angegangen sei. Ich
sage Ihnen ganz klar: Ich bin froh, dass die Bundesregierung in die PDP-Förderung eingestiegen ist, und
die 22 Millionen Euro für die erste, vierjährige Förderperiode sind ein guter Anfang.
Dass uns diese Zahl auf lange Sicht und auch im
internationalen Vergleich nicht zufriedenstellen kann,
daraus mache ich keinen Hehl. Deshalb fordern wir in
unserem Antrag, dass nach einer positiven Evaluierung
der laufenden Förderung die Mittel für eine Folgeförderperiode aufgestockt werden. Schon jetzt darüber zu
spekulieren, ist allerdings zu früh. Diese Art der Forschungsförderung muss sich bewähren und verwertbare
Ergebnisse liefern! Ich habe keine Zweifel, dass die
22 Millionen Euro zum Wohle der betroffenen Menschen
in den Entwicklungs- und Schwellenländern gut angelegt wurden.
Darüber hinaus ist das deutsche Engagement sehr
breit gefächert und kann nicht nur an einer Zahl bzw. einer Maßnahme festgemacht werden. Zusammengenommen investieren wir über 80 Millionen Euro in diesem
Bereich, eine Summe, die sich sehen lassen kann.
Darüber hinaus müssen wir über eine gute Kommunikation zur Bewusstseinsschärfung der Bevölkerung zu
diesem Thema beitragen, damit jedem klar wird, dass
wir auch in Zukunft Geld in diesen Forschungsansatz investieren müssen, und zwar mit steigender Tendenz. Für
viele unserer Kollegen und Kolleginnen und für die
Mehrzahl der Bürger sind die vernachlässigten tropischen Krankheiten böhmische Dörfer und weit, weit weg
von Deutschland. Deshalb müssen wir für dieses Anliegen werben, werben und nochmals werben.
Wir sollten gezielt kommunizieren, welche Projekte
im Rahmen der PDP-Förderung unterstützt werden und
welche Erfolge damit erzielt werden. Die Auswahl der zu
fördernden PDPs liegt zwar erst etwas mehr als ein halbes Jahr zurück, aber es lohnt sich schon jetzt, einen
genaueren Blick auf die mit unserer Förderung angestoßenen Projekte zu werfen.
Bis 2015 werden drei PDPs in ihrer Forschungsarbeit vonseiten des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung unterstützt. Es handelt sich dabei um Drugs
for Neglected Diseases, DNDi, die European Vaccine
Initiative, EVI, und die Foundation for Innovative New
Diagnostics, FIND.
DNDi wird als einer der Ausschreibungsgewinner seit
Dezember 2011 mit 8 Millionen Euro gefördert und widZu Protokoll gegebene Reden
met sich in seiner Forschungsarbeit der Medikamentenentwicklung für die Schlafkrankheit, die Leishmaniose,
der Chagas-Krankheit und der Behandlung für die KoInfektion von Wurmerkrankungen wie Onchozerkose
bzw. Elephantiasis mit dem Augenwurm, auch bekannt
unter der Bezeichnung Loa-Loa.
Am Beispiel der Leishmaniose, übrigens eine durch
Parasiten hervorgerufene Infektionskrankheit, mit der
sich jedes Jahr etwa 400 000 Menschen infizieren, wird
schnell klar, worum es primär geht. Es geht um bessere
und günstigere Therapien. DNDi arbeitet im Rahmen
der BMBF-Förderung unter anderem an einer günstigeren Kombinationstherapie für Leishmaniose in Ostafrika für sehr kranke Patienten bzw. einer Therapie, die
sich für die Behandlung von vielen Patienten in kurzer
Zeit eignet. Dies war beispielsweise im Sudan 2010
nötig, als die Krankheit wieder ausbrach. Dazu werden
zurzeit klinische Studien von DNDi in Zusammenarbeit
mit der Universität Khartum im Sudan und der London
School of Hygiene and Tropical Medicine, LSHTM, in
Großbritannien durchgeführt. Finanziert werden durch
das BMBF die klinischen Phasen II und III. Zudem soll
ein neuer Wirkstoffkandidat für eine sichere, orale und
kurze Behandlung aller Formen der viszeralen Leishmaniose weiterentwickelt werden.
Weiterhin wird die European Vaccine Initiative für die
Entwicklung eines Malariaimpfstoffes für Schwangere
gefördert. Genauer gesagt, hat die EVI zusammen mit
dem Institut national de la santé et de la recherche médicale aus Frankreich das PRIMALVAC-Projekt initiiert, das sich zum Ziel gesetzt hat, einen Impfstoff gegen eine mit einer Schwangerschaft einhergehenden
Malaria - Pregnancy Associated Malaria, PAM - zu entwickeln. Das Projekt wird kofinanziert mit einer Förderung vom BMBF in Höhe von circa 4,4 Millionen Euro.
Als dritte Ausschreibungsgewinnerin wird die Foundation for Innovative New Diagnostics, FIND, für die Entwicklung einer Diagnoseplattform für vier parasitäre
Erkrankungen - Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas,
Leishmaniose und Malaria - finanziell gefördert.
FIND setzt die Gelder der Förderinitiative des BMBF
zur Weiterentwicklung der molekularbiologischen Detektionstechnologie LAMP - Loop-Mediated Isothermal
Amplification - ein, damit diese in den betreffenden
Endemiegebieten vor Ort - also patientennah - eingesetzt werden kann. Gegenwärtig liegen die Schwerpunkte der Testentwicklung auf Methoden zum Nachweis
und zur Kontrolle der Therapieeffizienz von Infektionen
durch Leishmania-Parasiten, dem schnellen sowie
empfindlichen Nachweis von Erregern der ChagasKrankheit bei Kindern infizierter Mütter, einem Hochdurchsatzsystem zum Screening großer Populationen
auf Malariaerreger in Gebieten mit fallender Zahl von
Neuinfektionen und einem Bestätigungstest zur Diagnose der Afrikanischen Schlafkrankheit mittels einer
einfachen Blutprobe.
Übrigens arbeiten die Forscher von FIND hier auch
eng mit DNDi zusammen, da Forschung und Entwicklung für die Diagnose und Behandlung der Krankheiten
natürlich eng miteinander verknüpft sind.
Wie man sieht, bezieht sich die Förderung des BMBF
sehr stark auf vorklinische und klinische Studien. Dies
hat seinen guten Grund; denn klinische Studien sind
teuer, und mit der Finanzierung steht und fällt oft eine
solche Medikamentenentwicklung in einem vernachlässigten Forschungsbereich.
Weil die Entwicklung von Medikamenten generell
sehr teuer ist, ist mehr Geld natürlich immer wünschenswert, gerade bei einem so hehren Ziel. Aber wir können
auch hier nicht losgelöst von den Rahmendaten des Bundeshaushalts agieren. Deshalb lautet mein Appell an
alle Kollegen im Forschungsausschuss: Lassen Sie uns
gemeinsam für die Fortschreibung der aktuellen Maßnahmen in Verbindung mit einem maßvollen Aufwuchs
in den nächsten Jahren werben. Dies wird mit Blick auf
die Auswirkungen der Schuldenbremse auf unseren
Haushalt sicherlich eine schwierige, aber nicht unmögliche Arbeit. Packen wir sie also an!
Wie ich bereits in meiner zu Protokoll gegebenen
Rede bei der ersten Beratung des vorliegenden Antrags
moniert habe, ist es - trotz der grundsätzlichen Berücksichtigung von vernachlässigten Krankheiten im parlamentarischen Raum - sehr bedauerlich, dass die jeweiligen Reden zu den entsprechenden Anträgen stets zu
Protokoll gegeben worden sind. Ich stelle das redliche
Engagement einzelner Fürstreiter dieses Themenkomplexes aufseiten der Koalitionsfraktionen nicht infrage,
aber es kommen mir doch erhebliche Zweifel, ob das Engagement dieser einzelnen MdBs von ihren jeweiligen
Fraktionen als Feigenblatt genutzt wird, um die tatsächlich geringe Wertschätzung für dieses Thema in den angesprochenen Fraktionen eventuell zu kaschieren. Eine
ehrliche und engagierte Auseinandersetzung mit diesem
Thema sollte einen offenen Austausch im Plenum zur
Grundlage haben. Wie bereits in meiner vorangegangen
Rede erwähnt, sehe ich - im Sinne einer aufrichtigen
Wertschätzung der Betroffenen - dies als ein wichtiges
Zeichen zu einem klaren Bekenntnis des Deutschen Bundestages hinsichtlich dieses Themas.
Wie schon in den Beratungen des Antrags im Plenum
vom März dieses Jahres sowie in der Sitzung des Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung deutlich wurde, bewegen sich alle parlamentarischen Initiativen - und mit ihnen jegliche staatlich
gesteuerten Versuche, die vernachlässigten Krankheiten
in den Entwicklungsländern zu bekämpfen - im Spannungsfeld zwischen Ohnmacht im Angesicht der Größe
der zu bewältigenden Aufgabe und blindem Aktionismus - ohne dass allerdings ein Antrag eine Grenze überschreitet, wenngleich im Fall der Fraktion Die Linke
einige utopische Forderungen enthalten sind. Es gilt
demnach, eine Politik mit Augenmaß voranzutreiben,
die sich am Machbaren orientiert und dennoch nicht vor
den Herausforderungen kapituliert, die ausgewogene
Forderungen stellt - insbesondere in Bezug auf eine finanzielle Ausgestaltung von Fördermaßnahmen.
Ebenfalls ist es unabdingbar, dass zielgerichtete
staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der vernachläsZu Protokoll gegebene Reden
sigten Krankheiten nur dann erfolgversprechend sein
können, wenn sie eine kontinuierliche und vor allem verlässliche Finanzierung der PDPs als Basis vorweisen
können. Denn Forschungsprozesse im Rahmen der ({0})Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten - nicht
nur der vernachlässigten Krankheiten - sind häufig unsichere bzw. unstete und demnach nur schwer planbare
Prozesse, die sich nicht immer an den Zeithorizonten
von Haushaltsjahren ausrichten lassen. Um so wichtiger
ist es, wenn sich die involvierten Forscherteams auf eine
verlässliche Finanzierung stützen können. Vor diesem
Hintergrund bedarf es einer Verstetigung der Forschungsbemühungen jenseits einer reinen Projektförderung. Die Frage ist, ob das Ziel nicht besser über eine
institutionelle Lösung erreicht werden kann. Denn Fachexpertise lässt sich am besten lokal bündeln und nicht
in 27 Einrichtungen an sieben Standorten, wie es derzeit
durch die Gründung eines entsprechenden „Deutschen
Zentrums für Infektionsforschung“ durch das BMBF geplant ist.
Eine effektive und zielgerichtete Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten darf sich nicht nur auf die
Weiterentwicklung von Wirkstoffen beschränken, sondern muss auch stets den potenziellen Empfänger bzw.
die Situation in den Zielländern im Blick behalten. Auch
wenn ein Wirkstoff erfolgreich alle Phasen einer klinischen Erprobung bestanden hat, so bleibt er doch letztlich wirkungslos, wenn er nicht den Weg zum Patienten
findet. Daher bedarf es stets der begleitenden CapacityBuilding-Maßnahmen in den Zielländern, um die
Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen und nachhaltigen Behandlung der Betroffenen sicherzustellen.
Diese Erkenntnis hat sich offenbar auch aufseiten der
Koalitionsfraktionen durchgesetzt, wie aus den Forderungen 12 und 13 des Koaltionsantrags deutlich wird.
Wir halten diese Intention für grundsätzlich richtig und
erstrebenswert, doch darf eine solche begleitende Maßnahme nicht auf Kosten der PDP-Förderung gehen. Der
ohnehin schon bescheidene Haushaltstitel für diese Förderung sollte nicht noch durch die Unterstützung von
Capacity-Building-Maßnahmen geschmälert werden,
zumal dies in den originären Aufgabenbereich des BMZ
fällt. Vielmehr möchten wir an dieser Stelle eine koordinierte Zusammenarbeit beider Ressorts anregen, in der
sich beide Häuser in ihrer Arbeit ergänzen und sich dennoch auf ihren originären Zuständigkeitsbereich konzentrieren: Das BMBF sollte sich auf eine verstetigte
Förderung und Finanzierung von erfolgversprechenden
Wirkstoffen fokussieren, die flankierenden Maßnahmen
im Capaciy-Building-Bereich hingegen sind aus dem
Etat des BMZ zu bestreiten. Damit ein solcher Förderansatz auch langfristig erfolgreich sein kann, bedarf es
natürlich einer engen Abstimmung zwischen beiden
Häusern. In einer funktionierenden Koalition sollte eine
Koordination dieser Art wohl kein Problem darstellen.
Mit Enttäuschung ist festzustellen, dass die Regierungsfraktionen die Gelegenheit zur Klarstellung der
vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion monierten Passagen in ihrem Antrag im Rahmen der Ausschusssitzung
nicht genutzt haben. Gerne hätten wir etwa mehr erfahren zu dem im Antrag stehenden Zielkonflikt, einerseits
ein ausgewogenes Verhältnis von Grundlagenforschung
und produktorientierter Forschung anzustreben und andererseits eine bedarfsorientierte Entwicklung von
Medikamenten in den Vordergrund zu stellen. Eine Klarstellung in dieser Hinsicht hätte nicht nur einen positiven Beitrag zur Konsistenz der eigenen Aussagen gebracht, sondern hätte zudem einen Hinweis hinsichtlich
der programmatischen Ausrichtung des Förderprogramms gegeben. Dies wäre nicht nur für die Opposition von Interesse, sondern auch für potenzielle Antragsteller.
Ebenfalls ist immer noch unklar, was Gegenstand der
unter Punkt 16 des Antrags geforderten „positiven Evaluation“ sein soll, die als Grundlage für das weitere förderpolitische Handeln des Gesetzgebers herangezogen
werden soll.
Aus den zwei vorangegangen Punkten wird ein weiteres Mal deutlich, dass ein zielgerichteter Diskurs im
parlamentarischen Raum den offenen und freien Gedankenaustausch über das gesprochene Wort braucht: nicht
nur im Ausschuss, sondern auch im Plenum! Vielleicht
erkennt die Union vor diesem Hintergrund an, dass eine
offene Aussprache im Plenum - statt die Beiträge zu
Protokoll zu geben - nicht nur der Wertschätzung des
Themas selbst, sondern auch der Qualität der jeweiligen
Anträge dienlich ist.
Die Diskussion im Ausschuss über dieses Thema hat
viel Übereinstimmung erkennen lassen. Das ist sehr erfreulich.
Über 1 Milliarde Menschen, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern, leidet an sogenannten vernachlässigten tropischen Erkrankungen oder an
Krankheiten, die mit Armut zusammenhängen. Wir
möchten zur Verbesserung der Situation dieser Menschen unseren Beitrag leisten, und wir unterstützen die
Maßnahmen, die die Bundesregierung in dieser Richtung unternimmt.
Dabei ist klar, dass Forschung und Produktentwicklung zur Behandlung solcher Erkrankungen einen Teilaspekt in einem größeren Zusammenhang darstellen. Es
geht hier um die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen. Bei Erkrankungen, deren Ursache Armut ist oder die Armut zur Folge haben, helfen nicht nur
Medikamente. Hier spielen der Zugang zu sauberem
Wasser, die hygienischen Verhältnisse, Aufklärung und
Prävention und die dafür notwendige Infrastruktur eine
große Rolle. Das sind wichtige Themen, die allerdings in
diesem Antrag nicht im Mittelpunkt stehen.
Bei der Förderung der Produktentwicklungspartnerschaften - PDPs -, der wichtigsten Maßnahme in diesem
Antrag, geht es um Medikamente. Die Pharmaindustrie
konzentriert sich auf Medikamente, mit denen sich
Gewinne erzielen lassen. Wenn wir Politiker erreichen
wollen, dass auch vernachlässigte Krankheiten erforscht und Behandlungen ermöglicht werden, wo keine
Gewinne zu erwarten sind, dann müssen wir Anreize
schaffen. Das BMBF schafft solche Anreize, indem es
Zu Protokoll gegebene Reden
die Entwicklung von Produkten zur Prävention, Diagnose und Behandlung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten fördert und unterstützt mit bis zu 28 Millionen Euro in den Jahren 2011 bis
2014.
Dass die Bundesregierung in diesen Zeiten so viel
Geld locker macht, um kranken Menschen in armen
Ländern zu helfen, verdient Anerkennung. Auch darf die
Opposition an dieser Stelle ruhig zur Kenntnis nehmen,
dass wir Liberalen hier nicht etwa die Pharmaindustrie
unterstützen, sondern dass wir uns für Menschen einsetzen, die sich Medikamente nicht leisten können.
Die PDP sind aber auch unter anderen Gesichtspunkten ausgesprochen interessante und vielversprechende
Kooperationsprojekte. Denn neben der produktbezogenen, anwendungsorientierten Forschung, die sie leisten,
bilden sie auch Wissenschaftler und medizinisches Personal vor Ort aus, fördern damit den Wissenstransfer in
die Schwellen- und Entwicklungsländer und tragen zur
Verbesserung der Forschungsinfrastruktur dort bei.
Dass alle Fraktionen PDP begrüßen und ihre Förderung unterstützen, darüber freue ich mich. Ich denke,
dies ist ein richtiger und erfolgversprechender Weg.
Die Organisationen, die jetzt gefördert werden, entwickeln Medikamente gegen die Afrikanische Schlafkrankheit, die viszerale Leishmaniose, die ChagasKrankheit und gegen Wurmerkrankungen - Drugs for
Neglected Diseases initiative, DNDi -, eine Diagnoseplattform für die vier parasitären Erkrankungen Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und
Malaria - Foundation for Innovative New Diagnostics,
FIND - und einen Malariaimpfstoff für Schwangere
- European Vaccine Initiative, EVI -. So haben wir berechtigte Hoffnung, dass in absehbarer Zeit Medikamente und Impfstoffe für die Betroffenen nicht nur zur
Verfügung stehen, sondern auch für sie erreichbar und
zugänglich sind. Das wäre ein Schritt in die richtige
Richtung.
Ein anderes Problem möchte ich noch ansprechen.
HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose, die sogenannten
Großen Drei mit hohen Erkrankungsraten, werden von
der Weltgesundheitsorganisation, WHO, bekanntlich
nicht zu den 17 vernachlässigten Tropenkrankheiten
gezählt. Sie stehen aber zweifellos im Zusammenhang
mit Armut, und sie verlaufen gerade in Schwellen- und
Entwicklungsländern sehr oft tödlich. Wir sollten durchaus darüber nachdenken, ob in Zukunft auch PDP im
Hinblick auf die „Großen Drei“ gefördert werden könnten.
Die Max-Planck-Gesellschaft erforscht in einem südafrikanischen Partnerinstitut Tuberkulose; auch dies ist
ein wegweisendes Projekt. Wir hoffen, dass andere Forschungsorganisationen diesem guten Beispiel folgen
werden.
Sie sehen: Wir fördern und unterstützen viele gute Ansätze. Deshalb können wir uns sehr gut vorstellen, dass
auch die Oppositionsfraktionen unseren Antrag unterstützen. Wir würden uns freuen.
Der vorliegende Antrag der Koalition ist zweifelsohne gut gemeint. Vernachlässigte Krankheiten treffen
rund 1 Milliarde Menschen, das heißt jeden siebten Erdbewohner. Diese untragbare Situation zu verbessern,
sollte vordringlichste Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sein. Für die Menschheit im 21. Jahrhundert
ist es ein Armutszeugnis, dass so viele Menschen mit ihren Leiden schlicht alleingelassen werden. Betroffen
sind natürlich vor allem die Menschen im globalen Süden. Sie haben nicht genügend Geld und bekommen deshalb nicht die erforderliche Medizin.
Leider sind die im Koalitionsantrag erhobenen Forderungen nicht geeignet, daran grundsätzlich etwas zu
ändern. Vieles bleibt schwammig, die entscheidenden
Punkte fehlen. Aus der in weiten Teilen richtigen Analyse der heutigen Situation zieht die Koalition nicht die
logischen Schlussfolgerungen. So heißt es zwar im Antragstext, das wirtschaftliche Interesse von Pharmaunternehmen an der Erforschung und Bekämpfung von
vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten
sei eher gering. Das ist zwar etwas verharmlosend, aber
von der Tendenz her richtig. Konsequente Lösungsansätze für diese Problematik bleibt der Antrag aber schuldig.
Dabei zeigt alleine dieser Teilaspekt das ganze Versagen des pharmazeutischen Markts und die unbedingte
Notwendigkeit, hier schnell und grundsätzlich Veränderungen herbeizuführen. Die Faktenlage spricht für sich:
Aus Profitinteresse konzentriert die Pharmaindustrie
ihre Wirkstoffforschung vor allem auf Krankheiten, bei
denen ein fertiges Medikament in den Industrieländern
großen Absatz verspricht. Nur 10 Prozent der globalen
Forschungsausgaben beziehen sich auf Krankheiten, die
90 Prozent zur globalen Krankheitslast beitragen.
Gleichzeitig investieren pharmazeutische Firmen mehr
als doppelt so viel in Marketingmaßnahmen als in die
Forschung selbst.
Zusätzlich fließt ein beträchtlicher Teil der Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen in Produkte,
die kaum einen oder keinen therapeutischen Zusatznutzen im Vergleich zu bereits bestehenden Produkten haben. Wellnessmedizin für die zahlungskräftigen Industrieländer statt lebensrettende Medikamente für die
finanzschwachen Entwicklungsländer. Menschenleben
zählen offensichtlich im kapitalistischen Wirtschaftssystem weniger als Profitmaximierung. Das ist des Pudels
Kern. Kein Wunder allerdings, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition dies nicht wahrhaben wollen. Es würde ihr Weltbild wohl nachhaltig schädigen.
In das hohe Loblied auf das Förderkonzept der Bundesregierung „Vernachlässigte und armutsassoziierte
Krankheiten“ können wir nicht einstimmen. Mit einem
Fördervolumen von etwa 18 bis 20 Millionen Euro in
2010 liegt Deutschland im Vergleich mit anderen Industriestaaten weit abgeschlagen. Selbst Schwellenländer
wie Südafrika investieren proportional zur Wirtschaftskraft mehr in die Forschung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke spricht sich aus für eine umfassendere Förderung von gemeinsamen internationalen Non-ProfitOrganisationen, bestehend aus Pharmakonzernen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften. Wir müssen die öffentliche Forschung und das von UNITAID initiierte
Konzept der Patentpools massiv stärken und ausbauen.
Wenn klinische Forschung öffentlich gefördert wird,
müssen Open-Access-Veröffentlichungen die Ergebnisse
der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung stellen. In
Open-Data-Lösungen liegt die Zukunft der Forschung,
nicht im veralteten Patentrecht. Das Konzept der sozialen Verantwortung in der Lizenzpolitik, das sogenannte
Equitable Licensing, ist auf dem Weg dahin ein großer
Fortschritt. Außerdem fordern wir die Bundesregierung
auf, endlich einen Gesetzentwurf in Anlehnung an das
italienische Modell des AIFA-Fund vorzulegen. Dieser
erhebt eine Abgabe auf die jährlichen auf Ärzte bezogenen Marketingausgaben von Pharmafirmen in der Höhe
von 5 Prozent. Die Einnahmen fließen exklusiv in die öffentliche Forschung für vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten. Es gibt absolut kein einziges vernünftiges Argument gegen diese Maßnahme. Die
Wahrheit ist: Die Bundesregierung will sich nicht mit
der Pharmalobby anlegen, nicht einmal in diesem eher
kleinen Punkt.
Abschließend möchte ich noch einmal ganz deutlich
sagen: Vernachlässigte Krankheiten sind armutsbedingte Krankheiten. Wer weltweit das Menschenrecht
auf Gesundheit durchsetzen möchte, muss den globalen
Wohlstand gerechter umverteilen. Daran führt kein Weg
vorbei. Die Linke ist und bleibt die einzige Fraktion im
Deutschen Bundestag die bereit ist, diesen Weg einzuschlagen.
Über 1 Milliarde Menschen leidet weltweit an den sogenannten vernachlässigten und armutsassoziierten
Krankheiten. Wir sprechen also heute über ein Thema,
das ein Siebtel der Weltbevölkerung betrifft. Es ist daher
mehr als bedauerlich, dass wir diesen Punkt erneut mit
einer Protokollrede abhandeln, anstatt das Thema einmal ordentlich mit Redezeit auf die Tagesordnung des
Plenums zu setzen. Anders sah es da bei der Weltgesundheitsversammlung der WHO im Mai dieses Jahres aus.
Eines der zentralen Themen war der Abschlussbericht
der Consultative Expert Working Group on Research
and Development, CEWG, mit seiner Empfehlung zu einer internationalen Forschungskonvention. Ziel einer
solchen Konvention wäre es, die weltweiten Forschungsanstrengungen im Bereich der vernachlässigten
und armutsbedingten Krankheiten zu koordinieren und
verbindlich zu regeln - und dies auch im Rahmen konkreter finanzieller Verpflichtungen.
„Finanzielle Verpflichtung“ ist auch ein gutes Stichwort in Bezug auf den Antrag der Koalition. Leider wird
dieser zentrale Punkt im Antrag stark vernachlässigt.
Zwar fordert die Koalition sehr richtig, die Forschungsanstrengungen im Bereich der vernachlässigten Krankheiten wie auch im Bereich von HIV/Aids, Malaria und
Tuberkulose zu intensivieren, allerdings ist dies schwerlich möglich ohne konkrete finanzielle Zusagen.
Ungenau zeigt sich der Antrag auch in Bezug auf die
Einbeziehung von Forschungsanstrengungen zu HIV/
Aids und Tuberkulose in das Instrument der Produktentwicklungspartnerschaften ({0}). Hier gilt es aber genau zu differenzieren, um Forschungsungleichgewichte
zu vermeiden und gerade den Bedürfnissen der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern gerecht
zu werden. Ein zentrales Defizit im Bereich der HIV/
Aids-Medikamentenentwicklung sind beispielsweise Medikamente für Kinder. Während Kinder in den Industrienationen kaum von der tödlichen Infektionskrankheit betroffen sind, leben die 2,5 Millionen betroffenen Kinder
vornehmlich in Ländern mit geringen oder mittleren
Einkommen. Dementsprechend gibt es auch kaum kindergerechte Medikamente, und daher gilt es insbesondere, die vernachlässigten Aspekte der Prävention,
Diagnose und Behandlung von HIV/Aids gezielt in solch
eine Forschungsförderung aufzunehmen, wie wir es
auch in unserem eigenen Antrag gefordert haben, und
nicht nur allgemein, wie Sie es getan haben.
Leider spart der vorliegende Antrag auch den Aspekt
des „geistigen Eigentums“ aus. Dabei ist gerade dieser
zentral in der Debatte um die Verbesserung der Gesundheitssituation in Entwicklungs- und Schwellenländern.
1,7 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu essenziellen Medikamenten. So führen unter anderem hohe
Medikamentenpreise dazu, dass sich viele Menschen
auch bereits existierende Medikamente nicht leisten können. Ein untragbarer Zustand zulasten von Millionen
von Menschen. Mit der Doha-Erklärung von 2001
wurde versucht, gerade dahingehend das Menschenrecht auf Gesundheit zu stärken und den Zugang zu
Medikamenten durch sogenannte TRIPS-Flexibilitäten
zu fördern. Hier wäre ein eindeutiges Bekenntnis der
Koalition nötig gewesen, um ein klares Signal gegen das
andauernde Unterwandern der international vereinbarten Standards zu geistigen Eigentumsrechten in Freihandelsverträgen zu setzen.
Wir begrüßen zwar die grundsätzliche positive Zielsetzung des Antrags und unterstützen auch einige der
Forderungen, aber, wie gerade erläutert, bleibt der Antrag leider weit hinter seinen Möglichkeiten und verfehlt
es, klare Forderungen unter anderem in Bezug auf
Finanzierung und geistige Eigentumsrechte zu formulieren. Wir lehnen daher den Antrag und somit auch die
Beschlussempfehlung ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10082 die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8788. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exzellente Lehrerbildung überall sichern Pädagogische Berufe aufwerten
- Drucksache 17/10100 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Haushaltsausschuss
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Einer der Grundsteine für eine erfolgreiche Bildungsbiografie wird in der Schule gelegt. Dabei hängt die
Qualität des gesamten Bildungssystems entscheidend
von der Qualifikation der Lehrerschaft ab, und die jungen Menschen, die sich für einen Einstieg in den Lehrerberuf entscheiden, müssen die Qualität der Aus- und
Weiterbildung stetig steigern und sich den neuen Erfordernissen anpassen.
Die Qualität schulischer Bildungsangebote zeichnet
sich in erster Linie dadurch aus, dass Kinder und Jugendliche im Schulunterricht entsprechend ihren Begabungen, ihren Stärken und Schwächen gefördert werden.
Lehrkräfte nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein, wenn
es darum geht, jungen Menschen bestmögliche schulische Bildung zukommen zu lassen. Sie vermitteln darüber hinaus nicht nur Wissen, sie prägen den Lebensweg junger Menschen entscheidend mit. Sie müssen
daher pädagogisch, methodisch, fachdidaktisch und
persönlich befähigt sein, positiv und motivierend zu wirken.
Die Anforderungen an den Lehrerberuf wachsen stetig. Besonders in den vergangenen Jahren hat sich das
Anforderungsprofil an die Lehrerschaft gewandelt. Verschiedene internationale und nationale Vergleichsstudien haben die enormen Herausforderungen beschrieben, denen Lehrerinnen und Lehrer heute
gegenüberstehen. Insbesondere die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen in Verbindung mit den Herausforderungen der Integration sowie die verstärkt differenzierten Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft
machen eine Anpassung der Lehrerausbildung an die
aktuellen Entwicklungen erforderlich.
Eine weitere Herausforderung liegt in der Zusammensetzung der Lehrerschaft: In den nächsten Jahren
werden uns bundesweit vor allem in den sogenannten
Mangelfächern Lehrkräfte fehlen, obwohl zunächst aufgrund der demografischen Entwicklung der Schülerschaft keine großen Lücken bei der Personaleinstellung
entstehen. Bedenkt man jedoch die Anforderungen an
eine Qualitätssteigerung und Quantitätssteigerung, wie
zum Beispiel die Verbesserung der methodischen Lernvermittlung und Fachdidaktik, der Schüler-LehrkraftRelation und der Anpassung an die gegebenen Herausforderungen, ergibt sich ein voraussichtlicher Mehrbedarf von jährlich 30 000 Lehrkräften bis zum Jahr 2020.
Um mehr Lehrkräfte zu gewinnen, muss der Lehrerberuf so ausgestaltet sein, dass sich mehr Abiturienten
für ein Lehramtsstudium entscheiden. Der Lehrerberuf
muss für junge Menschen wieder attraktiv werden.
Hinzu kommt, dass über die Hälfte der heute tätigen
Lehrerinnen und Lehrer älter als 50 Jahre sind und auf
ihre Pensionierung zusteuern. Die unter Vierzigjährigen
bilden mit 27 Prozent hingegen eine relativ kleine
Gruppe. Unter 30 Jahre sind lediglich 6 Prozent der
Lehrerinnen und Lehrer. Eine ältere Lehrerschaft bedeutet zwar nicht automatisch einen Verlust an Unterrichtsqualität, doch eine gut durchmischte Zusammensetzung
in der Altersstruktur der Lehrer verstärkt auch den Erfahrungs- und Kompetenzaustausch.
Auch erfährt der Lehrerberuf bedauerlicherweise
nicht genug gesellschaftliche Anerkennung und zieht
auch aus diesem Grund nicht genug geeignete Studierende zu einem Lehramtsstudium an die Universitäten.
Zusätzlich sind angehende Lehrerinnen und Lehrer oft
nicht ausreichend auf das Berufsbild vorbereitet, was
sich auf die Qualität des Unterrichts auswirken kann.
Ebenso sind viele der jetzigen fachlich guten Lehrer
nicht auf die neuen Herausforderungen vorbereitet, die
im Schulalltag auftreten. So empfindet auch über die
Hälfte der Lehrerschaft den Beruf heute als anspruchsvoller und anstrengender als noch vor fünf Jahren.
Schließlich bleibt die begrenzte Mobilität von Lehramtsstudierenden und aktiv tätigen Lehrkräften zwischen den einzelnen Bundesländern ein Problem, das es
zu bewältigen gilt. Durch die nach wie vor uneinheitliche Anerkennung von Studienleistungen und Abschlüssen der verschiedenen Bundesländer existieren unnötige
Hemmnisse, die einen konstruktiven bundesweiten Austausch didaktischer und fachlicher Expertise innerhalb
der Lehrerschaft erschweren. Daher sollte es auch Ziel
der Politik sein, die Mobilität angehender und aktiver
Lehrer zu fördern. Dies im Einklang mit dem föderalen
Bildungssystem zu gestalten, ist Herausforderung und
Chance zugleich.
Dem Wandel des Anforderungsprofils des Lehrerberufs muss die Bildungspolitik Rechnung tragen. Die kontinuierliche Verbesserung Deutschlands im PISA-Ranking spricht zwar dafür, dass in den Schulen vieles gut
läuft, aber es gibt Verbesserungsbedarf, und wir dürfen
uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen. Daher müssen
auch Strukturen und Inhalte der Lehrerbildung überprüft und verbessert werden, sei es im fachlichen, didaktischen oder auch im methodischen Bereich.
Für eine Verbesserung der Lehrerbildung bedarf es
daher eines Anstoßes, der die Öffentlichkeit und die Lehrer der Zukunft für die Notwendigkeit exzellenter Lehrerbildung sensibilisiert. Ein solcher erster Schritt und
Impuls kann - wie bei den Hochschulen bereits bewiesen
- in einer Exzellenzinitiative liegen.
Die von uns auf den Weg gebrachte Qualitätsoffensive Lehrerbildung hat zum Ziel, die Lehrerausbildung
und -weiterbildung fortzuentwickeln. Universitäre Initiativen, die in einem Wettbewerb bewertet und gefördert werden, setzen nachhaltige Impulse - Impulse da22540
Marcus Weinberg ({0})
für, die Bedeutung der Lehrerbildung an Hochschulen
aufzuwerten und sie aus der Nische ins Zentrum der universitären Profilbildung zu rücken. So soll ein Qualitätsschub in Forschung und Lehre erreicht und die Lehrerbildung in ihrer ganzen Breite weiterentwickelt werden.
Wie soll dies vonstattengehen? Die Exzellenzinitiative soll im Rahmen eines Wettbewerbs stattfinden. Dabei können einzelne Hochschulen oder Hochschulen im
Verbund Zukunftskonzepte einreichen, die eine praxisorientiere und forschungs- bzw. evidenzbasierte Lehrerbildung zum Inhalt haben. Die Auswahl erfolgt anhand
verschiedener Kriterien wie dem aktuellen Stand der
Forschung oder klarer Berufsfeldorientierung. Ebenso
soll das Konzept die Fachdidaktik stärken und damit
einhergehend eine fundierte Wissensbasis für die angehenden Lehrer schaffen.
Die Bewertung erfolgt durch eine externe Jury. Die
ausgewählten Hochschulen können für fünf oder zehn
Jahre gefördert werden und sollten sich dazu verpflichten, das Konzept nach Auslauf der Förderphase institutionell zu sichern. Die ausgewählten Konzepte werden
so zu Leuchttürmen der Lehrerbildung und können als
solche flächendeckend wahrgenommen werden.
In einer Anhörung im Bildungsausschuss des Bundestages in dieser Woche begrüßten alle befragten Experten
die von uns als Koalition eingebrachte Exzellenzinitiative Lehrerbildung. Nachdem 15 Jahre über eine Reform
und eine Weiterentwicklung der Lehrerausbildung diskutiert wurden, wurde nun vor allem gelobt, dass diese
Offensive endlich der konsequente Schritt in die richtige
Richtung sei, der das Problem anpacke.
Einige der Experten bestätigten zudem, dass gerade
von einem Leuchtturmprojekt wie dieser Exzellenzinitiative für die Lehrerbildung eine Impulskraft für die gesamte Schullandschaft ausgehen wird. Die Qualität wird
sich auch in der Breite ausdehnen, denn ein derartiges
Projekt hat Modellcharakter, weil es Standards setzt. Es
funktioniert nach einem Ansteckungsprinzip, da es zu
neuen Wegen inspiriert und darüber hinaus Kooperationen und Vernetzungen zwischen den Universitäten ermöglicht.
Eine Ausschüttung der Fördermittel für das Programm mit der Gießkanne - wie es die Kollegen in dem
vorliegenden Antrag der Kollegen der Linken fordern
- lehnten die meisten der Sachverständigen jedoch ab.
Wenn an Universitäten eingespart werden müsse, geschieht das nicht selten zulasten des Studiengangs Lehramt. Eine breite Finanzierung ohne Zielrichtung könnte
dazu führen, dass die Mittel versickern und damit wirkungslos bleiben.
Zukünftig sollen vielmehr Universitäten, die ein innovatives Forschungskonzept für die Lehrerausbildung
vorlegen, mit der Förderung in die Lage versetzt werden, die Ausbildung an der Einrichtung zu institutionalisieren. Die Konzepte sollen zunächst für fünf Jahre bis
zehn Jahre mit dem langfristigen Ziel einer dauerhaften
institutionellen Förderung gefördert werden.
Einer der Hauptdiskussionspunkte war darüber hinaus der oft unzureichende Praxisbezug des Studiums.
Gerade die jetzt vorgesehene Exzellenzinitiative betont
die Praxisorientierung während des Studiums. Auch
eine enge Zusammenarbeit der unterschiedlichen Institutionen ist unter Umständen eine von vielen möglichen
Lösungen, um der Praxisorientierung im Studium das
richtige Gewicht zu verleihen. Lehrerinnen und Lehrer
müssen vor allen Dingen schon bereits während der ersten Phase der Ausbildung ein Gefühl dafür bekommen,
was der Lehrerberuf bedeutet und welche Anforderungen im Schulalltag bestehen.
Wir wollen sehr gute Schüler, sehr gute Lehrer, sehr
gute Bildung. Mit der Exzellenzinitiative für Lehrerbildung kommen wir diesem Ziel wieder ein Stück näher.
Die Bildungsrepublik Deutschland nimmt langsam Gestalt an.
Bereits am 14. Juni haben wir zu einem Antrag der
CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Initiative zur
Stärkung der Exzellenz in der Lehrerausbildung“ umfangreiche Reden zu Protokoll gegeben. Am 25. Juni hat
dann ein intensives Fachgespräch mit Experten über
Qualität und Verbesserung der Lehrerausbildung in
Deutschland im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung stattgefunden. Jetzt, drei
Tage später, geben wir erneut eine Debatte zu Protokoll,
die sich mit dem Antrag der Linkspartei mit dem Titel
„Exzellente Lehrerbildung überall sichern - Pädagogische Berufe aufwerten“ befasst.
Weil diese Als-ob-Debatte über zu Protokoll gegebene Texte nur einen begrenzten parlamentarischen Reiz
hat, will ich auf grundsätzliche Aspekte der Lehrerbildung und spezielle Fragen ihrer Aus- und Weiterbildung
nicht näher eingehen. Ich verweise hierzu auf meinen
umfassenden Textbeitrag im Protokoll des Deutschen
Bundestag vom 14. Juni 2012, Drucksache 17/184,
Seiten 22031 bis 22034. Deshalb folgen nur einige kurze
Bemerkungen zum Antrag der Linkspartei.
Erstens. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass die
Linkspartei einen solchen Antrag einbringt, damit wir
ein breites parlamentarisches Spektrum an Analyse,
politischer Bewertung und Initiativen zu diesem zentralen Thema der Bildungspolitik im Bundestag haben.
Auch die SPD-Bundestagsfraktion bereitet hierzu einen
Antrag vor, den wir zu einem geeigneten Zeitpunkt in
den Bundestag einbringen werden, nämlich im Lichte
der weiteren Beratungen in der Kultusministerkonferenz
und der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz. Sie alle
in den einschlägigen Fachkreisen des Bundestages wissen, dass schon sehr detaillierte Vorarbeiten geleistet
werden, um zu einem gemeinsamen Konzept für eine
wettbewerblich angelegte Förderinitiative zur Lehrerbildung zu kommen. Das Verdienstvolle am Antrag der
Linkspartei ist, dass er sich im Gegensatz zu CDU/CSU
und FDP nicht darauf beschränkt, die Vorarbeiten aus
der einschlägigen KMK-Arbeitsgruppe weitgehend abzuschreiben, sondern eigene Akzente in die Debatte einzubringen.
Zweitens. Die Linkspartei spricht sich in ihrem Antrag gegen die Auslobung eines Exzellenzwettbewerbs in
Zu Protokoll gegebene Reden
der Lehrerbildung aus. Des Weiteren stellt die Linkspartei fest, dass ein bundesweiter Qualitätswettbewerb, der
einige wenige sogenannte Leuchtturmprojekte fördert,
eine flächendeckende, hochqualitative Lehrerausbildung nicht gewährleisten kann. Hierzu einige Kommentierungen:
Es ist natürlich richtig, dass ein bundesweiter Qualitätswettbewerb nicht automatisch flächendeckende,
hochqualitative Lehrerausbildung gewährleisten kann,
aber ein solcher bundesweiter Qualitätswettbewerb
kann dazu einen wesentlichen Impuls geben und einen
nachhaltigen Beitrag leisten. Deshalb unterstützen wir
auch die Initiative von Bund und Ländern, hier in einem
Wettbewerbsverfahren eine große Zahl der aktuell
120 Hochschulen, an denen in Deutschland Lehrerausbildung stattfindet, bei der Verwirklichung neuer Ideen
zu stimulieren und zu unterstützen.
Wir sehen uns auch durch die Experten in dem Fachgespräch des Bildungsausschusses darin bestätigt, dass
sich ein solcher bundesweiter Qualitätswettbewerb
keineswegs an dem Exzellenzwettbewerb der universitären Spitzenforschung orientieren sollte. Sie alle wissen, dass bei dieser Exzellenzinitiative tatsächlich, wenn
Sie zum Beispiel die Förderlinie der Spitzenuniversitäten nehmen, in der dritten Runde nur 11 sogenannte
Leuchttürme aus allen deutschen Hochschulen gefördert
werden und sich diese dann auch noch auf 6 von
16 Bundesländern konzentrieren. Auch wenn die Verteilung bei den Graduiertenkollegs und Exzellenzclustern
etwas breiter gefasst ist, kann dieses dennoch nicht das
Förderprinzip für eine Initiative zur Verbesserung der
Lehrerbildung sein. Tatsächlich brauchen wir eine Verbesserung der Lehrerbildung in allen Bundesländern
und an deutlich mehr Hochschulen, die dann in Kooperation miteinander und auch als Anreiz für die Lehrerausbildung in den jeweiligen Bundesländern breit und
nachhaltig gefördert werden.
Organisatorisches Vorbild hierfür sollte der „Qualitätspakt Lehre“ sein, der sicherstellte, dass alle Bundesländer an diesem Programm partizipieren konnten und
der gleichzeitig so angelegt war, dass es auch eine Bestenauswahl unter den eingereichten Anträgen je Bundesland und auch über die Bundesländer hinweg gegeben hat. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Den
bisher vorgelegten Antrag der Fraktionen von CDU/
CSU und FDP unterstützen wir nicht, weil er unklar
bleibt in der Förderstruktur und der Sicherstellung der
Beteiligung aller Bundesländer an einer solchen Initiative. Den Antrag der Linkspartei werden wir genauso
wenig unterstützen, weil er sich einmal mehr grundsätzlich gegen einen gemeinsam von Bund und Ländern organisierten Wettbewerb in der Lehrerbildung wendet
und stattdessen eine wettbewerbsfreie Förderung der
Lehramtsstudiengänge an sämtlichen Hochschulen in
Deutschland fordert.
Drittens. Der Antrag der Linken beinhaltet in der
Analyse wie in den wesentlichen Zielsetzung einer Qualitätsoffensive sehr viel Richtiges, das sich auch deckt
mit den Ausführungen, die von sozialdemokratischer
Seite in der kürzlich zu Protokoll gegebenen Debatte angesprochen worden sind. Ich unterstütze die Aussagen
zum schrittweisen Aufbau einer schulstufenbezogenen
Lehrerausbildung aus entwicklungspsychologischen,
aus pädagogischen wie auch aus unterichtspraktischen
und schulorganisatorischen Gründen. Die Hinweise der
Linkspartei, dass schon aus Gründen der Mobilität von
Lehrerinnen und Lehrern eine Schularten übergreifende
Lehrerausbildung geboten ist, sind richtig. Auch den
Hinweis auf den Reformprozess hin zu einer inklusiven
Schule für alle teilen wir.
Viertens. Die Linkspartei fordert die Bundesregierung auf, zusammen mit der Kultusministerkonferenz
und außerparlamentarischen Akteuren zu prüfen, wie
die Berufseinstiegsphase nach dem an der Praxis orientierten Lehramtsstudium neu gestaltet werden kann. Genauso sollte allerdings durch die Kultusministerkonferenz geprüft werden, wie die Lehramtsausbildung in
Form eines Bachelor-/Masterstudiengangs so gestaltet
werden kann, dass nach einem Bachelorabschluss der
Anspruch besteht, das Studium über einen Masterstudienplatz zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen
und sich dann in die Lehrerlaufbahn zu begeben. Darüber hinaus sollte man auch dafür sorgen, dass nach
einem Bachelorabschluss über den Lehramtsabschluss
hinaus auch die Anschlussfähigkeit zu anderen pädagogischen Berufen mit besteht, die außerhalb von Schule zum Beispiel in der Erwachsenenbildung, im Bildungsmanagement oder anderen pädagogischen Berufen liegen könnten. Denn die Zwangsläufigkeit, dass aus einem Einstieg in die erste Phase der Lehrerausbildung
über den Bachelor zwangsläufig nur die zweite Phase
der Lehrerausbildung über den Master folgen kann,
muss weder der richtige Weg für den ursprünglich am
Lehramt Interessierten noch für die Kinder und Jugendlichen sein, denen möglicherweise auch ungeeignete wie
letztlich unmotivierte Pädagogen gegenübertreten würden. Hier durch intensive Praxisphasen und Beratung
dafür zu sorgen, dass eine schulpädagogische Ausbildung keine Eindimensionalität hat - quasi bis zum
bitteren Ende -, sondern auch Alternativabschlüsse ermöglicht, wird ein wichtiger Teil eines solchen neustrukturierten Lehramtsstudiengangs sein müssen.
Fünftens. Dass die Linkspartei in ihrem Antrag dafür
wirbt, dass Bund und Länder durch geeignete Maßnahmen allen pädagogischen Berufen in der Gesellschaft
wieder Anerkennung und Ansehen verschaffen, wird von
der SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich unterstützt.
Auch der Hinweis, dass nicht nur Lehrerinnen und Lehrer eine verantwortungsvolle Tätigkeit ausüben, sondern auch die übrigen pädagogischen Berufe, ist vollkommen richtig und kann gar nicht häufig genug betont
werden.
Wenn wir uns heute über die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern unterhalten, so sollte am Beginn die
Erkenntnis stehen, dass der Erfolg einer guten Bildungsund Sozialpolitik auch von der Umsetzung durch motivierte, gut aus- und fortgebildete Lehrerinnen und Lehrern abhängt. Wir wissen, dass dieser Beruf von hohen
fachlichen Erwartungen genauso geprägt ist wie von eiZu Protokoll gegebene Reden
ner immens hohen Verantwortung für junge Menschen.
Deshalb sollte aus meiner Sicht am Beginn einer solchen Debatte hervorgehoben werden: Lehrerinnen und
Lehrern muss für ihre Arbeit die notwendige Wertschätzung entgegengebracht werden.
Vor diesem Hintergrund müssen wir in Zukunft mehr
junge Menschen für den Beruf des Lehrers bzw. der Lehrerin begeistern. Bis 2020 werden in Deutschland
durchschnittlich 28 000 Lehrerinnen und Lehrer pro
Jahr benötigt. Den wachsenden Bedarf infolge des Generationswechsels werden wir nur durch Begeisterung
für den Lehrerberuf stillen können. Diese Begeisterung
kann jedoch nur geweckt werden, wenn Ausbildung und
Arbeitsbedingungen attraktiv sind.
Dieses allgemeine Bekenntnis und die ausgedrückte
Wertschätzung müssen sich auch in konkreten Maßnahmen zur Unterstützung der Lehrerbildung niederschlagen. Denn der Lehrerberuf ist heute vielfältigen Anforderungen ausgesetzt, die nur unzureichend in der Ausund Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern abgebildet werden. Ich möchte einige davon beispielhaft nennen.
Hier ist sicherlich an erster Stelle der Umgang mit
heterogenen Schülergruppen zu nennen. Dies betrifft
alle Schulformen und Schulstandorte; denn die Schülerschaft stellt an jedem Standort enorme Anforderungen
an das Unterrichten. Insbesondere die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention wird den Alltag an
Schulen in dieser Hinsicht positiv verändern und zugleich große Anforderungen im Umgang mit heterogenen Lerngruppen an Lehrerinnen und Lehrer stellen.
Hier wird das immer wieder gebrauchte Wort der individuellen Förderung weiter an Gewicht gewinnen.
Für Lehrerinnen und Lehrer wird es zukünftig auch
stärker darauf ankommen, den komplexen Anforderungen der Arbeit mit jungen Menschen durch eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit anderen Professionen zu begegnen. Schulsozialarbeiter - 3 000 von ihnen
konnten auf Druck der SPD seit dem vergangenen Jahr
bundesseitig gefördert werden -, Sonderpädagogen, insbesondere im Feld der Inklusion, und weitere Berufsgruppen kümmern sich nicht nur um die gleiche Zielgruppe, sondern sind auch in die Zusammenarbeit im
schulischen Alltag zu integrieren.
Eine weitere große Herausforderung wird in der Gestaltung des rhythmisierten Schulalltags in der Ganztagsschule liegen. Die Eltern wählen bewusst häufiger
die Ganztagsschule und haben zu Recht hohe Erwartungen an deren Qualität.
Die Liste ließe sich weiter fortsetzen, und manche
Schwierigkeiten, die den Alltag des Lehrerberufs beeinflussen, werden derzeit weder in der ersten noch in der
zweiten Ausbildungsphase bearbeitet. Dazu gehören
Fragen wie: Wie wird der Elternabend gestaltet? Wie ist
mit Disziplinproblemen umzugehen? Wie ist unerwarteten Krisen zu begegnen?
Auf diese vielfältige Realität muss Lehrerausbildung
zukünftig besser vorbereiten. Der viel zitierte Praxisschock resultiert insbesondere aus der Tatsache, dass
die schulische Praxis im Studium nicht ausführlich genug und auch zu spät thematisiert wird. Insofern liegt
eine der wichtigsten Herausforderungen darin, die Ausbildungsphasen im Lehrerberuf aufeinander zu beziehen
und stärker sowie frühzeitiger mit der schulischen Praxis zu verbinden. Dies ist eine Aufgabe für die erste Ausbildungsphase.
So einfach es klingen mag, aber gute Lehre an Schulen setzt gute Lehre an den Hochschulen, die Lehrerinnen und Lehrer ausbilden, voraus. Auf die Qualität der
Lehre an den Hochschulen insgesamt und im Besonderen in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern
muss hohe Aufmerksamkeit gelegt werden.
Einmal im Beruf angekommen, ändern sich der Alltag
und das Anforderungsprofil für Lehrerinnen und Lehrer
beständig. Daher ist es wichtig, die Fortbildung auf dem
besten Niveau von Methodik und Didaktik ausreichend
ausgestattet und kontinuierlich anbieten zu können.
Hierfür sind die Länder zuständig. Dennoch hat der
Bund seinerseits im Rahmen seiner Rolle als Zuwendungsgeber die Möglichkeit, finanzielle Zuwendungen
an Hochschulen mit Zielen zu verbinden. Voraussetzung
hierfür ist die Bereitschaft, Hochschulen für die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern, insbesondere im Bereich von Pädagogik und Didaktik, zu öffnen und damit
auch den beständigen Austausch zwischen Wissenschaft
und Forschung an den Hochschulen einerseits und schulischer Praxis andererseits zu fördern. Dies scheint insbesondere mit Blick auf die eingeleiteten und ständig zu
evaluierenden Maßnahmen der Qualitätssicherung von
größer werdender Bedeutung zu sein. Sie sind ein Beispiel dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnis und schulische Praxis in einem engen Zusammenhang stehen.
Nicht zuletzt ist zu beachten, dass die Bildungsforschung den Bedarf in zentralen Feldern der Forschung
über Lehre, Qualität und Unterricht weiterhin in den
Blick nimmt. Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Antrag
„Förderung der Bildungsforschung vorantreiben“ bereits einen konkreten Vorschlag gemacht, die Unterrichts- und Lehrerforschung auszuweiten.
Wertschätzung, qualitativ hochwertige Erst- und
Fortbildung sowie die Verknüpfung von Forschung und
Praxis sind entscheidende Stichworte für eine zeitgemäße Lehrerbildung, und zwar an allen Hochschulen,
die Lehrer ausbilden, und nicht nur an wenigen mit
Exzellenzstatus.
Die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft wird
maßgeblich von der Bildungspolitik beeinflusst und getragen. Bildung ist somit das Fundament unserer Gesellschaft. Demzufolge sind wir verpflichtet, eine exzellente
Qualität des Bildungssystems der Bundesrepublik
Deutschland zu garantieren. Nur so können wir die verschiedenen Fortschritte in den unterschiedlichen Bereichen, wie zum Beispiel Wirtschaft und Soziales, innerhalb der Gesellschaft gewährleisten.
Durch die zunehmende Internationalisierung und den
damit verbundenen neuen Herausforderungen muss die
Zu Protokoll gegebene Reden
Bildungsrepublik Deutschland sich im stetigen Wandel
der Globalisierung gegenüber den anderen Ländern behaupten können. Aus diesem Grund müssen wir stetig
daran arbeiten, die Qualität des gesamten Bildungssystems zu verbessern. Selbstverständlich dürfen wir in
dem angestrebten Verbesserungsprozess die Hauptakteure, nämlich die Ausbilder und Ausbilderinnen, Lehrer
und Lehrerinnen sowie die Dozenten nicht vergessen. All
diesen Personen kommt eine besondere Rolle zu, da sie
innerhalb des Wandlungsprozesses eine Schlüsselrolle
einnehmen.
Die Bildungspolitik ist die bedeutsamste soziale
Frage des 21. Jahrhunderts. Darum müssen wir uns dafür einsetzen, die besten Kindergärten, die besten Schulen und Hochschulen zu etablieren, um Deutschland
eine exzellente Zukunft gewährleisten zu können. Doch
die weitere Entwicklung unseres Bildungssystems muss
zunächst drei gesellschaftliche Herausforderungen
meistern: Zum einen den demografischen Wandel, zum
anderen die Inklusion und letztlich die Digitalisierung.
Betrachtet man die drei genannten Herausforderungen im Einzelnen, so wird klar, dass der demografische
Wandel als Schlüsselrolle innerhalb der Qualitätsverbesserung des deutschen Bildungssystems fungiert. Ein
wichtiger Schritt dabei ist es, die Motivation der jungen
Lehrkräfte zu fördern. Dies setzt jedoch voraus, dass die
Ausbildungsbedingungen für potenzielle junge Lehrkörper einer Reform unterzogen und an die aktuell vorherrschende Zeit angepasst werden. Kurz, die Ausbildungsbedingungen sind veraltet und müssen dringend
verbessert werden. Die Konsequenz im Falle der Nichtumsetzung dieser Forderung wird verheerend sein; denn
schon heute kämpfen die Schulen mit der Überalterung
der Lehrkräfte. So sind aktuell beinahe 50 Prozent der
Lehrer und Lehrerinnen über 50 Jahre und älter. Die Ursache liegt maßgeblich an der Dauer der Hochschulausbildung sowie an dem momentan forcierten Einstellungsstopp. Letzteres wird auf den demografischen
Wandel zurückgeführt.
Auch die Inklusion stellt eine Herausforderung dar.
Die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen
stellt die Schulen, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die
Schülerinnen und Schüler vor neue Aufgaben. Im Folgenden bedeutet das, dass die Lerngruppen künftig heterogen sind, vonseiten der Schulen individuelle Förderungen angeboten werden müssen sowie eine Anpassung
der pädagogischen Unterstützungsleistungen durchgeführt werden muss. Insgesamt ist es notwendig, eine
Neugestaltung der Lehrerausbildung sowie der Schulorganisation vorzunehmen. Demzufolge stehen die
Schulen in der Pflicht, sich an die Förderbedürfnisse der
Schülerinnen und Schüler anzupassen und folglich die
Lehrerinnen und Lehrer hinreichend auszubilden. Nur
so kann die Inklusion funktionieren.
Die Digitalisierung erfordert ebenfalls eine umfangreiche Erneuerung. Konkret bedeutet dies, dass die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer sich an der heutigen Bildungstechnologieentwicklung orientieren muss.
Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderung darf und
kann die Ausbildung junger, dynamischer Lehrkräfte
nicht in dem festgefahrenen Reglement bleiben, sondern
sie benötigt Raum zur Veränderung. Nur so können potenzielle neue Lehrkräfte ausreichend motiviert werden
und eine qualitativ hochwertige Ausbildung absolvieren,
um im Umkehrschluss den ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern mit gutem Beispiel voranzugehen
und diese zur Leistung zu motivieren.
Doch die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer
führt in der Bildungsrepublik eher ein Randdasein. Noch
schlimmer: Sie wurde jahrzehntelang in der öffentlichen
Wahrnehmung und Platzierung an den Hochschulen vernachlässigt. Angesichts der Herausforderungen einer
sich entwickelnden Wissensgesellschaft, des drohenden
Fachkräftemangels sowie des demografischen Wandels
ist dieser Zustand nicht länger hinnehmbar.
Es ist allseits bekannt, dass gute Lehrer den Grundpfeiler eines gelingenden Bildungssystems darstellen.
Folglich verdient ihr Engagement die höchste gesellschaftliche Anerkennung, nicht zuletzt durch den Aspekt
der Qualität; denn die Qualität im Klassenzimmer wird
maßgeblich durch die Qualität der Lehrerausbildung
bestimmt. Demnach kann nur ein exzellenter Unterricht
mit exzellenten Lehrerinnen und Lehrern das Ziel sein.
Doch nach wie vor bleibt dieses Ziel unerreicht, da die
Lehrerausbildung in Deutschland noch immer stark vernachlässigt wird.
Die verloren gegangene Anerkennung und Wertschätzung des Lehrerberufs muss wiederhergestellt werden.
Deutschland ist eine Bildungsrepublik. Die Bildung ist
unser Kapital. Darum müssen wir uns künftig darauf
verständigen, die besten Abiturienten für ein Lehramtsstudium zu gewinnen und sie zu motivieren, den Lehrerberuf zu erlernen. Letztlich liegt das auch in unserem Interesse, da der wissenschaftliche Nachwuchs auf diesem
Wege gesichert wird.
Jedoch ist es mir auch wichtig, die Perspektive weiter
zu öffnen; denn nicht nur die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer bedarf einer verstärkten Aufmerksamkeit und konkreter Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung, sondern auch ganz entscheidend die der
Erzieherinnen und Erzieher. Daher erinnere ich an die
Wichtigkeit des Bund-Länder-Programms zum Aufbau
von Leuchttürmen in der Lehrerbildung. Für die Zukunft
ist es wünschenswert, die Ausbildung der Erzieherinnen
und Erzieher mit einem ähnlichen Programm zu unterstützen.
Wenn die Bildungsrepublik Deutschland wieder Erfolg erzielen möchte, dann gilt es, die Qualität der Ausbildung von potenziellen neuen Lehrerinnen und Lehrern zu stärken und weiter voranzubringen. Die
Lehrerausbildung darf künftig nicht mehr wie das fünfte
Rad am Wagen der Fachwissenschaften wahrgenommen
werden.
Zahlreiche Studien belegen, dass die Qualität des Unterrichts ein entscheidender Faktor nicht nur für das
Kompetenzniveau darstellt, sondern auch für die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern.
Insgesamt möchte ich noch einmal betonen, dass wir
auf dem richtigen Weg sind und trotz aller Kritik schon
Zu Protokoll gegebene Reden
viel erreicht haben und den ersten Schritt in die richtige
Richtung gegangen sind. So haben wir unter anderem
die Exzellenzinitiative weiter fortgeführt, das Problem
der Aufrüstung der Studienplatzkapazitäten ernst genommen und mithilfe des Hochschulpakts weiter ausgebaut. Auch wurde die Anerkennung von ausländischen
Bildungsabschlüssen erleichtert, indem qualifizierte Migranten einen Rechtsanspruch auf die Anerkennung sowie auf weitere Anpassungs- oder Nachqualifizierungsmaßnahmen haben. Auf diese Art wird auch dem
drohenden Fachkräftemangel vorgebeugt.
Die Koalition hat einen Wettbewerb um die beste Lehrerausbildung ausgerufen. Der soll nun richten, was in
der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern in den
letzten Jahrzehnten immer mehr ins Hintertreffen gekommen ist. Das ist nicht wirklich verwunderlich angesichts der permanenten Unterfinanzierung der Hochschulen und der immer stärkeren Orientierung der
Hochschulen auf die Einwerbung von Drittmitteln für
Forschung und Lehre. Lehrerbildung war und ist nicht
drittmittelfähig, bringt kein Geld. An mancher Hochschule wurde die Lehrerausbildung immer mehr das berühmte fünfte Rad am Wagen, es wurden ganze Lehrbereiche abgebaut, Lehramtsstudierende wurden in andere
Fachstudiengänge eingeordnet, dort aber lernen sie
zwar fachliches Wissen für ihr jeweiliges Unterrichtsfach, aber nicht unbedingt das, was sie an den Schulen
brauchen. Auch die Umstellung des Lehramtsstudiums
auf das Bachelor-/Mastersystem war kein Geniestreich,
sondern sie hat die Defizite und negativen Entwicklungen eher verstärkt. Fachdidaktisches Wissen blieb an einigen Hochschulen immer mehr außen vor, und zunehmend wurde das pädagogische Fachwissen, das den
Beruf des Lehrers, der Lehrerin wesentlich ausmacht,
erst in der zweiten Phase der Lehrerausbildung erlernt.
Diese Befunde sind nicht neu, wir kennen sie mindestens seit zwei Jahrzehnten, und so wird es hohe Zeit,
endlich gegenzusteuern.
Das soll nun nach dem Willen der Koalition durch einen Exzellenzwettbewerb geschehen. Auch wenn nach
Aussage des Staatssekretärs gestern in der Fragestunde
anders als bei der anderen Exzellenzinitiative ein Drittel
der Hochschulen vom Wettbewerb profitieren soll, bleiben zwei Drittel außen vor. Wir brauchen aber in allen
Hochschulen, die Lehramtsstudiengänge anbieten, eine
exzellente Lehrerausbildung, damit alle Schulen und
alle Schülerinnen und Schüler davon profitieren können.
Mit einem solchen Wettbewerb, wie ihn die Koalition
ausgerufen hat, steht zu befürchten, dass die Schere zwischen guter und weniger guter Ausbildung weiter auseinandergeht, dass ganze Generationen von Lehramtsstudierenden abgehängt werden und in ihrem Studium
auch in den nächsten Jahren eben nicht die nötigen
professionellen Voraussetzungen für ihre berufliche Tätigkeit erhalten werden.
Angehende Lehrerinnen und Lehrer von Hochschulen, die eben keine durch den Wettbewerb sanktionierte
Anerkennung einer exzellenten Ausbildung aufweisen
können, werden dann vorrangig in Ländern eine Anstellung bekommen, die nicht so viel zahlen können wie die
reichen Länder, während an Exzellenzhochschulen ausgebildete Lehrkräfte eben von den besser situierten Ländern mit Kusshand genommen werden.
So mutet es denn schon eigentümlich an, und man
fragt sich, ob es gnadenlose Ahnungslosigkeit ist oder
bodenlose Überheblichkeit, wenn mein Kollege Florian
Hahn aus Bayern völlig abenteuerlich in seiner Rede
der vergangenen Woche mutmaßt, dass die unterschiedlichen Lehrerausbildungen für die unterschiedlichen
PISA-Ergebnisse in den einzelnen Bundesländern verantwortlich seien. Hat er vielleicht schon einmal etwas
von den unterschiedlichen sozialen Hintergründen von
Familien gehört und ihre Auswirkungen auf die Bildungsergebnisse von Kindern und Jugendlichen? Das
kann man tatsächlich in den PISA-Studien nachlesen.
Das andere nicht!
Guter, professioneller Unterricht und ein gutes Schulklima sind aber schon eine wichtige Voraussetzung für
das Gelingen von Bildung. Aber guter zeitgemäßer Unterricht kann heute weder mit dem Handwerkszeug des
vergangenen Jahrhunderts überall gewährleistet werden
noch mit den Defiziten, die sich in den vergangenen
Jahrzehnten in die Lehramtsausbildung eingeschlichen
haben.
Darum haben wir unseren weitergehenden Antrag
heute eingereicht und hoffen, dass die einseitige Orientierung auf einen Exzellenzwettbewerb durch viele mit
den Ländern abgestimmte und zwischen den Ländern
koordinierte Maßnahmen an allen Hochschulen, die
eine Lehramtsausbildung anbieten, verändert werden
kann.
Dabei konzentrieren wir uns auf drei grundsätzliche
Forderungen:
Erstens. Wir wollen eine Qualitätsoffensive in der
Lehramtsausbildung, in der die von der Kultusministerkonferenz entwickelten Qualitätsstandards an allen
Hochschulen und allen Lehramtsstudiengängen von Anfang an implementiert werden. Wir wollen erreichen,
dass pädagogisches Professionswissen einen weit höheren Stellenwert erhält und das gesamte Studium in allen
seinen Bestandteilen auf den pädagogischen Beruf ausgerichtet wird. Dazu gehören für uns die aktuellen
Ergebnisse der Bildungswissenschaften ebenso wie sozialpädagogische, psychologische, diagnostische Fähigkeiten, die Fähigkeit im Umgang mit heterogenen Lerngruppen und die Umsetzung von inklusiver Bildung,
aber auch eine deutlich stärkere Praxisorientierung und
Praxiserfahrung von Anfang an.
Wir wollen, dass die schulartenorientierte Ausbildung abgeschafft und durch eine schulstufenbezogene
Ausbildung ersetzt wird. Dafür gibt es vor allem pädagogische Begründungen, aber auch die größere Mobilität für den Einsatz von Lehrenden zwischen den unterschiedlichen Schulformen und zwischen den Ländern
gebietet eine solche Entwicklung. Zudem muss das Auseinanderdriften der Lehramtsausbildung zwischen den
Ländern und in Bezug auf unterschiedliche Schulformen
Zu Protokoll gegebene Reden
beendet werden. Es ist doch nicht erklärbar, warum
Grundschullehrerinnen mit einer kürzeren Ausbildung
auskommen sollen als beispielsweise Lehrerinnen und
Lehrer am Gymnasium. Auch die bisherige zweite Phase
der Lehrerausbildung bedarf einer Überprüfung.
Weiterhin hat die Anhörung der Experten am vergangenen Montag im Bundestag bestätigt, dass die Stufung
der Lehramtsausbildung in Bachelor und Master überdacht werden muss, weil mit dem Bachelor kein berufsqualifizierender Abschluss erreicht werden kann.
Zweitens. Wir wollen, dass der Hochschulpakt zu Bereitstellung von zusätzlichen Studienplätzen auf 600 000
Plätze deutlich aufgestockt wird und darunter ein beträchtlicher Anteil für Lehramtsstudienplätze reserviert
wird. Wer sich in ein gestuftes Studium mit Bachelor und
Master eingeschrieben hat, soll ein Recht auf den Masterstudiengang haben.
Drittens. Bildung ist ein umfassender Prozess, und
wenngleich die Schule darin eine zentrale Rolle spielt,
findet sie nicht nur in der Schule statt. Pädagogische Berufe gibt es also nicht nur an Schulen, und auch in Schulen werden in der Zukunft noch stärker unterschiedliche
pädagogische Professionen zusammenarbeiten müssen.
Darum ist es uns wichtig, dass nicht nur der Beruf des
Lehrers oder der Lehrerin deutlich aufgewertet wird und
mehr gesellschaftliche Achtung erhält, sondern alle pädagogischen Berufe von der frühkindlichen Bildung bis
zur Weiterbildung, von der Musikschulpädagogin bis
zum Sozialarbeiter.
Wir hoffen, dass unser Antrag weiter zum Nachdenken anregt und vor allem in der Koalition zu einem Umdenken führt. Wir freuen uns auf die Beratung in den
Ausschüssen.
Es ist offenkundig, dass es einen großen Reformbedarf bei der Lehrerbildung gibt. Das hat nicht zuletzt das
öffentliche Fachgespräch im Bildungsausschuss des
Bundestags am 25. Juni gezeigt. Eine Modernisierung
der Lehrerbildung ist überfällig, die geplante Bund-Länder-Initiative muss daher ein Erfolg werden.
Alle Kinder und Jugendlichen brauchen Lehrerinnen
und Lehrer mit starken fachlichen, ({0})didaktischen,
pädagogischen, diagnostischen, methodischen und psychologischen Kompetenzen. Eine moderne Lehrerausbildung muss Pädagoginnen und Pädagogen auf die neuen
großen gesellschaftlichen Herausforderungen vorbereiten. Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer, die individuell fördern, mit heterogenen Lerngruppen professionell
umgehen sowie Inklusion und Integration umsetzen können.
Über die notwendigen Ziele einer Reform der Lehrerausbildung scheint sich zwischen den Fraktionen zunehmend Einigkeit zu entwickeln. Das zeigt auch der Antrag
der Fraktion Die Linke, bei dem - bezogen auf die Ausbildungsziele angehender Lehrkräfte - vieles zu begrüßen ist und von uns geteilt wird. Allerdings wird in dem
Antrag der Aspekt der Fort- und Weiterbildung leider
gänzlich ausgeblendet. Niemand kann und darf warten,
bis es zu einem kompletten Austausch der Lehrkräfte gekommen ist. Fort- und Weiterbildung müssen gleichrangig zur Ausbildung von Lehrkräften gesehen werden.
Bei allen interfraktionellen Gemeinsamkeiten der
Ziele ist im Fachgespräch des Bildungsausschuss einmal mehr offenkundig geworden, dass weder Bundesregierung noch die Regierungsfraktionen ein klares Konzept für die Verbesserung der Lehrerbildung und ihre
angekündigte Exzellenzinitiative haben. Von der Qualitätsmessung über das konkrete Wettbewerbs- und Auswahlverfahren bis hin zur Etatisierung gibt es zahlreiche
Fragezeichen.
Wenig aufschlussreich ist auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage unserer Fraktion,
Bündnis 90/Die Grünen, mit dem Titel Programm zur
Verbesserung der Lehrerbildung. Ministerin Schavan
bleibt Antworten schuldig zu Zielrichtung, Umfang,
Kosten und Start einer Bund-Länder-Qualitätsoffensive
Lehrerbildung. 16 der 29 Fragen sind gar nur mit dem
Satz beantwortet, man befinde sich mit den Ländern in
Verhandlungen. Es gibt also derzeit mehr Unklarheit als
Klarheit über das Programm.
Diese dünne Antwort des BMBF steht im krassen Gegensatz zu den Details, die Ministerin Schavan medial
bereits im Frühjahr präsentiert hat. Da ist von 10 bis
16 „Zukunftskonzepten“ die Rede, von einer Fördersumme von jeweils 16 Millionen Euro im Jahr für eine
einzelne Hochschule und auch davon, dass die Initiative
bei einer Laufzeit von zehn Jahren mit insgesamt
500 Millionen Euro unterlegt werden soll. Anstatt Verwirrspielchen und Desinformation zu betreiben, muss
zügig ein konsensfähiges Konzept für eine Bund-LänderInitiative Lehrerbildung auf den Tisch. Dabei sollte sich
Schwarz-Gelb weder begrifflich noch methodisch auf
die Exzellenzinitiative beziehen, sondern eher den Qualitätspakt Lehre zum Vorbild nehmen. Auf diese Weise
ließe sich echte Breitenwirkung statt Leuchtturmcharakter erreichen.
Ebenso falsch wie eine isolierte Exzellenzinitiative ist
die Forderung der Fraktion Die Linke, mit der geplanten
Qualitätsoffensive Lehrerausbildung alle Hochschulen
auf einmal zu bedenken. Statt eines wenig zielgenauen
Gießkannenprinzips brauchen wir eine breit angelegte
und wirksame Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Das
bedeutet, dass eine Förderung daran gekoppelt werden
sollte, ob eine Hochschule ein schlüssiges, für förderfähig befundenes Konzept vorlegt, wie sie die Lehrerbildung vor Ort verbessern will - so wie es unter anderem
der Sachverständige der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft, GEW, während des Fachgesprächs im Bildungsausschuss skizziert hat.
Ein Förderprogramm von Bund und Ländern zur Verbesserung der Lehrerbildung sollte gute Beispiele unterstützen, die dann Impulse für die Verbesserung der Lehrerbildung an anderen Hochschulen auslösen. Solch ein
weitreichendes Programm, das Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften letztlich an allen Hochschulen
in Bewegung bringen hilft, hat unsere Unterstützung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch hier wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Republiken Sudan und Südsudan stabilisieren
- Drucksache 17/10095 Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Mit dem zweiten fraktionsübergreifenden Antrag zu
Sudan und Südsudan setzt der Deutsche Bundestag
heute ein wichtiges Zeichen. Ich begrüße es sehr, dass
wir heute nach dem Antrag vom März 2010 ({0}) erneut interfraktionell unser
Engagement in dieser wichtigen Region Afrikas demonstrieren und mit unserem Antrag das Engagement
Deutschlands für den Frieden im Sudan und im Südsudan aufzeigen. Aus unserem Anstoß wurde damals auch
ein gemeinsamer Antrag mit den geschätzten Kollegen
der SPD, FDP und den Grünen, der mit zur Grundlage
des intensiven Engagements Deutschlands für den Frieden wurde, insbesondere in den Zeiten, als wir noch um
die friedliche Trennung des Sudan bangten.
Der Südsudan ist am 9. Juli 2011 als 193. Staat der
Völkergemeinschaft beigetreten. Die Trennung verlief
friedlich. Bedauerlicherweise hat sich die Lage in den
letzten Monaten wieder verschlechtert. Unser neuer interfraktioneller Antrag kommt daher genau zur rechten
Zeit; denn in den letzten Wochen und Monaten gab es erneut Krieg und Gewalt, mussten Kinder vor Bombenangriffen fliehen, leiden Menschen Hunger, erleben die
Menschen Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz und
vielfach überleben sie nicht.
Noch vor wenigen Wochen gab es erbitterte Kämpfe
zwischen den Truppen beider Länder, zwischen Rebellen
und Milizen um die Ölinstallationen in Heglig, in
Darfur, in Südkordofan und Blue Nile. Ein umfassender
Krieg zwischen Sudan und Südsudan musste befürchtet
werden. Die Grenzprobleme zwischen Nord- und Südsudan, die Aufteilung der Öleinnahmen und die AbyeiFrage sind immer noch ungelöst. Dazu kommt die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in
beiden Ländern. Aufgrund der weggefallenen Öleinnahmen ist die Inflation in Nord- und Südsudan mittlerweile
auf bis zu 80 Prozent angestiegen. In Khartoum nimmt
die Arbeitslosigkeit zu, im Südsudan grassieren Hunger
und Armut. Grundnahrungsmittel für die arme Bevölkerung beider Länder werden für die meisten Menschen
unerschwinglich. Der Entwicklungsprozess ist nahezu
völlig zum Stillstand gekommen.
Die Afrikanische Union hat sich bei der Lösung des
Konflikts zwischen Nord- und Südsudan hohen Respekt
verschafft. Besonders das African Union High-Level Implementation Panel on Sudan, AUHIP, mit Vermittler
Thabo Mbeki drängt auf tragfähige Lösungen. Die afrikanischen Vermittler riefen mit dem Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen - auch auf deutsche Initiative hin die Konfliktparteien ultimativ auf, sich ernsthaft und
konstruktiv an Friedensgesprächen zu beteiligen.
Ich begrüße an dieser Stelle ausdrücklich das unermüdliche Engagement der erwähnten Institutionen, um
die Verhandlungen in Addis Abeba wieder aufzunehmen.
Wir hören von dort, dass sich die Konfliktparteien
grundsätzlich auf eine Demilitarisierung des Grenzgebietes zwischen Sudan und Südsudan geeinigt haben.
Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Weitere
Schritte hin zum Frieden und zum Ausgleich zwischen
beiden Ländern müssen jedoch unmittelbar folgen.
Dabei ist auch der Deutsche Bundestag gefragt, sein
Engagement für Frieden und Sicherheit zu verstärken.
Unser Ansatz der vernetzten Sicherheit und Entwicklung
muss weiter ausgebaut werden. Die Missionen der Vereinten Nationen im Sudan müssen zum Erfolg führen und
die Durchsetzung der Menschenrechte in beiden Ländern müssen unterstützt werden. Wir können unsere
Partnerschaft mit Afrika auch und gerade am Beispiel
Sudan beweisen.
Mit unserem Antrag setzt der Deutsche Bundestag auf
einen friedlichen Ausgleich zwischen Nord- und Südsudan. Wir sollten auch weiterhin die Afrikanische Union
bei ihren Friedensbemühungen unterstützen. Die Bundesregierung hat bisher sehr gute Arbeit geleistet. Diese
muss weitergeführt werden.
Das Länderkonzept der Bundesregierung für den Sudan bildete eine gute Grundlage für die kritische Zeit
nach der Trennung des Südsudan von Khartoum. Die
Lage hat sich inzwischen spürbar verändert. Hier gilt
es, jetzt für beide Länder entsprechende konzeptionelle
Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln, die eine angemessene Reaktion auf die Veränderungen in Nord und
Süd erlauben. Frieden, Sicherheit und wirtschaftliche
Entwicklung müssen unter Einhaltung der Menschenrechte vorangebracht werden. Mitspracherechte für alle
Sudanesen, eine demokratische Öffnung, Transparenz in
der Regierungsführung sind Schritte, die umgehend eingefordert werden müssen. Sie haben sicher ebenso mit
Erstaunen zur Kenntnis genommen, dass der Staatspräsident des Südsudans, Salva Kiir Mayardit, von seinen
ehemaligen und derzeitigen Ministern sage und schreibe
vier Milliarden Dollar zurückgefordert hat, die diese
unterschlagen haben sollen. Hier gilt es genau hinzuschauen, wenn wir auch mit deutschen Geldern beim
Aufbau des Südsudan helfen wollen.
Bei der Umsetzung dieser Forderungen leisten die
deutschen Soldaten und Polizisten in den Missionen der
Vereinten Nationen UNMISS und UNAMID einen
wesentlichen Beitrag. Sie kennen Art und Umfang des
deutschen Engagements, das eng mit unseren internationalen Partnern abgestimmt wurde. Wir haben die Mandate hier im Bundestag mit überwältigender Mehrheit
beschlossen. Es ist gut, dass der Bundestag in dieser
Frage geschlossen dafür eintritt, dass in der Region
nachhaltig Frieden und Entwicklung vorangebracht
wird.
An dieser Stelle möchte ich den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten, die dort unter
extrem schwierigen Bedingungen ihre Aufgaben erfüllen, Dank und Anerkennung aussprechen. Die Kollegen,
die den Südsudan bereist haben, wissen, unter welchen
Entbehrungen und Unwägbarkeiten unsere Soldaten
dort ihren Dienst tun. Dies verdient unseren Respekt.
Dies gilt in gleicher Weise für die engagierten Mitarbeiter von Entwicklungshilfeorganisationen, humanitären und Nichtregierungsorganisationen, die unter
schwierigsten Bedingungen vor Ort tätig sind.
UNMISS im Südsudan und UNAMID in Darfur müssen weiter unterstützt und ihre Aufgaben erfolgreich
umgesetzt werden. Wenn - wie beabsichtigt - die VNÜberwachung der demilitarisierten Grenzzone zwischen
Nord- und Südsudan eingerichtet wird, sollten wir uns
einer Beteiligung nicht verweigern. Solche Einsätze
stärken das Mandat der Vereinten Nationen und leisten
einen maßgeblichen Beitrag zum Frieden in Afrika. Sie
sollten auch zum Markenzeichen für erfolgreiche deutsche Streitkräfteeinsätze im Dienste des Friedens werden.
Bei den kleinen erkennbaren Fortschritten in der Entwicklung des Sudans und des Südsudans dürfen wir unsere Augen vor elementaren Menschenrechtsverletzungen nicht verschließen. Wir hören von der Zerstörung
von Kirchen in Khartoum, der Verhaftung von Demonstranten und Oppositionellen, von der Zensur von Medien. Diese Missstände werden wir weiterhin entschieden anprangern.
Wir hören von massiver Korruption und einem nach
wie vor stockenden Verfassungsprozess im Südsudan.
Die Trennung wurde erreicht, nun muss immer wieder
auch den Entscheidungsträgern für die Entwicklung des
Landes ihre Verantwortung verdeutlicht werden.
An das Leid der Zivilbevölkerung in den Provinzen
Darfur, Südkordofan und Blue Nile werden wir erinnern,
solange die Probleme nicht gelöst sind. Rebellen und
Regierung müssen die Kampfhandlungen sofort einstellen und Hilfsorganisationen umfassenden humanitären
Zugang gewähren.
Sudan und Südsudan müssen einen Frieden miteinander begründen und auf jegliche Gewaltanwendung verzichten. Beide Länder sind aufeinander angewiesen. Ihr
Ausgleich ist wichtig für Stabilität und Prosperität in der
gesamten Region am Horn von Afrika. Wir setzen uns für
einen gerechten Ausgleich zwischen Khartoum und Juba
ein: in der Frage der Produktion und der Aufteilung der
Ölressourcen, bei der Bestimmung der Grenzen zwischen Nord und Süd, in Fragen des Aufenthaltsrechts
von Nord- und Südsudanesen im jeweils anderen Staatsterritorium.
Wir fordern von dieser Stelle die Verantwortlichen
der sudanesischen, und der südsudanesischen Regierung sowie die Führer der SPLM in diesen Gebieten auf,
sofort die Waffen niederzulegen und die Vermittlung der
Afrikanischen Union anzunehmen.
In der umstrittenen Provinz Abyei ist es der Mission
der Vereinten Nationen UNISFA gelungen, Kämpfe zwischen Nord und Süd zu verhindern. Khartoum und Juba
haben in einem unlängst unterzeichneten Abkommen
dem Truppenabzug, einer gemeinsamen Verwaltung und
einem Krisenlösungsmechanismus zugestimmt. Diese
Vereinbarung gilt es jetzt tatsächlich umzusetzen. Hier
haben wir ein Beispiel, das auch in anderen Krisenregionen Afrikas Vorbild sein kann.
In Darfur geht es um die Implementierung des DohaFriedensabkommens. Keiner Konfliktpartei darf es erlaubt werden, den Friedensprozess für eigenes Hegemonialstreben zu missbrauchen.
Was in Europa großes Thema ist, gilt auch im Sudan.
Konkrete Aufbaumaßnahmen müssen den Prozess begleiten. Dem Aufbau des Südsudan und der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sowie der Stärkung
der Zivilgesellschaft widmet die Bundesregierung besondere Aufmerksamkeit. Das entwicklungspolitische
Engagement Deutschlands sollte insbesondere die Lage
der zivilen Bevölkerung verbessern. Der Aufbau einer
Wasserversorgung auch in der Fläche im Südsudan, der
Aufbau funktionierender Verwaltungsstrukturen und die
Entwaffnung und Demobilisierung von Exkombattanten
zählen nach wie vor zu den Schwerpunkten der Entwicklungshilfe der Bundesregierung.
Wir dürfen aber auch den Wiederaufbau in Darfur
und in den anderen Landesteilen Sudans nicht vergessen. Viele Rebellengruppen stehen Gewehr bei Fuß und
warten bis heute noch vergeblich auf eine Friedensdividende.
Das von UNAMID erarbeitete Rahmenabkommen für
den Friedensprozess in Darfur verdient durch konkrete
Hilfsmaßnahmen vor Ort unterstützt zu werden. In Darfur müssen wieder Bedingungen herrschen, die es den
Menschen erlauben, die Flüchtlingslager zu verlassen
und in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückzukehren. Dazu gehört die Überführung von humanitärer
Hilfe in Wiederaufbaumaßnahmen, in den Aufbau von
Schulen, Straßen, Gesundheitseinrichtungen und die
Förderung von Handel und Gewerbe, aber natürlich
auch die Stärkung von Menschenrechten, von Gerechtigkeit, Partizipation und Freiheit. Diese Forderungen gelten auch für den Ostsudan und - wenn die Kämpfe zum
Stillstand gekommen sind auch für die Provinzen Südkordofan und Blue Nile.
Auch wenn sich die Früchte nicht immer sofort erkennen lassen, dürfen wir nicht aufhören, uns für Frieden,
Demokratie und Menschenrechte im Sudan und im
Südsudan einzusetzen. Wir müssen den Friedensprozess
in beiden Ländern stärker unterstützen und diesen in absehbarer Zeit zu einem guten Ende zu bringen.
Die Menschen im Sudan und im Südsudan sind
kriegsmüde.
Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu unserem
Antrag. Er ist ein Zeichen unseres Einsatzes für den
Zu Protokoll gegebene Reden
Frieden und Ausgleich und den wichtigen Teil unseres
Engagements für die Republiken Sudan und Südsudan.
In dieser Legislaturperiode standen die Republiken
Sudan und Südsudan bereits mehrmals auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Als wir vor ziemlich genau einem Jahr das Mandat für die United
Nations Mission in the Republic of South Sudan,
UNMISS, verabschiedet haben, wussten wir zwar, dass
der Südsudan eine schwierige Ausgangslage haben
würde. Nichtsdestotrotz haben wir unsere Hoffnung auf
eine positive und dynamische Entwicklung in der jungen
Republik sowie auf eine stabile Beziehung zu dem neuen
Nachbarstaat Sudan nicht aufgegeben.
Im April dieses Jahres konnte ich den Südsudan besuchen, um mir selbst ein Bild der Situation zu machen. In
meiner Rede möchte ich mich deshalb auf den Südsudan
konzentrieren, um Ihnen meinen Eindruck von der Lage
vor Ort zu schildern. Und ich möchte gleich vorwegnehmen: Obwohl ich durch Berichte im Vorfeld bereits auf
die verheerende Situation im Südsudan vorbereitet war,
hat die Realität meine Erwartungen noch weiter gedämpft und meine Hoffnung aus dem Juli 2011 im
Grunde zunichtegemacht.
Im Rahmen meiner Reise habe ich Gespräche mit Repräsentanten von UNMISS, Soldaten der Bundeswehr,
der Polizei, Vertretern der südsudanesischen Regierung
sowie mit Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen geführt. Der Konflikt mit dem Sudan sowie die innerstaatlichen ethnischen Konflikte waren die beherrschenden Themen. Gerade in den Gesprächen mit
südsudanesischen Politikern bekam ich das Gefühl, dass
daneben die dringende Notwendigkeit einer ökonomischen Entwicklung des Südsudans in den Hintergrund
gerät. Der Verzicht auf 98 Prozent der Staatseinnahmen
aus dem Ölverkauf wurde unisono als besser bezeichnet,
als sich vom Sudan bei der Durchleitung des Öls bestehlen zu lassen. Die verheerenden Folgen dieser Politik
wurden ausgeblendet. Für mich stellt die fehlende wirtschaftliche Entwicklung, die Unfähigkeit der Regierung,
dies zu ändern, und die daraus resultierende Perspektivlosigkeit der Südsudanesen das Hauptproblem des Landes dar.
In den internationalen Medien taucht die Region
meist nur auf, wenn es Tote und Verwundete gibt. Über
die anderen Probleme wird meist nur am Rande berichtet. Ich begrüße es deswegen sehr, dass wir heute einen
Antrag debattieren, der sich auf zwölf Seiten intensiv mit
der Situation vor Ort beschäftigt und Möglichkeiten aufzeigt, wie die Bundesregierung, aber auch die internationale Staatengemeinschaft den Südsudan und den Sudan effektiver unterstützen kann. Dafür möchte ich mich
bei meinen Kolleginnen und Kollegen im federführenden
Auswärtigen Ausschuss bedanken.
Die Kämpfe zwischen dem Sudan und dem Südsudan
sind in den vergangenen Monaten immer wieder eskaliert. Während meiner Reise kam es zu einer Zuspitzung
im Konflikt um das umstrittene Ölfeld Heglig und zur
Bombardierung der Stadt Bentiu durch den Sudan. Die
UN-Mission UNMISS leistet trotz der schwierigen Situation jedoch sehr gute Arbeit. Ich habe hochmotivierte
Soldaten, Polizisten und zivile Mitarbeiter getroffen.
Ihnen möchte ich für ihr Engagement aufrichtig danken.
Ihre Arbeit unter diesen schwierigen Bedingungen verdient unser aller Anerkennung. Trotz der großen Leistung der UNMISS-Kräfte ist die Mission im Verhältnis zu
den immensen Herausforderungen zu klein und vor
allem nicht mobil genug. Die Mission hat demzufolge
keine Möglichkeit, in der Fläche wirkungsvoll präsent
zu sein.
Besonders verheerend stellt sich die Situation der
südsudanesischen Polizei dar, die ich Ihnen kurz schildern möchte. Unter Begleitung eines deutschen Polizisten habe ich in Juba eine Polizeistation sowie die dortige Kriminalpolizei besucht. Die Arbeitsbedingungen
bzw. die Ausstattung der Polizisten kann nur als unzureichend beschrieben werden. Es fehlt an den grundlegendsten Ressourcen, wie zum Beispiel Fahrzeugen oder
Funkgeräten, um gegen Kriminalität vorgehen zu können, geschweige denn Ermittlungen anstellen zu können.
Dies trägt zu einer sehr niedrigen Arbeitsmoral und
einem hohen Korruptionsaufkommen unter den südsudanesischen Polizisten bei. Die Haftbedingungen in der
Polizeistation, insbesondere die Zustände in den Arrestzellen, sind katastrophal. Auch in unseren Debatten liegt
der Fokus oft auf der Armee. Eine zumindest einigermaßen funktionierende Polizei wäre aber für die Menschen
vor Ort mindestens genauso wichtig. Davon sind aber
die Einrichtungen, die ich dort besucht habe, meilenweit
entfernt. Die internationale Staatengemeinschaft muss
dem dringend mehr Aufmerksamkeit widmen.
Wir verabschieden heute den zweiten interfraktionellen Antrag in dieser Legislaturperiode, der sich mit dem
Sudan bzw. Südsudan beschäftigt. Für mich ist es wichtig, dass wir dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung setzen und der Region Beachtung schenken.
Auch mit unserer Unterstützung wurde der Südsudan zu
einem unabhängigen Staat und zum 193. Mitglied der
Vereinten Nationen. Jetzt gilt es, unser Engagement fortzusetzen und dem Sudan und Südsudan noch stärker unter die Arme zu greifen. Unser Ziel ist es, dass in Zukunft
zwei Nachbarstaaten entstehen, deren staatliche und
wirtschaftliche Entwicklung nachhaltige Erfolge zeigt
und die sich in einer stabilen Beziehung zueinander
befinden. Unser interfraktioneller Antrag ist hierfür ein
weiterer wichtiger Schritt.
Zuallererst möchte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass es gelungen ist, einen interfraktionellen Antrag zur äußerst schwierigen und komplexen Situation
zwischen Sudan und Südsudan zu verabreden. Ausdrücklich möchte ich mich bei allen Beteiligten dafür
bedanken. Das ist, wie ich glaube, ein sehr wichtiges,
aber auch notwendiges Signal an alle, die die Menschen
im Sudan und Südsudan unterstützen wollen, und für die
Menschen dort selbst.
Gerade jetzt ist es richtig und wichtig, diese Region
wieder in das Bewusstsein der Menschen zu rufen und in
Zu Protokoll gegebene Reden
das Zentrum der politischen Debatte zu rücken, das
nicht zuletzt deshalb, weil der Konflikt sich in den vergangenen Wochen immer weiter verschärft hat. Die
Situation ist immer noch sehr kritisch und anfällig. Am
10. April eskalierten die militärischen Auseinandersetzungen, und die Intensität der Auseinandersetzungen bewog viele Beobachter dazu, bereits von kriegerischen
Verhältnissen zu sprechen. Die Gründe dafür sind komplex und werden in unserem gemeinsamen Antrag ausführlich dargestellt. Ein Hauptproblem ist, dass über
den künftigen Status der sudanesischen Bundesstaaten
Blauer Nil und Südkordofan keine Entscheidungen in
Sicht sind. Offen sind weiterhin die Aufteilung der Einnahmen aus den Öl-Ressourcen sowie der genaue
Grenzverlauf zwischen Nord und Süd. Das humanitäre
Leid der Bevölkerung, insbesondere in den Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan, nimmt als Folge der gewalttätigen Auseinandersetzungen über diese Fragen
stetig zu. Nach Angaben des UNHCR sind circa 185 000
Flüchtlinge aus Südkordofan und Blauer Nil nach
Südsudan und Äthiopien geflohen. Mehr als 400 000
Personen sind vertrieben worden. Aufgrund andauernder bewaffneter Konflikte sowie Nahrungsmittel- und
Wasserknappheit können Flüchtlinge den Sudan nicht
verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Zugang
zu den umkämpften Regionen ist internationalen humanitären Organisationen durch die sudanesische Regierung bisher untersagt. Aufrufen der Vereinten Nationen,
der Afrika-nischen Union und der Arabischen Liga, den
humanitären Zugang zu gewähren, ist die sudanesische
Regierung bisher nicht nachgekommen. Vor diesem Hintergrund verdient die Lage im Sudan und der Region
dringende verstärkte Aufmerksamkeit.
In dieser sehr schwierigen Situation ist es notwendig,
die Bundesregierung aufzurufen, die Resolution 2046
({0}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
2. Mai 2012 und den Friedensfahrplan der Afrikanischen Union zur Lösung der Konflikte zwischen Sudan
und Südsudan tatkräftig mit allen Mitteln zu unterstützen. Auch ist es richtig und wichtig, dass wir gemeinsam
die Bundesregierung aufrufen, sich im VN-Sicherheitsrat weiterhin für robuste und der jeweiligen Situation
angemessene Mandate starkzumachen, um ein flexibles
Eingreifen der VN-Friedensmissionen vor Ort zu ermöglichen. Ohne hierbei die Richtigkeit dieser Forderung
oder den Antrag als Ganzes infrage stellen zu wollen,
wäre es natürlich wünschenswert gewesen, die Rolle
Deutschlands in diesem Zusammenhang etwas intensiver und konkreter zu diskutieren.
Aus Sicht der SPD-Fraktion ist unser friedens- und
sicherheitspolitisches Engagement im Südsudan deutlich verbesserungsfähig und -würdig. Die momentane
Laptop Botschaft in Juba mit einem Botschafter, einer
eigentlich schon pensionierten Verwaltungskraft, einer
deutschen Ortskraft und zwei Fahrern ist unangemessen
und entspricht unter keinen Umständen den zur Unabhängigkeit gemachten Zusagen. Insbesondere den immer wieder aus dem Parlament zu Recht eingeforderten
Möglichkeiten und Notwendigkeiten aktiver Krisenprävention bzw. Konfliktbearbeitung kann damit nicht entsprochen werden.
Von besonderer Bedeutung ist es, dass unser gemeinsamer Antrag Sudan und Südsudan als zwei eigenständige souveräne Staaten mit einer eigenständigen
Außen- und Sicherheitspolitik behandelt und eine dementsprechende Analyse der Lage, aber auch angemessene Forderungen enthält. Das klingt zwar ein Jahr nach
dem vollzogenen Schritt selbstverständlich, hat aber leider immer noch nicht durchgehend Eingang gefunden in
die alltägliche Praxis des Regierungshandelns. So ist es
bedeutsam und nicht überflüssig, dass wir gemeinsam
mit der Regierungskoalition dazu aufrufen, dass auch die
Bundesrepublik eine eigenständige Politik gegenüber
den zwei UN-Mitgliedsländern Südsudan und Sudan umsetzen und dafür differenzierte Konzepte und Strategien
erarbeiten sollte.
Wichtig ist zudem die von vielen NGOs formulierte
Forderung, gemeinsam mit unseren EU-Partnern ein kohärentes Regionalkonzept für den Umgang mit Sudan
und Südsudan zu entwickeln, das auch die unterschiedlichen Rollen und Interessen der Länder in der Region beachtet, auf die Stabilisierung der Region abzielt sowie
die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten angesichts schwacher staatlicher Strukturen berücksichtigt.
Alle diese Forderungen und Aktivitäten sind richtig,
und es gilt, sie weiterzuverfolgen, wo doch gerade die
Auseinandersetzungen zwischen Nord- und Südsudan,
die humanitäre sowie die menschenrechtlich desaströse
Lage ein gemeinsames Handeln erfordern. Aber machen
wir uns nichts vor: Unser Antrag kann nur ein erster
kleiner Schritt sein, wenn die Bundesregierung diesen
denn überhaupt zu gehen bereit ist. Ich hoffe das im
Geiste unseres gemeinsamen Vorgehens sehr.
Abgesehen von unserem derzeitigen Antrag sollten
wir bei einer weiteren Eskalation der Situation aber
auch über weitreichende Maßnahmen nachdenken. Es
wäre überlegenswert, UNMISS nicht nur im Landesinneren, sondern gerade auch in den Grenzregionen einzusetzen. Denn es ist unübersehbar, dass sich die Situation
seit der Mandatsentscheidung dramatisch verändert hat.
Ist seinerzeit dieses Mandat auf der Grundlage der Entwicklung friedlicher Beziehungen verabschiedet worden, so muss es bei der Verlängerung darum gehen, das
Mandat den veränderten Bedingungen anzupassen und
die dafür nötigen Mittel bereitzustellen. Wir fordern die
Bundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrates dringend auf, sich nachdrücklich für eine solche Veränderung einzusetzen.
Auch über den Einsatz von Sanktionsmechanismen
muss weiter nachgedacht werden. Wir sollten bei einer
Verschlimmerung der Lage und bei fehlender Zusammenarbeit bei der Deeskalation und Krisenbewältigung
durch die Eliten von Sudan und Südsudan in Erwägung
ziehen, deren Reisefreiheit einzuschränken. Damit
könnte man die Verantwortlichen persönlich treffen und
zu Verhandlungen bewegen, insbesondere wenn deren
Familien sich im Ausland aufhalten, etwa in Uganda
oder Australien. Zu überlegen ist zudem, hochrangige
Delegationsreisen in die EU einzuschränken, solange es
keine substanziellen Verhandlungen zwischen Sudan und
Zu Protokoll gegebene Reden
Südsudan gibt. All das sollte im Fall einer weiteren Eskalation angedacht werden, auch um auf die Regierungen der Republik Sudan und des Südsudan einzuwirken,
die Kultur der Straflosigkeit zu beenden, Prozesse gegen
mutmaßliche Kriegsverbrecher zu eröffnen, laufende
Verfahren des IStGH zu unterstützen und mit dem IStGH
zusammenzuarbeiten.
Es ist ein gutes politische Signal, dass uns dieser interfraktionelle Antrag gelungen ist. Jetzt ist es an der
Bundesregierung, die Forderungen aus diesem bereits
zweiten interfraktionellen Antrag nicht nur zur Kenntnis
zu nehmen, sondern auch umzusetzen. Ich hoffe, sie wird
uns nicht enttäuschen; wir werden jedenfalls sehr intensiv darüber wachen, dass das passiert, damit der Druck
der Bundesregierung, der EU und der VN so bald wie
möglich zu einem nachhaltigen Frieden in der Region
führt, dass die Möglichkeiten des Staatsaufbaus insbesondere im Südsudan genutzt werden können.
Wir wissen, dass dies ein schwieriger Weg ist, der
nicht von außen allein gegangen werden kann. Deshalb
sollten die Anstrengungen auch darauf gerichtet sein,
vorhandene zivilgesellschaftliche Strukturen in beiden
Staaten zu stärken, mit den Regionalorganisationen und
der AU zusammenzuarbeiten, sie zu ermutigen, regionale Prozesse zur Friedensentwicklung und -stabilisierung in „African Ownership“ zu entwickeln und umzusetzen, und sie dabei nachhaltig zu unterstützen.
Die dramatischen Ereignisse nach der Teilung von
Sudan und Südsudan haben uns erschüttert. Die vergangenen Monate haben gar befürchten lassen, dass sich
die Auseinandersetzung vollends entfesseln könnte. Vor
diesem Hintergrund bin ich froh, dass wir heute, mit
Ausnahme der Linken, einen gemeinsamen Antrag auf
der Basis des Koalitionsantrags beschließen. Ich freue
mich, dass wir in konstruktiven Gesprächen zügig eine
Einigung finden konnten. Es ist wichtig, dass der Bundestag ein geschlossenes und somit entschlossenes Signal an die Beteiligten im Sudan und Südsudan sendet.
Ich möchte mich auch bei der Zivilgesellschaft - den
NGOs - bedanken, die vor Ort, in Veranstaltungen hierzulande und gemeinsam mit den Abgeordneten dieses
Hauses den schwierigen Entwicklungen im Sudan und
Südsudan unermüdlich zu entgegnen versucht.
Wir alle fordern die Konfliktparteien auf, den gerade
erst wieder aufgenommenen Verhandlungen eine echte
Chance zu geben. Die verbliebenen Fragen des umfassenden Friedensabkommens müssen gelöst werden;
denn das humanitäre Leid der Bevölkerung, insbesondere in den Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan,
ist unermesslich und nimmt weiter zu. Nach Angaben
von UNHCR sind circa 185 000 Flüchtlinge aus Südkordofan und Blauer Nil nach Südsudan und Äthiopien
geflohen. Mehr als 400 000 Personen sind vertrieben
worden. Die Zahlen steigen stündlich.
Der Zugang zu den umkämpften Regionen war internationalen humanitären Organisationen durch die sudanesische Regierung bisher untersagt. Die gestrigen Meldungen lassen jedoch hoffen; denn es scheint so, dass
die sudanesische Regierung im Zuge der Wiederaufnahme der Verhandlungen den Aufrufen der Vereinten
Nationen, der Afrikanischen Union, der Arabischen
Liga und des UN-Sicherheitsrats nachgekommen und
nun endlich doch bereit ist, den geforderten humanitären Zugang zu gewähren.
Gleichzeitig jedoch erreichen uns besorgniserregende Nachrichten über die Niederschlagung von Protesten in Khartoum. Politische Unfreiheit und die düstere ökonomische Lage, verschärft durch die im Zuge
des Konflikts fehlenden Öleinnahmen, bringen die meist
jungen Menschen auf die Straße. Ich warne die Regierung des Sudan davor, die für den morgigen Freitag angekündigte Großdemonstration niederzuschlagen. Die
Unterdrückung von Demonstrationen ist ganz sicher der
falsche Weg.
Deutschland unterstützt im Rahmen des Sudan-Konzepts die Vermittlungsbemühungen des African Union
High-Level Implementation Panel, AUHIP, unter Leitung von Thabo Mbeki. Wir setzen uns für einen verstärkten politischen Dialog zwischen Sudan und Südsudan, die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit sowie die
Durchführung von Sicherheitssektorreformen in beiden
sudanesischen Staaten ein. Deutsche Soldaten in den
VN-Friedensmissionen UNMISS und UNAMID leisten
hier anerkannte Beiträge zur Stabilisierung der Lage in
beiden Staaten.
An dieser Stelle will ich die Kritik von Amnesty International wiedergeben, das China, der Ukraine und dem
Sudan vorwirft, die internen Konflikte im Südsudan mit
Waffenlieferungen weiter anzuheizen. Die ohnehin
schon angespannte Situation in der Region braucht
internationale Unterstützung, die sich für einen friedlichen Ausgang einsetzt - und die diesen nicht zusätzlich
erschwert.
Im Südsudan selbst liegt der Fokus auf dem Aufbau
staatlicher Strukturen und Institutionen. Es ist wichtig,
die Führung im Südsudan eindringlich an die Verantwortung gegenüber ihren Bürgern, egal welcher ethnischer Zugehörigkeit, zu erinnern. Denn nötige politische
und administrative Strukturen, die für eine Bereitstellung öffentlicher Leistungen nötig wären, fehlen nach
wie vor. So bleibt eine Friedensdividende auch für die
Bevölkerung im Südsudan bisher aus. Hier muss sich
der eine oder andere - auch hierzulande - an die eigene
Nase fassen. Das Gut-Böse-Schema passt hier schon
lange nicht mehr - und es war noch nie ratsam.
Der Schlüssel zur langfristigen Stabilisierung der
Lage liegt, wie bereits angedeutet, im politischen Prozess. UNAMID, UNMISS und UNISFA sind wichtige,
aber keine ausreichenden Beiträge der internationalen
Gemeinschaft, um die Menschen zu schützen und dauerhaften Frieden zu fördern. Alle drei Missionen können
nur erfolgreich sein, wenn sie auf einen tragfähigen
Waffenstillstand sowie einen umfassenden Friedensprozess aufbauen können.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU und VN, insbesondere im Dialog mit der
Zu Protokoll gegebene Reden
AU, für die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie
für Sudan und Südsudan einzusetzen, die Wege zur politischen Lösung der Darfur-Krise mit einschließt und die
vollständige Umsetzung des umfassenden Friedensabkommens sicherstellt.
Seit Jahren begleiten die Bundesregierung und das
Parlament Sudan und - seit dem vergangenen Jahr Südsudan. Das Engagement in den verschiedensten Bereichen findet sich auch im Sudan-Konzept wieder, auf
dessen Basis wir den Weg der Zusammenarbeit fortsetzen wollen. Es muss nun aber an die Realität angepasst
werden. Wir haben zwei Staaten und eine Reihe von ungelösten Problemen zwischen und innerhalb von Sudan
und Südsudan, mit denen wir uns auseinandersetzen
müssen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Situation
in Darfur sagen.
Nach wie vor sind dort circa 2 Millionen Menschen
von humanitärer Hilfe abhängig. In den vergangenen
Monaten gab es neue Auseinandersetzungen. Mit anderen Worten, die Sicherheits- und Menschenrechtslage in
Darfur ist unverändert schlecht. Es ist daher wichtig,
dass wir die Situation in Darfur aufgrund der Konfliktlage zwischen den beiden Staaten nicht aus den Augen
verlieren. Das mag aufgrund der komplexen Gemengelage und der trüben Aussichten in beiden Fällen nicht
immer leicht fallen. Doch sind wir es den Menschen
schuldig, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und
unermüdlich nach neuen Lösungswegen zu suchen.
Die Lage in Sudan und Südsudan ist ernst. Über die
vergangenen Monate hat sie sich dramatisch zugespitzt,
und beide Staaten stehen am Abgrund eines Krieges, eines Krieges, der leider fast schon absehbar war und der
durch eine andere Politik hätte verhindert werden können!
Über die Lagebeschreibung sind wir uns immerhin
alle weitestgehend einig. Der ungewöhnlich ausführliche Feststellungsteil des vorliegenden Antrags von
CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ist in großen Teilen
durchaus zutreffend, beschreibt die komplexe Lage und
suggeriert das Bild von relativer Ausgewogenheit. So
werden Fehler, Versäumnisse und Herausforderungen
des Sudan und Südsudan gleichermaßen beschrieben.
Was ich aber vermisse, ist das Eingeständnis des eigenen Versagens. Diese Ehrlichkeit hätte Ihnen, werte
Antragsteller, als Ausgangspunkt Ihres Antrags gut zu
Gesicht gestanden. Auch nur so hätte dieser Antrag der
Auftakt für eine echte Wende in der deutschen SudanPolitik sein können.
Was wir hier rund um diesen Antrag erleben, ist eine
Posse, die mit reichlich Skurrilitäten nicht gerade sparsam umgeht. Zunächst bringt die Koalition diesen Antrag alleine ein - sichtbar mit heißer Nadel gestrickt:
Schaut man sich den Forderungsteil einmal genauer an,
so geht es hier um nichts weiter als eine Reproduktion
und Bekräftigung dessen, was auch schon in der Anfang
Mai vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution
2046 ({0}) steht, einer Resolution, an der die Bundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrates selber beteiligt war und zu der sie selbst in ihrer Antwort auf unsere
jüngste Kleine Anfrage sagt - ich zitiere: „Die Bundesregierung unterstützt die Resolution 2046 ({1}) … und
die darin enthaltenen Maßnahmen.“
Ja, wenn dem so ist, wofür brauchen Sie denn dann
diesen Antrag noch? Ich verrate es Ihnen: Sie trauen mit Recht - der eigenen Regierung nicht zu, aus den
schweren Fehlern der Vergangenheit zu lernen, ihre teils
fahrlässige Untätigkeit zu überwinden und nun angemessen auf die Situation zu reagieren.
Dann wird es immer abenteuerlicher: SPD und
Grüne betteln in der ersten Lesung förmlich um eine Beteiligung an diesem Antrag, den sie gleichzeitig kritisieren. Ihr Wunsch wurde ihnen von der Koalition gnädig
erfüllt. Es soll ein Signal der Geschlossenheit des Bundestages entstehen, wobei nicht einmal der Versuch unternommen wurde, die Linke mit einzubinden. Wir wissen, warum.
Eine ehrliche Analyse würde ergeben, dass es unverantwortlich war, entscheidende Fragen wie die des
Grenzverlaufs, des Status der umstrittenen Provinzen
Abyei, Blauer Nil und Südkordofan, der Schuldenaufteilung und -tilgung, des Status der Flüchtlinge, der Staatsbürgerschaftsfrage und der Entwaffnung und Demilitarisierung, nicht vor der Unabhängigkeit des Südsudan
vor einem Jahr zu klären. Zudem wird fortgesetzt - auch
im Forderungsteil Ihres Antrags - einseitig Stellung für
den Südsudan bezogen. Die Auswertung der Antwort auf
unsere Kleine Anfrage unterstreicht: Während die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Süden deutlich ausgebaut werden soll, wird diese nach wie vor für den Norden ausgeschlossen - sowohl bilateral wie auch
multilateral über die Europäische Union. Das sind
nichts anderes als Sanktionen, und - wie so häufig - leidet darunter vor allem die einfache Bevölkerung und
nicht das Regime.
Für die Schuldenfrage präferiert die Bundesregierung die sogenannte Zero Option. Das bedeutet: Komplette Schuldenübernahme durch den Sudan bei gleichzeitigem Erhalt von Ausgleichszahlungen vom Süden.
Ein Schuldenerlass soll dann nur über die HIPC-Initiative des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank möglich sein. Das aber bringt strenge Auflagen
und einen tiefgreifenden Eingriff in die sudanesische
Politik mit sich. Wir kennen das schon vom inakzeptablen Auftreten der Troika in Griechenland.
Es ist eine Bankrotterklärung und zeugt nicht gerade
von Einfallsreichtum, wenn Sie nun von der Koalition
einmütig mit SPD und Grünen hier nichts als einen Ausbau ihrer bisher schon gescheiterten Politik fordern,
also im Kern eine Ausweitung der bisher völlig wirkungslosen UN-Militärmissionen und die Erteilung eines Blankoschecks für robuste Mandate. Den Auslandseinsatz der Bundeswehr im Rahmen des UNMISSMandats lehnen wir ab und fordern den sofortigen Abzug aller deutschen Soldaten. Die Linke fordert die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit dem
Sudan, eine Ausweitung des deutschen Engagements in
Zu Protokoll gegebene Reden
den Bereichen ziviler Friedensdienst, Förderung der
ländlichen Entwicklung und die Unterstützung einer raschen Verhandlungslösung über alle noch strittigen Fragen zwischen beiden Staaten. Kurzum: Die Linke lehnt
ein Weiter-so und damit auch diesen Antrag ab.
Die Lage zwischen Sudan und Südsudan hat sich wieder dramatisch zugespitzt. Mit den jüngsten Kämpfen
um die ölreiche Region Heglig ist eine neue Eskalationsstufe erreicht. Knapp ein Jahr nach der friedlichen Abspaltung des Südsudan drohen beide Länder wieder in
einen Krieg abzugleiten. Das dürfen wir nicht zulassen.
Deshalb ist es richtig, dass wir heute mit dem neuen,
nach einigen Veränderungen von uns, die die Koalition
aufgenommen hat - jetzt breit getragenen interfraktionellen Antrag zum Sudan und Südsudan ein gemeinsames Zeichen setzen. Das erwartet die Sudan-Community
der Zivilgesellschaft von uns völlig zu Recht. Deshalb
steht meine Fraktion hinter dem Antrag und wird ihm
heute zustimmen.
Der Antrag soll ein Weckruf sein in Richtung Sudan
und Südsudan, dass sie ihre Konflikte endlich friedlich
lösen und den Friedensaufbau voranbringen, aber auch
in Richtung der Bundesregierung und der internationalen Gemeinschaft: Wir wollen sie nach unserem interfraktionellen Antrag von 2010 noch einmal daran erinnern, dass sie weiter im Wort stehen, die Lösung der
Konflikte und ihrer Ursachen intensiv zu unterstützen.
Der Weckruf kommt keine Minute zu früh. In den ölreichen Regionen Abyei und Heglig, über die NubaBerge bis hin zur Provinz Blauer Nil flammen immer
wieder brutale Kämpfe zwischen Kräften des Nord- und
Südsudan auf, weil trotz klarer Vereinbarung im CPA der
Grenzverlauf und die Aufteilung des Öls noch immer ungeklärt sind, die Volksabstimmungen in Abyei, Südkordofan und Blauer Nil einfach nicht stattfinden und
die Entwaffnung der Kämpfer deshalb scheitert.
Hier geschehen schwerste Menschenrechtsverbrechen: Tod, Vergewaltigungen und Vertreibung. Selbst
„Ärzte ohne Grenzen“ hat keinen humanitären Zugang.
Zehntausende Flüchtlinge suchen Schutz im Südsudan.
Viele verdursten mittlerweile, weil oft die nötigen Mittel
zur Versorgung der vielen kleinen Flüchtlingscamps fehlen.
Diese Kämpfe müssen endlich beendet werden. Der
humanitäre Zugang muss sichergestellt werden. Beide
Seiten müssen zurück an den Verhandlungstisch, um die
offen gebliebenen Fragen des CPA schnell zu lösen, so
wie es zuletzt die AU und der VN-Sicherheitsrat in seiner
Resolution 2046 klipp und klar verlangt haben.
Die alte Kriegslogik muss endlich aus den Köpfen.
Der Nordsudan muss die Eigenständigkeit des Südens
uneingeschränkt anerkennen und im Südsudan muss die
alte Denke enden, der Konflikt sei nur durch einen Regime-Change in Khartum zu lösen.
Was wir dazu jetzt dringend brauchen, ist ein international gestützter Prozess im Geiste des CPA, der nicht
bloß die Restanten, sondern auch künftige Herausforderungen wie Rüstungskontrolle, Streitkräfteabbau und
vertrauensbildende Maßnahmen auf den Weg bringt.
Beide Seiten stecken große Teile ihrer Ölrenten in die
Aufrüstung und befeuern so die Gewaltspirale. Deshalb
schlagen wir die Einrichtung einer regionalen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit vor, die durch
gegenseitige Rüstungskontrolle die Wiederaufnahme der
Ölexporte über den Sudan befördern kann, die seit Januar ausgesetzt sind. Das sollten Sie von der Bundesregierung bei der anstehenden Mandatsverlängerung der
Friedensmission UNMISS im Sicherheitsrat auf den
Tisch legen.
Gleichzeitig brauchen wir aber auch dringend neue
Strategien, die den Reformprozess im Südsudan und im
Sudan für mehr Menschenrechtsschutz, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Mitbestimmung in Gang bringen. Denn auch hier stehen die Zeichen schlecht. Reformen gab es bislang keine, und der sozioökonomische
Druck hat gefährlich zugenommen. Im Südsudan heizen
Korruption und blutige Verteilungskonflikte wie in Jonglei die Konflikte an. Die geradezu suizidale Strategie
des Südsudan, die Ölexporte in den Sudan zu stoppen,
bringt den Kessel bald zum Bersten. Seither fehlen rund
98 Prozent der Staatseinnahmen.
Hier ist nicht nur die Regierung in Juba, sondern hier
sind auch Sie von der Bundesregierung in der Verantwortung. Soll der Friedensaufbau eine Chance haben,
dann müssen Sie diesen viel systematischer unterstützen.
Sie müssen im Sicherheitsrat dazu beitragen, dass
UNMISS endlich voll einsatzfähig ist. Hier fehlt noch
immer jeder vierte Mitarbeiter, bei der Polizei sogar jeder zweite. Wir brauchen auch dringend eine institutionalisierte Koordination zwischen UNMIS, UNISFA und
UNAMID.
Und Sie müssen auch endlich die Ergebnisse der Erkundungsmission des BMZ und der GIZ von 2011 umsetzen. Wir brauchen dringend gemeinsame Länderstrategien für Südsudan und für Sudan, die auch die GIZ und
KfW binden. Es spricht schon Bände, dass ausgerechnet
die Ergebnisse der Mission des BMZ und der GIZ als
Verschlusssache in der Schreibtischschublade verschwinden. Das ist das Gegenteil einer kohärenten ressortübergreifenden Politik. Ich bedaure es deshalb sehr,
dass wir in diesem Punkt keine Einigung im Antrag erzielen konnten.
Zur Frage der Kohärenz der deutschen Politik gehört
es auch, dass Deutschland noch immer nur mit einer
Laptop-Botschaft in Juba vertreten ist. Wenn wir das
Personal nicht erheblich aufstocken, so wie es zum Beispiel die Niederländer geschafft haben, dann bekommt
Deutschland keine koordinierte Unterstützung für den
Friedensaufbau hin - ganz abgesehen von dem verheerenden politischen Signal an die Regierung in Juba.
Ähnlich dramatisch ist die Lage auch im Sudan. Auch
hier steigt der Druck wegen des Ölembargos aus dem
Süden, der schlechten Wirtschaftslage mit 30 Prozent Inflation und des politischen Reformstillstands. Die Kürzungen von Brot- und Benzinsubventionen treiben immer
mehr Menschen auf die Straße. Einige fordern bereits ofZu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
fen den Abtritt des Baschir-Regimes. Sie wollen einen
arabischen Frühling auch im Sudan.
Wir müssen aufpassen, dass wir morgen nicht vor einem zweiten Syrien im Sudan stehen. Wie sein Freund
Assad versucht auch Baschir, die Proteste mit Gewalt zu
ersticken, bislang noch überwiegend mit Tränengas und
Schlagstöcken. Doch Darfur sollte uns Warnung genug
sein: Es geht auch anders. Baschir ist zu allen Verbrechen bereit, wenn es um seinen Machterhalt geht.
Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass wir auch Reformprozesse im Sudan viel energischer einfordern und
konkrete Unterstützung anbieten. Aber ich sage auch
ganz klar: Wir dürfen dabei den Haftbefehl des IStGH
gegen Baschir nicht ignorieren.
Ich hoffe sehr, dass der Antrag heute, ähnlich wie
2010, die Bundesregierung wachrüttelt und zu einer
Kursänderung bewegt. Die Menschen im Sudan hoffen
auf die deutsche Unterstützung. Enttäuschen wir sie
nicht!
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/10095. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begleitung der Verordnung ({0}) Nr. 260/2012 zur
Festlegung der technischen Vorschriften und
der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 924/2009
({2})
- Drucksache 17/10038 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch hier die Reden zu Protokoll.
Heute wird über das Begleitgesetz zur Umsetzung der
SEPA-Verordnung in deutsches Recht diskutiert. SEPA
schafft einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum; die Umsetzung ist eines der wichtigsten Gesetze
der letzten Jahre zur Harmonisierung des europäischen
Binnenmarkts für Zahlungsdienstleistungen.
Die SEPA-Verordnung ist ein essenzieller Bestandteil
zur weiteren Integration in der Europäischen Union.
Zahlungssysteme sollen damit an die Wirklichkeit grenzüberschreitende Zahlungsströme angepasst werden.
Einheitliche Regelungen auf europäischer Ebene sind
gerade im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung bargeldloser Zahlungen, wie Überweisungen und Lastschriften, hier sinnvoll.
Die Europäische Kommission legte mit ihrem Verordnungsvorschlag vom 16. Dezember 2010, in dem sie die
neuen technischen Vorschriften für Überweisungen und
Lastschriften vorgibt, den Grundstein zur Vereinheitlichung des Zahlungsverkehrs innerhalb der Euro-Zone
und der gesamten Europäischen Union. Ziel der Verordnung ist es, inländische und grenzüberschreitende Zahlungen innerhalb Europas einfacher, schneller und damit effizienter zu machen. Dieser Gesetzentwurf stellte
einen wichtigen Schritt zu einer reibungslosen Umstellung der bisherigen Zahlungsverfahren der Überweisung und Lastschrift auf die entsprechenden und sogenannten SEPA-Verfahren dar.
Die Verordnung beendet damit das kostenintensive
Nebeneinander von inländischen Zahlungsverkehrsprodukten. SEPA wird zu einer Vereinfachung und Vergünstigung für die Verbraucher und die Industrie führen.
Für Unternehmen, die ihren Kunden die Bezahlung
per Überweisung oder Lastschrift anbieten, ist die
SEPA-Verordnung mit einer technischen Umstellung, die
bis zum 1. Februar 2014 vorgenommen werden muss,
verbunden. Durch diese Umstellung wird eine vollautomatisierte Verarbeitung des Zahlungsprozesses ermöglicht. Darüber hinaus müssen Unternehmen künftig bei
Vertragsabschlüssen nach dem 1. Februar 2014 sogenannte SEPA-Mandate verwenden. Bisher erteilte Einzugsermächtigungen werden aufgrund der Änderung
der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken automatisch auf SEPA-Mandate umgestellt. Durch die
Kontinuitätsregelung der Verordnung ist die weitere
Gültigkeit der bisher erteilten Mandate sichergestellt.
Unternehmen können daher auf die Neueinholung von
SEPA-Mandaten für Kunden, die bisher per Lastschrift
bezahlt haben, verzichten. Dies ist auch ein wichtiger
Punkt für unsere Vereine, die weiterhin mit den bereits
erteilten Einzugsermächtigungen ihre Beiträge einziehen könnnen.
Der Vorschlag der Kommission enthielt jedoch einige
Regelungsbereiche, die nicht unseren Vorstellungen entsprachen. Wir, die Koalitionsfraktionen, forderten daher
mit unserem Antrag „Den Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreundlich gestalten“ vom 11. Mai 2011 die
Bundesregierung auf, sich für die Lösung der spezifischen Umstellungsprobleme, die sich in Deutschland als
größtem Zahlungsmarkt innerhalb der Europäischen
Union und als größtem Nutzer des Lastschriftverfahrens
ergeben, einzusetzen.
Der Bundesregierung ist es bei den schwierigen Verhandlungen auf europäischer Ebene gelungen, sich mit
nahezu allen Forderungen der christlich-liberalen Koalition durchzusetzen. Die Trilog-Verhandlungen haben
dabei ebenfalls gezeigt, dass sich kein anderes Mitgliedsland so vehement für die Verbraucher- und Endnutzerinteressen eingesetzt hat wie Deutschland - und
das mit großem Erfolg!
Aufgrund dessen konnten die automatische Mandatsmigration nach Art. 7 der Verordnung, das befristete An22554
bieten von Konvertierungsdienstleistungen nach Art. 16
Abs. 1 der Verordnung und die Weiternutzung des Elektronischen Lastschriftverfahrens für eine Übergangszeit
nach Art. 16 Abs. 4 der Verordnung in den Rechtsakt
aufgenommen werden.
Nach dem Abschluss der Trilog-Verhandlungen ist die
europäische SEPA-Verordnung schließlich am 31. März
2012 in Kraft getreten. Überweisungen und Lastschriften müssen nun ab dem 1. Februar 2014 einheitlich
rechtlichen und technischen Anforderungen im europäischen Zahlungsraum genügen. Ab diesem Zeitpunkt sind
entsprechende bargeldlose Zahlungen grundsätzlich nur
noch im Wege der SEPA-Überweisung und -Lastschrift
möglich.
Zur Flankierung der Implementierung der SEPA-Verordnung in Deutschland veröffentlichte das Bundeskabinett am 25. April 2012 den Entwurf des SEPA-Begleitgesetzes, über den wir heute diskutieren. Mit diesem sollen
die durch nationale Regelungen ausfüllungsbedürftigen
Normen der Verordnung ergänzt werden, wie zum Beispiel die Festlegung der zuständigen Behörde, Bußgeldtatbestände und Schlichtungsverfahren.
Zudem soll mit diesem Gesetzesvorschlag von einzelnen optionalen Übergangsbestimmungen Gebrauch
gemacht werden. Privatkunden erhalten somit die
Möglichkeit, die ihnen geläufige Kontonummer und
Bankleitzahl bis zum 1. Februar 2016 weiter zu verwenden. Banken und Sparkassen dürfen ihren Privatkunden
bis zu diesem Zeitpunkt für Inlandszahlungen Konvertierungsdienstleistungen für Kontokennungen kostenlos
zur Verfügung stellen. Hierbei handelt es sich um Programme, die die wie üblich eingegebene Kontonummer
und Bankleitzahl „im Hintergrund“ in das neue IBANFormat umwandeln. Kundinnen und Kunden bemerken
von dieser Umwandlung nichts.
Ab dem 1. Februar 2016 gilt ausschließlich die internationale Kontokennung IBAN ({0}). Im Bereich des in Deutschland vorherrschenden Elektronischen Lastschriftverfahrens wird es
aufgrund des Verhandlungserfolgs der Bundesregierung
ebenfalls zu einer Übergangsbestimmung kommen. Aufgrund dieser Sonderregelung kann das ELV bis zum
1. Februar 2016 weitergeführt werden. Ohne diese Sonderregelung des SEPA-Begleitgesetzes müsste das Elektronische Lastschriftverfahren zum 1. Februar 2014 eingestellt werden.
Die Umstellung auf die neuen SEPA-Produkte ist für
alle Verbraucher kostenlos. EC- und Kreditkarten werden beim turnusgemäßen Kartenaustausch mit der
neuen IBAN-Kennzeichnung versehen.
Durch diese Regelungen soll eine für die Verbraucher
und Endnutzer interessensgerechte und reibungslose
Umstellung der bisherigen nationalen Zahlungsinstrumente auf die neuen SEPA-Zahlungsinstrumente sichergestellt sein. Für eine effektive Umsetzung wird es ebenfalls auf eine rechtzeitige und verbraucherfreundliche
IT-Unterstützung ankommen. Neben diesen gesetzgeberischen Maßnahmen ist die Bundesregierung zusammen
mit der Deutschen Bundesbank im Rahmen des Deutschen SEPA-Rats im regen Austausch mit Vertretern der
Anbieter- und Endnutzerseite. Ziel ist es dabei, die Informationslage sowie die Kommunikation zwischen den
beteiligten Parteien zu verbessern.
Wieder einmal hat sich gezeigt, dass sich der Einsatz
der Regierungskoalitionen der CDU/CSU und FDP bezahlt gemacht hat. Wir konnten für unsere Bürgerinnen
und Bürger sowie für unsere Unternehmen einen deutlichen Erfolg bei den Verhandlungen auf europäischer
Ebene erreichen. Mit dem SEPA-Begleitgesetz setzen wir
diese Verordnung in deutsches Recht um und machen damit den Weg für einen einheitliche Europäischen Zahlungsraum frei.
Am 31. März 2012 ist die europäische SEPA-Verordnung in Kraft getreten, die einheitliche rechtliche und
technische Anforderungen für Lastschriften und für den
einheitlichen europäischen Zahlungsraum vorschreibt.
Zum 1. Februar 2014 heißt es deshalb Abschied nehmen
von altbewährten deutschen Überweisungs- und Lastschriftverfahren. Fortan werden solche Zahlungen
grundsätzlich nur gemäß den entsprechenden SEPAStandards möglich sein. Eine an sich sinnvolle Neuerung, mit der sich jedoch viele Menschen in Deutschland
noch nicht so recht anfreunden konnten. Erfahrungsgemäß brauchen solche Umstellungen ihre Zeit.
Wir beraten heute in erster Lesung das SEPA-Begleitgesetz, mit dem Deutschland von einzelnen Übergangsbestimmungen der EU-Verordnung Gebrauch macht, die
im Zuge der Verhandlungen des vergangenen Jahres
zwischen Berlin und Brüssel vereinbart werden konnten.
Noch einmal: Das Ziel, einen einheitlichen Eurozahlungsraum anzustreben, ist richtig. Gleichzeitig muss
uns allen aber daran gelegen sein, die SEPA-Umstellung
für die Menschen in Deutschland so komfortabel und
verbraucherfreundlich wie möglich zu gestalten. Dazu
leistet das Begleitgesetz einen Beitrag, auch wenn wir
alle uns gewünscht hätten, dass die Bundesregierung es
geschafft hätte, im Ringen mit den europäischen Partnern weiter gehendende Zugeständnisse zu erzielen.
Der bisherige Weg zum SEPA-Zahlungsraum war
- freundlich ausgedrückt - holprig. Das gesamte Vorhaben stieß in der Bevölkerung auf massiven Gegenwind.
Vor allem angesichts der gravierenden Befürchtungen
unserer Vereine, die Umstellung auf SEPA könne es notwendig machen, sämtliche Einzugsermächtigungen neu
einholen zu müssen. Das konnten wir abwenden, und das
ist auch gut so.
Zeitweise konnte einem SEPA wie ein ungeliebtes
Stiefkind vorkommen. Ich denke da zum Beispiel an den
Vorsitzenden des Europaaussschusses, den CDU-Kollegen Krichbaum, der SEPA in der Ausschusssitzung am
11. Mai 2011 als „größten Schwachsinn aller Zeiten“
bezeichnete, während seine Fraktion zeitgleich von einem „wichtigen Baustein für einen harmonisierten Binnenmarkt“ sprach. Ich sage ganz klar: Das war billig,
populistisch und nicht im Sinne einer vernünftigen Debatte, die auch von dosierter Kritik an den richtigen
Zu Protokoll gegebene Reden
Stellen lebt. Deshalb zurück zur Sache und zu den Fortschritten, die konkret erzielt werden konnten und die mit
dem Begleitgesetz umgesetzt werden:
Privatkunden steht die Möglichkeit offen, ihre alte,
wohlvertraute Kontonummer und Bankleitzahl bis zum
1. Februar 2016 weiter zu verwenden. Banken und Sparkassen können Privatkunden bis dahin kostenlose Konvertierungsdienstleistungen anbieten, um Kontokennungen für Inlandszahlungen bequem und ohne Aufwand für
den Kunden in das neue IBAN-Format umwandeln.
Ab dem 1. Februar 2016 gilt dann ausschließlich die
internationale Kontokennung IBAN, International Bank
Account Number. Auch wird das in Deutschland bewährte elektronische Lastschriftverfahren aufgrund einer Sonderregelung bis zu diesem Stichtag weitergeführt
werden können. Wir hätten uns hier mehr gewünscht aber immerhin.
Mit der fraktionsübergreifenden, gemeinsamen Erklärung „Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreundlich gestalten“, konnten wir, so meine ich, ein wichtiges
Signal setzen, um den spezifischen deutschen Interessen
im SEPA-Prozess mehr Nachdruck zu verleihen. In den
Übergangsregelungen des Begleitgesetzes finden sich
diese Signale wieder.
Überdies beinhaltet das Gesetz technische Regelungen,
deren Umsetzung die SEPA-Verordnung vorschreibt. So
gilt es seitens des Gesetzgebers, Behörden zu benennen,
die die Einhaltung der Verordnung überwachen sollen,
und Sanktionen festzulegen, wenn dagegen verstoßen
wird. In Deutschland wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht für die Überwachung zuständig
sein.
Zudem müssen angemessene und wirksame außergerichtliche Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren geschaffen werden, was durch Ergänzung des Schlichtungsverfahrens nach § 14 Unterlassungsklagengesetz
geschieht. Und schließlich müssen bundesgesetzliche
Regeln dort angepasst werden, wo sie explizit auf im Inland anzusiedelnde Konten abgestellt sind, was der Idee
des freien Zahlungsverkehrs im einheitlichen Euro-Zahlungsraum widerspricht.
Wenn uns SEPA etwas gelehrt hat, dann, dass sich
auch hier das ursprünglich in die Kräfte des Markts gesetzte Vertrauen nicht ausgezahlt hat. Dass überhaupt
eine EU-Verordnung zur Vereinheitlichung des Zahlungsmarkts bei Lastschriften und Überweisungen notwendig wurde, war der Tatsache geschuldet, dass sich
die im Vorfeld herrschenden Hoffnungen auf einen
marktgesteuerten Prozess nicht annähernd erfüllt haben. Dabei war es die europäische Bankenindustrie
selbst, die diesen Prozess über den European Payments
Council angestoßen hatte. Es ist schade, dass gerade die
Branchen, in denen sich die positiven Auswirkungen der
Vereinfachungen besonders bemerkbar machen dürften,
ein wenig in Deckung gegangen sind, nachdem der Ball
im Spielfeld der nationalen Politik lag. Insofern finde
ich es richtig, dass die betroffenen Wirtschaftszweige
seit dem vergangenen Jahr auch über den nationalen
SEPA-Rat die Möglichkeit haben, an der erfolgreichen
Vermittlung der anstehenden Änderungen mitzuwirken.
Ein Beispiel: Ein Grund für die Furcht vor SEPA war
die - mitunter ziemlich überzeichnete - Debatte um die
22-stellige IBAN als vereinheitlichter Kontonummer, die
mit der Umsetzung von SEPA obligatorisch wird, einmal
abgesehen davon, dass auch „IBAN, die Schreckliche“
sich zu einem Großteil aus der bekannten Zahlenkombination von Kontonummer und Bankleitzahl zusammensetzt und lediglich vier Stellen hinzukommen. Dabei
handelt es sich um einen Ländercode und eine zweistellige Prüfziffer, die es beispielsweise erlauben sollte,
Fehlbuchungen schneller zu identifizieren und zu vermeiden. Auch das sind Vorteile, die in der öffentlichen
Debatte zu wenig beachtet wurden. Hier können wir mithilfe der am Markt aktiven Akteure tatsächlich auch das
öffentliche Bild geraderücken.
Vor diesem Hintergrund können wir die mit dem Begleitgesetz umzusetzenden Fortschritte als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen.
Die Diskussionen um die SEPA-Lastschriften und
Überweisungen sollten wir als Anstoß für einen Lernprozess nutzen; denn auf dem Weg zum einheitlichen
Euro-Zahlungsraum warten weitere Etappen, wenn es
um Karten-, Internet- und Mobilzahlungen geht. Das hat
uns auch die Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen Grünbuch der EU-Kommission gezeigt. Die SPDBundestagsfraktion wird sich auch auf diesem Gebiet für
verbraucherfreundliche Lösungen einsetzen. Wir sind
gespannt, welche Schritte die Bundesregierung auf diesem Weg einzuschlagen gedenkt.
Im letzten Jahr haben wir der Regierung für ihre Verhandlungen in Brüssel aufgegeben, bei der Verordnung
über die Vereinheitlichung des europäischen Lastschriftund Überweisungsverkehr auf dreierlei zu achten. Erstens sollte sie auf eine lange Frist hinwirken. Nötig war
ein komfortabler Zeitraum für die Überführung des gewachsenen deutschen Zahlungsverkehrs unter das
Regime des europäischen Rechts. Zweitens sollte das
deutsche Lastschriftverfahren als typisch deutsches Gewächs erhalten bleiben. Drittens sollte das hohe Schutzniveau gewahrt bleiben, das unsere Rechtsprechung für
die Nutzer des deutschen Lastschriftverkehrs entwickelt
hat. Das war nötig, damit die Ablösung des über Vertragsrecht gewachsenen Lastschriftverkehrs durch einen
gesetzlichen Rahmen nicht scheitert.
Unsere Vorgaben, so muss man sagen, haben erfreulicherweise guten Niederschlag in der nun vorliegenden
Verordnung gefunden. Die Regierung hat auftragsgemäß eine lange Übergangsfrist für das elektronische
Lastschriftverfahren erreicht und schöpft diese auch in
ihrem Entwurf des Begleitgesetzes bestmöglich aus. Bis
zum 1. Februar 2016 ist nun Zeit. Das gibt der Branche
Zeit, für die Akzeptanz ihrer neuen SEPA-Produkte zu
sorgen und Alternativen zum elektronischen Lastschriftverkehr zu entwickeln. Das ist sinnvoll, stärkt die Akzeptanz von SEPA und sorgt für eine reibungslose Umstellung. Auch unser wichtigster Punkt wurde umgesetzt, die
Zu Protokoll gegebene Reden
Beibehaltung des von der Rechtsprechung entwickelten
Schutzniveaus. Die Rückgabe von Lastschriften ist für
die Verbraucher in langen Fristen und gebührenfrei
möglich. Wir wollten nicht, dass über den europäischen
Umweg dieses Schutzniveau abgeschafft wird.
Gleichwohl bleiben Änderungen am Entwurf der Regierung zu überlegen und im folgenden Verfahren auf ihren Nutzen und mögliche Kosten abzuwägen. Eines dieser Probleme könnte für die Nutzung von Lastschriften
im Internet entstehen. Es besteht die Gefahr, dass ab
2014 nur noch papiergebundene Lastschriftmandate erteilt werden können. Das beeinträchtigt den über das Internet stattfindenden Geschäftsverkehr, weil Verbraucher auf Kreditkarten und andere Zahlungsdienstleister
ausweichen werden. Es kann sein, dass wir hier durch
Aufweichung des Schriftformerfordernisses nachbessern
müssen, um den Verbrauchern Wahlfreiheit zu erhalten.
Auch die Baugruben auf den anderen kleinen Baustellen werden wir gemeinsam zuschütten. Nach der Sommerpause werden wir das Gesetz in den Ausschüssen beraten und zu einer guten und rechtssicheren Lösung
kommen.
Es ist ohne Zweifel sinnvoll, einen einheitlichen EuroZahlungsverkehrsraum zu schaffen. Indem man bargeldlose Zahlungsverfahren in den Teilnehmerländern standardisiert, soll es für Bankkunden keine Unterschiede
mehr zwischen nationalen und grenzüberschreitenden
Zahlungen geben. In der Tat: Dies wäre gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Es fällt mir gewiss nicht leicht, die Bundesregierung
zu loben. Aber sie hat auf europäischer Ebene erreicht,
dass verbraucherschutzrelevante Übergangsregelungen
festgeschrieben wurden: erstens für die Weiternutzung
des in Deutschland weit verbreiteten und gut funktionierenden elektronischen Lastschriftverfahrens und zweitens für die Zurverfügungstellung kostenloser Konvertierungsleistungen bezüglich Kontokennungen, damit
bisherige Kontonummern für Inlandszahlungen weitergenutzt werden können. Die Übergangszeit endet am 1. Februar 2016.
Das bedingungslose Rückgaberecht für Abbuchungen
vom eigenen Konto durch Lastschrift war uns ebenfalls
wichtig. Genauso wichtig war, dass bei bestehenden
Einzugsermächtigungen die Neueinholung von Mandaten in vollem Umfang vermieden wird. Ich begrüße
auch, dass von Übergangsbestimmungen für sogenannte
alternative Lastschriftverfahren, nationale Nischenprodukte mit einem Marktanteil von weniger als 10 Prozent,
kein Gebrauch gemacht wird. Schließlich kann man erleichtert sein, dass uns der sogenannte BIC, ein international standardisierter Bank Identifier Code, wohl nur
bis 2014 erhalten bleibt. Dies sorgt für Vereinfachung im
Zahlungsverkehr.
Vereinfachung und Gleichklang sind wünschenswert.
Ein harmonisierter Zahlungsverkehrsbinnenmarkt, also
eine Nivellierung, darf aber nicht zu einem Abwärtswettlauf beitragen. Die deutsche elektronische Lastschrift, um einen Punkt herauszunehmen, ist technisch
ausgereift, kostengünstig und effektiv. Sie darf nicht einfach kaputtnivelliert werden. Gleichwohl wollen wir
keine nationalen Inseln schaffen, sondern eine Harmonisierung, diese jedoch auf verbraucherfreundlichem,
hohem Niveau.
Was Sie nicht verhindern konnten, ist „IBAN, die
Schreckliche“. Es wird befürchtet, dass Bankkunden mit
der 22-stelligen europäischen Kontonummer IBAN
schnell überfordert sind. Denn die Zahlen- und Buchstabenflut ist fehleranfällig. Dies könnte gerade für ältere
Menschen zum Problem werden. Eines ist klar: Unfreiwillig falsche Angaben dürfen nicht automatisch zulasten des Verbrauchers gehen. Das ist der Linken wichtig.
Aber IBAN ist gar nicht so schrecklich: Durch die genormte IBAN können weltweit auf gleiche Weise das
Konto, die Bank und das Land eines Zahlungsempfängers ermittelt werden. Bisher gibt es einen verbraucherfeindlichen Flickenteppich an Verschlüsselungsarten
der Banken. Manche Länder haben separate Bankleitzahlen, in anderen ist die Bankkennung in der Kontonummer enthalten. Ich prognostiziere: Es kommt zu
einem Gewöhnungsprozess, der nicht besonders dramatisch verlaufen wird.
Dramatisch für die Verbraucher ist jedoch das herrschende Informationsdefizit. Dadurch wurden die Menschen erst richtig verunsichert. So entstand auch diese
Abscheu vor der neuen Kontonummer. SEPA-Verfahren
werden bislang nicht nur mäßig nachgefragt. Was hinter
SEPA steckt, ist schlichtweg kaum bekannt. Hier rächt es
sich nun, dass Verbraucherverbände nicht frühzeitig in
den gesamten SEPA-Prozess mit eingebunden wurden.
Immerhin sitzen sie nun im neu geschaffenen SEPA-Rat.
Die Informationskampagne von Bundesregierung und
Kreditwirtschaft kommt aber viel zu spät. Das haben Sie
gründlich verschlafen.
Die Augen verschließen dürfen wir auch nicht vor der
Situation der kleineren Geldinstitute: In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass kleine Geldinstitute technisch
bisher schlechter für das SEPA-Verfahren gerüstet waren als zum Beispiel die großen Privatbanken. Die Linke
setzt sich dafür ein, dass kleinere Institute bei der SEPAUmstellung nicht benachteiligt werden. Unser Augenmerk muss gleichfalls darauf liegen, dass die SEPA-Umstellung reibungslos und rechtssicher verläuft. Und noch
wichtiger ist: Die Umstellung muss für die Verbraucher
tatsächlich kostenfrei sein.
Das Ziel des Begleitgesetzes soll eine für den Verbraucher - ich zitiere - „interessengerechte Umstellung“ der bisherigen Verfahren sein. „Interessengerecht“ bedeutet für mich: einfach, effektiv, sicher,
umfassend gesetzlich geregelt und vor allem ohne zusätzliche Kosten.
Im Gesetzentwurf steht beispielsweise ({0}): „Ein Zahlungsdienstleister darf vom Zahlungsdienstnutzer keine direkt oder indirekt mit der Konvertierungsdienstleistung verknüpften zusätzlichen Entgelte
oder sonstige Entgelte erheben.“ Das sehe auch ich so.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nur, wie wollen Sie mögliche indirekte Entgelte, die auf
Kunden überwälzt werden, erkennen und unterbinden?
Eine geplante Marktanalyse für Lastschriften und
Überweisungen reicht bei Weitem nicht aus. Kann man
dann durch Aufsicht und Kontrolle versteckte Kostenerhöhungen vermeiden? Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, soll als national zuständige Behörde überwachen, ob die Zahlungsdienstleister
ihre Pflichten bei der Umstellung einhalten. Doch neben
den Pflichten gibt es einige Regelungen, die von den
Kreditinstituten nur freiwillig umzusetzen sind.
Die Prüfungsberichtsverordnung wird zugleich dahingehend geändert, dass bei Kreditinstituten der Abschlussprüfer, zum Beispiel ein Wirtschaftsprüfer, beurteilen soll, ob die vom Kreditinstitut getroffenen internen
Vorkehrungen den Anforderungen der SEPA-Verordnung
entsprechen ({1}).
Insgesamt ist fraglich, ob, auf welcher Grundlage
und wie genau zum Beispiel indirekte Entgelte überhaupt aufgedeckt werden können. Es ist auch fraglich,
ob das Zusammenwirken und der Austausch zwischen
Abschlussprüfern und BaFin reibungslos funktioniert
und damit erfolgversprechend ist. Meiner Meinung nach
herrscht hier noch viel Unklarheit.
Das Bundesfinanzministerium schreibt auf seiner
Website ausdrücklich: „Die SEPA-Umstellung ist für die
Verbraucherinnen und Verbraucher kostenlos.“ Die
Linke nimmt Sie beim Wort. Wenn Sie tatsächlich Ihre
Aussage ernst meinen, müssen Sie als Erstes das Problem mit dem Benachrichtigungsgeld lösen: Anfallende
Gebühren für eine nicht eingelöste Lastschrift können
Verbraucher von den Banken zurückfordern. Dies hat
der Bundesgerichtshof entschieden. Mit Einführung der
europaweit gültigen SEPA-Lastschrift ab Juli 2012 - mit
dann neuen Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei den
Geldinstituten - dürfen die Banken solche Gebühren
aber wieder erheben. Der Bundesgerichtshof hat sich in
seinem Urteil schon auf die neuen Regeln bezogen und
erklärt, dass für die Benachrichtigung bei SEPA-Lastschriften generell ein angemessenes Entgelt vereinbart
werden kann. Wie hoch eine angemessene Gebühr sein
darf, ließ der BGH hingegen offen. Hieran sehen Sie
aber: Ruckzuck sitzen Verbraucher wieder auf zusätzlichen Kosten. Das geht nicht. Tun Sie schnell etwas dagegen!
Drei weitere Dinge wurden aus linker und verbraucherschutzpolitischer Sicht bislang zu wenig berücksichtigt: Es fehlen zum Einen explizite Hinweise auf
Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Datenschutzaspekte fallen uns hier zu oft unter den Tisch.
Zum Anderen fand der Bereich „Schutzmaßnahmen gegen Betrug“ zu wenig Beachtung. Genau hier hätte den
Menschen auch Angst vor SEPA genommen werden können. Schließlich muss man sicherlich noch einmal genauer über spezielle SEPA-Lösungen für den Onlinehandel nachdenken.
Wie der gesamte SEPA-Prozess abläuft, werden wir
abwarten müssen. Es steht offen, ob alles so problemlos
umgesetzt werden kann, wie es derzeit noch geplant ist.
Vieles ist vom freiwilligen Mitwirken der Kreditwirtschaft abhängig. Die deutsche Kreditwirtschaft, als Interessenvertretung der kreditwirtschaftlichen Spitzenverbände, kann im Zuge der Umstellung gegenüber ihren
Mitgliedsinstituten allerdings nur Empfehlungen aussprechen.
Den einzelnen Zahlungsdienstleistern steht es nach
der gesetzlichen Regelung zum Beispiel frei, ob sie Konvertierungsdienstleistungen anbieten. Selbst die BaFin
erhält nach dem schon genannten § 7 b keine zusätzlichen Aufsichtskompetenzen bezüglich spezifischer Konvertierungsdienstleistungen.
Reicht das wirklich aus? Wir brauchen doch für alle
geltende Regelungen und eine umfassende Aufsicht darüber, ob und vor allem wie jedes Institut die Änderungen im Einzelnen umsetzt. Dies dient dem Schutz der
Verbraucher und einer einheitlichen, konsistenten
SEPA-Umsetzung in Deutschland.
Die Vergangenheit lehrt: Selbstverpflichtungen der
Kreditbranche sind kaum etwas wert. Wir müssen
aufpassen, dass die deutsche Kreditwirtschaft das Regelwerk nicht bewusst anders und verbraucherunfreundlicher interpretiert als andere nationale Kreditwirtschaften oder als im Verordnungstext vorgesehen. Auch
wenn Einiges bereits konkret geregelt ist, ist von unserer
Warte aus Vorsicht angebracht.
Die Kreditbranche wird mit der Einführung von
SEPA, nachdem die - finanziell gesehen - günstigen
Umstellungen abgeschlossen sind, auf mittlere Sicht
Effizienzgewinne in Milliardenhöhe verbuchen können.
Das prognostiziert auch die EU-Kommission. Ich fordere: Sorgen Sie dafür, dass diese nicht einfach einbehalten, sondern an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden!
Die Linke achtet weiterhin darauf, dass Verbraucherinteressen nicht im Zuge einer EU-weiten Harmonisierung geopfert werden. Deshalb dürfen auch Kosten für
die Kreditwirtschaft weder direkt noch indirekt auf die
Verbraucher überwälzt werden; Gewinne müssen weitergegeben oder zugunsten der Verbraucher verwendet
werden.
Am 31. März 2012 trat die Verordnung ({0}) Nr. 260/
2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und
der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und
Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung
({1}) Nr. 924/2009, kurz: SEPA-Verordnung, in Kraft.
Dadurch werden im europäischen Wirtschaftsraum die
Zahlverfahren Lastschrift und Überweisung harmonisiert. Die inländischen Überweisungs- und Lastschriftverfahren sind ab dem 1. Februar 2014 grundsätzlich
abzuschalten. Bargeldlose Zahlungen sollen ab diesem
Zeitpunkt nur noch im Wege der SEPA-Überweisungsund SEPA-Lastschriftverfahren unter Verwendung der
internationalen Kontokennung IBAN, International
Bank Account Number, möglich sein. Das Ziel, den europäischen Zahlungsverkehr durch einen einheitlichen
Euro-Zahlungsverkehrsraum im Sinne einer HarmoniZu Protokoll gegebene Reden
sierung des europäischen Binnenmarktes zu vereinfachen, haben wir Grünen stets befürwortet und unterstützt.
Berechtigterweise machte der Deutsche Bundestag
jedoch im Mai des letzten Jahres deutlich, dass der Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission für
eine SEPA-Verordnung vom 16. Dezember 2010 in manchen Regelungsbereichen unseren nationalen Vorstellungen nicht entsprach. Auch wenn sich die grüne Bundestagsfraktion damals über das Verfahren enttäuscht
zeigte, weil die Koalitionsfraktionen es nicht für nötig
erachteten, den Versuch einer interfraktionellen Entschließung zu unternehmen, so zeigte die Debatte das
gemeinsame Anliegen aller Fraktionen deutlich: den
Übergang zum europäischen Zahlungsverkehr rechtssicher und reibungslos, kurzum so verbraucherfreundlich
wie nur möglich zu gestalten. Heute wissen wir, dass der
zwischen Europäischem Parlament, Rat und Kommission erzielte Kompromiss diesem Anliegen in großen
Teilen Rechnung trägt. Erfreulicherweise konnten grüne
Kernforderungen zu zentralen Themen wie Verbraucherschutz, Rechtssicherheit und Effizienz verankert werden.
Auf grüne Initiative hin nahm die Kommission beispielsweise die Absicht in den Verordnungstext auf, bis zum
1. November 2012 im Rahmen der Zahlungsdiensterichtlinie gegebenenfalls einen Vorschlag zur europaweiten gesetzlichen Verankerung eines bedingungslosen
Erstattungsrechts vorzulegen. Außerdem gestattet die
SEPA-Verordnung dem nationalen Gesetzgeber in einigen Bereichen optionale Übergangsbestimmungen, mittels derer die Anwendung der SEPA-Verordnung auf den
1. Februar 2016 verschoben werden kann. Das von der
Bundesregierung eingebrachte SEPA-Begleitgesetz, das
wir heute beraten, macht von einzelnen Übergangsregelungen Gebrauch.
So wird den Zahlungsdienstleistern gestattet, Zahlungsdienstnutzern, soweit diese Verbraucher sind, für
Inlandszahlungen Konvertierungsdienstleistungen zur
Verfügung zu stellen, die es den Zahlungsdienstnutzern
ermöglichen, die bisherigen inländischen Kontokennungen auch weiterhin zu nutzen. Dafür hatten wir Grünen
uns auf der europäischen Ebene eingesetzt. Das bedeutet, dass Verbraucherinnen und Verbraucher die ihnen
geläufige Kontonummer und Bankleitzahl statt der Zahlungskontonummer IBAN bis zum 1. Februar 2016 weiter verwenden können. Für eine solche Dienstleistung
dürfen die Zahlungsdienstleister vom Zahlungsdienstnutzer keine direkten oder indirekten Entgelte erheben.
Wir sollten in den nun anstehenden parlamentarischen
Beratungen überprüfen, ob der Begriff „Inlandszahlungen“ in § 7 b im Entwurf des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes möglicherweise einer Präzisierung bedarf. Der
Bundesrat weist in seiner Stellungnahme darauf hin,
dass Inlandszahlungen im Sinne einer verbraucherfreundlichen Auslegung neben Überweisungen und
Daueraufträgen auch Lastschriften und insbesondere
Einzugsermächtigungen umfassen sollten und es deshalb einer zweifelsfreien Definition bedürfe.
Im Übrigen ist es im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher positiv, dass im Begleitgesetz darauf verzichtet wird, von der Übergangsbestimmung in Art. 16
Abs. 6 SEPA-Verordnung Gebrauch zu machen, wonach
Mitgliedstaaten die Anforderungen betreffend der Übermittlung der BIC, Business Identifier Code, für Inlandszahlungen bis 1. Februar 2016 verschieben können. Es
wäre doch widersinnig, wenn Verbraucherinnen und
Verbraucher bei inländischen Zahlungen gegebenenfalls
die komplizierte BIC bis 1. Februar 2016 angeben müssten, um dann auf die BIC verzichten zu können.
Darüber hinaus ist zu begrüßen, dass das SEPABegleitgesetz von der in der SEPA-Verordnung vorgesehenen Möglichkeit einer Sonderregelung Gebrauch
macht, das elektronische Lastschriftverfahren bis zum
1. Februar 2016 weiterzuführen. Seit Beginn der Debatte um den europäischen Zahlungsverkehrsraum
machen wir uns dafür stark, dass kostengünstige und
bewährte Zahlungsverkehrsprodukte im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher weiterhin Bestand haben können. Insofern war es ein Erfolg, dass erreicht
werden konnte, dass das bewährte kartengestützte und
kostengünstige elektronische Lastschriftverfahren weitergenutzt werden kann, bis ein vergleichbares europäisches Produkt am Markt angeboten wird. Nun muss dieser gewonnene Zeitraum allerdings auch tatsächlich
genutzt werden. Deshalb ist es zu begrüßen, dass in der
Begründung zu § 7 c im Entwurf des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes klargestellt wird, dass es die Aufgabe
der betroffenen Wirtschaftskreise und insbesondere der
deutschen Kreditwirtschaft ist, die Entwicklung eines
solchen Produkts aktiv voranzutreiben. Diese ausdrückliche Aufforderung scheint auch notwendig, da von den
betroffenen Verbänden teilweise zu hören ist, dass die
Unterstützung seitens der deutschen Kreditwirtschaft
bei der Entwicklung eines dem elektronischen Lastschriftverfahren vergleichbaren Nachfolgeproduktes zu
wünschen übrig lässt.
Abschließend bleibt zu sagen, dass es einzelne Punkte
gibt, die wir im Rahmen der Beratungen diskutieren
müssen - als Stichwort sei die Frage nach einem internetfähigen SEPA-Lastschriftmandat zu nennen. Insgesamt ist es unser Ziel, eine interessensgerechte, insbesondere verbraucherfreundliche Umstellung der
bisherigen nationalen Zahlungsverfahren auf die SEPAZahlungsverfahren sicherzustellen. Es ist mir außerdem
ein besonderes Anliegen, an dieser Stelle nochmals hervorzuheben, dass es eine evident wichtige Aufgabe der
Kreditwirtschaft sowie aller beteiligten Verbände ist, die
Verbraucherinnen und Verbraucher mittels einer geeigneten Öffentlichkeitsarbeit zu informieren und sie nicht
mit den bevorstehenden Umstellungen auf SEPA allein
zu lassen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/10038 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sehen das auch so. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Daniela Wagner, Marieluise
Vizepräsidentin Petra Pau
Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vergabekriterien für Sportgroßveranstaltungen fortentwickeln - Menschen- und Bürgerrechte bei Sportgroßveranstaltungen stärker
berücksichtigen
- Drucksache 17/9982 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Alle Jahre wieder schaut die Welt bei der Vergabe von
sportlichen Großveranstaltungen gespannt auf den weißen Umschlag mit dem Gewinner der Austragung. In einem langjährigen Verfahren haben sich zuvor mehrere
Städte oder Staaten um die Ausrichtung beworben. Die
Prozedur der Vergabe ist zum Teil undurchsichtig und
schwer nachvollziehbar. Die Tragweite der Entscheidung ist nicht allein eine Angelegenheit des Sports. Sie
hat auch eine politische Bedeutung.
Politische Führer in aller Welt wissen um die Begeisterung für den Sport und die Macht der Bilder. Manche
wollen diese für sich und ihr Land nutzen. Es ist der
Wunsch, vor einem Milliardenpublikum über mehrere
Wochen ein möglichst positives Image des Landes zeigen
zu können - eine Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit, die
man kaum anders erreichen kann. Gleichermaßen wissen die internationalen Sportverbände, wie viel dies den
politischen Führern - im wahrsten Sinne des Wortes wert ist. Doch wenn wir diese Erkenntnis haben, warum
nutzen wir sie nicht gemeinsam für politische Veränderungen? Genau diese grundsätzliche Frage, inwiefern
Sport und Politik miteinander verbunden sind, wird mit
dem vorliegenden Antrag thematisiert.
Als Peking am 13. Juli 2001 den Zuschlag des Internationalen Olympischen Komitees, IOC, für die Sommerspiele 2008 erhielt, hatten wir die Hoffnung, dass
sich im Reich der Mitte etwas an der Situation der Tibeter, bei der Akzeptanz von Behinderungen oder bei der
Meinungs- und Pressefreiheit positiv verändert. Eine
spürbare Veränderung hat es aber leider nur in geringem Umfang gegeben.
Heute Abend spielt unsere Nationalmannschaft um
den Einzug ins Finale der Fußballeuropameisterschaft.
Gastgeber sind erstmals Polen und die Ukraine. Bei der
Vergabe an die Ukraine, mit der damaligen Regierungschefin Julija Timoschenko, waren wir alle zuversichtlich, dass die Ukraine - genauso erfolgreich wie Polen den Weg zu Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und
Rechtsstaatlichkeit gehen kann. Mittlerweile sitzt Julia
Timoschenko im Gefängnis. Im Vorfeld der EM hat der
Fall der inhaftierten ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin für Aufsehen gesorgt, zeichnete dieser Fall
doch ein eher unerfreuliches Bild eines Landes, in dem
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anscheinend kaum
noch vorhanden sind. Gerade beim Fußball loben wir
häufig die Kraft von Fair Play, Respekt, Integration und
Offenheit. Dieses Bild ist mit der augenblicklichen politischen Situation der Ukraine nicht vereinbar. Trotzdem
ist es richtig, dass die Bundeskanzlerin die deutsche
Nationalmannschaft in Kiew unterstützt. Sollte unser
Team heute Abend ins Finale einziehen, wird Angela
Merkel vor Ort die Gelegenheit nutzen und auf das
Unrecht im Umgang mit der ukrainischen Opposition
aufmerksam machen. Die Bundeskanzlerin fährt aus Anerkennung der sportlichen Leistung unserer Nationalmannschaft in die Ukraine, nicht um das dortige Regime
zu unterstützen. Kritik und mahnende Worte würden
auch der Führung der UEFA und dem Präsidenten
Platini gut zu Gesicht stehen.
Wer wie die Ukraine zur europäischen Familie gehören will - das war ja das Ziel der freiwilligen Bewerbung um die Austragung der Europameisterschaft -,
muss auch das Ziel haben, die Werte und Prinzipien unserer europäischen Gemeinschaft zu verinnerlichen. Auf
eine ähnliche Konstellation treffen wir in zwei Jahren in
Belarus. Der autokratisch herrschende und nicht wenig
eitle weißrussische Präsident Lukaschenko, auch als
letzter Diktator Europas bezeichnet, ist bekanntlich ein
Eishockeynarr. Wenn sein Land die Eishockeyweltmeisterschaft 2014 austragen darf, wird die internationale
Staatengemeinschaft genau darauf achten müssen, inwieweit sich Rechtstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und echte demokratische Prinzipien in dem
nur zwei Flugstunden von Deutschland entfernten Land
verbessert haben. Solange Demonstranten konsequent
eingesperrt werden, können weder die Politik noch die
Sportverbände tatenlos zusehen.
Die nächste Chance zur gesellschaftlichen Einmischung erhalten FIFA und IOC, wenn 2018 in Russland
und 2022 in Katar der Ball rollt und 2014 in Sotschi die
Biathleten über die Loipen spurten. Pressefreiheit und
politische Mitbestimmung der Opposition stehen dann
dem russischen Wunsch nach medialer Selbstdarstellung gegenüber. Ebenso wird sich das arabische Emirat
Katar überlegen müssen, ob homosexuelle oder unverschleierte Fußballfans in Stadien und im Land sicher
sind. Es bleibt abzuwarten, ob die FIFA diese und andere kritische Themen in Moskau und in Doha frühzeitig
anspricht.
Die eben genannten Beispiele für die Vergaben an
China, Russland, Katar, Ukraine und Weißrussland werfen die Frage auf: Was sind geeignete Kriterien für Vergaben von Sportgroßveranstaltungen? Wir, die Politik,
fordern selbstverständlich Rechtsstaatlichkeit und die
Einhaltung der Menschenrechte sowie der Presse- und
Meinungsfreiheit ein. Aus Sicht des Sports geht es primär um Kriterien wie geeignete Sportstätten, ein angemessenes Umfeld für die Sportler, Infrastruktur sowie
eine nachhaltige und wirtschaftliche Entwicklung der
Region. Lassen sich diese Kriterien verbinden? Stehen
sie in einem Widerspruch zueinander? Und welchen
Einfluss kann und sollte die Politik auf die autonomen
Entscheidungsprozesse in den internationalen Sportverbänden nehmen? Oder stimmt das Argument, dass gerade mit der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen an
solche Länder eher Verbesserungen herbeigeführt wer22560
den können? Ist es richtig, dass wir, die westlich geprägten Demokratien, selbstverständlich unsere eigenen
Grundsätze und Werte als Maßstab für die ganze Welt
als gegeben voraussetzen? Dürfen wir das?
Unstreitig ist: Die Sportverbände genießen Autonomie. Das widerspricht jedoch nicht dem Gedanken, dass
sie bei der Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen demokratische Prinzipien, Rechtstaatlichkeit und
Menschenrechte einfordern können und müssen. Es existiert der leise Vorwurf, dass die großen Sportverbände
nicht die Kraft zur Demokratisierung haben, weil sie
vielleicht selbst nicht vollständig demokratisch strukturiert sind. Diesem Vorwurf können die Verbände nur
durch aktives Tun entgegenwirken.
Welche Chancen, welche Kraft und welches Veränderungspotenzial Sportgroßveranstaltungen mit sich bringen, haben die Australier im Jahr 2000 bewiesen, als die
Aborigine Cathy Freeman das olympische Feuer entzündete. Als Botschafterin ihres Volkes, der Ureinwohner
Australiens, machte sie die Weltöffentlichkeit auf die
Unterdrückung aufmerksam - ein gewolltes, nachhaltiges, starkes und selbstbewusstes Zeichen der Versöhnung Australiens in die ganze Welt.
Pierre de Coubertin hat die Olympischen Spiele der
Neuzeit erfunden. Es soll ein Treffen der Jugend der Welt
sein und der Völkerverständigung dienen. Doch längst
ist aus diesem Gedanken mehr geworden. Wenn die großen Verbände IOC, FIFA und UEFA eine ihrer Veranstaltungen vergeben, dann machen sie damit nicht nur
ein Geschäft, sondern auch Politik. Deshalb ist die Intention des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen nachvollziehbar. Dennoch sind die einzelnen Forderungen im
Antrag im Detail zu diskutieren. Wesentliche Forderungen an die Bundesregierung wurden bereits umgesetzt
oder sind nicht umsetzbar.
Ebenfalls sollten wir erörtern, wie es sein kann, dass
Bündnis 90/Die Grünen in diesem Antrag die Vergabe
von Sportgroßveranstaltungen nach höchsten ökologischen Standards einfordern, aber die Olympischen Winterspiele 2018 in München abgelehnt haben, die diese
Kriterien erfüllt hätten. Wir werden diese Punkte ausführlich im Sportausschuss beraten.
Dieser Tage ist die Fußballeuropameisterschaft in
Polen und der Ukraine in aller Munde.
Im Vorfeld hatten wir eine wichtige Diskussion um
Menschenrechte in der Ukraine und über den dortigen
Umgang mit politischen Gegnerinnen und Gegnern. Ich
denke, es war gut und richtig, wie sich die Europäische
Kommission, Regierungen und Parlamentarier europaweit positioniert haben, indem sie sagten: Wir werden
nicht in die Ukraine reisen und das Regime aufwerten.
Auch Mitglieder der Bundesregierung haben hier ein
wichtiges Zeichen gesetzt. Umso befremdlicher finde
ich, dass der Bundesinnenminister und neuerdings auch
die Kanzlerin diese Phalanx durchbrechen: Sie wollen
im Falle von Spielen mit deutscher Beteiligung in der
Ukraine ebenfalls dorthin reisen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten meinen, hierzu müssen sich
Herr Minister Friedrich und die Bundeskanzlerin äußern. Warum gilt heute nicht mehr, was gestern noch
galt?
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat in ihrem
Antrag einige interessante Punkte angesprochen. Wir
werden uns im Sportausschuss noch intensiver damit befassen; daher möchte ich an dieser Stelle nur einige Bemerkungen machen. Wir hatten bereits mit Bündnis 90/
Die Grünen einen Antrag vorgelegt, der sich mit einem
ganz konkreten Fall bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen befasste: die Eishockeyweltmeisterschaft
2014 in Weißrussland.
In all diesen Fällen bewegen wir uns in einem Spannungsfeld zwischen der wichtigen und richtigen Autonomie des Sports und den Anforderungen, die eine
moderne Gesellschaft berechtigterweise an ihre Sportverbände stellt. Um es zu betonen: Wir stehen weiterhin
für die Autonomie des Sports ein. Denn gerade wir in
Deutschland wissen, was es bedeutet, wenn die Politik
den Sport instrumentalisiert und für Ideologien missbraucht.
Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, wie der
Grundsatz der Autonomie missbraucht wird, um dann
manch dubiose und zum Teil kriminelle Praxis in Sportverbänden zu rechtfertigen. Wenn für die Vergabe von
internationalen Meisterschaften vorab vom Verband
Millionenbeträge gefordert werden, wenn ohne intransparente, ja sogar korrupte Praktiken eine Bewerbung
von vorneherein aussichtslos ist, wenn ein ehrenamtlich
tätiger Funktionär plötzlich dreistellige Millionenbeträge einstreicht, dann hat dies nichts mehr mit der
Autonomie des Sports zu tun.
Zusammen mit dem Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, und den Sportfachverbänden müssen wir
Regelungen entwickeln, um hier verantwortliches Handeln sicherzustellen, ohne den Grundsatz der Autonomie
zu gefährden.
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen,
der im Antrag der Grünen erwähnt wird: die Steuerbefreiung bei internationalen Sportveranstaltungen. Sowohl für die Olympischen Spiele wie auch für die Fußballwelt- und Fußballeuropameisterschaften sowie die
UEFA-Cup-Finalspiele muss der Ausrichter Steuerbefreiung garantieren. Hier setzen das Internationale
Olympische Komitee, IOC, die FIFA und die UEFA ihre
Monopolstellung - meines Erachtens in ungebührlicher
Art und Weise - ein, um ihren kommerziellen Gewinn zu
maximieren. Bei einem wirtschaftlichen Unternehmen
ist das Streben nach Profitmaximierung verständlich,
zumal die Allgemeinheit durch Steuern ihren Anteil
erhält. Doch IOC, FIFA und UEFA gelten als gemeinnützig.
Deutschland hat bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen viele Jahre keine Befreiung von der Steuerpflicht garantieren wollen. Das Ergebnis war, dass die
UEFA lieber in maroden Stadien ihre Finale ausspielen
ließ - und wir in Deutschland fast anderthalb Jahrzehnte keine Finalspiele mehr ausrichten konnten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich meine, hier muss es zu einem gemeinsamen Handeln der EU kommen: Das Gegeneinanderausspielen
muss aufhören. Wenn die EU-Staaten beschließen, dass
eine Steuerbefreiung nicht mehr infrage kommt, wird es
bestimmt nicht lange dauern, bis die UEFA einlenken
wird. Denn in den EU-Staaten wird das meiste Geld mit
Fußballfernsehrechten verdient. Insofern wird man es
sich nicht erlauben können, hier grundsätzlich keine
Finalspiele mehr abzuhalten.
Ich bin froh, dass wir das Thema Besteuerung von
Sportgroßveranstaltungen im Sportausschuss mit Sachverständigen diskutieren werden.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin ein
glühender Anhänger der völkerverbindenden Idee und
Kraft des Sports. Aber: Sport ist auch ein kommerzielles
Produkt geworden. Mit Sport und insbesondere dem
Fußball werden Milliardenbeträge verdient. Dem muss
die Politik Rechnung tragen, und auch die Sportverbände müssen sich der Diskussion stellen, dass nicht
mehr alles nur noch den hehren Idealen des Pierre de
Coubertin folgt.
Schließlich möchte ich noch konkreter auf einige
Punkte in ihrem Antrag eingehen:
Was generell auffällt, ist, dass Sie wieder einmal viele
Punkte miteinander verbinden, die vielleicht besser in
getrennten Anträgen aufgeführt worden wären. Ich habe
ja schon erwähnt, dass ich durchaus Sympathien für die
Forderung habe, sich nicht weiter von den großen Verbänden gängeln zu lassen und auf sämtliche Steuereinnahmen zu verzichten. Aber hier bedarf es einer mit den
anderen EU-Staaten koordinierten Vorgehensweise,
sonst wird das nichts. Ich finde, dieses Thema ist so
wichtig, dass man ihm durchaus einen eigenständigen
Antrag hätte widmen können.
Außerdem fordern Sie im fünften Spiegelstrich, die
ausführenden Verbände sollten die Einhaltung von menschen- und bürgerrechtlichen sowie ökologischen Standards überprüfen. Wenn ich das einmal konkret an der
laufenden Europameisterschaft festmachen darf: Wie
stellen Sie sich das vor? Soll der ukrainische Verband
die Einhaltung der Menschenrechte in der Ukraine
überprüfen? Oder meinen Sie die UEFA? Sollen Herr
Platini und seine Mannschaft die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte überprüfen? Und bei der WM
in Katar dann Herr Blatter? Mir ist ja bekannt, dass
Herr Blatter davon träumt, den Friedensnobelpreis zu
erhalten. Aber ich denke, da überfordern und überhöhen
Sie diese Organisationen. Ich kann Ihnen nur das neue
Buch von Herrn Kistner zur FIFA empfehlen. Nach der
Lektüre werden Sie meine Einstellung besser nachvollziehen können.
Noch ein Wort zur Fußballeuropameisterschaft: Ich
denke, wir haben hier sehr gute und beherzte Auftritte
und Aussagen von Nationalspielern zu Menschen- und
Bürgerrechten in einzelnen Gastgeberländern gehört.
An diesen Beispielen sieht man, wie der Sport in
wichtigen ethischen Fragen Position beziehen kann und
nicht sprachlos bleiben muss.
Sportgroßveranstaltungen ermöglichen es Sportlern
aus der ganzen Welt, ihrem Sport, der heute meist auch
Beruf ist, vor einem breiten Publikum nachzugehen.
Wenn in diesem Zusammenhang oft auch von der Kommerzialisierung des Sports die Rede ist, so sollten wir
nicht vergessen, dass es gerade diese Kommerzialisierung ist, die die heute herrschende Professionalität gefördert hat und es sehr vielen Sportlern ermöglicht, ihrer
Leidenschaft, dem Sport, nachzugehen und gleichzeitig
davon leben zu können.
Und doch ist der Sport nicht bloßer Broterwerb einiger weniger. Er begeistert viele, bringt Fremde einander
näher und schafft Gemeinsamkeiten. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns als Liberale über jede Sportveranstaltung, ob sie besonders groß und aufwendig organisiert ist wie die Fußballeuropameisterschaft 2012 oder
ob es sich um das städtische Sportfest mit begeisterten
Sportfreunden aller Altersklassen und vielen ehrenamtlichen Helfern handelt. Jedes freiwillige Zusammentreffen dieser Art definiert auch unsere Gesellschaft.
Deshalb können wir nicht zusehen, wie hier vonseiten
unserer wohlmeinenden grünen Freunde versucht wird,
Sportveranstaltungen einer Bürokratendiktatur zu unterwerfen und sie der eigenen ideologischen Utopie anzupassen.
Es ist keine Neuigkeit, dass in der Ukraine in Sachen
Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit andere Zustände bestehen als hierzulande. Dies kann man auch
mit Recht kritisieren. Jedoch: Nur dank einer Veranstaltung wie der Fußball-EM stehen die Probleme dort jetzt
auch im Fokus einer breiten Öffentlichkeit. Daraus entstehen dann der auch von Ihnen herbeigesehnte gesellschaftliche Diskurs und die hohe mediale Aufmerksamkeit, zum Beispiel für den Fall Timoschenko. Und welche
Schlussfolgerung ziehen Sie daraus? Die EM dürfte in
einem Land wie der Ukraine gar nicht stattfinden. Das
ist doch absurd!
Natürlich versucht die Regierung einer Nation, die
ein solches Fest ausrichtet, sich im besten Licht zu zeigen. Das ist selbstverständlich. Doch sollten Sie nicht
vergessen, dass Sportgroßereignisse weder politisch
noch medial im luftleeren Raum stattfinden. Dafür haben wir doch die Medien, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken und offen publizieren.
Sie dürfen auch nicht erwarten, dass sich durch eine
Sportveranstaltung wie die Olympischen Spiele 2008 die
politischen Verhältnisse in einem Land schlagartig ändern. Das sind Fantastereien, denen Sie sich da hingeben! Natürlich kann eine Sportveranstaltung einen Impuls geben, und das tut sie auch, aber es ist letzten
Endes auch nur Sport und die öffentliche Darstellung.
Hier gibt es meiner Meinung nach keinen konkreten Regulierungsbedarf.
Wenn sich ein Verband wie der IOC entschließt, eine
Veranstaltung an ein bestimmtes Land zu vergeben,
dann respektieren wir das. Sie gehen mit dem Begriff der
Autonomie des Sports um, als wäre er bloße Makulatur.
Wir respektieren diese Autonomie. Es besteht seitens der
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
Regierung auch gar kein Bedarf, sich in derartige Verfahren einzumischen.
Sie kritisieren, dass autoritäre Staaten Sportgroßveranstaltungen zu ihren eigenen Zwecken genutzt haben
und dass das auch zukünftig zu befürchten ist. Doch Sie
kritisieren dies nur, weil deren Ziele den Ihren diametral
entgegenstehen. Und so versuchen Sie den Sport für Ihre
Zwecke, die Gutmenschelei und die grüne Verblendung
einer großen Zahl von Menschen, zu instrumentalisieren.
Lassen wir den Sport Sport sein. Ermöglichen wir es
unseren jungen und älteren Sportlern aus aller Welt
auch weiterhin, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen. Dass sie in diesem Zusammenhang auch frei
ihre Meinung sagen können, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass dies von unseren Athleten, die für Themen wie
Menschenrechte und Demokratie sensibilisiert sind,
auch wahrgenommen wird, hat uns Philipp Lahm gezeigt.
Oder nehmen wir das Beispiel Peking, wo erst durch
die Olympischen Spiele die Behinderten ihren Platz in
der Gesellschaft fanden. Vorher wurden sie vom Land
schlicht negiert.
Wenn wir unsere Werte verteidigen wollen, dann geht
das nicht, indem man diejenigen, die sie noch nicht teilen, isoliert, sondern nur, indem man ihnen die Möglichkeit gibt, unsere Werte kennen und schätzen zu lernen.
Boykotte sind dabei nicht zielführend.
So können wir versuchen, Vorbilder zu sein. Aber unsere Oberlehrer sollten wir zu Hause lassen.
„Um einander zu achten, muss man sich zunächst
kennen“! Dieses Zitat geht zurück auf den Begründer
der modernen Olympischen Spiele, Baron Pierre de
Coubertin. Es spiegelt wider, worum es bei Sportveranstaltungen geht, egal ob bei internationalen Sportgroßveranstaltungen oder Sportfesten des örtlichen Sportvereins. Menschen unterschiedlicher Herkunft lernen
sich kennen, respektieren die sportliche Leistung der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, und zusammen
mit Zuschauerinnen und Zuschauern teilen alle die
Freude am gemeinsamen Sporterleben.
In der Vergangenheit gab es verstärkt Proteste, wenn
es um die Vergabe von sportlichen Großereignissen
ging. Am 13. Juli 2001 erhielt Peking den Zuschlag für
die Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen
Sommerspiele 2008. Daraufhin gab es viel Kritik, insbesondere an der Menschenrechtssituation, dem TibetKonflikt und den Umweltzerstörungen in China. Haile
Gebrselassi, der bis letztes Jahr den Weltrekord im
Marathon hielt, hat beispielsweise seine Teilnahme am
Marathon in Peking wegen der schlechten Luft abgesagt. Dies hat er im Nachhinein jedoch bereut, da die
Verhältnisse besser waren als erwartet. Überhaupt muss
man heute feststellen, dass die Olympischen und insbesondere die Paralympischen Spiele auch positive Impulse für China gebracht haben. Vorher waren Menschen mit Behinderungen in China unsichtbar. Hier hat
es einen ersten Schritt in die richtige Richtung gegeben,
und auch wenn es ein langer Weg ist, so hat in der
Gesellschaft ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Die
Paralympischen Spiele haben China und der Welt gezeigt, was Menschen mit Behinderungen zu leisten im
Stande sind. Nach der Vergabe der Olympischen und
Paralympischen Sommerspiele an Peking gab es jedoch
noch weitere Anlässe zu Kritik an den großen Sportorganisationen wie IOC und FIFA. Die Olympischen und
Paralympischen Winterspiele 2014 werden im russischen Sotschi stattfinden, und die Eishockey-WM 2014
ist nach Belarus vergeben. Auslöser der Proteste sind
hier vor allem die Menschenrechtslage in Belarus und
die Umweltbedingungen in Sotschi. Es ist auch schwer
zu verstehen, dass Olympische und Paralympische Winterspiele in einer Sommerresidenz am Schwarzen Meer
ausgetragen werden sollen. Es würde schließlich auch
niemand auf die Idee kommen, Winterspiele in Nizza
durchzuführen, und das liegt immerhin auf dem gleichen
Breitengrad wie Sotschi. Die Kritik ist also durchaus
berechtigt, und die entscheidende Frage ist, wie man
damit umgeht.
Ich denke, Boykotte von Sportveranstaltungen sind
kontraproduktiv und schaden in erster Linie dem Sport
und den Sportlerinnen und Sportlern. Es besteht heute
eine nahezu einhellige Auffassung, dass die großen Boykotte der Olympischen Spiele von Moskau 1980 und Los
Angeles 1984 negative Folgen hatten; sie waren falsch.
Der Sport kann nicht in die Haftung der Politik genommen werden, und in Bezug auf Peking 2008 hat selbst
der Dalai Lama einen Boykott abgelehnt, da dieser das
chinesische Volk getroffen hätte und nicht die Regierung, mit der der Konflikt eigentlich bestand. Man kann
nicht ernsthaft erwarten, dass durch eine Sportveranstaltung, auch wenn es sich um die Olympischen und
Paralympischen Spiele handelt, ein seit mehr als
50 Jahren bestehender Konflikt wie die Tibet-Frage,
gelöst werden kann. Hier würde man den Sport überfrachten, und davor möchte ich warnen. Auch Jacques
Rogge, der Präsident des Internationalen Olympischen
Komitees, sagte im März 2008 bei der Entzündung der
olympischen Flamme: „Die olympischen Spiele sind
eine Kraft für das Gute. Sie sind ein Katalysator für
Wandel, nicht ein Allheilmittel für alle Übel“.
Diese positive Kraft für das Gute muss man nutzen.
Ein positives Beispiel der Vergangenheit sind die Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul. Dieses Ereignis
hat dazu beigetragen, dass sich Südkorea der Welt öffnete. Man muss bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen entscheiden, ob man ein Land isolieren will
oder mit den Mitteln des Sports ein Dialog angeregt
werden kann. Ich bin für den zweiten Weg! Natürlich
kann Sport nicht völlig losgelöst von der Politik betrachtet werden. Das hat schon das Viertelfinale der aktuellen
Fußball-EM zwischen Deutschland und Griechenland
gezeigt. Die Medien haben die gesamte Euro-Krise auf
dieses Spiel projiziert. Der Kanzlerin wurde sogar empfohlen, im Falle eines Erfolgs der deutschen Mannschaft
nur verhalten zu jubeln. Das geht meiner Meinung nach
zu weit. Dennoch können sich die internationalen SportZu Protokoll gegebene Reden
organisationen nicht auf den Standpunkt zurückziehen,
Sport und Politik müsse man strikt trennen.
Die Entwicklung von Vergabekriterien für Sportgroßveranstaltungen, wie in dem vorliegenden Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen, ist ein guter
Anfang. Es ist wichtig, dass es einheitliche Kriterien
gibt, die transparent und nachvollziehbar sind. In einem
solchen Katalog müssen ökologische Kriterien enthalten
sein. Es ist nicht hinnehmbar, dass für die Austragung
einer solchen Veranstaltung die Natur dauerhaft zerstört
wird. Eingriffe, die irreversibel sind, müssen durch positive Projekte an anderer Stelle kompensiert werden. Es
müssen soziale Kriterien enthalten sein; denn es kann
nicht sein, dass es für die Realisierung einer Bewerbung
oder die Durchführung der Sportveranstaltung zu Kürzungen bei sozialen Projekten kommt. In Anlehnung an
die Waffenruhe, die während der Olympischen Spiele in
der Antike herrschte, müssen Sportveranstaltungen auch
in einem friedlichen und stabilen Umfeld stattfinden. Es
ist wichtig, die Lage in einem Land zumindest für einen
gewissen Zeitraum einschätzen zu können; denn die Vergabe einer Sportgroßveranstaltung erfolgt zumeist einige Jahre früher. In einem solchen Kriterienkatalog
muss selbstverständlich auch die Menschenrechtslage in
den potenziellen Austragungsorten eine Rolle spielen.
Es müssen Mindeststandards eingehalten werden, und
diese Einhaltung muss auch öffentlich dokumentiert
werden und nachvollziehbar sein. Eine solche Bewertung vorzunehmen, ist für die internationalen Sportorganisationen durchaus zumutbar. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, das richtige Maß zu finden.
Menschenrechte werden unterschiedlich interpretiert
und ausgelegt. Wenn man die Latte hier zu hoch legt,
dann könnten wohl in keinem Land bedenkenlos Sportveranstaltungen ausgetragen werden. Es würde wohl
keinen Aufschrei geben, wenn die Vereinigten Staaten
von Amerika den Zuschlag für die Austragung einer
Weltmeisterschaft oder der Olympischen und Paralympischen Spiele bekommen würden. Bei genauerem Hinsehen muss man aber feststellen, dass in über 30 Staaten
noch die Todesstrafe durch das Gesetz zulässig ist und es
ein höchst fragwürdiges Gefangenenlager auf Guantánamo gibt. Es ist die ständige Aufgabe der Politik, sich
für die Einhaltung und Verbesserung der Menschenrechte einzusetzen. Der Sport kann hier nur temporär
einen Beitrag leisten und Probleme öffentlich machen,
lösen kann er sie sicherlich nicht. Ein Kriterienkatalog
ist aber auch deshalb sinnvoll, da Länder, die diese
Punkte noch nicht umfänglich erfüllen, möglicherweise
animiert werden, die Verhältnisse im eigenen Interesse
anzupacken und zu verbessern. Notwendig in einem solchen Katalog ist meiner Meinung nach auch eine Begrenzung der Kosten zur Durchführung von Sportereignissen. Eine solche Kostendeckelung muss sich sowohl
auf das Bewerbungsverfahren als auch die Austragung
der Sportveranstaltung beziehen. Schließlich müssen
auch die Abstimmungsmodalitäten der Sportorganisationen transparent und nachvollziehbar sein;
denn auch der beste Kriterienkatalog wäre wirkungslos,
wenn seine Beachtung nicht überprüfbar wäre.
Wir unterstützen den Antrag, auch wenn man einige
Punkte ergänzen könnte und insbesondere die Menschenrechtsfrage sehr differenziert betrachten muss.
Vielleicht können wir auch gemeinsam noch einige Ergänzungen entwickeln. Durch diesen Antrag wird eine
Debatte angestoßen, und die Probleme werden ausdrücklich benannt. Ein sportlicher Dialog kann für alle
Beteiligten sehr fruchtbar sein. Auf diese Weise lernen
sich Menschen auch kennen und achten.
Mit dem vorliegenden Antrag zum Verhältnis von
Sportgroßveranstaltungen und Menschenrechten betreten wir politisches Neuland. Es wird zum ersten Mal im
parlamentarischen Bereich ein wirkungsvoller Versuch
gemacht, einen modernen Lösungsweg zu skizzieren.
Wir setzen uns für eine Lösung ein, die sowohl der großen Bedeutung von Sportgroßveranstaltungen Rechnung
trägt als auch der Universalität der Menschenrechte zu
stärkerer Geltung verhelfen möchte.
Ganz bewusst haben wir unseren Antrag vor dem
Hintergrund der Fußballeuropameisterschaft in Polen
und der Ukraine eingebracht. Besonders die politische
Situation in der Ukraine steht in den letzten Monaten im
Fokus von Politik und Öffentlichkeit. Es gibt in der
Ukraine undemokratische Zustände in einigen Bereichen. Wir müssen zahlreiche Fälle von politisch motivierter Justiz feststellen. Daher lehnen wir einen Fußballtourismus der Politik zugunsten von Präsident
Janukowitsch ab. Wir setzen auf deutliche und vernehmliche Kritik statt auf Fanklatscherei auf der Ehrentribüne.
Lassen Sie mich zu den sportpolitischen Aspekten unseres Antrages kommen. Wir müssen in den letzten Jahren eine Häufung von umstrittenen Vergaben von Sportgroßveranstaltungen feststellen. Ich sehe drei Gründe
für diese Entwicklung:
Erstens ist grundsätzlich die Zahl derjenigen Länder
gestiegen, die sich um die Ausrichtung von Sportgroßveranstaltungen bewerben. Es sind neue Länder auf der
sportpolitischen Bildfläche erschienen, ich nenne Südafrika, China, Brasilien. In Katar wird 2022 die Fußballweltmeisterschaft stattfinden, was kaum jemand
außerhalb des Weltfußballverbandes, FIFA, nachvollziehen kann.
Zweitens ist mit Vergabeentscheidungen auch immer
wieder das Thema Korruption verbunden. Eine Sportveranstaltung in dieser Größenordnung wird eben häufig nicht allein nach Geeignetheit des Bewerbers vergeben, sondern es fließt Geld im verborgenen Bereich. Das
Internationale Olympische Komitee, IOC, und der Weltfußballverband sind besonders betroffen von Vorwürfen,
Indizien und sogar gerichtsfesten Fakten. In der Schweiz
hat ein Gericht festgestellt, dass von 1989 bis 2001 mindestens 140 Millionen Schweizer Franken als Schmiergeld im internationalen Sport geflossen sind. Obwohl
auch meine Fraktion für die Autonomie des Sports ist,
werden wir unsere Augen nicht vor diesen strafrechtsrelevanten Fehlentwicklungen verschließen. Der Sport
Zu Protokoll gegebene Reden
darf nicht weiter von korrupten Funktionären als Deckmantel für Bereicherung benutzt werden.
Wir verschließen unsere Augen auch nicht, wenn es
ein IOC bis heute nicht schafft, den teilnehmenden
Sportlerinnen und Sportlern bei Olympia das Recht auf
Meinungsäußerung zu gewähren. Es gibt leider nach
wie vor einen Art. 51 der IOC-Charta, der Sportlerinnen
und Sportlern mit Ausschluss von Olympia bedroht,
wenn sie sich politisch äußern. Da sehen wir Grüne die
vordemokratische Haltung des IOC ganz kritisch. Ich
sage Ihnen schon jetzt voraus: Wenn es in dieser Frage
nicht schnellstens zu einer Demokratisierung der IOCRegeln kommt, dann werden wir in etwas mehr als einem
Jahr bei den Olympischen Spielen in Sotschi die nächste
Debatte um die eingeschränkte Meinungsfreiheit von
Sportlerinnen und Sportlern haben.
Drittens ist der Fokus der Öffentlichkeit bei Sportgroßereignissen immer stärker auf Menschenrechtsverstöße und Fehlentwicklungen wie Umweltzerstörung
und Kostensteigerungen gerichtet. Nichtregierungsorganisationen und Umweltschutzverbände sind an dieser
Stelle als glaubwürdige Kritiker dieser Entwicklung zu
nennen, da sie - oftmals mit wissenschaftlicher Expertise gestützt - ein weltweites Forum und internationale
Aufmerksamkeit nutzen können. Ich nenne aber auch
lokale Organisationen und Vereine, die ihre kritische
Haltung und ihren Protest gegen autoritäre Politik formulieren und dafür auch Repressionen riskieren. Ich
konnte mir in den vergangenen Monaten vor Ort in
Sotschi mehrfach ein genaues Bild machen und stehe in
einem engen Kontakt zu einigen Organisationen.
Aus grüner Sicht wollen wir einen gangbaren Weg
aufzeigen, um zu einer vernünftigen Weiterentwicklung
zu kommen.
Um es ganz deutlich zu sagen: Es geht uns nicht um
einen grundsätzlichen Boykott von Sportveranstaltungen. Unser Lösungsvorschlag bedeutet: Es sollte auf
internationaler Ebene eine Konvention ausgearbeitet
werden, in der Sport, Politik und Nichtregierungsorganisationen einen Kriterienkatalog aufstellen, an dem
sich Sportgroßveranstaltungen zukünftig messen lassen
sollten. Ich möchte den Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, aber auch mitgliederstarke Sportverbände
wie den Deutschen Fußball-Bund, DFB, ausdrücklich
ermuntern, sich bei diesem Vorhaben einzubringen.
Lassen sie mich kurz den weiteren parlamentarischen
Zeitplan unseres Antrages skizzieren. Die Beratungen
werden kein parlamentarischer Schnellschuss sein. Ausdrücklich behalten wir Grüne uns vor, eine öffentliche
Anhörung zu diesem Antrag durchzuführen. Es wäre
auch für die weitgehend positionslose Regierungskoalition eine gute Gelegenheit, einmal Farbe in ihrer bisher
verwaisten Sportpolitik zu bekennen. Ich weiß, dass es
auch bei einigen Kolleginnen und Kollegen aus den
schwarzgelben Reihen großes Unbehagen gibt, wenn
Sportgroßveranstaltungen in Staaten stattfinden, in denen Menschen- und Bürgerrechte nicht viel zählen.
Daher mein Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antrag
zu oder legen Sie einen eigenen Vorschlag vor.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9982 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Damit ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes ({0})
- Drucksache 17/10039 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Nicht immer, aber immer öfter fallen sie im Straßenverkehr auf, Fahrzeuge mit Elektroantrieb, in den acht
Modellregionen, wie zum Beispiel im Raum Rhein-Main
nahe meinem hessischen Wahlkreis oder hier in Berlin.
Fast täglich komme ich an den ersten Strom-„Zapfsäulen“ vorbei. Erste Fahrzeugflotten bei Vermietern, zum
Beispiel der Bahn, und beim Carsharing sind schon umgerüstet.
Auch wenn diese Fortschritte natürlich noch auf die
urbanen Zentren begrenzt sind und noch längst nicht die
Fläche erreicht haben, so zeigen sie doch, dass es vorangeht mit der Elektromobilität. Ausgehend von heute
1 500 zugelassenen Fahrzeugen sind die Ziele in den
kommenden Jahren zugegeben äußerst ehrgeizig.
Gleichzeitig erhält ein einzelnes Segment eine derartige
Aufmerksamkeit nur selten.
Die Koalition hat dazu auf Grundlage ihres Koalitionsvertrages das neue „Regierungsprogramm Elektromobilität“ aufgelegt und fördert die Einführung von
Elektroautos in verschiedenen Bereichen, bei der Forschung bei Speicherbatterien, Antriebstechnologien,
Leichtbautechnik, Brennstoffzellen, beim Ausbau der
Versorgungsnetze, im öffentlichen Personennahverkehr
mit Hybridbussen wie zum Beispiel in Stuttgart und vieles mehr. Bundesregierung und Industrie fördern mit
knapp 2 Milliarden Euro die Nationale Plattform Elektromobilität. Über 200 Projekte deutschlandweit werden
mit 130 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket II unterstützt. Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Nationale Innovationsprogramm mit der Forschung zu Wasserstoff- und Brennstoffzellenprojekten.
Erst in der letzten Woche wurde der dritte Fortschrittsbericht der Nationalen Plattform vorgelegt, der
die Fortschritte aufzeigt. Ein langer ambitionierter Weg,
ich sagte es, aber wir sind schon gut vorangekommen
auf dem Weg zum erklärten Ziel, Deutschland zum
Leitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität zu entwickeln.
Einen steuerrechtlichen Baustein der Maßnahmen
wollen wir heute als zentralen Bestandteil des sogenannten Verkehrsteueränderungsgesetzes hinzufügen.
Ich begrüße, dass wir die Kfz-Steuerbefreiung für
reine Elektro-Personenkraftwagen von derzeit fünf auf
zehn Jahre erweitern und so den Anreiz neben den nichtmonetären Vorteilen für die Käufer verstärken, die sich
für ein noch deutlich teureres Elektroauto entscheiden.
So wird ein wichtiges Signal gesetzt, denn praktisch ist
damit ein Elektroauto für seine durchschnittliche Lebensdauer von der Kfz-Steuer befreit. Dies ist ein zusätzlicher Anreiz für die umweltbewussten Kraftfahrer, die
sich auf die neue Technologie einlassen.
Wichtig ist auch die Erweiterung der Förderung auf
andere Elektrofahrzeuge wie Kleinfahrzeuge und
Quads. Gerade bei diesen Fahrzeugen, die keine Pkw
sind und deshalb bisher nicht erfasst wurden, gab es zuvor Unsicherheiten und eine Zurückhaltung bei den
Käufern, wie ich aus persönlichen Gesprächen mit interessierten Bürgern weiß. Jetzt sind diese Kleinfahrzeuge
mit dabei bei der Förderung. Auf diese Klarstellung haben viele Käufer gewartet. Auch dies ist ein wichtiges Signal für ein sehr entwicklungsfähiges Fahrzeugsegment.
Weitere Verbesserungen bietet der Regierungsentwurf
auch beim Verwaltungsaufwand: So kann der Erfüllungsaufwand reduziert werden, indem die verkehrsrechtlichen Feststellungen hinsichtlich Fahrzeugklassen
und Aufbauarten nun aus Gründen der Vereinfachung
auch kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Zwecken dienen,
sofern dies nicht zu umweltpolitisch kontraproduktiven
Effekten führt. Also: Einmal prüfen, zweimal Daten anwenden - eine zweckdienliche Lösung.
Zudem entfallen so Vorführungen, Nachprüfungen bei
den Finanzämtern, Rechtsstreitigkeiten werden vermieden, und, um ein praktisches Beispiel zu nennen, vor allem kleinen Gewerbetreibenden mit ihren Pick-ups, die
bisher hier Probleme hatten, wird so geholfen.
Dies sind nur die steuerrechtlichen Bausteine eines
umfassenden Programms für mehr saubere und umweltfreundliche Fahrzeuge auf unseren Straßen. Ich bin
überzeugt, dass die Maßnahmen dieses Gesetzes für alle
Fraktionen gute Vorschläge für zügige und konstruktive
Beratungen im Finanzausschuss darstellen.
Der Versicherungsmarkt hat eine wichtige Stabilisierungsfunktion für die Wirtschaft, da er Risiken, denen
die Bürger und auch Unternehmen ausgesetzt sind, absichert. Der Abschluss von Versicherungen, abgesehen
von einzelnen Ausnahmen gemäß § 6 Abs. 2 Versicherungsteuergesetz, wird mit einer Versicherungsteuer von
19 Prozent belastet.
Das Aufkommen der Versicherungsteuer betrug im
Jahre 2011 rund 10,8 Milliarden Euro. Die Versicherungsteuer trägt dabei maßgeblich zu den Einnahmen der öffentlichen Haushalte bei. Für den Verbraucher - sprich
den Bürger - ist es wichtig, Klarheit zu haben, welche
Versicherungsgeschäfte versteuert werden. Dies schafft
mehr Steuergerechtigkeit und trägt der Entwicklung des
Versicherungsmarkts Rechnung, da häufig mehrere Versicherungen in Form von Versicherungspaketen abgeschlossen werden.
Die Bundesregierung legt nun eine Änderung des Versicherungsteuergesetzes vor, mit der sowohl Bürokratie
abgebaut als auch ein Beitrag zur Steuervereinfachung
geleistet werden soll. Dies sichert den öffentlichen
Haushalten das Aufkommen und führt zu einer Vereinfachung bei der Erhebung der Versicherungsteuer.
Anlass der Änderung des Versicherungsteuergesetzes
ist eine Vielzahl von offenen Fragen, die in der Verwaltungspraxis festgestellt wurden. Ziel des Gesetzes soll es
ferner sein, zu vermeiden, dass der Steuerpflichtige oder
das Versicherungsunternehmen Umgehungstatbestände
konstruiert, die dem Fiskus Einnahmen entziehen. Die
Bundesregierung hat das Ziel, wie im Koalitionsvertrag
festgelegt, weiter intensiv am Bürokratieabbau zu arbeiten.
Sicherlich stöhnen Bürger und Unternehmer häufig
unter zu viel Bürokratie. Dies mag in vielen Fällen auch
tatsächlich so sein. Andererseits braucht ein gut funktionierender Staat klare gesetzliche Regelungen und vor
allem eine eindeutige Umsetzung von gesetzlichen Regelungen. Andererseits kann es nicht Ziel sein, Erbsen zu
zählen.
Daher ist es zu begrüßen, dass die Gesetzesänderung
eine Verdoppelung der Schwellenwerte für die vierteljährliche Abgabe der Steueranmeldung enthält - von
3 000 auf 6 000 Euro. Dies führt zum Abbau von Bürokratie.
Das Gesetz verfolgt ferner das Ziel, einzelne Versicherungstatbestände eindeutiger im Hinblick auf den
Steuersatz und die Bemessungsgrundlage zu regeln, insbesondere bei sogenannten Versicherungspaketen. Das
Ziel der beleglosen Steuererklärung wird durch die Einräumung der Möglichkeit der Abgabe einer elektronischen Steuerklärung weiter vorangetrieben. Durch diese
Regelung wird laut Prognosen des Bundesfinanzministeriums der Erfüllungsaufwand um 370 000 Euro verringert. Die Einräumung der Möglichkeit eines jährlichen
Anmeldezeitraums stärkt die Wettbewerbsfähigkeit kleiner Versicherungsunternehmen.
In Anbetracht der Neuausrichtung der Agrarpolitik
und im Vergleich zu anderen Möglichkeiten der EUNachbarstaaten sollte man bei dem Thema Mehrgefahrenversicherung die Naturereignisse mit hoher Schadensintensität überprüfen. Auch bedarf die Übergangsvorschrift in § 12 einer genaueren Betrachtung
hinsichtlich möglicher Rückwirkungen.
Zu den Ausnahmen in dem Versicherungsteuergesetz
sei angemerkt, dass die Klarstellung hinsichtlich der
Einbeziehung der Beiträge zu sämtlichen Pflegeversicherungen in den Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1
Nr. 5 Versicherungsteuergesetz zu begrüßen ist. Hiermit
wird eine von der Praxis seit langem benötigte RechtsZu Protokoll gegebene Reden
klarheit hergestellt, die auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten positiv zu bewerten ist.
Die Resonanz auf den Gesetzentwurf ist gut, sowohl
der Gesamtverband der Versicherer als auch der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßen in ihrer Stellungnahme die Gesetzesänderung. Die Bundesregierung
bringt die Dinge voran, die Bundesregierung ist auf
einem guten Weg.
Wir behandeln heute in erster Lesung ein „Doppelgesetz“, also ein Gesetz, das aus zwei - ganz verschiedenen - Teilen besteht.
Wir haben dort zunächst die Änderung der Versicherungsteuer im Blick. Was will das Bundesministerium
der Finanzen mit dieser Änderung erreichen? Da heißt
es in der Problembeschreibung des Gesetzentwurfs recht
harmlos, in den letzten Jahren verstärke sich in der Versicherungswirtschaft der Trend zum strukturellen sowie
produktbezogenen Wandel mit jeweils negativen Folgen
für das Versicherungsteueraufkommen. - Und dieser
Erosion will die Bundesregierung entgegenwirken. Dies
wird im Einzelnen genau zu überprüfen sein.
Unter anderem werden wir uns dabei mit der Frage
der Versicherungspakete auseinandersetzen müssen.
Hierzu gibt es bereits weitreichende Kritik aus der Versicherungswirtschaft, die wir ernst nehmen und mit der
wir uns in einer Anhörung auch auseinandersetzen werden.
Zur Beseitigung der bisherigen Streitanfälligkeit der
Besteuerung von Versicherungspaketen sollen Abweichungen von der Regelbesteuerung nur dann Anwendung finden, wenn rechtlich selbstständige Verträge in
diesen Paketen zusammengefasst werden. Dort, wo dies
nicht der Fall ist, soll die Steuerfreiheit auch für einen
eigentlich steuerfreien Teil, wie etwa eine Krankenversicherung, entfallen. Man wird damit rechnen müssen,
dass eine solche Änderung in der Praxis zur Folge hat,
dass solche Pakete entweder teurer werden oder nicht
mehr angeboten werden. Es muss dann nur klar sein,
dass dies auch politisch gewollt ist.
Welche tatsächlichen monetären Folgen die Änderung hat und wie die Versicherungskonzerne auf die Änderung reagieren werden, dies muss zunächst festgestellt
werden, bevor der Vorschlag endgültig bewertet werden
kann.
Hingegen ist die politische Bewertung des zweiten
Teils des Gesetzentwurfes deutlich einfacher. Die Regierung möchte den Förderzeitraum für reine Elektropersonenkraftwagen von fünf auf zukünftig zehn Jahre
erhöhen. Zuzüglich soll die Förderung auch auf andere
reine Elektrofahrzeuge ausgedehnt werden. Und diese
Steuerbefreiung soll nun dazu führen, dass wir die Energiewende schaffen? Diese Steuerbefreiung soll die Benzinautos von der Straße verdrängen und durch Elektroautos ersetzen? Diese Steuerbefreiung soll dafür sorgen,
dass deutsche Hersteller wirtschaftlich gefördert werden? Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, da sollten Sie Ihre Regierung aber noch ein
bisschen motivieren!
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Sachverständigen auch zu diesem Teil sicher einiges zu sagen haben
werden. Dies werden wir mit Freude abwarten, um dann
entsprechend zu handeln.
Mit dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes werden wir Änderungen des Versicherung- und des Kraftfahrzeugsteuerrechts vornehmen.
In der Versicherungswirtschaft hat sich in den letzten
Jahren der Trend zum strukturellen sowie produktbezogenen Wandel verstärkt. Die Konsequenzen waren negative Folgen für das Steueraufkommen. Die Bundesregierung hat sich jetzt entschlossen, dem aus fiskalischer
Sicht entgegenzuwirken. Aufgrund entsprechender Forderungen des Bundesrechnungshofs wurde die Rechtsund Fachaufsicht seit 2001 intensiviert. Dazu haben die
Erfahrungen mit der bundeseigenen Verwaltung der Versicherungsteuer gezeigt, dass das Versicherungsteuergesetz ergänzt und präzisiert werden muss, um den Vollzug,
die Rechtsanwendung bzw. die Erfüllung von Informationspflichten insgesamt zu erleichtern.
Die Bundesregierung will mit der Neuregelung des
Versicherungsteuergesetzes unter anderem bei Kfz-Haftpflichtversicherungen von der Regelung eines fiktiven
Versicherungsentgelts absehen. Stattdessen werden die
im Schadenfall verwirklichten Selbstbehalte als Versicherungsentgelt erfasst.
Im Wesentlichen soll das vorliegende Gesetz das
Versicherungssteueraufkommen sichern und mehr
Rechtssicherheit schaffen. Dies liegt im Interesse aller
Beteiligten, insbesondere im Interesse der Steuerentrichtungspflichtigen, die die Steuer für Rechnung des Steuerschuldners abzuführen haben und im Fall einer nachträglichen Beanstandung oftmals vor dem Problem
stehen, die Steuerschuldner nicht nachbelasten zu können. Des Weiteren soll mit der Gesetzesnovelle eine Vielzahl von Problemen, die in der Praxis aufgetreten sind,
beseitigt und mehr Rechtssicherheit schaffen werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt dieses Gesetzesvorhabens ist die Förderung der Elektromobilität. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, Deutschland zum
Leitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität zu entwickeln. Dazu hat sie am 18. Mai 2011 das „Regierungsprogramm Elektromobilität“ verabschiedet. Als
Baustein dieses Regierungsprogramms sollen mit diesem Gesetz die finanziellen Anreize zur Anschaffung eines umweltfreundlichen, aber bisher noch teuren Elektrofahrzeugs erhöht werden. Dazu soll die derzeit auf
Personenkraftwagen mit reinem Elektroantrieb beschränkte fünfjährige Kraftfahrzeugsteuerbefreiung auf
insgesamt zehn Jahre und alle Fahrzeugarten ausgedehnt werden, sofern diese rein elektrisch angetrieben
werden, das heißt gespeist aus mechanischen oder elektrochemischen Energiespeichern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit diesen Neuregelungen sind alle Fahrzeuge begünstigt, die vom 18. Mai 2011 bis zum 31. Dezember
2015 erstmals zum Verkehr zugelassen werden. Fahrzeuge, die im Folgezeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum
31. Dezember 2020 erstmals zugelassen werden, erhalten wieder eine Steuerbefreiung über fünf Jahre.
Darüber hinaus soll mit dem Gesetz zukünftig die
Feststellung der kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Fahrzeugklassen und Aufbauarten zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage vereinfacht werden. Für verschiedene
Gruppen von Fahrzeugen sah das Kraftfahrzeugsteuerrecht bisher unterschiedliche Tarife vor. Die Anwendung
der mitunter rein kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Abgrenzungskriterien bei der Zuordnung des Fahrzeugs
führt regelmäßig zu Schwierigkeiten, da sie von verkehrsrechtlichen Fahrzeugklassifizierungen abweicht.
Zudem ist sie mit erhöhtem Erfüllungsaufwand verbunden, denn Fahrzeuge müssen gegebenenfalls zur Feststellung der steuerlichen Bemessungsgrundlage bei der
für die Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer zuständigen
Behörde vor Ort vorgeführt und vermessen werden. Die
Praxis zeigte aber, dass das Abweichen der steuerrechtlichen von der verkehrsrechtlichen Einstufung von
Fahrzeugen für die betroffenen Steuerpflichtigen oft
nicht nachvollziehbar war. Zukünftig soll die verkehrsrechtliche Klassifizierung der Fahrzeuge für kraftfahrzeugsteuerliche Zwecke grundsätzlich übernommen
werden.
Zudem soll dieses Gesetz eine erhebliche Erleichterung für die Versicherer bringen, da diese ihre Steuerdaten demnächst in elektronischer Form an die Finanzbehörden übermitteln können.
Mit diesem Gesetz wird das Rad nicht neu erfunden.
Es aktualisiert aber das Versicherungsteuergesetz und
passt es den heutigen Gegebenheiten an. Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz das Versicherungsteueraufkommen stabilisieren und für größere Rechtssicherheit sorgen. Zudem soll mit der Steuerbefreiung für
Elektromobile die Förderung der Elektromobilität erweitert und die Steuerbefreiung für reine Elektro-Pkw
von fünf auf zehn Jahre verlängert werden. Ob der
Markt der Elektro-Pkw damit einen neuen Impuls bekommt und dieses Gesetz ein Zeichen des Bürokratieabbaus und der angestrebten Steuervereinfachung ist,
werden wir im weiteren parlamentarischen Prozess genau prüfen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen zwei Bereiche geregelt werden, zum einen das Versicherungsteuergesetz, zum anderen das Kraftfahrzeugsteuergesetz. Während bei ersterem lediglich Anpassungen
- Präzisierungen und Ergänzungen - nötig sind, um dem
Trend in der Versicherungsbranche sowie Forderungen
des Bundesrechnungshofes gerecht zu werden, findet
sich der eigentlich interessantere Part im zweiten Teil,
und zwar in den vorgeschlagenen Änderungen des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Und hier liegt der Hase im
Pfeffer, wie es so schön heißt.
Hier will die Bundesregierung nämlich die bereits bestehende Begünstigung für Elektropersonenkraftwagen
ausdehnen. Konkret soll der Förderzeitraum auf zehn
Jahre verdoppelt werden. Die Steuerbefreiung soll für
Fahrzeuge gewährt werden, die in der Zeit vom 18. Mai
2011 bis 31. Dezember 2015 erstmals zugelassen werden.
Nach 2015 soll die Steuerbefreiung für reine E-Fahrzeuge für fünf Jahre fortgeführt werden - bei erstmaliger
Zulassung vom 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2020.
Die Förderung soll nicht mehr nur auf reine ElektroPkw beschränkt, sondern auf andere reine E-Fahrzeuge
erweitert werden. Grundlage für diese Maßnahme ist
das Regierungsprogramm „Elektromobilität“ vom
18. Mai 2011.
Betrachten wir die derzeitige Lage bei E-Autos, müssen wir feststellen, dass heutzutage in Deutschland
gerade einmal 4 000 dieser Fahrzeuge fahren. In den ersten
fünf Monaten dieses Jahres wurden erst 1 478 E-Fahrzeuge
zugelassen, darunter 681 von Privatleuten. Und wenn
man die Subventionen für den Bereich E-Autos betrachtet, wird einem schwindelig. So wurden laut Antwort der
Bundesregierung auf unsere Anfrage drei elektrische
Fahrzeuge der Firma Porsche mit 2,8 Millionen Euro
gefördert.
Das zeigt uns doch nur eins: Elektrofahrzeuge können nur ein Nischenprodukt sein, sie werden aber nicht
die verkehrs- und klimapolitischen Herausforderungen
der Zukunft lösen. Und auch die wenigen deutschen
Hybridfahrzeuge erfüllen nicht die Erwartungen in Sachen Verbrauchsreduktion; außerdem sind sie alle im
Luxussegment angesiedelt und daher für die Mehrheit
der Bürgerinnen und Bürger nicht erschwinglich.
Doch die Bundesregierung spricht immer noch von
einem Erfolg und schwärmt von der Marktführerschaft
Deutschlands im Bereich E-Autos. Kritik, wie zum Beispiel vom Direktor des Center Automotive Research,
CAR, der Universität Duisburg, Ferdinand Dudenhöffer,
der sagt, man könne froh sein, bis 2020 rund 10 Prozent,
also 100 000 E-Fahrzeuge, des Zieles von 1 Million
Elektrofahrzeuge zu erreichen, scheint an der Bundesregierung vorbeizugehen. Dass im Jahr 2030 dann 6 Millionen Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein sollen,
erscheint aus heutiger Sicht mehr als unrealistisch.
Wir konstatieren: Der Bereich E-Autos ist wichtig im
Rahmen der Energie- und Verkehrswende, aber er ist
nur ein Nischenbereich oder besser gesagt ein Baustein
unter vielen, um die Energiewende zu meistern.
Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass sie
Subventionsforderungen aus der Industrie widerstehen
kann bzw. diese im Vorfeld hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Analyse besser untersucht. Auch fordere ich die
Bundesregierung auf, die sozialverträgliche Senkung
des Klimagas- und Schadstoffaustausches des Individualverkehrs und damit eine größere Unabhängigkeit vom
Erdöl in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken. Notwendig bei der Verkehrs- und Energiewende ist - das
zeigt die Erfahrung - die Berücksichtigung des gesamten Verkehrssystems inklusive des öffentlichen Personennahverkehrs sowie der verschiedenen Technologiepfade. Denn es ist der falsche Weg, die
Zu Protokoll gegebene Reden
Fahrzeugindustrie mit Milliarden zu fördern und zeitgleich gegen eine Verschärfung der Grenzwerte für CO2
und Feinstaub im Abgas vorzugehen.
Deutsche Autos sind nach wie vor die größten Klimasünder und Spritsäufer in Europa. Wir brauchen endlich
ein Umdenken in der Industrie. Die Geschichte des Katalysators und des Rußfilters, deren Einführung hierzulande gesetzlich erzwungen werden mussten, zeigen:
Klare rechtliche Vorgaben sind die besten Innovationstreiber. Also werte Bundesregierung, unterstützen Sie
die EU-Kommission bei scharfen Grenzwerten! Wir halten eine strikte CO2-Obergrenze bei Neufahrzeugen von
95 Gramm bis 2020 für vernünftig und auch realistisch.
Auch brauchen wir dringend eine stärkere Erforschung und Förderung der Verkehrswende. Nicht nur
andere Autos, sondern vor allem der Umstieg auf umweltfreundlichere öffentliche Verkehrsträger muss Gegenstand der Förderung sein. Sie müssen eine deutlich
stärkere Rolle bekommen. Wir setzen uns für eine klimapolitisch motivierte Änderung der Kfz-Steuer ein. Dabei
ist eine vollständige Umstellung der Kfz-Steuer auf den
CO2-Austoß, flankiert durch Zu- und Abschläge entsprechend der Emissionsklassen, notwendig. Nur so wird uns
die Energiewende insgesamt gelingen.
Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis
2020 1 Million Elektroautos auf die Straße zu bringen.
Dieses Ziel ist richtig und muss beherzt angegangen
werden. Leider muss man aber befürchten, dass die Bundesregierung dieses Ziel so schnell wieder aufgegeben
hat, wie es formuliert wurde.
Vor über einem Jahr hat die Bundesregierung stolz
und mit großem Getöse das Regierungsprogramm Elektromobilität vorgelegt und darin auch konkrete Schritte
skizziert, um die Zukunftstechnologie in Deutschland
weiter zu fördern. So wurde angekündigt, die Kfz-Steuer
nicht nur für reine Elektro-Pkw zu erlassen, sondern
auch Hybride und leichte Nutzfahrzeuge steuerlich zu
begünstigen. Mehr als ein Jahr hat die Regierung nun
gebraucht, um diesen recht simplen Schritt nun auch zu
gehen, und doch ist es nur ein halber Schritt geworden.
Faktisch soll nur die bestehende Steuervergünstigung
für reine Elektromobile von fünf auf zehn Jahre verlängert werden. Dazu kommen nun auch leichte Pkw, also
etwa dreirädrige Fahrzeuge, und auch leichte Nutzfahrzeuge mit reinem Elektroantrieb in den Genuss der KfzSteuerbefreiung. Das ist zu begrüßen, tröstet jedoch
nicht darüber hinweg, dass die Regierung ihre zentrale
Ankündigung nicht umsetzt.
Denn klipp und klar stand im Regierungsprogramm
geschrieben:
In Zukunft sollen alle bis zum 31.12.2015 erstmals
zugelassenen Pkw, Nutzfahrzeuge und Leichtfahrzeuge, die … technologieneutral einen kombinierten CO2-Typprüfwert unter 50 g/km nachweisen
({0}), für einen verlän-
gerten Zeitraum von zehn Jahren von der Steuer
befreit werden.
Genau diese Ankündigung wird aber nun komplett
ignoriert. Die Steuerbefreiung gilt weiterhin nur für
reine Elektrofahrzeuge.
Das ist fatal, denn Plug-In-Hybride bieten die Mög-
lichkeit, rasch CO2-Emissionen zu senken und erneuer-
baren Strom in den Straßenverkehr einzuführen. Sie sind
im besonderen Maße für ländliche Räume geeignet, um
etwa rein elektrisch bis zum nächsten Bahnhalt zu fahren
und die Fahrzeuge dann auf einem Park-and-ride-Park-
platz wieder aufzuladen. Diese Fahrzeugkategorie, die
es ermöglicht, 90 Prozent aller Fahrten elektrisch zu
fahren, ohne ein Reichweitenproblem wie reine Elektro-
autos zu haben, darf in der Förderstrategie der Bundes-
regierung nicht fehlen.
Warum die Bundesregierung hinter ihren Ankündi-
gungen zurückbleibt, ist nicht klar. Wir werden uns auf
jeden Fall dafür einsetzen, dass die Regierung ihre An-
kündigung doch noch erfüllt. Denn wenn die Regierung
bei dieser Gesetzesänderung bleibt, kommen wir dem
Ziel, Deutschland zum Leitanbieter und Leitmarkt für
klimafreundliche und zukunftsträchtige Elektromobilität
zu entwickeln, nicht sehr viel weiter, und das, obwohl im
Prinzip allen klar ist, dass der Verkehr auf der Basis er-
neuerbarer Energien neu organisiert werden muss. Nur
wer mit umweltverträglichen Autos auf dem internatio-
nalen Markt präsent ist, hat wirtschaftlich eine Zukunft
und bleibt wettbewerbsfähig.
Mit der Änderung des Versicherungsteuergesetzes
nehmen Sie sich auf ungewöhnliche Weise einer elitären
Klientel an: den Großkunden mit eigener Fahrzeug-
flotte. Sie argumentieren, „dem Trend zum strukturellen
sowie produktbezogenen Wandel mit jeweils negativen
Folgen für das Versicherungsaufkommen … aus fiskali-
scher Sicht“ entgegenwirken zu wollen: ein Ziel, das
diese Bundesregierung selbst nicht so ganz zu überzeu-
gen vermag. Immerhin streben Sie zum Beispiel bei der
kalten Progression weiterhin Steuerausfälle in der Grö-
ßenordnung von 6 Milliarden Euro an.
Im vorliegenden Gesetzentwurf bedienen Sie sich aus
der steuerlichen Trickkiste. Sie ziehen verwirklichte
Selbstbehalte in die steuerliche Bemessungsgrundlage.
Dass der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung
Selbstbehalte nicht zum Versicherungsentgelt rechnet,
scheint Ihnen entgangen zu sein.
Sie werden in den Beratungen Gelegenheit haben,
dazu Stellung zu nehmen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10039 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe denTagesordnungspunkt 40 a bis c auf:
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des
Vizepräsidentin Petra Pau
Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels
- Drucksache 17/7316, 17/7368 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0})
- Drucksache 17/10165 Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Marlene Rupprecht ({1})
Nicole Bracht-Bendt
Jörn Wunderlich
Monika Lazar
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl, Marlene
Rupprecht ({3}), Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels korrekt ratifizieren - Deutsches Recht wirksam anpassen
- Drucksachen 17/8156, 17/10165 Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Marlene Rupprecht ({4})
Nicole Bracht-Bendt
Jörn Wunderlich
Monika Lazar
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner,
Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz
erweitern
- Drucksachen 17/3747, 17/9195 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Angelika Graf ({6})
Annette Groth
Volker Beck ({7})
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zum
Übereinkommen des Europarates vom 16. Mai 2005 zur
Bekämpfung des Menschenhandels tritt Deutschland
nun endlich dem Übereinkommen bei. Deutschland hat
sich als wichtiger Mitgliedstaat des Europarates aktiv
für das Zustandekommen der Konvention eingesetzt und
hat schon sehr früh das Übereinkommen gezeichnet. Mit
dem Beitritt signalisieren wir ausdrücklich die Notwendigkeit einer umfassenden völkerrechtlichen Übereinkunft, Menschenhandel in all seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen und alles daranzusetzen, ihm
langfristig die Grundlage zu entziehen. Im Hauptfokus
des Übereinkommens stehen erstmalig der Schutz und
die Unterstützung der Opfer dieses schweren Verbrechens gegen die Menschenwürde.
Menschenhandel in all seinen Formen ist eines der
schwersten Verbrechen. Jährlich sind etwa 2,5 Millionen Menschen betroffen, sie werden ausgebeutet und wie
Ware behandelt. Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung - eine wesentliche Form
des Menschenhandels - betrifft überwiegend Frauen
und Mädchen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Wir wissen, dass mitten in unserem Land
skrupellose Menschenhändler mit der Ware Mensch ihr
Geld machen.
Erst gestern hat uns eine Meldung aus den USA aufgeschreckt: Dort konnten in den letzten Tagen 100 Zuhälter in einer groß angelegten Aktion des FBI aufgespürt und 79 Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren
befreit werden; insgesamt konnten seit 2003 über 220
Kinder gerettet werden. Das zeigt, wie sehr dieses
furchtbare Verbrechen selbst in zivilisierten Gesellschaften verbreitet ist. Dieses Verbrechen müssen wir bekämpfen, und dazu gibt uns die Europaratskonvention in
ihrem gesamten Geltungsbereich, der sowohl Herkunftsals auch Zielländer des Menschenhandels - umfasst, ein
wichtiges Instrumentarium an die Hand.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme ausgeführt, dass unsere Gesetze und Maßnahmen den Anforderungen der Konvention bereits genügen und wir
ohne weitere Gesetzesänderungen die Ratifizierung beschließen können. Auch der Bundesrat hat sich über die
Parteigrenzen hinweg dieser Auffassung einstimmig angeschlossen. Vonseiten der Länder besteht also kein
Wunsch nach weiteren gesetzlichen Änderungen. Wir
haben uns der Auffassung angeschlossen, dass es keinen
zwingenden gesetzlichen Handlungsbedarf gibt und
dass einem zügigen Beitritt Deutschland nichts im Weg
steht.
Inzwischen sind 36 von 47 Mitgliedstaaten des Europarates dem Übereinkommen beigetreten, wir sollten
unserem Ansehen nicht schaden, indem wir unseren Beitritt weiter hinauszögern. Der Beitritt zur Konvention
hat für Opfer von Menschenhandel in Deutschland auch
ohne weitere gesetzliche Änderung ihren Wert.
Zur Kontrolle der Umsetzung hat die Konvention einen effektiven und unabhängigen Mechanismus eingesetzt, dem sich Deutschland in Zukunft ebenfalls stellen
muss. Er beinhaltet zum einen eine unabhängige Expertengruppe, GRETA - Group of Experts on Trafficking in
Human Beings, die einen periodischen Bericht über die
Vertragsparteien vorlegt, zum anderen einen Ausschuss
der Vertragsparteien, der aufgrundlage des Berichts und
der Äußerung der betroffenen Vertragspartei Empfehlungen aussprechen kann. Dem Anliegen des SPD-Antrags, die Arbeit der Expertengruppe GRETA für die
Kontrolle der Umsetzung des Übereinkommens und die
fortlaufende Evaluierung der getroffenen Maßnahmen
der Vertragsstaaten intensiv zu nutzen, kann auch nur
dann entsprochen werden, wenn Deutschland schnell die
Ratifizierung abschließt und damit dem GRETA-Mechanismus unterliegt.
Trotzdem plädiere ich dafür, dass wir die Vorschläge
und Forderungen der Sachverständigen, die in der Anhörung aus ihren Erfahrungen aus der Praxis berichtet
haben, auf der Tagesordnung stehenlassen. Die anstehende Umsetzung der EU-Richtlinie zum Menschenhandel bietet dazu den passenden Anlass. Dabei erscheinen
mir zwei Punkte besonders wichtig: Zum einen geht es
um das Aufenthaltsrecht der Opfer aus Drittstaaten. Uns
geht es ja neben dem Schutz der Opfer darum, die Geschäftsmodelle der Täter zu durchkreuzen, ihnen das
Handwerk zu legen. Wir wollen, dass die Frauen aussagen. Dazu brauchen sie die nötige Zeit, sich von ihrem
Trauma zu erholen, sich zu stabilisieren und Vertrauen
zu fassen. In dem Zusammenhang begrüße ich auch die
kürzlich zur Anpassung des EU-Visakodexes aufgenommene Verlängerung der Bedenk- und Stabilisierungsfrist
von einem auf drei Monate, womit die Ausreisefrist im
Interesse der Opfer von Menschenhandel und illegaler
Beschäftigung verlängert wurde. Dies bedeutet schon
mal eine erhebliche Verbesserung für die Opfer von
Menschenhandel in einer sensiblen Phase, und es entlastet sie in ihrem meist traumatisierten Zustand durch
Entschärfung des Zeitdrucks.
Ich halte ein Aufenthaltsrecht nach dem italienischen
Vorbild für durchaus überlegenswert. Das italienische
Modell wurde im Übrigen auch von den meisten Sachverständigen in der Anhörung am 19. März befürwortet.
Maßgeblich bei diesem Modell ist, dass die Frauen nicht
zwingend als Zeuginnen gegen die Täter aussagen müssen. Sie können ohne Druck zur Ruhe kommen und in garantierter Sicherheit überlegen, ob sie eine gerichtliche
Aussage machen wollen oder nicht. Aus der Praxis ist
bekannt, dass sich in der Regel durch eine Bedenkzeit
die Aussagebereitschaft und Aussagefähigkeit von traumatisierten Frauen erhöht. Im Übrigen könnten Strafverteidiger der Täter in Deutschland nicht mehr behaupten, die Betroffene würde nur aussagen, um sich
einen Aufenthaltstitel zu erschleichen Diese, die Glaubwürdigkeit der Opfer sehr belastende Strategie der Verteidiger wäre nicht mehr tragfähig, wenn alle Opfer von
Menschenhandel - unabhängig von ihrer Aussage - einen Aufenthaltstitel erhalten. Die zeitliche Entkoppelung von Aussage und Aufenthaltstitel hat in diesem Zusammenhang zum Ziel, dass deutlich mehr Opfer
glaubwürdige Aussagen machen und es zu deutlich mehr
Verurteilungen kommen würde. Dies war auch einhellige Meinung der Sachverständigen in der Anhörung.
Die EU hat das Modell ausgewertet, ein von vielen
befürchteter Missbrauch konnte nicht festgestellt werden. In Italien wurde das Kontingent von einigen Tausend Betroffenen pro Jahr bei weitem nicht ausgeschöpft. Bei uns würde es sich, da die Opfergruppen aus
den Ost-EU-Ländern ohnehin Freizügigkeit genießen,
lediglich um eine überschaubare Zahl, vor allem aus
Afrika und hier insbesondere Nigeria handeln. Laut
BKA-Lagebericht 2010 waren von 610 ermittelten Opfern des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen
Ausbeutung 62 aus Afrika, davon 46 aus Nigeria. Alle
anderen kamen fast ausschließlich aus den osteuropäischen Ländern. Gerade an die Frauen aus Nigeria - so
Solwodi und Vertreter von Beratungsstellen - ist sehr
schwer heranzukommen. Sie fühlen sich oftmals mit einem Voodoo-Zauber aus ihrer Heimat belegt, sind voller
Angst, und es erfordert große Sensibilität und viel Zeit,
bis überhaupt ein Zugang zu ihnen gefunden werden
kann und sie eine Aussage machen. Schiebt man sie in
ihre Heimat ab, beginnt für sie der Teufelskreis von
vorn; denn sie haben noch nicht das Geld eingebracht,
was sie ihren Händlern einbringen sollten, und die
Schulden für die Reise in den Westen sind auch noch
nicht bezahlt. So bleiben sie oftmals in den Fängen der
Menschenhändler.
Zum anderen müssen wir den Zusammenhang mit
dem Prostitutionsgesetz in den Blick nehmen. Laut Lagebericht des BKA haben sich die Herkunftsländer von
Tätern und Opfern sowie die Ausbeutungsmechanismen
stark verändert. Die EU-Osterweiterung in Zusammenhang mit dem Prostitutionsgesetz von 2001 hat - so
haben es uns auch Schwester Lea Ackermann von
Solwodi und Heidi Rall vom BKA eindringlich geschildert - zu einer Verschlechterung der Situation von
Zwangsprostituierten gekommen.
Über die Hälfte der Opfer von Menschenhandel zum
Zweck der sexuellen Ausbeutung stammten 2010 aus den
osteuropäischen Staaten, vor allem aus Rumänien und
Bulgarien. Meist stammen sie aus ethnischen Minderheiten, haben eine sehr schlechte Bildung und meist bereits eine hohe Gewalterfahrung. Die meisten sind unter
21 Jahre alt, viele geben an, mit der Prostitution einverstanden zu sein. Erfahrungsgemäß werden sie von den
Tätern aber über die tatsächlichen Umstände getäuscht
und gezielt in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht. Die
Frauen arbeiten unter besonders entwürdigenden und
gesundheitsgefährdenden Bedingungen, sie haben kaum
eine Chance, diesen sklavenähnlichen Zuständen zu entkommen. Da insbesondere die Kontrollmöglichkeiten
der Strafverfolgungsbehörden stark eingeschränkt sind,
werden immer weniger Fälle aufgedeckt. Die Täter können unbehelligt weitermachen, die Opfer haben keine
Chance, zu entkommen. Besonders besorgniserregend
ist in diesem Zusammenhang das vermehrte Auftreten
besonders extremer Erscheinungsformen und Auswüchse in der Prostitution wie zum Beispiel FlatrateBordelle und Gang-Bang-Veranstaltungen.
Gegen diese zunehmende Brutalisierung im Prostitutionsgewerbe und gegen die Zustände, die die Ausbeutung von Frauen so leicht machen, müssen wir als Gesetzgeber unbedingt etwas tun. Schon 2007 kam die
Bundesregierung in ihrem Bericht zu den Auswirkungen
des Prostitutionsgesetzes zu dem Ergebnis, dass es mehr
rechtliche Instrumentarien zur Kontrolle und Vorbeugung krimineller Begleiterscheinungen geben müsse.
Mit einem Beschluss des Bundesrates und einem Beschluss der Innenministerkonferenz vom November 2010
liegen auch von einer breiten Mehrheit der Länder getragene Aufforderungen nach besseren und effektiveren
rechtlichen Instrumentarien, insbesondere des Gaststätten-, des Gewerbe-, Polizei- und Ordnungsrechts zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Schutz der dort tätigen Personen vor. Vor allem die Erlaubnispflicht für Bordelle, die Überprüfung der Betreiber, eine verpflichtende Registrierung und Gesundheitsuntersuchung für die Prostituierten, die ihnen ein
vertrauliches Gespräch mit einem Arzt ermöglicht, halte
ich für unverzichtbar. Auch die sogenannte Freierbestrafung muss diskutiert werden. Zudem müssen wir dafür sorgen, dass es flächendeckend bessere Ausstiegsangebote für Prostituierte gibt.
Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte zu den
guten Unterstützerstrukturen in Deutschland sagen: Wir
haben im Bereich des Menschenhandels zum Zweck der
sexuellen Ausbeutung gute langjährig aufgebaute Unterstützungsangebote und Vernetzungs- und Koordinierungsstrukturen auf kommunaler sowie auf Landes- und
Bundesebene.
Die 49 Fachberatungsstellen in den 16 Ländern sind
alle Mitglied im KOK, bundesweit tätiger Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt gegen
Frauen im Migrationskreis. Sie sind ein wichtiges Mitglied in der Bund-Länder-AG Frauenhandel, die ein
zentrales Steuerungs- und Koordinierungselement auf
Bundesebene ist. Ich möchte diese Arbeit, bei der auch
die vielen Nichtregierungsorganisationen zusammenwirken, ausdrücklich loben. Sie alle zusammen leisten
großartige Arbeit, und ich hoffe, dass sie jetzt mit der
Umsetzung der Konvention noch weiter und spezialisierter ausgebaut werden kann und dass auch insbesondere die Finanzierung des KOK durch das BMFSFJ fortbestehen wird.
Es ist eine erschütternde Wahrheit, dass es auch heute
noch Menschenhandel in Europa gibt. Der Handel mit
der „Ware Mensch“ gilt nach Drogen- und Waffenhandel als die drittgrößte Einnahmequelle der organisierten
Kriminalität. Der Jahresumsatz des weltweiten Menschenhandels wird auf 30 Milliarden Dollar geschätzt.
Das US-Außenministerium hat kürzlich einen Bericht
veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass weltweit
27 Millionen Menschen unter sklavenartigen Verhältnissen leben müssen.
Deutschland gehört laut diesem US-Bericht zu den
33 Ländern auf der Welt, welche die Standards der USA
zum Schutz von Opfern des Menschenhandels erfüllen.
Trotzdem gilt Deutschland als Herkunfts-, Transit- und
Zielland des internationalen Menschenhandels.
Verlässliche Zahlen über das wahre Ausmaß des
Menschenhandels gibt es kaum. Das BKA hat im Jahr
2010 zwar „nur“ 610 Menschen in Deutschland als
Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen
Ausbeutung identifiziert und konnte auch nur 470 Ermittlungsverfahren in diesem Bereich abschließen.
Europol geht aber davon aus, dass in Europa mehrere
Hunderttausend Opfer von Menschenhandel, also moderne Sklaven leben. Die Vereinten Nationen schätzen,
dass es allein in deutschen Bordellen rund 200 000
Zwangsprostituierte gibt. Viele dieser Frauen könnten
Opfer von Menschenhändlern sein. Die meisten Opfer
werden nach ihrer Verschleppung sexuell ausgebeutet.
Viele werden auch zur Zwangsarbeit missbraucht. Daneben gelten Zwangsverheiratung, Betteltätigkeiten und
Organhandel als Motive für den Menschenhandel.
Die Vereinten Nationen erschufen im Jahr 2000 mit
dem sogenannten „Palermo-Protokoll“ das erste völkerrechtliche Übereinkommen, das explizit auf den
Kampf gegen Menschenhandel abzielt. Das „Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels“ vom 16. Mai 2005, das wir heute in
Deutschland ratifizieren, ergänzt dieses Übereinkommen und entwickelt es auf europäischer Ebene weiter.
Mit seinem umfassenden Ansatz geht das Übereinkommen weiter als alle existierenden völkerrechtlich bindenden Instrumente in diesem Bereich. Damit können
Frauen, Kinder und auch Männer in Europa besser vor
Gewalt, Verschleppung und Ausbeutung geschützt werden.
Angesichts der menschenverachtenden Verbrechen,
die im Rahmen des Menschenhandels geschehen, besteht parteiübergreifende Einigkeit darüber, dass die
Ratifizierung dieses Übereinkommens ein absolut notwendiger und richtiger Schritt ist.
Eine weitere Frage ist nun, ob durch die Ratifizierung
dieses Übereinkommens für Deutschland rechtspolitischer Handlungsbedarf entsteht. Der Bundesrat hat die
Ratifizierung des Übereinkommens als ein starkes Signal gegen den Menschenhandel begrüßt. In der Stellungnahme vom 23. September 2011 haben die Bundesländer allerdings darauf hingewiesen, dass die
gesetzgeberischen Pflichten, die aus dem Übereinkommen des Europarates erwachsen, in Deutschland bereits
durch unser geltendes nationales Recht abgedeckt werden. Ursache dafür sind ein Beschluss der EU vom Juli
2002 und eine EU-Richtlinie vom April 2004. Diese
wurden in Deutschland bereits in nationales Recht umgesetzt. Auf der Ebene der 27 EU-Staaten wurden bereits
die meisten Vorgaben erfüllt, die das Übereinkommen
des Europarates auf Ebene der 47 Mitgliedstaaten des
Europarates einfordert. Daher sind sowohl der Bundesrat als auch die Bundesregierung der Auffassung, dass
die Vorgaben des Übereinkommens zur Bekämpfung des
Menschenhandels in Deutschland bereits erfüllt sind.
Die Bundesregierung prüft zurzeit aber noch, inwieweit die neue EU-Richtlinie vom April 2011, die ebenfalls dem Kampf gegen den Menschenhandel dient,
Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber auslöst. Spätestens nach der Umsetzung dieser Richtlinie
wird Deutschland alle Vorgaben des Übereinkommens
des Europarates erfüllen.
Zunächst sollte man die juristische Überprüfung der
neuen Richtlinie von 2011 abwarten, bevor man vorschnell Rechtsanpassungen fordert, wie das die SPD mit
ihrem Antrag tut. Die Tatsache, dass die SPD auf eine
Aussprache zu ihrem Antrag verzichtet hat, lässt vermuten, dass man sich auch in der SPD bewusst ist, dass solche schwammigen Forderungen schnell als Effekthascherei durschaut werden.
Über den Kern des Problems sind wir uns in Deutschland und Europa einig. Der Menschenhandel muss mit
Zu Protokoll gegebene Reden
allen Mitteln bekämpft werden. Die Bundesregierung
hat hier zuletzt mit der Einführung des bundesweiten
Hilfetelefons für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden,
einen wichtigen Beitrag geleistet. Ab 2013 können alle
Opfer von Gewalt unter einer speziellen Telefonnummer
anonym und in ihrer Muttersprache Hilfe und Rat erhalten. Auch Zeugen können sich hier anonym melden. Vor
allem richtet sich das Angebot an Frauen, die dann an
die Behörden oder Einrichtungen in ihrer Umgebung
weitergeleitet werden und dort Schutz finden.
Dennoch gibt es auch im deutschen Rechtssystem
einige Punkte, die angepasst werden müssen. So haben
wir in Deutschland dank Rot-Grün seit 2002 eines der
liberalsten Prostitutionsgesetze der Welt. Dadurch ist
ein großer und weitgehend legaler Markt für Prostitution entstanden, der den Menschenhändlern ideale Bedingungen bietet. Eine Studie der Universität Göttingen
hat nun empirisch nachgewiesen, dass diese rot-grüne
Liberalisierung der Prostitution in Deutschland einen
massiven Zuwachs des Menschhandels verursacht hat.
Das Ziel der früheren rot-grünen Bundesregierung,
die Schaffung verlässlicher Arbeitsbedingungen für
Prostituierte, wurde völlig verfehlt. Nicht einmal 1 Prozent der Prostituierten hat heute einen Arbeitsvertrag,
geschweige denn eine Krankenversicherung. Stattdessen
ist bei uns heute die Prostitution 60-mal höher als in
Schweden, wo die Prostitution verboten ist. Gleichzeitig
verzeichnet Deutschland 62-mal so viele Opfer von
Menschenhandel wie Schweden.
Um den Menschenhandel besser bekämpfen zu können, hat das Land Bayern 2005 einen Gesetzentwurf in
den Bundesrat eingebracht, mit dem neue Tatbestände
gegen die sexuelle Ausbeutung von Opfern des Menschenhandels eingeführt werden sollten. Wie in Schweden sollten die Freier zumindest im Falle von Zwangsprostitution strafrechtlich verfolgt werden können. Der
Strafrahmen für das Verbringen von Kindern in die
Prostitution sollte von 2 auf 15 Jahre erhöht werden auch um eine Aussetzung der Strafe auf Bewährung zu
verhindern. Schließlich sollte die Rechtslage, wie sie vor
der Liberalisierung bestanden hat, wieder eingeführt
werden. Auf diese Weise würden die Strafverfolgungsbehörden wieder bessere Ermittlungsansätze erhalten. Der
Gesetzentwurf ist jedoch der Diskontinuität unterfallen.
2006 wurde er erneut eingebracht, hat dann im Bundesrat aber keine Mehrheit gefunden.
Dennoch wurden in der Zwischenzeit einige Maßnahmen des bayerischen Gesetzentwurfs umgesetzt, so die
Einführung einer Kronzeugenregelung und die Neufassung der Regelung zur Telekommunikationsüberwachung.
Das rot-grüne Prostitutionsgesetz ist in der Praxis
gescheitert. Anstatt den Frauen zu helfen, hat das Gesetz
der Ausbeutung einen legalen Deckmantel verschafft.
Deshalb muss die Fehlentscheidung so schnell als möglich korrigiert werden. So kann der Kampf gegen Menschenhandel und Sklaverei effektiver geführt werden.
Ich freue mich, dass Deutschland endlich das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifiziert. Erst kürzlich ist die deutsche
Delegation der Parlamentarischen Versammlung des
Europarats vom Ministerrat gerügt worden, weil
Deutschland immer noch nicht ratifiziert hat. Die Ratifizierung noch vor der Sommerpause begrüße ich somit
sehr, wenn wir als SPD-Fraktion auch noch Nachbesserungsbedarf im Zuge einer korrekten Umsetzung zum
Wohl der Opfer sehen.
Menschenhandel ist eine der schwersten Straftaten
weltweit. Die Opfer, häufig Frauen und Kinder, erleiden
schwerwiegende Verletzungen ihrer Menschenrechte.
Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Jugendliche unter schlimmen Bedingungen beschäftigt und
Kinder zum Betteln genötigt. Sie werden mit falschen
Versprechungen in fremde Länder gelockt und gezielt
ausgebeutet. Als Kinderbeauftragte bestürzt mich besonders das Ausmaß der Verletzung von Kinderrechten.
Vielen jungen Menschen wird durch diese Verbrechen
das ganze Leben zerstört. Hier wird mit der Ausbeutung
von Menschen ein äußerst gewinnbringendes Geschäft
im Bereich der organisierten Kriminalität betrieben.
Zwangsprostitution, Zwangsarbeit und wirtschaftliche Ausbeutung finden grenzüberschreitend statt. Eine
wirksame Bekämpfung kann also nur gelingen, wenn sie
international abgestimmt ist.
Insofern begrüße ich den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Übereinkommen des Europarats zur
Bekämpfung des Menschenhandels, der die Ziele des
Übereinkommens, nämlich die engere Zusammenarbeit
aller Vertragsstaaten, strafrechtliche Verbesserungen
sowie die Überwachung der Umsetzung, unterstützt.
Der Entwurf geht aber nicht weit genug. Die SPDFraktion hat den Änderungsbedarf, wie er auch übereinstimmend von Fachleuten in Fachgesprächen benannt
wurde, aufgezeigt. Leider werden diese wichtigen
Punkte mit dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung jetzt
noch nicht aufgegriffen. Wir hoffen, dass die Nachbesserungen bald kommen.
So erfordert die Bekämpfung und Vermeidung von
Menschenhandel einen ganzheitlichen und integrierten
Ansatz. Neben den strafrechtlichen Regelungen benötigen wir weitergehende Maßnahmen der Prävention und
des Opferschutzes. Alle Politikfelder müssen verzahnt
und zivilgesellschaftliches Engagement muss einbezogen werden. Oft gelingt es nur Nichtregierungsorganisationen, einen vertrauensvollen Zugang zu den Opfern zu
finden. Sensibilisierungs- und Informationskampagnen,
Aufklärung und Weiterbildungen, die sich an potenzielle
Opfer und alle beteiligten Berufsgruppen wenden, sind
als präventive Maßnahmen unerlässlich und müssen
verstärkt und gefördert werden. Nur unter Beteiligung
aller Akteure sind Eindämmung und Prävention von
Menschenhandel erfolgversprechend.
Darüber hinaus muss mit der Ratifizierung die Anpassung des deutschen Rechts einhergehen. Das gelZu Protokoll gegebene Reden
Marlene Rupprecht ({0})
tende Recht erfüllt nicht die verbindlichen Vorgaben des
Übereinkommens.
Dringender Handlungsbedarf besteht beim Aufenthaltsrecht. Der Aufenthaltstitel der Opfer darf nicht an
die Bereitschaft geknüpft sein, als Zeuginnen und Zeugen in einem Strafverfahren gegen die Täter auszusagen.
Es kann nicht verwundern, dass die Kooperationsbereitschaft der Opfer angesichts von Sorgen um ihre Existenz
sowie der bevorstehenden Abschiebung nach dem Verfahren gering ist. Eine erfolgreiche Strafverfolgung gelingt nur mit einem umfassenden Opferschutz.
Für Minderjährige brauchen wir speziell auf sie abgestimmte Schutz- und Betreuungsprogramme.
Es muss Sorge dafür getragen werden, dass den Opfern Versorgungsleistungen in medizinischer, finanzieller und rechtlicher Hinsicht sowie Zugang zu Bildung
und Arbeit und Übersetzungsdiensten gewährt werden.
Das Übereinkommen sieht vor, dass bereits die Intention der Tat für eine Strafverfolgung ausreicht. Die Einwilligung des Opfers in die Abhängigkeitsbeziehung zu
den Täterinnen und Tätern muss unerheblich sein. Auch
hier muss das deutsche Recht angepasst werden.
Zudem brauchen wir ein Zeugnisverweigerungsrecht
für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Fachberatungsstellen, die Opfer von Menschenhandel unterstützen.
Für die Überwachung der Umsetzung des Übereinkommens ist die Expertengruppe des Europarats,
GRETA, zuständig. Die Vertragsstaaten sollten nationale Beauftragte benennen, die gegenüber GRETA einer
fortlaufenden jährlichen Berichtspflicht unterliegen. In
Deutschland muss das nationale Monitoring noch etabliert werden. Es wäre gut, wenn eine bestimmte Person
im federführenden Ressort als Ansprechpartner zur Verfügung stünde.
Die Ratifizierung des Übereinkommens des Europarates ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bekämpfung des Menschenhandels. Nun müssen wir diesen Weg
weiter gehen und alle weiteren beschriebenen notwendigen Maßnahmen ergreifen, um Menschenhandel zu verhindern und zu bekämpfen und die Opfer zu schützen.
Der Menschenhandel ist eine der schwerwiegendsten
Menschenrechtsverletzungen weltweit. Erniedrigungen,
Bedrohungen, sexuelle Ausbeutung und Misshandlungen sind dabei an der Tagesordnung.
Der Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels ist das
erste völkerrechtliche Übereinkommen, das einen
Schwerpunkt auf den Schutz der Opfer und die Wahrung
ihrer Menschenrechte legt. Das Übereinkommen setzt
hier neue Maßstäbe im Bereich des Opferschutzes. So
wurde der Grundsatz der Nichtabschiebung bei Verdacht von Menschenhandel etabliert, eine Erholungsund Bedenkzeit der Opfer von mindestens 30 Tagen eingeführt, die Gewährung von Aufenthaltstiteln für Opfer
des Menschenhandels sowie soziale Rechte, der Zugang
zum Arbeitsmarkt und das Recht auf Entschädigung geregelt.
Darüber hinaus beinhaltet der Vertrag Mindeststandards für den Schutz der Opfer im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens der Täter.
Menschenhandel erfolgt in erster Linie zum Zwecke
der sexuellen Ausbeutung und der Zwangsprostitution.
Im Jahr 2010 gab es offiziell 610 Opfer von „Menschenhandel in die sexuelle Ausbeutung“. 96 Prozent der Opfer waren weiblich. Die Dunkelziffer dürfte jedoch sehr
viel höher sein. Die betroffenen Frauen werden dabei
zum Großteil mit falschen Versprechungen für eine angeblich legale Arbeit im Ausland angeworben und im
Anschluss zur Prostitution gezwungen. Viele Delikte, die
im Zusammenhang mit Menschenhandel begangen werden, sind nur durch die Aussagen von Opferzeuginnen
zur Anklage zu bringen, eine Strafverfolgung der Täter
somit nur mithilfe der Opfer möglich. Um eine Aussage
im Rahmen einer gerichtlichen Verfolgung zu ermöglichen, bedürfen die Opfer daher eines besonderen Schutzes, und um die langwierigen und meist quälenden
Verfahren durchzustehen, brauchen die häufig traumatisierten Frauen während ihres Aufenthalts in Deutschland eine qualifizierte Betreuung.
Eine für die von Menschenhandel Betroffenen zentrale Vorgabe der Europaratskonvention ist, die Unterstützung und Betreuung von Betroffenen unabhängig
von der Aussagebereitschaft sicherzustellen. Dies ist ein
wichtiger Aspekt, um den Lebensunterhalt der betroffenen Frauen zu sichern. Entscheidend sind hier auch
flankierende Hilfsangebote an Frauen, die im Rahmen
von Polizeiaktionen aufgegriffen werden. Um auch zukünftig effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels und zur Unterstützung Betroffener zu
gewährleisten, ist eine sichere und angemessene Finanzierung der Fachberatungsstellen in diesem Zusammenhang zwingend.
Über die Aspekte des Opfer- und Zeugenschutzes hinaus weist die Konvention einen effektiven und unabhängigen Kontrollmechanismus auf, der zwei Ebenen
beinhaltet. Zum einen wird durch eine unabhängige
Gruppe von Expertinnen und Experten ein periodischer
Bericht über die Vertragsparteien vorgelegt, zum anderen werden durch den Ausschuss der Vertragsparteien
auf Grundlage des Berichts und der Äußerungen der betroffenen Vertragspartei Empfehlungen ausgesprochen.
Dieser Mechanismus hat 2010 seine Arbeit aufgenommen. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik wird sich auch
Deutschland diesem Verfahren stellen.
Darüber hinaus ist es gelungen, den Anwendungsbereich des Übereinkommens gegenüber dem sogenannten
Palermo-Protokoll auf alle Fälle des Menschenhandels
- über diejenigen Fälle der organisierten und grenzüberschreitenden Kriminalität hinaus - auszudehnen,
die Verpflichtungen in verbindlicher Sprache festzuschreiben und die Straftatbestände zu vereinheitlichen.
Zwangsprostitution ist eine klare Menschenrechtsverletzung! Mit dem Gesetzentwurf zum EU-Übereinkommen schafft die Bundesregierung die Voraussetzung für
Zu Protokoll gegebene Reden
einen Beitritt Deutschlands zu dem Übereinkommen, unterstützt die effektive Bekämpfung des Menschenhandels
und zeigt ihre Bereitschaft, sich dem unabhängigen Kontrollmechanismus des Übereinkommens zu stellen.
Um die überfällige Ratifizierung dieses Übereinkommens und den damit verbundenen Beitritt Deutschlands
nicht noch weiter hinauszuzögern, ist es nunmehr geboten, das Verfahren zügig zum Abschluss zu bringen. Dabei können die Forderungen aus dem Antrag der Fraktion der SPD in den vorliegenden Gesetzentwurf keinen
Eingang finden. Das Gesetzgebungsverfahren sollte
nicht mit zusätzlichem Konfliktstoff überfrachtet werden, indem politisch nicht mehrheitsfähige Desiderate
auf das jetzige Verfahren aufgesattelt werden.
Mit dem Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen des
Europarates vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des
Menschenhandels werden die nach Art. 59 Abs. 2 GG
geforderten Voraussetzungen für einen Beitritt Deutschlands zum Übereinkommen geschaffen. Der Bundesrat
hat dem Entwurf in erster Behandlung am 23. September
2011 zugestimmt und sich in seiner Stellungnahme der
Auffassung der Bundesregierung angeschlossen, dass
kein gesetzlicher Umsetzungsbedarf besteht.
Bundesregierung und Bundesrat sind sich mithin einig, dass die entstehenden Verpflichtungen des Übereinkommens bereits im nationalen Recht durch das Gesetz
zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 verwirklicht sind.
Eine Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation kam gerade zu dem Ergebnis, dass weltweit fast
21 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffen
sind. Dazu gehören auch Menschenhandel zum Zweck
der sexuellen oder Arbeitsausbeutung. 55 Prozent dieser
Zwangsarbeiter sind Mädchen und Frauen. Zwei Drittel
dieser Zwangsarbeit erfolgen im Privatsektor, vor allem
in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Industrie und
in privaten Haushalten. Am größten sei das Problem in
Asien, gefolgt von Afrika. Aber auch in den meisten Industriestaaten, einschließlich der EU, lebten 1,5 Millionen Zwangsarbeiter. Erschreckende Zahlen.
Das Übereinkommen des Europarates vom 16. Mai
2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels enthält
erstmalig eine umfassende Definition darüber, was zum
Menschenhandel gehört. Demnach bezeichnete der Ausdruck Menschenhandel „die Anwerbung, Beförderung,
Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt
oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung,
Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung
oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur
Erlangung des Einverständnisses einer Person, die
Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der
Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen
sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.“
Beim Menschenhandel handelt es sich somit um eine
eklatante Menschenrechtsverletzung, in welcher Form
auch immer.
Die Bundesregierung hat das Übereinkommen als
eine der Ersten unterschrieben. Nun soll es endlich auf
den Weg der Ratifizierung gebracht werden. Dazu liegt
ein entsprechender Gesetzentwurf vor. Wenn man diesen
gelesen hat, reibt man sich verwundert die Augen: Die
Bundesrepublik Deutschland hat in Sachen Menschenhandel keinen Handlungsbedarf mehr, Opfer werden
hinlänglich geschützt und gestärkt, der Gesetzgeber
kann sich zurücklehnen, denn er hat seine Hausaufgaben längst gemacht.
Allerdings schlägt auch hier die Macht der Realität
durch. Opfer von Menschenhandel, ob nun zur sexuellen
Ausbeutung oder zur Ausbeutung der Arbeitskraft, werden mit einer ganz anderen bundesdeutschen Realität
konfrontiert. Da werden Erntehelfer angeworben, denen
man einen guten Lohn in Aussicht stellt. Doch dann erhalten sie einen Hungerlohn, wie jüngst in Bayern osteuropäische Erdbeerpflücker. Versprochen wurde ihnen
ein Stundenlohn von 5,10 Euro, erhalten haben sie tatsächlich höchstens 1,20 Euro. Untergebracht wurden sie
in engen, überfüllten Containern, für die die Helfer
3 Euro Übernachtungsgeld täglich bezahlen mussten.
Dieser Fall ist kein Einzelfall. Ob in der Landwirtschaft,
auf dem Bau, im Gastgewerbe oder in Privathaushalten Arbeitsmigranten schuften auch in Deutschland unter
unwürdigen Bedingungen und werden ausgebeutet. Sie
sind gesellschaftlich marginalisiert.
Was die zuständigen NGOs an der Politik der Bundesregierung kritisieren, ist das Fehlen eines ganzheitlichen und menschenrechtsbasierten Ansatzes zur Stärkung der Rechte der Betroffenen. Die Tatsache, dass es
in Deutschland Menschenhandel zur Ausbeutung der
Arbeitskraft gibt, wird weitgehend aus dem öffentlichen
Bewusstsein verdrängt. Was hingegen durch die Medien
stark bedient wird, sind erschreckende Aussagen über
Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. Das Stichwort Zwangsprostitution ist allgegenwärtig.
Laut dem Bundeslagebild 2010 zum Menschenhandel
des Bundeskriminalamtes gab es in jenem Jahr 470 Ermittlungsverfahren im Bereich des Menschenhandels zur
sexuellen Ausbeutung mit 610 Opfern. Die Zahlen waren
im Vergleich zum Vorjahr rückläufig, und das Bundeskriminalamt schätzt ein: „Das von diesem Kriminalitätsbereich ausgehende Gefährdungspotential bleibt
damit begrenzt.“
Es ist nicht meine Absicht, den Menschenhandel zur
sexuellen Ausbeutung, den es in Deutschland gibt und
bezüglich dessen von Expertinnen und Experten große
Dunkelziffern vermutet werden, zu verharmlosen; dabei
handelt es sich, wie bereits betont, um eine schwere
Menschenrechtsverletzung. Aber statt reißerischer
Schlagzeilen wünsche ich mir vor allem eine Ausweitung
und Verbesserung des Opferschutzes für alle von den
verschiedensten Formen des Menschenhandels betroffenen Personen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Position der Opfer muss gestärkt werden. Hier
unterstützen wir die Forderungen des Bundesweiten
Koordinierungskreises gegen Frauenhandel und Gewalt
an Frauen im Migrationsprozess e. V., KOK e. V., der ja
auch in der Gesetzesvorlage der Bundesregierung immer wieder genannt wird. Dazu gehört:
Die Aufenthaltsrechte der Betroffenen müssen verbessert werden. Es fehlt ein sicherer Aufenthaltstitel,
welcher unabhängig von der Kooperation der Opfer im
Rahmen von Strafverfahren erteilt wird und nicht mit der
Beendigung des Strafverfahrens ausläuft. Diese Forderung enthält im Übrigen auch das Übereinkommen des
Europarates. Tatsächlich gehört es zur gängigen Praxis
in Deutschland, dass bei Betroffenen aus Nicht-EULändern, für die der Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4 a
Aufenthaltsgesetz gilt, Rechte und Leistungen an eine
Aussagebereitschaft gekoppelt werden. Hier besteht
Handlungsbedarf.
Opfer von Menschenhandel leiden unter schweren
physischen und psychischen Folgen ihrer Ausbeutung.
Die Betroffenen erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Damit werden aber nicht die
Kosten hinsichtlich Therapien, Dolmetscher- und Fahrtkosten abgedeckt. Das Übereinkommen des Europarates
fordert aber eine umfassende Hilfestellung für die Opfer,
einschließlich Therapien und Ruhezeiten. Auch hier sehen wir Handlungsbedarf.
Was die Mitarbeiterinnen der Fachberatungsstellen
ebenso seit Jahren fordern, ist ein Zeugnisverweigerungsrecht für sich selbst. In der Praxis werden Beraterinnen immer wieder als Zeuginnen vor Gericht geladen. Dadurch kann das Vertrauensverhältnis zwischen
der betroffenen Person und der Beraterin stark belastet
werden. Im Übereinkommen des Europarates sind die
Unterstützung und der Schutz der Betroffenen zentrale
Momente im Kampf gegen den Menschenhandel. Dem
sollte die Bundesregierung nachkommen.
Trotz der hier vorgetragenen Kritikpunkte, denen sich
weitere hinzufügen ließen, unterstützt die Linke die Gesetzesvorlage zum Übereinkommen des Europarates zur
Bekämpfung des Menschenhandels. Ich kann Ihnen zugleich versichern, dass wir die Bundesregierung auch
weiterhin an ihren Handlungsbedarf erinnern werden,
damit dieses wichtige Abkommen tatsächlich umgesetzt
wird.
Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum Schluss
machen. Zur Stärkung der Opfer von Menschenhandel
zählt auch, dass die zuständigen Fachberatungsstellen
ausreichend und langfristig finanziert und ausgestattet
werden; denn sie sind es, die die Hilfe und den Schutz
vor Ort leisten. Für den bereits erwähnten Bundesweiten
Koordinierungskreis finanziert die Bundesregierung
neben den Sachkosten gerade einmal zwei Personalstellen - zwei Stellen, die sich drei Kolleginnen teilen. KOK
e. V. hat bundesweit 38 Mitgliedsorganisationen. In ihrer Gesetzesvorlage bezieht sich die Bundesregierung
immer wieder auf deren geleistete Arbeit. Sie sollte sie
auch endlich finanziell auf sichere und vor allem starke
Füße stellen.
Die Europaratskonvention gegen Menschenhandel ist
am 1. Februar 2008 in Kraft getreten, mittlerweile von
34 Staaten ratifiziert und von neun weiteren gezeichnet.
Deutschland gehörte zwar zu den ersten Zeichnern der
Konvention - 2005 -, ist nun aber unter den letzten Staaten des Europarates, die das Instrument ratifizieren.
Die Konvention stellt als erstes international rechtsverbindliches Dokument Menschenhandel zur sexuellen
Ausbeutung und zur Arbeitsausbeutung ausdrücklich in
einen menschenrechtlichen Kontext und verpflichtet die
Mitgliedstaaten zu umfassenden Maßnahmen zur Prävention von Menschenhandel, zur Strafverfolgung der
Täter und Täterinnen und zum Schutz der Opfer. Den
Staaten werden unter anderem umfangreiche Informationspflichten und die Pflicht zur Identifikation von Opfern auferlegt; die Entschädigungsrechte der Betroffenen
wurden gestärkt. Zum Teil sind die Rechte unabhängig
von der Bereitschaft der Opfer, im Strafverfahren als
Zeugen und Zeuginnen aufzutreten, zu gewähren.
Es ist zwar erfreulich, dass die Bundesregierung die
Europaratskonvention gegen Menschenhandel endlich
ratifiziert. Das ist aber nur der erste Schritt, dem zwingend weitere folgen müssen. Denn entgegen der Auffassung von Bundesregierung und Bundesrat sind die durch
die Regelungen des Übereinkommens entstehenden
Pflichten der Vertragsparteien heute nicht umfassend im
deutschen Recht verwirklicht. Es ist beschämend, dass
die Bundesregierung auch nach der Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend in keiner Weise die Vorschläge nahezu aller
Sachverständiger zu Konsequenzen aufenthaltsrechtlicher Art sowie bei der Information der Betroffenen umsetzen will. Dieses Verhalten ist typisch für die Bundesregierung. Das kennen wir schon von der UNKinderrechtskonvention, bei der sie nach langem Widerstand zwar die deutschen Vorbehalte zurückgenommen
hat, aber die notwendigen Änderungen im deutschen
Recht bis heute nicht vornimmt.
Die Umsetzung der Europaratskonvention erfordert
gesetzliche Neuregelungen in den Bereichen des Aufenthaltsgesetzes, des Asylbewerberleistungsgesetzes, der
Strafprozessordnung, des Zweiten und Dritten Buches
Sozialgesetzbuch, des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes, der Gewerbeordnung sowie der Beschäftigungsverordnung. Dabei würde das Ratifikationsverfahren
der Europaratskonvention eine Chance bieten für die
Umsetzung eines umfassenden Ansatzes zur Stärkung
der Rechte der von Menschenhandel Betroffenen in
Deutschland.
Mit Blick auf die Entschädigungs- und Lohnansprüche gibt es verschiedene Umsetzungsanforderungen aus
der Konvention. Damit Betroffene ihre Rechte wahrnehmen können, müssen sie diese kennen. Die Information
über die Rechte muss umfassend, unabhängig von einem
Strafverfahren, ab dem Zeitpunkt, zu dem konkrete Anhaltspunkte für Menschenhandel vorliegen, und in einer
für die Betroffenen verständlichen Sprache erfolgen.
Für die regelmäßige Identifizierung insbesondere von
Betroffenen des Menschenhandels zur ArbeitsausbeuZu Protokoll gegebene Reden
tung muss sichergestellt werden, dass alle Kontrollbehörden, die mit Betroffenen in Kontakt kommen können,
Kenntnisse über Anzeichen von Menschenhandel, das
Verhalten von Opfern sowie zumindest über das Recht
auf die dreimonatige Bedenkfrist besitzen. Dies betrifft
zum Beispiel die Polizei, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit und die Gewerbeaufsicht. Betroffene müssen dann
für eine weitergehende Beratung und Unterstützung,
auch bei der Rechtsdurchsetzung, an spezialisierte Beratungsstellen vermittelt werden. Diese Unterstützungsstruktur muss ausgebaut werden.
Damit die Beratungs- und Betreuungsstellen ihre
wichtigen Aufgaben ausüben können, muss die Bundesregierung sicherstellen, dass die Organisationen auf
eine sichere und verbindliche Finanzierung zurückgreifen können. Bei einer konsequenten Verweisung von
Kontrollbehörden an die Fachberatungsstellen wird deren Bedarf noch steigen.
Betroffene müssen befähigt werden, ihre Ansprüche
gegen die Täter und den Staat tatsächlich durchzusetzen.
Das erfordert die Erteilung von Aufenthaltstiteln zur
Rechtsdurchsetzung sowie den Zugang von irregulären
Betroffenen zu staatlichen Entschädigungsleistungen.
Als Ausgleich für die zahlreichen Hindernisse bei der
Erlangung von Entschädigungsleistungen sollte ein Auffangfonds eingerichtet werden.
Die Konvention verlangt schließlich ganz klar, dass
den Opfern ein verlängerbarer Aufenthaltstitel erteilt
wird, wenn dies aufgrund deren persönlicher Situation
erforderlich ist. Die Aufenthaltserlaubnis von der Beteiligung im Strafverfahren gegen die Täter abhängig zu
machen, wie es das deutsche Recht tut, steht also im klaren Widerspruch zur Europaratskonvention. Auch hier
besteht dringender Änderungsbedarf.
Der Antrag der SPD kritisiert, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung keinen Bedarf zur Umsetzung
der im Übereinkommen des Europarates festgelegten
Regelungen vorsieht; das geltende Recht erfülle nicht
die zwingenden Vorgaben des Übereinkommens. Das ist
auch grüne Position. Deswegen stimmen wir dem Antrag der SPD zu.
Wir erarbeiten zurzeit einen Umsetzungsvorschlag,
den wir zeitnah in den Bundestag einbringen werden.
Wir kommen zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 40 a. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu
dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005
zur Bekämpfung des Menschenhandels. Der Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10165, den Gesetzentwurf der Bundesregierung anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des
Menschenhandels korrekt ratifizieren - Deutsches Recht
wirksam anpassen“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10165, den Antrag der Fraktion der SPD, Drucksache 17/8156, abzulehnen. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Menschenhandel
bekämpfen - Opferschutz erweitern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, Drucksache 17/9195, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/3747 abzulehnen. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
({0})
- Ich unterrichte Sie: Es steht 1:0 für Italien.
({1})
Ich fahre in der Tagesordnung fort, damit Sie demnächst
entsprechend Beistand organisieren können.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung
- Drucksache 17/9758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({3}), Anette Kramme, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit
Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen
- Drucksache 17/9931 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit erheblich
gesunken. Die Beschäftigungsquote hat einen Rekordstand erreicht. Das ist die gute Nachricht.
Weniger gut ist die Nachricht, dass schwerbehinderte
Menschen bisher aus diesem wirtschaftlichen Aufschwung nicht den gewünschten Nutzen ziehen konnten.
Das hat viele Ursachen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich mit diesen Ursachen auseinanderzusetzen. Wenn wir politisch permanent vom drohenden
Fachkräftemangel sprechen, dürfen wir das Potenzial,
das heißt die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen mit Behinderungen, nicht aus den Augen verlieren.
Insofern greifen die beiden uns heute vorliegenden
Anträge der Linken und der SPD ein berechtigtes Thema
auf. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und andere
haben zu diesem Thema vielfältige Aktivitäten gestartet.
Jeder sollte es tun: der öffentliche Dienst, die Unternehmen, die Vermittlungsagenturen - de facto alle, weil alle
angesprochen sind und es sich auch hier um eine Querschnittsaufgabe handelt. Wir werden diese Aufgabenstellung umso besser erfüllen, desto selbstverständlicher
es in unserer Gesellschaft wird, dass Menschen mit und
ohne Behinderung zusammen in einer Abteilung, in
einem Betrieb oder in einer Institution arbeiten. Das
alles hat etwas mit unserer mitmenschlichen Grundeinstellung zu tun.
Welche Lösungsansätze diskutieren wir hier heute?
Der Antrag „Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung“ zeigt in zehn Punkten Lösungsansätze auf, die in
der Grundtendenz zentralistisch bleiben nach dem
Motto: Die bösen Arbeitgeber - der Staat muss eingreifen und richten, gegebenenfalls mit Sanktionen.
Der Antrag der SPD sagt ganz einfach: Wir brauchen
für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung
mehr Geld, also Ausgleichsabgabe nach oben.
Beide Anträge gehen vom Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention aus, wonach Menschen mit Behinderung das gleiche Recht auf Arbeit haben und damit die
Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit
zu verdienen. Auch wir nehmen diesen Ansatz sehr ernst.
Wir glauben aber nicht daran, dass verschärfte Sanktionen und höhere Abgaben an der Grundeinstellung von
sich reserviert verhaltenden Arbeitgebern und auch
Arbeitnehmern als Kollegen von behinderten Menschen
etwas ändern werden. Es ist die Einsicht, die ganz innere
menschliche Einsicht, die da sein muss, damit es Selbstverständlichkeit wird, Menschen mit einer Behinderung
eine gleichberechtigte Chance einzuräumen. Und dem
aufmerksamen Stellenausschreibungsleser ist nicht unbemerkt geblieben, dass Unternehmen - leider immer
noch zu selten - Folgendes inserieren: „Als barrierefreies Unternehmen begrüßen wir Bewerbungen von
Schwerbehinderten mit entsprechender Qualifikation.“
Solche positiven Beispiele gilt es publik zu machen
und damit Personalverantwortliche zu diesem Schritt
nachdrücklich zu ermuntern.
Unser gemeinsames Ziel ist, mehr Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, ihnen die Chance zu geben,
den eigenen Lebensunterhalt zu erarbeiten. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass es durchaus Mitarbeiter gibt, die
aufgrund ihrer Behinderung eine Leistungseinschränkung haben. Deshalb werden individuelle Maßnahmen
besprochen und umgesetzt, die verhindern, dass der jeweiligen organisatorischen Einheit Nachteile entstehen.
Die Bundesagentur für Arbeit hat ausreichende Mittel,
dies zu unterstützen.
In diesem Bereich sind keine Kürzungen vorgenommen worden, wie behauptet wird.
Über die Schaffung integrativer Arbeitsplätze ist zu
erreichen, Menschen mit einer Behinderung an die Bedingungen des ersten Arbeitsmarktes zu gewöhnen, sich
ausprobieren zu lassen und letztlich entsprechend der
persönlichen Voraussetzungen zu integrieren.
Über das SGB II, III und IX werden behinderte junge
Menschen durch die Bundesagentur für Arbeit bereits
vor der Schulentlassung mit einem umfangreichen
Dienstleistungsangebot der beruflichen Orientierung
und Beratung beim Übergang von der Schule in den
Beruf unterstützt. Aktuell wird dieser Prozess über das
Inklusionsprogramm der Bundesregierung in den Ländern zusätzlich modellhaft unterstützt. Wir alle wollen
eine größere Durchlässigkeit am Arbeitsmarkt. Wir
arbeiten daran, die Bedingungen so zu gestalten, dass
dies leichter als bisher in beide Richtungen möglich ist.
Immerhin waren 2011 47 264 behinderte Menschen
in einer berufsfördernden Maßnahmen und 20 446 Personen im Eingangsverfahren. Mehr als bisher sollten
auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung aus
der Werkstatt ausgelagerte Arbeitsplätze entstehen. Wir
müssen uns darauf einstellen, dass auch die wachsende
Zahl chronisch psychisch kranker Menschen unsere
ganzheitliche Betrachtung erwarten und für sie Chancen
eröffnet werden. Das geschieht durch viele, viele einzelne, sehr individuelle Initiativen vor Ort, denn das
Thema wohnortnahe Arbeit dürfen wir ebenfalls nicht
aus dem Fokus verlieren. Man kann Arbeit auch durch
extrem lange Arbeitswege sehr verteuern und damit die
Chancen grundsätzlich einschränken.
In Deutschland bestehen zahlreiche gesetzliche Regelungen, die die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gewährleisten, zum Beispiel Arbeitsschutzgesetz,
Arbeitszeitgesetz, Arbeitsstättenverordnung, Teilzeitund Befristungsgesetz, Kündigungsschutzgesetz und
viele, viele Verordnungen für die jeweils spezifischen
Bereiche. Das alles dient auch dazu, die Beschäftigungsfähigkeit von Menschen zu erhalten, die im Laufe
des Berufslebens eine Behinderung erwerben, und durch
die Gestaltung des Arbeitsplatzes bzw. eine flexible Arbeitsorganisation und vor allem durch eine individuelle
Rehabilitation das Arbeiten zu ermöglichen.
Ja, die Beschäftigungsquote lag 2009 in Deutschland
nicht bei durchschnittlich 5 Prozent, wie gesetzlich festgelegt, sondern bei 4,5 Prozent. Das ist unbefriedigend.
Wir wissen, dass der besondere Kündigungsschutz für
Menschen mit einer Behinderung immer wieder als ArZu Protokoll gegebene Reden
gument gebracht wird, um lieber den bequemeren Weg
zu gehen und sich mit der Ausgleichszahlung zu begnügen. Das ist auch für uns durchaus ein Thema. Die
Lösung sehen wir, wie gesagt, nicht in der Erhöhung der
Ausgleichsabgabe als Strafzahlung, sondern im Darstellen der Notwendigkeit, sich diesem Thema Schritt für
Schritt zu nähern, auch im Wissen darüber, dass durch
einen Unfall oder durch eine Krankheit jedem Menschen
ein solches Schicksal widerfahren kann, auch dem Chef
eines Unternehmens selbst.
Wir brauchen ein Umdenken in allen Arbeitsbereichen.
Ich will auch auf die notwendige Vorbildfunktion der
öffentlichen Arbeitgeber hinweisen. Seit gut zehn Jahren
stellen sie mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit
einer Schwerbehinderung ein. In 2009 waren ein Drittel
der schwerbehinderten Beschäftigten im öffentlichen
Dienst beschäftigt. Die Quote lag im Bundesdurchschnitt bei 6,3 Prozent und damit über dem Pflichtanteil
von derzeit 5 Prozent und damit auch über den geforderten 6 Prozent. Das ist ein guter Trend, der noch deutlich
weiter voranschreiten sollte.
Trauen wir doch den Menschen mit Behinderung
mehr zu und trauen wir uns alle stärker zu, Menschen
mit Behinderung in unsere Arbeit auf allen Gebieten einzubeziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken! Wir debattieren heute Ihren Antrag „Gute Arbeit für Menschen
mit Behinderung“ - ein Thema, über das man eigentlich
gar nicht oft genug sprechen kann; denn die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen
mit Behinderungen in der Gesellschaft sollte eine Herzensangelegenheit von uns allen sein. Allerdings finde
ich es - wie so häufig bei den Anträgen der Linken überaus interessant, zu sehen, dass die Fraktion Die
Linke es abermals schafft, einen Antrag vorzulegen, der
keinerlei Aspekte enthält, die die Bundesregierung in ihrer Arbeit nicht bereits bedacht hätte.
Meine Damen und Herren der Linken, Sie erinnern
sich sicher daran, dass wir von der christlich-liberalen
Koalition bereits Anfang 2011 den Antrag „Für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - Nationaler Aktionsplan als Leitlinie“ auf den Weg
gebracht haben. Mit dem im Dialog mit Behinderten sowie deren Verbänden erarbeiteten Nationalen Aktionsplan hat die Bundesregierung den Weg dafür geebnet
- das wird in den kommenden Jahren das Leben von
Millionen von Menschen mit Behinderung maßgeblich
beeinflussen -: hin zu einer Gesellschaft, an der alle
Menschen gleichsam teilhaben. Und damit meine ich besonders auch diejenigen, die nicht das Glück hatten, mit
einer vollkommenen Gesundheit gesegnet zu werden.
Leitgedanke und Handlungsprinzip hierbei ist die Idee
der Inklusion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie fordern gute Arbeit für Menschen mit Behinderung - und
das ist richtig! Eine inklusive Arbeitswelt zu entwickeln,
ist ein Kernanliegen der christlich-liberalen Koalition.
Einer Beschäftigung nachzugehen, bedeutet für alle
Menschen persönliche Unabhängigkeit, Selbstbestätigung und ist für die Selbstverwirklichung unerlässlich.
Der Aktionsplan beschäftigt sich neben dem Leitgedanken der Inklusion auch ausführlich mit der Teilhabe
gehandicapter Menschen an der Arbeitswelt. Uns steht
ein umfassendes Leistungsspektrum für Menschen mit
Behinderung zur Verfügung, wobei ich insbesondere die
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nennen
möchte, die auf die individuellen Wünsche der Betroffenen eingehen. Nach dem SGB IX stehen Maßnahmen wie
stufenweise Wiedereingliederung, Eingliederungszuschüsse, Aus- und Weiterbildungsförderung bis hin zu
Leistungen zur behindertengerechten Gestaltung von
Arbeitsplätzen zur Verfügung. Der Aktionsplan enthält
ferner konkrete Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, die in ihrem Haushaltsplan für 2012 für die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben einen Betrag von rund 2,4 Milliarden Euro bereitstellt.
Um das Potenzial von Menschen mit Behinderungen
für den Arbeitsmarkt steigern zu können, sind kontinuierliche Betreuung vor dem Übergang wie auch während
des Übergangs in Ausbildung und Beruf, genauso wie
danach und eine gezielte Vermittlung und weitere Qualifizierung vonnöten. Die „Initiative für Ausbildung und
Beschäftigung“ verfolgt das Ziel, Menschen mit Behinderungen mehr Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erschließen.
Zusätzlich werden mit der „Initiative Inklusion“
100 Millionen Euro zur Verbesserung der Berufsorientierung und zum Ausbau der betrieblichen Ausbildung
für schwerbehinderte Jugendliche zur Verfügung gestellt.
Nebenbei erwähnt, hat die Bundesregierung unter
dem Slogan „Behindern ist heilbar“ zudem die Dachkampagne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gestartet, aus der Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linken, sich in dieser Wahlperiode bereits
einen Antrag ({0}) zu eigen gemacht
haben.
All das zeigt doch, dass wir von der unionsgeführten
Bundesregierung mit dem Thema richtungsweisend voranschreiten und der Antrag der Fraktion Die Linke keinerlei Aspekte enthält, die wir nicht schon auf den Weg
gebracht hätten.
Mit den in Ihrem Antrag enthaltenen kostenintensiven
Maßnahmen und Programmen sowie Ihrer Forderung
nach zahlreichen Sonderstellungen torpedieren Sie doch
gerade den Gedanken der Inklusion. Denn wir wollen
doch gerade eine vollständige gesellschaftliche Eingliederung erreichen.
Im Übrigen möchte ich noch einmal explizit darauf
hinweisen, dass auch die Sachverständigen im Rahmen
der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und
Soziales Ende März der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans ein gutes Zeugnis ausgestellt haben. So hat
die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der Anhörung
Zu Protokoll gegebene Reden
berichtet, dass sich die Situation von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt seit Einführung des Aktionsplans nachhaltig verbessert habe.
Viele Behinderte verfügen über außerordentlich gute
Qualifikationen, die es im Zuge des anhaltenden Fachkräftemangels zu nutzen gilt. Liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linken, Sie sind herzlich eingeladen, uns
bei der weiteren Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention konstruktiv zu unterstützen, um die Situation
von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt
noch weiter zu verbessern. Das wäre allemal sinnvoller,
als die Zeit mit Abkupfern unserer Vorhaben und Anträgen zu vergeuden.
Hier brauchen wir die Beiträge aller.
Wir alle wollen, dass Menschen mit Behinderung
volle und wirksame gesellschaftliche Teilhabe erhalten.
Zur umfassenden Teilhabe gehört selbstverständlich der
vollständige Zugang zum Arbeitsmarkt.
In der UN-Behindertenrechtskonvention steht auch
das Recht auf Arbeit. In Art. 27 heißt es, die Arbeitsaufnahme von Menschen mit Behinderung ist durch staatliche Maßnahmen zu fördern.
Wir als SPD-Fraktion nehmen die UN-Behindertenrechtskonvention sehr ernst. Deswegen bringen wir
heute den Antrag mit dem Titel „Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinderung fairen Zugang
zum Arbeitsmarkt ermöglichen“ ein. Mit der Umsetzung
unserer Forderungen wird Menschen mit Behinderung
ein fairer Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht.
Fakt ist aber: Obwohl die Arbeitslosenzahlen in
Deutschland insgesamt sinken, finden immer mehr Menschen mit Behinderung keine Arbeit. Im Mai dieses Jahres waren über 175 000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos. Dieser Trend des Ausgrenzens von Menschen
mit Behinderung muss gestoppt werden. Es kann nicht
sein, dass einerseits über Fachkräftemangel geklagt
wird und andererseits Menschen nicht eingestellt werden, weil sie eine Behinderung haben.
Wir müssen uns auch immer vor Augen führen: Viele
der rund 9,6 Millionen Behinderungen sind durch einen
Unfall oder eine chronische Krankheit verursacht. Von
Geburt an sind nur 4 Prozent betroffen.
In Deutschland haben die Arbeitgeber eine gesetzliche Pflicht zur Beschäftigung von schwerbehinderten
Menschen - und das ist gut so. Unternehmen, die mindestens 20 Vollzeitarbeitsplätze haben, müssen wenigstens 5 Prozent schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Also von 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
mindestens eine oder einen.
Die Unternehmen, die ihrer Beschäftigungspflicht
nicht nachkommen, haben eine Ausgleichsabgabe zu
zahlen. Die Praxis zeigt, dass die Abgabe oft als eine Art
Freikauf von der Pflicht zur Beschäftigung genutzt wird.
Folge dieses Freikaufs ist, dass mittlerweile fast jeder
dritter Arbeitgeber die gesetzliche Beschäftigungspflicht gar nicht oder völlig unzureichend erfüllt. Folge
dieses Freikaufs ist auch, dass wir in Deutschland nur
einen prozentualen Anteil von 4,5 Prozent schwerbehinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben.
Während die öffentlichen Arbeitgeber ihrer Pflicht
mehr als nachkommen, macht das die private Wirtschaft
nicht. Sicher: Wir müssen darüber aufklären und dazu
beraten, was die Einstellung eines Menschen mit Behinderung bedeutet. Dafür haben wir hervorragende
Dienste und Einrichtungen, von der Bundesagentur für
Arbeit über die Integrationsämter bis zu den Integrationsfachdiensten.
Aber offenem Unwillen und offener Diskriminierung
müssen wir auch mit strengen Maßnahmen begegnen.
Für uns als SPD-Fraktion ist ganz klar: Hier besteht
dringender Handlungsbedarf! Wir wollen, dass die Arbeitgeber ihrer Verpflichtung zur Beschäftigung behinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch in der
Wirklichkeit endlich nachkommen.
Getreu nach dem Motto der UN-Behindertenrechtskonvention „Nichts über uns ohne uns“ haben wir zusammen mit den Betroffenen und ihren Verbänden diskutiert, wie wir einen fairen Zugang zum Arbeitsmarkt
ermöglichen können.
Erstens. Wir wollen die derzeitige Trennung von
schwerbehinderten Menschen und nicht schwerbehinderten Menschen schrittweise auflösen, weil sie dem
Inklusionsgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention widerspricht. Auch ein geringerer Grad der Behinderung als 20 kann im Arbeitsleben zu Einschränkungen
führen und damit Teilhabe verhindern. Das wollen wir
ändern.
Zweitens. Die bestehende Gesetzeslage privilegiert
Unternehmen, die viele geringfügig Beschäftigte einsetzen, denn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die weniger als 18 Stunden arbeiten, werden nicht gezählt. Wir
setzen uns dafür ein, dass dieser Paragraf gestrichen
wird. Unternehmen dürfen nicht dafür belohnt werden,
dass sie einerseits massenhaft prekäre Beschäftigungsverhältnisse anbieten und dann aufgrund der statistischen Zählweise sich noch um gesetzliche Regelungen
zur Beschäftigungspflicht herumdrücken können.
Drittens. Die Beschäftigungspflichtquote muss auf
6 Prozent erhöht werden. Mehr Menschen mit Behinderung brauchen eine reale Perspektive auf dem Arbeitsmarkt.
Ich möchte nochmal erinnern: Wir hatten die Quote
schon einmal von 6 Prozent auf 5 Prozent abgesenkt und
haben der Wirtschaft damit ein Angebot gemacht. Dies
ist nicht angenommen worden, darauf müssen wir reagieren.
Dem Freikaufen der Unternehmen von ihrer Beschäftigungspflicht muss ein Riegel vorgeschoben werden.
Deswegen treten wir für eine gestaffelte Erhöhung der
Ausgleichsabgabe ein. Bei einer Beschäftigungsquote
von weniger als 2 Prozent sollen die Arbeitgeber pro
Monat 750 Euro statt bisher 290 Euro als Ausgleich zahlen. Unternehmen, die 2 bis weniger als 3 Prozent Menschen mit Behinderung beschäftigen, sollen monatlich
Zu Protokoll gegebene Reden
500 Euro statt bisher 200 Euro zahlen. Bei einer Beschäftigungsquote von 3 bis weniger als 6 Prozent soll
dann eine Ausgleichsabgabe von monatlich 250 Euro
statt bisher 115 Euro pro fehlendem Arbeitsplatz gezahlt
werden müssen.
Viertens. Wir wollen die Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt fördern. Deswegen sollen mehr Mittel aus
der Ausgleichsabgabe für die Förderung von Integrationsunternehmen und Inklusionsprojekten verwendet
werden. Hier arbeiten 25 bis 50 Prozent Menschen mit
Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Integrationsunternehmen leisten echte Inklusion. Sie müssen
stärker gefördert werden. Nach eigener Aussage der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsunternehmen könnten in den bestehenden Projekten sehr schnell
mindestens 10 000 Arbeitsplätze geschaffen werden.
Dafür sollte die Bundesregierung alle Ressourcen aktivieren; denn dies kommt den Menschen direkt zugute.
Es kommt darauf an, dass die Menschen gefördert
werden und nicht die Institutionen, daher ist die Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und in
Integrationsunternehmen und -abteilungen so wichtig.
Dafür gibt es viele gute Beispiele.
Diese Bundesregierung muss nur endlich einmal tätig
werden, anstatt sich auf einem Aktionsplan auszuruhen,
der den Namen nicht verdient.
Fünftens. Wir möchten die Schwerbehindertenvertretungen nach dem SGB IX zu Behindertenvertretungen
weiterentwickeln. Die gewählten Vertrauensleute haben
sich zu einem Motor für eine bessere Inklusion in Arbeit,
Beruf und Gesellschaft entwickelt. Für die Durchsetzung
von mehr Teilhaberechten gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Stärkung der Behindertenvertretungen nötig.
Sechstens. Die SPD-Fraktion tritt für mehr Transparenz ein. Daher fordern wir, dass die Bundesagentur für
Arbeit eine jährliche Übersicht über die Erfüllung der
Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung
erstellt und diese dann auch veröffentlicht.
Wir brauchen eine bessere Beratung und Vermittlung
von arbeitslosen Menschen mit Behinderung. In allen
Agenturen für Arbeit und Jobcentern sind speziell qualifizierte Fachkräfte einzuführen, die Menschen mit Behinderung kompetent beraten und vermitteln. Das ist ein
wichtiger Schritt, um die Benachteiligung von Menschen
mit Behinderung abzubauen.
Siebtens. Bisher werden Verstöße gegen die Beschäftigungspflicht kaum geahndet. Doch die Nichterfüllung
der Beschäftigungspflicht stellt eine Ordnungswidrigkeit
mit empfindlichen Geldbußen dar. Es hat sich gezeigt,
dass die Bundesagentur für Arbeit nicht die geeignete
Verwaltungsbehörde ist, um diese Ordnungswidrigkeiten
zu verfolgen.
Wir schlagen daher vor, dass die Durchsetzung der
Beschäftigungspflicht auf die Finanzkontrolle übertragen wird. Diese hat sich bereits bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit bewährt.
Sie sehen, wir von der SPD-Fraktion meinen es ernst
mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Wir wollen Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen. Wir wollen den
Menschen Perspektiven geben und volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wir sind davon überzeugt, dass
alle dabei gewinnen: Menschen mit und Menschen ohne
Beeinträchtigung.
Was haben die Unternehmen Globetrotter, Daimler
AG, Metro Group und die Deutsche Telekom gemeinsam? Sie alle beschäftigen motivierte Menschen mit
ganz unterschiedlichen Behinderungen. Sie alle haben
erkannt, dass sich das Engagement für behinderte Menschen lohnt. Sie alle zeigen, dass sich Leistungsfähigkeit, Inklusion und wirtschaftlicher Erfolg nicht ausschließen. Und sie alle machen deutlich, worauf es
ankommt: eine Win-win-Situation für alle zu schaffen.
Dafür brauchen wir Vorbilder. Mit gutem Beispiel vorangehen, heißt die Devise. Die Deutsche Telekom zum
Beispiel beschäftigt über 100 000 Mitarbeiter in
Deutschland. Davon haben 6,2 Prozent eine Schwerbehinderung. Unternehmen wie die Deutsche Telekom zeigen, dass Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben
teilhaben. Vor allem größere Arbeitgeber besetzen mehr
Pflichtarbeitsplätze für Schwerbehinderte - mehr, als sie
gesetzlich müssten.
Es ist sehr erfreulich, dass die Zahl der unbesetzten
Pflichtstellen deutlich zurückgeht. Die Bundesagentur
für Arbeit hat zudem im März dieses Jahres bekanntgegeben, dass die Unterbeschäftigung bei schwerbehinderten Menschen erkennbar zurückgeht. Davon, dass
ein Rückgang unter bereits erreichtes Niveau drohe, wie
die Linken in ihrem Antrag schreiben, kann also keine
Rede sein.
Trotz Wirtschaftskrise waren im Jahresdurchschnitt
2009 mehr Pflichtarbeitsplätze schwerbehinderter Menschen bei Arbeitgebern mit mehr als 20 Mitarbeitern besetzt als ein Jahr zuvor. Das hat die Bundesagentur in
ihrer Arbeitsmarktberichterstattung bekanntgegeben.
Es ist richtig, dass immer noch mehr Unternehmen
Menschen mit Behinderung einstellen könnten. Es
stimmt, dass es Vorbehalte gegenüber Menschen mit Behinderung gibt und dass Barrieren bestehen, die die Integration schwerbehinderter Menschen in den ersten Arbeitsmarkt erschweren.
Die Problemlagen sind dabei sehr komplex. Folgen
der Wirtschaftskrise, Art und Schwere der Behinderung,
Unwissenheit und Scheu der Arbeitgeber, mangelnde
Barrierefreiheit, all das kann als Ursache für eine unbefriedigende berufliche Teilhabe gesehen werden.
Doch so vielschichtig das Problemfeld ist, so vielschichtig sind auch die Lösungsansätze. Es existiert bereits ein breites Instrumentarium zur beruflichen Eingliederung. Dieses gilt es voll auszuschöpfen. Mit der
Unterstützten Beschäftigung, der Arbeitsassistenz und
dem Persönlichen Budget für Arbeit sind gute Ansätze
entwickelt worden. Auch die individuelle ArbeitsplatzZu Protokoll gegebene Reden
ausstattung und die Kooperation mit Integrationsfachdiensten und sogenannten Coaches tragen zu einer
gelungenen betrieblichen Integration bei. Von der Zusammenarbeit und der Unterstützung profitieren alle Mitarbeiter mit Behinderung, Kollegen, Vorgesetzte und
die Geschäftsführung. Wichtig ist, die guten Ansätze, die
bereits entwickelt und in der Praxis erprobt wurden,
auch für Arbeitgeber bekannter zu machen.
Trotzdem wird die bezahlte Arbeit in Werkstätten der
Behindertenhilfe für viele Menschen mit Behinderungen
die einzige Möglichkeit bleiben, zu arbeiten und muss
deshalb dringend erhalten bleiben.
Ich halte es darüber hinaus für wichtig, dass Unternehmen, die Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen, gewürdigt werden. Denn Vorurteile gegenüber
Mitarbeitern mit Behinderung werden am besten durch
Beispiele von Arbeitgebern widerlegt, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Die Unternehmen zeigen
so, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung einen Gewinn für alle darstellen kann. Solche Betriebe und Unternehmen auszuzeichnen und deren positives Beispiel öffentlich zu machen, hat eine
Vorbildwirkung.
Es ist erfreulich, dass bereits ein breites Spektrum an
Aktionen, Wettbewerben und Preisen existiert und in vielen Kommunen, Städten und Ländern Arbeitgeber mit
behindertenfreundlicher Personalpolitik auszeichnet
werden. Zum ersten Mal wurde in diesem Jahr der Inklusionspreis „Unternehmen fördern Inklusion” ausgelobt.
Diese Initiative geht auf das UnternehmensForum zurück. Es wird vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels sehr deutlich, dass Unternehmen großes Interesse daran haben, Menschen mit Behinderung in das
Wirtschaftsleben zu integrieren. Gerade in Zeiten des
Fachkräftemangels sind sie auf Menschen mit Behinderungen angewiesen. So sagt Olaf Guttzeit, Vorstandsvorsitzender des UnternehmensForums, zu Recht, dass
die Wirtschaft Menschen mit Behinderung braucht.
Ich bin der Ansicht, dass die Teilhabe behinderter
Menschen am Arbeitsleben sowohl eine sozialpolitische
Aufgabe als auch betriebswirtschaftlich sinnvoll und
volkswirtschaftlich notwendig ist. Die UN-Behindertenrechtskonvention betont ausdrücklich den uneingeschränkten Zugang behinderter Menschen zum allgemeinen Arbeitsmarkt ({0}). Seit Jahren wirbt die
FDP mit der Botschaft, dass behinderte Menschen am
richtigen Platz in der richtigen Weise eingesetzt, wertvolle Mitarbeiter sind. Hierfür werden wir uns weiterhin
einsetzen.
Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und mit der Initiative Inklusion sind wir auf einem
guten Weg. Vor allem ältere und junge Menschen mit Behinderung profitieren von der Initiative Inklusion. Die
Inklusionskompetenzen bei den Kammern zu fördern,
schwerbehinderten Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung zu erleichtern und ältere Menschen mit Behinderung ({1}) wieder in den
Arbeitsmarkt zu integrieren, sind genau die Schritte, die
notwendig sind.
Ich denke nicht, dass eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe, so wie es die Linken in ihrem Antrag fordern, zu
dem gewünschten Ergebnis führt. Wenn wir wollen, dass
mehr Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten, dürfen die Hürden für Arbeitgeber
nicht größer werden. Die Strategien der Linken und der
SPD, die mit ihren Anträgen mehr Beschäftigung von
schwerbehinderten Menschen gewährleisten wollen,
sind meines Erachtens ungeeignet. Als FDP setzen wir
uns mit Nachdruck für den Abbau von Diskriminierung
und für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderung
auf dem Arbeitsmarkt ein. Wir wollen, dass mehr Menschen mit Behinderung für ihren Lebensunterhalt selbst
sorgen können. Deshalb müssen wir genau hinsehen, ob
gut gemeinte Schutzgesetze oder scharfe Sanktionen
wirklich den gewünschten Effekt erzielen oder Inklusion
eher erschweren.
In diesem Sinne ist es gut, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Evaluation des SGB IX
vornimmt. Dabei gehört dann auch auf den Prüfstand,
ob spezielle Kündigungsschutzgesetze für Menschen mit
Behinderung kontraproduktiv sind und nicht zu mehr,
sondern zu weniger Beschäftigung und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen führen. Arbeitgebern müssen aus der Beschäftigung von Menschen mit
Behinderungen Vorteile erwachsen, nicht Nachteile. Die
Wiedereinführung der 6-Prozent-Quote ist deshalb der
falsche Weg. Mehr Gleichbehandlung in der Gesellschaft wird so nicht erzielt.
Es wundert mich sehr, dass in den Anträgen der Opposition davon ausgegangen wird, man könne mit Gesetzen und Sanktionen Gleichstellung und ein vorurteilsfreies Miteinander herstellen. Inklusion lässt sich nicht
erzwingen. Sie ist Weg und Ziel zugleich und braucht
Zeit, sich zu entwickeln. Bei der Idee der Inklusion geht
es um einen gesellschaftlichen Prozess. Hier spielt vor
allem der gemeinsame Unterricht, also die inklusive Bildung eine wichtige Rolle. Lernt der zukünftige Firmenchef gemeinsam mit behinderten und nichtbehinderten
Klassenkammeraden, so wird er später weniger Vorbehalte haben, einen Menschen mit Behinderung einzustellen.
Gesellschaftliche Ziele wie die Wertschätzung und
Anerkennung von Vielfalt, ein bewusster Umgang mit
Vorurteilen und Chancengleichheit lassen sich nicht
durch die Anhebung der Ausgleichsabgabe oder durch
eine Änderung der Arbeitsstättenverordnung erreichen.
Was mich besonders ärgert, ist, dass die Fraktion Die
Linke in ihrem Antrag schreibt, es gebe in Deutschland
in Wahrheit mehr Sondereinrichtungen und mehr Ausgrenzung. Ich frage mich, wo Sie die letzten 60 Jahren
waren.
Noch nie hatten Menschen mit Behinderung so viele
Wahlmöglichkeiten wie heute. Dazu beigetragen haben
Errungenschaften der Behindertenbewegung und -politik. Meilensteine wie Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz - „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden“ -, Meilensteine wie das SGB IX oder das Persönliche Budget und nicht zuletzt die UN-Behindertenrechtskonvention haben zu mehr Selbstbestimmung und
Zu Protokoll gegebene Reden
Teilhabe beigetragen. Das sieht man auch ganz deutlich
an einzelnen Biografien von Menschen mit Behinderungen. Es steht außer Frage, dass es noch einiges zu tun
gibt, und nicht immer können alle Bedürfnisse erfüllt
werden; aber zu schreiben, dass es in Deutschland in
Wahrheit mehr Ausgrenzung gebe, empfinde ich als Anmaßung.
Ich sehe Inklusion, Selbstbestimmung und die Teilhabe am Arbeitsleben als Herausforderung, aber auch
Verpflichtung und Aufgabe unserer Gesellschaft. Es gilt,
alle Menschen von Geburt an bis ins Alter chancengleich am Leben in der Gemeinschaft aktiv teilhaben zu
lassen. Inklusion ist dabei nicht als Gnadenakt, sondern
als Menschenrecht zu verstehen. Es ist wichtig, dass wir
Politik für Menschen mit Behinderungen als Inklusionspolitik begreifen.
Neben der wichtigen Aufklärungsarbeit, dass Menschen mit Behinderungen meist sehr zuverlässige, hochmotivierte und produktive Arbeitnehmer sind, will die
FDP die Anreize für Unternehmen, Menschen mit Behinderungen einzustellen, wirksam erhöhen. Staatlicher
Dirigismus führt nicht weiter. Gefragt sind individuelle
Konzepte, die die berechtigten Interessen von Menschen
mit Behinderungen und die berechtigten Interessen von
Arbeitgebern zusammenführen.
Dafür brauchen wir Best-Practice-Beispiele. Denn
wie der Arzt und Schriftsteller Samuel Smiles bereits
sagte: „Die Vorschrift mag uns den Weg weisen, aber
das stille, fortwährende Beispiel bringt uns vorwärts.“
Bist du noch beschäftigt oder arbeitest du schon?
Diese Frage spaltet die Behindertenbewegung. Na ja,
manchmal. Ein bisschen.
Beschäftigt sind Menschen mit Behinderungen ständig. Sie organisieren ihr Leben zwischen verschiedenen
Amtsstuben der unterschiedlichen Leistungsgewährung.
Sie lernen immer neue Gesetzesinterpretationen und
deren Missachtung kennen. Sie qualifizieren sich als
Antragstellerinnen und Antragsteller bzw. als Aktenarchivarinnen und Aktenarchivare.
Und bleiben doch Bittsteller, Pfahlbürger vor den
Toren des Arbeitsmarktes. Nicht erwünscht zur „Anschlussverwertung“.
27 Prozent aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber beschäftigen gar keine behinderten Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter. 34 Prozent kommen ihrer Beschäftigungspflicht nur teilweise nach. 61 Prozent
verpflichteter Arbeitgeber verstoßen also tagtäglich gegen ein Gesetz. Ohne wirksame Sanktionen.
Und das Ergebnis? Von 3 Millionen Menschen mit
Behinderungen im erwerbsfähigen Alter sind fast 2 Millionen nicht bezahlt berufstätig. Diese Ausgrenzung diskriminiert. Das wollen wir, die Linke, mit unserem heute
im Hohen Haus vorliegenden Antrag überwinden, und
zwar nicht auf dem entwürdigenden Niveau prekärer
Beschäftigung.
Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderung ist doppelt so hoch wie unter denen ohne Handicap. Menschen mit Behinderung werden noch immer
über Defizite definiert, genannt „Minderleistung“.
Diese Zuschreibung teilen sie mit vielen älteren Menschen, mit Migrantinnen und Migranten sowie mit geringqualifizierten Frauen und Männern ohne Behinderung. Sie gelten als „Kostenfaktor“, gelegentlich gar als
„Risiko für den Betriebsfrieden“, als zeitraubende Sonderlinge - nur nicht als Fachkräfte.
Jüngstes Beispiel dafür: Das Ministerium unter Leitung von Frau von der Leyen startete vor wenigen Tagen
eine Kampagne, genannt „Fachkräfteoffensive“. Sie
richtet sich an potenzielle Fachkräfte und Unternehmen. Wen zählt die Fach-Ministerin dazu? Frauen, Migranten, die Generation 50 plus, Schul- und Hochschulabsolventen sowie internationale Fachkräfte. So, so:
Wen vergaßen sie und ihre famosen Fach-Beamten wieder einmal? Ei der Daus, die Fachkräfte mit Behinderungen! Das ist uns jetzt aber peinlich. Nein, nein,
selbstverständlich vergessen wir dieses Potenzial nie!
Nur - leider - dieses eine Mal. Ganz aus Versehen. Und
- na ja, vielleicht? - auch hier noch und da noch.
Dabei konnten viele arbeitslose schwerbehinderte
Menschen - nämlich 56 Prozent - unter großen Anstrengungen und mit sehr guten Ergebnissen ihre schulischen
oder beruflichen Ausbildungen abschließen. Denn sie
sind hochmotiviert.
Was also ist die Botschaft Ihrer Kampagne an Menschen mit Handicap? Ihr gehört nicht dazu. Was ist die
Botschaft an die Unternehmen? Es bleibt möglich, die
gesetzliche Beschäftigungsquote zu unterlaufen. Was ist
die Botschaft an die Öffentlichkeit? Fachkräfte dürfen
nicht behindert sein.
Die Linke will diesen Systemfehler beseitigen. Menschen mit Behinderungen brauchen keine „Sonderwelten“, dafür den Ausgleich individuell nicht beeinflussbarer Nachteile. Vor allem jedoch wollen wir Linken
reale Schritte in eine inklusive Arbeitswelt: Nicht die
Menschen müssen sich den Arbeitsplätzen anpassen,
sondern Letztere sind auf die jeweiligen Fähigkeiten
zuzuschneiden. Das ist neues Denken à la UN-Behindertenrechtskonvention. Deshalb fordern wir ein umfassendes Gesetzesscreening. Alle gesetzlichen Hindernisse
für reguläre Erwerbsarbeit von Fachleuten mit Beeinträchtigungen müssen beseitigt werden. Vor allem
fordern wir einen anderen gesetzlichen Blick: Barrierefreiheit als Gestaltungsprinzip der Arbeitsstättenverordnung, bezahlte Arbeitsassistenz und gleiche Bezahlung
bei gleicher Arbeit ohne Reduzierung behinderungsbedingter Nachteilsausgleiche.
Die Linke will die Situation von Menschen mit Behinderungen schnell verbessern. Deshalb muss die Beschäftigungsquote als Sofortmaßnahme wieder auf
6 Prozent und die Ausgleichsabgabe so angehoben werden, dass Nichtbeschäftigung von Betroffenen der Firma
wehtut, nicht den Draußenbleibenden. Wer die Beschäftigungsquote übererfüllt, soll dagegen Vorteile haben,
zum Beispiel auch steuerliche. Gern greifen wir den Vorschlag von Verdi auf, eine Ausbildungsquote und bei
Zu Protokoll gegebene Reden
Nichterfüllung eine Ausbildungsplatzabgabe für Jugendliche mit Behinderungen einzuführen.
Wir wollen die Arbeitsagentur als einheitliche Anlauf- und Vermittlungsstelle mit hochqualifiziertem Personal sowie starke Integrationsfachdienste, die nicht nur
vermitteln, sondern auch dauerhaft im Job begleiten.
Und zwar nach dem Peer-Counseling-Ansatz: Betroffene beraten und begleiten Betroffene.
Als Experten in eigener Sache brauchen sie Mitbestimmung, sowohl in Betriebsräten als auch in Schwerbehindertenvertretungen oder als Werkstatträte, gleichlautend verankert im Betriebsverfassungsgesetz, in der
Werkstätten-Mitwirkungsverordnung und im SGB IX. Es
geht um Stimmrechte gegenüber der Geschäftsführung
und um echte Verbandsklagerechte. Sie sollen auch dann
klagen dürfen, wenn kein einzelner behinderter Mensch
es wagt, Klage zu erheben.
Werkstätten wollen wir weiterentwickeln. Zunächst in
Richtung Integrationsunternehmen mit existenzsichernder Bezahlung und Mitbestimmung. Jede und jeder in
der Werkstatt hat das Recht auf ein reguläres Arbeitsverhältnis mit tariflicher Entlohnung, nicht nur auf Außenarbeitsplätzen. Gegenwärtig erhalten Werkstattbeschäftigte jedoch nur ein Entgelt, oft in der Höhe von
Almosen. Möglich macht das der „arbeitnehmerähnliche Status“. Er definiert sie nach völlig veralteten Kriterien als „Beschäftigte“. Und das sind keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Igitt! Aber genau das
sollen sie werden. Selbstverständlich bei Beibehaltung
erforderlicher Nachteilsausgleiche.
Gegenwärtig wächst in den Werkstätten die Zahl derjenigen, die ausgebrannt vom sogenannten regulären
Arbeitsmarkt wegen psychischer Probleme „aufgefangen“ oder über psychologische Gutachten der Arbeitsagenturen sogar hineingedrängt werden. Sie erbringen
eine „wirtschaftlich verwertbare Leistung“, wie es diskriminierend heißt: Mehrfach schwerstbehinderte Menschen werden durch diese Bezeichnung aus der Werkstatt gedrängt.
Ja, ich weiß: Viele sind froh, wenigstens in der Werkstatt tätig zu sein. Doch bleibt es für uns politische Aufgabe, zu verhindern, dass Menschen aus unabhängigen
Lebensverhältnissen herausfallen, dass in sogenannten
Normalarbeitsverhältnissen „Behinderung“ produziert
wird. Dass sie in Sonderwelten abgeschoben werden,
aus denen sie nicht mehr zurückkehren können.
Die genaue Umkehrung entspräche der UN-Behindertenrechtskonvention. Deren Art. 27 fordert „das
Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch
Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven und
für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen
wird.“ Eine solche inklusive Arbeitswelt wäre übrigens
auch kostengünstiger als der Fürsorgeapparat.
Dafür stellen wir unseren Antrag zur öffentlichen
Diskussion: Arbeit erfüllt Teilhabe mit einem konkreten
Sinn. Teilhaben heißt, sich seinen Teil nehmen und seinen Teil geben können. Jede und jeder ist fähig, kreativ
zu sein, etwas hervorzubringen. Es geht deshalb erstens
darum, von staatlichen Alimenten unabhängig zu sein.
Dafür wollen und brauchen wir zweitens eine Wirtschaft, die Arbeit von den Fähigkeiten her denkt und
diese entwickelt, statt sie zu verschleißen. Wir fordern
gute Arbeit für jeden Menschen - und man kann selbst
die geringste Arbeit gut machen. Wenn das Umfeld barrierefrei ist, Assistenz begleitend unterstützt und die
Arbeitenden wirklich mitentscheiden.
Lassen Sie uns endlich daran arbeiten. Wenn das
stressfrei, fähigkeitsfördernd und armutsfest ist, können
wir es gern ganz modern „Beschäftigung“ nennen.
Menschen mit Behinderungen haben das Recht, ihren
Lebensunterhalt in einem offenen und zugänglichen Arbeitsmarkt durch Arbeit zu verdienen. Doch das, was die
meisten von uns wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, bleibt Menschen mit Unterstützungsbedarf oftmals verwehrt. Die Situation für Menschen mit
Behinderungen am Arbeitsmarkt ist weithin unbefriedigend. Das Ziel einer vorrangigen Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist nur in bescheidenem Umfang erreicht. Eine personenbezogene
Förderung - etwa mit einem Budget für Arbeit - wird
nur selten realisiert. Insbesondere Personen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf haben kaum eine echte Wahl:
Ihr Weg in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen ist in vielen Fällen vorgezeichnet und erscheint Rehaträgern, Angehörigen und nicht selten den Betroffenen
selbst schlichtweg einfacher als eine individualisierte
Lösung. An individuellen Lösungen mangelt es jedoch
nicht zuletzt aufgrund fehlender angepasster Arbeitsplätze am ersten Arbeitsmarkt - auch das gehört zur
ganzen Wahrheit und lohnte eine eigene Parlamentsdebatte.
Im Sinne einer Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes müssen alle Menschen mit Behinderungen - unabhängig von der Art oder Schwere ihrer Behinderung - in
die Lage versetzt werden, selbst entscheiden zu können,
in welcher Form sie am Arbeitsleben teilhaben möchten.
Entscheidend ist, dass sie individuell gefördert und bei
Bedarf nach dem Prinzip des Nachteilsausgleichs dauerhaft unterstützt werden.
Das ist alles nicht neu, weder die Ziele noch die Ursachen für die Probleme. Und es gibt bereits eine große
Zahl an Instrumenten und Regelungen, die der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt gegensteuern sollen: Lohnkostenzuschüsse, Hilfsmittel zur barrierefreien Gestaltung des Arbeitsplatzes
oder Assistenten, die den Wunscharbeitsplatz möglich
machen. Diese Instrumente zur Beschäftigungsförderung sind allerdings unübersichtlich. Menschen mit Behinderungen und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
müssen zunächst viel Zeit und Mühe investieren, um sich
über ihre Rechte und Pflichten zu informieren. Häufig
finden sie keine kompetenten Ansprechpartner.
Wir brauchen kein neues beschäftigungspolitisches
Rahmenprogramm, wie es die Linksfraktion in ihrem Antrag fordert. Aber wir müssen dringend dauerhafte und
bundesweit gültige Lösungen für die Teilhabe von MenZu Protokoll gegebene Reden
schen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt
finden. Modellprojekte, die es nur in einigen Bundesländern gibt, und Lohnkostenzuschüsse, die nur temporär
möglich sind, müssen verstetigt und damit verbindlich
werden. Es gibt bereits gute Ansätze. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren nicht erkennen lassen,
dass sie diese systematisch weiterentwickelt.
Ich möchte auf zwei Modelle eingehen, bei denen
Handlungsbedarf besteht: die Integrationsbetriebe und
das sogenannte Budget für Arbeit.
Integrationsfirmen sind ein wirklich gutes Modell für
die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt. In diesen Betrieben haben 25 bis 50 Prozent
der Mitarbeiter eine erhebliche Schwerbehinderung.
Die Unternehmen werden als Betriebe des allgemeinen
Arbeitsmarkts über Nachteilsausgleiche unterstützt.
Diese Nachteilsausgleiche dienen nicht der Abdeckung
unternehmerischer Risiken, sondern dem Ausgleich der
betriebswirtschaftlichen Nachteile, die durch die besondere Zusammensetzung der Belegschaft entstehen. Die
Betriebe bieten dauerhafte Arbeitsplätze zu tariflichen
oder ortsüblichen Konditionen und erwirtschaften die
zur Kostendeckung notwendigen Umsätze durch Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsleben. Heute beschäftigen etwa 700 Integrationsunternehmen rund
25 000 Personen, darunter 10 000 Menschen mit den
unterschiedlichsten Behinderungen und Leistungseinschränkungen.
Die Finanzierung der Integrationsfirmen ist zunehmend unsicher. Die Mittel der Ausgleichsabgabe, die zur
Finanzierung dienen, sind weitgehend ausgeschöpft.
Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Integrationsfirmen wäre die Beschäftigung weiterer
10 000 Menschen in Integrationsprojekten möglich,
wenn eine entsprechende Finanzierung sichergestellt
wäre. Hier müssen wir entsprechende Rahmenbedingungen schaffen! Es ist an der Zeit, neue Wege für die Finanzierung der Nachteilsausgleiche zu finden. Mit einer
Ausgestaltung des § 16 e SGB II im Sinne einer nachhaltigen individuellen Förderung kämen wir hier beispielsweise einen deutlichen Schritt weiter. Aber auch die
Länder sind bei der Entwicklung von Integrationsfirmen
gefordert - nicht zuletzt mit finanziellen Beiträgen. Bundesweit vorbildhaft - und das seit vielen Jahren! - verhält sich jedoch nur das Bundesland Nordrhein-Westfalen, das mit Abstand die meisten Neugründungen von
Integrationsbetrieben aufweist.
Als zweiten Punkt möchte ich das Budget für Arbeit
ansprechen: Das Persönliche Budget ist eine Form der
Leistungserbringung, die zu mehr Selbstbestimmung von
Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen
führen soll. Mit dem Budget waren viele Hoffnungen
verbunden, von denen sich nicht alle erfüllt haben. So ist
die Zahl insbesondere der trägerübergreifenden Budgets
nach wie vor verschwindend gering. In Rheinland-Pfalz
und in Niedersachsen gibt es das sogenannte Budget für
Arbeit. In Niedersachsen können sich Menschen, die im
Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen
beschäftigt sind, auf Antrag die bisherige Vergütung an
den Werkstattträger als Persönliches Budget auszahlen
lassen und sich Leistungen bei ihren Arbeitgebern kaufen, zum Beispiel in Form von Unterstützung oder als
Lohnkostenzuschuss. Eine bundesweit gültige systematische Regelung gibt es bisher nicht. Um die Situation von
Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt zu verbessern, ist sie nötig.
Wenn wir alleine die zuletzt von mir angesprochenen
Schritte gingen, kämen wir bei der Erwerbsbeteiligung
von Menschen mit Behinderungen ein gutes Stück voran.
Interfraktionell wird Überweisung in die Ausschüsse
vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Das
heißt, es ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Sportwetten
- Drucksache 17/8494 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 17/10112, 17/10168 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Dr. Barbara Höll
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.1) Au-
ßerdem haben die Abgeordneten Frank Steffel, Stephan
Mayer und Dieter Stier eine Erklärung gemäß § 31 der
Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Druck-
sachen 17/10112 und 17/10168, den Gesetzentwurf des
Bundesrates auf Drucksache 17/8494 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Viola von Cramon-Taubadel, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
1) Anlage 16
2) Anlage 12
Vizepräsidentin Petra Pau
Am 40. Jahrestag des Olympiaattentates von
1972 der Opfer öffentlich gedenken
- Drucksache 17/10109 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Wir beraten heute über Ereignisse, die - obwohl sie
bereits 40 Jahre zurückliegen - uns allen, die damals
Zeugen des terroristischen Anschlags und seiner dramatischen Folgen waren, noch sehr gut in Erinnerung sind.
Wir diskutieren heute über den Angriff palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft während der Sommerspiele in München von 1972.
Am frühen Morgen des 5. September verschafften sich
acht Mitglieder der Terrororganisation „Schwarzer September“, bewaffnet mit Sturmgewehren und Handgranaten, Zugang zum Olympischen Dorf und nahmen elf Athleten der israelischen Mannschaft in ihre Gewalt. Zwei
der Geiseln wurde bereits bei der Geiselnahme ermordet, die übrigen neun Geiseln, ein deutscher Polizist und
fünf der Terroristen überlebten das Drama ebenfalls
nicht.
Bis zu dieser Tragödie standen die ersten Olympischen Spiele im Nachkriegsdeutschland unter dem
Motto der „heiteren Spiele“. Die Sicherheitsbedingungen während der Spiele wurden ganz bewusst locker gehalten, um die positive Veränderung zu demonstrieren,
die sich in Deutschland seit den letzten hier ausgerichteten Spielen von 1936 vollzogen hatte.
Auch ich kann mich noch sehr gut an die äußerst
positive Stimmung bei den Spielen und das friedliche
Miteinander der Sportlerinnen und Sportler auf dem
Gelände des Olympischen Dorfs erinnern. Als junger
Sportler habe ich damals jede Gelegenheit genutzt, mich
mit Gleichgesinnten auf dem Gelände auszutauschen
und den olympischen Geist zu erleben.
Es war ein einmaliges Erlebnis, das durch die abscheuliche Tat über all die Jahre und auch in Zukunft nie
in einem Atemzug ohne die Tragödie mit ihren vielen unschuldigen Opfern genannt werden kann.
Nach einer schier endlosen Hängepartie endete die
Geiselnahme der israelischen Sportler bekanntermaßen
in einem Fiasko. Während der missglückten Befreiungsaktion auf dem Gelände des Flughafens in Fürstenfeldbruck starben alle Geiseln, ein an der Schießerei unbeteiligter bayerischer Polizeibeamter und fünf der
Terroristen. Insgesamt kamen im Olympischen Dorf und
in Fürstenfeldbrück 17 Menschen ums Leben.
Natürlich haben diese Ereignisse die Spiele in München 1972 und alle weiteren verändert. Obwohl zunächst fortgesetzt und erst später unterbrochen, ist allen
damals Beteiligten klar gewesen, dass das Geiseldrama
für immer ein Teil der Olympischen Spiele sein wird,
egal, wo sie stattfinden. Nach einer sehr bewegenden
Gedenkstunde im Münchner Olympiastadion sprach
sich der damalige IOC-Präsident Avery Brundage für
die Fortführung der Olympischen Spiele aus, was auch
von der israelischen Regierung gebilligt wurde.
Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, begründete die Entscheidung zur Fortsetzung der Spiele mit einem Satz, der - meiner Ansicht
nach - auch heute noch nichts von seiner Gültigkeit verloren hat und den ich hier zitieren möchte: „Es ist schon
so viel gemordet worden - wir wollten den Terroristen
nicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.“
Es wäre aber rundweg falsch, die Fortführung der
Olympischen Spiele als ein „Weiter wie bisher“ zu verstehen. Seit München 1972 werden auf internationaler
und auf nationaler Ebene die Erinnerung und das Gedenken an die schrecklichen Ereignisse wachgehalten.
So wird es traditionell auch bei den Olympischen Spielen in London in diesem Jahr eine offizielle Gedenkveranstaltung der israelischen Olympiadelegation geben,
zu der der Präsident des IOC, Jacques Rogge, seine
Teilnahme bereits zugesichert hat. Eine solche Gedenkveranstaltung hat es seit 1972 bei allen Olympischen
Spielen gegeben. An dieser Veranstaltung hat seit 1976
für Deutschland ohne Ausnahme stets Walther Tröger,
der ehemalige Bürgermeister des Olympischen Dorfs in
München, teilgenommen. Dabei spielte und spielt es
keine Rolle, ob ein besonderer Jahrestag des Attentats
ansteht oder nicht, es geht um ein würdevolles Gedenken
an die Opfer.
Bezogen auf die nationalen Aktivitäten ist der Deutsche Olympische Sportbund Mitveranstalter der zentralen Gedenkveranstaltung in Fürstenfeldbruck am 5. September. Dort wird der Präsident des DOSB, Dr. Thomas
Bach, der gleichzeitig IOC-Vizepräsident ist, in Vertretung von IOC-Präsident Jacques Rogge ebenso teilnehmen und sprechen wie Walther Tröger. Darüber hinaus
ist eine Kranzniederlegung an der Gedenktafel im Olympischen Dorf in München geplant. Schließlich wird
Walther Tröger den DOSB bei der Gedenkveranstaltung
in Israel im September vertreten.
Auch in der Vergangenheit hat der DOSB immer wieder der Opfer des Attentats gedacht. So übergab
Dr. Thomas Bach im Juli 2009 während einer Gedenkveranstaltung im Olympischen Museum Israel ein Bild
der Gedenkstätte für die Opfer in Fürstenfeldbruck und
- in Anlehnung an jüdisches Brauchtum - einen Stein
vom Grundstück des Appartements der israelischen
Olympiamannschaft in München 1972.
Sie sehen also: Sowohl auf internationaler als auch
auf nationaler Ebene wird der Opfer gedacht, unabhängig davon, ob nun ein besonderer Jahrestag ansteht oder
nicht.
Die Grundlage für unsere heutige Aussprache ist der
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Am 40. Jahrestag des Olympiaattentates von 1972
der Opfer öffentlich gedenken“. Dieser zielt auf die
wiederkehrende Forderung, sich bei den Sportorganisationen für ein öffentliches Gedenken der Opfer des
Anschlags auf die israelische Mannschaft bei den Olym22586
pischen Spielen 1972 in München zu besonderen Jahrestagen einzusetzen.
Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden die
zahlreichen von mir aufgeführten Aktivitäten des IOC,
des Organisationskomitees der Olympischen Spiele
2012 in London und vor allem des Deutschen Olympischen Sportbundes verkannt. Dies gilt auch hinsichtlich
der diesjährigen Veranstaltungen während der Olympischen Spiele in London.
Die Frage nach einer Schweigeminute im Rahmen
der Eröffnungsfeier ist allerdings keine Erfindung der
Grünen, sondern dieses Anliegen wurde im Vorfeld der
Olympischen Spiele 2012 in London von verschiedenen
Seiten an das IOC herangetragen. Neben dem kanadischen Außenminister haben unter anderem britische
Parlamentarier, der Stadtrat von London und Mitglieder
des amerikanischen Repräsentantenhauses diese Forderung aufgestellt. Die ablehnende Haltung bezüglich des
Zeitpunkts während der Eröffnungsfeier selbst hat das
IOC dabei stets in Abstimmung mit dem NOK Israels getroffen. Wie ich bereits aufgeführt habe, wird, wie schon
bei allen zurückliegenden Olympischen Sommerspielen,
den Opfern des schrecklichen Attentats auch in London
im Rahmen einer gesonderten, würdigen Veranstaltung
in Anwesenheit von IOC-Präsident Jacques Rogge gedacht.
Weiter gehend muss ich der Forderung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen nach einer wissenschaftlichen
Aufarbeitung der Vorbereitung, Durchführung und der
Folgen des Attentats entgegenhalten, dass zahlreiche
Forschungsprogramme und Publikationen sich in den
letzten 40 Jahren hiermit fundiert auseinandergesetzt
haben. Dies bringt auch ohne staatliche Förderung, wie
Sie es fordern, immer wieder neue Tatsachen zutage, wie
wir alle kürzlich in einem Magazin nachlesen konnten,
das herausgefunden hat, dass dem Bundesamt für Verfassungsschutz bereits vor den Spielen in München Hinweise vorlagen, dass die Terroristen Hilfe von deutschen
Rechtsradikalen hatten.
Daneben fördert auch die Deutsche Olympische Akademie entsprechende Forschungsvorhaben und verfügt
zudem über zahlreiche Informations- und Ausstellungsmaterialien zur olympischen Geschichte und zum Attentat von München 1972. Diese finden laufend Verwendung, zum Beispiel bei Jugendlagern zu Olympischen
Spielen und öffentlichen Veranstaltungen des DOSB und
werden auch von externen Partnern häufig angefragt.
Der Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bezüglich einer Wanderausstellung zum Olympiaattentat
von 1972 wird folglich bereits seit längerer Zeit entsprochen.
Uns allen ist klar, dass auch 40 Jahre nach den Olympischen Spielen von München die menschenverachtende
Tat einiger Terroristen noch immer sehr präsent ist und
wir alle der unschuldigen Opfer gedenken. Dies ist in
der Vergangenheit geschehen, und es wird auch bei den
Spielen in London, die in einigen Wochen beginnen, geschehen.
Eine Bewertung darüber, wie würdevoll eine Gedenkveranstaltung sein muss, halte ich jedoch für falsch, geht
es doch dabei um die Opfer und das ganz persönliche
Gedenken an sie. Wir halten die vom IOC und vom
DOSB in der Vergangenheit und für London 2012 vorgesehenen Gedenkveranstaltungen für sehr würdig und sehen die Gefahr, dass diese durch die Forderung nach einer Gedenkminute während der Eröffnungsfeier ins
Hintertreffen geraten könnten. Wichtig ist hier auch ein
anderer Aspekt, der mit hineinspielt, nämlich die Autonomie des Sports. Diese sehe ich in diesem Fall als zumindest gefährdet an. Es ist nicht an der Politik, den unabhängigen Organisationen des Sports Ratschläge zu
geben, wie sie mit dem Gedenken an dieses schreckliche
Ereignis umzugehen haben. Zusammengenommen halte
ich die Forderung nach einer Schweigeminute während
der Eröffnungsfeier folglich für falsch, und daher können wir uns Ihrer Forderung auch nicht anschließen.
Diese ablehnende Haltung möchte ich zum Ende meiner Ausführungen nochmals mit der Aussage unterstreichen, dass wir uns an die Opfer des schrecklichen Attentats nicht nur zu besonderen Jahrestagen erinnern
sollten, sondern dass sie uns eine Mahnung für friedliches Zusammenleben sind und wir ihrer in Würde gedenken.
1965 teilte der damalige Vorsitzende des Nationalen
Olympischen Komitees, Willi Daume, dem damaligen
Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel mit,
dass er München zum Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 1972 machen wolle. Die Entscheidung für München fiel im April 1966. Nach der großen
Propaganda-Schau von 1936 in Berlin war Deutschland
damit zum zweiten Mal Ausrichter der Olympischen
Sommerspiele.
Unter dem Motto „Heitere Spiele im Grünen“ wollten
die Organisatoren der Welt das neue, weltoffene und tolerante Deutschland präsentieren. Die Voraussetzungen
für ein großes Völkerfest waren gegeben. Die Sportstätten, die Athleten, das Wetter, die Stimmung, alles war nahezu perfekt, um „München 1972“ zu unvergesslichen
Spielen zu machen.
Leider wurden aber diese Spiele vor 40 Jahren auf
tragische Weise unvergesslich. Am Morgen des 5. September 1972 stürmten acht Personen das Quartier der
israelischen Olympiamannschaft. Die Männer, die sich
als palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer September“ ausgaben, erschossen noch in der Unterkunft einen
israelischen Ringer und einen israelischen Gewichtheber, die sich gegen die Eindringlinge wehren wollten.
Weitere neun Sportler wurden als Geiseln genommen.
Die Terroristen wollten mit ihrem Anschlag die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen und von zwei deutschen Terroristen erpressen.
Das Geiseldrama fand seinen tragischen Höhepunkt auf
dem Luftwaffenstützpunkt Fürstenfeldbruck. Scharfschützen sollten die Terroristen auf dem Weg zum Flugzeug erschießen; doch dieses Vorhaben missglückte. InsZu Protokoll gegebene Reden
gesamt starben elf Geiseln, ein deutscher Polizist und
fünf Terroristen.
Inzwischen gibt es neue Erkenntnisse über das Attentat. Die Terrorgruppe „Schwarzer September“ soll von
deutschen Neonazis unterstützt worden sein. Dieses, so
„Der Spiegel“, gehe aus Akten des Bundesamtes für
Verfassungsschutz hervor. Offensichtlich soll die Dortmunder Polizei sieben Wochen vor dem Attentat das
Bundesamt für Verfassungsschutz informiert haben, dass
ein Mann „arabischen Aussehens“ sich konspirativ mit
einem deutschen Neonazi getroffen habe. Doch scheinbar ist durch die informierten Behörden nichts unternommen worden, um den Drahtzieher des Attentats an
seinem Plan zu hindern. Diese Vorgänge müssen aufgeklärt werden.
Dieses Jahr jährt sich das grausame Attentat von
München zum 40. Mal. Aus diesem Anlass finden in
Deutschland zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt.
Das ist auch gut und richtig.
Mit ihrem Antrag fordern Bündnis 90/Die Grünen ein
öffentliches Gedenken an die Opfer des Anschlags auf
die israelische Mannschaft bei den XXX. Olympischen
Spielen in London. Auch viele andere Politikerinnen und
Politiker fordern eine Schweigeminute während des protokollarischen Teils der Olympischen Spiele in London.
Dazu gehören der belgische Sportminister, die australische Premierministerin, britische Parlamentarier, Mitglieder des amerikanischen Repräsentantenhauses, das
kanadische Parlament und viele weitere. Bisher lehnt
aber der Präsident des Internationalen Olympischen
Komitees, Jacques Rogge, ein solches Gedenken ab.
Bei einem solchen Gedenken geht es nicht darum, für
irgendein Land Position zu beziehen. Es geht um das
Gedenken an die Opfer eines Attentates und um das Gedenken an den Angriff auf den olympischen Gedanken.
Bündnis 90/Die Grünen haben sich in dem vorliegenden Antrag das Anliegen, eine Schweigeminute bei der
Eröffnungsfeier in London abzuhalten, zu eigen gemacht. Wir unterstützen das.
Problematisch ist das kurzfristige Einbringen des Antrags, der durchaus überfraktionelle Unterstützung gefunden hätte, womit mehr Nachdruck möglich gewesen
wäre. Wenn dieser Antrag heute an die Ausschüsse überwiesen wird, dann kann er frühestens im Oktober im Plenum beschlossen werden. Dann sind aber die Olympischen Spiele in London schon vorbei. Von daher wäre es
vernünftig gewesen, den Antrag entweder früher einzubringen oder sofort abstimmen zu lassen. Schade; denn
das Anliegen ist gut.
Der Antrag beinhaltet aber noch zwei weitere Forderungen:
Zum einen sollen die Vorbereitung, die Durchführung
und die Folgen des Attentates wissenschaftlich aufgearbeitet und dafür ausreichende Bundesmittel zur Verfügung gestellt werden. Nach 40 Jahren ist es notwendig,
dass dieses schwarze Kapitel in der jüngeren deutschen
Geschichte aufgeklärt wird und die Ergebnisse veröffentlicht werden.
Zum anderen soll die Wanderausstellung zum Olympiaattentat während der Olympischen Spiele in London
in öffentlichen Einrichtungen gezeigt werden. Auch dieses Anliegen halten wir für richtig, würden es aber darüber hinaus begrüßen, wenn diese Ausstellung auch
nach London 2012 öffentlich gezeigt werden würde.
Meine Fraktion und ich unterstützen die Anliegen in
dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Leider kommt
er aber zu spät, um noch vor den Olympischen Spielen
beschlossen zu werden.
Mit Schrecken erinnern wir uns an den 5. September
1972. Der Begriff Olympia wird auf ewig auch mit dem
Olympiaattentat von München verbunden bleiben.
Bei dem Angriff auf die israelischen Olympiateilnehmer und der darauffolgenden Geiselnahme, die ein
schreckliches Ende fand, starben elf israelische Geiseln
und ein Polizist, zwölf Opfer, die wir noch heute betrauern. 2012 jährt sich dieser traurige Tag zum 40. Mal.
Doch woran denken wir am 40. Jahrestag dieses erschütternden Ereignisses?
Wir gedenken der Opfer. Befreundete Sportler aus
Israel kamen zu uns, um sich im fairen Wettstreit mit all
den anderen Teilnehmern aus aller Herren Länder zu
messen und Freundschaften zu schließen. Es sollte unbeschwert sein, ein Zeichen für die Überwindung der Vergangenheit und einen neuen Anfang in den Beziehungen
zwischen unseren Ländern. Stattdessen ließen sie ihr
Leben wegen eines feigen und hinterhältigen Anschlags.
Wir denken an ein Olympia, das sich durch diesen
grausamen und hinterlistigen Überfall nicht hat brechen
lassen. Als pietätlos oder gar herzlos betrachteten
einige die damalige Entscheidung, die Spiele fortzuführen. Doch was wäre die Alternative gewesen? Die Spiele
beenden und sie nie wieder stattfinden lassen? Was wäre
das für ein Signal gewesen für all diejenigen, die glauben, andere durch rohe Gewalt „überzeugen“ zu können? Es wäre ein Sieg für die falsche Seite gewesen. Es
wäre für Terroristen und gewaltbereite Ideologen ein
sicheres Zeichen gewesen, dass sie mit ihren Taten die
ganze Welt ihrem Willen unterwerfen können. Das wollte
man nicht zulassen. Und wir wollen es auch heute nicht.
Olympia soll ein Ort des Sports bleiben. Deshalb
unterstützen wir die Bemühungen des IOC, die Politik,
so weit dies möglich ist, von den sportlichen Wettkämpfen fernzuhalten.
Wir verstehen das Bedürfnis, angesichts des 40. Jahrestags des Attentats von München der Opfer zu gedenken. Diesem wird aus unserer Sicht aber bereits durch
die zahlreichen Gedenkveranstaltungen innerhalb und
außerhalb der Organisation der Olympischen Spiele in
London Rechnung getragen.
Auch besteht kein Anlass zu der Annahme, das IOC
würde das Gedenken an die Opfer des 5. September
1972 nicht wahren. Ausdruck dessen ist die Tatsache,
dass IOC-Präsident Jacques Rogge selbst an der
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer von 1972 in
Guildhall teilnehmen wird.
Darüber hinaus sehen wir keinen Anlass, Mittel aus
dem Bundeshaushalt für eine vermeintliche Aufarbeitung des Anschlags von München bereitzustellen. Über
das Attentat von 1972 gibt es zahlreiche Publikationen
und Dokumentarfilme. Wer aufseiten der Kollegen der
Grünen noch Wissenslücken hat, nehme bitte ein
Geschichtsbuch zur Hand.
Wenn am 27. Juli 2012 die Eröffnungsfeier für die
30. Olympischen Sommerspiele in London beginnt, wird
das für Menschen auf der ganzen Welt ein Tag der
Freude sein. Sportbegeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer freuen sich auf diesen sportlichen Höhepunkt
und werden ihn entweder direkt vor Ort oder am Fernseher erleben. Sportlerinnen und Sportler, die sich über einen langen Zeitraum auf dieses Ereignis vorbereitet haben, fiebern den Wettkämpfen entgegen. Für viele von
ihnen ist eine Teilnahme an Olympischen Spielen die
Krönung ihrer sportlichen Laufbahn.
Wenn man an Olympische Spiele denkt, hat man zuerst jubelnde Sportlerinnen und Sportler im Kopf, man
sieht die applaudierende Zuschauermenge und überall
Lachen oder Freudentränen in den Gesichtern. Leider
gibt es nicht nur gute Erinnerungen.
Die Erinnerung an die Olympischen Spiele ist auf
schmerzhafte Weise auch mit einem der tragischsten
Momente in der Geschichte des Sports verbunden. Bei
den Olympischen Spielen 1972 in München drangen
nach zehn Tagen heiterer Spiele palästinensische Terroristen in das Olympische Dorf ein, verletzten zwei israelische Sportler tödlich und nahmen neun weitere Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln.
Dramatische Stunden begannen und fanden ihren traurigen Höhepunkt am Flugplatz Fürstenfeldbruck. Alle
neun Geiseln wurden bei einem gescheiterten Befreiungsversuch getötet, und auch ein bayerischer Polizeiobermeister sowie fünf der acht Terroristen kamen dabei
ums Leben.
Am 5. September dieses Jahres ist der 40. Jahrestag
des Olympiaattentats von 1972. 40 Jahre sind eine lange
Zeit, und für einige mag dieses Verbrechen in die Ferne
gerückt sein. Einige werden der Meinung sein, dass dieser Anschlag allein der israelischen Mannschaft galt.
Ich sehe das anders! Die Opfer, deren Familienangehörigen und Freunden ich auch heute mein ehrliches Mitgefühl aussprechen möchte, waren zwar Mitglieder der
israelischen Olympiamannschaft, aber es gab eben auch
einen Polizeibeamten, der an der Schießerei selbst unbeteiligt war und durch den Terror sein Leben verloren hat.
Terror geht uns alle an! Terror ist nicht nur eine Bedrohung für das Leben und die Gesundheit vieler Menschen, sondern er gefährdet auch die grundlegenden
Werte des menschlichen Zusammenlebens wie Freundschaft, Respekt und Achtung voreinander. Diese Werte
sind auch dem Sport immanent. Dieser Terrorakt muss
als Anschlag auf die Olympischen Spiele selbst und die
dadurch verkörperten Werte verstanden werden. Die
Terroristen haben gezielt dieses große Ereignis mit über
100 teilnehmenden Nationen ausgewählt und für ihre
politischen Zwecke missbraucht. Einer der ursprünglichen Werte der Olympischen Spiele ist die Idee des
olympischen Friedens. In der Antike bedeutete dies eine
Waffenruhe während der Zeit der Spiele und eine Sicherheitsgarantie für die An- und Abreise. Auch in der Neuzeit gilt dieser Gedanke natürlich fort. Die Olympischen
Spiele sollen ein Ort der friedlichen Begegnung und der
Möglichkeit des Dialogs zwischen den verschiedenen
Nationen sein. Dieser Gedanke des olympischen Friedens wurde durch das Attentat von 1972 empfindlich gestört.
Ich begrüße den vorliegenden Antrag; denn es ist
wichtig, dass man an dieses Ereignis erinnert, egal wie
viel Zeit vergangen ist. Der Terror ist nach wie vor allgegenwärtig in der Welt. Umso wichtiger ist es, an diese
tragischen Momente zu erinnern und diese Erinnerung
mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. Eine nationale Gedenkfeier am Rande der diesjährigen Olympischen Spiele in London ist meines Erachtens nicht ausreichend. Wer die Augen vor der Vergangenheit
verschließt, wird auch blind für die Zukunft und verkennt dadurch vielleicht die Gefahren, die auch heute
noch bestehen. Das Attentat bei den Olympischen Spielen 1972 ist das Ground Zero des Sports! Die historische
Aufarbeitung des Attentats steckt noch in den Kinderschuhen und sollte umfassend vorangetrieben werden,
auch mit Unterstützung des Bundes. Eine akribische
Aufarbeitung der Ereignisse ist ebenso wichtig wie das
öffentliche Gedenken. Es ist wichtig, zu wissen, mit wem
die Terroristen zusammengearbeitet haben und von wem
sie unterstützt wurden. In diesem Bereich besteht großer
Handlungsbedarf. Eine erste Sichtung der alten Dokumente belegt, dass die Terroristen damals mit Neonazis
kooperierten und der Verfassungsschutz davon hätte
Kenntnis haben können. Aktuell haben wir in Deutschland vergleichbare Probleme. Die rechte Terrorzelle
NSU konnte über Jahre hinweg unbehelligt Menschen
töten, und keiner will es bemerkt haben. Sie sehen, der
Terror ist mitten unter uns! Aus diesem Grund ist es
wichtig, daran zu erinnern. Die Erinnerung ist auch eine
Mahnung, dass der Terror angesichts der vielen ungelösten Konflikte und des Hasses in der Welt nichts an Aktualität verloren hat und immer noch eine große Gefahr
darstellt.
Ein öffentliches Gedenken an das Attentat von 1972
ist aber auch ein Zeichen an die, die den Terror verbreiten und als Mittel missbrauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Es ist ein Zeichen, dass die Werte wie Freundschaft, Frieden, Respekt und Achtung voreinander
immer noch gelten und dass man sich auch von Terror
nicht unterkriegen lässt. Die olympische Familie ist größer geworden, und vermutlich werden über 200 Nationen bei den diesjährigen Olympischen Spielen dabei
sein. Ich hoffe auf friedliche Spiele, mit viel Freude und
sportlichen Höhepunkten; aber ich hoffe auch, dass man
die tragischen Erinnerungen nicht außen vor lässt und
ihrer in einem angemessenen Rahmen gedenkt. Eine
Schweigeminute wäre keine Gefahr für die olympische
Einheit, sondern vielmehr ein Zeichen von GeschlossenZu Protokoll gegebene Reden
heit. Es wäre ein Symbol, das man gemeinsam gegen
Hass, Gewalt und Terrorismus eintritt.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir zum einen
an das schreckliche Attentat auf die israelische Olympiamannschaft in München und Fürstenfeldbruck erinnern, das sich am 5. September 2012 zum 40. Mal jährt.
Zum anderen fordern wir in diesem Antrag die Bundesregierung dazu auf, sich aktiver an einer Aufarbeitung
- und zwar einer öffentlichen Aufarbeitung - des Attentats zu beteiligen.
Lassen Sie mich zunächst kurz rekapitulieren, was damals geschah. „Heitere Spiele“ sollten es werden im
Jahr 1972. Nach dem Ende des Nationalsozialismus
wollte sich Deutschland als tolerant und fröhlich der internationalen Öffentlichkeit präsentieren und erstmals
seit 1936 wieder die Sportelite aus aller Welt einladen.
Es hätte nicht schlimmer kommen können: Am frühen
Morgen des 5. September stürmt die palästinensische
Terrororganisation Schwarzer September schwer bewaffnet ins israelische Quartier im Olympischen Dorf
und nimmt Athleten und Betreuer als Geiseln. Einige
Athleten können sich in letzter Minute retten und flüchten über Balkongeländer in die Freiheit. Zwei Athleten
sterben noch im Quartier, die anderen neun Mitglieder
des israelischen Teams kommen in einer missglückten
Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck
ums Leben. Auch ein Polizist wird während der Schießerei mit den Geiselnehmern tödlich verwundet, ein weiterer wird schwer verletzt. Fünf der acht palästinensischen Attentäter sterben. Wenig später dann die
Wiedereröffnung der Spiele mit den Worten „The games
must go on“. Die Trauer und das Leid, das dem israelischen Team und den Angehörigen der Opfer zugefügt
wurde, sind nicht in Worte zu fassen. Die dramatischen
Ereignisse von 1972 haben die internationale Öffentlichkeit schockiert und sind zum Trauma vieler Zeitzeugen geworden. Nicht vergessen werden dürfen auch diejenigen, die der Geiselnahme damals knapp entgehen
konnten. Ihnen und allen anderen Opfern gebührt unser
Respekt und unser Mitgefühl.
Viel ist spekuliert worden über die Hintergründe der
Tat, ihre Drahtzieher und die Entwicklungen im internationalen Terrorismus. Seit 1999 läuft ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München wegen der
Verbindungen zwischen dem damaligen Drahtzieher
Mohammed Daoud Oudeh alias Abu Daoud und dem
deutschen Neonazi Willi Pohl. Die Bundesregierung hat
bisher keine Veranlassung gesehen, daraus irgendwelche Schlüsse für eine öffentliche Aufarbeitung des Falls
zu ziehen.
Das sehen wir anders. Deutschland steht als Ausrichterland der Olympischen Spiele von 1972 und durch Verstrickungen von deutschen Staatsbürgern in das Attentat
gleich in mehrfacher Weise in der Verantwortung, sich
für eine öffentlichkeitswirksame Gedenkveranstaltung
einzusetzen. Wenn Ende Juli in London die Olympischen
Sommerspiele eröffnet werden, wird es nach dem Willen
des Internationalen Olympischen Komitees, IOC, keinen
Raum für eine Erinnerung an das Attentat geben. Die
Entscheidung, stattdessen eine Zeremonie in der Guildhall zu veranstalten, wird der Bedeutung des Datums
nicht gerecht. Dieser Ansicht sind die Hinterbliebenen
der Opfer - und ihre Meinung verdient zunächst allgemeine Aufmerksamkeit. Hinzu kommen zahlreiche weitere Stimmen aus Israel und aller Welt, darunter auch
von Vertreterinnen und Vertretern von nationalen Parlamenten und Regierungen. Diese Woche erst hat Außenminister Westerwelle sich endlich mit einem Brief an
IOC-Präsident Jacques Rogge gewandt und sich für eine
Schweigeminute ausgesprochen. Ob Herr Westerwelle
vorher unseren Antrag gelesen hat, vermag ich nicht zu
beurteilen. In jedem Fall begrüßen wir seinen Vorstoß
ausdrücklich.
Das reicht aber noch nicht: Wir fordern die Bundesregierung auf, sich weiterhin beim Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, und beim IOC für eine öffentliche Gedenkveranstaltung im Rahmen der Spiele selbst
auszusprechen und sich darüber hinaus engagiert hierfür einzusetzen. Denn nur die Spiele selbst sind der würdige Ort für ein Gedenken.
Auch die Bundesregierung kann und soll für die Aufarbeitung in Deutschland mehr tun als bisher. Wir fordern daher, die wissenschaftliche Aufarbeitung finanziell zu unterstützen sowie die Ereignisse einer breiten
Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Nach Ende der
Sperrfristen ist es jetzt prinzipiell möglich geworden,
Einsicht in wichtige Dokumente in Zusammenhang mit
dem Attentat zu erhalten. Diese Chance für Transparenz
müssen wir nun nutzen.
Leider hält sich die Bundesregierung bei der Aufarbeitung jedoch stark zurück. Impulse setzen dagegen
andere: Mit großer Mühe haben die Verantwortlichen im
Landkreis Fürstenfeldbruck Finanzierungspartner aus
Sport und Wirtschaft für eine geplante Ausstellung zum
Thema gewinnen können. Doch nach jetziger Einschätzung fehlen hier noch immer 14 000 Euro der insgesamt
benötigten 95 000 Euro, um das Projekt zu finanzieren.
Das ist für den Bund, der bisher kein Geld zuschießt,
sicherlich ein kleiner Betrag, doch für die Ausstellungsmacher überlebenswichtig. Außerdem, auch das fordern
wir in unserem Antrag, soll der Bund Räumlichkeiten in
Berlin und anderswo für die Ausstellung zur Verfügung
stellen. Damit würde er ein Zeichen setzen und sicherstellen, dass das Thema auch nach den Spielen von London im Gedächtnis der Öffentlichkeit bleibt. Die bisherige Zurückhaltung des Bundes in dieser Angelegenheit
ist peinlich.
Lassen Sie mich zum Schluss kurz auf einen möglichen Grund eingehen, der das IOC bisher davon abgehalten haben könnte, dem Gedenken einen prominenteren Ort zu geben. Es steht seitens der Presse die
Vermutung im Raum, dass Herr Rogge deswegen auf ein
öffentliches Gedenken bei der Eröffnungszeremonie verzichtet, weil er Bedenken arabischer Teilnehmerstaaten
dagegen befürchtet. Ein solcher Grund wäre überhaupt
nicht nachvollziehbar und würde zudem ein falsches
Licht auf das Anliegen werfen. Es geht hier um ein ZeiZu Protokoll gegebene Reden
chen des Gedenkens an die Opfer und nicht um Beschuldigungen.
Ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10109 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tagesordnung
ist erschöpft. Ich hoffe nicht, dass Sie das auch sind.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. Juni 2012, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.